G EFRAGT
6 Fragen an … Nirit Sommerfeld Foto: S. Mohr
Deutsch-israelische Schauspielerin und Sängerin sowie Mitglied der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost.
1
4
Die israelische Regierung hat die Annexion großer Teile des palästinensischen Westjordanlandes nach dem Abkommen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten temporär ausgesetzt. Sind Netanjahus Annexionspläne damit vom Tisch? Mitnichten. Das Abkommen kommt zur rechten Zeit, in der Netanyahu von seiner Strafrechtsverfolgung und von der Umsetzung der Annexion ablenkt, indem der Deal mit den VAE Israel Milliardenaufträge für die Militärindustrie verspricht und Israels Gesellschaft von einem neuen Luxus-Tourismusziel träumt. Die 53-jährige völkerrechtswidrige Besatzung (in Israel „temporärer militärischer Zustand“ genannt) und Beherrschung palästinensischen Landes ist bereits eine de-facto-Annexion. Sie wird schleichend und von der Welt unbemerkt als Ein-Staat-Lösung mit unterschiedlichen Rechten für Juden und Palästinenser legitimiert werden. Da macht es sich doch gut, wenn man im Vordergrund Frieden mit anderen Arabern schließt. Zumal es da jede Menge zu profitieren gibt.
Wie bewerten Sie die Politik der deutschen Bundesregierung mit Blick auf den Konflikt? Bis auf Bekundungen von „Besorgnis“, bestenfalls ‘Unmut’, bleiben alle Schritte der israelischen Regierung ohne Folgen. Doch Deutschland muss jetzt handeln! Wenn die Haltung der deutschen Regierung zur geplanten Annexion „neutral“ bleibt, muss sie sich fragen lassen: Unterstützt Deutschland einen Staat, der unterschiedliche Rechte seiner Einwohner*innen je nach ethnischer Herkunft anwendet? Wie weit muss Israels Politik gehen, wie viele Palästinenser*innen müssen vertrieben, inhaftiert, verletzt, getötet werden, bis Deutschland einlenkt? Wie laut müssen wir Jüdinnen und Juden in Deutschland noch werden, damit ihr uns hört?
5
Gibt es überhaupt noch Hoffnung in diesem Jahrzehnte dauernden Konflikt? Ermutigend sollte das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wirken, das feststellt: Die Durchsetzung der Kennzeichnungspflicht von Waren aus einem Besatzungsland, deren Herkunft absichtlich verschleiert wird, ist weder Hetze noch Hass und auch kein antisemitischer Akt, wie Israel es gerne darstellen möchte. Es ist ein Ausdruck freier Meinungsäußerung und in einer Demokratie erwünscht.
2
Wie schätzen Sie die Lage der Palästinenser*innen ein? Palästinenser*innen sind tagtäglich in allen Bereichen ihres Lebens extrem eingeschränkt, entrechtet, oft in Lebensgefahr. Leicht vorstellbar, wie es ihnen ergehen wird, wenn sie noch weiter zurückgedrängt werden. Kaum vorstellbar, welche Folgen das haben wird – nicht nur in Palästina, Israel und im Nahen Osten, sondern womöglich als Flächenbrand, der bis nach Europa reicht.
6
Sollte die Bundesregierung darauf reagieren? Ja, Deutschland täte gut daran, dem Urteil des EGMR zu folgen, insbesondere, da Deutschland derzeit die Präsidentschaft der EU sowie die Präsidentschaft der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) innehat. Deren „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ wird von der Bundesregierung derart verwendet, dass sie jedwede Kritik an israelischer Politik als antisemitisch interpretiert. Dies führt in vielen Fällen bei vielen Kritiker*innen einschließlich mir selbst zur Einschränkung der Redefreiheit. Der Begründer der Arbeitsdefinition Kenneth Stern sagt dazu, er sei darüber erschüttert, wie die Definition von rechten Gruppierungen instrumentalisiert werde. Wenn die Bundesregierung ernsthaft Antisemitismus bekämpfen will, sollte sie Antisemitismusbeauftragte einsetzen, die auf renommierte Nahostexperten hören, die Israels Politik faktenbasiert kritisieren, und Israel gegenüber in aller Freundschaft Konsequenzen ziehen.
3
Es gibt aber auch Stimmen, die die Untätigkeit und Korruption der Palästinensischen Autonomiebehörde kritisieren. Das ist in der Tat zu kritisieren. Die palästinensische Administration – von Autonomie kann keine Rede sein – arbeitet gezwungenermaßen eng mit Israel zusammen, ist von Israel abhängig, hat aber de facto nichts zu melden. Sie ist autoritär und nicht zimperlich bei der Anwendung von Gewalt, vor allem gegen Demonstranten, die Freiheit und Demokratie fordern. Ändern tut sich nichts – außer dass täglich mehr palästinensisches Land gestohlen wird und die Lebensumstände der Palästinenser*innen sich kontinuierlich verschlechtern. Die Aussichten auf einen eigenen Staat, der völkerrechtlich vorgesehen ist, schwindet zusehends. 34