Alle Menschen werden Brüder Föderalismus: Wiedervereinigung und europäische Integration – mehr als nur eine Geschichte 30 Jahre Deutschen Wiedervereinigung. 30 Jahre, die gezeichnet sind von europäischen und globalen Des-Integrationsprozessen. Nicht zuletzt uns Europäer*innen sollte daher dieses Jahr zur Feier und Betrachtung eines ganz besonderen Konzepts der deutschen Einheitspolitik einladen: des Föderalismus.
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erühmt-berüchtigt in der breiten Bevölkerung als wiederkehrender Zankapfel zwischen Bund und Ländern in verschiedensten politischen Fragen, lässt dieser Begriff den einen oder anderen nicht ohne Verdruss nach mehr Vereinheitlichung und Harmonisierung lechzen. Schließlich scheint das föderalistische Modell auf den ersten Blick bestenfalls unheimlich komplex, schlimmstenfalls von lähmender Umständlichkeit geplagt zu sein. Allerdings werden diese A posteriori-Urteile den mannigfaltigen Möglichkeiten des Föderalismus keinesfalls gerecht. Denn hinter den delikaten Checks and Balances des deutschen Staatsmodells verbergen sich wegweisende Errungenschaften im Umgang mit solchen Streitthemen wie Souveränität, (Post-) Nationalstaatlichkeit, soziohistorischer Identität und den Herausforderungen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Souveränität: das Schlachtschiff moderner Machtpolitik(er)
Unter einer Föderation sei in Abgrenzung zu anderen föderalen Systemen wie Unionen und Konföderationen ein Bundesstaat gemeint, dessen hoher Grad an Konstitutionalität eine möglichst horizontale Machtverteilung vorsieht und legislative Alleingänge sowohl von der föderalen Regierung als auch von den Föderaten 1 verhindern soll. Der staatsbürgerlichen Bevölkerung kommt hierbei eine herausragende Rolle bei der Sicherung der horizontalen Machtverteilung zu, da beide Machtinstanzen durch separate Wahlen legitimiert werden.
Spätestens nach der Befreiung und Diskussion der ersten Konzentrationslager kam das Jahrhunderte währende westfälische Prinzip2 der Staatssouveränität in ernsthafte Bedrängnis. Wie würde man in Zukunft ein Konzept legitimieren können, hinter dem Despoten sich verstecken und Massenmorde ungestört durchführen können? Der nachfolgende Kalte Krieg und das Aufkommen internationaler Organisationen wie der UNO erodierten besonders im Falle „kleinerer“ Staaten die westfälische Weltordnung durch direkte und indirekte Einmischung. Doch erst nach der fürchterlichen Handlungsunfähigkeit der UNO in Rwanda der 90er-Jahre erwuchs das Prinzip der „responsibility to protect“ (R2P), wonach absolute interne Staatssouveränität einer komplexeren Form von internationaler Verantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung und gleichzeitig gegenüber der Weltgemeinschaft weichen sollte. Kommt ein Despot dieser nicht nach, so sieht sich die Weltgemeinschaft in der Verantwortung, im Sinne der Menschenrechte zu intervenieren.
Unschwer erkennt man in diesen Charakteristika die Umrisse des modernen deutschen Staates, jedoch verschwimmen diese, sobald man sich politischer Gebilde wie der EU annimmt. Hier treten zumeist die oben angedeuteten Streitthemen in den Vordergrund. Dagegen wurden im Falle der heutigen BRD unter Druck der Alliierten wichtige Schritte unternommen, um diese Fragen im Grundgesetz zu adressieren. Die EU wiederum, wenngleich
Was zunächst auf dem Papier nobel klang, offenbarte sich Jahre später als riesiges geopolitisches Problem und Zündstoff für eine neue ideologische Spaltung in Ost und West. Vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten haben einflussreiche autoritäre Staaten wie Russland, China und die Türkei einen auf der alten westfälischen Ordnung beruhenden Gegendiskurs entwickelt. So prangern sie teilweise zurecht die ungerechte Scheinheilig-
Im Folgenden sollen diese föderalen Streitthemen im gesamteuropäischen Kontext untersucht werden, doch hier zunächst eine persönliche Definition des Föderalismus:
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aus ähnlicher ruinöser Aufbruchstimmung erwachsen, befindet sich aktuell und immer noch im Kreuzfeuer diverser geopolitischer und interner Diskurse. Es fällt einem folglich schwer, die EU auch nur normativ als föderales System, geschweige denn deskriptiv als Föderation zu bezeichnen. Dieses beispiellose Megaprojekt repräsentiert bisweilen eine einzigartige Zwischenstufe mit Elementen zentralisierter, loser konföderativer und föderaler Herrschaftsstrukturen, ergo einen Riesenkompromiss. Doch was steckt dahinter?