Belarus Es kann gut sein, dass die Situation in Belarus inzwischen schon eine ganz andere ist, wenn Du diesen Text liest, als Mitte September 2020, während ich diesen Artikel verfasse. Doch trotz der dynamischen Situation liegt es mir am Herzen, darüber jetzt zu schreiben – denn was sich dort im Osten Europas abspielt, bedarf dringend unserer Aufmerksamkeit und Anteilnahme.
Und dann begann 2020. Die Ölpreise sanken weiter, Subventionen aus Russland wurden zusammengestrichen. Das Frühjahr brachte dem belarusischen Rubel massive Verluste ein, die sich ganz praktisch in den Geldbeuteln der Menschen zeigten, die immer mehr für den täglichen Einkauf ausgeben mussten. Als wäre das nicht genug, kam im März auch das Coronavirus in Belarus an. Während andere Länder zunehmend in Panik gerieten, Lockdowns ausgerufen und Reisebeschränkungen verhängt wurden, machte Aljaksandr Lukaschenka keinen Hehl aus seiner Verachtung für diese „Psychose“ und empfahl, lieber mehr Traktor zu fahren und Wodka zu trinken. Für seine Ratschläge wurde er auf der ganzen Welt ausgelacht, während die Menschen im Land versuchten, sich mit selbst auferlegten Vorsichtsmaßnahmen vor einer Ansteckung zu schützen. Erschwert wurde dies noch dadurch, dass die veröffentlichten Infektionsraten offensichtlich nach unten korrigiert worden waren und man so keinen verlässlichen Überblick über das aktuelle Geschehen erhalten konnte. Von einigen Bekannten und Freund*innen hörte ich, dass vor diesem Hintergrund die Erfahrung, nahestehende Menschen schwer an SARS-CoV-2 erkranken zu sehen, das Vertrauen in die Regierung schwer beschädigte. Dabei gilt das belarusische Gesundheits system als eines der besten in den Ex-Sowjetrepubliken – ein Punkt, der Lukaschenka früher oft zugutegehalten worden war. Im Zuge der Wahlvorbereitungen stellten 55 Kandidat*innen einen Antrag auf Teilnahme, von denen nur 15 für das Sammeln der erforderlichen 100.000 Unterschriften zugelassen wurden. Als aussichtsreichste Kandidaten galten zu diesem Zeitpunkt der
Foto: Artem Podrez
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ch selber war im Sommer 2019 das letzte Mal in Belarus – ziemlich genau ein Jahr, bevor die Proteste begannen. Minsk schien mir damals wie eh und je: Das Zentrum mit seiner großen stalinistischen Prachtstraße museumsreif herausgeputzt, ruhig und sauber. Die Menschen erzählten, dass die Lage weiterhin nicht einfach sei, vor allem wirtschaftlich, aber das sei man ja gewöhnt. Immerhin habe man keinen Maidan erlebt und keinen Krieg, anders als in der Ukraine. Aljaksandr Lukaschenka, der mit seiner Herrschaft über das Land seit 25 Jahren beinahe wie eine naturgegebene Konstante wirkte, war ebenso wenig Thema wie die anstehenden Wahlen im darauffolgenden Jahr. Nichts schien daraufhinzudeuten, dass sich etwas verändern würde …
Protest in Minsk, August 2020 Banker Wiktar Babaryka, der später wegen des Vorwurfs der Geldwäsche inhaftiert wurde, und der Diplomat und Geschäftsmann Waleryj Zapkala, der ins Ausland floh, als ihn Warnungen über eine mögliche Verhaftung erreichten. Ausgerechnet Swjatlana Zichanouskaja, die nie Präsidentin werden wollte, wurde schließlich als einzige ernst zu nehmende oppositionelle Kandidatin zur eigentlichen Wahl zugelassen. Die Ehefrau des bereits im Mai verhafteten, regierungskritischen Video-Bloggers Sjarhej Zichanouski war mit ihrer Kandidatur an seine Stelle getreten. Ihrer Wahlkampf-Initiative schlossen sich auch Weronika Zapkala, die Ehefrau von Waleryj Zapkala, sowie die Leiterin des Wahlstabs von Wiktar Babaryka, Maryja Kaljesnikawa, an. Und damit gingen auf einmal Bilder von Belarus um die Welt, mit denen absolut niemand gerechnet hatte: Drei Frauen, die mit ihrer Forderung nach freien Wahlen die größten Kundgebungen des Landes seit Jahrzehnten auf die Beine stellten – und das, ohne dass auch nur eine von ihnen eigene Ambitionen auf das Amt der Präsidentin hätte. Schon bei diesen friedlichen Protesten kam es zu den ersten Verhaftungen – eine ganz neue Stufe wurde dann allerdings in der Wahlnacht am 9. August 2020, nach der Veröffentlichung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses (80 Prozent für Lukaschenka, zehn Prozent für Zichanouskaja), erreicht: Das Internet war zeitweise abgeschaltet, es befanden sich mangels Akkreditierung kaum ausländische Journalist*innen vor Ort. Circa 100.000 Menschen gingen allein in Minsk auf die Straße, die Polizei setzte Blendgranaten ein, 3.000 Menschen wurden verhaftet, eine Person starb. Seitdem brechen die Proteste nicht ab. Besonders am Wochenende werden große Kundgebungen organisiert, auch jetzt, nachdem Zapkala sowie Zichanouskaja geflo-
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