Foto: Sarah Kuiter / IPPNW
ippnw forum
das magazin der ippnw nr163 sept2020 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
- Erosion der Rüstungskontrolle - Vergesst Libyen nicht! - Gesundheitliche Folgen von Abschiebung
Drei Jahre Atomwaffenverbotsvertrag: Die Zivilgesellschaft fordert Abrüstung
Unter 18 nie!
Keine Minderjährigen bei der Bundeswehr. „Soldat*in zu sein“ ist kein Beruf „wie jeder andere“, denn die Ausbildung zum Soldaten oder zur Soldatin bedeutet, das Töten zu lernen. Bei der Bundeswehr kann man jederzeit gegen seinen Willen in einen Auslandseinsatz geschickt werden. In den Auslandseinsätzen der Bundeswehr werden Soldatinnen und Soldaten Gefahr laufen, das Gelernte anwenden zu müssen. Sie müssen zudem mit dem Risiko leben, selbst traumatisiert, verletzt oder gar getötet zu werden. Die Rekrutierung von Minderjährigen widerspricht den Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention. Mit dem „Fakultativprotokoll vom 12. Februar 2002 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kinder an bewaffneten Konflikten” wurde das Mindestalter für die Teilnahme an Kampfhandlungen von 15 auf 18 Jahre angehoben. Die Kampagne „Unter 18 nie! Keine Minderjährigen bei der Bundeswehr“ wird getragen von einem breiten Bündnis aus den Bereichen der Friedensinitiativen, Kirchen, Gewerkschaften und der Menschenrechtsorganisationen.
Weitere Informationen: unter18nie.de
Die Kampagne arbeitet momentan an der Erstellung von verschiedenen Materialien. Folgende Materialien sind beim Netzwerk Friedenskooperative erhältlich:
» Info-Paket mit 10 Aufklebern, 30 Unterschriftenlisten, 24 Flyern und 10 Factsheets » Aufkleber mit Logo “Keine Minderjährigen in der Bundeswehr” (Format 14,5 x 4,5 cm) » Factsheet: Die wichtigsten Informationen auf einen Blick » Unterschriftenliste “Keine Minderjährigen in der Bundeswehr” » Info-Flyer » Banner (Format 250 x 80 cm) » Postkarte: Widerspruch gegen die Weitergabe der Meldedaten an die Bundeswehr Bestellung im Shop: unter18nie.de/mitmachen/material oder per Tel.: 0228 692904
EDITORIAL Dr. Inga Blum ist Mitglied im Vorstand der deutschen IPPNW.
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ie Situation ist paradox. Obwohl die Bundesregierung sich für das Ziel einer atomwaffenfreien Welt ausspricht – und der Bundestag beschlossen hat, die Stationierung der Atomwaffen in Büchel zu beenden, hält die Regierung an der nuklearen Teilhabe fest. Die Verteidigungsministerin hat sogar zugesagt, neue atomar bestückbare Kampfjets anzuschaffen, die die Steuerzahler*innen Milliarden kosten würden. Deshalb versuchen wir mit unserem Themenschwerpunkt Auswege aus der atomaren Sackgasse aufzuzeigen. So berichtet die internationale IPPNW-Studierendensprecherin Franca Brüggen über die positive Entwicklung in Spanien. In Madrid wurde 2018 der ICAN-Städteappell gegründet. In Deutschland sind bereits 96 Städte und Gemeinden und vier Bundesländer beigetreten, die auf diese Art und Weise die Bundesregierung auffordern, den Atomwaffenverbotsvertrag nicht länger zu ignorieren. Angesichts des 75. Jahrestags der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki ist uns bewusst, wie ungemein wichtig diese Arbeit ist. Das Ausmaß der totalen Zerstörung von Gesundheit und Leben lässt sich in Zahlen gar nicht fassen. Trotzdem versuchen Kollegen wie Prof. Masao Tomonaga Licht ins Dunkel zu bringen und die Spätfolgen der damaligen Bombardierungen zu analysieren. Dr. Inga Blum und Dr. Lars Pohlmeier geben uns einen Überblick über die wichtigsten Ergebnisse. Auch Dr. Moritz Kütt vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg rät, unsere Abgeordneten für dieses Thema zu sensibiliseren und zu mobilisieren. Er zeigt in seinem Beitrag Maßnahmen auf, die die Bundesregierung in Vorbereitung des Beitritts zum Atomwaffenverbot ergreifen könnte. Linnet Ng‘ayu (Kenia) vom African Council of Religious Leaders berichtet über den Humanitären Prozess in Afrika, bei dem religiöse Führungspersönlichkeiten ihre Friedens- und Abrüstungsbotschaften über die Gemeindearbeit in weite Teile der Gesellschaft hineingetragen haben. Die erfolgreiche Arbeit afrikanischer Länder für die Verabschiedung des Atomwaffenverbots in der UN zeigt, wie gut dieses Konzept funktioniert hat. Das Titelbild dieser Ausgabe hat IPPNW-Mitglied Sarah Kuiter bei den Aktionstagen in Büchel gemacht – viele weitere Bilder aus der Eifel finden Sie im Innenteil. Eine anregende Lektüre wünscht Dr. Inga Blum 3
INHALT Abrüstung: Erosion der Rüstungskontrolle
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THEMEN Die Erosion der Rüstungskontrolle..............................................................8 Was will die Opposition in Weißrussland?...........................................10 Das Unrecht nicht hinnehmen: Appell an das Amtsgericht Cochem....................................................................................... 12 Kampfdrohnen für die Bundeswehr ohne Debatte.........................14 Vergesst Libyen nicht!.....................................................................................15 Gesundheitliche Folgen der Abschiebung von Kindern und Jugendlichen...................................................................16 Exportstopp über den Rechtsweg?......................................................... 18
Abschiebung Folgen für Kinder & Jugendliche
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SCHWERPUNKT Drei Jahre Atomwaffenverbot..................................................................... 20 Blick über den Tellerrand............................................................................. 22 Wie kann Deutschland beitreten? Mögliche Schritte zur Ratifizierung des Atomwaffenverbots.....................................................24 Gesundheitsfolgen von Atomwaffen....................................................... 26 Humanitäre Abrüstung und Sicherheit: Die Einbindung religiöser Akteur*innen in Afrika ......................... 28
WELT Büchel Drei Jahre Atomwaffenverbot
Erste europäische IPPNW-Videokonferenz......................................... 28
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RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Foto: Dr. Helmut Lohrer
Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33 4
MEINUNG
Karin Leukefeld ist Journalistin und Nahost-Expertin. Mehr unter: https:// leukefeld.net
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Deutschland und Frankreich schicken „Hilfen“ in den Libanon. Die EU sagte schnell 33 Millionen Euro Soforthilfe zu, die Bundesregierung stockte um zusätzlich 1,5 Millionen Euro auf.
ngebot und Leistungen der EU-Mitgliedstaaten wurden abgefragt und koordiniert, das Satellitensystem Copernicus über dem Libanon in Stellung gebracht, „um das Ausmaß der Schäden festzustellen“. Die Ankündigung des Auswärtigen Amtes liest sich jedoch, als zögen deutsche Hilfstruppen in den Krieg. Das Technische Hilfswerk wird von Soldaten der Bundeswehr begleitet, ein medizinisches Erkundungsteam der Bundeswehr landete mit der Luftwaffe in Beirut. Die deutsche Korvette „Ludwigshafen“ lief mit 60 Soldaten und nur einem Arzt an Bord den Hafen von Beirut an. Außenminister Heiko Maas erklärte, Deutschland wolle „den Libanon stärken“ und „ausländischen Einfluss im Libanon“ verhindern. In dem Land gebe es bereits nichtstaatliche, aus dem Ausland finanzierte Akteure wie die Hisbollah, die ein entstehendes Vakuum nutzen und den Libanon weiter destabilisieren könnten. Mit so einer Erklärung tut Maas genau das, was er verhindern zu wollen vorgibt. Wenn ein deutscher Außenminister die Hisbollah als den Libanon „destabilisierend“ bezeichnet, spaltet er. Die Hisbollah ist eine wichtige politische Organisation, die im Parlament vertreten ist, weil ein bedeutender Teil der Libanesen sie gewählt hat. Das mag Deutschland, den USA, Saudi-Arabien und Israel nicht gefallen, ist aber die freie Entscheidung der freien Bürger*innen. Seit Beginn des Krieges in Syrien 2011 steht der Libanon unter Druck. Die Machteliten des Landes waren gespalten. Die einen konnten unter den Augen der EU Waffen, Kämpfer und Geld nach Syrien schmuggeln und den Krieg anheizen. Die anderen versuchten an der Seite der syrischen Armee die Angriffe von Dschihadisten zurückzuschlagen. Als Libanon 2018 erstmals um Hilfe bat, um den mehr als eine Million syrischen Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen, sagte Brüssel nein und verschärfte die Sanktionen gegen Damaskus. Es folgte die Kriminalisierung der Hisbollah in der EU, dann ordneten die USA mit neuen Sanktionen die Bestrafung aller an, die mit Syrien oder dem Iran in Handelsbeziehungen stehen. Allen voran traf das den Libanon.
Zuerst erschienen am 08.08.2020 in der Jungen Welt. 5
Foto: Olaf Kosinsky / CC BY-SA 3.0
N ACHRICHTEN
Vorsichtiger Widerstand gegen die „nukleare Teilhabe“ in Europa
Erfolgreiche Musikblockade bei Rheinmetall
Kampagne „Macht Frieden“ wird beendet
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ach dem angekündigten Teilabzug von etwa 12.000 US-Soldat*innen aus Deutschland hat SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich dafür plädiert, die Bundesregierung solle nun selbst Konsequenzen ziehen und Rüstungsvorhaben mit den USA auf den Prüfstand stellen. In Frage dafür käme beispielsweise der geplante Kauf der 45 F-18-Flugzeuge des US-Herstellers Boeing, der laut Recherchen von Greenpeace und ICAN ein Volumen von etwa acht Milliarden Euro haben könnte. Im Mai hatte der Vorsitzende der SPDBundestagsfraktion bereits eine „Debatte über die Zukunft der nuklearen Teilhabe in Deutschland gefordert. Als erster führender Politiker der Regierungskoalition hat er sich öffentlich dafür ausgesprochen, die „nukleare Teilhabe“ Deutschlands zu beenden und in Deutschland stationierte US-Atomwaffen abzuziehen. Als Grund für seinen Vorstoß nannte Mützenich die neue Nuklearstrategie der US-Regierung unter Präsident Donald Trump: Die USA sähen Atomwaffen nicht mehr als Instrument der Abschreckung, sondern als Mittel der Kriegführung. In Bezug auf die Fortführung der nuklearen Teilhabe regt sich in Europa vorsichtiger Widerspruch und Protest. In Belgien gab es im Januar 2020 eine Parlamentsdebatte über die Beendigung der nuklearen Teilhabe. Immerhin 66 Abgeordnete forderten das Ende, 74 stimmten dafür. Anlass für die Debatte war die Frage, ob Belgien amerikanische F-35 Flugzeuge kaufen soll, die Atomwaffen tragen können.
m 17. August 2020 haben 98 Musiker*innen des Aktionsnetzwerks Lebenslaute die Zufahrten der Rheinmetall Landsysteme GmbH in Unterlüß blockiert. Hier produziert der Rüstungsriese Waffen und Munition sowie Komponenten für Panzer. Kein Fahrzeug konnte das Gelände verlassen oder auf das Gelände fahren. Während der Blockade erklang auf allen Zufahrten klassische und populäre Chorund Instrumentalmusik. Gegen sieben Uhr wurden die Arbeitenden über einen Feldweg durch den Wald zu einem der vielen Nebentore geschleust. Wiederholte, spontane Musikblockaden der Feldwegzufahrt wurden von Polizeikräften geräumt. Ab elf Uhr beendeten alle Musiker*innen in der Nähe des Haupteingangs die Protestaktion mit einem zweistündigen Aktionskonzert. Aufgeführt wurde unter anderem. Masters of War“ von Bob Dylan und „Darthulas Grabgesang“ von Johannes Brahms. Zum Abschluss des Konzerts vor einem der Tore von Rheinmetall spielte Lebenslaute auch Versöhnliches, Georg Friedrich Händels Friedensode sowie den Walzer „Maskerade“ von Aram Chatschaturjan. Er war 1941 im Wachtangow-Theater in Moskau uraufgeführt worden, welches kurze Zeit später von den Nazis zerbombt wurde. Lebenslaute ist ein bundesweites Netzwerk von Musikaktivist*innen, Laien und Profis, die klassische Musik an Orten aufführen, von denen Bedrohung ausgeht. Seit 1986 finden Besetzungen und Blockaden unter anderem von Militärstützpunkten, Atomanlagen, Abschiebeflughäfen oder Kohlegruben statt.
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eit 2016 hat die Kampagne „MACHT FRIEDEN. Zivile Lösungen für Syrien“ die Bundestagsabstimmungen über die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Syrien kritisch begleitet und für gewaltfreie Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung geworben. Sie hat mit dazu beigetragen, dass die Unterstützung der Abgeordneten für die Einsatzverlängerungen stetig sank. Ein Großteil der Arbeit der Kampagne galt der direkten Ansprache der Abgeordneten und hat dabei erfreulich viel Resonanz erzeugt. Dennoch konnte die Kampagne mit ihren Argumenten zuletzt immer weniger Entscheidungsträger*innen erreichen. Auch die weder politisch noch juristisch nachvollziehbare Vermischung des Syrieneinsatzes mit dem Bundeswehreinsatz im Irak innerhalb eines Mandats, das sinkende Interesse an Syrien in der Öffentlichkeit und in den Medien sowie immer knapper werdende personelle und finanzielle Ressourcen machten die Kampagnenarbeit zunehmend schwieriger. Nach intensiver Diskussion hat sich der Kampagnenrat daher entschlossen, MACHT FRIEDEN zum 31. August 2020 zu beenden. Der zivilgesellschaftliche Einsatz gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr bleibt weiterhin notwendig. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Themen soll deshalb weitergehen: im Rahmen der Arbeitsgruppe Middle East and North Africa (MENA) unter dem Dach des Netzwerk Friedenskooperative.
André Fiedler / CC BY-NC-ND 2.0
HeForShe Campaign (2015) Foto: UNAMA News / CC BY-NC 2.0
N ACHRICHTEN
Afghanische Regierung gründet Frauenrat
Freispruch für Prof. Sebnem Korur Fincanci
Replik auf einen unerwiderten Beitrag in der ZEIT-Rubrik „Streit“
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fghanistans Präsident Aschraf Ghani hat die Gründung eines Hohen Rates für Frauen angekündigt. 26 Gesellschaftsvertreter*innen, darunter Aktivist*innen, Menschenrechtler*innen sowie Politiker*innen und Beamt*innen, die sich für Frauenrechte einsetzen, sollen ihm angehören. Hunderte Frauen hatten die Taliban im Vorfeld der Friedensgespräche aufgefordert, ihre Rechte bei den Gesprächen zu respektieren. „Als Ehefrauen, Mütter, Töchter und Schwestern haben wir schrecklich gelitten, wir waren der Brutalität und Gewalt des Krieges ausgesetzt“, heißt es in einem Offenen Brief, der auf der Homepage eines TV-Senders veröffentlicht wurde. „Wir werden nicht zulassen, dass unser Platz und unser Beitrag zum Wiederaufbau des Landes ausgelöscht oder rückgängig gemacht wird“, hieß es in dem Schreiben von knapp 400 Frauen verschiedener Generationen. Die afghanische Regierung hat unterdessen mit der Freilassung von 400 gefangenen Taliban begonnen. Die Freilassung galt als letzte Hürde vor dem Beginn von Friedensgesprächen zwischen der Regierung und den Taliban. Bis Ende November 2020 soll die Truppe in Afghanistan auf knapp unter 5.000 Soldat*innen reduziert werden. Die USA hatten mit den Taliban am 29. Februar 2020 in Katar ein Abkommen unterzeichnet, das einen Abzug der internationalen Truppen vorsieht. Im Gegenzug versicherten die Taliban, dass von Afghanistan keine Terrorgefahr mehr ausgehe.
rof. Sebnem Korur Fincanci und Prof. Gencay Gürsoy sind am 7. Juli 2020 durch das „Gericht für schwere Straftaten“ in Istanbul freigesprochen worden. Mit mehr als 2.000 anderen Akademiker*innen hatten die beiden Anfang 2016 einen Friedensappell unterzeichnet, der sich gegen die unverhältnismäßigen Militäroperationen im Südosten des Landes richtete, die massiv gegen die Menschenrechte verstießen. Tausende der Unterzeichner*innen wurden daraufhin entlassen, mehr als 800 verhaftet und 204 zu Gefängnisstrafen von ein bis drei Jahren verurteilt. So auch Sebnem Korur Fincanci und Gencay Gürsoy am 12. Dezember 2018. Am 26. August 2019 hob das Berufungsgericht die Urteile mit Verweis auf die Meinungsfreiheit auf und verwies sie zurück an das Gericht für schwere Straftaten nach Istanbul, wo jetzt der Freispruch erfolgte. „Wir erwarten, dass auch die übrigen Angeklagten freigesprochen werden und die Entlassenen wieder ihre Arbeit an den Universitäten des Landes aufnehmen können,“ erklärte IPPNW-Ärztin Gisela Penteker. Prof. Sebnem Korur Fincanci ist eine international anerkannte Rechtsmedizinerin, die bei der Aufkärung von Kriegsverbrechen z.B. in Bosnien beteiligt war. Sie ist die Vorsitzende der Türkischen Menschenrechtsstiftung und eine der maßgeblichen Verfasserinnen des Istanbul-Protokolls zum Nachweis von Folter, das als UN-Dokument aufgenommen wurde. Seite der Türkischen Menschenrechtsstiftung: https://en.tihv.org.tr 7
er physikalische Chemiker Dr. Rainer Moormann und die Historikerin Dr. Anna Veronika Wendland haben am 16. Juli 2020 in einem Gastbeitrag für die ZEIT-Rubrik „Streit“ gefordert, die deutschen Atomkraftwerke angesichts des Klimanotstandes und der zu langsam voranschreitenden Energiewende weiterlaufen zu lassen. Dem Beitrag ehemaliger Atomkraftgegner*innen widerspricht der IPPNW-Vorsitzende Dr. Alex Rosen in einer Replik, deren Veröffentlichung die ZEIT nach anfänglicher Zusage abgelehnt und den Pro-Atom-Artikel unerwidert gelassen hat. Der deutsche Atomausstieg habe einen jahrzehntelangen gesellschaftlichen Großkonflikt befriedet, so Rosen. Um diesen Konsens in Frage zu stellen, bedürfe es wesentlicher neuer Erkenntnisse. Doch die gebe es nicht. Es existierten keine belastbaren Studien, die zeigten, dass sich ein Festhalten an der Atomenergie für Klima und Umwelt lohnen würde. Wer behaupte, es gäbe nur die Alternative zwischen fossiler und atomarer Stromerzeugung, ignoriere die Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, des Fraunhofer Instituts, der Scientists for Future oder der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und die realen Marktentwicklungen. Sie zeigten, dass ein Szenario mit 100% Erneuerbaren Energien mit entsprechenden Gesetzesänderungen in den kommenden Jahren umgesetzt werden könnte. Sie finden den Text unter: ippnw.de/bit/streit
FRIEDEN
Die Erosion der Rüstungskontrolle Das bevorstehende Inkrafttreten des Atomwaffenverbots ist in der aktuellen Situation ein Hoffnungsschimmer
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ahrzehntelang waren Rüstungskontrollverträge ein politisch-diplomatisches Instrument zur Begrenzung der Risiken insbesondere, aber nicht nur nuklearer Waffensysteme. Nach dem Austritt der USA aus mehreren Abkommen läuft im Februar 2021 auch der New-START-Vertrag aus. Der Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser (Partial Test Ban Treaty) von 1963 sollte verhindern, dass oberirdische Nukleartests immer unkalkulierbarere gesundheitliche Schäden bei den Menschen inner- und außerhalb der Staaten, die derartige Tests durchführten, anrichten. Das war bitter nötig – in der IPPNW-Studie „Radioaktive Verseuchung von Himmel und Erde“ wird die weltweite Zahl tödlicher Krebsfälle durch oberirdische Atomtests bis zum Jahr 2000 auf 430.000 geschätzt. Er war der erste speziell auf Atomwaffen bezogene Rüstungskontrollvertrag. Nuklearwaffen wurden aber schon seit den 60er Jahren in anderen Verträgen mit behandelt. So wurde im Weltraumvertrag von 1967 geregelt, dass im Weltraum keine Atomwaffen stationiert werden dürfen. Ähnliches wurde bereits zuvor für die Antarktis und später für den Mond und andere Himmelskörper vereinbart.
fensysteme getroffen und 1972 der sogenannte ABM-Vertrag abgeschlossen, der eine Begrenzung von Anti Ballistic Missiles vorsieht, also von Raketen, die Internkontinentalraketen abfangen und zerstören können. Er war zeitlich nicht befristet und wurde nach Ende des Kalten Krieges zunächst von den USA und Russland, Belarus, Kasachstan und der Ukraine (also den vier ehemaligen Sowjetrepubliken, auf deren Boden sich 1991 Atomwaffensysteme befanden) fortgeführt.
In den Strategic Arms Limitation Talks (SALT) zwischen den beiden großen Atommächten USA und UdSSR wurden zwischen 1969 und 1979 Vereinbarungen zur Begrenzung strategischer Nuklearwaf-
Der 1987 zwischen den USA und der UdSSR zeitlich unbegrenzt abgeschlossene INF-Vertrag (INF= Intermediate-range Nuclear Forces) verbot beiden Staaten den Besitz von landgestützten Mittelstre-
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er 1970 in Kraft getretene Nichtverbreitungsvertrag (auch als Atomwaffensperrvertrag bezeichnet) legte fest, dass kein Staat außer den damaligen fünf Atommächten USA, UdSSR, Großbritannien, Frankreich und Volksrepublik China Nuklearwaffen herstellen oder besitzen darf. Er wurde ursprünglich für 25 Jahre abgeschlossen, dann zunächst befristet und schließlich 2010 unbefristet verlängert.
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ckenraketen (ballistische Raketen oder Cruise Missiles) und wurde nach der Auflösung der Sowjetunion von Russland, der Ukraine, Belarus und Kasachstan als Vertragspartnern fortgeführt.
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nfang der 90er Jahre wurde unter der Bezeichnung START (Strategic Arms Reduction Treaty) von den USA und Russland zwei zeitlich befristete Verträge abgeschlossen, die nach der Auflösung der Sowjetunion den Umgang mit den 1991 in der Ukraine, Belarus und Kasachstan befindlichen Nuklearwaffen regeln und eine weitere Begrenzung der strategischen Nuklearwaffen bewirken sollte. START II wurde 2002 durch den SORT-Vertrag ersetzt (SORT = Strategic Offensive Reductions Treaty), und START I wurde 2010 durch den New START-Vertrag abgelöst, der bis Februar 2021 läuft und eine Verlängerungsoption um fünf Jahre enthält. Aufbauend auf dem PTBT wurde in den Neunziger Jahren der CTBT (Comprehensive Test Ban Treaty) verhandelt, der sämtliche Nuklearwaffentests verbietet, aber noch nicht in Kraft getreten ist, weil dazu die Unterzeichnung und Ratifizierung durch 42 Staaten erforderlich ist, die
potenziell zu Atomwaffenstaaten werden könnten. Acht davon haben bis heute den Vertrag nicht ratifiziert. Parallel zur nuklearen Rüstungskontrolle wurden – insbesondere im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – Verträge zu konventioneller Rüstungskontrolle und zu vertrauensbildenden Maßnahmen in und um Europa abgeschlossen. Dazu gehören insbesondere der „Vertrag über den Offenen Himmel“, der seinen Mitgliedsstaaten gegenseitige Beobachtungsflüge nach ganz bestimmten Regeln ermöglicht, und das sogenannte „Wiener Dokument“, das gegenseitige Information, Vor-Ort-Inspektionen und Manöverbeobachtungen regelt. Vertrauensbildende Maßnahmen senken genauso wie die mit vielen Rüstungskontrollverträgen verbundenen Inspektionen sowohl für konventionelle als auch für nukleare Waffensysteme das Risiko einer Eskalation bis hin zum Krieg/ Einsatz durch Fehlwahrnehmungen oder Fehlalarme. Daher sind sie ein wichtiger Bestandteil des Rüstungskontrollsystems. Rüstungskontrolle ist jedoch etwas anderes als Abrüstung. Sie begrenzt einzelne Waffensysteme oder Waffenkategorien räumlich oder zeitlich und verbietet einzelne Technologien, die als destabilisierend angesehen werden, zielt aber z.B. bei Nuklearwaffen nicht auf die Beseitigung aller Systeme. Dadurch stellt Rüstungskontrolle das Prinzip der nuklearen Abschreckung nicht in Frage und beseitigt damit das Risiko eines geplanten oder durch einen technischen Fehler ausgelösten Atomkrieges nicht, sondern reduziert es bestenfalls. Da es aber nicht egal ist, wie groß dieses Risi-
RÜSTUNGSWETTLAUF STOPPEN: DIE DFG-VK, ICAN UND DIE IPPNW IN BERLIN, 30. JUNI 2020
ko ist, ist eine Erosion des Rüstungskontrollsystems Anlass zu großer Sorge.
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er erste eigentlich unbefristet abgeschlossene Rüstungskontrollvertrag, der gekündigt wurde, war der ABM-Vertrag, der 2001 von den USA gekündigt wurde und dadurch 2002 außer Kraft trat. Das war rückblickend gesehen zusammen mit der Weigerung des US-Senats, den CTBT zu ratifizieren, der Beginn der Erosion des seit den Sechziger Jahren entstandenen Rüstungskontrollsystems. Die Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen in Europa, die öffentlich mit einem vermuteten iranischen Nuklearwaffenprogramm begründet wurden, von Russland aber als mittelfristige Bedrohung ihrer nuklearen Zweitschlagskapazität angesehen wurden, verschlechterten das Klima für Rüstungskontrolle weiter. Vor allem der Nuklearvertrag mit dem Iran (JCPoA), der 2015 nach zwölfjährigen Verhandlungen zwischen dem Iran, den fünf ständigen Mitgliedern des VN-Sicherheitsrats und Deutschland vereinbart und vom UN-Sicherheitsrat in der Resolution 2231 völkerrechtlich verbindlich gemacht wurde, stellte sicher, dass das iranische Nuklearprogramm nicht kurzfristig in ein Nuklearwaffenprogramm umgewandelt werden kann. 9
Mit dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident beschleunigte sich die Erosion des Rüstungskontrollsystems. Er erklärte 2018 den Ausstieg aus dem JCPoA, kündigte 2019 den INF-Vertrag und kündigte 2020 den Austritt der USA aus dem Vertrag über den Offenen Himmel an.
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ür andere Massenvernichtungswaffen – biologische und chemische Waffen – traten 1975 bzw. 1997 von fast allen Staaten unterzeichnete Verbotsverträge in Kraft. Daher haben 122 Staaten am 7. Juli 2017 den Atomwaffenverbotsvertrag beschlossen, der inzwischen von 84 Staaten unterzeichnet und von 44 Staaten ratifiziert worden ist. Auch wenn eines der wenigen Themen, bei denen die Atomwaffenstaaten sich einig sind, die Ablehnung dieses Vertrags ist: in der aktuellen Situation ist er ein Hoffnungsschimmer.
Ute Finck-Krämer ist Ko-Vorsitzende des Sprecher*innenrats der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.
FRIEDEN
Was will die Opposition in Weißrussland? Die Gesamtsituation in Belarus unterscheidet sich stark von der in der Ukraine
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wei Seiten stehen sich in Weißrussland unversöhnlich gegenüber. Der amtierende Präsident von Weißrussland reklamiert den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen für sich. Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die sich nach der Verhaftung ihres Mannes zur Kandidatur entschlossen hatte, erklärte, sie habe 80 Prozent der Stimmen bekommen. Die zentrale Wahlkommission dagegen gab bekannt, dass Lukaschenko 80 Prozent und Tichanowskaja 9,9 Prozent der Stimmen bekommen hätten. Unabhängige Beobachter von der OSZE oder aus Russland waren nicht zu den Wahlen eingeladen worden. Dass beide Kandidaten behaupten, sie hätten jeweils 80 Prozent bekommen, wirkt überzogen. Zu viele haben ihren Protest gegen den Langzeitherrscher Lukaschenko in diesen Tagen landesweit ausgedrückt. Vieles spricht dafür, dass bei der Stimmen-Auszählung zugunsten von Lukaschenko von Amts wegen nachgeholfen wurde, der Amtsinhaber die Wahlen aber auch ohne diese Hilfe gewonnen hätte. Das offiziell angegebene Wahlergebnis der Oppositionskandidatin Tichanowskaja scheint dagegen zu niedrig. Auch dieses Ergebnis ist wohl bei der Auszählung „nachbearbeitet“ worden. Doch letztlich sind das alles nur Vermutungen. Auch die von der Opposition präsentierten Kopien von Wahlprotokollen, die hohe Ergebnisse für Tichanowskaja ausweisen, sind nur ein kleiner Ausschnitt der landesweiten Wahl.
Ihre Echtheit ist schwer zu überprüfen. Eine wirklich unabhängige Wahlbeobachtung und unabhängige Exit-Polls hat es nicht gegeben. Die Menschen, die für Tichanowskaja stimmten, stimmten vor allem gegen Lukaschenko, der seit 26 Jahren im Amt ist und jegliche Opposition unterdrückt. Seine Politik der sozialen Stabilität und der Erhaltung sowjetischer Wirtschaftsstrukturen hat den Weißrussen zwar fast drei Jahrzehnte lang Stabilität und sozialen Basis-Schutz gebracht. Doch der Jugend in den Großstädten ist das nicht genug. Sie fordert eine demokratische Kultur. Aleksandr Lukaschenko hat in Weißrussland eine Art Mini-Sowjetunion geschaffen. In den 1990er Jahren gab es in Weißrussland keine Privatisierung der Schlüsselindustrien wie in allen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Der weißrussische Staat sorgte für die regelmäßige Zahlung von Löhnen und Renten, was in den meisten ehemaligen Republiken der Sowjetunion in den 1990er Jahren und auch später keine Selbstverständlichkeit war. In Weißrussland gibt es heute keine massiven sozialen Unterschiede und keine Superreichen wie in Russland. Lukaschenko stellte sich als jemand dar, der „das Beste, was es in der Sowjetunion gab“, erhält. Die wirtschaftliche Entwicklung in Weißrussland hat in den letzten Jahren jedoch einen Einbruch erlitten. Die Wirtschaften von Weißrussland und Russland sind eng 10
verbunden und der Konjunktureinbruch in Russland durch den gesunkenen Gas- und Ölpreis sowie die Corona-Krise verminderten die Absatzchancen für weißrussische Industrieprodukte in Russland. Die Hälfte des weißrussischen Exports geht nach Russland. Zusätzlich problematisch für Weißrussland wurde, dass man sich mit Russland seit 2019 nur noch fallweise auf Preise für Ölund Gaslieferungen aus Russland einigen konnte. Weißrussland fühlt sich benachteiligt gegenüber Öl- und Gaskunden in Russland und Deutschland. Weißrussland kauft nun vermehrt Öl aus dritten Ländern ein, zuletzt aus Aserbaidschan.
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ie zugespitzte Situation in Weißrussland erinnert an den Maidan in Kiew. 2013/2014 in Kiew scheute sich der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch und seine Präsidialadministration, die Opposition mit Polizeigewalt aus der Innenstadt zu verdrängen. Man fürchtete negative Reaktionen europäischer Politiker. So entstand in der Innenstadt von Kiew 2013 eine nicht genehmigte Zeltstadt der Opposition, mit Ordnerdiensten und täglichen Trainingsstunden im Straßenkampf. Das Zeltlager existierte ungehindert bis zum Staatsstreich der ukrainischen Nationalisten im Februar 2014. In der Ukraine gab es 2013 berechtigte Kritik an der Macht. Aber diese berechtigte Kritik wurde in der Ukraine von Oligarchen und deren Medien hochgepuscht sowie massiv von westlichen Mächten und
FRIEDEN
Stiftungen finanziert, medial unterstützt und in eine anti-russische Richtung gelenkt. Ob es auch in Weißrussland den Versuch gibt, berechtigte Kritik und zivilen Protest in einen Staatsstreich umzulenken, lässt sich bisher noch nicht sicher sagen.
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n der Ukraine wurde die Protestbewegung 2013/14 durch Radikal-Nationalisten aus der Westukraine angeheizt. Diese Nationalisten sehen sich unverblümt als historische Nachfahren der „Ukrainischen Aufstandsarmee“, welche mit der Hitler-Wehrmacht gegen die Sowjetunion kollaborierte. Die heutigen ukrainischen Nationalisten machten Moskau für eine angebliche Unterdrückung der ukrainischen Kultur während der Sowjetzeit und den gezielten Völkermord am ukrainischen Volk während der Hungerkatastrophe 1932 verantwortlich. Für Weißrussland fehlt eine solche Erzählung, die sich eignet, Millionen Menschen mit dem Gift des Nationalismus zu infizieren. 85 Prozent der Bevölkerung von Belarus sind Weißrussen und sieben Prozent Russen. Allerdings geht aus einer 2009 veröffentlichten offiziellen Statistik hervor, dass von den acht Millionen Weißrussen 5,5 Millionen zuhause Russisch sprechen.
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uch in Weißrussland gibt es seit den 1990er Jahren eine nationalistische Bewegung. Doch sie wurde mit repressiven Methoden klein gehalten. In den letzten Jahren werden staatliche Einrichtun-
gen in Weißrussland selbst aktiv bei der Stärkung der weißrussischen Kultur und Sprache. Offenbar will man nichts anbrennen lassen. Während man in der Ukraine schon in den 1990er Jahren begann, die russische Sprache aus Schulen und Universitäten zu verdrängen, wurde in Weißrussland 1995 ein Referendum abgehalten, bei dem die Menschen dafür stimmten, dass Russisch neben Weißrussisch den Status einer zweiten offiziellen Sprache bekommt. Dies war der weitestgehende Schutz der russischen Sprache, der nach 1991 außerhalb der Russischen Föderation in einer ehemaligen Sowjetrepublik gesetzlich verankert wurde. Mit dem Referendum konnten Provokationen weißrussischer Nationalisten auf dem Gebiet der Sprachenpolitik zwar nicht vollständig gestoppt, jedoch weitgehend gebremst werden. Die Opposition in Weißrussland sieht in Lukaschenko ein von Moskau aufgebautes und bis heute unterstütztes Hindernis für Belarus auf dem Weg nach Europa. Das konservative Weltbild von Lukaschenko bietet den jungen Europa-orientierten Oppositionellen in Weißrussland ausreichend Anlass für bissige Kritik. In Videos der Opposition wird Lukaschenko wegen seiner patriarchalen Äußerungen angeprangert. Die seit Jahren laufenden Verhandlungen zwischen Russland und Weißrussland über die Bildung eines Union-Staates richten sich nach Meinung der weißrussischen Opposition gegen die Souveränität des Landes. 11
Die russischen Medien haben über die Präsidentschafts-Kandidaten der Opposition neutral und fair berichtet. Man wollte wohl vermeiden, dass Russland der Einmischung in den weißrussischen Wahlkampf beschuldigt wird. Am Morgen nach der Wahl gratulierte Wladimir Putin dann dem weißrussischen Wahlsieger und erklärte, er hoffe, dass die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern vertieft wird. Weißrussland ist Mitglied der „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit“ (ODKB), einem Verteidigungsbündnis, zu dem auch Russland, Armenien, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan gehören. Weißrussland ist für Russland als Schutzschild an der Grenze zu Nato-Staaten besonders wichtig. Für den Kreml ist Lukaschenko, trotz seines diktatorischen Stils und seines oft frechen Auftretens gegenüber Russland, immer noch der bessere Präsident in Minsk. Die weißrussischen Oppositionsführer – so befürchtet man in Moskau – führen Belarus in den Westen, weg „vom natürlichen Partner“ Russland. Dieses ist die gekürzte Fassung des Textes vom 13.8.20 auf den „NachDenkSeiten“.
Ulrich Heyden ist Journalist und freier Korrespondent für mehrere deutschsprachige Medien in Moskau.
Максим Шикунец / CC BY-SA-4.0
MASSENPROTEST IN MINSK AM 16. AUGUST 2020
ATOMWAFFEN
Das Unrecht nicht hinnehmen Appell an das Amtsgericht Cochem
Zwei IPPNW-Mitglieder standen im Juni 2020 wegen „Hausfriedensbruchs“ auf dem Gelände des Fliegerhorstes Büchel vor dem Amtsgericht Cochem. Die Medizinstudierende Thuy Linh Pham appellierte an den Richter, die durch Atomwaffen drohende Gefahr und die Legitimität zivilen Ungehorsams anzuerkennen. als Medizinerin eigentlich bedeuten, wenn es zu einem tatsächlichen Einsatz käme und ich Betroffene behandeln müsste? Was passiert überhaupt bei der Detonation einer Atombombe? Im Zentrum der Explosion verdampft alles Leben, um das Zentrum herum kommt es zu einem gigantischen Feuersturm, es kommt zu schwersten Verbrennungen von Massen an Menschen. Jede schwere Verbrennung braucht ein Intensivbett für mehrere Wochen, ständige OPs, viele Liter Bluttransfusionen und generell Flüssigkeit, Antibiotika, ständige Verbandswechsel, einen hohen Pflegeaufwand, Sie können sich ausrechnen, wie sich das Ganze potenziert, wenn Hunderttausende verletzt und schwer verbrannt sind. Aktuell gibt es in ganz Rheinland-Pfalz für Patient*innen mit schweren Verbrennungen acht Erwachsenenbetten und zwei Kinderbetten, und deutschlandweit insgesamt 170. Es wäre aus medizinischer Sicht also unmöglich zu bewältigen.
Sehr geehrter Herr Richter, sehr geehrter Herr Staatsanwalt, ich habe mich dazu entschlossen, die Flugbahn zu besetzen, die für die tägliche Übung für den Atombombeneinsatz verwendet wird. Denn die aktuelle politische Situation ist brandgefährlich, so dass ich nicht einfach zusehen kann, sondern meinem Gewissen folgen und ins Handeln kommen muss. Wie sicherlich nicht an Ihnen vorbeigegangen sein wird, wurde letztes Jahr der INF-Vertrag von 1987 zwischen den USA und Russland aufgekündigt. Dieser Vertrag brachte der Welt und insbesondere Europa mehr Sicherheit durch die Zerstörung von 2.700 Kurz- und Mittelstreckensystemen. Ein neuer Rüstungswettlauf hat jetzt begonnen: Direkt nach Aufkündigung des Vertrags erfolgte ein US-Raketentest, der unter dem INF-Vertrag verboten gewesen wäre. Vor wenigen Wochen (Washington Post vom 25. Mai 2020) wurde bekannt, dass Trump plant, den ersten Atomwaffentest seit 1992 durchzuführen.
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urch die Druckwelle kommt es zu Platzwunden, rupturierten Organen, inneren und äußeren Blutungen, Frakturen, Taubheit durch Ruptur des Trommelfells. Durch die Strahlung kommt es zur akuten Strahlenkrankheit. Zellen aller Organe sterben ab, das Immunsystem ist stark geschwächt, die banalste Entzündung wird zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung, es kommt zu Magen-Darm-Störungen, Erbrechen, Durchfall, Schluckbeschwerden, Schock und Kreislaufkollaps, Störungen des zentralen Nervensystems mit Bewusstlosigkeit bis zum Hirntod. Längerfristig versterben die Menschen an Krebs, Föten im Mutterleib sterben ab oder kommen mit Mutationen und Behinderungen auf die Welt.
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n Deutschland werden die Atomwaffen modernisiert, Milliarden sind für den Ersatz der Tornados eingeplant und das in einer Zeit, in der immer mehr Menschen aufgrund der Corona-Pandemie nicht mehr wissen, wie sie sich finanziell über Wasser halten sollen. Wir sehen immer deutlicher, wie alle möglichen „systemrelevanten“ Branchen kaputtgespart wurden – Missstände über untragbare Arbeitsbedingungen werden weiter aufgedeckt. Ich arbeite im Gesundheitssystem und sehe, wie sehr Beschäftigte und Patient*innen unter einem kaputtgesparten System leiden – und dann sehe ich, wie Milliarden in die Atomwaffenindustrie gesteckt werden. Wie soll man so etwas verstehen können?
All das und noch einiges darüber hinaus, was ich gar nicht aufzählen kann, macht diese Strahlung mit unserem Körper. Diesem Irrsinn setzen wir uns aus. Herr Richter, Herr Staatsanwalt, kön-
Als Medizinerin habe mich mit den gesundheitlichen Folgen eines Atomwaffeneinsatzes beschäftigt. Was würde es für mich 12
ZIVILER UNGEHORSAM IN BÜCHEL, JULI 2020
nen Sie nachempfinden, was in mir vorgeht, wenn ich versuche, mir das vorzustellen? Dieses Szenario war in Hiroshima und Nagasaki bereits Realität.
sen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.
Und nun noch etwas Biographisches zu mir: Ich bin das Kind von vietnamesischen Vertragsarbeitern. Mein Vater ist nach dem Vietnamkrieg in die ehemalige DDR gekommen, um hier zu arbeiten. Sein Heimatland war zerstört, Perspektiven gab es keine. Meine Geschwister und ich hatten das Glück, hier aufwachsen zu können – doch quasi immer an die Bedingung geknüpft, dass wir etwas leisten müssen, gut in der Schule sein müssen, gehorsam sein müssen. Wir wurden sehr streng erzogen, Widerworte durften wir nicht geben. Die Kriegserfahrung, der Hunger und die Verluste, die meine Eltern erleiden mussten und bis heute erleiden müssen, haben mich zutiefst geprägt.
Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“ Die Mittel sind ausgeschöpft, das habe ich bereits erläutert. Die Bedrohung, die die Atomwaffen darstellen, rechtfertigen den Hausfriedensbruch, den Sie mir vorwerfen. Herr Richter und Herr Staatsanwalt. Bitte erklären Sie mir: Wie können sie angesichts dieser stetigen Bedrohung Ihre Füße stillhalten?
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ie haben sicherlich auch Familie und Freunde, die Sie lieben. Ich würde Sie sehr darum bitten, an diese geliebten Menschen zu denken, wenn Sie hier Ihren Job ausführen und solche Verhandlungen führen, wo Sie Menschen vor sich auf der Anklagebank haben, die auch für Sie und Ihr geliebtes Umfeld kämpfen. Denn dieser Kampf, den führen wir für alle. Wir sehen keine anderen Wege, keine anderen Möglichkeiten mehr, als dieses Thema auch vor Gericht zu bringen. Helfen Sie uns dabei, diesem Schrecken der Atomwaffen hier in Deutschland und hoffentlich dann weltweit ein Ende zu bereiten.
Auch Sie werden Familie haben, die Kriegserfahrungen gemacht hat. Das geht an einem selbst und an den nachfolgenden Generationen nicht spurlos vorbei. Für mich sind die Konsequenzen, die ich daraus ziehe, mich aktiv gegen Krieg einzusetzen.
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egen die Atomwaffen in Deutschland hat es unzählige Demonstrationen, Mahnwachen, Petitionen gegeben – 2010 sogar einen Bundestagsbeschluss zum Abzug der Atomwaffen – und ist irgendwas passiert? Nein. Sie wissen, womit wir zu tun haben, wenn wir über Atomwaffen reden. Und aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen, die Flugbahn zu besetzen und dafür militärisches Gelände betreten, das ich nicht hätte betreten dürfen.
Herr Richter, Herr Staatsanwalt – das einzige, worum ich Sie bitten möchte, ist, dass Sie den von uns begangenen Hausfriedensbruch im Kontext betrachten. Unser Hausfriedensbruch hat nicht irgendwo stattgefunden. Wenn Sie Ihr Urteil fällen, hoffe ich, dass Sie diese Aktion im Kontext von Massenvernichtungswaffen, die hier ganz in der Nähe auch von Ihnen und uns liegen, einbetten und eine wichtige Entscheidung für eine bessere Zukunft treffen.
Dass diese Massenvernichtungswaffen hier lagern und ihr Einsatz geübt wird, kann ich nicht hinnehmen, und das rechtfertigt mein Handeln. Ich beziehe mich hierbei auf den Paragraphen 34 StGB rechtfertigender Notstand: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interes-
Thuy Linh Pham studiert Medizin in Hannover und ist IPPNW-Mitglied. 13
SOZIALE VERANTWORTUNG
MAHNWACHE AM BUNDESVERTEIDIGUNGSMINISTERIUM, HIER FEHLT11.EIN BERLIN, MAITEXT 2020
Kampfdrohnen für die Bundeswehr ohne gesellschaftliche Debatte Einführung durch die Hintertür
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as Bundesverteidigungsministerium hat im Mai eine virtuelle Debatte über die Bewaffnung der geleasten Drohnen begonnen, die 2018 von der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als „breite gesellschaftliche Debatte“ angekündigt worden war. Das Bundesverteidigungsministerium schreibt dazu auf seiner Homepage: „Trotz der erheblichen Einschränkungen durch Covid-19 war gemäß dem Koalitionsvertrag in der Zeit vom 11. Mai bis zum 3. Juni 2020 in mehreren Veranstaltungen ein lebendiger, konstruktiver und transparenter Dialog öffentlich geführt worden. Dieses unter Beteiligung von Repräsentanten von Glaubensgemeinschaften, wichtigen Vertretern der Zivilgesellschaft, des parlamentarischen Raumes und der Bürgerinnen und Bürger.“ Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko dagegen spricht von einer Alibiveranstaltung. Die Koalition werde die Bewaffnung beschließen, egal was bei der „Drohnendebatte“ herauskommt, kritisierte er.
rüstungspolitische Sprecher Karl-Heinz Brunner (beide SPD) legten in einem Brief vom 2. Juli 2020 noch mal nach und nannten weitere Kriterien im Detail. Unter anderem fordern die Politiker ein ausdrückliches Verbot von extralegalen Tötungen, „um die strikte Einhaltung des Völkerrechts zu gewährleisten und uns ausdrücklich von der Praxis einzelner anderer Staaten abzugrenzen“. Notwendig sei zudem eine kategorische Ablehnung von vollautomatisierten Drohnen und anderen Waffensystemen, um die finale Entscheidung über den Einsatz von Waffengewalt stets auf einem menschlichen Urteil begründen zu können. Ob die CDU diesen Voraussetzungen zustimmen wird, bleibt abzuwarten.
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er Arbeitskreis gegen bewaffnete Drohnen, in dem die IPPNW mitarbeitet, hält eine intensive, öffentliche, kontroverse Debatte über die Bewaffnung der Bundeswehr-Drohnen weiterhin für notwendig. In Zeiten der Corona-Pandemie sind die ohnehin begrenzten Möglichkeiten der Zivilgesellschaft, sich an Bundestagsdebatten zu beteiligen, zusätzlich eingeschränkt. Daher hat das breite Bündnis der Zivilgesellschaft zu militärischen Drohnen am 16. September 2020 zu einer öffentlichen Online-Debatte über die Bewaffnung der Bundeswehr-Drohnen eingeladen.
Wer die ersten öffentlichen Diskussionen verfolgt hat, konnte erleben, dass sie überwiegend von Menschen aus dem Umfeld der Bundeswehr geprägt waren und dadurch eine erhebliche Schlagseite hatten. Eine ausführliche Debatte mit völkerrechtlicher, verfassungsrechtlicher und ethischer Würdigung – wie im RegierungsKoalitionsvertrag vorgesehen – hat nicht stattgefunden. Inzwischen zeichnet sich ab, dass zu dieser wichtigen Entscheidung weder eine breite öffentliche, noch eine eigenständige parlamentarische Debatte stattfinden soll. Stattdessen soll eine Entscheidung wohl nach der Sommerpause durch die Hintertür mittels Finanzierungsbeschluss über den Bundeshaushalt getroffen werden.
Derweil schafft die Bundeswehr bereits Fakten. Die von Israeli Aerospace Industries für die Bundeswehr entwickelte Heron TP hat am 26. Juli 2020 einen ersten Testflug absolviert. Sie wurde auf der Basis der Drohne Eitan entwickelt, die seit rund zehn Jahren von den israelischen Streitkräften über den palästinensischen Gebieten eingesetzt wird. Ab dem Jahr 2021 sollen die Heron TP die Aufklärungsdrohnen Heron 1 in Afghanistan ersetzen und ab 2024 in Mali eingesetzt werden.
Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gabriela Heinrich kündigte Ende Juni 2020 in einem Zeitungsinterview eine Zustimmung ihrer Fraktion zur Beschaffung von Waffen für die unbemannten Systeme vom Typ Heron TP an, falls gewisse Bedingungen erfüllt seien. Voraussetzung sei beispielsweise eine Steuerung bewaffneter Drohnen aus dem Einsatzland, eine psychologische Betreuung der Drohnenpilot*innen und -Operator*innen sowie die Offenlegung der allgemeinen Einsatzregeln. Der verteidigungspolitische Sprecher Fritz Felgentreu und der ab-
Das Online-Hearing des AK Drohnen findet am 16.9.2020 statt. Anmeldung: ippnw.de/bit/hearing
Susanne Grabenhorst ist Co-Vorsitzende der IPPNW. 14
FRIEDEN
Vergesst Libyen nicht! Verzweifelte Lage in den Internierungslagern
Die internationale Gemeinschaft verhindert, dass Geflüchtete ihrem Elend in Libyen entkommen. Das ist untragbar.
Dennoch lösten die indirekten Folgen der weltweiten Krise bei den Hunderten Menschen, die in den nominell von der Regierung in Tripolis kontrollierten Internierungslagern ausharren müssen, eine neue Welle der Verzweiflung aus. Libyen hat sich zu einem Sammelpunkt für Menschen aus Afrika auf der Flucht vor Krieg und Armut entwickelt. In Libyen mit sechs Millionen Einwohnern halten sich Schätzungen zufolge etwa 650.000 Geflüchtete und Migranten auf. Einige von ihnen sitzen dort fest, nachdem sie beim Versuch aufgegriffen wurden, das Mittelmeer zu überqueren.
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ie Coronavirus-Pandemie hat die Programme der Vereinten Nationen zur freiwilligen Rückführung für eine längere Zeit zum Stillstand gebracht, auch wenn jüngst verkündet wurde, dass sie grundsätzlich wiederaufgenommen werden sollen. Doch trotz dieses kleinen Lichtblicks gibt es auch weiterhin nicht viel Hoffnung für den Großteil dieser Menschen, dem Kreislauf von Missbrauch und Gewalt in Libyen zu entkommen, in dem der Bürgerkrieg inzwischen seit mehr als fünf Jahren tobt. Alle Abmachungen und Aufrufe zum Waffenstillstand, welcher auch eine angemessene Bereitschafts- und Reaktionsplanung hinsichtlich Covid-19 ermöglichen sollte, stießen bei den Kriegsparteien auf taube Ohren. Im Gegenteil: Mit massivem Beschuss sowie tödlichen Angriffen auf
Mit frühzeitig umgesetzten Präventivmaßnahmen wie Ausgangssperren und Grenzschließungen gelang es weitgehend, die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen. Infolgedessen geriet jedoch die schwache Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs. In den Wochen nach Bekanntwerden der ersten Corona-Fälle wurden Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel knapp, die Preise stiegen deutlich.
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onseiten des UN-Welternährungsprogramms gelangen aktuell keine Versorgungsgüter dorthin, was auf einer politischen Entscheidung beruht. Die UN wollen sich nicht in Widerspruch zu ihrer ablehnenden Haltung gegenüber willkürlichen Inhaftierungen begeben. Diese Haltung spiegelt einen bei humanitären Akteuren allgemein vorherrschenden Trend wider. Auch Ärzte ohne Grenzen billigt nicht, dass Geflüchtete und Migranten eingesperrt werden. Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass alle Bemühungen, dies zu ändern, derzeit ins Leere laufen. Umso wichtiger ist es, die Betroffenen in dieser schwierigen Lage nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Die überwiegende Mehrheit der Geflüchteten und Migranten in Libyen – einschließlich derer, die während der letzten Monate aus den Internierungslagern freigelassen wurden oder ihnen entkommen konnten – lebt in größeren Städten. Auch die Lage dieser Menschen ist prekär, weil sie wegen der Ausgangssperren in Folge der Pandemie nicht arbeiten können. Sie sind in ständiger Gefahr, ausgeraubt, entführt, misshandelt und um Lösegeld erpresst zu werden. Vielen bleibt keine andere Wahl als die Flucht über das Mittelmeer. Ärzte ohne Grenzen erreicht aktuell eine noch nie dagewesene Menge von Hilfe15
rufen von Menschen, die nichts zu essen haben oder ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Außerdem schüren die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ihre Angst vor Festnahmen oder Entführungen. An den Rand gedrängt, bilden all diese Menschen eine Art Schattengesellschaft. Internationale Organisationen unterstützen sie hauptsächlich mit einmalig zur Verfügung gestellten Hilfspaketen. Dabei ist es wegen der angespannten Sicherheitslage schwer, die Bedürftigen zu erreichen. Obwohl die EUseit Ende 2015 mehr als 500 Millionen Euro für migrationsbezogene Projekte in Libyen mobilisiert hat, ließen Diplomaten und UN-Vertreter schon vor der Pandemie verlauten, man könne wenig für die Genannten tun.
Foto: Brainbitch / CC BY-NC 2.0
Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen bekämpften sie sich danach in und um Tripolis vorübergehend noch härter.
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iese Haltung steht für eine Politik mit dem Ziel, unerwünschte Geflüchtete und Migranten um jeden Preis von Europa fernzuhalten. Hier ist ein radikaler Wandel nötig. Dem Schutz dieser in Libyen eingeschlossenen Menschen muss auf internationaler Ebene absoluter Vorrang eingeräumt werden.
Anmerkung der Redaktion: Am 21. August 2020 haben die beiden wichtigsten Bürgerkriegsparteien einen Waffenstillstand ausgerufen. Frühere Waffenruhen konnten die Kämpfe bisher nicht stoppen.
Sacha Petiot leitet die LibyenMission von Ärzte ohne Grenzen.
Foto: MSF
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ovid-19 erreichte Libyen am 25. März 2020. Seit der Registrierung des ersten Falls verläuft die Pandemie in dem Bürgerkriegsland vergleichsweise moderat. Bis Mitte Juni stieg die Zahl der Fälle auf lediglich 418. Bislang führte sie auch noch nicht zu einem plötzlichen Anstieg der Sterblichkeit in den berüchtigten Internierungslagern des nordafrikanischen Landes, in denen viele Geflüchtete, Migranten und Asylsuchende unter schrecklichen Bedingungen auf unbestimmte Zeit festgehalten werden.
SOZIALE VERANTWORTUNG
Gesundheitliche Folgen der Abschiebung von Kindern und Jugendlichen Im Oktober 2020 erscheint ein neuer Report des IPPNW-Arbeitskreises „Flucht und Asyl“
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elbst gesunde Menschen können durch drohende und tatsächliche Abschiebungen und durch ein Leben in teils jahrelanger existenzieller Unsicherheit gesundheitlich schwer geschädigt werden. Für Kinder und Jugendliche gilt dies in besonderem Maß. Das Muster ihrer Reaktionen auf diese Situation ist altersabhängig und individuell sehr variabel. Sehr kleine Kinder reagieren oft mit Verhaltensauffälligkeiten wie Essund Trinkverweigerung, Schlafstörungen und autoaggressivem Verhalten. Im Alter von 19 Monaten musste die kleine Ina bei einem gescheiterten Abschiebeversuch im Lager Manching bei Ingolstadt im März 2017 mit ansehen, wie die Polizei ihren Vater und ihren 14jährigen Bruder zu Boden brachte und fesselte. Die schwer traumatisierte Mutter brach zusammen und musste anschließend vier Wochen stationär psychiatrisch behandelt werden. Danach verweigerte das Mädchen das Essen. Sie schlug sich wiederholt den Kopf an die Wand, wobei eine große Platzwunde entstand, und riss sich Haare aus.
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tatt die dringend indizierte stationäre Behandlung des Mädchens zu ermöglichen, versuchten die Behörden erneut, die Familie abzuschieben, diesmal ohne die Mutter. Erst am Flughafen Frankfurt fand der verzweifelte Vater einen Arzt, der sich die Atteste seiner kleinen Tochter durchlas und dann die Abschiebung stoppte. Ina und ihr Vater kehrten zurück ins Lager Manching, die 11 und 14 Jahre
alten Geschwister kamen in ein Jugendheim. Keine 24 Stunden später nahmen zehn PolizeibeamtInnen und Angestellte des Jugendamtes dem Vater die kleine Ina gewaltsam weg. Diese kam zunächst in das Jugendheim, wo ihre Geschwister waren, doch später wurde sie dort wieder abgeholt und in eine Pflegefamilie gebracht. Durch ärztliche Intervention gelang es, für Ina eine stationäre Therapie im Kinderzentrum begeleitet durch den Vater durchzusetzen. Nach drei Wochen war das Mädchen deutlich stabilisiert, musste aber nach der Entlassung weiter im Camp leben, obwohl den Behörden ärztliche Stellungnahmen vorlagen, dass bei Inas weiterem Aufenthalt dort eine Chronifizierung der Störung eintreten würde.
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nde Juli 2017 war eine erneute stationäre Aufnahme der Mutter vorgesehen, musste allerdings wegen Bettenmangels in der Psychiatrie verschoben werden. Am nächsten Tag wurde sie mit ihren drei Kindern aus dem Lager Manching abgeholt, in Hand- und Fußfesseln gelegt und mit einem Krankentransport liegend zum Flughafen gebracht. Wieder mussten die Kinder, die vom Jugendamt begleitet wurden, alles mit ansehen. Ein Urteil über den Eilantrag der Anwältin beim Münchner Verwaltungsgericht wurde nicht abgewartet, sämtliche aktuellen Atteste zur Reiseunfähigkeit wurden ignoriert, ein Begleitarzt stufte Frau B. als flugtauglich ein, ein hinzugezogener Flughafenarzt widersprach dem vergeblich. Mutter und Kinder wurden in einem extra für sie gecharter16
ten Flugzeug abgeschoben. Der Ehemann und Vater der Kinder blieb er in Deutschland, und die Familie wurde getrennt. Die Jugendlichen wurden mit ihrer schwerkranken Mutter und der kleinen Schwester allein gelassen. Weder während, noch nach dem Flug wurden die Kinder betreut – sie alle hatten große Angst. Die elfjährige Matilda berichtete, dass es ihrer Mutter nach der Abschiebung sehr schlecht ging, sie war voller Hämatome, hatte stärkste Kopfschmerzen und bekam keine Medikamente. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde der Bayerischen Ärzteinitiative für Flüchtlingsrechte gegen die Zentrale Ausländerbehörde wegen massiver Verletzungen der seelischen Gesundheit von Kleinkindern wurde von der Regierung von Oberbayern als unbegründet zurückgewiesen. Ältere Kleinkinder zeigen häufig Symptome wie hartnäckige Verstopfung und nächtliche Angstzustände. Die neue gesetzlich vorgegebene Strategie der Ausländerbehörden, Abschiebungen nicht anzukündigen, führt offensichtlich besonders oft zu einer massiven Schädigung der Kinder, die durch das nächtliche Eindringen der Polizei in ihre Unterkunft ausgelöst wird. „Kinder würden aus Angst vor einer unangekündigten nächtlichen Abschiebung bereits mit ihren Schuhen zu Bett gehen, um … vorbereitet zu sein.“ In Stephanskirchen mussten vier syrische Kinder im Alter von ein bis sieben Jahren aufgrund massiver Angstzustände, Schlaflosigkeit und Verhaltensstörungen behandelt werden. Vorausgegangen war ein
unangekündigter Abschiebungsversuch nach Ungarn, der um vier Uhr früh begonnen und später aufgrund des Gesundheitszustandes der schwangeren Mutter abgebrochen wurde. Am Tag vor dem Abschiebeversuch war ein Gerichtsurteil bekannt geworden, nach dem Dublin-Abschiebungen nach Ungarn auf Grund der schlechten Situation dort unzulässig sind. In Schweden wurde seit Beginn des Jahrtausends ein spezifisches Syndrom bei Hunderten von Kindern und Jugendlichen beschrieben, die mit ihren Familien meist aus Balkanländern geflüchtet waren: das „Resignation Syndrome“. Die Betroffenen sind typischerweise zwischen 8 und 15 Jahren alt und vollkommen passiv, zurückgezogen und stumm; sie haben keine Muskelspannung, sind unfähig zu essen und zu trinken, inkontinent und reagieren nicht auf physische Reize oder Schmerz. Nach einer Lockerung der Asylgesetzgebung 2006 sei die Häufigkeit zurückgegangen.
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ie meisten älteren Schulkinder und Jugendlichen reagieren aber auf traumatisierende Situationen wie eine Abschiebung ähnlich wie junge Erwachsene. Zu den Symptomen der Traumafolgestörungen zählen Schmerzzustände, Schlafund Konzentrationsstörungen, Alpträume, Hyperarousals (Übererregung), Flashbacks und dissoziative Zustände. Die 2017 11 und 14 Jahre alten Geschwister der kleinen Ina waren natürlich damit überfordert, sich um die kranke Mutter und die kleine Schwester zu kümmern. In
Albanien ließen sich beide etwa vier Wochen nach der Abschiebung kinder- und jugendpsychiatrisch untersuchen, wobei eine posttraumatische Störung mit nächtlichen Erregungszuständen und eine generalisierte Angststörung festgestellt und eine Weiterbehandlung in einer spezialisierten Klinik in Tirana empfohlen wurde. Beide klagten darüber, immer wieder die Szene vor Augen zu haben, wie ihre Mutter gefesselt ins Flugzeug geschleppt wurde. Aus Angst vor Blutrache konnten die beiden in Albanien nicht zur Schule gehen. Sie flohen erneut nach Deutschland und wurden als unbegleitete Minderjährige in Bayern aufgenommen, wo sie auch die Schule besuchten. Während der Pfingstferien 2019 wurden sie von einem Großaufgebot aus Polizei, Jugend- und Ausländeramt überraschend und sehr gewaltsam erneut abgeschoben. Der Bayerische Flüchtlingsrat teilt mit: „Nach der Festnahme wurden die Kinder getrennt und direkt zum Münchner Flughafen gefahren. Es wurde ihnen nicht ermöglicht, persönliche Dinge, Kleidung oder Geld mitzunehmen. Bis zum Abflug wurden sie isoliert in Einzelzellen des Münchner Flughafens eingesperrt – ohne Ansprechpartner*innen, ohne Nahrungsmittel, ohne Handys. In Tirana/Albanien angekommen, haben sich die Jugendamtsmitarbeitenden an der geöffneten Flugzeugtür verabschiedet. Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge wurden weder einer geeigneten Jugendhilfeeinrichtung in Albanien noch den sorgeberechtigten Eltern übergeben, wie dies gesetzlich vorgesehen ist. Das Wohl der 17
Kinder, entsprechende Unterbringung und Versorgung sind nicht garantiert.“ Durch Abschiebung werden Kinder und Jugendliche aus dem Kindergarten oder ihrer Schule gerissen, wo sie für ihre Zukunft lernen und Freunde gefunden haben. Sie kommen in eine Umgebung, die ihnen oft unbekannt ist und wo ihre Bildungschancen in aller Regel sehr schlecht sind.
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ie Praxis der Abschiebung von Kindern und Jugendlichen verstößt oft gegen Artikel 2 und Artikel 6 Grundgesetz (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Schutz der Familie) und Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung). Sie verstößt immer gegen Artikel 3 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die bei uns geltendes Recht ist (Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatlichen Maßnahmen). Doch die Ausländerbehörden kennen nur ein Gesetz, das gnadenlos angewandt wird, das Aufenthaltsgesetz. Abschiebungen von Kindern und Jugendlichen müssen abgeschafft werden, da sie das Kindeswohl und die Gesundheit massiv gefährden. In einem ersten Schritt sind unangekündigte nächtliche Abschiebungen und Festnahmen in Kindergärten und Schulen zu unterlassen. . Dies ist ein Vorab-Auszug aus port „Gesundheitliche Folgen schiebung“ des AK Flucht und im Oktober 2020 veröffentlicht
dem Revon AbAsyl, der wird.
ATOMENERGIE
Exportstopp über den Rechtsweg? Wie eine Klage belgische Alt-Reaktoren zum Stillstand bringen kann
Manchmal scheint der Rechtsweg das letzte verbleibende Mittel zu sein, um politisch etwas bewegen. Zu einem ähnlichen Schluss gelangte ein Anti-Atomkraft-Bündnis aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, dem auch die IPPNW angehört. Stellvertretend für das Bündnis hat nun eine Privatperson aus Aachen am Dienstag, dem 11. August 2020 Klage gegen die aktuelle Ausfuhrgenehmigung für Brennelemente von Lingen zu den beiden Uralt-Reaktoren Doel 1 und 2 in Belgien eingereicht.
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eit über vier Jahren kämpfen die Initiativen und Vereine für einen vollständigen Ausstieg Deutschlands aus dem Atomgeschäft. Auf Demonstrationen, Mahnwachen und bei Gesprächen in Ministerien forderten sie immer wieder die Schließung der beiden weltweit agierenden Uranfabriken sowie einen sofortigen Exportstopp für nukleare Brennstoffe. Dass sich die Bundesrepublik offiziell zum „Atomausstieg“ bekennt und auf der anderen Seite die Urananreicherungsanlage in Gronau (NRW) und die Brennelementefabrik in Lingen (Niedersachsen) unbegrenzt weiter betreiben lässt, ist nicht nachvollziehbar. Viele Menschen empört besonders, dass die Atomfabriken ausgerechnet die gefährlichsten Reaktoren in Europa beliefern, deren Standorte sich nahe der deutschen Grenze befinden – so auch Doel 1 und 2.
bestückt, doch irgendwann nicht mehr – die AKW-Betreiber hatten den Lieferanten gewechselt. Die Meiler Doel 1 und 2 dagegen sind abhängig von den speziellen Brennstäben, die nur in Lingen angefertigt werden, davon ist auszugehen.
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Eine solche Schließung auch umzusetzen, ist innerhalb der großen Koalition jedoch undenkbar. Auch der letzte Vorstoß von Umweltministerin Svenja Schulze, ein teilweises Exportverbot für Brennelemente im Atomgesetz zu verankern, stieß beim Koalitionspartner auf Granit.
Proteste, juristische Argumente und die wachsende Aufmerksamkeit der Medien schienen zeitweise die Politik in Bewegung zu bringen. Die Umweltminister der Länder forderten 2016 gemeinsam das baldige Ende der Urananreicherung und Brennelementfertigung, Linke und Grüne brachten das Thema im Bundestag zur Diskussion, bis schließlich sogar das Bundesumweltministerium mit einem Gutachten aufzeigte, dass eine Schließung der Atomfabriken bis 2022 sehr wohl rechtssicher möglich wäre.
lar ist, im Falle einer Kernschmelze wären höchstwahrscheinlich große Teile der Bevölkerung in Deutschland vom radioktivem Fallout betroffen. Nach dem Atomgesetz jedoch dürfen nukleare Exportgüter zu einem derartigen Risiko gar nicht beitragen. Eine Ausfuhrgenehmigung für „Kernbrennstoffe“ darf nicht erteilt werden, wenn durch deren Verwendung die „innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ gefährdet werden könnte. So stellte es die Rechtsanwältin Dr. Cornelia Ziehm in einem Gutachten dar, das die IPPNW 2016 in Auftrag gegeben hatte. Wurden und werden also diese Brennstoff-Exporte vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) rechtswidrig genehmigt? Das in diesem Fall weisungsbefugte Bundesumweltministerium bestritt dies von Beginn an und sah sich offenbar doch im Zugzwang, denn es beauftragte ein aufwändiges – und schlussendlich wenig überzeugendes – Gegengutachten.
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as BMU hätte es in der Hand, die Brennstoff-Exporte zu unterbinden. Einerseits. Andererseits – so hört man hinter vorgehaltener Hand – steht Schulzes Ministerium unter dem Druck des politisch einflussreicheren Wirtschaftsministeriums, des Hauses Altmaier. Es ist eine verfahrene Situation, ein politisches Schachmatt. Und so mag es nur auf den ersten Blick verwundern, dass das BMU – wenn man seine Aussagen richtig deutet – über die Klage gar nicht unglücklich ist. Im Gegenteil, scheinbar hofft man auf eine endgültige Klärung vor Gericht, also auf ein Präzedenz-Verfahren bis zur letzten Instanz.
Währenddessen verlor der Brennelement-Hersteller Aufträge für Belgien, denn die hoch umstrittenen Rissereaktoren Tihange 2 und Doel 3 wurden zwar 2017 noch mit Brennelementen aus Lingen 18
Europäische Gerichtshof und anschließend das oberste belgische Gericht den Betrieb der beiden Meiler für grundsätzlich illegal; er wird bis Ende 2022 nur noch geduldet.
Tatsächlich hat der Fall in mehrfacher Hinsicht Pilot-Charakter: Zum ersten Mal überhaupt wird sich ein deutsches Gericht mit der Sicherheit eines ausländischen Atomkraftwerks im Zusammenhang mit dem Export deutscher Brennelemente befassen müssen. Dass die 45 Jahre alten Reaktoren marode sind, wird schnell zu erkennen sein – nicht nur wegen des brisanten, bis heute ungeklärten Störfalls in Doel 1 vor zwei Jahren, als durch ein Leck nahe des Reaktors etwa 6.000 Liter radioaktives Wasser aus dem Primärkreislauf entwichen. Zahlreiche, gravierende Sicherheitslücken sind systembedingt.
Markantes Detail: Nur einen Tag vor dem Urteilsspruch des EuGH, an einem Sonntag im Juli 2019, rollte der letzte BrennelementTransport von Lingen nach Doel.
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ollte das Frankfurter Verwaltungsgericht dem Kläger Recht geben und das Urteil auch in höchster Instanz bestätigt werden, würde einiges grundsätzlich in Frage stehen: Zum einen die Exporte von Framatome ins grenznahe Ausland. Nicht nur für Doel 1 und 2 wären Brennelemente aus Lingen tabu, sondern womöglich auch für das störanfällige Cattenom sowie die Atomkraftwerke Gösgen und Leibstadt in der Schweiz. Zum anderen müsste das BAFA seine schematische Genehmigungspraxis von Grund auf ändern.
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ie der angesehene Nuklearexperte Prof. Manfred Mertins erläutert, gehören Doel 1 und 2 zu den Meilern, deren Sicherheitskonzept noch vor den Unfällen von Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima entstand. Bestimmte Unfallszenarien, die sich später als realistisch herausstellten, sind darin gar nicht einbezogen. So gibt es nur zwei Sicherheitsstränge – nicht drei, wie heutzutage erforderlich. Die Stränge sowie die beiden Blöcke sind funktional nicht voneinander entkoppelt. Die Meiler sind nicht ausreichend vor extremen Fluten, Erdbeben oder Flugzeugabstürze geschützt, Fundament und Containment sind nicht robust genug, um im Falle einer Kernschmelze radioaktives Inventar zurückzuhalten und die nicht austauschbaren Komponenten, allen voran der Reaktordruckbehälter, verspröden immer schneller aufgrund ihres Alters. Die Materialermüdung ist deshalb so gefährlich, weil sie schleichend vor sich geht und oft nur schwer zu ermitteln ist. Diese Mängel durch Nachrüstungen zu beheben, wäre praktisch unmöglich oder viel zu aufwändig.
Würde der Kläger vor Gericht scheitern, hätte zumindest die aufschiebende Wirkunng des langen Verfahrens einen wichtigen Zweck erfüllt. Der Betrieb der Uralt-Reaktoren in Belgien müsste mangels Brennstoff spätestens im Frühjahr 2021 eingestellt werden und das vorzeitige Ende der Brennelement-Fertigung in Lingen würde ebenfalls beschleunigt. Schon jetzt hat die Firma eine so geringe Auslastung wie selten zuvor, ein Trend, der sich durch den deutschen „Atomausstieg“ noch verstärken wird. Mehr Infos und Spendenkonto unter: ippnw.de/bit/exportstopp
Nach internationalen Standards sollten Atommeiler generell nicht länger laufen als 40 Jahre, da sie für einen längeren Betrieb nicht ausgelegt sind. Ausnahmen sind nur zulässig, wenn nachgewiesen werden kann, dass ihr Zustand dem heutigen Sicherheitsniveau entspricht. Auch für Doel 1 und 2 war ursprünglich vorgesehen, sie nach 40 Jahren Betrieb vom Netz zu nehmen. Doch dann beschloss das belgische Parlament 2014 eine Verlängerung ihrer Laufzeit um zehn Jahre. Nach europäischem Recht hätte dafür eine aufwändige Prüfung unter Einbeziehung der Nachbarstaaten – eine grenzübergreifende Umweltverträglichkeitsprüfung – erfolgen müssen, was aber nicht geschah. Aus diesem Grund erklärten der
Anika Limbach ist Journalistin und Autorin und aktiv in der Antiatom-Bewegung. 19
Foto: Marc Wathieu / CC BY-NC-ND 2.0
STOP TIHANGE: MENSCHENKETTE IM DREILÄNDERECK AM 25. JUNI 2017
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Foto: Lena Theunissen/IPPNW
üchel: Über 100 Menschen feierten den dritten Geburtstag des AtomwaffenVerbotsvertrags. Mit Corona-Auflagen wurde das Aktionscamp auf einer Wiese direkt am Atomwaffenstützpunkt Büchel genehmigt.
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Die Bilder von den Aktionstagen finden Sie auf Flickr: https://www.flickr.com/photos/ippnw
Aktionstage in Büchel Drei Jahre Atomwaffenverbotsvertrag
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er Vertrag zum Verbot von Atomwaffen, der im Laufe der Aktionstage viel Würdigung erfuhr, war vor drei Jahren, am 7. Juli 2017 von 122 Staaten in der UN unterzeichnet worden. Für viele Aktivist*innen weltweit steht der Vertrag für eine faire, gewaltfreie globale Ordnung – und mittlerweile fehlen nur noch sechs Ratifizierungen, um ihn zu gültigem Recht werden zu lassen. Mit Wunderkerzen und Tanzmusik wurde in der Nacht eine lebensgroße Geburtstagstorte für den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen eingeweiht. IPPNW- und ICAN-Mitglieder hatten sie in intensiver Detailarbeit gebaut und bemalt.
Foto: Sarah Kuiter/IPPNW
Aus allen Ecken Deutschlands hatten sich Menschen auf den Weg gemacht, um gegen die in der Eifel stationierten Atomwaffen zu protestieren. Die Freude darüber, dass das Camp trotz unsicherer Bedingungen im Vorfeld stattfinden konnte, war bei allen Angereisten groß. Die Aktionstage im Sommer 2021 sind bereits in Planung – auf Wiedersehen in Büchel!
Foto: Lena Theunissen/IPPNW
Siehe auch Bericht S. 14 f. im internen Teil
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ATOMWAFFENVERBOT
Foto: Sarah Kuiter /IPPNW
STOP TIHANGE: MENSCHENKETTE IM DREILÄNDERECK AM 25. JUNI 2017 3. JAHRESTAG DES ATOMWAFFENVERBOTS. BÜCHEL, 7. JULI 2020
Blick über den Tellerrand Initativen auf der ganzen Welt kämpfen für das Atomwaffenverbot
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en dritten Geburtstag des Verbotsvertrages haben Aktivist*innen aus ganz Deutschland und den Niederlanden in Büchel mit einer riesigen Geburtstagstorte gefeiert. Drei Jahre nach der Verabschiedung des Vertrags ist es fast geschafft. Es fehlen nur noch sechs Ratifizierungen. Dann, neunzig Tage nach der 50. Ratifizierung, tritt der Vertrag offiziell in Kraft. Der Vertrag stellt einen Meilenstein in den Abrüstungsbestrebungen der letzten Jahrzehnte dar und auch eine zwei Meter hohe Geburtstagstorte reicht eigentlich nicht aus, um ihn zu würdigen. Doch letztendlich bleibt er nur ein Werkzeug, das, wenn man es nicht benutzt, verstaubt in einer Schublade landet. Doch glücklicherweise sind wir davon weit entfernt. Seit drei Jahren kämpfen Aktivist*innen weltweit darum, ihre Regierungen zu überzeugen, dem Vertrag beizutreten. Durch den Vertrag sollen die Bedingungen geschaffen werden, unter denen eine globale nukleare Abrüstung tatsächlich stattfinden kann. Doch trotz des hartnäckigen und kreativen Aktivismus auch hier zu Lande hat sich die deutsche Regierung bisher noch wenig bewegt. Im Grunde genommen befinden wir uns in einer paradoxen Situation. Die deutsche
Bundesregierung spricht sich für das Ziel einer atomwaffenfreien Welt aus; 2010 hat der Bundestag beschlossen, die Stationierung der Atomwaffen in Büchel zu beenden. Mit dem Ächtungsvertrag besteht erstmals die Möglichkeit, Atomwaffen umfassend zu verbieten – Deutschland könnte diesem Vertrag beitreten; die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt den Vertrag und spricht sich gegen die Stationierung und Modernisierung der Atomwaffen in Deutschland aus ( ICAN Deutschland,2019) Und was tut die Bundesregierung? Erstmal nichts. Naja, nicht so ganz: die Verteidigungsministerin wollte erst kürzlich neue atomar bestückbare Kampfjets in Milliardenhöhe von Steuergeldern kaufen. Den Verbotsvertrag ignoriert sie derweil. Doch warum geht es nicht voran? Wie können wir den Druck auf die Regierung erhöhen? Nun, vielleicht lohnt sich ein Blick über unseren nationalen Tellerrand.
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ach Spanien zum Beispiel. Spanien ist NATO-Mitglied, hat sich allerdings bereits 1986 mittels eines Referendums gegen die Stationierung von Atomwaffen auf seinem Territorium ausgesprochen. Doch seitdem ist auch hier eher wenig in passiert. Die Verhandlungen zum Verbotsvertrag boykottierte die spanische Regierung ebenso wie die Deutsche. 2018 stand 22
der Vertrag dann plötzlich ganz oben auf der Agenda. Die Partei Podemos („Wir können“) stellte für ihre Zustimmung zum nationalen Haushalt 2019 Bedingungen. Darunter eine, die sich kurz und knackig präsentieren lässt: „Spain will sign the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons (TPNW)“. Und der Koalitionspartner, die Partei der Sozialisten Kataloniens (PSC) und Pedro Sanchez ließ sich auf den Deal ein.
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egonnen hatte der neuerliche Aufschwung mit einer humanitären Konferenz im Frühjahr 2018. Dort, so erzählte mir Carlos Umana – IPPNW-Mitglied aus Costa Rica und Mitglied der International Steering Group (ISG) von ICAN für die IPPNW – wurden zwei spanische Abgeordnete auf den Verbotsvertrag aufmerksam. Wenige Wochen später, im Mai 2018, unterschrieben 92 Mitglieder des spanischen Parlaments, die meisten von ihnen Mitglieder von Podemos, den „Parliamentarian Pledge“ (ICAN-Erklärung für Abgeordnete). Damit verpflichten sie sich, die Unterzeichnung und Ratifizierung des Verbotsvertrages in ihren Ländern voranzutreiben. Die Unterschriften nahm die Geschäftsführerin von ICAN Beatrice Fihn feierlich entgegen. Dazu gab es Fotos mit der Nobelpreismedaille.
Bis heute gehört Spanien nicht zu den Unterzeichnern, denn das Verteidigungsministerium stoppte den Prozess. Die Regierung führte eine Rechtsberatung durch, ob die NATO-Mitgliedschaft dem Vertrag entgegenstünde. Carlos Umana und seine Kollegen von ICAN übersetzten zügig ein entsprechendes Briefing, das von norwegischen Partnern ausgearbeitet wurde. Sie verbreiteten es unter Parlamentarier*innen und der Presse, doch die Regierung blieb vorerst bei ihrer Entscheidung: Aktuell könne man nicht unterzeichnen – aus politischen Gründen. Im November 2018 nahmen dann ICANVertreter an dem „World Forum on Urban Violence and Education for Coexistence and Peace“ in Madrid teil. Inspiriert von diesem Forum wurde der ICAN Cities Appeal gegründet. Er bietet Städten die Möglichkeit, symbolisch den Vertrag zu unterzeichnen und macht den Prozess demokratischer. Denn das ist eine der Stärken dieses Vertrages: die „Demokratisierung des Abrüstungsprozesses“ (Umaña, 2020). Im August 2020 hatten elf spanische Städte unterzeichnet, darunter auch Barcelona. Madrid allerdings fehlt noch. Carlos Umana ist nicht nur in der Abrüstungsbewegung aktiv, sondern setzt sich in seinem Heimatland auch für die Rechte der LGBTQ-Community ein. Auch diese Arbeit führte ihn mehrmals nach Spanien, wo er viele Kontakte zu Politker*innen knüpfen konnte. Und diesen erzählte er natürlich auch von ICAN und dem Verbotsvertrag, denn, so Carlos „It’s the same type
of violence behind homophobia and nuclear weapons. People fighting them have many things in common.” Die Kampagnen Arbeit in Spanien nahm vor Beginn der Coronapandemie noch einmal richtig Fahrt auf und hatte mit dem Besuch von Setsuko Thyrlow einen neuen Höhepunkt erreicht. Es gab viele Interviews und Aufmerksamkeit. Dann kam die Pandemie und es gab drängendere Probleme. Doch das Thema ist nicht von der Tagesordnung verschwunden. Am 75. Jahrestag des Angriffs auf Hiroshima berichteten mehrere spanische Zeitungen auch über den Verbotsvertrag und dass die Regierung noch immer nicht unterschrieben habe. Auch der Präsident Sanchez mahnte angesichts dieses Jubiläums mit einem Tweet zu Frieden und Koexistenz.
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arlos ist zuversichtlich, dass sie den Druck auf die Regierung noch weiter erhöhen können. Auf die Frage nach dem spanischen Erfolgsrezept nannte er mehrere Dinge: Wichtig sei es aus seiner Sicht auf Intersektionalität zu setzen, gepaart mit Expert*innenwissen. Er klopfe an jede Tür und manchmal entstünden daraus neue Initiativen. Die Message müsse klar und deutlich sein; die Menschen bräuchten Informationen und eine klare Handlungsanleitung. Initiativen wie der Städte-Appell oder die Abgeordneten-Erklärung bieten die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden. Diese kleinen Schritte, so Carlos, sollten nicht unterschätzt werden, 23
denn irgendwann summieren sie sich zu einem großen Ganzen. Auch wenn sich auf Bundesebene in Deutschland bisher wenig bewegt hat, gibt es auf lokaler Ebene einige Erfolge. Über 40 Städte (darunter Stuttgart, Düsseldorf, München, Kiel) fünf Landkreise und vier Bundesländer (Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Bremen) haben den Städteappell bereits unterzeichnet. Über 500 Abgeordnete aus dem Bundestag, den Landtagen und dem Europaparlament sind der ICAN-Erklärung beigetreten. Und gerade, was Intersektionalität angeht, ist die deutsche IPPNW besonders stark. Kaum eine andere Sektion arbeitet zu so vielen verschiedenen Themen, hat Kontakte und Expertise in so vielen Bereichen und so viele Mitglieder. Wenn alle an den ihnen bekannten Türen klopfen und ihre Netzwerke nutzen, haben wir Potential, das Thema auf die politische Agenda zu setzen und vielleicht nach der nächsten Bundestagswahl erste Schritte zu erzwingen.
Franca Brüggen ist internationale IPPNWStudierendensprecherin.
Foto: ICAN
BARCELONA UNTERZEICHNET DEN ICAN-STÄDTEAPPEL, 3. APRIL 2020
ATOMWAFFENVERBOT
Wie kann Deutschland beitreten? Mögliche Schritte zur Ratifizierung des Kernwaffenverbotsvertrages
Mitgliedsstaaten bestimmt (Artikel 4.4, Artikel 8.2)
Unterzeichnung Mon ate /J
Ratifikation Ratifikation durch Bundespräsident*in, nachdem Parlament entsprechende nationale Gesetze erlassen hat.
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) 15.2
elche Maßnahmen wären zum Vertragsbeitritt nötig? Nach Unterschrift und Ratifikation träte der Vertrag für Deutschland 90 Tage später in Kraft. Deutschland müsste die Praxis der nukleare Teilhabe in der NATO beenden. Die zwanzig in Büchel (Rheinland-Pfalz) stationierten amerikanischen Waffen, die technische Komponente der Teilhabe, müssten abgezogen werden. Dafür wird das erste Treffen der Mitgliedsstaaten des Verbotsvertrages eine Frist festlegen, die für alle Stationierungsstaaten im Beitrittsfall gilt. Ein Abtransport der Waffen ist technisch einfach umzusetzen und erfolgt mit amerikanischen Transportflugzeugen. Eine verpflichtende Verifikation des Abzuges sieht
Frist für Abzug wird auf
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Deutschland ist weithin außen vor geblieben und hat sich nicht an den Verhandlungen zum Vertrag beteiligt. Einen Beitritt schließt die Bundesregierung derzeit aus, und entspricht damit auch der Position anderer NATO-Staaten. Für den Fall, dass sich zukünftige Regierungen anders entscheiden, stellt dieser Beitrag dar, wie ein Beitritt vonstatten gehen würde. Außerdem werden einzelne Schritte vorgeschlagen, die schon vor einem Beitritt beschlossen werden könnten.
der Ve rtrag nicht v o r.
Deklarationen Deklaration gegenüber UN-Generalsekretär*in: Es befinden sich ausländische Boden (Artikel 2.1.c)
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abgezogen werden. Nach dem Abzug deklariert Deutschland gegenüber UN-Generalsekretär*in, dass es seinen Verpflichtungen nachgekommen ist (Artikel 4.4)
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eit drei Jahren gibt es den Kernwaffenverbotsvertrag – „Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons“. Aktuell haben ihn 83 Staaten unterzeichnet und 44 ratifiziert. 90 Tage nach der 50. Ratifikation tritt der Vertrag in Kraft. In Europa sind bisher nur Österreich, der Vatikan und Irland Mitglieder. Die Niederlande, Schweden und die Schweiz nahmen an den Vertragsverhandlungen teil, haben sich aber gegen einen Beitritt ausgesprochen.
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Mitgliedsstaaten in dieser Zeit stattfindet, muss Deutschland über aktuellen Status des Abzuges berichten (Artikel 4.5)
Deutschland könnte freiwillige Maßnahmen ergreifen, und etwa die Bunkeranlagen in Büchel nach Abzug der Waffen zur Inspektion öffnen. Die nukleare Teilhabe sieht vor, dass Deutschland Kampfflugzeuge als Trägersysteme für die Kernwaffen zur Verfügung stellt. Ein Beitritt zum Kernwaffenverbotsvertrag hätte keine Auswirkungen auf Trägersysteme. Deutschland könnte die Flugzeuge für nicht-nukleare Zwecke weiterverwenden.
Bündnisses diskutiert. Weiterhin müsste sich Deutschland von Elementen der NATO-Doktrin distanzieren, die den Einsatz von Kernwaffen vorsehen. Letztlich muss Deutschland vom sogenannten „nuklearen Schutzschirm“ Abstand nehmen. Damit garantieren die USA, Deutschland im Falle eines Angriffes auch mit Kernwaffen zu verteidigen. Die Mitgliedschaft in der NATO wäre nicht grundsätzlich verboten.
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Der Kernwaffenverbotsvertrag erlegt Mitgliedsstaaten Verpflichtungen zur Überwachung ziviler Kernenergienutzung auf. Mit dem Beitritt würde sich Deutschland verpflichten, mindestens die gleichen Vereinbarungen mit der Internationalen Atomenergieorganisation aufrechtzuerhalten, die schon im Rahmen des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags gültig sind.
ach einem Beitritt zum Verbotsvertrag ist neben der technischen auch die politische nukleare Teilhabe verboten. Deutschland dürfe andere Staaten nicht „verleiten“, Kernwaffen zu produzieren, zu besitzen, zu nutzen oder mit der Nutzung zu drohen. Deutschland müsste aus der nuklearen Planungsgruppe der NATO aussteigen, die die Nuklearstrategie des 24
MENSCHENKETTE AM FLIEGERHORST BÜCHEL, 5. JULI 2020
Deutschland hat neben dem umfassenden Sicherungsabkommen (INFCIRC/153) auch das zugehörige Zusatzprotokoll (INFCIRC/540) unterzeichnet. Internationale Verträge werden in Deutschland durch Vertragsgesetze in nationales Recht umgewandelt. Weitere nationale Gesetze werden, falls nötig, angepasst. Im Strafgesetzbuch und im Kriegswaffenkontrollgesetz sind schon jetzt Entwicklung, Produktion, Erwerb, Besitz und der Einsatz von Kernwaffen verboten, genauso die Anstiftung anderer Staaten zu solchem Handeln. Dabei gibt es jedoch eine spezielle Ausnahmeregelung (§16 Kriegswaffenkontrollgesetz): Waffen von NATO-Bündnispartnern. Für diese gelten oben stehende Verbote nicht, sie dürfen beispielsweise Kernwaffen durch Deutschland transportieren. Nach einem Beitritt zum Kernwaffenverbotsvertrag müsste dieser Artikel entfernt werden. Zusätzlich verboten werden müsste auch die Androhung der Nutzung von Kernwaffen.
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eutschlands Position in Bezug auf Kernwaffen ist ambivalent. Eine kernwaffenfreie Welt ist das erklärte Ziel der Bundesregierung. Gleichzeitig unterstützt Deutschland als NATO-Mitglied die derzeitige Politik des Bündnisses, nach der die NATO ein nukleares Bündnis bleibt, solange es Kernwaffen gibt, und erlaubt die Stationierung fremder Waffen auf dem eigenen Territorium. Regelmäßig wiederholen Mitglieder der Bundesregierung, dass der Kernwaffenverbotsvertrag eine Gefahr für den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag sei. Die Oppositionsparteien (Linke/Grüne) stellen dagegen regelmäßig Anträge im Parlament, die die Regierung auffordern, dem Vertrag beizutreten.
Vor einem Beitritt sind einige Zwischenschritte denkbar. Erstens: Die Bundesregierung könnte die deutsche Mitwirkung an einem Ersteinsatz von Kernwaffen ausschließen. Bis heute hält sich die NATO offen, Kernwaffen auch als Antwort auf einen konventionellen Angriff einzusetzen. Ein solcher Ersteinsatz könnte einen nuklearen Schlagabtausch einleiten und so zu einem globalen Nuklearkrieg führen.
in den Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl spielen. Falls es eine Regierungsbeteilung der Grünen gibt, würde damit eine Partei in der Exekutiven sein, die in den letzten Jahren immer wieder den Beitritt Deutschlands zum Verbotsvertrag gefordert hat. Ob ein solcher Beitritt auch in einem Koalitionsvertrag verankert werden kann, ist momentan nicht abzusehen.
Zweitens könnte Deutschland beschließen, die verschiedenen Komponenten der technischen nuklearen Teilhabe nicht zu modernisieren. Die USA arbeitet an einem Nachfolgemodell für die Kernwaffen (B6112), das u.a. eine höhere Zielgenauigkeit aufweist. Beim Kauf neuer Flugzeuge würde ein Modernisierungsverzicht bedeuten, die Flugzeuge ohne Zertifizierung für Kernwaffennutzung zu erwerben.
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Drittens könnte Deutschland eine Position erarbeiten, die die Gemeinsamkeiten des Nichtverbreitungsvertrages und des Verbotsvertrages betont. Hierzu könnte Deutschland zunächst Beobachterstatus im Verbotsvertrag anstreben. Viertens könnte Deutschland darauf hinwirken, die Rolle von Kernwaffen in der NATO zu reduzieren. Derzeit berät eine Expertengruppe der NATO zu Reformplänen des Bündnisses. Möglicherweise steht bald auch eine Neufassung des strategischen Konzeptes an. Wird in diesem Prozess die Rolle von Kernwaffen in der NATO reduziert, könnte zuerst die technische nukleare Teilhabe beendet werden, später auch die politische. Schlussendlich könnte Deutschland dem Kernwaffenverbotsvertrag beitreten. Die Frage des Beitritts könnte schon im nächsten Jahr eine Rolle 25
us der Sicht von Verbotsbefürworter*innen gilt es daher, zur Wahl stehende Kandidat*innen über den Verbotsvertrag zu informieren und sie auf den Vertrag aufmerksam zu machen. So könnten innerparteiliche Positionen zu einem Vertragsbeitritt bei den Grünen, aber auch bei anderen Parteien gestärkt werden. Dies kann jede*r für sich tun, etwa in Kontakt mit den jeweiligen Direktkandidat*innen im eigenen Wahlkreis. Auch Organisationen, wie beispielsweise IPPNW, könnten Politiker*innen auf Landeslisten im Vorfeld der Wahlen anschreiben, befragen und informieren. Gleichzeitig können Wahlempfehlungen ausgesprochen werden. Selbst wenn in der nächsten Legislaturperiode kein Vertragsbeitritt beschlossen wird, könnten einige der oben genannten Schritte auf den Weg gebracht werden – Maßnahmen, die langfristig zum Ziel einer kernwaffenfreien Welt führen.
Dr. Moritz Kütt arbeitet am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) zum Thema atomare Rüstungs kontrolle.
ATOMWAFFENVERBOT
Gesundheitsfolgen von Atomwaffen Prof. Masao Tomanaga erhebt Gesundheitsdaten der Überlebenden von Hisroshima und Nagasaki
75 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki: Bis heute leiden die Überlebenden der Atombombenabwürfe unter dem gehäuften Auftreten von Krebs – aber auch anderen Erkrankungen. Mit Prof. Masao Tomonaga hat ein renommierter Arzt und IPPNWVertreter nun Gesundheitsdaten bis in die jüngste Vergangenheit zusammengetragen.
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Quelle: M. Tomanaga
n Hiroshima und Nagasaki sind in den ersten fünf Monaten 210.000 Menschen an den Folgen der Atombombenabwürfe gestorben. Japanische und US-amerikanische Wissenschaftler fingen bereits wenige Tage bzw. Wochen nach den Atombombenabwürfen damit an, klinische Daten über die Auswirkungen von Atomwaffen zu sammeln. Diese unterlagen in den ersten Jahren jedoch strenger Geheimhaltung durch die US-amerikanische Besatzungsmacht.
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ine umfassende epidemiologische Datenerhebung begann erst 1950 mit der Life-Span-Studie, die seitdem ca. 120.000 Menschen mit ihren Krankheitsgeschichten nachverfolgt. Unser heutiges Wissen über die Folgen radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Körper stammt im Wesentlichen aus dieser Langzeituntersuchung. Die gewaltige Druckwelle und der mehr als einen Tag anhaltende Feuersturm machten jeweils aus einer Fläche von vier Kilometer Radius eine Wüste. Schreckliche Szenen spielten sich ab. Kleinkindern wurden auf dem Rücken der Mütter die Köpfe abgerissen. Von manchen Menschen blieb buchstäblich nur noch ein Schatten als Erinnerung. Im Zentrum der Explosion wurden die Opfer Strahlendosen von über 100 Gray kombinierter Gamma- und Neutronenstrahlung ausgesetzt, die durch die Kernspaltung freigesetzt worden war. Derartig hohe Strahlendosen führen bei Menschen zum sofortigen Tod durch Schädigung des zentralen Nervensystems. Nur wer von der Strahlung z.B. durch eine Mauer teilweise abgeschirmt war, hatte eine Chance zu
überleben. Die durch die Explosion erzeugte Pilzwolke schleuderte Staub, Asche und verschiedene radioaktive Spaltprodukte in die Atmosphäre, die in den folgenden Tagen und Wochen als schwarzer Regen herunterkamen und große Landstriche radioaktiv verseuchten. Die medizinische Infrastruktur war unmittelbar nach den Bombardierungen in beiden Städten weitgehend zusammengebrochen. Im Umkreis von 500 Metern von Ground Zero starben 100 Prozent aller Menschen, innerhalb eines Kilometers 90 % und innerhalb von 1,5 Kilometern 50 %. Das Nagasaki Medical School Hospital befand sich nahe des Epizentrums der Detonation. Den dicken Gebäude-Mauern war es zu verdanken, dass die Menschen dort immerhin eine 50-%ige Chance hatten, den unmittelbaren Bombenabwurf zu überleben. Die meisten der Überlebenden waren dennoch so stark verletzt, dass das Krankenhaus nicht mehr 26
einsatzfähig war. In Hiroshima war die Lage noch schlimmer. Alle Krankenhäuser waren zerstört, über 90 Prozent des medizinischen Personals waren tot.
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u den multiplen schweren Verletzungen durch Feuersturm und Druckwelle traten bei vielen Menschen, die bisher gehofft hatten, dem Schlimmsten entgangen zu sein, nach Tagen bis Wochen Symptome der akuten Strahlenkrankheit auf. Es war zu dem Zeitpunkt gar nicht bekannt, dass es sich um Atombomben gehandelt hatte, deren Radioaktivität schädlich war. Erst allmählich wurden die „atomic bomb symptoms“ als solche erkannt. Überlebende und Ärzte erkannten mit Grauen, dass plötzlicher Haarausfall in der Regel den baldigen Tod ankündigte. Auch die Schleimhäute des Magen-Darm-Trakts wurden durch die Strahlung geschädigt. Es kam zu blutigen Durchfällen, schwerem Wassermangel und Anämie.
„Noch heute, 70 Jahre später, sterben die Menschen an den Spätfolgen einer Atombombe, die im Vergleich zur heutigen technologischen Entwicklung dieser Massenvernichtungswaffen lächerlich war.“
Die Schädigung des blutbildenden Systems im Knochenmark führte zu einem dramatischen Verlust der für die Immunabwehr notwendigen weißen Blutzellen und der für die Blutgerinnung wichtigen Plättchen. Hohes Fieber, bakterielle Infektionen und Blutungen traten auf.
durch Strahlung geschädigt werden, funktionieren sie häufig noch über eine lange Zeit gut. Erst wenn mit zunehmendem Alter weitere DNA Läsionen hinzukommen, können die Schäden nicht mehr kompensiert werden und es kommt zum Auftreten von bösartigen Erkrankungen.
Bei den häufig großflächigen Hautverbrennungen kam es zu einer ungewöhnlich starken Bildung von tumorartigen Narbengeschwulsten (Keloid).
Aktuelle Studien deuten außerdem darauf hin, dass es einen von der erhaltenen Strahlendosis abhängigen Anstieg von Herzerkrankungen bei älteren HiroshimaÜberlebenden gibt. Der pathogenetische Mechanismus dafür ist bisher noch nicht verstanden. Zu lebenslangem Leid haben häufig psychische Folgeerkrankungen wie Depressionen und post-traumatische Belastungsstörungen geführt.
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esonders Frauen litten unter der sichtbaren Stigmatisierung und hatten Angst keinen Partner zu finden und missgebildete Kinder zu bekommen. In den folgenden Jahren stiegen Krebserkrankungen an. Ende der 40er Jahre kam es zu einer ersten Welle von Leukämien, gefolgt von einer Vielzahl unterschiedlicher solider Krebserkrankungen. Hierzu zählen Lungen-, Brust, Schilddrüsen- Magen-, Kolon-, Leber-, Haut- und Blasentumoren. Die erhöhte Sterblichkeit an soliden Krebserkrankungen ist bei den Überlebenden etwa bis zum Jahr 2000 linear angestiegen und hält sich seitdem auf dem erhöhten Niveau. Außerdem wurde bei den Überlebenden im höheren Alter eine zweite Welle von Leukämien und myelodysplastischen Syndromen festgestellt. Forscher vermuten, dass die Zunahme von malignen Erkrankungen bei älteren Überlebenden mit der Stammzell-Hypothese zu erklären ist. Stammzellen sind Körperzellen, die sich unbegrenzt teilen können und daher quasi unsterblich sind und einen Menschen sein ganzes Leben begleiten. Wenn diese Zellen bei einem jungen Menschen
Der US-Psychiater Dr. Jay Lifton hat die seelische Verfassung von Hiroshima-Überlebenden untersucht. Diese hatten oft viele Menschen gesehen, die im Todeskampf schrien und um Wasser baten und konnten ihnen, aber nicht helfen, wenn sie selbst überleben wollten. Als Folge litten sie ihr Leben lang unter massiven Schuldgefühlen und Depressionen. Es wurde der Begriff „tot sein, obwohl lebendig“ geprägt.
einer Studie unserer US-amerikanischen IPPNW-Kollegen unmittelbar 100 Millionen Opfer fordern. Trotz des Wissens über Hiroshima und Nagasaki sind in Folge der seitdem etwa 2.000 durchgeführten Atomwaffentests weltweit nach Schätzungen etwa 430.000 Menschen gestorben und furchtbare Umweltschäden sind entstanden. Es ist wichtig, diese Zahlen immer wieder in das öffentliche Bewusstsein zu rufen und politische Entscheidungsträger darüber zu informieren. Weil sich jedoch das Ausmaß der totalen Zerstörung von Gesundheit und Leben in Zahlen gar nicht fassen lässt, sind die einzelnen Leidensgeschichten der Hibakusha aus Japan und der „Hibakusha“ aus vielen anderen Teilen der Welt so wichtig. Wer sie hört, wird nicht ruhen, ehe die letzten Atomwaffen abgeschafft sind und wir gemeinsam eintreten in ein gerechtes System globaler Sicherheit, in dem Konflikte nicht mehr durch Waffen, sondern durch Worte gelöst werden. Den Artikel von Prof. Tomanaga (Englisch) finden Sie unter: ippnw.de/bit/tomonaga
Hiroshima und Nagasaki zeigen uns, dass selbst der Einsatz von nach derzeitigem Maßstab „kleinen“ Atomwaffen zu unvorstellbarem menschlichen Leid führt. Heutige Atomwaffen haben ein Vielfaches der Sprengkraft von Hiroshima und Nagasaki.
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n den globalen Arsenalen gibt es derzeit noch etwa 13.400 Atomwaffen. Ein Einsatz von nur 262 Atomwaffen à 500 Kilotonnen auf die USA würde nach 27
Dr. Inga Blum und Dr. Lars Pohlmeier sind Mitglieder im Vorstand der deutschen IPPNW.
Foto: Ralf Schlesener
Setsuko Thurlow, Hiroshima-Überlebende
ATOMWAFFENVERBOT
„Wir, die Vertreter*innen unterschiedlicher religiöser Traditionen, haben uns zur Zusammenarbeit auf der Grundlage ... unserer gemeinsamen moralischen Überzeugung verpflichtet: Wir müssen alle zusammenarbeiten, um Atomwaffen zu beseitigen, die Gesamtbudgets für Verteidigung zu reduzieren und die Ersparnisse in das Gemeinwohl zu investieren.“ Weltversammlung von Religions for Peace in Marokko (2011)
Humanitäre Abrüstung und Sicherheit Die Einbindung religiöser Akteur*innen in Afrika
Afrikaweit wie auch global engagiert sich der African Council of Religious Leaders (ACRL), Teil der globalen Initiative „Religions for Peace“ für humanitäre Abrüstung. Bei den Verhandlungen für das Atomwaffenverbot hat die Organisation eine wichtige Rolle gespielt. Ein Interview mit Linnet Loise Wairimu Ng'ayu, Beraterin für humanitäre Abrüstung. Sie nahm 2017 in den UN an den Verhandlungen zum Atomwaffenverbot teil. Wie arbeiten die interreligiösen Räte in Afrika? Unsere Vision ist es, religiöse Führungspersonen und ihre Gemeinschaften zu mobilisieren, um friedliche, gerechte, hoffnungsvolle und harmonische Gesellschaften in Afrika aufzubauen. Aus diesem Grund gibt es in 31 afrikanischen Ländern nationale interreligiöse Räte („Interreligious Councils“). Wir arbeiten sowohl auf lokaler und regionaler als auch auf transnationaler Ebene. Jede Religion hat ihre eigene Lehre, aber wir teilen alle die selben Werte. Religions for Peace bietet ihnen thematische Beratung zu verschiedenen Themen wie Frieden und Sicherheit und auch zum Schutz der Erde.
28. Ratifizierung am 15. Juli 2009 in Kraft getreten. 52 afrikanische Staaten haben diesen Vertrag unterzeichnet, 42 haben ihn ratifiziert – während der UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen (TPNW) von 25 afrikanischen Staaten unterzeichnet wurde und fünf ihn bis jetzt ratifiziert haben: Gambia, Lesotho, Südafrika, Namibia und Botswana.
Warum sind es gerade religiöse Akteur*innen, die an atomarer Abrüstung interessiert sein sollten?
Was bedeutet humanitäre Abrüstung in Afrika?
80 Prozent der afrikanischen Bevölkerung sind gläubig. Unabhängig von der Religion fordern eigentlich alle religiösen Lehren Gläubige auf, die Schöpfung zu bewahren und „sich um unser gemeinsames Heim zu kümmern“, wie es etwa die katholische Kirche formuliert.
Da Afrika eine atomwaffenfreie Zone ist, ging es bei der humanitären Abrüstung in Afrika bis jetzt oft vorrangig darum, den Handel mit Kleinwaffen und den Einsatz konventioneller Waffen einzuschränken. Der Vertrag über die atomwaffenfreie Zone in Afrika – der Vertrag von Pelindaba – wurde 1996 unterzeichnet und ist mit der
Religiöse Akteur*innen sind in unserer Gesellschaft prominent. Sie haben einen Platz in der Diplomatie und aufgrund ihres Zugangs zu hohen Ämtern einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklungen in Politik und Gesetzgebung. Sie sprechen ihre Gemeinden wöchentlich beim Gottesdienst an. Auch der UN-Vertrag zum Verbot von 28
Atomwaffen erkennt in seiner Präambel die Bemühungen religiöser Persönlichkeiten um die humanitären Prinzipien an. Um religiöse Akteur*innen in ihrem Engagement zu bestärken, weisen wir sie darauf hin, dass ein wegweisender Vertrag wie das Atomwaffenverbot ihre Arbeit explizit anerkennt.
Wie hat sich das Engagement religiöser Akteure in den letzten Jahren entwickelt? Im Jahr 2014 fand in Nairobi (Kenia) ein erster runder Tisch mit jungen Führungspersönlichkeiten aus sieben Ländern statt. Junge Menschen sind Teil unserer Kampagnen, denn sie haben ein großes Potential, andere für die politische Arbeit zu begeistern. Im Jahr 2015 durchliefen religiöse Akteur*innen, Frauen und junge Menschen eine Fortbildung in Addis Abeba (Äthiopien). Wir veröffentlichten eine erste Erklärung, in der wir religiöse Führer aufforderten, sich hier zu engagieren und ein Atomwaffenverbot zu fordern. Mit den Verhandlungen über den UN-Vertrag für ein Verbot von Atomwaffen könnten wir
WELTVERSAMMLUNG VON RELIGIONS FOR PEACE
Religionsführern deutlich machen, dass Atomwaffen auch ein afrikanisches Anliegen sind und dass sie schwerwiegende Auswirkungen auf unseren Kontinent haben werden. Die Verhandlungen der sogenannten „Open-ended Working Group“, die das Atomwaffenverbot vorbereitete, haben 2016 umfangreiche Sensibilisierungen für das Engagement von Glaubensführer*innen in ihren Gemeinschaften und auch Regierungen beinhaltet. Auch bei den UN-Verhandlungen 2017 ging es um die Sensibilisierung für das Engagement von Glaubensführer*innen in ihren Gemeinden und auch Regierungen. Seitdem haben wir die Position Afrikas und die Erklärung der UN als Instrumente genutzt, um bei religiösen Akteur*innen für die Unterzeichnung und Ratifizierung des Atomwaffenverbotsvertrages zu werben. Inzwischen sind 22 Interreligiöse Räte aus den einzelnen afrikanischen Staaten aktiv an diesem Prozess beteiligt. Im Mai 2018 verabschiedeten die Akteur*innen bei einem regionalen Treffen eine gemeinsame afrikanische Erklärung zur nuklearen Abrüstung, in der sie auf die Unterzeichnung und Ratifizierung des TPNW drängten.
und Parlamentsabgeordneten. Wir sprechen mit hochrangigen Diplomat*innen, aber auch mit regionalen und lokalen Vertreter*innen. Auf dem ganzen Kontinent organisieren wir gemeinsame Gebetstage für die Abrüstung, den nächsten zum Beispiel am 26. September 2020. Unsere Themen wie Humanitäre Abrüstung, Divestment und Atomwaffenverbot fließen in die Predigten und Gottesdienste ein. Da auch politische Entscheidungsträger die Gotteshäuser besuchen, erreichen wir sie auf diese Art und Weise mit unseren Botschaften. Es ist Teil unseres Programms, Frauen und junge Führungspersonen verstärkt anzusprechen. Das Thema Abrüstung bietet ihnen Gelegenheit, gesehen und gehört zu werden. Desweiteren stellen wir Glaubensakteur*inneen Materialien zur Verfügung. Das Handbuch, das Religions for Peace damals zum Thema Streumunition angeboten hatte, waren für uns beim Verbot dieser Waffe sehr hilfreich. Deshalb haben wir für religiöse Akteur*innen 2013 ein globales Handbuch zum Thema „nukleare Abrüstung“ erstellt.
Welches sind besondere Herausforderungen für Ihre Arbeit?
Wie arbeitet Religions for Peace? Religions for Peace arbeitet mit Institutionen auf vielen verschiedenen Ebenen zusammen: mit der Afrikanischen Union, mit zwischenstaatlichen Organisationen, regionalen Wirtschaftsgemeinschaften
Atomare Abrüstung scheint in Afrika zunächst keine Priorität zu haben, da der Kontinent bereits eine atomwaffenfreie Zone ist. Viele Menschen mögen den Eindruck haben, dass wir nicht betroffen sind. Das ist eine Herausforderung, aber auch
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eine Chance für uns. Wir versuchen, das Bewusstsein zu verbreiten, dass es sich um eine laufenden internationalen Prozess handelt – und dass unsere politischen Entscheidungsträger*innnen involviert werden müssen. Wir erinnern an die französischen Atomtests in Algerien und versuchen die gravierenden Auswirkungen von Atomexplosionen auf die Ernährung und das Klima aufzuzeigen. Wir versuchen, den politischen Entscheidungsträgern zu erklären, dass der TPNW ähnliche Regelungen wie der Vertrag von Pelindaba enthält – und dass es wichtig ist, über den Vertrag von Pelindaba hinaus auch das Atomwaffenverbot zu ratifizieren. Es gibt in Afrika oftmals ein Misstrauen gegenüber internationalen Instrumenten, das wir zu überwinden versuchen. Das Handbuch zur nuklearen Abrüstung on „Religions for Peace“ finden Sie unter: ippnw.de/bit/handbuch
Linnet Loise Wairimu Ng'ayu ist Beraterin für Humanitäre Abrüstung beim African Council of Religious Leaders mit Sitz in Nairobi.
Foto: Clare Conboy /ICAN
Foto: Religions for Peace
BEI DEN VERHANDLUNGEN IN DER UN 2017
WELT
IN DEN NIEDERLANDEN WIRD GEGEN DIE „NUKLEARE TEILHABE“ PROTESTIERT. AKTION IN KLEINE BROGEL UND VOLKEL 2017.
Europäisch denken Die erste europäische IPPNW-Videokonferenz im Mai 2020 war ein großer Erfolg! An der ersten europäischen IPPNW-Videokonferenz beteiligten sich im Mai 2020 42 Mitglieder aus ganz Europa Chuck Johnson (IPPNW-Büro Boston / Steuerungskomitee von ICAN) gab uns einen Überblick über den aktuellen Stand der Entwicklung des Atomwaffenverbotsvertrags. Er wies darauf hin, dass in Europa die geringste Unterstützung für den Atomwaffenverbotsvertrag zu finden ist. Ursache: Die drei Atomwaffenstaaten Frankreich, Großbritannien und Russland wollen ihren Status als Atomwaffenmächte behalten. Zudem sind vier EU-Staaten: Belgien, Deutschland, Italien und Niederlande über die „Nukleare Teilhabe“ der NATO ebenfalls Länder mit US-Atomwaffen. Der aktuelle Status findet sich auf „Banmonitor“: banmonitor.org/two-yearstatus/support-by-region Eine aktuelle positive Entwicklung ist, dass Irland am Hiroshimatag den Atomwaffenverbotsvertrag ratifiziert hat. Allerdings war das für die deutschen Medien absolut nicht erwähnenswert. Bei der Videokonferenz wurde beschlossen, dass die niederländische und die deutsche Sektion in Bezug auf das Ende der nuklearen Teilhabe mit den ICAN-Partnern enger zusammen arbeiten mit dem Ziel, die beteiligten Parlamentarier und ICAN-Städte in diesen Ländern besser zu vernetzen. Weitere Ideen waren Vernetzung hinsichtlich Divestment bei Banken und Versicherungen europäisch zu denken und zu koordinieren. Die Schwedische Sektion hat zusammen mit Partnerorganisationen eine Videokonferenz zu Atomwaffen und Abrüstung am Hiroshima-Tag durchgeführt.. Deutlich wurde, dass die nieder-
Themen: Atomwaffen abschaffen – Atomkrieg verhüten: Atomwaffenverbot – wo stehen wir? Wie entwickeln wir eine gemeinsame Strategie in Europa, um die nukleare Teilhabe in Belgien, Deutschland, Italien und den Niederlanden zu beenden? Welche Strategie wenden wir für die europäischen Atomwaffenstaaten an, um auch hier nukleare Abrüstung in Gang zu bringen? Zukunft der IPPNW in Europa: Wie können die Sektionen ihr Nachwuchsproblem lösen? Welche konkreten Schritte können Medizinstudierende in den Europäischen Sektionen gehen? Der Weg zum Weltkongress Mombasa/ Kenia: Wird es nächstes Jahr einen Weltkongress in Mombasa geben? Was können europäische Sektionen dafür tun, damit dieser ein Erfolg wird? Wie hängen die Entwicklungen in Europa und Afrika in Bezug auf unsere Hauptthemen zusammen? ländische, die schweizerische und die schwedische Sektion über gute Kontakte zu Parlament und Regierung verfügen und seit mehreren Jahren eine exzellente Lobbyarbeit in ihren Ländern machen. Zum Thema Nachwuchsentwicklung stellten die vier Studierendenvertreter*innen Franca Brüggen, Ella Faiz, Frederike Römer und Dominik Stosik ein Kurzprogramm vor. Wie IPPNW-Studierende auf Social-Media-Plattformen präsent sein können und eine für junge Menschen interessante neue „Corporate Identity“ entwickeln wollen für die Präsenz an Universitäten. Dazu wollen sie einen interaktiven Workshop für Studierende anbieten und sich professionelle Unterstützung su30
chen. Um das verwirklichen zu können, soll nach Möglichkeiten des Sponsorings gesucht werden. Auf Dauer braucht die Nachwuchsentwicklung Unterstützung durch eine angestellte Fachkraft. Das dritte Thema „Weltkongress – Weg nach Mombasa“ berührt implizit das Interesse und das Verhältnis der europäischen Sektionen zu den afrikanischen Sektionen Hier zeigte sich nach kurzer Diskussion, dass die meisten europäischen Vertreter sich überfordert fühlten, weil sie selbst in Problemen der Nachwuchsförderung stecken. Es gibt bei ihnen kaum Kapazitäten, um Medizin-Studierende für ein dauerhaftes Engagement zu finden. Das deutsche Nachwuchsprogramm „Famulieren und engagieren“ ist einzigartig für Europa. In Bezug auf die Nachwuchsförderung durch eine Global-Health Summer School, wie wir sie jährlich in Berlin durchführen, gibt es jetzt erste Anläufe der niederländischen Sektion dies nachzuahmen. Am 16. und 17. September 2020 ist eine Videokonferenz der internationalen Vorstandsmitglieder („International Council“) geplant. Im Oktober bzw. November soll eine weitere europäische Videokonferenz durchgeführt werden, um die gemeinsamen Aufgaben weiterzuentwickeln. Wir fangen an, europäisch zu denken und zu handeln!
Dr. Angelika Claußen ist IPPNW-CoPräsidentin für Europa.
Foto: Wolfgang Rüter
AKTION
STUTTGART
Mahnen und Handeln Erinnerung an die Atombombenabwürfe
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Foto: Ralf Schlesener
ROSENHEIM
DORTMUND
BERLIN 31
Foto: Yoko Schlütermann
Jahre Hiroshima und Nagasaki: Viele IPPNW-Gruppen organisierten im August 2020 Mahnwachen, Ausstellungen, und Lichtprojektionen. Das Motto „Erinnern – Mahnen – Handeln“ zog sich durch die Veranstaltungen, in denen es immer auch darum ging, Aktionsmöglichkeiten und Alternativen zur Rüstungspolitik aufzuzeigen. Das von der IPPNW-Geschäftsstelle entworfene Großflächen-Plakat, das über das Netzwerk Friedenskooperative vertrieben wurde, war bundesweit ein großer Erfolg. Statt 75 ursprünglich geplanter Plakate wurden am 7. August 2020 bundesweit 290 Plakate aufgehängt, die von Initiativen und städtischen Partnern angefordert worden waren. Finanziert wurde die Großflächen-Kampagne durch eine Crowdfunding-Aktion, die auf unerwartet große Unterstützung stieß.
G ELESEN
Plädoyer für Gewaltlosigkeit
Einladung zum Handeln
Ein lesenswertes Buch für Friedensaktivist*innen
Diese Zukunft neu und ganz anders in den Blick zu nehmen – darin besteht die Einladung, die Maja Göpel ausspricht.
V
iele, wahrscheinlich fast alle Menschen, würden erklären, dass sie gegen Gewalt sind. Und trotzdem ist sie in unserer Welt allgegenwärtig. Interessen werden erfolgreich mit Gewalt durchgesetzt. Tatsächlich hat unsere Gesellschaft ein widersprüchliches, wenn nicht gar ambivalentes Verhältnis zur Gewalt.
M
aja Göpel ist als Kind von zwei IPPNW-Mitgliedern in einem Dorf bei Bielefeld aufgewachsen. Ihre Eltern engagierten sich für eine verbesserte Prävention von Krankheiten und die Bewältigung von Traumata. Sie selbst arbeitete für die Stiftung „World Future Council“ und ist heute Politökonomin, Nachhaltigkeitsforscherin und Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. Ihr ihrem Buch plädiert Maja Göpel für ein anderes Wirtschaften. Sie erklärt anschaulich, warum Neoliberalismus, ständiges Wachstum und ökologischer Raubbau an ihre Grenzen stoßen. „Eine Wirtschaftsweise, die in einer begrenzten Welt mit endlichen Ressourcen auf stetes Wachstum setzt, ist nicht nachhaltig“, schreibt sie. Es gelte neu zu verhandeln, was den Wohlstand der Menschen übermorgen ausmacht. Planetenzerstörung dürfte nicht mehr Wachstum heißen und reine Geldvermehrung nicht länger Wertschöpfung.
Ullrich Hahn war nicht schon immer ein Kriegsgegner. Nach dem Abitur verpflichtete er sich freiwillig beim Bundesgrenzschutz zum bewaffneten Dienst. Von einer Schlüsselerfahrung erzählte er 2012 beim IPPNW-Symposium „The Responsibility to Protect“ in Villingen: Ihm wurde klar, dass allein der Besitz einer Waffe Einfluss auf sein Empfinden hatte und ihm damit Handlungsoptionen, die auf Gewalt verzichten, von vornherein gedanklich verbaut waren. In der freien Zeit beschäftigte er sich unter anderem mit dem Neuen Testament. Die in der Bergpredigt erkennbare radikale Gewaltfreiheit Jesu überzeugte ihn so, dass er schließlich den Dienst an der Waffe verweigerte. Aus ihm wurde ein tief in seinem Glauben verwurzelter Christ und gleichzeitig ein in aller Konsequenz überzeugter Pazifist.
Unsere Art zu wirtschaften sei maßgeblich von drei WirtschaftsTheoretikern beeinflusst: Adam Smith, David Ricardo und Charles Darwin. Ausgehend von ihren etwa 200 Jahre alten Theorien würde „die Mehrheit in den Wirtschaftswissenschaften den Menschen immer noch als eine egoistische Kreatur denken, der es nur um den eigenen Vorteil geht und die dadurch auf wundersame Weise für alle Wohlstand schafft.“ Göpel wehrt sich gegen ein solches Menschenbild und verweist auf Untersuchungen, die eher das Gegenteil nahelegen. Der Mensch sei vielmehr ein kooperatives Wesen und habe einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Darauf aufbauend lädt Maja Göpel ihre Leser*innen zum Handeln ein. „Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist das beste Mittel, um in einer Krise von reaktivem Abwehren auf aktive Lösungsgestaltung zu schalten. Und wenn wir unsere Selbstwirksamkeit so ausleben, dass sie auf Verständigung und Kooperation angelegt ist, dann kommen auch weitere wirksame Menschen schneller in Schwingung als Sie sich das vielleicht jetzt träumen lassen,“ schreibt sie.
Inzwischen ist er Präsident des deutschen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes und ein weit über seine Heimatstadt Villingen hinaus angesehener Rechtsanwalt. Der Fachanwalt für Strafrecht hält Strafe, wie sie unser Rechtssystem vorsieht, für eine Form von Gewalt, die er ebenso ablehnt wie jede Beteiligung an militärischer oder staatlicher Macht. Den Kapitalismus verwirft er wegen der in seiner Folge gewaltsamen Ungleichverteilung des Wohlstandes und fordert, Geld nicht zinsbringend anzulegen. Und er beschränkt sich nicht auf das Ablehnen: Er tritt ein für alternative Modelle des gewaltfreien, gerechten und partizipativen Wirtschaftens. In „Vom Lassen der Gewalt“ werden Texte und Vorträge von ihm veröffentlicht, die sowohl für Christen als auch für Friedensaktivisten lesenswert sind. Selbst seine Sprache erscheint gewaltlos, er drängt dem Leser seine Ansichten nicht auf. Auf behutsame Art sind die Texte jedoch selbst für die überzeugtesten Pazifisten unter uns ausgesprochen provozierend. Eine Zumutung, die ich dringend empfehlen möchte.
Maja Göpel wird auf der Mitgliederversammlung vom 23.-25. April 2021 in Rotenburg referieren. Ihr Buch ist unbedingt lesenswert. Angelika Wilmen Prof. Dr. Maja Göpel: Unsere Welt neu denken: Eine Einladung. Berlin: Ullstein, Hardcover 208 S., 17,99 €, Kindle 14,99 €, ISBN: 9783550200793 Angelika Wilmen
Ullrich Hahn: Vom Lassen der Gewalt. Thesen, Texte, Theorien zu Gewaltfreiem Handeln heute. Norderstedt: BoD 2020. 344 S., 14,80 €. ISBN: 978-3-7519-4442-7 Helmut Lohrer 32
G EDRUCKT
TERMINE
Gesundheitliche Folgen von Abschiebung Neuer IPPNW-Report Die Würde des Menschen ist unantastbar – sowohl nach deutschem als auch nach dem Völkerrecht. Durch permanent drohende oder tatsächliche Abschiebungen werden Menschen in ihrer Würde und Gesundheit schwer geschädigt. Dies trifft insbesondere vulnerable Geflüchtete. Deshalb beleuchtet dieser Report die gesundheitlichen und humanitären Auswirkungen von Abschiebungen auf besonders schutzbedürftige Personengruppen. Die Berichte einiger der Patient*innen vermitteln dabei unmittelbar, wie sich Abschiebungen auf die physische wie psychische Gesundheit der Betroffenen auswirken. Mit Beiträgen aus dem AK Flucht und Asyl – ca. 70 Seiten, vierfarbig – ab 1. Oktober 2020 zu bestellen unter shop.ippnw.de
SEPTEMBER 11. 9. Ulmer Friedenswochen: „Nie wieder Krieg“ – Albert Einstein als Pazifist 16. 9. 18 Uhr Online-Hearing "Kampfdrohnen für die Bundeswehr?" Anmeldung unter: ippnw.de/ bit/hearing 21. 9. Ulmer Friedenswochen: Russland und Deutschland – zwischen Faszination und Feindbild 21.-27. 9. Deutschlandweite Aktionswoche: Frieden beginnt hier! Rüstungsexportkontrollgesetz JETZT! 25.–27.9. Ramstein-Protesttage in Berlin 25.–27.9. Biketour von Düsseldorf zur Airbase Volkel (NL)
OKTOBER 7. 10. 18 Uhr Online-Veranstaltungsreihe Atommüllreport: „Interpretation von Studien und Statistiken“ 15.–18. 10. International Uranium Film Festival in Berlin 23.–25.10. Menschenrechtstribunal Berlin: equalhealth4all. noblogs.org
G EPLANT
NOVEMBER Das nächste Heft erscheint im Dezember 2020. Das Schwerpunktthema ist:
Ärztliche Mithilfe bei Abschiebungen Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 164/Dezember 2020 ist der 30. Oktober 2020. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de
16. 11. Patriarchat und internationale (Ab-)Rüstung in Hannover 19. 11. We are the Bomb – Finanzierung nuklearer Rüstungskonzerne, Hannover Weitere Informationen unter: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine
IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die
Das Forum erscheint viermal jährlich. Der Be-
Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer
zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag
Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland
enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti-
Redaktion: Ute Watermann (V.i.S.d.P.), Angelika
kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der
Wilmen, Regine Ratke
Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum,
bedürfen der schriftlichen Genehmigung.
Körtestraße 10, 10967 Berlin,
Redaktionsschluss für das nächste Heft:
Telefon: 030 6980 74 0, Fax 030 693 81 66,
30. Oktober 2020
E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de,
Gestaltungskonzept: www.buerobock.de,
Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft,
Layout: Regine Ratke; Druck: DDL Berlin
Kto-Nr. 2222210, BLZ 100 20 500,
Papier: Recystar Polar, Recycling & FSC.
IBAN: DE39 1002 0500 0002 2222 10,
Bildnachweise: ge-
BIC: BFSWDE33BER
kennzeichnete: pri-
Vormerken! SEPTEMBER 24.09. – 18.30 Uhr Anti-Schwarzer Rassismus im Gesundheitssystem: Schwarze Leben zählen auch in Deutschland! IPPNW-Webinar mit Adiam Zerisenai Mehr dazu im Intern, Seite 8
vat oder IPPNW. 33
G EFRAGT
6 Fragen an … Nirit Sommerfeld Foto: S. Mohr
Deutsch-israelische Schauspielerin und Sängerin sowie Mitglied der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost.
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Die israelische Regierung hat die Annexion großer Teile des palästinensischen Westjordanlandes nach dem Abkommen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten temporär ausgesetzt. Sind Netanjahus Annexionspläne damit vom Tisch? Mitnichten. Das Abkommen kommt zur rechten Zeit, in der Netanyahu von seiner Strafrechtsverfolgung und von der Umsetzung der Annexion ablenkt, indem der Deal mit den VAE Israel Milliardenaufträge für die Militärindustrie verspricht und Israels Gesellschaft von einem neuen Luxus-Tourismusziel träumt. Die 53-jährige völkerrechtswidrige Besatzung (in Israel „temporärer militärischer Zustand“ genannt) und Beherrschung palästinensischen Landes ist bereits eine de-facto-Annexion. Sie wird schleichend und von der Welt unbemerkt als Ein-Staat-Lösung mit unterschiedlichen Rechten für Juden und Palästinenser legitimiert werden. Da macht es sich doch gut, wenn man im Vordergrund Frieden mit anderen Arabern schließt. Zumal es da jede Menge zu profitieren gibt.
Wie bewerten Sie die Politik der deutschen Bundesregierung mit Blick auf den Konflikt? Bis auf Bekundungen von „Besorgnis“, bestenfalls ‘Unmut’, bleiben alle Schritte der israelischen Regierung ohne Folgen. Doch Deutschland muss jetzt handeln! Wenn die Haltung der deutschen Regierung zur geplanten Annexion „neutral“ bleibt, muss sie sich fragen lassen: Unterstützt Deutschland einen Staat, der unterschiedliche Rechte seiner Einwohner*innen je nach ethnischer Herkunft anwendet? Wie weit muss Israels Politik gehen, wie viele Palästinenser*innen müssen vertrieben, inhaftiert, verletzt, getötet werden, bis Deutschland einlenkt? Wie laut müssen wir Jüdinnen und Juden in Deutschland noch werden, damit ihr uns hört?
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Gibt es überhaupt noch Hoffnung in diesem Jahrzehnte dauernden Konflikt? Ermutigend sollte das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wirken, das feststellt: Die Durchsetzung der Kennzeichnungspflicht von Waren aus einem Besatzungsland, deren Herkunft absichtlich verschleiert wird, ist weder Hetze noch Hass und auch kein antisemitischer Akt, wie Israel es gerne darstellen möchte. Es ist ein Ausdruck freier Meinungsäußerung und in einer Demokratie erwünscht.
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Wie schätzen Sie die Lage der Palästinenser*innen ein? Palästinenser*innen sind tagtäglich in allen Bereichen ihres Lebens extrem eingeschränkt, entrechtet, oft in Lebensgefahr. Leicht vorstellbar, wie es ihnen ergehen wird, wenn sie noch weiter zurückgedrängt werden. Kaum vorstellbar, welche Folgen das haben wird – nicht nur in Palästina, Israel und im Nahen Osten, sondern womöglich als Flächenbrand, der bis nach Europa reicht.
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Sollte die Bundesregierung darauf reagieren? Ja, Deutschland täte gut daran, dem Urteil des EGMR zu folgen, insbesondere, da Deutschland derzeit die Präsidentschaft der EU sowie die Präsidentschaft der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) innehat. Deren „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ wird von der Bundesregierung derart verwendet, dass sie jedwede Kritik an israelischer Politik als antisemitisch interpretiert. Dies führt in vielen Fällen bei vielen Kritiker*innen einschließlich mir selbst zur Einschränkung der Redefreiheit. Der Begründer der Arbeitsdefinition Kenneth Stern sagt dazu, er sei darüber erschüttert, wie die Definition von rechten Gruppierungen instrumentalisiert werde. Wenn die Bundesregierung ernsthaft Antisemitismus bekämpfen will, sollte sie Antisemitismusbeauftragte einsetzen, die auf renommierte Nahostexperten hören, die Israels Politik faktenbasiert kritisieren, und Israel gegenüber in aller Freundschaft Konsequenzen ziehen.
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Es gibt aber auch Stimmen, die die Untätigkeit und Korruption der Palästinensischen Autonomiebehörde kritisieren. Das ist in der Tat zu kritisieren. Die palästinensische Administration – von Autonomie kann keine Rede sein – arbeitet gezwungenermaßen eng mit Israel zusammen, ist von Israel abhängig, hat aber de facto nichts zu melden. Sie ist autoritär und nicht zimperlich bei der Anwendung von Gewalt, vor allem gegen Demonstranten, die Freiheit und Demokratie fordern. Ändern tut sich nichts – außer dass täglich mehr palästinensisches Land gestohlen wird und die Lebensumstände der Palästinenser*innen sich kontinuierlich verschlechtern. Die Aussichten auf einen eigenen Staat, der völkerrechtlich vorgesehen ist, schwindet zusehends. 34
Foto: © Liselotte Orgel-Köhne / Deutsches Historisches Museum
ANZEIGEN
Vereidigung von Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes – Berlin, ab 1933
Das Deutsche Rote Kreuz im Spannungsfeld zwischen humanitärem Anspruch und Realität 1914 – 1945
3 . IP P N W P e a ce A ca d e m y 2 2 . -2 4 . J a n u a r 2 0 2 1 T a g u n g s h a u s C l a r a S a h l b e r g B e r l i n -W a n n s e e F r e ita g 1 8 U h r b is S o n n ta g 1 5 U h r. K o s t e n : 5 0 ,- E u r o
Thementagung „Medizin und Gewissen“ Samstag, 16. Januar 2021 | 9– 19:00 Uhr FAU, Findelgasse 7/9, Nürnberg
Bei der IPPNW Peace Academy tauschen wir uns ein Wochenende lang über Frieden und
Anlässlich des 100-jährigen Bestehens des
Gewaltfreiheit aus. Behandelt werden ge-
Deutschen Roten Kreuzes laden wir zu einer
sellschaftliche, weltpolitische und persön-
medizinhistorischen Thementagung in Koope-
liche Fragen. Wie kann ich in meinem Beruf
ration mit dem Institut für Geschichte und
zu*r Friedenstifter*in werden? Wie können
Ethik der Medizin der Friedrich Alexander
Menschen ohne Gewalt geschützt werden?
Universität Erlangen ein.
In welcher Beziehung stehen Gender, Ge-
walt, Krieg und Frieden zueinander und wie
Schirmherr:
wirkt sich Gender auf Konzepte von „Sicher-
Prof. Dr. phil. Dieter Riesenberger, Paderborn
heit“ und Frieden aus? Was ist Friedenslogik?
Organisation:
Prof. Dr. med. Karl-Heinz Leven, Institut für
Die IPPNW Peace Academy ist ein Angebot von
Geschichte und Ethik der Medizin, FAU Erlangen
und für junge IPPNWler*innen. Studierende
Dr. med. Horst Seithe, IPPNW Nürnberg-
anderer Fachrichtungen, die sich mit Krieg und
Erlangen-Fürth
Frieden befassen, sind herzlich willkommen.
Die endgültige Entscheidung, ob die Tagung stattfin-
Eine Kinderbetreuung ist auf Wunsch möglich.
den kann, wird im September getroffen. Programm
W ir fr e u e n u n s ü b e r E u r e A n m e ld u n g :
und Anmeldeinformationen finden Sie unter:
k o n t a k t @ i p p n w .d e | T e l . 0 3 0 6 9 8 0 7 4 -0
www.medizinundgewissen.de
i p p n w . d e /b i t /p e a c e a c a d e m y 35
45th Session on Human Rights of Migrant and Refugee Peoples Berlin Hearing | 23-25 Oct 2020
Das Recht auf Gesundheit ist universell! Wir klagen Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen an. Programm-Skizze
Vom 23.-25. Oktober 2020 findet unser Menschenrechtstribunal im Refugio Berlin statt. Themen der Anhörung sind der Zu-
Freitag 23. Oktober 13:30 – 14:00 h Willkommen 14:00 – 15:30 h Eröffnung 16:00 – 18:00 h Anhörung 18:30 – 20:00 h Anhörung Samstag 24. Oktober 8:30 – 9:00 h Willkommen 9:00 – 11:00 h Anhörung 11:30 – 13:00 h Anhörung 14:00 – 15:30 h Anhörung 16:00 – 18:00 h Anhörung Sonntag 25. Oktober 8:30 – 9:00 h Willkommen 9:00 – 11:00 h Intervention der Jury
WEBINAR
24. Sept, 18:30
gang von Geflüchteten zur Gesundheitsversorgung – die Auswirkungen der Lebensverhältnisse in Massenunterkünften auf die psychische und physische Gesundheit – Aufenthaltsstatus, Abschiebung und Gesundheit – die Krimiminalisierung von Solidarität – Deutschlands Verantwortung für die EU-Abschottungspolitik
Das Tribunal auf Sendung: Da coronabedingt im Raum eine begrenzte Anzahl an Plätzen zur Verfügung steht, laden wir Sie ein, die Veranstaltung online zu verfolgen. Es wird eine englisch–deutsche Simultanübersetzung geben. Mehr Infos: equalhealth4all.noblogs.org
Die Anhörung ist Teil der 45. Sitzung des Permanent Peoples‘ Tribunal. In diesem Rahmen haben bereits Tribunale in Palermo, Paris, Barcelona, London und Brüssel zu unterschiedlichen Schwerpunktthemen stattgefunden.
Weitere Informationen:
U hr
r Rassimus „Anti-Schwarze sytem“ im Gesundheits Forum – mehr dazu im intern, Seite 8
equalhealth4all.noblogs.org Kontakt: Susanne Dyhr, dyhr@ippnw.de Facebook: @PPTberlin Twitter: @PPT_Berlin
Spenden: IPPNW e.V. „Human Rights Tribunal“ IBAN DE39 1002 0500 0002 2222 10
BIC: BFSW DE33BER – BfS Berlin