IPPNW forum 163/2020 – Die Zeitschrift der IPPNW

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SOZIALE VERANTWORTUNG

Gesundheitliche Folgen der Abschiebung von Kindern und Jugendlichen Im Oktober 2020 erscheint ein neuer Report des IPPNW-Arbeitskreises „Flucht und Asyl“

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elbst gesunde Menschen können durch drohende und tatsächliche Abschiebungen und durch ein Leben in teils jahrelanger existenzieller Unsicherheit gesundheitlich schwer geschädigt werden. Für Kinder und Jugendliche gilt dies in besonderem Maß. Das Muster ihrer Reaktionen auf diese Situation ist altersabhängig und individuell sehr variabel. Sehr kleine Kinder reagieren oft mit Verhaltensauffälligkeiten wie Essund Trinkverweigerung, Schlafstörungen und autoaggressivem Verhalten. Im Alter von 19 Monaten musste die kleine Ina bei einem gescheiterten Abschiebeversuch im Lager Manching bei Ingolstadt im März 2017 mit ansehen, wie die Polizei ihren Vater und ihren 14jährigen Bruder zu Boden brachte und fesselte. Die schwer traumatisierte Mutter brach zusammen und musste anschließend vier Wochen stationär psychiatrisch behandelt werden. Danach verweigerte das Mädchen das Essen. Sie schlug sich wiederholt den Kopf an die Wand, wobei eine große Platzwunde entstand, und riss sich Haare aus.

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tatt die dringend indizierte stationäre Behandlung des Mädchens zu ermöglichen, versuchten die Behörden erneut, die Familie abzuschieben, diesmal ohne die Mutter. Erst am Flughafen Frankfurt fand der verzweifelte Vater einen Arzt, der sich die Atteste seiner kleinen Tochter durchlas und dann die Abschiebung stoppte. Ina und ihr Vater kehrten zurück ins Lager Manching, die 11 und 14 Jahre

alten Geschwister kamen in ein Jugendheim. Keine 24 Stunden später nahmen zehn PolizeibeamtInnen und Angestellte des Jugendamtes dem Vater die kleine Ina gewaltsam weg. Diese kam zunächst in das Jugendheim, wo ihre Geschwister waren, doch später wurde sie dort wieder abgeholt und in eine Pflegefamilie gebracht. Durch ärztliche Intervention gelang es, für Ina eine stationäre Therapie im Kinderzentrum begeleitet durch den Vater durchzusetzen. Nach drei Wochen war das Mädchen deutlich stabilisiert, musste aber nach der Entlassung weiter im Camp leben, obwohl den Behörden ärztliche Stellungnahmen vorlagen, dass bei Inas weiterem Aufenthalt dort eine Chronifizierung der Störung eintreten würde.

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nde Juli 2017 war eine erneute stationäre Aufnahme der Mutter vorgesehen, musste allerdings wegen Bettenmangels in der Psychiatrie verschoben werden. Am nächsten Tag wurde sie mit ihren drei Kindern aus dem Lager Manching abgeholt, in Hand- und Fußfesseln gelegt und mit einem Krankentransport liegend zum Flughafen gebracht. Wieder mussten die Kinder, die vom Jugendamt begleitet wurden, alles mit ansehen. Ein Urteil über den Eilantrag der Anwältin beim Münchner Verwaltungsgericht wurde nicht abgewartet, sämtliche aktuellen Atteste zur Reiseunfähigkeit wurden ignoriert, ein Begleitarzt stufte Frau B. als flugtauglich ein, ein hinzugezogener Flughafenarzt widersprach dem vergeblich. Mutter und Kinder wurden in einem extra für sie gecharter16

ten Flugzeug abgeschoben. Der Ehemann und Vater der Kinder blieb er in Deutschland, und die Familie wurde getrennt. Die Jugendlichen wurden mit ihrer schwerkranken Mutter und der kleinen Schwester allein gelassen. Weder während, noch nach dem Flug wurden die Kinder betreut – sie alle hatten große Angst. Die elfjährige Matilda berichtete, dass es ihrer Mutter nach der Abschiebung sehr schlecht ging, sie war voller Hämatome, hatte stärkste Kopfschmerzen und bekam keine Medikamente. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde der Bayerischen Ärzteinitiative für Flüchtlingsrechte gegen die Zentrale Ausländerbehörde wegen massiver Verletzungen der seelischen Gesundheit von Kleinkindern wurde von der Regierung von Oberbayern als unbegründet zurückgewiesen. Ältere Kleinkinder zeigen häufig Symptome wie hartnäckige Verstopfung und nächtliche Angstzustände. Die neue gesetzlich vorgegebene Strategie der Ausländerbehörden, Abschiebungen nicht anzukündigen, führt offensichtlich besonders oft zu einer massiven Schädigung der Kinder, die durch das nächtliche Eindringen der Polizei in ihre Unterkunft ausgelöst wird. „Kinder würden aus Angst vor einer unangekündigten nächtlichen Abschiebung bereits mit ihren Schuhen zu Bett gehen, um … vorbereitet zu sein.“ In Stephanskirchen mussten vier syrische Kinder im Alter von ein bis sieben Jahren aufgrund massiver Angstzustände, Schlaflosigkeit und Verhaltensstörungen behandelt werden. Vorausgegangen war ein


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