Forum 169/2022 – Das Magazin der IPPNW

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ippnw forum

das magazin der ippnw nr169 märz2022 3,50€ internationale ärzt*innen für die verhütung des atomkrieges – ärzt*innen in sozialer verantwortung

Foto: Paul Lovis Dorfmann /Campact, CC BY-NC 2.0

- Kein Krieg in Europa! - Elf Jahre Fukushima - Globale Impfgerechtigkeit

Greenwashing von Atomkraft: Ein Super-GAU für die Energiewende


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EDITORIAL Ute Watermann ist Vorstandsmitglied der deutschen IPPNW.

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ei Drucklegung dieser Ausgabe hat Russland die Ukraine angegriffen und die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung in Europa mit den Folgen einer humanitären Katastrophe wächst. Wir werden das nächste Forum schwerpunktmäßig diesem Thema widmen. Schon jetzt finden Sie in dieser Ausgabe den Medizinischen Appell der IPPNW, den Appell „Diplomatie statt Kriegsvorbereitung“ und eine Recherche zum neuen Wettrüsten mit Hyperschallwaffen. Gleichzeitig begehen wir im März 2022 den elften Jahrestag des Super-GAU von Fukushima (siehe Seite 18f.) Elf Jahre nach dieser Katastrophe versuchen Vertreter*innen der Atomindustrie, die Atomenergie als „Klimaretterin“ zu rehabilitieren. Die Aufnahme von Atom und Gas in die Taxonomie ist ein fatales Signal – und ein Geschenk der EU-Kommission an Frankreich, das mit uralten und maroden Meilern ein gefährliches Spiel treibt. „Für den zügigen, schrittweisen Umbau des Energiesystems bedarf es nur des politischen Willens. Der ist nicht in Sicht und wird mit Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomie immer länger auf sich warten lassen“, so Antiatom-Aktivistin Anika Limbach, die die aktuelle politische Auseinandersetzung in unserem Schwerpunkt kommentiert. Letztlich versteckt Frankreich hinter der geplanten Modernisierung der französischen Atomkraft für angeblich billigeren Strom die Agenda seines Atomwaffenprogramms. Die exorbitanten Kosten der Atomindustrie bürdet der Staat seit Jahren dem französischen Steuerzahler auf. Die zivil-militärischen Zusammenhänge beleuchtet Dr. Angelika Claußen für uns. Der Umweltaktivist Vladimir Slivyak von Ecodefense nahm letztes Jahr den alternativen Nobelpreis entgegen. Im Interview mit uns spricht er unter anderem über die geplante Kooperation zwischen der russischen und französischen Atomindustrie in Lingen, aber auch über die Klimabewegung in Russland und darüber, wie sich die Umweltsituation in den russischen Kohleregionen in den letzten Jahren entwickelt hat. Die Atomenergie wird selbst eines der ersten Opfer der Klimakrise sein: Der klimatische Wandel, der alle Prognosen überholt, gefährdet Atomanlagen weltweit bereits jetzt – bei Überflutungen, Waldbränden und Wasserknappheit lässt sich ein reibungsloser Betrieb immer weniger gewährleisten. Informationen dazu haben Paul-Marie Manière und Regine Ratke zusammengestellt. Ihre Dr. Ute Watermann 3


INHALT Ukrainekrise: Nein zum Krieg!

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THEMEN Hyperschallkriege..................................................................................................8 Ukraine: Nein zum Krieg!..............................................................................10 Die Entmenschlichung der Grenze.......................................................... 12 „Mehr Fortschritt wagen“: Eine kurze Bewertung des Koalitionsvertrages.................................14 Globale Impfgerechtigkeit nicht in Sicht.............................................16 Elf Jahre Fukushima........................................................................................ 18

Lingen: Russland sucht Zugang zum EU-Atommarkt

SCHWERPUNKT

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Power to the People! ...................................................................................... 20 Taxonomie: Mehr als nur Greenwashing.............................................. 22 Russland sucht Zugang zum europäischen Atommarkt..............24 Grüne Atomwaffen?.......................................................................................... 26 AKWs: Inkompatibel mit der Klimakrise.............................................. 28

Foto: Ecodefense.ru

WELT The Ban is here.................................................................................................. 30

Polen/Belarus: Die Entmenschlichung der Grenze

RUBRIKEN

24 12

Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6

Foto: Kancelaria Premiera / CC BY-NC-ND 2.0

Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33 4


MEINUNG

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Die IPPNW verurteilt den völkerrechtswidrigen russischen Militärangriff auf die Ukraine auf das Schärfste. Die Bundesregierung muss sich gegenüber der russischen Regierung für die sofortige Einstellung aller militärischen Aktivitten, den Rückzug aller Truppen und eine Rückkehr zu Verhandlungen einsetzen.

ine diplomatische Lösung ist immer noch möglich: Statt an der wirtschaftspolitischen und militärischen Gewaltspirale zu drehen, muss es neue diplomatische Initiativen geben. Sonst droht eine weitere Eskalation, die sowohl Westeuropa direkt betreffen als auch zu einem Einsatz von Atomwaffen führen kann, wenn die Dynamik der Geschehnisse weiter außer Kontrolle gerät. Unsere Sorgen gelten jetzt den Menschen in der Ukraine, die durch die humanitären Folgen von Krieg und Flucht betroffen sind. Die Situation ist für die Menschen in der Ukraine ohnehin seit Jahren extrem traumatisierend. Die medizinische Versorgung im Land ist gefährdet. Der „kalte“ Krieg hat seit 2014 bereits 13.000 Menschen das Leben gekostet, darunter rund 3.000 Zivilist*innen. Drei Millionen Menschen mussten aus dem Osten des Landes fliehen, zwei Millionen davon suchten als Binnenvertriebene im Westteil des Landes Schutz. In der Ukraine sind 15 Atomkraftwerke an vier Standorten in Betrieb. Selbst wenn die Reaktorstandorte, die 50 Prozent des ukrainischen Strombedarfs decken, nicht direkt in der Konfliktzone liegen, könnten Militärangriffe katastrophale Folgen haben – durch die Zerstörung von Infrastruktur oder Stromausfällen steigt die Gefahr eines Reaktorunglücks. Auch der TschernobylReaktor und die Sperrzone sind potenziell gefährdet. Wir sind zutiefst betroffen, dass diplomatische Lösungsvorschläge von Friedensforscher*innen für den Konflikt zwischen der NATO und Russland ignoriert wurden. Sanktionen, weitere NATO-Truppenverlegungen und Militärmanöver sowie Waffenlieferungen können die Situation weiter eskalieren. Daher müssen die Gesprächskanäle auf allen Ebenen offen gehalten werden werden. Wir brauchen einen sofortigen Waffenstillstand und eine politische Lösung des Konfliktes zwischen der NATO und Russland auf der Basis der Prinzipien der gemeinsamen Sicherheit. Auch unsere IPPNW hat in allen betroffenen Ländern eine eigene Geschichte. Wir lehnen es ab, zu Feinden zu werden. Dr. Angelika Claußen und Dr. Lars Pohlmeier 5


pexels.com

NACHRICHTEN

Appelle: Kein Krieg in Europa! Humanitäre Katastrophe Diplomatie statt Kriegsvorbereitung in Afghanistan

Produktion der B61-12-Atombomben soll im Mai 2022 beginnen

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er Konflikt zwischen der NATO und Russland um die Ukraine ist in den letzten Wochen gefährlich eskaliert. Die Friedensorganisationen und IALANA haben am 11. Februar 2021 gemeinsam mit 60 prominenten Erstunterzeichner*innen den Appell „Diplomatie statt Kriegsvorbereitung“ veröffentlicht. Darin fordern sie die Bundesregierung auf, aktiv dazu beizutragen, die Eskalation zu stoppen und eine friedliche Lösung zu suchen. Alle bestehenden wechselseitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen sollten genutzt werden, um gegenseitige Sicherheit zu erreichen. Sie könne nicht gegeneinander, sondern nur miteinander erreicht werden. Zu den Unterzeichner*innen zählen der Historiker und Publizist Peter Brandt, die Schriftsteller*innen Daniela Dahn und Johano Strasser, der Vorsitzende des DeutschRussischen Forums Matthias Platzeck, der ehemalige UN-Diplomat Dr. Hans-Christof Sponeck sowie die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer.

 Drei Tage später wurde ein weiterer Appell von Mediziner*innen aus Europa und anderen Teilen der Welt veröffentlicht, den die deutsche -Sektion initiiert hat. Darin rufen sie dazu auf, einen Krieg zwischen Russland und der NATO in Europa zu verhindern. Die Ärzt*innen und Gesundheitsfachkräfte warnen vor einer humanitären Katastrophe in Folge eines Krieges und rufen alle Konfliktparteien dazu auf, die Diplomatie der Eskalation vorzuziehen.

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ie Ernährungsunsicherheit in Afghanistan nimmt immer dramatischere Ausmaße an. Knapp 23 Millionen Menschen, die Hälfte der Bevölkerung, sind unterernährt. Mehr als eine Million Babys und Kleinkinder sind nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation in diesem Winter in Lebensgefahr, weil sie nicht genug zu essen bekommen. Gleichzeitig sind derzeit weniger als 20 Prozent der medizinischen Einrichtungen arbeitsfähig. Nach UN-Berechnungen könnten in diesem Jahr 97 Prozent der 40 Millionen Afghan*innen unter die Armutsgrenze rutschen. Dr. Reinhard Erös von der Kinderhilfe Afghanistan schreibt: „Hunger und Kälte haben auch in den Wochen seit Jahresbeginn die Lage in Afghanistan bestimmt. In Kabul herrschen nachts bis zu minus 15 Grad. Laut WHO und UNICEF sind vermutlich schon jetzt tausende Kinder und Mütter an Fehl-, Mangel- und Unterernährung und Unterkühlung gestorben“. Um selbst einen Beitrag zu leisten, haben Friedensinitiativen ihre Forderung an die westlichen Regierungen mit einem Aufruf zur Hilfe für notleidende Menschen in Afghanistan verbunden. Circa 34.000 Euro sind zusammengekommen. Sie gingen je zur Hälfte an die Kinderhilfe Afghanistan und an den Ärzteverein für Afghanische Flüchtlinge. Letzterer hat in Mazar-e-Sharif warme Kleidung und Holz an 250 Familien verteilt. Das mobile Klinikteam fährt einmal pro Woche in dieses Camp, um Patient*innen zu behandeln.

Sie finden die Appelle auf S. 10f. Mehr dazu unter afghandoctor.org und www.kinderhilfe-afghanistan.de 6

aut einer Ankündigung der Sandia National Laboratories sollen neue Atombomben des Typs B61-12 ab Mai 2022 in Serienproduktion gehen. Das neueste Modell soll durch ein präziseres Lenksystem und Satellitennavigation über eine „deutlich gesteigerte Vernichtungsfähigkeit“ verfügen. Die Stationierung von insgesamt 100 B61-12 Atombomben soll bereits 2023 in Europa beginnen. Neben Deutschland bekommen auch Italien, Holland und Belgien die neuen Atombomben. Alle drei Länder haben die F35-Kampfflugzeuge bereits gekauft oder eine Aufrüstung in diese Richtung angekündigt. Die nukleare Zertifizierung der F35 soll bis Januar 2023 erfolgt sein, danach beginnt das Training der US-Streitkräfte in Europa. In Deutschland steht die Entscheidung an, welcher der milliardenschweren Kampfjets – F18/A oder F35 – in welcher Anzahl gekauft werden sollte. Laut dpa soll die Entscheidung bis Ende März erfolgen. „Gerade in diesen Spannungszeiten soll Deutschland auf keinem Fall nuklear aufrüsten“, unterstreicht -Atomwaffenexpertin Xanthe Hall. Zusammen mit der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) kritisiert die geplante Serienproduktion der B61-12 Massenvernichtswaffen.


Hossam el-Hamalawy / CC BY 2.0

NACHRICHTEN

Gerichtsbeschluss: BDS-Sperre verletzt die Meinungsfreiheit

Japanische Ex-Premiers rufen die EU zum Atomausstieg auf

Grüne Delegierte stimmen für Kampfdrohnen und Atombomber

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m Sinne der Meinungsfreiheit muss die Stadt München in ihren Räumen Po-diumsdiskussionen zum Umgang mit der israelkritischen BDS-Kampagne („Boycott, Divestment and Sanctions“) zulassen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht am 19. Januar 2022 entschieden. Dort hatte ein Veranstalter geklagt, der in einem städtischen Raum die Diskussion abhalten wollte: „Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein? – Der Stadtratsbeschluss vom 13. Dezember 2017 und seine Folgen“. Laut diesem Beschluss sind städtische Räumlichkeiten für Veranstaltungen gesperrt, die die BDS-Kampagne unterstützen. Schon eine Befassung damit ist verboten. Die Stadt lehnte den Antrag des Klägers deshalb ab; auch vor dem Verwaltungsgericht hatte er keinen Erfolg. Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof hatte er dagegen in der Berufung Erfolg: Gemeinden seien nicht befugt, den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen allein wegen zu erwartender unerwünschter Meinungsäußerungen zu verwehren. Der Verweis auf eine aus Sicht der Stadt bestehende antisemitische Grundtendenz bei BDS genüge dafür nicht. Gerechtfertigt könne dies nur sein, wenn die Kampagne die „Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung“ gefährde. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Auffassung jetzt bestätigt. Das Urteil dürfte Anlass für weitere Diskussionen geben, da es sich auch gegen den BDS-kritischen Beschluss des Bundestags positioniert.

wei ehemalige japanische Premierminister forderten die Europäische Union am 27. Januar 2022 dazu auf, auf Atomkraft zu verzichten. Junichiro Koizumi und Naoto Kan reagierten damit auf den Plan der EU, Atomenergie als grüne Energie einzustufen. „Als Ergebnis des Atomunfalls im Kraftwerk Fukushima Daiichi im Jahr 2011 haben wir gelernt, dass Atomkraft keine sichere, billige und saubere Energie ist“, so Koizumi auf einer Pressekonferenz im Foreign Correspondents‘ Club of Japan. „Selbst wenn wir uns nicht auf die Atomenergie verlassen und keine fossilen Brennstoffe verwenden, gibt es genügend erneuerbare Energien, um den benötigten Strom zu liefern. Das gilt sowohl für Japan als auch für andere Länder der Welt.“ Koizumi wies darauf hin, dass Deutschland bereits aus der Atomenergie aussteige und Japan seine Abhängigkeit verringere. Mit dem politischen Auftritt wolle man Entscheidungsträger*innen in Frankreich und anderen Ländern, die auf Atomkraft setzen, umstimmen, so die ehemaligen Premierminister. Stattdessen sollten erneuerbare Technologien in Länder mit einem hohen Nutzungspotential exportiert werden. Während ihrer Amtszeit waren Koizumi und Kan Befürworter der Atomkraft. Seit der Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011 treten beide als prominente Stimmen gegen die Atomenergie auf.

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uf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen am 29. und 30. Januar 2022 lehnte eine große Mehrheit der Delegierten einen Antrag gegen die Anschaffung eines neuen Atombombers ab. Erst im vergangenen Jahr hatte die Partei in ihrem Grundsatzprogramm festgehalten, dass Deutschland dem UN-Atomwaffenverbotsvertrag beitreten solle. Die Entscheidung der Delegierten wurde aus Friedenskreisen stark kritisiert. Die grünen Delegierten lehnten es zudem ab, sich gegen eine Bewaffnung von Drohnen zu positionieren und den entsprechenden Antrag zu unterstützen. Dieser wurde mit 335 zu 245 Stimmen abgewiesen. „Die Drohnenbewaffnung ist ein entscheidender Schritt in Richtung eines autonomen Krieges. Eine bewaffnete Drohne, die von Menschen gesteuert wird, kann durch Austausch der Software zu einer autonomen Waffe werden“, kritisierte -Vorstandsmitglied Ralph Urban in einer Pressemitteilung. Ein erfreuliches Ergebnis des Parteitages gab es jedoch ebenfalls: Die Delegierten lehnten in einem Antrag mit breiter Mehrheit die Einstufung von Atomenergie und Erdgas als „nachhaltige Technologien“ ab. Die EU-Kommission hatte zu Jahresbeginn einen delegierten Rechtsakt zur Einstufung von Erdgas und Atomenergie in der EU-Taxonomie vorgelegt. Um die Entscheidung der EU-Kommission zu kippen, müssen sich 353 Abgeordnete des EU-Parlaments gegen die Taxonomie positionieren.


FRIEDEN

Eine neue Ära des militärischen Wettrüstens?

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ie britische Zeitung The Sun veröffentlichte am 21. November 2021 eine Grafik, auf der eine Mittelstreckenrakete aus Deutschland Moskau in einem „Blitzkrieg“ angreift. „Die Rakete kann Russland in 21 Minuten und 30 Sekunden treffen“, titelte das Boulevardblatt reißerisch. Als Abflugort der Rakete „Dark Eagle“ war das 56. US-Artillerie-Kommando in Mainz-Kastel angegeben. Der russische Präsident Wladmir Putin argumentierte auf seiner Jahrespressekonferenz am 10. Januar 2022: Sollten in der Ukraine moderne Angriffssysteme stationiert werden, bräuchten die Raketen keine fünf Minuten mehr bis Moskau. Er fragte wörtlich: „Was daran ist nicht zu verstehen? Stationieren wir etwa Raketen an den Grenzen zu den Vereinigten Staaten?. [...] Ist es wirklich übertrieben, zu fordern, dass vor unserem Haus keine weiteren Angriffswaffen aufgestellt werden?“

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yperschallwaffen werden zunächst mit einer Rakete gestartet, treten dann aber sofort einen Sinkflug an und steuern ihr einprogrammiertes Ziel an der Grenze zwischen dem offenen Weltraum und der Erdatmosphäre an. Als wesentlicher militärischer Vorteil gilt die hohe Geschwindigkeit, die der Waffe ihren Namen gibt, und dass sie von konventionellen Raketenabwehrsystemen nicht erkannt werden können. Außerdem seien sie im Unterschied zu ballistischen Raketen noch bis in die letzte Phase des Fluges steuerbar. Angekündigt sind russische „Zirkon“-Raketen für die Marine ab 2022, landgestützte Raketen der USA vom Typ „Dark Eagle“ für 2023. Auch China soll bei der Entwicklung von Hyperschallwaffen weiter sein als die USA. Allerdings: Beim Sinkflug entstehen enorme Temperaturen, die die Waffen für Infrarotsensoren von Abwehrsatelliten sichtbar machen.

geschwindigkeit fliege und sich dabei auch noch in Wellenbewegungen fortbewegen könne. Im Dezember 2019 hätte Russland eine erste Raketeneinheit mit neuen „Awangard“-Gleitern ausgestattet. Die Vereinigten Staaten hätten ihnen bislang nichts entgegenzusetzen. Diese Entwicklung hat einen längeren Vorlauf: So haben die USA im Februar 2019 ihren Ausstieg aus dem INF-Vertrag zum Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern bekanntgegeben – nach einer sechsmonatigen Übergangsfrist ist das Abkommen im August 2019 ausgelaufen. Bereits 15 Jahre vorher, nämlich 2004, hatten die USA mit Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Entwicklung von Hyperschallwaffen beschlossen. Die Initiative zielte auf den Ausbau militärischer Dominanz: Flugkörper mit einem Vielfachen derSchallgeschwindigkeit würden es der US-Luftwaffe ermöglichen, jedes Ziel in der Welt innerhalb von zwei Stunden anzugreifen. Der Name des Projekts: „Falcon“. Schon damals gab es Skepsis, nach jahrelangen Experimenten mit wiederholten Fehlschlägen. Unter anderem war ein australischer Hyperschalljet abgestürzt, an dessen Bau sich auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt beteiligt hatte.

Im Oktober letzten Jahres soll Russland zum ersten Mal eine Hyperschallrakete von einem U-Boot aus abgefeuert haben. Der Test in der Barentssee sei erfolgreich verlaufen. Eine Rakete vom Typ „Zirkon“ wurde von einem Atom-U-Boot gestartet, das sich über Wasser befand. Im Dezember meldeten russische Medien, dass die Marine erstmals einen Salvenabschuss mehrerer Raketen vom Typ „Zirkon“ erfolgreich durchgeführt habe. Im Februar 2020 waren die russischen Hyperschallwaffen Thema beim Treffen der NATO-Außenminister. Medien meldeten, am Rande der Zusammenkunft sei beklagt worden, die Raketenabwehr des Militärbündnisses könne die Luft-Boden-Rakete „Kinschal“, die wohl zehnfache Schallgeschwindigkeit erreiche, nicht unschädlich machen. Das gelte erst recht für den Hyperschallgleiter „Awangard“, der mit mehr als zwanzigfacher Schall-

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ie US-Hyperschallrakete „Dark Eagle“, die angeblich ab 2023 in Europa stationiert werden soll, ist landgestützt. Die Raketen befinden sich in einem Container auf einem LKW; in der Rakete sitzt der Wiedereintrittskörper bzw. Marschflugkörper mit Sprengsatz. Die Homepage der US-Armee meldete die Reaktivie8

The Sun

Hyperschallkriege


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Gegen diese Aussagen spricht jedoch, dass bereits im September 2021 in Mainz-Kastel eine sogenannte „Second MultiDomain Task Force“ installiert wurde. In einem Papier der USArmeeseite vom 16. März 2021 wird die Arbeit einer solchen

Ralph Urban ist Mitglied im Vorstand der IPPNW. 9

Quelle: US Army

rung des 56. Artilleriekommandos und seine Stationierung in Mainz-Kastel. Andrew Eversdon schrieb dazu am 4. November 2021 in einem Artikel auf Breaking Defense: „Die US-Armee hat ihr European Theater Fires Command offiziell reaktiviert und bereitet sich auf die Einführung neuer, weitreichender Angriffsfähigkeiten vor, nachdem sie sich von langjährigen vertraglichen Beschränkungen befreit hat“. Das 56. Artilleriekommando werde den Einsatz von „Multi-Domain-Feu„BEISPIELHAFTE STRUKTUR ern und -effekten“ planen und koordinieren, EINER MULTI-DOMAIN TASK FORCE“ um die US-Armee in Europa und Afrika sowie alle kombinierten Landkomponentenkommandos der Streit- Einheit detailliert beschrieben. Dort findet sich auch eine Grafik, kräfte zu unterstützen. Das Hauptaugenmerk der Einheit werde in der beschrieben wird, dass einer „Multi-Domain Task Force“ auf der Koordinierung von Langstreckenraketen liegen, die weit Hyperschallwaffen unterstellt sind. über die Entfernungen hinausgehen, die die Armee in den letzten Die Entwicklung von Hyperschallwaffen ist Realität. Michael T. Jahrzehnten abgefeuert habe. Klare, Verteidigungsexperte und Korrespondent von The Nation Die Streitkräfte würden drei Raketen mit verschiedenen Reichwei- sowie emeritierter Professor für Friedens- und Weltsicherheitsstuten entwickeln, das „Precision Strike Missile“ für eine Reichweite dien schreibt, dass die Stationierung dieser Einheiten und Rakevon bis zu 499 Kilometern, eine Zahl, die noch vor dem Ausstieg ten tiefgreifende Auswirkungen auf die zukünftige Kampfumgeaus dem INF-Vertrag festgelegt wurde. Die Mid-Range Capability bung in Europa hätte. Während derzeit auf jeden militärischen werde eine Reichweite von 1.000 Meilen haben und die Long- Zusammenstoß eine allmähliche Erhöhung des Kampftempos Range-Hyperschallwaffe „Dark Eagle“ ziele auf 1.725 Meilen ab. folgen würde, was Krisengespräche und Deeskalation ermöglicht, Alle drei Waffen sollten im Jahr 2023 als Prototypen zum Einsatz würden militärische Begegnungen zukünftig fast sofort von inkommen. tensiven US-Luft- und Raketenangriffen auf feindliche Schlüsselanlagen begleitet, die darauf abzielen, Russlands Kampffähigkeit ob Strider, der stellvertretende Leiter des Army Hypersonic schnell zu verschlechtern. Die russische Seite würde versuchen, Project Office, erklärte im August 2021: „Wir sind sehr, sehr sich gegen solche Angriffe zu verteidigen – soweit sie dazu in zuversichtlich, dass wir unseren Einsatztermin 2023 einhalten der Lage wäre – und eigene ähnliche Operationen durchführen. werden.“ Er betonte, dass die Ausrüstung am derzeit nicht be- Solche Gefechte würden voraussichtlich zu einem schnellen Sieg kannt gegebenen Einsatzort im September vorhanden sein sollte. der einen oder anderen Seite führen – oder für die Verliererseite zu einer frühen Entscheidung, Atomwaffen auf dem Schlachtfeld Die US-Armee und der ehemalige Wehrbeauftragte des Bun- einzusetzen und einen nuklearen Holocaust zu entfachen. destages Hans-Peter Bartels (SPD) streiten eine geplante Stationierung von Hyperschallraketen in Mainz-Kastel ab. Die Re- „Wir treten in eine neue Ära des militärischen Wettbewerbs mit aktivierung des 56. Artilleriekommandos sei lediglich ein Zeichen Russland und China ein, die leicht zu kurzen, aber sehr intender Abschreckung in Richtung Russland, so Bartels. Auch das siven und zerstörerischen Konflikten führen könnte – nennen Auswärtige Amt äußerte sich am 12. Januar 2022 zu möglichen wir sie „Hyperschallkriege“, so Michael T. Klare (The Nation, Raketenplänen der US-Regierung in Wiesbaden. Eine Sprecherin 20.04.2021). erklärte, die Bundesregierung habe von der US-Regierung die Mehr Informationen: ippnw.de/bit/ukraine Auskunft erhalten, dass diese keine Pläne hege, Raketensysteme in Wiesbaden zu stationieren. Bartels sagt, dass eine mögliche Stationierung von Hyperschallwaffen in Deutschland von deutschen Stellen genehmigt werden müsse.


FRIEDEN

Diplomatie statt Kriegsvorbereitung Appell von IPPNW und IALANA Russland hat völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen – entgegen unserer Einschätzung in dem folgenden Text. Die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Atomwaffenstaaten wächst. Die IPPNW hatte Anfang Februar zwei Appelle initiiert: Der gemeinsame Aufruf mit IALANA hat 60 prominente Erstunterzeichner*innen und bereits über 4.000 Einzelunterstützer*innen (22.02.2022). Er setzt sich mit den russischen Vertragsentwürfen auseinander und macht konkrete Vorschläge für eine diplomatische Lösung des Konflikts. Der internationale Mediziner-Appell „Kein Krieg in Europa“ wurde mittlerweile in zehn Sprachen übersetzt und von 700 Angehörigen der Gesundheitsberufe unterzeichnet.

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n dem aktuell gefährlichen Konflikt zwischen der NATO und Russland fordern wir die Bundesregierung auf, aktiv dazu beizutragen, die Eskalation zu stoppen und eine friedliche Lösung zu suchen. Dabei sollen alle bestehenden wechselseitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen genutzt werden, um gegenseitige Sicherheit zu erreichen. Dauerhafte Sicherheit kann nicht gegeneinander, sondern nur miteinander erreicht werden. Obwohl die Truppenkonzentration bedrohlich wirkt, will Russland erklärtermaßen keinen Krieg, sondern einen Vertrag, der seine Sicherheit gewährleistet und hat dazu zwei detaillierte Entwürfe vorgelegt, die in der Öffentlichkeit allerdings weitgehend unbekannt sind. Einige der Vorschläge enthalten weitgehende Maximalforderungen und Verhandlungsmasse für ein neues europäisches Sicherheitskonzept. Andere Vorschläge in den Vertragsentwürfen für gegenseitige Sicherheitsgarantien zwischen Russland und der NATO sowie zwischen Russland und den USA sind einigungsfähig, z. B. zur Einrichtung von Telefon-Hotlines, für eine wechselseitige Unterrichtung über militärische Übungen und Manöver und die jeweiligen Militärdoktrinen (Art. 2, Vertragsentwurf NATORussland) oder der Vorschlag eines Verbotes einer Stationierung von landgestützten Mittel- und Kurzstreckenraketen in Gebieten, die es ermöglichen, das Gebiet der anderen Vertragsparteien zu erreichen (Art. 5). Weitere zielen auf die Beendigung der nuklearen Teilhabe und den Abzug der US-Atomwaffen aus Europa (Art. 7 des Vertrags mit den USA). Im Artikel 1 heißt es: „Die Vertragsparteien lassen sich in ihren Beziehungen von den Grundsätzen der Zusammenarbeit, der gleichen und unteilbaren Sicherheit leiten. Sie werden ihre Sicherheit (…) nicht auf Kosten der Sicherheit der anderen Vertragsparteien stärken.“

Die Bundesregierung hat eine besondere rechtliche Verpflichtung gegenüber Russland: Am 9. November 1990 haben Kohl und Gorbatschow einen „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ geschlossen, der unverändert noch gilt. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Gespräche im Sinne dieser Verpflichtungen zu intensivieren. Wichtige einzuhaltende völkerrechtliche Verpflichtungen für die Lösung des aktuellen Konflikts ergeben sich insbesondere aus den Grundsätzen der UN-Charta zur friedlichen Streitbeilegung (Art. 2 Ziff. 3) und zum Gewaltverbot (Art. 2 Ziff. 4). Sie folgen auch aus der NATO-RusslandGrundakte vom 27. Mai 1997. Demnach unterliegt die dauerhafte Stationierung von substanziellen Kampftruppen in den neuen NATO-Ländern in der Mitte und im Osten Europas völkervertraglichen Beschränkungen. Die jetzt praktizierte lückenlose Rotation von NATO-Truppen an der NATOOstgrenze unterläuft Verpflichtungen des Abkommens. Zu Recht erinnert Russland an die Formulierung im Schlussbericht des OSZE-Gipfels von 1999 in Istanbul, wonach jeder Teilnehmerstaat bei Änderungen seiner Sicherheitsstrukturen die Rechte aller anderen Staaten achten und seine Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen wird. Wir appellieren an die Bundesregierung, die anstehenden Verhandlungen mit Respekt und unter Anerkennung der gegenseitigen Sicherheitsinteressen und unter Beachtung der bestehenden Sicherheitssysteme zu führen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Russland seit 1990 zunehmend seine Sicherheit an der Westgrenze durch die NATO bedroht sieht. Der Verzicht auf die Osterweiterung der NATO ist zwar nicht völkerrechtlich bindend vereinbart worden, war aber wiederholt Gegenstand von Gesprächen und Verhandlungen mit Vertretern der russischen Regierung. 10

Wir fordern die Bundesregierung auf, im folgenden Rahmen zu verhandeln: » verschärfte Bemühungen, das Waffenstillstandsabkommen Minsk II durchzusetzen und die Parteien davon abzuhalten, die territorialen Streitigkeiten hinsichtlich der Krim und des Donbass militärisch zu beenden. » Aktivierung aller noch bestehenden Gesprächskanäle zwischen Russland und NATO, um eine friedliche Lösung zu finden, die sowohl westliche als auch russische Sicherheitsbedenken anerkennt. » Stopp aller Maßnahmen, die gegenwärtig eine militärische Auseinandersetzung befördern. Dazu gehören der Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine, die Beendigung aller Truppenkonzentrationen beidseits der ukrainischen Ostgrenze, die Einrichtung eines Sicherheitsbereichs beiderseits der ukrainischen Ostgrenze, in dem alle Truppenbewegungen ab Divisionsstärke (= 5.000) der Gegenseite vorab gemeldet werden sowie die Unterlassung von Manövern in diesem Sicherheitsbereich. » rote Telefone insbesondere im Atomwaffenbereich; keine Stationierung von Kurzund Mittelstreckenraketen in Europa sowie ein beidseitiger Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen. » Verhandlungen im Rahmen der OSZE über den russischen Vertragsentwurf mit dem Ziel einer europäischen Sicherheitsstruktur und einer Neubestimmung des Verhältnisses Russland-NATO im Geist der früheren Abkommen über gegenseitige Sicherheit. » Förderung aller Formen des kulturellen Austauschs und persönlicher Kontakte zwischen den Völkern von Russland und Deutschland, die in ihrer großen Mehrheit jeden Krieg in Europa ablehnen, sondern friedlich miteinander leben wollen.


Appell: Kein Krieg in Europa! Mediziner*innen rufen international zur Diplomatie auf

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ediziner rufen zur Diplomatie auf, um die humanitäre Katastrophe abzuwenden Ärzt*innen sowie andere Gesundheitsfachkräfte in Europa nehmen ihre Verantwortung für präventive Maßnahmen zur Rettung von Leben äußerst ernst. Die Pandemie hat gezeigt, wie sehr sie bereit sind, sich für diese Aufgabe einzusetzen. Derzeit bahn sich in Europa der nächste medizinische Notfall an, den es zu verhindern gilt. Mit den richtigen Maßnahmen können wir einen Krieg – und die humanitäre Katastrophe, die er unweigerlich mit sich bringen wird – abwenden. Dafür muss die Diplomatie einer weiteren Eskalation vorgezogen werden. Russland ist Teil des europäischen Kontinents und der europäischen Kultur. Als der Kalte Krieg endete und der Warschauer Pakt aufgelöst wurde, hatten die Menschen in ganz Europa große Hoffnungen. Das Versprechen eines geeinten Europas schien möglich. Doch die NATO wurde nicht aufgelöst, und die Beziehungen zwischen Russland auf der einen Seite und der NATO und der EU auf der anderen Seite haben sich in den letzten zwanzig Jahren stetig verschlechtert. Jetzt hat die Beziehung ein akutes Stadium der Feindseligkeit erreicht, welches äußerst besorgniserregend ist. Der völlige Zusammenbruch des Vertrauens in die Rüstungskontrolle und der Rückzug aus Verträgen, wie im Falle der Ukraine, haben die Situation noch verschärft. Die kostspielige Erweiterung der NATO und die erzwungene Verschiebung der ukrainischen Grenzen haben die Wahrscheinlichkeit gemeinsame Sicherheit oder Frieden zu erreichen nicht verbessert. Die Aufrechterhaltung der Streitkräfte und die Fortsetzung des Wettrüstens sind sowohl für Europa als auch für Russland mit hohen Kosten verbunden. Wir alle brauchen

diese finanziellen Mittel jetzt, um die Auswirkungen des Klimawandels und der heutigen Pandemie abzumildern. Eine konfrontative Politik treibt uns an den Rand eines Krieges, wobei beide Seiten der jeweils anderen die Schuld an der Eskalation geben. Wenn die NATO und Russland diesen Konflikt angehen, indem sie Öl ins Feuer gießen und den Hardlinern auf beiden Seiten Munition für eine weitere Konfrontation liefern, ist das kontraproduktiv. Mit der Entsendung von mehr Waffen und Soldaten an die Grenzen schaukeln sich beide Seiten gegenseitig weiter hoch. Das erhöht die Kriegsgefahr und führt zu einer gefährlichen Pattsituation wie in Berlin 1958 oder auf Kuba 1962. Vor sechzig Jahren standen wir am Abgrund eines Atomkriegs und nur einzelne Heldentaten, mutige Entscheidungen und Glück haben uns gerettet. Das sollten wir nicht wiederholen. Wir müssen einen Schritt zurücktreten und diese ausweglose Situation mit den Augen des anderen betrachten. Das bedeutet nicht, dass wir die Meinung des anderen akzeptieren oder seine Perspektive als unsere eigene übernehmen müssen. Wir sollten uns ihre Bedürfnisse anhören und versuchen, sie zu verstehen. Lernen wir aus den Erlebnissen unserer Vorfahren, die während der globalen Konfrontation in den 1950er Jahren mit ähnlichen Umständen konfrontiert waren: Sie haben sich für eine Reduzierung der Rüstung und eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa eingesetzt. Es gibt keine einfachen Lösungen für Konflikte, aber es muss eine diplomatische und friedliche Lösung gefunden werden. Alles anderewäre unvorstellbar: Tod und Zerstörung lebenswichtiger Infrastrukturen, Atomkraftwerke und die mögliche Vertreibung in großem Umfang von Millionen von Menschen in Europa. Hinzu kommt die stets präsente nukleare Bedrohung, die jeder Krieg zwischen atomar 11

bewaffneten Nationen mit sich bringt. In diesem Konflikt sind vier Staaten im Besitz von Atomwaffen und haben eine Erstschlagsstrategie.

Wir fordern alle Konfliktparteien auf: » keine Drohungen mehr auszusprechen und auf eine militärische Eskalation zu verzichten » alle Truppen und Waffen von den Grenzen auf allen Seiten der Ukraine abzuziehen » die direkte Beteiligung weiterer Staaten an einer militärischen Auseinandersetzung zu verhindern » vertrauensbildende Maßnahmen und grundlegende Bedürfnisse auf beiden Seiten zu erörtern und zu klären, wie diese angegangen werden können » aufzuhören, sich gegenseitig die Schuld für den Ausbruch des Konflikts zu geben und von vorne anzufangen » Gespräche über die nukleare Abrüstung mit dem Ziel der überprüfbaren weltweiten Abschaffung von Atomwaffen aufzunehmen » mit der Vorbereitung für den Beitritt zum Vertrag zum Verbot von Atomwaffen (AVV) zu beginnen. Wir rufen alle Länder in Europa auf, durch Vorschläge und Beifall für deeskalierende Maßnahmen, dazu beizutragen, einen Krieg und eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Unsere Forderung nach einer kontinuierlichen diplomatischen Anstrengung zur Lösung der politischen Krise bedeutet nicht, dass wir mit bestimmten politischen Positionen einverstanden sind. Wir wollen einen potentiell unkontrollierbaren Konflikt verhindern, der zu einem Atomkrieg eskalieren könnte. Beide Appelle finden Sie zum Unterzeichnen unter: ippnw.de/bit/ukraine


SOZIALE VERANTWORTUNG

Die Entmenschlichung der Grenze Wie Versicherheitlichung zu einer fortschreitenden Beschneidung des Rechts führt

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enschen irren auf wochenlangen Fußmärschen durch europäische Wälder, versteckt vor Sicherheitskräften, auf der Suche nach Schutz. Viele brechen vor Hunger, Kälte und Erschöpfung zusammen. Einige sterben, darunter auch Kinder. Humanitäre Nothilfe gibt es quasi nicht. Anwohner*innen haben Angst, den Menschen auf der Flucht zu helfen oder sie zu verstecken, weil ihnen Repressionen drohen. Und manche tun es dennoch – das sind keine Szenen aus dem Winter 1944/1945. Es sind Szenen aus dem Winter 2021/22 im polnisch-belarussischen Grenzgebiet. Sie stammen von einem neueren Schauplatz des permanenten Ausnahmezustandes an den EU-Außengrenzen. Bei den Menschen handelt es sich vor allem um Männer, Frauen und Kinder aus den Kriegs- und Krisengebieten Afghanistan, Syrien und Irak. Die Bilder, wie auch die Flucht, sollen unterdrückt werden: Polen hat nicht nur den Grenzschutz massiv hochgefahren, sondern auch Presse, Menschenrechtsbeobachter*innen und humanitären Hilfsorganisationen den Zugang zum Grenzstreifen verwehrt. Bis heute sollen etwa 1.500 Menschen unter unwürdigen Zuständen im Grenzgebiet ausharren. Mindestens 19 Menschen starben, viele von ihnen erfroren. Was war passiert? Als der belarussische Regierungschef Lukaschenko im Herbst 2021 die visafreie Einreise über den Flughafen in Minsk ankündigte, machten sich einige Tausend auf den Weg, um über Weißrussland in die EU zu gelangen. Doch an der Grenze erwartete die Menschen ein Horrorszenario. Be-

larussische Sicherheitskräfte trieben die Menschen in Gruppen mit Gewalt auf die Grenze zu, polnische Grenzschützer drängten sie gewalttätig wieder zurück. Die EU warf Lukaschenko vor, einen „hybriden Krieg“ mittels der Migrant*innen zu führen, um die EU unter Druck zu setzen – ein Kalkül, dass allerdings überhaupt nur aufgrund fehlender legaler und sicherer Fluchtwege in die EU möglich war. Polen antwortete mit einer massiven Militarisierung der Grenze, Notstandsverordnungen, dem Ausbau von Haftkapazitäten und einer Legalisierung von „Pushbacks“ – Asylsuchende werden ohne individuelles Verfahren über eine eben überquerte Grenze zurückgeschoben.

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und 90 Prozent der offiziell knapp 40.000 versuchten Grenzübertritte

aus Belarus will der polnische Grenzschutz 2021 laut eigenen Angaben vereitelt haben – das dürfte zum Großteil

mit Pushbacks geschehen sein. Auch Litauen soll nach Angaben von Hilfsorganisationen an der Grenze zu Belarus 2001 knapp 8.200 Menschen zurückgedrängt haben. Die EU-Kommission und EU-Mitgliedstaaten schwiegen zu den schweren Rechtsverletzungen weitgehend und sicherten Polen und den baltischen Staaten ihre „volle Solidarität“ zu. Auf Druck der EU akzeptierte die irakische Regierung die Abschiebung von rund 5.000 Staatsangehörigen aus Belarus, ohne dass ihr Asylgesuch angehört wurde. Ende Januar begann Polen mit dem Bau eines hunderte Kilometer langen und 353 Millionen Euro teuren Zauns mit Kameras und Bewegungsmeldern, entlang der Grenze.

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ieser Fall ist auf mehreren Ebenen nicht nur erschreckend, sondern auch lehrreich. Zeigt er doch, wie weit die Versicherheitlichung der Migrationspolitik in der EU schon fortgeschritten ist und mit welchen Folgen. Seit den 2000er Jahren ist in der EU eine massive Versicherheitlichung von Migrationsdiskurs und -politik zu beobachten, die Migration als Sicherheitsproblem begreift und mit einer digitalen und physischen Aufrüstung sowie Externalisierung der EU-Außengrenzen einhergeht. Diese Entwicklung hat zu einem florierenden Industriezweig und einer krassen Entrechtung von Geflüchteten sowie der Zunahme von Gewalt gegen Menschen auf der Flucht geführt. Die Grundzüge der europäischen Abschottungspolitik reichen jedoch bis zur Schaffung des Schengenraums 1985 zurück. Beginnen wir mit der Sprache: Eine Kriegs- und Krisenrhethorik durchzog sowohl die Berichterstattung als auch

den offiziellen politischen Diskurs. EUKommissionschefin Ursula von der Leyen sprach etwa von einem „hybriden Angriff, um Europa zu destabilisieren“, auch von Migrant*innen als „Waffen in einer hybrider Kriegsführung“ war die Rede. Geflüchtete als „Sicherheitsproblem“ oder sogar „hybride Angriffe“ zu fassen, entmenschlicht Geflüchtete und legitimiert außerordentliche, drakonische Maßnahmen. Grenzen werden so zu Räumen des Ausnahmezustands. Der Politik- und Rechtswissenschaftler Maximilian Pichl meint deswegen auch: „[D]as Bedrohungsszenario von der hybriden Kriegsführung, das angesichts von einigen Tausend schutzsuchenden Geflüchteten an der Grenze ge-


FRONTEX ABSCHAFFEN!

zeichnet wird, [dient] den EU-Regierungen vor allem als Rechtfertigung, um sich ihrer rechtsstaatlichen Verantwortung zu entledigen.“ So verteidigen die Regierungen der an Belarus grenzenden EU-Staaten Pushbacks inzwischen offen. Der polnische Innenminister Mariusz Kaminski erklärte: „Wir dürfen uns nicht an die Bürokratie klammern. Wir müssen handeln, vor allem wenn wir angegriffen werden“. Das sicherheitspolitische Framing legitimiert die immer offener und skrupeloser praktizierten Pushbacks, ein Trend, den schon die Seenotrettungs-NGO Mare Liberum 2020 in einem Report konstatierte. Auch Pro Asyl scheibt: „Es ist eine hausgemachte Krise, die nun als Vorwand für die Aushöhlung des Asylrechts genutzt wird.“

Der Fall zeigt auch, wie die Versicherheitlichung zu einer fortschreitenden Beschneidung des Rechts führt. Denn nicht nur Pushbacks sind völkerrechtlich und EU-rechtlich verboten. Auch die Abschiebe-Deals der EU mit den Herkunftsländern verstoßen gegen das Non-RefoulementPrinzip der Genfer Flüchtlingskonvention. Deshalb bedarf es neuer Rechtssetzungen. Ein solcher Versuch war der Vorstoß der EU Kommission für ein temporäres „Sonder-Asylrecht“ für die Grenzstaaten zu Belarus – ein Vorschlag, der Polen nicht weit genug ging. Es erlaubt in „Krisensituationen“ unter anderem eine massive Ausweitung der sogenannten Grenzverfahren, in denen registrierte Asylsuchende bis zu 20 Wochen als „nicht eingereist“ in einem rechtlichen Vakuum an der Grenze festgesetzt werden können. Ähnliche Regelungen finden sich in der Krisenverordnung des „New Pact on Migration and Asylum“, der von der EU verhandelt wird – Rege-

lungen, die das EU- Parlament jüngst als problematisch abgelehnt hat. Auf einer EU-Grenzschutzkonferenz in Litauen im Januar 2022 wurde daher auch „über neue Ansätze im Schengener Grenzkodex gesprochen, um ein gemeinsames Grundverständnis in der EU bei der Frage, wie man mit illegalen Grenzübertritten umgehen soll, voranzutreiben. Im Besonderen dann, wenn Migrant*innen keinen internationalen Schutzbedarf haben oder wenn die Grenzübertritte auf einer Instrumentalisierung von Migrant*innen basieren.“ So steht es auf der Seite des Gastgebers, des österreichischen Innenministeriums. Sollte es so kommen, werden rechtsstaatliche Prinzipen endgültig über Bord geworfen. Ob jemand international schutzbedürftig ist, kann erst nach einem individuellen Verfahren festgestellt werden. Welche Interessen andere Staaten mit ihrer Politik verfolgen, spielt dabei keine Rolle.

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ten von 7,2 bis 8,6 %, so dass 2025 ein Gesamtvolumen von 65 bis 68 Milliarden US-Dollar erreicht wird“, so Akkermann. Die Unternehmen in dem Bereich sind dabei nicht nur passive Profiteure, sondern würden diese Entwicklung durch eine gut funktionierende politische Lobbyarbeit, ihre Beteiligung an staatlichen „Expertengruppen“ und ihre Drehtüren bei staatlichen Stellen vorantreiben. Mit Airbus, Elbit, Leonardo und Lockheed Martin sind die größten Rüstungsunternehmen und Waffenproduzenten bei der Diversifizierung ihres Portfolio an vorderster Stelle mit dabei. Hier ist die Situation besonders pervers, denn die Rüstungsfirmen profitieren doppelt: Durch Waffenexporte tragen sie zu Fluchtursachen bei und verdienen zugleich an den Folgen. In der Erklärung der EU-Grenzschutzkonferenz in Litauen heißt es, die EU solle sich auf die Themen konzentrieren, bei denen Einigkeit herrsche: „Das sind ein robuster Außengrenzschutz, konsequente Rückführungen und die strategische Kooperation mit Drittstaaten.“ Die EU erwägt inzwischen auch, Mauern und Zäune an den EU-Außengrenzen aus eigenen Mitteln zu finanzieren.

ausgemacht ist diese „Krise“ genau genommen vom „Industriellen Grenzkomplex“, wie Mark Akkerman die Verflechtung von Grenzschutzindustrie und staatlicher Politik im „Border Wars Briefing 2021“ nennt. Hunderte von Millionen Euro hätten die EU und ihre Mitgliedsstaaten in den letzten zehn Jahren für Grenzschutz ausgegeben, von militärischen Drohnen bis hin zu Sensorsystemen und experimenteller Technologie. Schlüsselbereiche der expandierenden Industrie seien die Grenzsicherheit (einschließlich Kontrolle, Überwachung, Mauern und Zäunen), Biometrie und intelligente Grenzen, Inhaftierung, Abschiebung sowie Audit- und Beratungsdienste. „Marktforschungsins- Anne Jurema ist Referentin für titute prognostizierten dem Grenzsicher- Soziale Verantworheitsmarkt dabei jährliche Wachstumra- tung der IPPNW. 13

Foto: Kancelaria Premiera / CC BY-NC-ND 2.0

Foto: Grupa Granica/Twitter

AN DER POLNISCH-BELARUSSISCHEN GRENZE.


„Mehr Fortschritt wagen“ Eine kurze Bewertung des „Ampel“-Koalitionsvertrages

Was plant die Ampelregierung in den Bereichen Friedens-, Geflüchteten- und Energiepolitik? Wir haben den Koalitionsvertrag genauer unter die Lupe genommen. Atomwaffenpolitik Der Koalitionsvertrag ist beim Thema Atomwaffenpolitik widersprüchlich. Die Passagen, die das Thema Atomwaffen und Rüstungskontrolle betreffen, lassen insgesamt viel Interpretationsspielraum. Die neue Regierung bekennt sich auf der einen Seite zu einer atomwaffenfreien Welt und zu einem Deutschland frei von Atomwaffen. Deswegen beginnt sie Gespräche mit den Befürworter*innen des Atomwaffenverbotsvertrages. Aber die Bindung an das strategische Konzept der NATO verhindert, dass Deutschland dem Vertrag beitreten kann. Aufgrund der Spannungen mit Russland will die Ampelkoalition keinen Bruch mit der NATO riskieren. Deswegen hält sie an der nuklearen Abschreckung und der nuklearen Teilhabe fest und will ein neues Atomwaffenträgersystem für Deutschland beschaffen. Hier werden wir vehement gegenhalten. Das Vorhaben der Bundesregierung, an der Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) in Wien als Beobachterin teilzunehmen, ist sehr zu begrüßen. Das ist für die IPPNW ein wichtiges Etappenziel. Darüber bekräftigt die Koalition, den Vertrag künftig konstruktiv begleiten zu wollen. Der Druck auf die Koalitionsparteien, nicht an der Staatenkonferenz teilzunehmen, war sehr massiv. Daher ist die Absichtserklärung, die Intention des AVV konstruktiv zu begleiten, ein großer Schritt

in Richtung Legitimation des Vertrages. Ob dem auch ein echter Richtungswechsel in der Politik folgt, bleibt abzuwarten. „Solange Kernwaffen im Strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben“. Dieser Satz deutet darauf hin, dass die Koalition zunächst an der nuklearen Teilhabe festhalten will. Die geplante Anschaffung eines neuen Trägersystems für einen Atomwaffeneinsatz zeigt, dass der Koalition der Mut fehlte, diese weitreichende Entscheidung in Frage zu stellen. Allerdings bleiben offene Fragen zur Zertifizierung des neuen Kampfjets für den Einsatz von Atomwaffen, die die Koalition „sachlich und gewissenhaft“ begleiten will.

Friedenspolitik Im Bereich Frieden enthält der Vertrag Licht und Schatten. Auf der Schattenseite steht das implizite Festhalten am Zwei-ProzentZiel der NATO. Die Ampelkoalition will außerdem die Bewaffnung von Drohnen in dieser Legislaturperiode ermöglichen. Geschehen soll dies unter „verbindlichen und transparenten Auflagen und unter Berücksichtigung von ethischen und sicherheitspolitischen Aspekten“. Spätestens der Krieg in Afghanistan hat allerdings gezeigt, dass es kaum möglich ist beim Drohneneinsatz zwischen Kombattant*innen und Zivilist*innen zu unterscheiden, wie es 14

das Völkerrecht fordert. Extralegale Tötungen und Letale Autonome Waffensysteme werden dagegen abgelehnt. Eine eklatante Leerstelle wiederum zeigt sich beim Klimaschutz: Rüstung und Militär werden als CO2-Emittent nicht erwähnt. Während Gelder für Aufrüstung bereitgestellt und die Bundeswehr „modernisiert und digitalisiert“ werden soll, fehlt jeder Hinweis auf eine Erfassung oder Reduktion der militärischen Treibhausgaswerte.

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ositiv zu bewerten ist die angekündigte Evaluation des Afghanistaneinsatzes „in einer Enquete-Kommission mit wissenschaftlicher Expertise“. Die Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes soll in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss untersucht werden. Der Koalitionsvertrag bekennt sich auch zu einem Rüstungsexportkontrollgesetz. Entscheidend wird sein, ob dieses Gesetz Rüstungsexporte an menschenrechtsverletzende Staaten und in bewaffnete Konflikte verwickelte Länder verbietet. Ein Erfolg der Kampagne „Unter 18 nie“ ist die Aussage im Koalitionsvertrag, dass in der Bundeswehr künftig Minderjährige keine Ausbildung und keinen Dienst an der Waffe mehr leisten sollen. Die Ampel hat zudem eine „wertebasierte Außenpolitik“ angekündigt. „Menschenrechte“ sollen eine größere Rolle spielen. Im Koalitionsvertrag finden wir eine vereinfachende Gegenüberstellung von demokratischen und autoritären Staaten. Unsere Aufgabe wird sein, Konflikte differenziert darzustellen und Feindbilder als Propaganda bloßzustellen. Fazit: Grundsätzliche Änderungen der Sicherheitspolitik durch die neue Bundes-


ATOMWAFFEN

regierung sind aus unserer Sicht nicht zu erwarten. Es bleibt unsere Aufgabe, friedenspolitische Alternativen auf der Grundlage eines anderen Verständnisses von Sicherheitspolitik zu entwickeln und Forderungen nach Entspannungspolitik und Abrüstung zu formulieren und in die Öffentlichkeit zu tragen.

Soziale Verantwortung Einige wichtige Forderungen der IPPNW finden sich vor allem im innenpolitischen Bereich wieder. Familienzusammenführung wird erleichtert, Bleiberechtsregelungen werden geschaffen, Arbeits- und Ausbildungsverbote abgeschafft und der Zugang zur Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere verbessert. Aber es gibt auch eine deutliche Kontinuität einer Migrationspolitik, die auf Abwehr und Abschiebungen setzt. Der Leitgedanke des Koalitionsvertrages, „irreguläre Migration wirksam zu reduzieren und reguläre Migration zu ermöglichen“ suggeriert dabei eine falsche Ausgewogenheit. Denn angesichts der fehlenden legalen Fluchtwege nach Europa bleibt Schutzsuchende oft nur die irreguläre Einreise. „Asylverfahren müssen fair, zügig und rechtssicher ablaufen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Offenbar ist die Ampel aber nicht bereit, Asylrechtsverschärfungen der letzten Jahre rückgängig zu machen, die die Abschiebung kranker und traumatisierter Menschen begünstigen. So gilt die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nicht mehr als schwerwiegende Erkrankung, die einer Abschiebung grundsätzlich entgegensteht. Psychologische Psychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendtherapeut*innen werden als Gut-

achter*innen in Asylverfahren nicht mehr zugelassen. Durch die Verkürzung der Frist für Atteste und die Beweislastumkehr ist es in der Praxis extrem erschwert, gesundheitliche Gründe gegen eine Abschiebung geltend zu machen. Positiv ist hingegen zu bewerten, dass die neue Regierung vorhat, „vulnerable Gruppen von Anfang an [zu] identifizieren und besonders [zu] unterstützen“. Im Aufenthalts- und Bleiberecht zeichnet sich der Paradigmenwechsel am ehesten ab. Hier sollen so genannte Kettenduldungen und die Duldung light abgeschafft und geduldeten Geflüchteten nach verschiedenen Altfall- und Stichtagregelungen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Auch die Erleichterungen beim Familiennachzug sind sehr zu begrüßen. Mit großer Beunruhigung nehmen wir das Wort „Rückführungsoffensive“ im Koalitionsvertrag zur Kenntnis. Eine Ankündigung, Menschen nicht mehr in Kriegs- und Krisengebiete abzuschieben, wie es die Grünen gefordert hatten, sucht man vergebens. Problematisch ist zudem der geplante Ausbau von Frontex zu einer „echten Grenzschutzagentur“. Eine Behörde, deren Mandat und Geist es ist, Migration zu verhindern, wird kaum in der Lage sein, Schutzsuchenden in Seenot adäquat zu helfen.

haben eine unbefristete Betriebserlaubnis. In Lingen werden Brennelemente für Doel und Tihange (Belgien) gefertigt – Risikoreaktoren, für deren Abschaltung man sich laut Koalitionsvertrag einsetzt.

D

ie Standortsuche für ein Endlager soll „nach den gesetzlich festgelegten Prinzipien“ weitergehen. Im Koalitionsvertrag heißt es auch: „Genehmigte Endlager müssen zügig fertig gestellt und in Betrieb genommen werden.“ Standorte werden nicht genannt. Gemeint ist wohl Schacht Konrad bei Salzgitter – die einzige Deponie, bei der es bisher einen Planfeststellungsbeschluss gibt. Gegen diesen Beschluss haben NABU und BUND Klage eingereicht, da nach heutigem Kenntnisstand kein Langzeitsicherheitsnachweis vorliegt. Auch die Problematik der Atommüll-Zwischenlagerung erwähnt die Ampel nicht. Die Genehmigungen für die Zwischenlagerung hochradioaktiver Abfälle laufen in Gorleben 2034 und in Ahaus 2036 aus, ohne dass es bisher ein Endlager gibt. Der Euratomvertrag, der die unveränderte Nutzung der Atomenergie zum Inhalt hat, kommt im Koalitionsvertrag nicht vor. Auch über die EU-Taxonomie sagt der Koalitionsvertrag wenig. Eine ausführliche Bewertung finden Sie unter: ippnw.de/bit/koalitionsvertrag

Atomenergie Der Atomausstieg wird im Koalitionsvertrag mehrfach bekräftigt. Entscheidend ist aber, was im Koalitionsvertrag fehlt: Die Brennelementfabrik in Lingen, die Urananreicherungsanlage (UAA) in Gronau und der Forschungsreaktor in Garching sind von diesem Ausstieg ausgenommen und 15

Angelika Wilmen ist Geschäftsstellenleiterin und Friedensreferentin der IPPNW.

Foto: Michael Schulze von Glaßer

FOTOAKTION FÜR EINE POLITIK DER DEESKALATION, BERLIN.


SOZIALE VERANTWORTUNG

Versagen auf ganzer Linie Globale Impfgerechtigkeit ist nicht in Sicht

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Im Moment kontrollieren wenige Pharmahersteller die globale Produktion und die Verkaufspreise von Covid-19-Impfstoffen und Medizinprodukten. Die private, künstlich verknappte, gewinnorientierte Herstellung von Arzneimitteln führt dazu, dass viele Länder die Preise der Pharmahersteller nicht zahlen können und die Produktion weit hinter dem globalen Bedarf zurückbleibt. Eine Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte könnte laut Ärzte ohne Grenzen (MSF) die bedarfsorientierte Produktion durch mehr Hersteller ermöglichen, Generika zu einem bezahlbaren Preis zur Verfügung stellen und die Kontrolle in die Hände der Regierungen übertragen. Hersteller erhielten die nötige Rechtssicherheit, um in die lokale Produktion zu investieren.

er Zugang zu Covid-19-Impfstoffen ist weiterhin weltweit zutiefst ungerecht verteilt. Während sich hierzulande alle Menschen boostern lassen können, wartet in anderen Teilen der Welt sogar das medizinische Personal noch auf seine Erstimpfung. Laut Angaben der WHO liegt in 34 Ländern des globalen Südens die Impfquote unter 10 Prozent und in 86 Ländern sind weniger als 40 Prozent geimpft. Drei Milliarden Menschen haben noch keine Dosis erhalten. Die Zahl der Auffrischungsimpfungen in den reichen Ländern übersteigt hingegen inzwischen die Zahl aller verabreichten Dosen in den ärmeren Ländern insgesamt. Politiker*innen und Intellektuelle aus Afrika haben in diesem Zusammenhang von kolonialen Mustern und Impfstoff-Apartheid gesprochen.

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m Dezember 2021 widerlegten Expert*innen der Süd-Süd Initiative AcessIBSA und MSF die Behauptung, die Länder des globalen Südens seien nicht in der Lage, kurzfristig die Impfstoffproduktion aufzubauen. Sie ermittelten rund 120 potenzielle Hersteller in Lateinamerika, Afrika und Asien, die in drei bis sechs Monaten in der Lage seien, mRNA Impfstoffe zu produzieren. Ein Grund dafür ist, dass mRNA Impfstoffe erheblich einfacher zu produzieren sind als herkömmliche Impfstoffe, weil es keine komplizierten und zeitintensiven biologischen Produktionsschritte gibt. Mit einem TRIPS-Waiver und der Bereitschaft zum Technologie-Transfer hätten also Dutzende lokale Hersteller jetzt schon seit über einem Jahr kostengünstig Impfstoffe produzieren können. Doch auch beim Thema Technologie-Transfer wird weiter gemauert. So weigert sich BioNTech /Pfizer, seine Impfstofftechnologie mit dem Technologietransferhub der WHO in Südafrika zu teilen. „Das Ringen um TRIPS-Waiver und Technologie-Transfer zeigt auf extreme Weise, wie sehr die Profitinteressen der Pharmaindustrie Vorrang haben vor den Gesundheitsbedürfnissen und Menschenrechten weltweit“, kritisiert IPPNW Vorstandsmitglied Carlotta Conrad.

Doch Deutschland und die EU blockieren weiterhin die Freigabe der Patente auf Coronavirus-Impfstoffe und Medizinprodukte für den Zeitraum der Pandemie – auch unter der neuen Bundesregierung. So erklärte die BMZ-Ministerin Svenja Schulze (SPD) im Januar 2022 vor Journalist*innen „Ich bezweifle, dass die Entwicklungsländer leichter an Impfstoffe herankommen, wenn wir die Patente freigeben. Die Impfstofftechnologie ist sehr komplex und Patente erklären immer nur einen kleinen Teil des gesamten Herstellungsprozesses. Das Hauptproblem ist nicht: Wie kommt man an das Patent? Sondern: Wie kriegt man den Impfstoff auch in ärmeren Ländern produziert und anschließend verteilt und verimpft? Dabei helfen Unternehmenspartnerschaften.“ Über 100 Staaten, Expert*innen der WHO und des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Gesundheits- und Menschenrechtsorganisationen sehen das anders. Sie alle unterstützen den von Südafrika und Indien schon im Herbst 2020 bei der Welthandelsorganisation WTO eingebrachten Antrag – den so genannten TRIPS-Waiver. Das TRIPS-Abkommen von 1995, das Patentfragen und andere handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums regelt, lässt eine temporäre Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Impfstoffe, Diagnostika, Therapeutika und Medizinprodukte im Falle von internationalen Gesundheitsnotlagen zu. Sogar die Biden-Administration hat letztes Jahr ihre Blockadehaltung aufgegeben. Aber der TRIPS-Waiver scheitert weiterhin an der Weigerung Deutschlands und wenigen anderen europäischen Ländern mit starker Pharmaindustrie sowie an der EU Kommission.

Dabei konnte das Mainzer Unternehmen den Impfstoff nur dank jahrzehntelanger öffentlich finanzierter Forschung zur mRNATechnologie an Universitäten entwickeln und wissenschaftliche Erfolge, die nie patentiert wurden, einfach übernehmen. Zusätzlich erhielten im Jahr 2020 BioNTech/Pfizer von den Regierungen Deutschlands und der USA öffentliche Gelder in Höhe von 1,9 Milliarden US-Dollar. Schon jetzt haben BioNTech Pfizer mit Coro16


Vorstandsmitglied Robin Maitra, der selbst eine Corona-Schwerpunktpraxis leitet. „Diese Mutationen lassen sich auch nicht regional begrenzen. Die Pandemie lässt sich nur gemeinsam und global bekämpfen. Das ist auch im Interesse der reichen Länder.“

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e länger die Pandemie dauert, desto immenser werden auch die Folgeschäden. „Wir befinden uns in Wirklichkeit in einer Polypandemie“, so Global Health Expertin und IPPNW-Ärztin Katja Goebbels. „Es geht ja nicht nur um die Gesundheitsschäden und Todesopfer, die Covid-19 weltweit kostet, sondern um all die massiven sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schäden, die die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie vor allem im globalen Süden verursachen.“

Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) hat in seinem Jahresbericht die reichen Länder, darunter Deutschland und die EU, scharf für Versäumnisse bei der globalen Impfgerechtigkeit kritisiert und diese für das Scheitern des von der WHO mitgegründeten globalen Verteilungsmechanismus COVAX (Covid-19 Vaccines Global Access) mitverantwortlich gemacht. Über bilaterale Verträge mit Impfstoffherstellern hätten sich die reichen Länder vorab einen Großteil der Impfstoffproduktion gesichert und Impfdosen weit über dem eigenen Bedarf gehortet. Daher verfügte die öffentlich-private Plattform COVAX lange Zeit kaum über zu verteilende Impfdosen. Ursprünglich sollten darüber weltweit zunächst zeitgleich Risikogruppen und das medizinische Personal in allen Ländern Zugang zu Impfstoffen erhalten. Doch stattdessen wurde COVAX zu einer Plattform für freiwillige Finanzierungsbeiträge und Impfdosenspenden aus dem globalen Norden. „Globale Impfgerechtigkeit bedeutet: den weltweiten Zugang zu Impfungen sicherzustellen. Dieser kann nicht durch Wohltätigkeit auf Basis von Überschussspenden oder Entwicklungshilfe erreicht werden. Der Zugang zu Impfstoffen gegen eine tödliche Krankheit ist Teil des international anerkannten universellen Rechts auf Gesundheit. (...) Die globale Impfgerechtigkeit ist nicht nur gesundheitspolitisch geboten, die Vertragsstaaten des UN-Sozialpakts sind dazu auch menschenrechtlich verpflichtet (Art. 12 UN-Sozialpakt).“, heißt es im Jahresbericht des DIMR.

Bei der Übernahme des Vorsitzes der G7 hat Deutschland im Januar 2022 einen Schwerpunkt globale Impfgerechtigkeit angekündigt. Versprochen werden eine finanzielle Aufstockung der globalen Impfkampagne über COVAX und Unter­stützung beim Aufbau von lokaler Impfstoffproduktion in Entwicklungsländern zusammen mit den Ursprungsherstellern. Mehr alter Wein in neuen Schläuchen: Zu groß scheint die Sorge von Big Pharma und Regierungen des globalen Nordens zu sein, mit der Freigabe der Patente einen Präzedenzfall zu schaffen, der Patente auf essentielle Arzneimittel grundsätzlich infrage stellen könnte. Mehr unter: ippnw.de/bit/impfgerechtigkeit

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er künstlich verknappte Zugang zu Impfstoffen ist auch epidemiologisch kontraproduktiv. „Niedrige Impfquoten weltweit begünstigen die Entstehung weiterer Virusvarianten, da geringere Immunität in der Bevölkerung dazu führt, dass das Virus sich stärker ausbreitet und dadurch noch gefährlichere oder ansteckendere Mutationen leichter entstehen können“, erklärt IPPNW-

Anne Jurema ist IPPNW-Referentin für Soziale Verantwortung. 17

Foto: US AID / Flickr

MITARBEITERINNEN EINER CORONAIMPFPRAXIS AUF MADAGASKAR (2021).

na-Impfstoffen weit mehr verdient, als sie selber für Forschung und Entwicklung ausgegeben haben. 7,1 Milliarden Euro Gewinn machte BioNTech in den ersten neun Monaten 2021 nach eigenen Angaben. Trotz der millionenschweren öffentlichen Förderung hat Deutschland das Unternehmen im Gegenzug weder dazu verpflichtet, sich aktiv am Technologie-Transfer zu beteiligen, noch den Abgabepreis des Impfstoffes zu deckeln.


ATOMENERGIE

Elf Jahre Fukushima Die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe

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Nach den jetzt vorgestellten offiziellen Zahlen wurden allein im Zeitraum 2014 bis 2019 bei insgesamt 138 Kindern und Jugendlichen Krebs-/Krebsverdachtsfälle dokumentiert. Bezogen auf das ursprüngliche Untersuchungskollektiv von 300.000 Kindern wären in dieser Zeit aber nur ca. elf erkrankte Kinder zu erwarten gewesen. Die Inzidenzen sind im Mittel um den Faktor 17,4 höher als erwartet (10.3/0.59 =17.4).

ach dem schweren Erdbeben in Japan und dem folgenden dreifachen Super-GAU in der Atomanlage Fukushima Daiichi sind elf Jahre vergangen. Die ehemaligen Evakuierungsgebiete sind zwar offiziell wiederbesiedelt, in einige Orte sind aber nur ca. 30 Prozent der Evakuierten zurückgekehrt – überwiegend ältere Menschen. Die Wiederbesiedlung ist unterhalb eines Strahlengrenzwertes von 20 Millisievert/Jahr vorgesehen, obwohl die international geltenden Regeln einen Grenzwert von einem Millisievert/Jahr vorschreiben. Indem die japanische Regierung an der Notstandsverordnung für diese Gebiete festhält, nimmt sie eine gesundheitliche Gefährdung der Bewohner bewusst in Kauf. Fukushima ist von jeglicher Normalität weit entfernt.

Ergebnisse für die SD-Inzidenz in den Survey-Runden 2 bis 4: Survey-Runde Zeitraum

Vierte und fünfte Untersuchungsreihe zum Schilddrüsenkrebs Radioaktives Jod wird bei Kindern aufgrund deren dynamischen Zellwachstums in besonderem Maße in der Schilddrüse (SD) aufgenommen und eine Schädigung frühzeitig nach einer Verstrahlung sichtbar.

2

3

4

5

2014-15

2016-17

2018-19

2020 - ?

Maligne / verdächtige Befunde

71

31

36

bisher 3

Teilnehmer *innen

270.552

217.922

183.352

Personenjahre

541.104

435.844

366.704

13,1

7,1

9,8

Inzidenz per 100.000*

bisher

32.404

*Inzidenz = Zahl der SD-Krebsfälle, geteilt durch Zahl der Personen-Jahre

Im Oktober 2021 wurden neue Studiendaten aus der vierten und fünften Runde der SD-Reihenuntersuchung bei jungen Menschen unter 25 Jahren in der Präfektur Fukushima veröffentlicht. Begonnen hatte die erste Untersuchungsreihe („Baseline“) in den Jahren 2011-13, mit der die Prävalenz festgestellt wurde. Es fanden sich damals 115 Krebs-/Krebsverdachtsfälle. Allerdings nahmen von ca. 380.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen, die zum Zeitpunkt der nuklearen Havarie in der Präfektur Fukushima lebten, am Baseline-Screening nur ca. 300.000 Kinder (82 %) teil. Die Studienteilnahme sank mit jedem Survey weiter ab, in der vierten Runde (2018-19) auf nur noch 62 %. Aktuell hat die Covid-Pandemie die zeitlichen Planungen deutlich verzögert, der vorgesehene Zwei-Jahres-Turnus der Reihenuntersuchung konnte zuletzt nicht mehr aufrechterhalten werden. So wurde das Screening der fünften Runde erst bei knapp 12 % der Kinder durchgeführt. Diese Daten sind insofern noch nicht auswertbar.

Bei diesen Daten ist zu berücksichtigen, dass aus der offiziellen Studie diejenigen Kinder, die zwischen den Screenings untersucht oder operiert werden bzw. in externen Kliniken behandelt werden, herausfallen. Auch werden Jugendliche, die in die Altersklasse über 25 hineingewachsen sind, seit 2017 in einer separaten Studie (Age 25 Milestone Study) geführt und ausgeklammert. Insgesamt unterschätzt damit die offizielle Statistik die tatsächliche Neuerkrankungshäufigkeit. Selbst Veröffentlichungen der Universität Fukushima sprechen von einer deutlichen Steigerung der Erkrankungszahlen, begründen dies aber mit einem sogenannten „Screening-Effekt“, der Krebs-Frühstadien wegen der hohen Nachweisempfindlichkeit sichtbar macht, die sonst unentdeckt geblieben oder erst nach Jahrzehnten aufgefallen wären. Die japanische Regierung hat wohl mit Absicht darauf verzichtet, eine entsprechende Vergleichsstudie in einer nicht vom Fallout betroffenen Region durchzuführen. Damit fehlt grundlegend eine Vergleichsgruppe zur Auswertung der Reihenuntersuchung in Fukushima. Insgesamt weisen die Erkrankungszahlen auf einen kausalen Zusammenhang mit der Exposition der Kinder mit ra-

Deutliche Zunahme der Schilddrüsenkrebserkrankungen Die Inzidenz von SD-Krebs betrug bei Personen unter 25 Jahren vor dem Super-GAU in Japan 0,59/100.000/a. 18


Die japanische Regierung hat dem Energieversorger TEPCO die Genehmigung erteilt, ab dem Frühjahr 2023 am Standort Fukushima Daiichi ca. 1,3 Millionen Tonnen radioaktiv kontaminiertes Wasser in den Pazifik zu verklappen. Die havarierten Reaktoren müssen weiterhin ununterbrochen mit täglich ca. 140 Tonnen Wasser von außen gekühlt werden, um eine nukleare Kettenreaktion zu verhindern. Im Inneren der Reaktorkerne herrschen mit ca. 42 Sievert tödliche Strahlenwerte, was auch die Arbeit mit technischem Gerät verunmöglicht. Das radioaktiv verunreinigte Kühlwasser wird in Tanks gepumpt, deren Stellfläche bei mittlerweile über 1.000 Großtanks knapp wird. Statt weitere Geländebereiche zuzukaufen, darf TEPCO die Tanks zukünftig über eine ca. einen Kilometer lange Abwasserleitung direkt in den Pazifik entleeren – die kostengünstigste Variante für den durch den Super-GAU völlig überschuldeten Energieversorger. Das Kühlwasser soll zwar vorher eine Dekontamination durchlaufen, diese hat sich aber als ineffektiv erwiesen: ihre Filterwirkung lag zuletzt bei knapp 30 % der Gesamtradioaktivität. Bei der Verklappung setzt Japan ganz auf die Verdünnung durch das Meerwasser des Pazifik. Es wundert nicht, dass die japanischen Küstenfischer als auch die Anrainerstaaten, insbesondere Südkorea und China, dagegen protestieren. Aber auch ohne die direkte Verklappung gelangt täglich kontaminiertes Grundwasser in den Ozean. Auch weist die technisch aufwendig als Barriere gebaute Eismauer um die zerstörten Reaktoren immer wieder Löcher auf, zuletzt im November 2021.

Krankheitsbild Hydrocephalus Eine von Prof. Yamada 2021 veröffentlichte Studie untersuchte von 2011 bis 2017 zwölf Präfekturen Ostjapans die Zahl der Neugeborenen mit Hydrocephalus. Verglichen mit den Daten von vor dem Super-GAU fand sich eine Zunahme dieser Diagnose um den Faktor 2,2 bis 4,7. In der Präfektur Saitama zeigte sich aufgrund der dortigen pädiatrischen Spezialabteilung sogar eine 20-fache Steigerung. Ähnliche Untersuchungen aus der Ukraine wiesen nach Tschernobyl eine vergleichbare Zunahme an Hydrocephali (2 bis 7,5-fach) nach. Als Verursacher der Malformation wird das radioaktive Isotop Tellur angesehen, dessen zusätzliche chemotoxische Schädlichkeit auch im Tierversuch nachgewiesen ist. Solidarität mit den Betroffenen Die psychosoziale Belastung der Menschen sowohl vor Ort als auch in der Evakuierung ist anhaltend hoch. Sie leiden unter seelischen Belastungsreaktionen wie Depressionen oder Angststörungen. In der aktuellen Debatte um den Klimaschutz wird von den AKW-Befürworter*innen die relativ niedrige C0 2-Emission der Atomtechnologie in den Vordergrund geschoben. Das Leiden der Menschen nach einem Super-GAU wird dabei ausgeblendet, verharmlost oder verleugnet. Auch deshalb muss unsere Solidarität den von der Radioaktivität betroffenen Menschen in Japan gelten. Wir müssen deren Schicksal weiterhin öffentlich machen. Tschernobyl und Fukushima mahnen!

Über Fukushima liegt anhaltend das Damoklesschwert einer erneuten schweren radioaktiven Verseuchung durch das am Boden der zerstörten Reaktoren noch vorhandene geschmolzene und hochradioaktive Inventar.

Jörg Schmid ist IPPNW-Mitglied und Ansprechpartner für den AK Atomenergie. 19

Fotos: Matthias Lambreht / CC BY-NC 2.0

Protest gegen die Verklappung radioaktiven Kühlwassers

dioaktivem Jod hin. Bereits 2017 hatte Körblein die Daten der zweiten Survey-Runde auf eine Abhängigkeit der SD-Inzidenz von der Entfernung vom AKW Fukushima Daiichi untersucht. Die Inzidenz stieg dabei signifikant mit der Nähe zum AKW an; im Nahbereich (evakuierte Zone) war sie mehr als doppelt so hoch wie im Rest der Präfektur. Fahrlässigerweise hat die japanische Regierung die vorhandenen Jodtabletten unmittelbar nach dem Super-GAU nicht an die Bevölkerung ausgegeben – sie trägt damit eine Mitverantwortung für jedes einzelne, durch den radioaktiven Fallout erkrankte Kind.


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Fotos: © UNDP Yemen

olarkraftwerk in Abs, Jemen: Hier haben zehn Frauen Arbeit gefunden, die die Kommune mit umweltfreundlicher Energie versorgen.


Fotos vom UNDPKlimaprogramm finden Sie hier: www.flickr.com/ photos/undpclimatechangeadaptation

Power to the People! Solarstrom: Mutmachende Beispiele einer weltweiten Energiewende

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bss, Jemen: Iman leitet eine Gruppe von zehn Frauen, die ein Solarkraftwerk installiert haben, um die Bewohner*innen der Gemeinde im Gouvernement Hajjah mit sauberer, umweltfreundlicher Energie zu versorgen. Die Frauen betreiben die Station derzeit als ihr eigenes Unternehmen und bieten einer von Konflikten und Kriegen betroffenen Gemeinschaft eine saubere Energiequelle, die 80 Prozent weniger kostet als Dieselkraftstoff. Das Projekt hat 2.100 Menschen zu einem Einkommen verholfen und 10.000 Menschen Zugang zu nachhaltiger Energie verschafft. In Gaab im Norden Sudans, einem besonders trockenen Gebiet, hat ein Solarprojekt für Abdel Rahman Isam Ahmed und seinen Sohn, die 21 Hektar Zitrusfrüchte und Dattelpalmen anbauen, sofortige und positive Ergebnisse gebracht. Auch in Kambodscha hat die Sonnenenergie hohes Potential – für „schwimmende“ Dörfer ist sie die ideale Möglichkeit, sich selbst zu versorgen. Zwei Dörfer in der Demokratischen Volksrepublik Laos erhalten durch eine innovative, von der Gemeinde betriebene Solarstromanlage Zugang zu Elektrizität. Installiert wurde die kommunale Anlage in Kooperation mit zwei lokalen Firmen.

Fotos: © Manuth Buth/UNDP Cambodia

GAAB, SUDAN

KAMBODSCHA

LAOS 21


GRÜNE ATOMENERGIE?

Mehr als nur Greenwashing Erdgas und Atomkraft gelten nun als „grün“

Die Aufnahme von Atom und Gas in die Taxonomie ist ein fatales Signal – und ein Geschenk an Frankreich, das mit uralten und maroden Meilern ein gefährliches Spiel treibt.

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ie EU-Taxonomie, das Kernstück eines EU-Regelwerks, mit dem Finanzströme in Europa in nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten gelenkt werden sollten, war in ihrer ursprünglichen Form durchaus ambitioniert. Sie hätte auf dem Finanzmarkt ein einheitliches grünes Siegel schaffen und damit die Gefahr des Greenwashings angeblich nachhaltiger Finanzprodukte unterbinden können. Mit der Aufnahme von Atomkraft und Erdgas in die Regularien wird dieses Ziel in sein Gegenteil verkehrt. Aus der Finanzbranche ist zwar zu hören, dass sich private Investoren auch in Zukunft davor hüten werden, Geld in die Atomindustrie zu stecken – es gibt aber stark ins Gewicht fallende Ausnahmen. So ist das 750 Milliarden umfassende, zur Hälfte durch grüne Anleihen finanzierte Resilienzprogramm NextGenerationEU, das den nachhaltigen Wiederaufbau nach der Pandemie fördern soll, an die Taxonomie-Kriterien gekoppelt.

derung und Transport des fossilen Brennstoffs oft die schädlichsten Klimagase. Doch dieser Teil des Lebenszyklus wird im Taxonomie-Entwurf völlig ausgespart.

Die Kriterien könnten insgesamt bei der Vergabe öffentlicher EU-Gelder oder der Anpassung von Gesetzen herangezogen werden, befürchtet Magdalena Senn vom Verein Finanzwende. Nach Einschätzung der Deutschen Umwelthilfe könnte sich hierzulande vor allem das Greenwashing von Erdgas nachteilig auf die Energiewende auswirken. Unter dem grünen Label wäre es demnach erlaubt, durchgängig und bei voller Auslastung einige Jahre lang Strom aus fossilem Gas zu produzieren. Neue Gaskraftwerke würden somit Windund Solaranlagen nicht nur ergänzen, sondern mit ihnen auch konkurrieren. Erdgas als grüne Übergangstechnologie zu adeln, ist ohnehin absurd. Nach Erkenntnissen der vergangenen Jahre entstehen bei För-

Dieses großzügige Geschenk an Frankreich ist grotesk und war dennoch absehbar: Bereits 2019 bestand Präsident Emmanuel Macron darauf, Atomkraft als nachhaltig einzustufen. Zunächst konnte er sich gegen die Technische Expertengruppe nicht durchsetzen. Doch mit einem Kompromiss erreichten seine Unterhändler, dass Gutachter nochmals überprüfen sollten, ob Atomkraft mit den Nachhaltigkeitszielen der Taxonomie bzw. dem Grundsatz „Do No Significant Harm“ vereinbar sei.

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och verheerender ist die Einstufung von Atomkraft als nachhaltige Übergangstechnologie. Die entsprechenden Bestimmungen im EU-Kommissionsentwurf gleichen einem Freibrief für die europäische Atomindustrie. AKW-Betreiber müssen sich für den Schadensfall nicht versichern. Wie der radioaktive Müll endgelagert werden soll, darf bis 2050 offen bleiben. Was dann vorliegen muss, ist nur ein Endlager-Konzept. Bis 2045 genehmigte AKW-Neubauten gelten als nachhaltig, genauso wie Nachrüstungen überalterter Reaktoren im Zuge ihrer Laufzeitverlängerung.

„Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens“ missachtet

Dass sie es nicht ist, liegt auf der Hand, und jedes unabhängige Expertengremium hätte dies bestätigt. Nicht so das „Joint Research Centre (JRC) der EU, das von 22

EURATOM mitfinanziert wird und der Atomlobby nahesteht. Dass die EU-Kommission ausgerechnet dieses Gremium mit dem Gutachten beauftragte, zeigt bereits, wohin die Reise gehen sollte. Über den im März 2021 veröffentlichten JRC-Bericht fällte das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) ein vernichtendes Urteil. Der Bericht „betrachtet die Folgen und Risiken der Kernenergienutzung für Mensch und Umwelt sowie für nachfolgende Generationen nur unvollständig oder spart diese in seiner Bewertung aus“, heißt es in der Stellungnahme. Außerdem seien „Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens“ missachtet worden. Diese und andere kritische Bewertungen wurden von der EU-Kommission gänzlich ignoriert. Sie folgte stattdessen dem Votum einer dem EURATOM-Vertrag unterstellten, atomfreundlichen Expertengruppe. Das Ergebnis ist bekannt. Offensichtlich leistete die Atomlobby ganze Arbeit, auch im Hinblick auf die öffentliche Meinung. In Deutschland war im vergangenen Jahr zu beobachten, wie Pro-AtomBehauptungen in der Medienlandschaft wieder salonfähig oder zumindest als diskussionswürdig erachtet wurden. Währenddessen kündigte Frankreich den Bau sechs großer Reaktoren sowie die Entwicklung von „small modular reactors“ an. Der unabhängige Energie- und Atompolitikanalyst Mycle Schneider hält diese Projekte für völlig unrealistisch. „Noch nie war der Graben zwischen Wahrnehmung und Realität so groß“, sagt er. Das Fiasko um den „Europäischen Reaktor“ (EPR) in Flamanville steht dafür beispielhaft. Ursprünglich sollte Frankreich mit 20 dieser Meiler der „dritten Generation“ bestückt werden. Doch die Kosten des „Vorzeigeprojekts“ stiegen rasant von 3,3 auf 19,1 Milliarden Euro an, während sich der Bau um über zehn Jahre verzögerte. Inzwischen steht in Frage, ob


EWIGE BAUSTELLE: DER EPR IN FLAMANVILLE

Reaktoren werden immer störanfälliger Was dem Streit um die Atomkraft eigentlich zugrunde liegt, sind geplante Laufzeitverlängerungen uralter Meiler. 19 der 56 französischem Reaktoren haben die 40 Betriebsjahre, für die sie ausgelegt waren, bereits jetzt überschritten, weitere folgen bald. Um sie länger betreiben zu können, müssen sie nach Auflagen der Atomaufsichtsbehörde umfangreich nachgerüstet werden. Das kostet dem französischen Rechnungshof zufolge 100 Milliarden Euro, allein für den Zeitraum 2014 bis 2030. Kein Wunder also, dass der hochverschuldete, überwiegend staatliche Energiekonzern EDF alles daran setzt, an billige Kredite zu gelangen. Allerdings wird

Geld allein die massiven Probleme von EDF nicht lösen können. Wegen des Fachkräftemangels können die Altmeiler nur hintereinander, nicht zeitgleich generalüberholt werden. Viele von ihnen werden also ohne die notwendige Nachrüstung jahrelang am Netz bleiben, was die Aufsichtsbehörde offensichtlich durchgehen lässt. Die französische Reaktorflotte wird indessen immer störanfälliger. Vor Kurzem mussten auch einige jüngere, baugleiche Meiler wegen entdeckter Risse im Notkühlsystem außer Betrieb genommen werden. Ende vergangenen Jahres standen so 15 Reaktoren gleichzeitig still, weshalb Frankreich am 22. Dezember 2021 bis zu 13 Gigawatt Strom importierte. Ein großer Teil davon kam aus Deutschland. Ein grundsätzliches Problem der französischen Atomindustrie sieht Mycle Schneider in systematisch auftretenden groben Nachlässigkeiten bis hin zum Betrug. Bekanntestes Beispiel: Im Schmiedewerk „Creusot Forge“ wurden Qualitäts-Zertifikate für mangelhafte Reaktor-Bauteile systematisch manipuliert, was jahrzehntelang unerkannt blieb. Hinzu kommt, dass die Sicherheit maroder Meiler durch Nachrüstungen kaum erhöht werden kann. Eine von den europäischen Grünen bereits 2019 beauftragte Studie, welche die ältesten Reaktoren mit 900 MW unter die Lupe nahm, lässt daran keinen Zweifel. So könnten wichtige Komponeten wie der Reaktordruckbehälter nicht ausgetauscht werden – doch gerade hier ist die Gefahr, altersbedingte Risse nicht zu entdecken, am größten. Darüber hinaus ist das antiquierte Sicherheitsdesign der Meiler nicht auf Störfälle ausgelegt, die in heutigen Zeiten passieren können.

Der Artikel erschien am 18.1.2022 im „Freitag“. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. 23

Ein Wille zum Umbau ist nicht in Sicht Frankreich hat sich über Jahrzehnte hinweg in eine energiewirtschaftliche Sackgasse hineinmanövriert, indem es mit aller Macht an der Atomkraft festhielt und die Energiewende sträflich vernachlässigte. Einen Ausweg gäbe es allemal. Inzwischen ist Strom aus Wind- und Solarkraft erheblich billiger als Atomstrom, sogar inklusive der Systemkosten (wie Netze und Speicher). Für den zügigen, schrittweisen Umbau des Energiesystems in Frankreich bedarf es nur des politischen Willens. Der ist nicht in Sicht und wird mit Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomie immer länger auf sich warten lassen. In der Zwischenzeit jedoch spitzt sich die Gefahr eines SuperGAUs in Frankreich weiter zu. Geschähe er tatsächlich, hätte ganz Europa darunter zu leiden. Die Bundesregierung sollte deshalb alles in ihrer Macht stehende tun, um den schmutzigen Deal der alten Regierung ungeschehen zu machen und das Greenwashing von Atom und Gas zu verhindern. Ein „Nein“ zur Atomkraft wird dafür nicht reichen, sie muss es auf Erdgas ausweiten, in Brüssel ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale werfen und notfalls auch klagen. Beenden muss sie außerdem, dass marode Meiler in ganz Europa mit Brennstoff aus Deutschland beliefert werden. Sonst verliert sie ihre Glaubwürdigkeit. Eine Schließung der Atomfabriken in Lingen und Gronau ist längst überfällig.

Anika Limbach ist Journalistin und Autorin und aktiv in der Antiatom-Bewegung.

xtranews.de / CC BY 2.0

der EPR jemals ans Netz gehen wird – ein baugleicher Meiler in China musste wegen Brennelementschäden abgeschaltet werden. Die Ursache könnte an nicht zu behebenden Konstruktionsfehlern liegen.


GRÜNE ATOMENERGIE?

„Russland sucht Zugang zum europäischen Atommarkt“ Interview mit dem russischen Anti-Atom-Aktivisten Vladimir Slivyak von „Ecodefense“

Die Tochterfirma des russischen Atomkonzerns Rosatom, TVEL, will sich an der Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen beteiligen. Wie würde sich ein solches Joint Venture zwischen TVEL und Framatome in Lingen auf das russische Atomgeschäft auswirken?

der Vergangenheit über eine Million Tonnen solcher Abfälle angehäuft und tut damit nichts. Interessant ist, dass Urenco für die „Entsorgung” in Russland nur einen niedrigen Preis zahlt – die Verbringung nach Russland beseitigt damit ein sehr schmerzhaftes Problem. Warum macht Rosatom einem europäischen Konkurrenzunternehmen ein so gutes Angebot? Ich denke, die Antwort ist, dass Rosatom in erster Linie Zugang zum europäischen Atommarkt haben will – und deshalb Staatsgelder investiert. Dieser Zugang wird zu einer Zusammenarbeit nicht nur bei der Herstellung von Brennelementen, sondern auch im Bereich neuer Reaktoren führen und Rosatom viele Türen öffnen.

Dieses russisch-französische Joint Venture wäre ungewöhnlich. Rosatom hat in Russland genug eigene Kapazitäten zur Herstellung und auch ausreichend Kernbrennstoffe. Der Konzern braucht kein Geld, denn in Russland hat die Atomindustrie unbegrenzten Zugang zum Staatshaushalt. Ich bin davon überzeugt, dass es sich um eine rein politische Entscheidung handelt, die mit dem Bestreben von Präsident Putin zusammenhängt, den russischen Einfluss in Europa auszuweiten. Die Kontrolle über den europäischen Energiemarkt einschließlich des Atomstroms dient einem „geopolitischen“ Ziel. Russland ist einer der Hauptexporteure von Gas in die EU, und Kohle ist ein weiterer wichtiger Bestandteil des Energiemarktes. Deutschland bezieht derzeit fast die Hälfte seiner Kohleimporte aus Russland – doch nur wenige Menschen wissen, wie groß der russische Einfluss auf den EU-Atommarkt ist.

Es einfach zu erraten, was als nächstes passiert: Frankreich ist an dem Punkt angelangt, wo es den Preis für seine Atomindustrie zahlen muss. Allein für die Instandhaltung vorhandener alter AKWs werden etwa 100 Milliarden Euro veranschlagt. Und der Abfallberg wächst, erst recht, wenn Frankreich in naher Zukunft beginnt, alte Reaktoren stillzulegen. Für neue AKWs aus Frankreich gibt es kaum internationale Aufträge, und überall sind die Kosten viel höher als erwartet, die Bauzeiten zu lang. Die EUTaxonomie, über die Frankreich an Gelder kommen möchte, ist bis jetzt nicht in Kraft, und es ist nicht klar, um welche Summen es überhaupt geht, weil die Investoren der Atomkraft gegenüber skeptisch sind. Wenn Russland investiert, wird Frankreich bereit sein, dem Partner im Gegenzug mehr Kontrolle über den Atommarkt in der EU zu geben.

In Ungarn, Bulgarien, der Slowakei, Tschechien und Finnland sind russische AKW-Konstruktionen in Betrieb, die von Russland mit Brennstoff versorgt werden. In Ungarn sind zwei neue – durch Russland finanzierte – Reaktoren geplant. In Finnland bereitet Rosatom ebenfalls den Bau eines russischen Reaktors vor. Russland besitzt 34 Prozent der Anteile an der Gesellschaft Fennovoima, die das AKW bauen soll. Es gibt auch Pläne für neue Aufträge in Bulgarien und anderen EU-Ländern. Und jetzt will Rosatom einen größeren Anteil am Brennstoffmarkt der EU: Zusammen mit Framatome will es Brennelemente in weitere europäische Länder liefern. Russland nutzt die Energieversorgung, um politisch Einfluss zu nehmen.

Was kann die deutsche Anti-Atom-Bewegung hier tun? Ich finde, die deutsche Antiatom-Bewegung sollte mehr Druck auf ihre teilweise grüne Regierung ausüben, den Atomausstieg konsequent zu verfolgen. Solange weiterhin Brennelemente in Deutschland produziert werden, ist das kein Ausstieg. Verglichen mit dem, was schon bewältigt wurde, wäre es jetzt ein Leichtes, die Atomanlagen in Lingen und Gronau abzuschalten. Und der vollständige Ausstieg aus der Atomenergie wäre das, was für bessere Klimaschutzmaßnahmen getan werden muss. Wenn die Atomenergie Teil des Energiemixes bleibt, wird sie wie in Frankreich ständig Geld verschlingen – das Geld, das für den Ausbau erneuerbarer Energien und die Reduktion der Emissionen benötigt wird. Wir können das Klima nur retten, wenn wir vollständig aussteigen.

Ein weiteres Teil des Puzzles ist die Kooperation von Rosatom mit Urenco, einem Konzern, an dem Deutschland, die Niederlande und Großbritannien beteiligt sind. Seit 1996 nimmt Rosatom immer wieder radioaktive Abfälle aus Urenco-Anlagen entgegen, die offiziell zur „Wiederaufbereitung” nach Russland transportiert werden. Dies ist jedoch wirtschaftlich und auch im Hinblick auf die Produktion von Kernmaterialien unsinnig: Russland hat in 24


Wie wird die Klimakrise in Russland wahrgenommen?

Was sind die Sorgen der Menschen, die dort leben?

Die Menschen in Russland haben kaum Informationen über die Klimakrise. Sie sind zwar besser informiert als vor zehn Jahren, aber es fehlen Informationen darüber, was die Klimakrise verursacht und was getan werden muss, um sie zu verlangsamen. Es gibt eine Menge Propaganda, die von den Behörden und großen Unternehmen verbreitet wird. Vor allem, dass die Klimakrise natürlich sei und nichts dagegen getan werden könne. Und es gibt kaum Gegenpropaganda. Diese Situation kommt natürlich den fossilen Konzernen zugute, die Präsident Putin nahestehen.

Die Bevölkerung sorgt sich um die Gesundheit und die Umwelt, und um eine nötige Diversifizierung der lokalen Wirtschaft, die weitgehend von der Kohle abhängig ist. Sie fragt sich, wie sie überleben soll, wenn in einigen Jahren die Nachfrage nach Kohle weltweit zurückgeht und Unternehmen schließen müssen. Die Menschen machen sich große Sorgen um die Arbeitsplätze. Meiner Meinung nach handelt die Regierung kriminell, wenn sie nichts tut, um neue Arbeitsplätze außerhalb der Kohle zu schaffen und die lokale Wirtschaft zu verändern. Die russische Regierung erzählt den Kohlearbeitern weiterhin, dass der Kohlebergbau wachsen wird und dass dies Teil der nationalen Energiestrategie ist.

An welchen Themen arbeitet die russische Klimabewegung? Die Klimabewegung konzentriert sich hauptsächlich auf den Abbau und Verbrauch von Kohle, und die Bewegung ist sehr klein. Weil die russische Öffentlichkeit schlecht informiert ist und weil es in Russland eine weit verbreitete Meinung ist, dass wir ohne Kohle im Winter nicht überleben können. Zweitens ist der russische Staat extrem feindselig gegenüber Aktivist*innen, das betrifft auch die Umweltbewegung. Die Demokratie liegt in Russland momentan auf Eis.

Wie wirkt sich das Schrumpfen demokratischer Räume auf die Arbeit der Umweltbewegung aus? Dieser Prozess betrifft nicht nur meine Organisation „Ecodefense”, sondern viele Umwelt-, Menschenrechts- und andere aktivistische Gruppen. Die demokratischen Institutionen funktionieren nicht mehr – es ist unmöglich geworden, öffentliche Diskussionen in der Gesellschaft zu organisieren. Proteste sind nicht mehr erlaubt, die politische Opposition ist fast ausgeschaltet. Ich bin schon seit Sowjetzeiten Aktivist, trotzdem habe ich in meinem Land noch nie so finstere Zeiten erlebt. Der Zivilgesellschaft bleibt jede Einflussmöglichkeit verschlossen und es ist unklar, wie wir einen Ausweg finden können. Russland ist für Aktivist*innen momentan ein sehr gefährlicher Ort. Das wird die Chancen unseres Landes auf eine gesunde Entwicklung auf lange Sicht beeinträchtigen.

Russland ist derzeit der wichtigste Kohlelieferant für Deutschland. Wie hat sich die Umweltsituation in den russischen Kohleregionen, z. B. im Kuznetsk-Becken, in den letzten Jahren entwickelt? Auch wenn Russland selbst deutlich weniger Kohle verbraucht als im 20. Jahrhundert, nimmt die Abbaumenge jedes Jahr zu, weil die Nachfrage international wächst. Europa und Asien importieren gleich viel Kohle. Die Bevölkerung im Kuzbass bezahlt dafür mit ihrer Gesundheit und manchmal mit dem Leben. Die Anwohner*innen v.a. in der Umgebung von Kohlebergwerken protestieren oft, aber sie werden in Moskau nicht gehört, weil der Staat mehr Kohle ins Ausland verkaufen will. Die Regierung ist nur an der industriellen Entwicklung und an Geld interessiert, wie vor hundert Jahren, als wir nichts über die Zusammenhänge zwischen Umwelt, Gesundheit und Wirtschaft wussten.

Anmerkung der Redaktion: Bei Druckabgabe dieses Hefts wurde bekannt, dass der Einstieg von TVEL in die Brennelementeproduktion in Lingen vorerst gescheitert ist. 25

Vladimir Slivyak ist Co-Vorsitzender der russischen Umweltorganisation Ecodefense und Träger des Right Livelihood Award. Er wurde 2021 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

Foto: ecodefense.ru

GRONAU: DEUTSCHE UND RUSSISCHE AKTIVIST*INNEN PROTESTIEREN GEMEINSAM VOR DER UAA (BILD VON 2006)


GRÜNE ATOMENERGIE?

Grüne Atomwaffen? „Eckpfeiler unserer strategischen Autonomie“: Atomenergie als Subventionierung militärischer Programme

Der jährliche World Nuclear Industry Status Report zeigt, dass die Atomenergie weltweit im Niedergang ist. Dennoch wirbt Frankreich unermüdlich für Investitionen in diese Technologie. In den vergangenen Jahren hat sich Präsident Macron deutlich als Verfechter der Atomkraft positioniert.

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Atomwaffenarsenal nicht weiter ausbauen und modernisieren. Das gilt für alle neun Atomwaffenstaaten.

um Jahreswechsel hat Frankreich die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union übernommen. In dieser Woche treffen sich die EU-Verteidigungsminister und -ministerinnen zu einem informellen Treffen zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Dabei wird es unter anderem um die Themen nukleare Sicherheit und atomare Abschreckungsstrategien gehen.

Derzeit rüsten diese Staaten alle auf. Russland und die USA beschaffen neue Trägersysteme, die ihre Atombomben sehr viel schneller und präziser ins Ziel bringen, so dass dem Gegner keine Abwehrmöglichkeiten bleiben – beispielsweise mit „Hyperschallraketen“. Damit hat ein neues atomares Wettrüsten begonnen. Der US-Thinktank Atlantic Council beschreibt die Notwendigkeit der zivilen Nutzung der Atomenergie für die nationale Sicherheitspolitik ganz offen: „Die zivile US-amerikanische Atomindustrie bildet ein strategisches Anlagegut von lebenswichtiger Bedeutung für die nationale Sicherheit der USA.“ Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den Reden anderer Präsidenten von Atomwaffenstaaten.

In den vergangenen Jahren hat sich der französische Präsident deutlich als Verfechter der Atomkraft positioniert. Geschichtlich gesehen ist Frankreichs unabhängige Entwicklung der Atomtechnologie für Atomwaffen und Energieerzeugung eine wichtige Quelle nationalen Stolzes. Seit den 1990er Jahren ist der Atomtrend jedoch rückläufig – eine Folge der Katastrophe von Tschernobyl. Jährliche Berichte des internationalen Beraters für Energie- und Atompolitik, Mycle Schneider, zeigen, dass Atomenergie weltweit im Niedergang ist. Dennoch wirbt Frankreich unermüdlich für Investitionen in diese Technologie.

Hyperschallraketen und Small Modular Reactors: Derzeit rüsten alle neun Atomwaffenstaaten auf.

Zum 1. Januar 2022 hat ein Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission Investitionen in Atomenergie und Erdgas als nachhaltig eingestuft. Bei der sogenannten EU-Taxonomie geht es um Milliarden-Fördertöpfe. Emmanuel Macron machte sich dafür stark, der Atomenergie ein „grünes Label“ zu verschaffen. Welche Interessen Frankreichs tatsächlich hinter der Atomenergie stehen, zeigt ein Zitat aus der Rede Macrons bei seinem Besuch in der Atomschmiede Le Creusot im Jahr 2020: „Ohne zivile Atomenergie gibt es keine militärische Nutzung der Technologie – und ohne die militärische Nutzung gibt es auch keine zivile Atomenergie.“ Im Klartext heißt das: Ohne eine Atomwirtschaft auf dem neuesten technischen Stand kann Frankreich sein

Der zivile Atomkomplex kostet die USA jährlich mindestens 42,4 Milliarden US-Dollar. Die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) gibt an, dass alle Atomwaffenstaaten zusammen über 100 Milliarden US-Dollar jährlich in ihre Atomwaffenarsenale investieren. Auch Frankreich will an technischen Entwicklungen teilhaben, die in anderen Atomwaffenstaaten schon längst begonnen haben. Präsident Macron hat angekündigt, eine Milliarde Euro in 26


TAXONOMIE-PROTEST IN STRASSBURG

Foto: Paul Lovis Dorfmann (Campact), CC BY-NC 2.0

UMWELTORGANISATIONEN ÜBERGEBEN 335.443 UNTERSCHRIFTEN AN DIE GRÜNEN.

Hinter der geplanten Modernisierung der französischen Atomenergie für angeblich billigeren Strom versteckt Frankreich folglich die Agenda seines Atomwaffenprogramms.

die Forschung und den Bau von Small Modular Reactors (SMR) zu investieren. SMR-Reaktoren sind kleine Atomreaktoren, die vor allem als Antrieb von U-Booten und damit ihrer militärischen Nutzung an entlegenen Kriegsschauplätzen dienen sollen. Die neuen Jagd-U-Boote sollen Frankreichs Weltmacht-Ambitionen unterstreichen.

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intergrund ist unter anderem der geplatzte U-Boot-Deal mit Australien: Im vergangenen Jahr kündigte Australien den Auftrag für französische Diesel-U-Boote und kaufte stattdessen Atomtechnologie aus den USA und Großbritannien. Die örtlich flexi-blen, U-Boot-basierten atomaren Waffensysteme besitzen für alle Atomwaffenstaaten größte strategische Bedeutung. Sie haben die Fähigkeit, bis zu drei Monate ohne Auftauchen unter Wasser zu bleiben; sie können mit hoher Geschwindigkeit unerkannt weite Distanzen zurücklegen und an nahezu beliebigen Orten rund um den Globus auftauchen. Bis zu 20 Raketen mit jeweils einem Dutzend individuell lenkbarer Atomsprengköpfe können von dort abgefeuert werden. All das spielt in der Atomwaffendoktrin der fünf „offiziellen“ Atomwaffenstaaten USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China eine zentrale Rolle. Gleichzeitig untermauert der Besitz dieser Technologie den Weltmachtstatus dieser Länder. Frankreich – ebenso wie den übrigen Atomwaffenstaaten – ist daran gelegen, diesen weiter auszubauen.

Die exorbitanten Kosten seiner zivil-militärischen Atomindustrie bürdet der Staat seit Jahren dem französischen Steuerzahler auf. Die Kosten für den Bau des Druckwasserreaktors in Flamanville betragen beispielsweise 19,4 Milliarden Euro. Letztlich subventionieren Stromkund*innen und Investoren mit dem „Klimaretter Atomkraft“ militärische Anwendungen. In der europäischen Union sind Atomenergie und die nukleare Teilhabe umstritten. Die EU-Taxonomie wird von Österreich und Luxemburg stark kritisiert. Gleichzeitig existiert mit dem Atomwaffenverbotsvertrag bereits seit dem 22. Januar 2021 ein multilateraler UN-Vertrag zum Verbot der Massenvernichtungswaffen. Mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft ist Frankreich nun in der perfekten Position, um die zivil-militärische Nutzung der Atomenergie und eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsstrategie, die auf der Doktrin der nuklearen Abschreckung fußt, voranzubringen. Dieser Artikel erschien am 13. Januar 2022 im IPG-Journal. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Am 12. und 13. Januar 2022 fand das erste Treffen der EU-Verteidigungsministerinnen und -minister unter französischer Ratspräsidentschaft in Brest statt – dem Ort, wo die seegestützten französischen Atomwaffen stationiert sind: eine Demonstration der Vormachtstellung Frankreichs. Schon bei seiner Rede 2020 in Le Creusot bekräftigte der französische Präsident die militärischen Ambitionen des Landes: „Die Atomenergie wird der Eckpfeiler unserer strategischen Autonomie bleiben. Es geht um alle Teile der Abschreckung, um den Antrieb unserer Atom-U-Boote, U-Boote für den Abschuss ballistischer Raketen. Und um den Antrieb unserer nuklearen Flugzeugträger.“

Angelika Claußen ist Co-Vorsitzende der IPPNW. 27


GRÜNE ATOMENERGIE?

Inkompatibel mit der Klimakrise Atomanlagen gehören zu den ersten und schwerwiegendsten Opfern der klimatischen Veränderungen

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beschleunigen – die EU sollte sich darauf vorbereiten, dass ihre Meere, Flussmündungen und Gezeitenflüsse in den nächsten 80 Jahren um bis zu zwei Meter ansteigen werden, so die Prognose.

ie Klimakrise ist da – mit Hitzesommern, Stürmen und Überschwemmungen. Mit ihrem Voranschreiten werden Extremwetterereignisse viel stärker und häufiger. Wir brauchen deshalb Energieträger, die kompatibel mit einem globalen Anstieg der Temperaturen sind. Natürlich setzen Temperatur- und Wetterextreme allen Energieträgern und -Infrastrukturen zu. Doch die Atomkraft ist diesem Wandel nicht gewachsen.

Überflutungen im Inland Schon über elf Jahre vor dem Super-GAU von Fukushima kam es am Rande des Orkans Lothar im Dezember 1999 zu einem sehr ähnlichen Zwischenfall am AKW Blayais. Etwa 50 km von Bordeaux kam es in der Nacht vom 27. auf den 28. Dezember 1999 an der Mündung der Gironde durch extreme Winde und Hochwasser zu einem Riss im Schutzdeich und damit zur Überflutung des Kraftwerksgeländes. Die Katastrophe konnte zum Glück abgewendet werden, doch das Beispiel verdeutlicht die Anfälligkeit von Atomkraftwerken überall auf der Welt, die den Kräften der Natur nicht gewachsen sind. Noch deutlicher wurden diese Schwächen auch im letzten Sommer noch, als in Deutschland heftige Regenfälle für die Katastrophe in Ahrtal sorgten.

AKWs in Küstengewässern 41 Prozent aller Atomkraftwerke weltweit werden an Küsten betrieben – die Risiken steigen dabei erheblich. Der britische Atomexperte Paul Dorfman prognostiziert, dass Atomkraftwerke an der Küste zu den ersten und schwerwiegendsten „Opfern“ der zunehmenden Klimaauswirkungen gehören werden. Gleiches gilt für die britischen Atomwaffen, die auf der Marinebasis Faslane stationiert sind. Der grönländische Eisschild hat im Jahr 2019 eine Rekordmenge an Eis verloren – eine Million Tonnen pro Minute, so Dorfman. Da sich die Arktis im Zuge der Klimakrise doppelt so schnell erwärmt wie die niedrigeren Breitengrade, trägt diese Eiskappe derzeit am stärksten zum Anstieg des Meeresspiegels bei und gefährdet bereits jetzt Küsten und Küstenbewohner*innen. Dorfman stellt fest: „Der Schmelzprozess könnte sich beschleunigen, was den globalen Meeresspiegelanstieg erheblich verstärken würde.“ Auch die Antarktis sei bedroht, und werde wohl langfristig zum Meeresspiegelanstieg dramatischer beitragen als alle anderen Quellen. Inzwischen schmelzen die Polkappen sechsmal so schnell wie in den 1990er Jahren – die Schmelzrate entspricht dem Worst-CaseSzenario für die globale Erwärmung, das der IPCC aufgestellt hat.

In Belgien schlugen Beobachter*innen Alarm, als die Durchflussmenge der Maas, aus der das AKW Tihange sein Kühlwasser entnimmt, von einem Tag auf das andere von 800 auf 1.800 Kubikmeter pro Sekunde stieg. Zum Glück noch unter den Grenzwerten – aber das Muster ist klar: Zu den internen Störfällen kommen neue naturbedingte Faktoren hinzu, auf die AKWs nicht ausgelegt sind. Natürlich sind die Maximal- und Minimaltemperaturen der 1970er Jahre nicht dieselben wie heute. Doch mit diesen Variablen wurden die meisten AKW weltweit konzipiert.

Sicherung der Kühlwasserzufuhr Während Hochwasser mit der Klimakrise zunehmen, ist andererseits extreme Trockenheit eine Gefahr: Atomkraftwerke benötigen für die Kühlung enorme Mengen an Wasser. Je nach Reaktormodell und je nachdem, ob zusätzlich ein Kühlturm vorhanden ist oder nicht, verbrauchen sie zwischen zwei und 61 Kubikmeter

Dorfmans Untersuchungen decken sich mit Forschungsergebnissen des niederländischen Deltazentrums. Demnach könnte sich der Anstieg des Meeresspiegels in der Nordsee ab 2050 drastisch 28


FRIEDENS- UND KLIMABEWEGUNG GEHÖREN ZUSAMMEN: XR PEACE BLOCKIERT DIE ATOMWAFFEN IN FARSLANE, SCHOTTLAND (05/2021).

Fazit

Wasser pro Sekunde. Meist wird dieses Wasser einem Fluss oder dem Meer entnommen, und nach Kühlung wieder zugeführt. Sinkt der Pegel aber beispielsweise wegen extremer Trockenheit oder langanhaltender Dürren, reicht die Wassermenge nicht mehr und betroffene Reaktoren müssen gedrosselt oder gar abgeschaltet werden. Diesen Fall gibt es bereits heute regelmäßig, etwa in den AKW Blayais und Chooz im August 2020.

Die Risiken für Atomanlagen durch den Anstieg des Meeresspiegels und extreme Klimaereignisse werden nicht linear verlaufen. Dies bedeutet Paul Dorfman zufolge, dass die Bemühungen zur Minderung des Klimarisikos mit erheblich höheren Kosten für den Betrieb, die Abfallentsorgung und die Stilllegung von Atomanlagen verbunden sein werden, die verlagert oder aufgegeben werden müssen: „In die Kostenkalkulationen müssen diese notwendigen Abmilderungsmaßnahmen und eine Reihe von Notfallplänen für den Ausbruch klimabedingter Unwetter miteingerechnet werden“, meint der Sicherheitsexperte.

Dieses Problem ist (auch) ein geopolitisches, und etwa der französischen Regierung sehr bewusst. Im April 2015 hatte beispielsweise der damalige französische Präsident François Hollande mit der Schweiz verhandelt, dass im Falle einer Dürre die Durchflussmenge der Rhône aus dem Genfer See konstant bleiben müsse, damit die 14 französischen Reaktoren entlang des Flusses weiter ausreichend Kühlwasser zur Verfügung hätten.

Auch wenn Atombefürworter*innen sich gerne auf die vermeintlich CO2-neutrale Atomstromproduktion beziehen, erzeugt Atomstrom im Vergleich zu den Erneuerbaren nach verschiedenen Schätzungen das Drei- bis Sechzehnfache an CO2 pro Kilowattstunde. Die fehlende Klimaresilienz und Anfälligkeit für Wetter-extreme, die aufgrund der Klimakrise immer häufiger und schlimmer werden, ist ein weiterer Nagel im Sarg einer bankrotten Technologie.

Wenn die Wassermengen zwar noch ausreichend vorhanden sind, die Wassertemperaturen sich allerdings zu sehr erhöhen, ist das Ergebnis dasselbe: So mussten beispielsweise im August 2018 wegen der hohen Temperaturen der Rhône wie des Rheinseitenkanals, Reaktoren in Bugey, Saint-Alban sowie Fessenheim gedrosselt bzw. abgeschaltet werden. Im gleichen Sommer waren Reaktoren in Schweden und Finnland betroffen. Auch weiter entlang der Sicherheitssysteme sorgen heiße Außentemperaturen für sicherheitsrelevante Sorgen: So könnten im Notfall bei extremer Hitze beispielsweise die Diesel-Notstromaggregate gar nicht oder nur mit unzureichender Leistung angefahren werden.

Zum Weiterlesen: Mycle Schneider: World Nuclear Industry Status Report 2021, www.worldnuclearreport.org Dr. Paul Dorfmann: When Climate Breakdown goes Nuclear, The Ecologist vom 24.07.2021

Allein in Frankreich gab es zwischen 2015 und 2020 wetterbedingte Ausfälle von 3.994 Stunden in der Atomstromproduktion – das entspricht 166 Reaktortagen! Darüber hinaus konnte die Stromerzeugung über insgesamt 4.045 Stunden nur mit gedrosselter Leistung laufen.

Paul-Marie Manière ist Referent für Atomausstieg, Energiewende und Klima der IPPNW. Regine Ratke ist Redakteurin des IPPNW-Forums. 29

Foto: John / CC BY-SA 4.0

AKW TORNESS, SCHOTTLAND


WELT

„LICHT IM DUNKELN“ HAMBURG, 22.01.2022

„BIKE FOR THE BAN“ IN NIGERIA

The Ban is here! Internationale Aktivitäten für das Atomwaffenverbot

Z

Botschaft, werden mit Parlamentarier*innen aus Deutschland und anderen Staaten sprechen und mit IPPNWler*innen aus ganz Europa zusammenkommen. Aufgrund der Verschiebung wird es eventuell sogar möglich sein, an den Verhandlungen selbst teilzunehmen.

u dem schönen Datum 22. Januar 2022 gab es für alle Menschen, die sich eine Welt ohne Massenvernichtungswaffen wünschen, etwas Großes zu feiern: Der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) ist seit einem Jahr in Kraft! Dies wurde durch zahlreiche engagierte Friedensgruppen von IPPNW, ICAN und anderen an vielen Orten weltweit zelebriert. In New York organisierten Aktivist*innen von ICAN eine Lichtinstallation auf dem UN-Gebäude mit der Aufforderung an die Atomwaffenstaaten, dem Verbotsvertrag beizutreten. In Italien veranstalteten Aktivist*innen von Turin bis Padua eine Reihe von Mahnwachen und Kundgebungen, um an den ersten Jahrestag zu erinnern und Italien aufzufordern, dem Vertrag beizutreten!

A

uch wenn die Bundesregierung in Wien nur als Beobachterin teilnimmt, zeigt sich hierin ein deutliches Interesse Deutschlands an dem Vertrag und das Abkommen erhält dadurch mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Zwar will Verteidiungsministerin Christine Lambrecht weiterhin neue Trägerflugzeuge für die in der Bundesrepublik lagernden Atombomben anschaffen, aber auch hier spürt man den zunehmenden Rechtfertigungsdruck. In diesem Punkt ist eine lebhafte Debatte entbrannt; unter anderem wurde darüber auf dem Parteitag der Grünen diskutiert.

In deutschen Städten gab es eine Vielzahl von Aktivitäten: In Hamburg, in Bremen und einigen anderen Orten formten Friedensaktivist*innen mit vielen Hunderten Kerzen ein PeaceZeichen, Symbol für das Licht, das der Atomwaffenverbotsvertrag vor einem Jahr in diese Welt brachte, sinnbildlich ein „Licht im Dunkeln“. In Berlin fand eine Aktion statt, bei der eine Formation aus Regenschirmen den „nuklearen Schirm“ sinnbildlich verabschieden sollte. Damit wurde die Bundesregierung daran erinnert, dass Atomwaffen seit genau einem Jahr vertraglich verboten sind. 59 Staaten sind dem Atomwaffenverbotsvertrag bisher beigetreten (Stand Februar 2022). Dennoch schließt sich Deutschland nicht dem Wunsch der Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft an. Dabei befürworten nach einer Umfrage von Greenpeace vier von fünf Deutschen den Beitritt zum AVV. Dieser bemerkenswert hohe Grad der Zustimmung hat die Politik der neuen Bundesregierung scheinbar beeinflusst.

Die internationalen IPPNW-Studierenden wollen die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Staatenkonferenz lenken und hatten das Wochenende vom 17.-20. Februar 2022 zu einem Wochenende „Bike for the Ban“ ausgerufen. Die Idee: IPPNW-Studierende organisieren lokale Fahrradtouren, um auf das Atomwaffenverbot und die kommende Staatenkonferenz aufmerksam zu machen – mit dem gleichen Logo auf T-Shirts und Flaggen. In Berlin radelten die IPPNW-Studierenden aufgrund des Unwetters eine Woche später von der Charité in Mitte vorbei am Kanzleramt, am Bundestag und am Außenministerium zur IPPNW-Geschäftsstelle in Berlin-Kreuzberg.

Der Koalitionsvertrag macht den Handlungsdruck und den Wunsch der Bürger*innen deutlich: Deutschland soll, so steht es dort schwarz auf weiß, an der ersten Konferenz der Unterzeichnerstaaten teilnehmen – als erster NATO-Staat mit Atomwaffen und nach Norwegen als zweiter NATO-Mitgliedsstaat überhaupt. Allerdings wurde die Staatenkonferenz in Wien aufgrund der Coronavirus-Pandemie verschoben. Ein Ersatzdatum steht noch nicht fest. Die geplante IPPNW-Fahrt nach Wien zu den Verhandlungen zum Atomwaffenverbotsvertrag verschiebt sich deshalb ebenfalls. Wir planen dort eine Protestaktion vor der deutschen

Lisann Drews und Johannes Oehler sind Mitglieder des AK ICAN – Atomwaffen abschaffen. Angelika Wilmen ist Referentin für Frieden der IPPNW. 30


AKTION

AACHEN

LANDSBERG

Happy Banniversary! Ein Jahr seit Inkrafttreten des Atomwaffenverbots

A

m 22. Januar feierten IPPNW-Mitglieder vielerorts den Jahrestag des Inkrafttretens des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV): In Aachen überreichten Friedensaktivist*innen der Politik den „Aachener Appell für eine Klima- und sozialgerechte Welt ohne Atomwaffen, Rüstung und Krieg“ mit 1.150 Unterschriften. Drei NATOAtomwaffenstützpunkte liegen im 100-km-Umkreis um Aachen. Landsberg am Lech: Mitglieder der IPPNW-Regionalgruppe überreichten ihrer Bürgermeisterin eine Mayors-for-Peace-Urkunde aus Hiroshima. In Büchel fanden sich Aktivist*innen zu einer Mahnwache zusammen – diskutiert wurde eine politische Vernetzung in AVVMitgliedsstaaten wie Namibia, Neuseeland, Österreich, Bangladesh oder Kiribati. Berlin: IPPNW und ICAN protestierten am Kanzleramt dafür, das UN-Atomwaffenverbot im Koalitionsvertrag zu verankern. In vielen Städten leuchteten abends Peacezeichen aus Kerzen.

ATOMWAFFENSTÜTZPUNKT BÜCHEL

BERLIN 31


GELESEN

Das Trauma überwinden

Erlebnisse im Heiligen Land

Wie kommen Herrschende dazu, Völker zum Krieg zu treiben? Welches sind die psychosozialen Wirkungsmechanismen des Krieges? Und wie werden Traumata, Ängste, Schuldgefühle von Generation zu Generation weitergereicht?

Von Ausgangssperre bis Zugvögel: 77 Geschichten hat Johannes Zang als Mosaik zusammengesetzt, die meisten auf zwei Buchseiten komprimiert.

D

er Nervenarzt und Psychoanalytiker Christoph Seidler beschreibt in seinem Buch anschaulich die gesellschaftlichen Prozesse, die Kriege möglich machen. Dazu nutzt er unter vielen anderen Modellen Robi Friedmanns Konzept der „Soldatenmatrix“: Diese Matrix prägt die Beziehungen einer ganzen Gesellschaft, die sich an organisierter Aggression beteiligt und deren emotionale Folgen erleidet. „Jeder in der Matrix wird zum Soldaten – die Identität und das Verhalten der gesamten Gesellschaft werden durch das Soldatentum beeinflusst“ (R. Friedmann). Sehr eindrücklich belegt der Autor die Funktionsweise dieser Matrix mit Beispielen aus Kriegen – u.a. aus dem zweiten Weltkrieg, die eine totale Dehumanisierung deutscher Wehrmachtssoldaten zeigen. Die Mittel der Psychoanalyse helfen uns, mit Konflikten umzugehen: „Sie können ihrem Wesen nach nicht anders, als kriegsfördernde Prozesse zu entlarven.“ Eine wichtige Rolle spielen in Seidlers Buch psychoanalytische und gruppenanalytische Beobachtungen aus der eigenen Praxis: Denn seine psychologische Tätigkeit hat ihn immer wieder mit Menschen zusammengeführt, „deren Leben vom Krieg so beeinträchtigt wurde, dass sie erkrankten.“ Seidlers Buch ist ein eindringlicher Appell für den Kampf gegen den Krieg und für die Friedensforschung. Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen – „denn es sind viele, die im Sinne des Projekts Frieden weitermachen.“

„Christoph Seidler ist ein Friedensjäger. Mithilfe von psychoananlytischen und gruppenanalytischen Methoden versucht er, tiefer in die Dynamik der Kriegsvorbereitung einzudringen und Wege zu suchen, Kriege zu verhindern. Dabei setzt er Menschen in Beziehungen – und ganze Gesellschaften. [...] Christoph Seidler beschreibt tiefgründig, wie es im und durch Krieg zu neuen Arten von Beziehungen und Beziehungsstörungen kommt.“ (Aus dem Vorwort von Robi Friedmann) Christoph Seidler: Warum nur Krieg? Einsichten und Ansichten eines Psychoanalytikers. Mattes Verlag, Heidelberg 2021, 182 S. 18,- €, ISBN: 978-3-86809-169-4 Regine Ratke 32

M

it Johannes Zang hat ein erfahrener und versierter Kenner des Landes ein Mosaik von Eindrücken, Begegnungen und Geschichten aus mehr als 30 Jahren aufgeschrieben, die er in Israel und Palästina verbracht hat – als Reisender und Reiseleiter, als Journalist und Autor, als Musiker – und zu Beginn auch als junger Pflegehelfer in diesem Land oder besser, in diesen beiden Ländern mit so unterschiedlichen Lebensumständen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Hier nur wenige Beispiele, welche Themen dabei schlaglichtartig behandelt werden: die drohende Austrocknung des Toten Meeres; der Sabbat in Israel; modernes Leben in Tel Aviv; die Situation der palästinensischen Flüchtlinge in Gaza; die Geschichte der Aliya, der jüdischen Einwanderung; christliche Gemeinden und Familien in Israel und Palästina; Menschenrechtsverletzungen der Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten; Aktivitäten internationalistischer Helfer, etwa von EAPPI (Ökumenisches Begegnungsprogramm in Palästina und Israel); Gespräche mit einer Rabbinerin der Reformierten Jüdischen Gemeinden; Erfahrungen mit deutschen Politikern bei ihren Besuchen in Israel; Daoud Nassars friedlicher Kampf um sein Versöhnungs- und Gerechtigkeitsprojekt, das „Tent of Nations“; und viele weitere, lebendig geschilderte Erfahrungen. Auch die Kreativität und der Erfindungsreichtum israelischer Wissenschaftler und Techniker, ausgewiesen durch zahlreiche internationale Patente, findet Erwähnung – schade aus friedensbewegter Sicht, dass auch die israelische Waffenindustrie ein hochinnovatives und blühendes Business darstellt. Es ist schön, die Faszination und tiefe Sympathie des Autors für das Land und die dort lebenden Menschen zu spüren, die diese Region für den Autor zu einem Lebensthema gemacht haben. Angesichts der oft auch bitteren Aspekte der Konflikte dort fragt sich der Leser, ob der Titel „Heiliges Land“ denn eine zutreffende Beschreibung ist – Johannes Zangs Antwort, die seine Liebe wie auch den Schmerz spiegelt: „Herrschte Frieden im Land, wäre es zu Recht Heiliges Land, mit Potential zum Paradies.“ Johannes Zang: Erlebnisse im Heiligen Land. 77 Geschichten aus Israel und Palästina. Von Ausgangssperre bis Zugvögel Promedia-Verlag, Wien 2021, 220 S., 19,90 €, ISBN: 978-3-85371-490-4 Matthias Jochheim


GEDRUCKT

TERMINE

Sicherheit neu denken Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik. Flyer zu Konzept und Szenario Initiative Sicherheit neu denken. DIN lang gefalzt, Versand gegen Spende. Download unter: ippnw.de/bit/snd Bestellen unter: shop.ippnw.de

MÄRZ 11.3. Jahrestag des Super-GAU von Fukushima 12.-26.3. Türkeireise von IPPNWMitgliedern 22.-24.3. Kongress Armut und Gesundheit in Berlin

APRIL

Aufkleber und Banner Aufkleber „No War“, Versand gegen Spende Transparente „Abrüsten fürs Klima“ und „No war in Europe“, je 3 x 1 Meter. Preis: je 45,- Euro zzgl. Versand. Bestellen unter: shop.ippnw.de

N War www.ippnw.de

7. 4. Atomkrieg aus Versehen: IT und nukleare Bedrohung, Vortrag und Diskussion mit Prof. Karl Hans Bläsius in Offenbach 26.4. Tschernobyl-Jahrestag 29.4.-1.5. IPPNW-Jahrestreffen und MV in Hamburg

MAI / JUNI 29.5.-9.6 IPPNW-Begegnungsreise Palästina / Israel 17.-19.6. Kongress 40 Jahre IPPNW in Landsberg / Lech

JULI 5.-10.7. IPPNW-/ICAN-Aktionstage in Büchel. Infos unter: buechel.nuclearban.de

SEPTEMBER

GEPLANT Das nächste Heft erscheint im Juni 2022. Das Schwerpunktthema ist:

Kein Krieg in Europa! Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 170 / Juni 2022 ist der 30.April 2022. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzt*innen für die

Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung

Verhütung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer

der Redaktion oder des Herausgebers. Nach-

Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

drucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

Redaktion: Ute Watermann (V.i.S.d.P.), Angelika

Redaktionsschluss für das nächste Heft:

Wilmen, Regine Ratke

30. April 2022

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum,

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de,

Körte­straße 10, 10967 Berlin,

Layout: Regine Ratke; Druck: DDL Berlin

Tel.: 030 6980 74 0, Fax 030 693 81 66,

Papier: Circle Offset, Recycling & FSC.

E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de,

Bildnachweise: S 6. Mitte: Kinderhilfe Afgha-

Bankverbindung: GLS Gemeinschaftsbank

nistan; S. 7 Mitte: Fabio Rodrigues Pozzebom/

IBAN: DE 23 4306 0967 1159 3251 01,

ABr, CC-BY 3.0 BR – WEF, CC-BY-SA 2.0. Nicht

BIC: GENODEM1GLS

gekennzeichnete Fotos: privat oder IPPNW.

Das Forum erscheint viermal jährlich. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete 33

10.9. Vortrag: Medizin im Nationalsozialismus mit Dr. Till Bastian, Landsberg / Lech

Weitere Informationen unter: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

vormerken: OKTOBER 21.–23.10. Nürnberg Sechster Kongress Medizin & Gewissen „LebensWert“ Programm & Anmeldung: medizinundgewissen.de


GEFRAGT

6 Fragen an … Rolf Bader

… ehemaliger IPPNW-Geschäftsführer und Mitglied der Regionalgruppe Landsberg

1

Vor 40 Jahren wurde die deutsche Sektion der IPPNW gegründet. Du warst von 1990 bis 1993 Geschäftsführer. Wie hast du die Anfangsphase erlebt? Am 1. März 1990 begann meine Aufgabe als Geschäftsführer in einer ehemaligen Apotheke, der legendären IPPNW-Geschäftsstelle in Heidesheim. Eine Anekdote zu meinem Arbeitsbeginn: Damals stand eine Spendenaktion an, mit einem Brief an knapp 7.500 Mitglieder. Es folgten 14 lange Tage des Kopierens, Faltens, Eintütens, Etikettierens, Frankierens und Zuklebens! Meine Arme schmerzten. Die Spendenaktion erzielte dann fast 80.000 DM! Im selben Jahr erlebte ich den ersten Bundeskongress mit fast 1.000 Menschen in Bonn, den die Regionalgruppe organisierte. Erstmals saß ich in einer vollen Halle auf einem Podium und diskutierte mit der norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland und renommierten Friedensforscher*innen – auf Englisch. Eine große Herausforderung!

flogen Prof. Bernard Lown und Prof. Ulrich Gottstein nach Bagdad, um den Krieg noch abzuwenden. Bei ihrer Rückkehr berichtete die Tagesschau ausführlich über die Mission der IPPNW. Nach dem schrecklichen Ende des Krieges startete Prof. Ulrich Gottstein die IPPNW-Kinderhilfe. Die Friedensbemühungen und der humanitäre Einsatz der IPPNW fanden große öffentliche Resonanz. Bis Ende 1993 traten ca. 2.000 Ärzt*innen in die IPPNW ein.

4

Was waren weitere wichtige Aktivitäten der IPPNW, an die Du Dich bis heute erinnerst? Besonders wichtig waren für mich die Begegnungen mit Prof. Bernard Lown. Ich erinnere mich auch an den großen Kongress „Abrüsten und Abschalten“ 1993 in Berlin, an dem 1.500 Ärzt*innen teilnahmen und Willy Brandt zuhörten. Oft denke ich auch unsere Reise 1990 zum Atomtestgelände Semipalatinsk (Kasachstan) zurück. Die dortigen Nomad*innen luden uns in ihre Zelte ein und berichteten über die erlittenen gesundheitlichen Folgen der Atomtests: Krebserkrankungen, Fehlgeburten, genetische Schäden und Missbildungen.

2

Im März 1991 beschloss die IPPNW den Zusammenschluss der beiden deutschen Sektionen. Von da an hieß die IPPNW zusätzlich „Ärzte in sozialer Verantwortung“. Welche Erinnerungen hast Du an diese Zeit? Damals wurde intensiv und sehr kontrovers diskutiert, bis der Zusammenschluss mit der Ergänzung beschlossen wurde. Diese wiederum brachte große Bereicherungen: Das Thema Ökologie wurde in die Agenda aufgenommen. Die IPPNW veröffentlichte damals Till Bastians Studie „Naturzerstörung als Quelle zukünftiger Kriege“, die u.a. die weltweite Wasserknappheit als Kriegsursache thematisierte. Auch der Arbeitskreis „Süd-Nord“ gründete sich. Später folgte die Aufarbeitung der Medizin in der NS-Zeit mit den Kongressen „Medizin und Gewissen“, die international, besonders in Israel, große Beachtung fanden.

5

Vom 17. bis 19. Juni 2022 organisieren der IPPNW-Vorstand und die Regionalgruppe Landsberg den Kongress „40 Jahre IPPNW“. Welche Erwartungen hast Du? Ich träume manchmal nachts von einem – pandemiefreien – Kongress in einem voll besetzten Landsberger Stadttheater. Von einer öffentlichen Aktion vor laufenden Kameras mit Journalist*innen, die bundesweit darüber berichten – wie in alten Zeiten großer IPPNW-Kongresse!

6

Welches Programm erwartet die Teilnehmer*innen? Eröffnet wird der Kongress mit einem Vortrag des Journalisten Andreas Zumach. Im Mittelpunkt stehen am Samstag die zentralen Aufgaben „Atomwaffen, Abrüstung und Kriegsverhinderung / Atomenergie und Klima / Ein Recht auf Gesundheit und soziale Verantwortung“. Am Sonntag werden friedenspolitische Perspektiven für ein atomwaffenfreies Europa aufgezeigt. Auch die Studierenden wirken aktiv mit und stellen ihre Projekte vor. Mehr Infos: www.ippnw.de/bit/40-jahre

3

In das Jahr 1991 fiel auch der Beginn des zweiten Golfkriegs. Welche Aktionen hat die IPPNW damals ins Leben gerufen, um den Krieg zu verhindern? Bei der Organisation des riesigen Sternmarsches zum Bonner Hofgarten waren wir voll eingebunden. Nach einer Auftaktveranstaltung starteten wir mit ca. 2.000 Ärztinnen und Ärzten unseren Demozug. Kurz vor Kriegsausbruch 34


Findet statt !

Begegnungsfahrt Palästina / Israel 29. Mai – 10. Juni 2022 Information & Anmeldung: www.ippnw.de/bit/ begegnungsfahrt

Werde Campaigner*in! Begleite Kampagnen erfolgreich!

CampaPeace April 2022 – März 2023 • Von der gewaltfreien Aktion zur gewaltfreien Revolution/ Transformation • Phasen, Rollen, Struktur und Stufen einer Kampagne • (Digitale) Tools und Techniken • Gruppenaufbau und Aktivierung • Medienarbeit, Social Media • Kampagnenbegleitung und Kurzmoderation • Erfolgsmessung und Evaluation • Umgang mit internen Konflikten

www.campapeace.de jetzt zur neuen Staffel VI anmelden!

+ Medizingeschichte + Planetary Health + Ethische Fragen im Medizinalltag + Referent*innen u.a.:

6. Internationaler IPPNW-Kongress

Medizin & Gewissen:

LebensWert

75 Jahre Nürnberger Ärzteprozess und Nürnberger Kodex Nürnberg, 21. – 23. Oktober 2022

www.medizinundgewissen.de

Prof. Paul Weindling, britischer Medizinhistoriker, Oxford Prof. Sabine Gabrysch, Professorin für Klimawandel und Gesundheit am Institut für Public Health der Charité, Berlin Prof. Gerhard Trabert, Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie Dr. Bernd Hontschik, Chirurg und Publizist Dr. Angelika Claußen, IPPNW-Vorsitzende Prof. Gerd Antes, Medizinstatistiker Eckart von Hirschhausen, Arzt, Fernsehmoderator und Kabarettist Prof. Sondra S. Crosby, Ärztin und Professorin für Medizin, Boston University


40 Jahre IPPNW Ärztliche Verantwortung für eine Welt in Frieden Kongress der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

17. – 19. Juni 2022 Stadttheater, Schlossergasse 381, 86899 Landsberg am Lech

Programm und Anmeldung: ippnw.de / bit / 40-jahre

Freitag, 17. Juni 2022 19.30 Uhr | Begrüßung Rolf Bader, IPPNW-Regionalgruppe Landsberg am Lech, Doris Baumgartl, Bürgermeisterin 19.35 Uhr | Video-Botschaft Prof. Tilman Ruff, Australien Int. IPPNW-Co-Präsident 19.40 Uhr | Lesung mit Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin aus der Ukraine Lesung als Video-Botschaft in Russisch mit deutschen Untertiteln 20 Uhr | Vortrag Andreas Zumach, Journalist und Buchautor anschließend Diskussion

Samstag, 18. Juni 2022 9.00 Uhr Öffentliche Aktion zum Atomwaffenverbot 10.00 Uhr Atomwaffen? Abschaffen! – IPPNW und Atomwaffen Dr. Lars Pohlmeier IPPNW-Vorsitzender Dr. Inga Blum, Int. IPPNW-Vorstandsmitglied und Mitglied von ICAN 11.30 Uhr Abrüsten fürs Klima – IPPNW und Frieden Dr. Till Bastian, IPPNWRegionalgruppe Landsberg Dr. Katja Goebbels, IPPNW-Ärztin

14.30 Uhr Für ein Recht auf Gesundheit – IPPNW und Soziale Verantwortung Dr. Eberhard und Jutta Seidel, Mitglieder im ersten frei gewählten Vorstand der DDR-Sektion „Ärzte in sozialer Verantwortung“ Dr. Robin Maitra, IPPNWVorstandsmitglied 16.00 Uhr Der Treibstoff für die Bombe – IPPNW und Atomenergie Dr. Barbara Hövener, Gründungsmitglied der IPPNW Deutschland Dr. Angelika Claußen, IPPNWVorsitzende 17.30 Uhr IPPNW-Studierendenarbeit Sophia Christoph, Clara Blumenroth

Sonntag, 19. Juni 2022 9.30 Uhr | Grußwort Prof. Ulrich Gottstein, Ehrenvorstandsmitglied IPPNW 10.00 Uhr | Vortrag Gemeinsam für ein nuklearfreies Europa Dr. Angelika Claußen, IPPNWVorsitzende 11-12 Uhr | Musikalischer Abschluss Orbis-Quartett Berlin 13.30 Uhr | Führung durch die historische Altstadt

In Memoriam Karl Bonhoeffer | Horst-Eberhard Richter | Hans Peter Dürr


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