Forum 181/2025 – Das Magazin der IPPNW

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das magazin der ippnw nr181 märz 2025 4,50€ internationale ärzt*innen für die verhütung des atomkrieges – ärzt*innen in sozialer verantwortung

- Afrikas Rolle in der Weltpolitik - Drei Jahre Krieg in der Ukraine - Auswirkungen von Atomwaffen auf Kinder

Militarisierung der Gesundheitsversorgung?

Friedensfähig statt kriegstüchtig!

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IPPNW

Deutsche Sektion

Frankfurter Allee 3

10247 Berlin

Ute Rippel-Lau ist Mitglied des IPPNW-Vorstandes.

Das Militärische durchdringt immer größere Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens. Angefangen bei der Brötchentüte mit Camouflageaufdruck, über Werbung für die Bundeswehr in Schwimmbädern, Verkehrsmitteln und an Schulen bis hin zur Streichung von Zivilklauseln an Universitäten und in Forschungsinstituten.

Vielerorts regt sich bereits Widerstand, wie die Popularklage zeigt, die Kritiker*innen im Februar 2025 gegen das „Gesetz zur Förderung der Bundeswehr“ in Bayern eingereicht haben. In diesem Heft widmen wir uns der zunehmenden Militarisierung der Medizin. Mit den neuen „Rahmenrichtlinien Gesamtverteidigung“, verabschiedet im Sommer 2024, hat die Bundesregierung deutlich den Schritt von der Friedenslogik zur Kriegslogik vollzogen. Von Dialog, Abrüstung und gemeinsamer Sicherheit ist keine Rede mehr. Das zivile Gesundheitswesen soll sich darauf vorbereiten, in einem möglichen Spannungs- oder Verteidigungsfall der Unterstützung der Streitkräfte zu dienen.

Bernhard Winter befasst sich mit der Rolle der Ärztekammern bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Mit kriegsmedizinischen Fortbildungen wird versucht, bei Angehörigen von Gesundheitsberufen einen Mentalitätswandel zu erreichen, um deren Zustimmung zur Militarisierung des Gesundheitswesen zu erreichen. Dabei wäre es Aufgabe einer verantwortungsvollen Berufsorganisation, über die unterschiedlichen Rollen einer Kriegs- und einer zivilen Medizin aufzuklären, so Winter.

Kein Gesundheitssystem der Welt kann die Folgen eines Atomkrieges medizinisch bewältigen. Dr. Inga Blum stellt die katastrophalen gesundheitlichen Auswirkungen von Atomwaffen dar und macht deutlich, wie dringend Maßnahmen für Risikoreduktion und Abrüstung sind. Dr. Helmut Lohrer beschäftigt sich mit der Nachfrage nach privaten Atombunkern, die seit Beginn des Ukrainekrieges sprunghaft gestiegen ist. Sein Fazit: Statt uns mit der Illusion individueller Sicherheit zu beruhigen, müssten wir alles daransetzen, dass ein solcher Krieg niemals geführt wird.

Der Artikel „Schleichende Militarisierung der Medizin“ berichtet darüber, welche katastrophenmedizinischen Planungen bisher bekannt sind und was diese Szenarien für unser Gesundheitswesen konkret bedeuten würden.

Eine anregende Lektüre wünscht –

Ihre Ute Rippel-Lau

Als IPPNW begrüßen wir die Aufnahme von diplomatischen Gesprächen zur Beendigung des Ukrainekrieges in Saudi-Arabien als ersten Schritt . Dieser Krieg kann nur auf dem Verhandlungsweg beendet werden .

Ralph Urban ist Mitglied des IPPNW-Vorstandes.

Der Krieg in der Ukraine verursacht seit drei Jahren täglich Leid, Tod und Zerstörung. Nach UN-Angaben hat er bis zum 31. Dezember 2024 etwa 12.500 Todesopfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung gefordert. Es gibt keine unabhängigen Angaben über die Zahl der getöteten Soldat*innen auf beiden Seiten. Die Angaben schwanken zwischen 140.000 und 260.000 Toten auf beiden Seiten insgesamt. Eine Mehrheit von 52 Prozent der Ukrainer*innen wünscht sich laut einer Umfrage des Gallup-Institutes vom Ende letzten Jahres inzwischen Friedensgespräche mit Russland, nur 38 Prozent wollen weiterkämpfen. Damit hat sich die öffentliche Meinung in der Ukraine seit Beginn des Krieges gewendet.

Die Bundesregierung muss sich konstruktiv für einen zeitnahen Waffenstillstand und eine internationale Friedenskonferenz einsetzen, an der alle Parteien und Interessengruppen einschließlich der Zivilgesellschaft beteiligt werden.

Die Grenze zwischen der Ukraine und Russland mit militärischen Mitteln zu sichern, wird keinen nachhaltigen Frieden bringen. Bezeichnend ist, dass bei den Diskussionen über eine sogenannte „Friedenstruppe“ ein UN-Mandat offenbar nicht einmal erwogen wird. Die IPPNW ist überzeugt, dass Sicherheitsgarantien letztlich aus der „Friedenslogik“ entwickelt werden müssen: Auf dem Weg über vertrauensbildende Maßnahmen hin zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik, die auf Demilitarisierung, Rüstungskontrolle und Abrüstung beruht.

Kurz vor der Münchner Sicherheitskonferenz schlug der US-Präsident Donald Trump neue Gespräche über nukleare Abrüstung vor. Laut Tagesschau sei das Ziel, die Verteidigungsausgaben der drei „Großmächte“ China, Russland und USA zu halbieren. Bereits Ende Januar hatte der US-Außenminister Marco Rubio in einem längeren Interview darauf hingewiesen: „Und es klingt wie eine Übertreibung, aber so ist es – es gibt jetzt mehrere Länder, die die Fähigkeit haben, das Leben auf der Erde zu beenden. Wir müssen also wirklich hart daran arbeiten, bewaffnete Konflikte so weit wie möglich zu vermeiden.“ Es ist zu hoffen, dass die Vorschläge ernsthaft geprüft werden und es zu entsprechenden Verhandlungen und Vereinbarungen kommen kann.

Bayern: Popularklage gegen die Militarisierung der Bildung

Am Bayerischen Verfassungsgerichtshof wurde am 5. Februar 2025 im Namen von 200 Kläger*innen eine Popularklage gegen das „Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern“ eingereicht. Die Klagenden sehen u a. die Wissenschaftsfreiheit und das Friedensgebot in Gefahr. Das Bündnis aus Jurist*innen, Wissenschaftler*innen, Kirchen und Verbänden spricht sich gegen eine weitere Militarisierung von Schulen und Universitäten aus.

Die Klagenden gegen das „Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern“ wollen eine verfassungsrechtliche Prüfung des Gesetzes anstoßen, da ihre Argumente im Gesetzgebungsverfahren kein Gehör fanden und die Forderungen nach Militarisierung von Bildung, Schulen und Universitäten auch außerhalb Bayerns immer öfter aufgegriffen werden. Friedrich Merz (CDU) hatte vor der Bundestagswahl erklärt, freiwillige Verpflichtungen von Universitäten, nur für friedliche Zwecke zu forschen, abschaffen zu wollen.

Zu den Kläger*innen zählen unter anderem der Jurist und Publizist Dr. Rolf Gössner, der Friedensforscher Dr. Werner Ruf, der Hochschulprofessor Dr. Klaus Weber und der Professor i. R. Dr. Gerhard Steeger.

Mittlerweile mehren sich die Stimmen, die in dem neuen Gesetz einen Eingriff in die Grundrechte sehen. Grund für die gesteigerte Aufmerksamkeit ist nicht nur der Eingriff in die Hochschulautonomie, Wissenschaftsund Forschungsfreiheit, sondern auch der Zugriff von Jugendoffizier*innen der Bundeswehr auf Schulen, der im Gesetz nun zwingend vorgegeben wird.

Tischrin-Staudamm in Syrien

Die Türkei greift wiederholt die Trinkwasserversorung in Nordost-Syrien an. Zuletzt zerstörte sie eine Wasserstation in der Nähe von Kobane. Im Januar 2025 hat die türkische Luftwaffe eine Mahnwache von Friedensaktivist*innen am Tischrin-Staudamm bombardiert, die den Damm schützen wollten. Nach Angaben der Demokratisch Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) starben dabei drei Zivilist*innen, unter ihnen ein Krankenwagenfahrer des Kurdischen Roten Halbmonds. 19 weitere Menschen erlitten teils schwere Verletzungen. Zudem bombardierte die türkische Luftwaffe die Umgebung des Staudamms.

In den Autonomiegebieten Nord- und Ostsyrien wächst die Sorge aufgrund der Angriffe auf die Talsperre. Schwere Schäden infolge der Bombardierungen zwingen zu einer Stilllegung der Anlage und Öffnung der Grundablässe, so DAANES. Bei einer Zerstörung des Staudamms drohe der Region eine „verheerende Überflutung“ und damit eine humanitäre und ökologische Katastrophe. Seit die Angriffe an Intensität zunahmen, wird Nord- und Ostsyrien um seinen Ertrag aus der Wasserkraft gebracht. In weiten Teilen des Kantons Firat leidet die Bevölkerung unter fehlender oder ungenügender Wasserversorgung.

Die IPPNW-Türkeibeauftragte Dr. Gisela Penteker warnt: „Die Türkei betreibt mit zunehmender militärischer Kraft die Zerstörung der kurdischen Autonomieregion und es besteht die Gefahr, dass sie dabei auch die neue Führung in Syrien auf ihre Seite zieht.“

Doomsday Clock rückt vor: Es ist 89 Sekunden vor zwölf

Seit dem 28. Januar 2025 steht die Weltuntergangsuhr auf 89 Sekunden vor Mitternacht. Die Wissenschaftler*innen des renommierten Bulletin of the Atomic Scientists haben den Zeiger der „Doomsday Clock“ erneut vorgerückt, was die Dringlichkeit nuklearer Abrüstung unterstreicht.

„Der Zeiger der Weltuntergangsuhr ist erneut vorgerückt, die Welt war dem Untergang noch nie näher als heute. Nukleare Abrüstung und das völkerrechtliche Verbot von Atomwaffen sind so dringend nötig wie noch nie, um eine Katastrophe zu verhindern“, warnt Dr. med. Lars Pohlmeier, Co-Vorsitzender der deutschen IPPNW Sektion.

Die Erklärung der Wissenschaftler*innen betont den fehlenden Fortschritt angesichts der enormen nuklearen Gefahr, der anhaltenden nuklearen Aufrüstung und dem schwindenden Rüstungskontrollregime. Zudem wird darauf hingewiesen, dass 2024 das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen war, was die unzureichenden weltweiten Anstrengungen gegen die Klimakrise verdeutlicht.

Die IPPNW fordert die Bundesregierung auf, an der Staatenkonferenz des Atomwaffenverbotsvertrags im März 2025 als Beobachterin teilzunehmen, einen Fahrplan für den deutschen Beitritt vorzulegen und sich innerhalb der NATO stärker für Rüstungskontrolle und Abrüstung einzusetzen. Außerdem müssen Klimaschutzmaßnahmen an Priorität gewinnen.

Mehr dazu: thebulletin.org/doomsday-clock

AKW Doel: Reaktorblöcke eins und zwei werden stillgelegt

Die Reaktorblöcke 1 und 2 des belgischen AKW Doel werden stillgelegt – deshalb gibt es künftig weniger Urantransporte aus Gronau und Lingen nach Belgien. Anti-Atom-Initiativen und Umweltverbände begrüßen die Stilllegung, kritisieren jedoch die neuen Pläne der belgischen Regierung zur Laufzeitverlängerung der Reaktoren Doel 4 und Tihange 3 sowie den Bau neuer Atomkraftwerke. Sie fordern, die Urananreicherungsanlage Gronau und die Brennelementefabrik Lingen im Rahmen des deutschen Atomausstiegs zu schließen.

Am 15. Februar 2025 fand in Ahaus eine überregionale Anti-Atom- und Klimaschutz-Demo statt, zu der auch die IPPNW aufgerufen hat. Die Demonstrierenden kritisierten die Ankündigung der neuen belgischen Regierung, die Laufzeiten der Reaktoren Doel 4 und Tihange 3 um weitere zehn Jahre zu verlängern und sogar wieder neue AKWs bauen zu wollen. „Die angebliche Renaissance der Atomkraft ist eine Fata Morgana. Real werden in Europa mehr Reaktoren stillgelegt, als neue hinzukommen würden. Und die wenigen realen AKW-Baustellen zeichnen sich durch enorme Kostensteigerungen und gravierende Baumängel aus. Das würde in Belgien nicht anders sein. In Frankreich fordert z. B. der französische Rechnungshof den Stopp weiterer AKW-Neubaupläne. Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie – zivil wie militärisch. Sie bleibt ein Auslaufmodell − die Zukunft gehört den Erneuerbaren“, erklärte Dr. Angelika Claußen, Europa-Vorsitzende der IPPNW.

Kundgebungen für einen gerechten Frieden im Nahen Osten

Am 15. Februar 2025 fanden in drei Städten Kundgebungen für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel statt. 2.300 Menschen nahmen in Berlin daran teil, in Köln 700 und in Nürnberg 300. Sie setzten ein starkes Zeichen für Frieden und Gerechtigkeit. Über 70 Hilfs-, Menschenrechts- und Friedensorganisationen unterstützten die Initiative, um auf die dringende Notwendigkeit eines dauerhaften Waffenstillstands und einer politischen Lösung hinzuweisen, die gleiche Rechte für alle gewährleistet.

Unter dem Motto „Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel – Zivilbevölkerung schützen, Waffenexporte stoppen!“ forderten die Organisatoren verstärkte Maßnahmen von der Bundesregierung, insbesondere ein Ende der Waffenlieferungen.

In Berlin sprachen der Musiker Michael Barenboim, Prof. Dr. Tahani Nadim und Dr. Dörthe Engelcke von der Allianz für Kritische und Solidarische Wissenschaft, der deutsch-israelische Autor Tomer Dotan-Dreyfus, Juliane Kippenberg von Human Rights Watch, der palästinensische Künstler Fadi Abdelnour und Anica Heinlein von CARE. Besonders berührend war die Rede von Noy Katsman, Queer-/Friedensaktivist*in aus Israel, inzwischen in Berlin lebend. Katsman Bruder wurde am 7. Oktober 2023 von Hamas-Terroristen ermordet.

Mehr dazu auf S. 11, 31 und 34. Livestream der Berliner Kundgebung unter: gerechter-frieden.org

Menschenrechtliche Brandmauer: Appell an den CDU-Parteitag

Vor der Bundestagswahl haben 145 Organisationen, darunter Sozialverbände und Initiativen aus der Flüchtlingshilfe, anlässlich des CDU-Wahlparteitags einen gemeinsamen Appell veröffentlicht. Darin fordern sie die CDU auf, sich klar zu den Werten der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu bekennen. Die Organisationen betonen, dass geflüchtete Menschen längst Teil unserer Gesellschaft geworden sind und warnen vor der Stigmatisierung ganzer Gruppen aufgrund der Taten Einzelner.

Die aktuellen Diskussionen über Verschärfungen des Staatsangehörigkeits-, Aufenthalts- und Asylrechts, die maßgeblich von der CDU vorangetrieben werden, bedrohen nach Auffassung der unterzeichnenden Organisationen das Selbstverständnis einer offenen und vielfältigen Gesellschaft. Polarisierende Forderungen wie Zurückweisungen an deutschen Binnengrenzen oder die Abschaffung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte seien nicht geeignet, gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen.

„Taten einzelner Personen, die uns fassungslos machen und in Entsetzen zurücklassen, wie der schreckliche Angriff von Aschaffenburg, dürfen niemals dazu führen, dass ganze Gruppen stigmatisiert, rassifiziert oder entrechtet werden“, heißt es in dem gemeinsamen Appell. Die Organisationen appellieren an die CDU, sich im Wahlkampf von spaltender Rhetorik zu distanzieren und warnen vor autoritärer Politik, wie sie in verschiedenen EU-Ländern zu beobachten ist.

Wir können uns die Hochrüstung nicht leisten!

NATO und EU rüsten weiter auf – die Haushaltsdisziplin gilt nur für die Bedürfnisse der Bürger*innen

Als Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 in einer eilig zusammengerufenen Sondersitzung dem Bundestag mitteilte, dass die von ihm ausgerufene „Zeitenwende“ ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr erfordere, überrumpelte er damit die anwesenden Abgeordneten.

Presseberichten nach waren vor der Ankündigung dieser beispiellosen Aufrüstungsmaßnahme selbst innerhalb der Regierung nur Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner einbezogen. Das änderte aber nichts daran, dass bei der Abstimmung über die 100 Milliarden im Bundestag nur die Linke geschlossen dagegenstimmte. Inzwischen ist der Verteidigungsetat nach NATO-Kriterien auf 90,6 Milliarden Euro angestiegen.

Noch 2017 argumentierte der damalige Außenminister Sigmar Gabriel von der SPD, dass das Zwei-Prozent-Ziel der NATO eine Zielrichtung vorgebe, nicht einen verbindlichen Endpunkt. Aber schon im Koalitionsvertrag der Ampel, also vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, wurde ein etwas verklausuliertes Drei-ProzentZiel für „internationales Handeln“ festgehalten, in dem Militärausgaben, Entwicklungszusammenarbeit und Diplomatie zusammengemischt wurden.

Inzwischen fordert NATO-Generalsekretär Rutte „viel, viel, viel mehr als zwei Prozent“, Robert Habeck 3,5 Prozent, und US-Präsident Donald Trump ist inzwischen bei fünf Prozent angekommen – ein irrer Überbietungswettbewerb, bei dem es noch nicht einmal mehr um konkrete Bedrohungsanalysen und die angeblich not-

wendigen militärischen Antworten darauf geht. Dabei stiegen die Militärhaushalte laut SIPRI schon seit 2014 von 32,4 Milliarden Euro auf inzwischen (2024) 51,95 Milliarden Euro – ohne das Sondervermögen, das nochmal 20 Milliarden zusätzlich bedeutet.

Diese enorme Steigerung des Rüstungshaushalts wurde jahrelang vorbereitet. Jahr für Jahr wurden passend zu den Haushaltsberatungen angebliche Skandale über nicht einsatzbereites Militärgerät präsentiert. Die Antwort darauf sollte nach Ansicht der verschiedenen Regierungskoalitionen immer weitere Aufrüstung sein. Die Frage, warum es mit diesen Jahr für Jahr ausgeschütteten Milliarden nicht möglich gewesen sein soll, eine halbwegs verteidigungsfähige Armee auszurüsten, wurde selten gestellt.

Auch in der EU wird nahezu ungehemmt weiter aufgerüstet, obwohl die Verträge weiterhin ein Verbot der Finanzierung von Rüstung und Militär enthalten. Aber die Instrumente der EU-Kriegspolitik werden über die Jahre immer zahlreicher: Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO), Europäischer Verteidigungsfonds (EDF), Europäische Friedensfazilität oder die Dual-Use Forschung in den Forschungsprogrammen der EU (bspw. Horizon 2020).

Wenn es dagegen um die Bedürfnisse der Bevölkerung geht, wird immer wieder die Haushaltsdisziplin in Anschlag gebracht. Infrastruktur, Klimawandel, Wohnungsnot, Inflation – Maßnahmen, die hier Verbesserungen gebracht hätten, werden ganz selbstverständlich mit den fehlenden Ressourcen zurückgestellt. Auch die Reformen im Gesundheitswesen wurden im Wesentlichen den Beitragszahler*innen in der GKV aufgehalst, weil angeblich kein Geld da ist. Bundeskanzler Scholz hat in der Ampelkoalition drei Jahre lang die Sparmanie von FDP-Lindner gedeckt, als es etwa um die Kindergrundsicherung ging.

Trotz dieser eigentlich klaren Sachlage regt sich weiterhin nicht genug Widerstand in der Bevölkerung, denn das Credo „Wir müssen aufrüsten, um sicher zu sein“ klingt für viele weiterhin nach einer logischen und alternativlosen Konsequenz. Dabei zeigt der Vergleich der Rüstungsausgaben der NATO mit denen Russlands und Chinas ein extremes Ungleichgewicht. Die NATO-Staaten gaben 2023 über 1.300 Milliarden US-Dollar für Rüstung aus, Russland ca. 60 Milliarden USD und China ca. 215 Milliarden USD. Die Militärhaushalte allein der europäischen NATO-Mitglieder übersteigen mit insgesamt über 400 Milliarden also bereits die zusammengenommenen Ausgaben

Russlands und Chinas. Aus diesen Zahlen lässt sich eigentlich kein Aufrüstungserfordernis ableiten.

Die Rüstungskonzerne jubeln

Von der jahrelang vorbereiteten, aber nach der Annexion der Krim 2014 und besonders nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 explodierenden Aufrüstung hat die Rüstungsindustrie beispiellos profitiert, insbesondere Rheinmetall, der zweitgrößte deutsche Rüstungskonzern. Dies spiegelt sich nicht nur in erhöhten Auftragseingängen, sondern auch in erheblichen Umsatzsteigerungen wider. Für das Jahr 2025 wird ein Umsatzanstieg von über 25 Prozent prognostiziert. Entsprechend haben auch die Aktienkurse des Unternehmens (Aufstieg in den DAX im März 2023) stark zugelegt. Die Aktie hat kürzlich ein neues Allzeithoch erreicht. Lag die Aktie vor dem Krieg gegen die Ukraine noch unter 100 Euro, liegt sie inzwischen (Ende Januar) bei weit über 700 Euro. Der Gewinn explodiert ebenfalls: 2024 meldet das Unternehmen vor Steuern und Zinsen einen Zuwachs des Erlöses um 19 Prozent gegenüber dem auch Rekordwert des Vorjahres auf insgesamt 918 Millionen Euro.

Die explodierenden Rüstungsausgaben bieten eine politische Angriffsfläche, die die Friedensbewegung bisher viel zu wenig nutzt. Zum einen ist es ein Thema, bei dem es in der Friedensbewegung große Einigkeit gibt. Zudem bietet das Thema

Potential zur Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Bewegungen. Allein die Gegenüberstellung der Beschaffungskosten der F-35-Jets für die völkerrechtswidrige nukleare Teilhabe und der Kosten der von der Ampel aus Kostengründen nicht eingeführten Kindergrundsicherung macht deutlich, was in diesem Land schief läuft. Die Atombomber sollten bei Beschlussfassung 2022 fast zehn Milliarden Euro kosten, die Kindergrundsicherung hätte nach monatelangem Gefeilsche im ersten Jahr ihrer Einführung nicht einmal 2,4 Milliarden Euro gekostet.

Das ließe sich für viele Themen umrechnen: Kosten einer Flugstunde eines Kampfjets in Personalkosten im Bildungswesen, Anstieg des Verteidigungshaushalts für ein Kalenderjahr im Vergleich zu den notwendigen Investitionskosten für die Krankenhäuser oder der Verzicht auf nur eine Fregatte im Vergleich zu den Kosten für eine Rücknahme der Verteuerung des Deutschlandtickets. Sozialverbände, Gewerkschaften, Klimabewegung, Frauenund Queerbewegung, flucht- und migrationspolitische Gruppen – alle könnten auf die Finanzierungsprobleme verweisen und für ihren Bereich erklären: „Wir können uns die Hochrüstung nicht leisten!“

Hier öffnet sich das Tor bzw. eher die Chance einer fortschrittlichen außerparlamentarischen Organisation von zivilgesellschaftlichen Kräften. Die immensen Ausgaben im Rahmen der Hochrüstung sind schon lange kein eigenständiges Thema

der Friedensbewegung mehr. Es betrifft uns alle. Und wenn wir in die Organisationsstrukturen der Verbände schauen, sehen wir, dass alle in irgendeiner Form von Kürzungen in den Bereichen Mobilität, Klima oder Soziales betroffen sind.

Die turnusmäßige Haushaltsverabschiedung mit ihren feststehenden Terminen –Regierungsentwurf vor der Sommerpause, erste Lesung in der ersten Sitzungswoche des Bundestags nach der Sommerpause, Beschlussfassung im November – bietet gut planbare Ansatzpunkte für eine Mobilisierung. Das Thema liegt eigentlich auf dem Tisch, und nicht nur die Friedensbewegung muss dies aufgreifen.

Marek Voigt ist Pressereferent der IPPNW. Yannick Kiesel ist Referent für Friedenspolitik bei der DFG-VK.

Nach der Amtsübernahme von Donald Trump ist ein Blick auf die Weltsituation schon jetzt kaum erträglich. Eine nach der anderen zerstört der US-Präsident die Institutionen, die unsere Welt im Gleichgewicht halten. Per Dekret befiehlt Trump, aus dem Klimaabkommen auszusteigen, er stellt die Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation ein und zerschlägt die Entwicklungsbehörde USAID. Auch die Pläne von Trump für die Beendigung des Krieges in der Ukraine wecken bisher kein Vertrauen, dass es zu einem nachhaltigen Friedensschluss kommt. Bei den Gesprächsformaten zwischen den USA, Russland und der Ukraine sollen europäische Vertreter*innen ausgeschlossen sein. Eine US-amerikanische oder gar internationale Schutztruppe unter einem möglichen UN-Mandat wird nicht einmal erwogen. Das erste Gespräch der Außenminister Marco Rubio und Sergej Lawrow fand ohne die Ukraine statt und wurde durch inakzeptable Äußerungen des US-Präsidenten begleitet.

US-Verteidigungsminister Pete Hegseth forderte beim NATOTreffen in Brüssel zudem, die Rüstungsetats der europäischen Länder müssten auf fünf Prozent wachsen. Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz und Noch-Verteidigungsminister Boris Pistorius kritisierten, dass fünf Prozent einen Wehretat von 200 Milliarden Euro bedeuten würden bei einem Bundeshaushalt von insgesamt 500 Milliarden Euro. Das käme nicht in Frage. Im vergangenen Sommer hatte die NATO die von Deutschland gemeldeten Verteidigungsausgaben mit 90,6 Milliarden Euro angegeben, was damals einer BIP-Quote von 2,12 Prozent entsprach.

Die jetzt auf dem Tisch liegenden Pläne der Trump-Regierung berücksichtigen zwar Konflikte zwischen den rivalisierenden Großmächten USA und Russland, nicht aber zwischen Russland und der Ukraine. Wie ernst es Trump mit seinen Aussagen zu atomaren Abrüstungsgesprächen im Format China – Russland – USA meint, wird sich im weiteren Verlauf zeigen. Donald Trump hatte erklärt, er wolle die Gespräche mit Russland und China über nukleare Rüstungskontrolle wieder aufnehmen und hoffe, dass sich alle drei Länder letztendlich darauf einigen könnten, ihre massiven Verteidigungsbudgets zu halbieren. Schon in seiner ersten Amtszeit hatte Trump versucht, China in die Gespräche über die

Drei

Jahre

Krieg

in

der Ukraine: Wie geht es weiter?

Die Friedensbewegung muss neue Stärke gewinnen

Verringerung von Atomwaffen einzubeziehen. Die Gespräche zwischen den USA und Russland über eine Verlängerung des NewSTART-Vertrages scheiterten.

Die Forderungen aus der Friedensbewegung sind daher hochaktuell: Wir fordern die Atomwaffenstaaten auf, sich zu einem Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu bekennen. Wir wollen eine Stationierung von Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden verhindern, die gegen Russland gerichtet ist und fordern stattdessen neue Verhandlung über russische und US-amerikanische Mittelstreckenwaffen. Bei Verhandlungen über einen Frieden in der Ukraine müssen alle relevanten Kriegsparteien und Gruppen – insbesondere die Zivilgesellschaft und die Minderheiten in der Ostukraine – eingebunden werden. Unter Druck herbeigeführte Beschlüsse, die die Konfliktursachen in der Ukraine sowie zwischen den Großmächten nicht berücksichtigen, werden nicht zu einem nachhaltigem Frieden führen. Deutschland und die EU-Staaten müssen sich in diesem Sinne aktiv in die Verhandlungen einbringen! Eine Hochrüstung und Militarisierung der Gesellschaft lehnen wir ab.

In der Friedensbewegung gibt es seit November 2024 die Kampagne „Friedensfähig statt erstschlagfähig!“ gegen die Stationierung von Mittelstreckenwaffen. Zudem formiert sich Widerstand gegen die Folgen der Militarisierung der Gesellschaft. In diesen kritischen Zeiten ist eine Neuformierung der Friedensbewegung dringlicher denn je.

Die Friedensbewegung muss neue Stärke gewinnen. Das wird nur gelingen, wenn wir in die Breite der Gesellschaft wirken und mit Teilen der Gewerkschaften und Kirchen zusammenarbeiten. Wir müssen dialogfähig und teamfähig werden und Besserwisserei überwinden. Dabei wird die Friedensbewegung nur erfolgreich sein, wenn sie sich in den Aktionen klar nach rechts abgrenzt und auf der anderen Seite anschlussfähig wird in die Mitte der Gesellschaft, in linksliberale Spektren. Lassen Sie uns hier gemeinsam den Weg gehen, für eine plurale, bunte, vielfältige Friedensbewegung, die gemeinsam kämpft mit den anderen sozialen Bewegungen.

Dr. Angelika Claußen ist IPPNW-Vorsitzende.

Gleiche Rechte für alle!

Kundgebungen für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel

Das Töten endlich beenden, Waffenexporte stoppen! Bei den Kundgebungen „Für einen gerechten Frieden“ am 14. Februar 2025 haben sich IPPNW-Mitglieder in Berlin, Köln und Nürnberg beteiligt. Auf der Berliner Kundgebung sprachen unter anderem der Musiker Prof. Michael Barenboim und der Aktivist und Pädagoge Basem Said. Wir dokumentieren ihre Reden in Auszügen.

Deutschland unterstützt die Auslöschung und Zerstörung des palästinensischen Volkes. Nichts anderes tut es, wenn es Waffen nach Israel liefert im Wissen, wie diese benutzt werden. Israel hat Gaza in ein unbewohnbares Inferno verwandelt, den Gesundheitssektor, den Agrikultursektor, den Bildungssektor, und vieles mehr in Grund und Boden bombardiert – fast die gesamte Bevölkerung aus ihren Häusern vertrieben und diese Häuser mehrheitlich auch zerstört. Es hat abertausende Menschen, größtenteils Frauen und Kinder, umgebracht, und den Überlebenden die Lebensgrundlage genommen. (...)

Wir erleben auch die Gazafication von Teilen der West Bank. Angriffe auf Krankenhäuser, flächendeckende Zerstörung von Wohnhäusern, das Töten von Kindern. Ein wie auch immer gearteter Waffenstillstand in Gaza bedeutet nicht, dass Palästinenser nicht weiterhin systematisch entrechtet, vertrieben und getötet werden. Die Bilder aus Jenin ähneln nicht umsonst den Bildern aus Jabalia.

Wie lange wollen wir eigentlich noch wegschauen hier in Deutschland? Wie erlauben wir es, dass diese Politik der Mittäterschaft nicht nur fortgesetzt, sondern von den meisten Politiker*innen hierzulande mit einer Inbrunst verteidigt wird, die einem Angst machen kann? Schließlich ist der Preis dieser Politik hierzulande eine beispiellose Repression von Palästinenser*innen und ihren Unterstützern, die in einem kaum verborgenen autoritären Gestus immer weiter vorangetrieben wird.

Denn machen wir uns nichts vor: Dies hat nichts mit historischer Verantwortung zu tun. Diese ist verankert in der Konvention zur Verhinderung und Bestrafung von Völkermord, die uns verpflichtet, Verbrechen wie in Palästina soweit es geht zu verhindern. Nochmal: Dies ist eine Verpflichtung. Dazu gehört, jede Form der Unterstützung zu unterlassen, die die gewaltsame, illegale Besatzung fördert, wie gefordert vom IGH in dem Gutachten vom 19. Juli 2024. Das betrifft nicht nur Waffen, es betrifft Kooperationen mit Institutionen, die zur Aufrechterhaltung jener illegalen Besatzung beitragen. Diese Kooperationen müssen unverzüglich beendet werden.

Vom römischen Philosophen Seneca ist folgender Satz überliefert: „Frieden ohne Gerechtigkeit ist Sklaverei“. Wir müssen uns ehrlich machen und uns für Gerechtigkeit für das gesamte palästinensische Volk einsetzen. (...)

Michael Barenboim, Musiker und Professor an der BarenboimSaid Akademie

Ich stehe heute hier nicht nur als Teil der palästinensischen Community, sondern als Mensch, der an grundlegende Werte glaubt: an Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde für alle. Wenn wir über Palästina sprechen, sprechen wir über Menschen – über Kinder, Eltern, Großeltern, über Familien wie meine eigene, deren Leben durch Gewalt, Vertreibung, Unterdrückung und Besatzung geprägt wurde. Vor einigen Wochen wurde die Wohnung meiner Schwester im Süden des Libanons durch einen Luftangriff zerstört. Ein Ort voller Erinnerungen und Geborgenheit ist verloren gegangen. Doch diese Erfahrung ist kein Einzelfall. Sie steht für das Schicksal von Millionen Palästinenser* innen in Gaza, in der Westbank, in Flüchtlingslagern und im Exil –auch in Berlin. Berlin hat die größte palästinensische Community Europas, doch ihre Geschichte bleibt für die Mehrheit der Gesellschaft unbekannt und ungehört. Dabei dürfen solche Geschichten niemals als normal betrachtet werden.

Heute, wo die Waffen vorerst schweigen, müssen wir uns fragen: Was kommt jetzt? Ein Waffenstillstand ist kein Frieden. Denn er beseitigt nicht die Ursachen des Konflikts. Echter Frieden entsteht nur, wenn alle Menschen in der Region gleiche Rechte haben, ohne Besatzung leben, frei von Angst leben können und nicht länger entmenschlicht werden, sei es durch Bomben, Blockaden oder Worte.

Deutschlands grausame Geschichte hat mich von klein auf geprägt und sie zerreißt mir das Herz. Ich trage keine Schuld an ihr. Die Palästinenser*innen tragen keine Schuld an ihr. Aber wir alle in dieser Gesellschaft tragen die Verantwortung, dass sich solche Verbrechen nie wiederholen.

Ich bin solidarisch mit meinen jüdischen Schwestern und Brüdern weltweit, die bis heute unter Antisemitismus leiden. Antisemitismus muss entschieden bekämpft werden. Genauso wie jede Form von Rassismus, sei es antipalästinensischer Rassismus oder antimuslimischer. In unserer Gesellschaft darf es dafür keinen Platz geben. (...) Verantwortung aus der Geschichte bedeutet nicht, neue Ungerechtigkeit zu schaffen. „Nie wieder“ muss für alle gelten, nicht nur für einige. Antisemitismus bekämpft man nicht, indem man Palästinenser*innen ihre Rechte nimmt oder ihre Geschichte verfälscht wie im Fall der Broschüre „Mythos 1948“. Ebenso ist es nicht akzeptabel, dass die palästinensische Flagge und andere Identitätssymbole kriminalisiert und stigmatisiert werden, während die israelische Flagge als alleiniges Symbol der Solidarität hochgehalten wird. (...)

Basem Said, deutsch-palästinensischer Aktivist und Pädagoge

Die wachsende Rolle Afrikas in der Weltpolitik

Afrikanische Staaten setzen auf innovative Ansätze wie Multilateralismus, Souveränität und Zusammenarbeit

Afrika gewinnt als globaler Akteur zunehmend an Einfluss. Beispiel dafür ist die Afrikanische Union. In einer zunehmend multipolaren Welt gewinnt der afrikanische Kontinent immer mehr an Bedeutung. Afrikanische Staaten und Organisationen wie die Afrikanische Union (AU) treten vermehrt als eigenständige Akteure auf und bringen sich aktiv in die Lösung globaler Herausforderungen ein.

Der Konflikt im Sudan

Der aktuelle Konflikt im Sudan, in dessen Verlauf sich SAF- und RSF-Truppen an Feindseligkeiten beteiligten, hat zu einer Verschärfung der humanitären Krisen, Zwangsvertreibungen und regionaler Unsicherheit geführt. Seit Beginn des Krieges im März 2023 wurden über 14.000 Menschen getötet. Über fünf Millionen Menschen wurden innerhalb des Landes und innerhalb der Nachbarländer, darunter Tschad, Ägypten und Südsudan, vertrieben. Die Klimakrise trägt mit dazu bei, dass die Ressourcen wie Nahrungsmittel, Wasser und Ackerland immer knapper werden. Mehr als 25 Millionen Menschen im Sudan leiden unter akutem Ernährungsmangel, 750.000 von ihnen sind stark von einer Hungersnot bedroht. Die Konflikte haben Gesundheitseinrichtungen zerstört und damit die humanitäre Krise verschärft.

Der Sudan ist größtenteils ein wüstenartiges Land mit großen Gebieten aus trockenem und halbtrockenem Land. Es zählt zu den Ländern mit dem höchsten Klimarisiko weltweit. Eine solche Situation provoziert einen Konflikt zwischen verschiedenen Interessengruppen, denen die notwendigen Ressourcen fehlen. All dies führt in Kombination mit dem Bevölkerungsdruck zu einer Verschlechterung der Umwelt und einem zusätzlichen Druck auf die Lebensgrundlagen.

Die regionalen Auswirkungen sind erheblich, da der Konflikt eine Bedrohung für den Frieden am Horn von Afrika und in der Sahelzone darstellt.

Tigray und Äthiopien

Das im November 2022 zwischen der äthiopischen Regierung und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) unterzeichnete Friedensabkommen beendete einen zweijährigen Konflikt, der Hunderttausende Menschenleben kostete. Es ist jedoch ein fragiler Frieden. Die Afrikanische Union war unter Führung ihres Gesandten am Horn von Afrika, Olusegun Obasanjo, maßgeblich an den Verhandlungen um das Friedensabkommen beteiligt und hat damit gezeigt, dass sie in Konfliktländern für Frieden vermitteln kann.

Allerdings schränken die fehlende Finanzierung die Chancen der AU ein, die Konsolidierung von Abkommen und einen nachhaltigen Friedensaufbau zu gewährleisten. Kritiker*innen haben erklärt, dass die AU und andere europäische Institutionen nicht genug tun, um sich für die Ausarbeitung des Pretoria-Abkommens einzusetzen. Sie argumentieren, dass es in Äthiopiens keinen Frieden geben kann, solange es keine dritte Partei gibt, die sowohl die äthiopische Regierung als auch die tigrayischen Streitkräfte an den Verhandlungstisch zwingen kann.

Instabilität in der Sahelregion

In der Region kam es seit Anfang der 2000er Jahre zu einem Anstieg dschihadistischer Aufstände, Militärputsche und einer Schwächung der Autorität nationaler Regierungen. Sie haben die westafrikanische Region instabil gemacht und Konflikte haben zur Vertreibung von über 2,5 Millionen Menschen geführt. Trotz der

Friedensmissionen in der Region hat die Gewalt durch Dschihadisten und Putsche in den letzten Jahren stetig zugenommen.

Dies wirft einen dunklen Schatten auf das Schicksal dieser einst wohlhabenden Region. Offenkundige staatliche Korruption, ineffiziente Politik und Schwächen in der staatlichen Leistungsfähigkeit schaffen ein günstiges Umfeld für den Aufstieg dschihadistischer Gruppen. Sie schlagen aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihren unfähigen Regierungen Kapital und bilden parallele lokale Regierungen. Ihnen ist es gelungen, sich als Alternative – zu unfähigen Regierungen – zu etablieren.

Durch den Rückzug der Europäer, insbesondere Frankreichs, wurde außerdem der Weg für andere ausländische Gruppen frei gemacht, darunter die russischen WagnerSöldner.

In Niger haben die westlichen Mächte ihre militärische und finanzielle Unterstützung zurückgezogen und die Militärjunta nach dem Putsch im Jahr 2023, bei dem der demokratisch gewählte Präsident Mohamed Bazoum gestürzt wurde, als illegitim bezeichnet.

Kleinwaffen und leichte Waffen

Kleinwaffen haben erhebliche Auswirkungen auf Konflikte im globalen Süden, da sie die Gewalt eskalieren und zu zivilen Opfern führen. Strengere Gestze und eine verstärkte internationale Zusammenarbeit sind daher unerlässlich, um die Verbreitung von Kleinwaffen zu bekämpfen. Dazu gehört die internationale Kontrolle von Waffentransfers und die Unterstützung von Abrüstungsinitiativen, die für die Förderung von Frieden und Sicherheit in den betroffenen Regionen von entscheidender Bedeutung sind.

Das globale Wettrüsten

Das globale Wettrüsten wird durch den geopolitischen Wettbewerb zwischen den Großmächten angeheizt und schadet den Entwicklungsländern durch Stellvertreterkonflikte. Sudan und Jemen sind Paradebeispiele, wo Waffenlieferungen der Staaten des globalen Nordens Konflikte verlängert haben. Die Folge sind Massenvertreibungen, Hungersnöte und eine Verschlechterung der Lebensbedingungen.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Waffenhandels auf Entwicklungsländer sind erheblich. Eine Studie des Journal of Public Health Policy zeigt, dass Militärausgaben Ressourcen von lebenswichtigen Sektoren wie Gesundheit und Bildung abziehen und so Entwicklung und öffentliches Wohlergehen untergraben. In ähnlicher Weise betont Amnesty International, dass die für Waffenimporte bereitgestellten Mittel oft auf Kosten von Infrastruktur- und Armutsbekämpfungsinitiativen gehen, wodurch Millionen Menschen keinen Zugang zu lebenswichtigen Dienstleistungen haben. Das Wettrüsten stärkt autoritäre Regime in den Entwicklungsländern.

Neue diplomatische Initiativen des Südens

Neue diplomatische Initiativen spiegeln die wachsende Rolle des globalen Südens bei der Vermittlung von Konflikten wider und betonen Neutralität und Dialog. Der chinesisch-brasilianische Friedensplan für die Ukraine ist ein Beispiel für diesen Trend. Er verbindet Chinas globalen wirtschaftlichen Einfluss mit Brasiliens Tradition der Blockfreiheit, um gemeinsam für eine Verhandlungslösung einzutreten. Diese Initiative stellt traditionelle Machtdynamiken in Frage, indem sie Deeskalation und multilateralen Dialog gegenüber unilateralen Interventionen priorisiert.

Ebenso beweist die Afrikanische Union (AU) weiterhin ihre Fähigkeit, Konflikte innerhalb und außerhalb des Kontinents zu lösen. Ihre Vermittlungsbemühungen im Tigray-Konflikt in Äthiopien und im Sudan

NATIONALE KONFERENZ FÜR FRIEDENSFÖRDERUNG UND KONFLIKTMANAGEMENT IM SEPTEMBER 2024 IN ABUJA, NIGERIA

unterstreichen ihre Fähigkeit, regionale Stabilität zu fördern. Sie steht jedoch vor der Herausforderung, sich gegen die imperialen, geopolitischen Interessen der USA, Chinas und Russlands behaupten zu können. Afrika fordert deshalb auch zwei ständige Sitze im UN-Sicherheitsrat.

Indem der globale Süden sich für Multilateralismus, Respekt vor Souveränität und innovative Zusammenarbeit einsetzt, hat er das Potenzial, die internationale Konfliktlösung neu zu definieren und eine ausgewogenere Weltordnung zu fördern.

Atomwaffenfreie Zonen und Afrikas Führungsrolle

Afrikas Führung durch den Vertrag von Pelindaba war von entscheidender Bedeutung für die globale Abrüstung, insbesondere für die Weiterentwicklung des Vertrags zum Verbot von Atomwaffen (AVV). Der 1996 verabschiedete Vertrag Pelindaba etablierte eine atomwaffenfreie Zone und demonstrierte damit das Engagement des Kontinents zur Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen. Die afrikanischen Staaten haben den AVV seit seiner Verabschiedung im Jahr 2017 aktiv unterstützt und die Menschen über die humanitären Folgen der Entwicklung, Produktion, Lagerung und eines Einsatzes von Atomwaffen aufgeklärt. Die Afrikanische Union setzt sich dafür ein, dass die Mitgliedstaaten den Vertrag unterzeichnen und ratifizieren.

Zivilgesellschaft und Interessenvertretung

Internationale und lokale NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung von Friedenskonsolidierungsmaßnahmen in Nachkonfliktgesellschaften. Internationale NGOs haben die Aufgabe,

Programme zur Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung zu initiieren, die Frieden, Sicherheit und langfristige Stabilität fördern. Im Nordosten Nigerias beispielsweise wurde ein Programm ins Leben gerufen, um das Konfliktmanagement auf Gemeinde-, Staats- und Zivilgesellschaftsebene zu verbessern. Lokale Friedenskomitees haben in jüngster Zeit unter dem Begriff „Local Turn“ an Bedeutung gewonnen. Dabei werden GrassrootsInitiativen zur Friedenskonsolidierung von lokal ansässigen Agenturen unterstützt, die darauf abzielen, Konflikte auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene anzugehen.

Wir entfernen uns von der alten Erzählung, dass von Jugendlichen hauptsächlich Gewalt ausgehe – hin zu einer neuen Wahrnehmung, dass sie eine wertvolle Ergänzung der Friedensmission sind. So erkennen beispielsweise junge ehemalige Kombattanten, die ins Zivilleben zurückkehren, ihre entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung des Friedensprozesses.

Die Bewältigung von Krisen erfordert regionale Zusammenarbeit, die Bereitschaft zur friedlichen Konfliktlösung, landwirtschaftliche Investitionen und Programme zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit. Gemeinsam können diese Bemühungen sofortige humanitäre Hilfe leisten und gleichzeitig die langfristige Stabilität und Nahrungsmittelsicherheit in gefährdeten Regionen fördern.

Ein Artikel von Ärzt*innen der Medizinischen Fakultät der Moi-Universität Eldoret (Kenia): Bonventure Machuka, Haron Guchu Gitau, Kelvin Samuria, Sheryl Nam, Samuel Macharia, Kelvin Samuria, Emmanuel Gudu, Faith Nelima und Ryan Osano.

Zuerst erschienen am 5.2.25 bei Telepolis.

Geflüchtete

aus

Syrien:

Wo liegt unsere soziale Verantwortung?

Syrer*innen im Exil sollten ihre Entscheidungen ohne Druck treffen können

Bei ihrem Besuch in Syrien nach dem Sturz Assads sagte Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze: „Die Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf und Strom, ein funktionierendes Gesundheitssystem, die Kinder müssen zur Schule gehen.“ Bei dem Wiederaufbau müsse Deutschland helfen... – wie geht dieser Satz weiter?

Weil die Not so groß ist? Nein: damit nicht nur Hilfen aus Russland oder China kämen.

Das kleine Zitat aus der TAZ vom 24. Januar 2025 wirft ein bezeichnendes Licht auf die schiefe Diskussion um die weitere Entwicklung in Syrien und um die Rückkehrdebatte in Deutschland. Es geht nur um Deutschland und deutsche Interessen. Im Zentrum steht dabei nicht ein humanitärer Gedanke sondern wir, unsere Befindlichkeiten, unser Einfluss, unsere Stellung im globalen Wettbewerb und der Nutzen, den Deutschland aus den Geflüchteten zieht im Hinblick auf die demographische Entwicklung, die Beschäftigung im Gesundheitswesen und in anderen Mangelberufen.

Baschar al Assad war noch nicht in Moskau gelandet, da entfachte sich hier schon eine beschämende Debatte darüber, ob und wann syrische Geflüchtete Deutschland denn nun verlassen könnten. Politiker*innen verschiedener Parteien stimmten mit populistischen Forderungen nach schnellen Abschiebungen in den migrationsfeindlichen Wahlkampf ein, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF setzte umgehend die Bearbeitung aller Anträge auf Schutz und Asyl syrischer Staatsbürger*innen aus. Die Aussagen zahlreicher Politiker*innen zeigten erneut, wie wenig Personen mit Fluchtgeschichte in diesem Land als Menschen mit Würde und Urteilsvermögen wahrgenommen, geschweige denn als Mitglieder unserer Gesellschaft wertgeschätzt werden.

Empathie? Fehlanzeige!

Der Bürgerkrieg in Syrien hat große Zerstörungen hinterlassen. Viele Millionen Menschen sind im Land vertrieben worden. Etliche leben noch in Zeltlagern oder unter katastrophalen Bedingungen in den Städten. So ist zum Beispiel der Stadtteil Jaramana in Damaskus von 500.000 Menschen 2011 auf jetzt 3,5 Millionen Menschen angewachsen, die beengt in viel zu wenigen Wohnungen zusammenrücken (so Tareq Alaows von ProAsyl). Weitere Millionen Menschen sind in die Nachbarländer geflohen, in den Libanon (785.000), nach Jordanien (640.000), den Irak (273.000) nach Ägypten (156.000) und 3,1 Millionen in die Türkei. Im reichen Deutschland lebt eine knappe Million Menschen aus Syrien, davon 712.000 mit Fluchtmerkmalen, 161.000 sind eingebürgert, 81.500 habeneine Niederlassungserlaubnis. 75.000 Asylanträge von Syrer*innen sind anhängig und harren der Bearbeitung. Deren Aussetzung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führt zu noch längeren Wartezeiten und Verunsicherung.

Die Lage in Syrien ist weiter instabil und die Entwicklung nicht vorauszusehen. Die neuen Machthaber waren noch vor kurzem als Terroristen eingestufte Islamisten. Dennoch machte die deutsche Außenministerin Baerbock gemeinsam mit

ihrem französischen Kollegen den neuen Machthabern direkt nach dem Umsturz ihre Aufwartung, um die Einflussmöglichkeiten der Europäischen Union zu sichern. Die Bilanz der neuen Regierung in Idlib ist durchwachsen und macht eher Sorgen. Sie stehen vor großen Herausforderungen. 80 Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Binnenvertriebenen machen sich auf den Weg in ihre Herkunftsregionen, aus den Nachbarländern kehren viele Menschen zurück, die noch in Flüchtlingslagern und ohne Perspektive dort leben.

Im Nordosten gibt es weiter militärische Auseinandersetzungen. Die Türkei und mit ihr verbündete islamistische Gruppen greifen die Autonomieregion DAANES an, zerstören wichtige Infrastruktur und treiben weitere Menschen in die Flucht. Im Süden auf den Golanhöhen kämpft das israelische Militär und besetzt Häuser und Felder der drusischen Bevölkerung.

Seit 2011 sind Syrerinnen und Syrer vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen. Auch 2024 waren sie neben den Afghan*innen die größte Gruppe. Ihre Anerkennungsquote liegt bei 99 Prozent. In den letzten Jahren wurde ihnen jedoch meist nur ein subsidiärer Schutz zugesprochen, der z.B. den Familiennachzug erschwerte. Oft kamen Männer zunächst alleine, ihre Familien blieben in Syrien, im Libanon, in der Türkei zurück. Bis Frauen und minderjährige Kinder nachkommen konnten, vergingen oft viele Jahre. Der Weg, in Deutschland anzukommen und sich hier ein neues Leben aufzubauen, ist lang und steinig. Nach sieben Jahren sind mehr als 60 Prozent der Geflüchteten aus Syrien erwerbstätig, vorwiegend in

Mangelberufen wie z.B. im Gesundheitswesen. Die syrische Gesellschaft für Ärzte und Apotheker in Deutschland zählte Ende 2023 5.758 Ärzt*innen mit syrischer Staatsangehörigkeit. Nicht erfasst sind dabei Ärzt*innen, die inzwischen eingebürgert sind und nicht in die Statistik eingehen. Inklusive der Ärzt*innen im Anerkennungsprozess und der Eingebürgerten wird ihre Zahl auf 15.000 bis 20.000 geschätzt. Die Kinder gehen hier in die Schule oder sind in Ausbildung und haben gute Chancen auf ein berufliches Weiterkommen. 2023 besuchten 206.000 syrische Schüler*innen eine allgemeinbildende Schule in Deutschland, weitere 56.000 eine Berufsschule. Syrische Frauen arbeiten vor allem in sozialen und kulturellen Dienstleistungen, etwa als Erzieherinnen (28 %) oder im Gesundheitswesen (18 %). Frauen sind deutlich seltener erwerbstätig, da sie in erster Linie Familienaufgaben wahrnehmen, so der Mediendienst Integration.

Aus Gesprächen mit den Syrer*innen in meiner Gemeinde weiß ich, dass sie froh sind über den Sturz Assads. Sie können die neue Situation noch nicht einschätzen. Sie sind in Sorge wegen der Abschiebediskussion. Viele hoffen, dass sie bald ihre Familien und Freund*innen wiedersehen können. Sie überlegen, wie sie am besten zum Wiederaufbau ihrer Heimat beitragen können – was das beste ist für ihre Kinder, die hier zur Schule gehen und oft keine Erinnerung an Syrien haben. Jeder, der die Voraussetzungen erfüllt, stellt einen Einbürgerungsantrag. Die Bearbeitungszeit ist aber wegen der Überlastung der Behörden lang – vielleicht zu lang bei der rasanten Verschlechterung der Aufenthaltsperspektive.

Innenministerin Nancy Faeser hat jetzt in Aussicht gestellt, dass es einen auf 14

SYRISCHE STAATSBÜRGER*INNEN IN DEUTSCHLAND NACH AUFENTHALTSSTATUS

Tage begrenzten Orientierungsbesuch in Syrien geben könnte, ohne dass Geflüchtete ihren Schutzstatus verlieren. Der türkische Präsident genehmigt einem Familienmitglied sogar drei Orientierungsbesuche. Und dann? Haben sie dann die Entscheidungsmöglichkeit, in Deutschland zu bleiben?

Nach dem Friedensvertrag von Dayton gab es eine ähnliche Abschiebediskussion, noch bevor die Tinte unter dem Vertrag getrocknet war. Damals wurde den bosnischen Geflüchteten auch ein Orientierungsbesuch erlaubt. Wenn sie dabei aber zu dem Schluss kamen, dass es in Bosnien für sie und ihre Familien keine Perspektive gab, mussten sie trotzdem ausreisen. Nur wenige konnten damals mithilfe von Flüchtlingsorganisationen bleiben – meist, weil es schwere Erkrankungen bei einem Familienmitglied gab. Viele, fast 50.000, sind zum Teil schweren Herzens nach einer langen Untersuchungsprozedur in den USA gelandet – natürlich nur die, die jung und arbeitsfähig waren und Kinder hatten. Viele waren darüber nicht glücklich, wären lieber in Europa geblieben, wo sie näher bei ihren in Bosnien zurückgebliebenen Eltern gewesen wären. Es gab damals keine Perspektive für sie in Deutschland, obwohl einige mittelständische Betriebe ohne sie zusammengebrochen sind, vor allem in Baden-Württemberg. Das „Spiel mit dem Geschachere von vielen Tausend Menschen beginnt nun von Neuem“ – so Ernst-Ludwig Iskenius (IPPNW), der damals viele Bosnier*innen begleitet hat.

Ist es nicht angesichts der großen Zerstörungen und der Not der syrischen Bevölkerung sinnvoller, hier sein sicheres Leben zu behalten und die Menschen vor Ort von hier aus zu unterstützen? Wie kann ich z.B.

als Arzt/Ärztin beim Aufbau des syrischen Gesundheitswesens mithelfen, ohne die Sicherheit hier aufzugeben? Oder sind das Heimweh und die Verbundenheit mit der Heimat größer als meine Verantwortung für meine Kinder und ihre Zukunft?

Noch ist die Lage in Syrien unübersichtlich und die weitere Entwicklung unsicher. Die internationale Gemeinschaft ist gefragt, für sichere Rahmenbedingungen zu sorgen, unter denen die Bevölkerung selbst über ihr weiteres Schicksal verhandeln und entscheiden kann. Nur eine Beteiligung aller ethnischen, religiösen und gesellschaftlichen Gruppen an einer neuen Regierung und Verfassung wird zu Frieden führen. Einmischung von außen sollte unterbleiben. Wozu sie führt, zeigt sich in Afghanistan, in Libyen, im Irak und anderswo.

Ebenso sollten die Syrer*innen im deutschen Exil ohne Druck ihre Entscheidungen treffen können. Besuche bei Freund*innen und Familie in Syrien dürfen nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechtes in Deutschland führen. Es ist wichtig, dass sie vor Ort prüfen können, welche Möglichkeiten sie haben und wie sie zum Frieden und zur Stabilität in ihrer Heimat beitragen können. Wenn sich die Situation in Syrien zum Guten entwickelt, werden viele zurückgehen – auch viele, die uns fehlen werden. Das sollte aber allein ihre freie Entscheidung sein.

Dr. Gisela Penteker ist Mitglied des IPPNW-Arbeitskreises Flüchtlinge und Asyl.

Die Auswirkungen von Atomwaffen auf Kinder

Ein Report der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN)

Atomwaffen sind dazu bestimmt, Städte zu zerstören, ganze Bevölkerungen und Bevölkerungsgruppen zu töten, darunter auch Kinder. Bei einem Atomangriff ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder sterben oder schwere Verletzungen erleiden, größer als bei Erwachsenen, weil sie empfindlicher auf die Auswirkungen von Atomwaffen – Hitze, Explosion und Strahlung – reagieren. Die Tatsache, dass Kinder in ihrem Überleben von Erwachsenen abhängig sind, bedeutet für sie auch ein höheres Risiko, nach einem Atomangriff zu sterben und in Not zu geraten, da ihre Unterstützungssysteme zerstört sind.

Zehntausende von Kindern wurden getötet, als die USA 1945 zwei nach heutigem Standard relativ kleine Atomwaffen über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki abwarfen. Viele Menschen wurden auf der Stelle zu Asche und Dampf. Andere starben unter Qualen Minuten, Stunden, Tage oder Wochen nach den Angriffen an Verbrennungen, Explosionsverletzungen oder an der akuten Strahlenkrankheit. Unzählige weitere starben Jahre oder sogar Jahrzehnte später an strahlenbedingten Krebserkrankungen und anderen Krankheiten. Vor allem erkrankten viele Menschen, die zum Zeitpunkt der Explosionen Kinder oder Jugendliche waren, später an Leukämie.

In Hiroshima und Nagasaki waren die Szenen der Verwüstung apokalyptisch. (…) In einigen der Schulen in der Nähe des Explosionsortes war die gesamte Schülerschaft von mehreren Hundert Kindern innerhalb eines Augenblicks tot. In anderen gab es nur wenige Überlebende. In Hiroshima arbeiteten am Morgen des Angriffs Tausende von Schüler*innen im Freien, um Brandschneisen zu schlagen. Etwa 6.300 von ihnen wurden getötet.

Die Kinder, die durch Zufall dem Tod entkamen, trugen für ihr ganzes Leben schwere körperliche und seelische Narben davon. Das, was sie am 6. und 9. August 1945 und in den Tagen danach gesehen und erlebt haben, hat sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Tausende von Kindern verloren einen oder beide Elternteile und auch Geschwister. Einige von ihnen wurden auf der Straße zurückgelassen, denn die Waisenhäuser waren überlastet.

Viele Ungeborene, die sich zum Zeitpunkt der Atombombenabwürfe im Mutterleib befanden, wurden durch die ionisierende Strahlung ebenfalls geschädigt. Sie hatten ein höheres Risiko, kurz nach der Geburt zu sterben oder an angeborenen Anomalien wie Hirnschäden und Mikrozephalie zu leiden sowie im späteren Leben an Krebs und anderen Krankheiten.

Bei schwangeren Frauen in Hiroshima und Nagasaki gab es außerdem eine höhere Rate an Fehl- und Totgeburten. In Gemeinschaften auf der ganzen Welt, die dem Fallout von Atomtests ausgesetzt waren, haben Kinder ähnliche Strahlenschäden erlitten.

Seit 1945 haben Atomwaffenstaaten über 2.000 Atomtests an Dutzenden von Orten durchgeführt und dabei radioaktives Material weiträumig verstreut. Von der allgemeinen Bevölkerung sind Kinder und Kleinkinder am stärksten betroffen, da sie für die Auswirkungen ionisierender Strahlung besonders anfällig sind. Bei Kleinkindern ist das Risiko, bei einer bestimmten Strahlendosis langfristig an Krebs zu erkranken, drei- bis fünfmal höher als bei Erwachsenen. Mädchen sind dabei besonders gefährdet.

Auf den Marshallinseln, wo die USA 67 Atomtests durchführten, spielten Kinder in der radioaktiven Asche, die vom Himmel fiel, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein. Sie nannten ihn „BikiniSchnee“ – eine Anspielung auf das Atoll, wo viele der Tests stattfanden. Er verbrannte ihre Haut und Augen, und sie entwickelten schnell Symptome akuter Strahlenkrankheit.

Jahrzehnte nach den Tests brachten die Frauen auf den Marshallinseln in ungewöhnlich hoher Zahl schwer missgebildete Kinder zur Welt. Diejenigen, die lebend geboren wurden, überlebten selten mehr als ein paar Tage. Einige hatten eine durchscheinende Haut und keine erkennbaren Knochen. Man nannte sie „Quallenbabys“, denn sie waren kaum als Menschen zu erkennen. Ähnliches berichteten Menschen, die in Windrichtung oder flussabwärts von Atomtestanlagen in den USA, Kasachstan, Ma‘ohi Nui, Algerien, Kiribati, China, Australien und anderswo leben.

Wir haben die kollektive moralische Pflicht, das Andenken an Tausende von Kindern zu bewahren, die in Hiroshima und Nagasaki getötet wurden – ebenso wie an jene, die durch die Entwicklung und Erprobung von Atomwaffen weltweit zu Schaden kamen. Und wir müssen das Ziel einer atomwaffenfreien Welt mit Entschlossenheit und Dringlichkeit verfolgen, damit es nicht noch mehr Opfer gibt, weder junge noch alte.

Nach dem humanitären Völkerrecht und der UN-Kinderrechtskonvention sind die Regierungen rechtlich verpflichtet, Kinder vor Schaden in bewaffneten Konflikten zu schützen. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, ist es zwingend erforderlich, dass sie jetzt zusammenarbeiten, um die Geißel der Atomwaffen aus der Welt zu schaffen.

In unserem Report beschreiben wir anhand der Erfahrungen von Kindern in Hiroshima und Nagasaki und von Kindern, die in der Nähe von Atomtestgeländen leben, wie schädlich Atomwaffen für Kinder sind. Wir berichten aus erster Hand und schildern, wie Atomwaffen ihr Leben beeinträchtigen. Und wir erläutern, wie die allgegenwärtige Angst vor einem Atomkrieg – die Möglichkeit, dass jederzeit ganze Städte zerstört werden könnten – bei Kindern psychische Schäden verursacht.

NAGASAKI, 10 AUGUST 1945: EIN VATER SUCHT NACH EINEM ARZT FÜR SEIN VERLETZTES BABY.

Abschließend richten wir einen dringenden Appell an alle Regierungen, heutige und künftige Generationen von Kindern durch die Abschaffung von Atomwaffen zu schützen, und zwar durch den UN-Atomwaffenverbotsvertrag, der 2021 in Kraft getreten ist.

Wichtigste Erkenntnisse des Reports:

Solange es Atomwaffen auf der Welt gibt, besteht ein reales Risiko, dass sie wieder eingesetzt werden, und dieses Risiko scheint gegenwärtig zuzunehmen. Im Falle eines Atomwaffeneinsatzes ist es so gut wie sicher, dass viele Tausende – vielleicht sogar Hunderttausende Kinder – unter den Toten und Verletzten zu finden wären. Sie wären auf besondere Weise und viel stärker betroffen als der Rest der Bevölkerung.

Bei einem atomaren Angriff wäre die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder sterben, größer als bei Erwachsenen, denn sie würden:

» an Verbrennungen sterben, da ihre Haut dünner und empfindlicher ist und tiefer, schneller und bei niedrigeren Temperaturen verbrennt;

» an Explosionsverletzungen sterben, da ihr kleinerer Körper empfindlicher ist;

» an akuter Strahlenkrankheit sterben, da sie mehr Zellen haben, die schnell wachsen und sich teilen, und daher wesentlich anfälliger für Strahlungseffekte sind;

» Jahre später an Leukämie, soliden Krebsarten, Schlaganfällen, Herzinfarkten und anderen Krankheiten leiden, weil die Strahlung ihre Zellen geschädigt hat;

» Entbehrungen in der Zeit nach den Angriffen sowie psychische Traumata erfahren, sowie psychische Störungen bis hin zum Selbstmord.

» Kinder sind nicht in der Lage, sich aus eingestürzten und brennenden Gebäuden zu befreien oder andere Maßnahmen zu ergreifen, die ihre Überlebenschancen erhöhen würden.

Darüber gibt es bei Ungeborenen ein höheres Risiko für:

» einen frühzeitigen Tod;

» Mikrozephalie, begleitet von geistiger Behinderung, da das sich entwickelnde Gehirn besonders anfällig für Strahlenschäden ist;

» andere Entwicklungsanomalien;

» Wachstumsstörungen aufgrund der verminderten Funktion der Schilddrüse und

» Krebserkrankungen und andere strahlenbedingte Krankheiten in der Kindheit oder im späteren Leben.

Diese erschreckenden Tatsachen sollten tiefgreifende Auswirkungen auf die Politik in den Ländern haben, die derzeit Atomwaffen besitzen oder die ihre Beibehaltung im Rahmen von Militärbündnissen unterstützen. Sie sollten auch Organisationen, die sich für den Schutz von Kindern und die Förderung ihrer Rechte einsetzen, dazu veranlassen, sich mit der ernsten globalen Bedrohung durch Atomwaffen zu befassen. Kinder waren nicht an der Entwicklung dieser Weltuntergangswaffen beteiligt. Doch sie sind es, die im Falle ihres künftigen Einsatzes am meisten leiden würden – einer der unzähligen Gründe, warum diese Waffen dringend abgeschafft werden müssen.

Den ICAN-Report „The Impact of Nuclear Weapons on Children“ finden Sie unter: www.icanw.org/children

Warnhinweis: Der Bericht enthält u.a. Darstellungen schwerer Gewalt gegen Kinder, die verstörend wirken können.

Tim Wright ist Vertragskoordinator der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) und fördert den Beitritt von Staaten zum Atomwaffenverbotsvertrag. Er unterstützt ICAN, seit die Kampagne 2006 in Australien gegründet wurde.

Wie der Fukushima-Fallout in Tokio vor der Öffentlichkeit geheimgehalten wurde

Die Veröffentlichung der Studienergebnisse von Satoshi Utsunomiya wurde jahrelang hinausgezögert

Der japanische Radiochemiker Satoshi Utsunomiya stellte fest, dass Luftproben vom 15. März 2011 in Tokio eine sehr hohe Konzentration an unlöslichen Cäsium-Mikropartikeln enthielten. Er erkannte sofort die Tragweite dieser Ergebnisse für die öffentliche Gesundheit, doch seine Studie wurde jahrelang nicht veröffentlicht.

Am 14. und 15. März 2011 – drei Tage nach dem großen Erdbeben im Osten Japans und dem daraus resultierenden Tsunami, der das AKW Fukushima traf – setzten Explosionen in zwei Reaktorgebäuden des Kraftwerks eine riesige Menge Radioaktivität frei. Diese radioaktiven Wolken wurden vom Wind fortgetragen und breiteten sich über der Umgebung und dem Meer aus. Schließlich verteilte sich die von den Reaktoren in Fukushima ausgehende Strahlung über die gesamte nördliche Hemisphäre. Sie erreichte auch Japans Hauptstadt Tokio. Nach den Explosionen begannen japanische Forscher*innen damit, radioaktives Material aus dem Boden und der Luft zu sammeln und zu untersuchen, um herauszufinden, was in den Reaktoren geschehen war, von denen man nun annahm, dass sie aufgrund des Ausfalls ihrer Kühlsysteme geschmolzen waren. Am 13. März begann das Tokyo Metropolitan Industrial Technology Research Institute, die für die Messung der Luftqualität von Feinstaub in der Region Tokio zuständige Behörde, häufiger Luftproben zu sammeln. Diese Maßnahme war Teil des Notfallüberwachungsprogramms der Stadtregierung von Tokio für radioaktive Strahlung in der

Umwelt, das darauf abzielte, Gammastrahlung emittierende Nuklide im Staub in der Luft nachzuweisen. Die Filter zeigten, dass am 15. März 2011 gegen 10 Uhr vormittags eine große radioaktive Wolke Tokio erreichte, etwa 240 Kilometer südlich von Fukushima. Alle am 14. und 15. März entnommenen Proben wiesen erhöhte Radioaktivität auf.

Zwei Jahre nach dem Unfall entdeckten japanische Wissenschaftler in der Sperrzone um das AKW Fukushima eine neue Art hochradioaktiver Mikropartikel. Die Mikropartikel, die aus den Reaktoren von Fukushima ausgestoßen worden waren, enthielten extrem hohe Konzentrationen von Cäsium 137 – einem radioaktiven Element, das Verbrennungen, akute Strahlenkrankheit und sogar den Tod verursachen kann. Satoshi Utsunomiya, ein Umweltradiochemiker von der Kyushu-Universität im Südwesten Japans, fand bald heraus, dass diese Partikel auch in Luftfilterproben vorhanden waren, die nach dem Unfall von Fukushima in Tokio entnommen wurden.

Die Kontroverse um seine Versuche, seine Ergebnisse zu veröffentlichen, hätte ihn fast seine Karriere gekostet und verhinderte, dass seine Ergebnisse vor den Olympischen Sommerspielen 2020 in Tokio in der japanischen Öffentlichkeit bekannt wurden. „Wir haben jetzt Messungen, die belegen, dass die Partikel über Bevölkerungszentren hinweggezogen sind und sich an bestimmten Orten abgelagert haben“, sagte mir Gareth Law, ein Radiochemiker von der Universität Helsinki. „Wir sollten die Frage beantworten.“

Schockierende Entdeckung

Im August 2013 berichteten vier Forscher des Meteorologischen Forschungsinstituts in Japan erstmals über eine neue Art von kugelförmigen, radioaktiven, cäsiumhaltigen Partikeln, die in den ersten Tagen des Unfalls in Fukushima ausgestoßen worden waren. Mikroskopaufnahmen zeigten, dass die Partikel, die radioaktives Cäsium enthielten, vollkommen kugelförmig waren. Wissenschaftler hatten bereits kugelförmige, cäsiumhaltige Partikel gefunden, aber diese waren anders. Sie waren größer und enthielten andere Elemente, darunter Sauerstoff, Silizium, Chlor, Mangan, Eisen und Zink. Am wichtigsten war jedoch, dass diese Partikel in Wasser unlöslich zu sein schienen.

Vor dieser Entdeckung waren den japanischen Wissenschaftlern die genauen physikalischen und chemischen Eigenschaften der radioaktiven Stoffe, die aus dem AKW Fukushima ausgestoßen wurden, nicht bekannt. „Die Leute dachten, dass diese Hotspots [auf Bodenproben] nur ein Beweis für die sehr hohe Konzentration von Wassertropfen seien, aber das war keine vernünftige Erklärung, da Cäsium schon immer dafür bekannt war, dass es sehr gut wasserlöslich ist“, so Satoshi. „Zu diesem Zeitpunkt waren wir ratlos.“

Für die neu entdeckten Gebilde prägten Satoshi und seine Kolleg*innen 2017 den Begriff „cäsiumreiche Mikropartikel“ (CsMPs), wie sie in der Forschung heute allgemein genannt werden. CsMPs waren bei früheren größeren Reaktorunfällen nicht festgestellt worden. Die Neugier des Umweltradiochemikers wurde auch durch

die einzigartigen Eigenschaften dieser Mikropartikel geweckt: Sie sind sehr klein, typischerweise zwei bis drei Mikrometer, in einigen Fällen sogar kleiner als ein Mikrometer. Und die Cäsiumkonzentration in jedem der Partikel ist im Verhältnis zu ihrer Größe sehr hoch.

Wissenschaftler vor Gericht

Zwischen 2016 und 2019 gab es eine kafkaeske Serie von Ereignissen rund um Satoshi und einen ehemaligen Forscher der Japan Atomic Energy Agency, der Satoshi die Luftfilterproben aus Tokio gab. Während dieser Ereignisse wurde Satoshis Forschungsarbeit nach einem Peer-Review-Verfahren von einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift zur Veröffentlichung angenommen. Die Zeitschrift verzögerte die Veröffentlichung der Arbeit jedoch um Jahre und entschied sich schließlich aufgrund mysteriöser Anschuldigungen wegen Fehlverhaltens, die sich als unbegründet herausstellten, gegen eine Veröffentlichung. Infolgedessen wurden Satoshis Ergebnisse nicht allgemein bekannt gemacht, wodurch die japanischen Behörden eine mögliche PR-Krise im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele in Tokio abwenden konnten. Aufgrund der Kontroverse um Satoshis Arbeit und der fehlenden Forschung zu den gesundheitlichen Auswirkungen dieser Partikel ist nach wie vor unklar, inwieweit die Einwohner Tokios infolge des Unfalls von Fukushima gefährlichen Strahlungswerten ausgesetzt waren.

Neue Risiken

In den ersten Tagen nach dem Unfall in Fukushima waren Radiochemiker*innen der Meinung, dass sich die Situation stark von der in Tschernobyl unterschied. Die drei Kernschmelzen in Fukushima wurden als energiearm eingestuft, was bedeutete, dass es nicht zu einer tatsächlichen Explosion der Reaktoren gekommen war, wie es in Tschernobyl der Fall war. Dies führte dazu, dass man davon ausging, dass wahrscheinlich keine radioaktiven Partikel aus den Reaktoren ausgetreten waren oder zumindest nicht in großen Mengen. Ein Großteil der frühen Forschung nach dem Unfall konzentrierte sich daher auf den traditionellen Ansatz der Umweltradiochemiker, Böden und Sedimente zu sammeln und Massenanalysen durchzuführen.

Erst nach der Entdeckung der cäsiumreichen Mikropartikel erkannten Forscher, darunter Satoshi, dass tatsächlich Partikel aus den Reaktoren ausgestoßen worden waren. Als sie jedoch die einzigartigen Merkmale und Eigenschaften von CsMPs besser verstanden, stellten sie fest, dass sie sich stark von dem allgemeinen Konzept des radioaktiven Cäsiums unterscheiden, das in löslicher Form in die Umwelt freigesetzt wird. Die Charakterisierung der Mikropartikel erforderte andere Techniken. Da sie bis vor kurzem unbekannt waren, bergen CsMPs neue Risiken, die von der Forschungsgemeinschaft und den Behörden noch immer unterschätzt werden. Da CsMPs so klein sind, in der Regel mit einem Durchmesser von zwei Mikrometern oder weniger, könnten sie sich möglicherweise in den Lungenbläschen festsetzen, wenn Menschen sie einatmen.

Forscher*innen nehmen an, dass CsMPs aufgrund ihrer langsamen Löslichkeit viel länger im Körper verbleiben können – sicherlich mehrere Monate, vielleicht sogar länger – im Vergleich zu Stunden oder Tagen bei suspendiertem Cäsium.

Viele der CsMPs, die am 15. März 2011 in der Stadt Tokio ankamen, sind wahrscheinlich inzwischen vom Regen weggespült worden, in die Kanalisation der Stadt und dann ins Meer gelangt. Aber in den Tagen und Wochen nach dem Unfall von Fukushima könnten viele Einwohner*innen von Tokio Mikropartikel eingeatmet haben. Darüber hinaus sind viele Hotspots von CsMPs immer noch über die Sperrzone von Fukushima verteilt.

Bei diesem Text handelt es sich um einen stark gekürzten Auszug aus dem Artikel: „How Fukushima’s radioactive fallout in Tokyo was concealed from the public“ – erschienen am 13.01.2025 im Bulletin of the Atomic Scientists – zu finden unter: ippnw.de/bit/tokio

François Diaz-Maurin ist Mitherausgeber des Bulletin of the Atomic Scientists.

Foto: Matthias Lambrech

SOLDATEN (35 UND 33 JAHRE ALT) IM „UNBROKEN“ CENTER, EINER REHA-SPEZIALKLINIK

ZWEI VERLETZTE

Kriegsversehrte in der Ukraine

Zwei Reha-Kliniken in Lwiw versorgen verletzte Soldat*innen

S eit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 hat der Krieg hunderttausende Menschen getötet. Noch mehr verloren Gliedmaßen und oder erlitten andere lebensverändernde Verletzungen.

Nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministeriums aus dem Dezember 2024 sind über 50.000 Menschen von Amputationen betroffen – die Universität der Bundeswehr München spricht von 100.000 Menschen.

„Manche Menschen haben doppelte, dreifache oder vierfache Amputationen. Sie alle brauchen Prothesen, manche werden auch einen Rollstuhl benötigen“, sagt Olga Rudnieva, Gründerin der orhopädischen Fachklinik „Superhumans“ in Lwiw. Viele Amputationen sind die Folge von Verzögerungen bei der Evakuierung aus dem Kampfgebiet: Der Beschuss kann so stark sein, dass es viele Stunden dauert, bis ein verwundeter Soldat in ein Krankenhaus gebracht wird. Mit mehr als einer Million Menschen an der Front werde die Ukraine „das Land der Menschen mit Behinderungen“ werden, so Rudnieva. „Wir wollen Behinderung normalisieren. Denn so wird unser Land nun mal in Zukunft aussehen. Die meisten Menschen, die wir behandeln, sollten eigentlich gar nicht mehr am Leben sein. Die Tatsache, dass sie noch leben, ist an sich schon ein Wunder.“

Aufgrund der Bedingungen auf den Schlachtfeldern in der Ukraine müssen Gliedmaßen oft schnell amputiert werden, um das Leben von Soldat*innen zu retten. „Die Schwere der Amputationen hinterlässt bei den Überlebenden oft Stümpfe, die eine Anpassung von Prothesen in normaler Größe nicht zulassen“, so der Orthopädietechniker Marko Gänsl, der Prothesen für Ukrainer*innen herstellt. Die Voraussetzungen für die Orthopädietechnik seien ganz anders als bei geplanten Operationen.

In Lwiw in der Westukraine werden kriegsversehrte Soldat*innen in zwei Kliniken behandelt – in dem im Juni 2022 eröffneten Zentrum „Unbroken“ und der im April 2023 eröffneten Klinik „Superhumans“. Kriegsversehrte werden meist mit multiplen Verletzungen eingeliefert: Hirnverletzungen, Brandwunden, Verlust der Sehkraft, fehlende Gliedmaßen. Die Kliniken arbeiten mit medizinischen Expert*innen und großen Prothesenherstellern aus der ganzen Welt zusammen. Sie widmen sich auch der physischen, psychologischen und psychosozialen Rehabilitation verletzter Militärs und Zivilpersonen. Ziel der Kliniken ist die gesellschaftliche Wiedereingliederung der Soldat*innen – doch es gibt viel zu wenige Plätze: Die Wartelisten für Therapieplätze sind lang.

Quellen: BBC / RBB / taz / Unbroken Center

Die schleichende Militarisierung der Medizin

Das Gesundheitswesen soll auf die Erfordernisse der Kriegsführung vorbereitet werden

Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit ist am 1. Januar 2025 der „Operationsplan Deutschland“ in Kraft getreten – ein tausendseitiger Strategieplan, erarbeitet seit 2023 unter der Federführung der Bundeswehr Er legt die verpflichtenden zivilen Unterstützungsleistungen für das Militär im Fall der Landes- und Bündnisverteidigung fest. Die Details unterliegen der Geheimhaltung. Vorausgegangen ist die neue „Nationale Sicherheitsstrategie“, die die Bundesregierung im Juni 2023 vorstellte. Diese bedeutete eine grundlegende Neuorientierung in der „Sicherheitspolitik“. Sie löste das Weißbuch von 2016 ab, das sich noch allein auf die Verteidigungspolitik beschränkte. Nun sollen alle Bereiche der Gesellschaft auf die Bedürfnisse des Militärs und die Erfordernisse der Kriegsführung ausgerichtet werden.

Verteidigungsminister Boris Pistorius formulierte: „Wir müssen kriegstüchtig werden“, und meint damit die Gesellschaft insgesamt. Der Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer forderte, der Zeitenwende müsse ein Mentalitätswechsel in Bundeswehr und Gesellschaft folgen. Inzwischen erfasst das Militärische große Bereiche gesellschaftlichen Lebens: Universitäten, Schulen, Forschungseinrichtungen – und macht selbst vor Kindersendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht halt. Besonders betroffen ist der Gesundheitsbereich, der im Verteidigungs- und Bündnisfall eine Schlüsselrolle spielt. Die Versorgung von Verwundeten wird zur gesamtstaatlichen Aufgabe. Vor kurzem verschickte der ärztliche Direktor des Bundeswehrkrankenhauses Ulm, Prof. Dr. Benedikt Friemert, einen Artikel an Kliniken bundesweit, um Chirurg*innen und Anästhesist*innen für die Landes- und Bündnisverteidigung zu sensibilisieren und auf mögliche Kriegsszenarien vorzubereiten.

Militarisierung auf Hochtouren

Im Sommer 2024 verabschiedete der Bundestag die neuen „Rahmenrichtlinien Gesamtverteidigung“ (RRGV), die jene aus dem Jahr 1989 ablösten. Deutlich wird hier der Schritt von der Friedenslogik der 1980/90-er Jahre zur aktuellen Kriegslogik vollzogen. Während 1989 Kriegsverhütung, Entspannung,

Dialog, Abrüstung und gemeinsame Sicherheit noch im Fokus standen – auch das verfassungsrechtliche Verbot einer Angriffskrieges wurde ausdrücklich erwähnt – dominiert in den neuen Rahmenrichtlinien die Kriegsertüchtigung. Die zivile und logistische Unterstützung der Streitkräfte soll sichergestellt werden. Kriegsprävention wird nicht mehr als Ziel benannt. Gemäß der neuen geostrategischen Rolle Deutschlands liegt der Fokus jetzt auf Bündnisverteidigung: „Deutschland ist nicht mehr Frontstaat, sondern dient den verbündeten Streitkräften im Herzen Europas als Drehscheibe. Hierfür bedarf sie der umfassenden Unterstützung der zivilen Seite. Daher werden Unterstützungsmaßnahmen der zivilen Seite für die Bundeswehr im äußeren Notstand jetzt auf verbündete Streitkräfte erweitert.“

In den ärztlichen Zeitschriften läuft die Diskussion über die Kriegsmedizin – offiziell „zivil-militärische Zusammenarbeit“ – auf Hochtouren. Ärzt*innen der Bundeswehr wird in den Fachzeitschriften ein breiter Raum eingeräumt. Das Hessische Ärzteblatt zeigte im Oktober 2024 einen Bergungspanzer der Bundeswehr auf dem Titelbild. Die Bundesärztekammer organisierte im Herbst 2024 eine Tagung mit dem Titel: „Bedingt abwehrbereit? Die Patientenversorgung auf den Ernstfall vorbereiten.“ Grafik:

ST. PETERSBURG 1914: IM WINTERPALAST WIRD DER NÄCHSTE VERWUNDETENTRANSPORT ERWARTET. DIE VERWUNDETEN FÜLLTEN ZUNÄCHST DIE PETERSBURGER KRANKENHÄUSER, DANN WURDEN SIE ZUSÄTZLICH IN PRIVATHÄUSERN UND HOTELS UNTERGEBRACHT UND ZULETZT AUCH IN DEM RIESIGEN PALAST.

Medizinische Versorgung im Bündnis- und Verteidigungsfall

Deutschland wäre im Bündnisfall sowohl das Aufmarschgebiet für NATO-Truppen als auch die Drehscheibe für verletzte Soldat*innen und Zivilist*innen. Die erwarteten Patientenzahlen, die von unserem Gesundheitswesen versorgt werden müssten, übersteigen alles, was wir von Katastrophen oder aus Pandemiezeiten kennen. Die Bundeswehr rechnet mit bis zu 1.000 verletzten NATO-Soldat*innen täglich, über Jahre hinweg. Zudem wird eine massive Flüchtlingswelle von verletzten Zivilist*innen erwartet. Dem stehen nur fünf Bundeswehrkrankenäuser mit 1.800 Betten gegenüber – eine Kapazität, die in zwei Tagen erschöpft wäre. Das zivile Gesundheitssystem müsste einen erheblichen Teil seiner räumlichen und personellen Ressourcen dem Militär zur Verfügung stellen. Groß wäre auch der Bedarf an medizinischer Rehabilitation. „Zahlen aus der Ukraine deuten darauf hin, dass aktuell in der Ukraine ca. 100.000 Amputierte behandelt werden müssen.“ Unser Gesundheitswesen wäre restlos überfordert.

Im Verteidigungsfall wäre die Zahl der Verletzten noch höher. Die Zahl verletzter Zivilist*innen wäre größer und die Versorgung erschwert durch die Zerstörung von Infrastruktur und Krankenhäusern, sowie durch verletztes oder getötetes medizinisches Personal.

Grundgesetz und Notstandsgesetzgebung

Der Bündnisfall könne zudem sehr schnell in einen Verteidigungsfall übergehen. Fest steht, dass das zivile Gesundheitssystem in erheblichem Maße einbezogen würde. Medizinisches Personal fehlt schon in Friedenszeiten. Unklar ist, wie dieser Bedarf gedeckt werden kann. Das lange angekündigte Gesundheitssicherstellungsgesetz soll dies regeln, doch das Grundgesetz steht im Weg. Eine umfassende Vernetzung ziviler und militärischer Akteure ist erst im Spannungsfall erlaubt. Für die Feststellung

des „Spannungsfalles“ ist eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag notwendig. Erst dann könnten Grundrechte, wie Art. 12 auf Berufsfreiheit außer Kraft gesetzt und Art. 12a aktiviert werden, das zivile und militärische Dienstverpflichtungen vorsieht, wenn der Personalbedarf auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden kann. Alle Sicherstellungsgesetze, die mit Grundrechtseinschränkungen einhergehen, können erst nach Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalles „entsperrt“ werden. Die zugrundeliegenden Notstandsgesetze wurden 1968 unter großen Protesten in die Verfassung aufgenommen. „Das Gesetz erscheint den meisten Bürgern dieses Staates als eine Art Verkehrsregelung bei Naturkatastrophen, während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine fast totale Mobilmachung enthält“, sagte damals der Schriftsteller Heinrich Böll in seiner Rede anlässlich eines Protestmarsches im Mai 1968 in Bonn.

Jetzt fordert der Expert*innenrat in seiner siebenten Stellungnahme „Gesundheit und Resilienz“ (12/2024) eine gesetzliche Regelung bereits vor Eintreten eines Spannungsfalles.

Medizinische Ethik und Kriegslogik im Rollenkonflikt

Ein Rollenkonflikt ist unvermeidlich, wenn ziviles medizinisches Personal in militärische Strukturen eingebunden wird. Während das Militär den eigenen Regeln der Kriegslogik folgt, ist das zivile Gesundheitssystem dem individuellen Patienten verpflichtet. Zwar unterscheidet sich die ärztliche Ethik in Zeiten bewaffneter Konflikte nicht von der ärztlichen Ethik im Frieden (Havanna Deklaration der World Medical Assimilation). „Nur dringliche medizinische Gründe rechtfertigen eine Bevorzugung in der Reihenfolge der Behandlung“ (Genfer Abkommen 1949, Art. 12). Auch gilt nach der Genfer Konvention die grundsätzliche Gleichbehandlung von Zivilist*innen und Kombattant*innen, auch denen des Gegners. Doch ob dies unter Kriegsbedingungen eingehalten werden wird, bleibt fraglich. Der Begriff „Triage“ kommt ursprünglich aus der Militärmedizin, wird aber heute hauptsächlich für die zivile Katas-

„Die ärztliche Ethik in Zeiten bewaffneter Konflikte unterscheidet sich nicht von der ärztlichen Ethik im Frieden.“
Havanna Declaration der World Medical Assembly
„Es gibt noch keinen guten Plan.“
Ralph

Hoffmann, Inspekteur des zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr, zum Verteidigungsfall

trophenmedizin verwendet. Es geht um die Priorisierung knapper medizinischer Hilfeleistung. In Kriegszeiten erhält Triage jedoch eine andere Bedeutung. Geraten medizinische Ethik und militärische Logik in Konflikt, hat das Militärische den Vorrang. Letztendlich geht es dann um die Einsatzfähigkeit der Soldat*innen.

Der Begriff „Atomkrieg“ wird vermieden

Atomwaffen sind zwar Teil vieler Militärstrategien, doch das Wort „Atomkrieg“ wird in fast allen Zivilschutzpapieren vermieden. Stattdessen ist von „größereren radioaktiven Zwischenfällen“, oder „CBRN-Lagen“ die Rede. Die frühere Bezeichnung „ABC Schutz“ (Atomare, Biologische und Chemische Gefahren) wurde vor einigen Jahren durch die internationale geschmeidigere Bezeichnung „CBRN-Schutz“ ersetzt (chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahren).

Die Empfehlungen der Strahlenschutzkommission für die Bevölkerung nach einem Atomwaffeneinsatz wirken hilflos: Die Menschen sollen sich 24-48 Stunden in geschlossenen Räumen aufhalten und beim Verlassen FFP2 oder FFP3-Masken tragen. Für die Erstversorgung von Strahlennotfallpatient*innen gibt die Strahlenschutzkommission widersprüchliche Empfehlungen: Lebensrettende Sofortmaßnahmen seien vorrangig vor allen strahlenbedingten Prozeduren durchzuführen. Andererseits seien längerdauernde Maßnahmen an Verletzten in einem hochverstrahlten Bereich zum Schutz der Einsatzkräfte und des Patienten zu unterlassen.

Nach der Explosion einer Atombombe kann, abgesehen von den gesundheitlichen Strahlenfolgen, schon allein die Zahl der Verbrennungspatient*innen nicht versorgt werden, wie die Erfahrungen von Hiroshima zeigten. Hier erlitten ca. 60.000 Menschen schwerste Verbrennungen. Die Zahl wäre bei den heutigen thermonuklearen Bomben noch sehr viel höher. Kein Gesundheitssystem der Welt könnte ein solches Szenario bewältigen.

Triage per App?

Während es keinen wirksamen Schutz der Zivilbevölkerung vor atomaren Gefahren gibt, forscht die Wehrmedizin an neuen Methoden wie der Biodosimetrie. Mittels einer Triage-App können aus einem Blutbild Rückschlüsse auf eine erhaltene Strahlendosis getroffen werden. Das ermöglicht dem Militär, auch bei noch nicht erkrankten Soldat*innen, die Einsatzfähigen von den nicht mehr Einsatzfähigen zu unterscheiden.

Die Proteste der 1980er Jahre

1981 plante schon einmal eine Bundesregierung ein Gesundheitssicherstellungsgesetz, das nach heftigen Protesten aus der Ärzteschaft zurückgezogen wurde. Kernpunkt war die verpflichtende Fortbildung für alle Ärzt*innen, die Triage für den Kriegsfall zu erlernen, insbesondere die Sichtung und Priorisierung von Verletzten im Falle eines Atomkrieges. „Wir werden Euch nicht helfen können“, war damals die zentrale Aussage der IPPNW.

Die Frankfurter Erklärung von 1982 hat bis heute für die IPPNW ihre uneingeschränkte Gültigkeit behalten.

Frankfurter Erklärung der IPPNW 1982

„Ich halte alle Maßnahmen und Vorkehrungen für gefährlich, die auf das Verhalten im Kriegsfall vorbereiten sollen. Ich lehne deshalb als Arzt jede Schulung oder Fortbildung in Kriegsmedizin ab und werde mich daran nicht beteiligen. Das ändert nichts an meiner Verpflichtung und Bereitschaft, in allen Notfällen medizinischer Art meine Hilfe zur Verfügung zu stellen und auch weiterhin meine Kenntnisse in der Notfallmedizin zu verbessern.

Da ein Krieg in Europa nach überwiegender Experten-Meinung unter Benutzung der modernen Massenvernichtungswaffen geführt werden würde, muss er absolut unmöglich gemacht werden. Jede Vorbereitungsmaßnahme indessen, die von seiner Möglichkeit ausgeht, fördert indirekt die Bereitschaft, sich auf etwas einzustellen, was um jeden Preis verhindert werden muss. Deshalb erkenne ich als Arzt nur eine einzige auf den Kriegsfall bezogene Form der Prävention an, nämlich die Verhütung des Krieges selbst mit allen Anstrengungen, zu denen ich mein Teil beizusteuern entschlossen bin.“

Quellen zu diesem Artikel finden Sie unter: ippnw.de/bit/militarisierung

Ute Rippel-Lau ist Vorstandsmitglied der IPPNW.

Falsche Sicherheit

Warum Atombunker keine Lösung sind

Seit in Europa wieder ein Krieg wütet, ist die Nachfrage nach privaten Atombunkern sprunghaft gestiegen. Der Berliner Anbieter BSSD spricht von einem „Amazon-Fieber“, bei dem Kund*innen Schutzräume bestellen, als würden sie online einkaufen –ohne Beratung, ohne lange Überlegung.

Auf den ersten Blick scheinen private Bunker eine sinnvolle Vorsorgemaßnahme. Anbieter werben mit Schutz vor Druckwellen, radioaktivem Fallout und autarker Energieversorgung. Der Gedanke, in einem abgesicherten Raum einer nuklearen Katastrophe zu trotzen, gibt vielen Menschen ein Gefühl der Kontrolle – doch wie realistisch ist das wirklich?

Die unmittelbare Zerstörungskraft einer Atombombe ist enorm. Im Zentrum der Detonation verdampft alles bei Temperaturen, die höher sind als die Oberfläche der Sonne. Selbst in mehreren Kilometern Entfernung wären Feuerstürme und Strahlenbelastung tödlich. Und die Vorwarnzeiten beim Einsatz von Atomwaffen sind kurz: Wer sich nicht bereits bei Alarm im Bunker befindet, wird kaum eine Chance haben, diesen rechtzeitig zu erreichen. Hinzu kommt, dass in einem Atomkrieg nicht davon auszugehen ist, dass in Ballungsräumen nur eine einzelne Atomwaffe explodiert. Vielmehr wären große Städte Ziel von multiplen Sprengköpfen, die in kurzen Abständen gezündet werden und sich in ihrer Zerstörungskraft vervielfachen würden.

Und was kommt danach?

Angenommen, man überlebt den Erstschlag in einem Schutzraum: Was passiert, wenn die Vorräte aufgebraucht sind und man den Bunker verlassen muss? Die Infrastruktur wäre weitgehend zerstört, medizinische Versorgung nicht mehr vorhanden, Wasserquellen kontaminiert. Ein nuklearer Fallout könnte große Landstriche unbewohnbar machen. Wer hinausgeht, setzt sich gefährlichen Strahlendosen aus.

Noch gravierender wären die weltweiten Klimafolgen eines Atomkrieges. Wissenschaftliche Studien warnen vor einem „nuklearen Winter“: Die infolge riesiger Brände in die Stratosphäre gelangende Asche und Staub würden die Sonneneinstrahlung so stark reduzieren, dass die Temperaturen weltweit um bis zu zehn Grad Celsius sinken würde und menschliches Leben in weiten Teilen des Planeten nicht mehr möglich wäre. Eine von der IPPNW publizierte Studie hat gezeigt, dass schon der Einsatz von nur 100 Atomwaffen in einem begrenzten Atomkrieg zu einem Tempera-

turabfall führen würde, der weitreichende Ernteausfälle und Hungersnöte zur Folge hätte – und das über Jahre hinweg. In solchen Szenarien bietet kein Bunker eine langfristige Lösung.

Gefährliche Illusionen

Die Existenz privater Schutzräume kann dazu führen, dass Atomwaffen als beherrschbar wahrgenommen werden. Wenn Menschen – und auch Politiker*innen – davon ausgehen, dass ein Atomkrieg überlebbar sei, steigt die Bereitschaft, Risiken einzugehen. So verständlich der individuelle Wunsch nach Schutz ist: Die Vorstellung, ein Atombunker könne den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen, lenkt von der eigentlichen Herausforderung ab – dem Risiko eines Atomkriegs vorzubeugen. Statt uns mit der Illusion individueller Sicherheit zu trösten, müssen wir alles daransetzen, dass ein solcher Krieg niemals geführt wird.

Der einzig sinnvolle Schutz: Verhinderung eines Atomkriegs

Statt in Bunker sollten wir in politische Lösungen investieren. Der einzige Weg, einen Atomkrieg zu überleben, ist ihn zu verhindern. Dazu braucht es Abrüstung, diplomatischen Dialog und den Willen zum Frieden. Die Arbeit der IPPNW, die sich seit Jahrzehnten für die Verhütung eines Atomkrieges einsetzt, ist heute wichtiger denn je. Der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) ist ein Meilenstein in diese Richtung und zeigt: Eine Welt ohne Atomwaffen ist keine Utopie. Letztlich brauchen wir ein System gemeinsamer Sicherheit, das alle mit einbezieht. Wer wirklich Sicherheit will, setzt sich für eine friedliche Welt ohne Atomwaffen ein – und nicht für Schutzräume, die nur falsche Hoffnung bieten.

Dr. Helmut Lohrer ist International Councillor der IPPNW.

Grafik: Helmut Lohrer, mit Unterstützung von Dall-E

Militärisches Mindsetting: ein neues

Feld ärztlicher Fortbildung

Zur Rolle der Ärztekammern bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit

Der „wohl schönste Bundeswehrstandort“ (Carlo Masala) bot die pittoreske Kulisse für ein, wie von mehreren Rednern betont, „Leuchtturmprojekt“. Im Barockschloss Oranienstein in reizvoller Landschaft nahe dem rheinland-pfälzischen Diez gelegen und seit 1962 von der Bundeswehr genutzt, organisierten die Regionalkommandos Bundeswehr aus Hessen und Rheinland-Pfalz sowie Kommando „Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung“ in Kooperation mit den Landesärztekammern aus Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland am 20. September 2024 ein Symposium „Im Ernstfall: Was bedeutet Kriegsmedizin?“. Die Hessische Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung sorgte für den organisatorischen Rahmen und die Vergabe von elf CME-Punkten.

Geboten wurde eine Mischung aus medizinischen Fachvorträgen und militärisch-politischen Einschätzungen und Darstellungen. So standen Themen wie „Lebensgefährliche Blutungen – Schockmanagement“, „Kontamination mit chemischen Kampfstoffen – was muss ich wissen?“, „Schuss-, Splitter- und Explosionsverletzungen“ neben solchen wie „Was ist der Ernstfall?“, „Gesundheitsversorgung in der Gesamtverteidigung – was kommt auf uns zu?“ oder „Zivil-militärische Kooperation in der Universitätsmedizin vor dem Hintergrund der Landes- und Bündnisverteidigung“. Praktisch konnte man das Anlegen von Tourniquets zur Blutstillung oder die Kampfstoffdekontamination üben; Bergepanzer und weiteres Gerät waren zu besichtigen. Im Auditorium saßen mehrheitlich Bundeswehrangehörige, aber auch die zivilen Hilfsdienste waren gut vertreten. Die Einhaltung des Fotografierverbotes wurde durch bewaffnete Wachen gesichert.

Von Frieden oder Friedenserhalt war an diesem Tag nicht die Rede. Im Gegenteil kritisierte Prof. Dr. Carlo Masala, prominenter Dozent an der Bundeswehr-Universität in München, in seinem Vortrag zur Einschätzung der aktuellen Lage die westeuropäische Sichtweise auf die momentane Weltlage als eine von einer sieb -

zigjährigen Friedensperiode verstellte. Die afrikanische Sicht beispielsweise sähe wegen der vielen Konflikte auf diesem Kontinent ganz anders aus. Die proklamierte Zeitenwende sei in Deutschland noch nicht vollzogen. Die deutsche Gesellschaft benötige dringend eine Änderung des Mindset, damit sie resilienter werde. Überhaupt war die Änderung des Mindsets an diesem Tag ein beliebtes Thema der Referent*innen. Diese Materie scheint zumindest Ärztekammern, die mit einem steten gesundheitspolitischen Bedeutungsverlust zu kämpfen haben, neue Wirkungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Was hat es eigentlich mit dem Mindset, das es zu ändern gilt, auf sich? In der Psychologie und Soziologie sind damit Verhaltensmuster basierend auf Denkweisen und Überzeugungen gemeint, die eine Geisteshaltung repräsentieren. Gelegentlich wird Mentalität synonym verwandt. Es geht also um einen Mentalitätswandel in der gesamten Gesellschaft und konkret bei Angehörigen von Gesundheitsberufen, um deren Zustimmung zur Militarisierung des Gesundheitswesen zu erlangen. Zu gut scheinen den militärisch und politisch Verantwortlichen noch die vielfältigen Proteste aus dem Gesundheitswesen gegen den Entwurf eines Gesundheitssicherstellungsgesetzes Anfang der 1980er Jahre in Erinnerung zu sein.

Auch der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) Klaus Reinhardt fordert „zunächst mehr Bewusstsein zu schaffen“. Auf einer Tagung am 10. Oktober vergangenen Jahres hat die BÄK Fachleute aus Ärzteschaft, Politik, Militär und Katastrophenschutz dazu aufgerufen eine Bilanz zur aktuellen Resilienz des Gesundheitssystems zu ziehen und die nächsten notwendigen Schritten zu beraten. Das Engagement des BÄK-Präsidenten in dieser Frage ist wenig verwunderlich. Der Hartmannbund, dessen Vorsitzender er ebenfalls ist, hat seit Jahrzehnten eine ausgeprägte Affinität zum Militärischen. In früheren, für diesen Verband besseren Zeiten, leistete man sich eine wehrmedizinischen Arbeitskreis. Auf

ÄRZTEBLÄTTER

TROMMELN FÜR DIE ZIVILMILITÄRISCHE ZUSAMMENARBEIT.

Hessisches Ärzteblatt 11/2024 und Rheinisches Ärzteblatt 2/2025

seiner Hauptversammlung 2023 forderte er eine baldige Verabschiedung eines Gesundheitssicherstellungsgesetzes, das auch eine Weiterentwicklung der zivil-militärischen Zusammenarbeit beinhalten sollte.

Beseelt von der Aufgabe des militärischen Mindsettings melden sich immer mehr Landesärztekammern zumindest publizistisch zu Wort. Zuletzt titelte das Rheinische Ärzteblatt: „Gesundheitswesen: Gerüstet für den Kriegs- und Krisenfall?“ Der in dieser Diskussion verwendete Krisenbegriff setzt umstandslos Umwelt- und Naturkatastrophen, chemische und nukleare Unfälle, Epidemien und Pandemien, Folgen der Klimakrise und Terrorismus mit Kriegen gleich – dabei vollkommen negierend, dass die Kriegsmedizin einer anderen Logik folgt und folgen muss als die zivile Medizin.

Es wäre Aufgabe einer verantwortungsvollen Ärztekammer, gerade auch darüber aufzuklären, statt die unterschiedlichen Szenarien beliebig zu vermengen. Selbstredend wird auch die von den Bundeswehr-Offiziellen immer wieder vorgetragene Forderung, dass sich in einem Kriegsfall die zivilen Strukturen den militärischen unterzuordnen haben, nicht hinterfragt. Immer lauter und öfter wird von der Bundeswehr gefordert, bei der Krankenhausplanung mitzureden und diese auch nach militärischen Aspekten zu gestalten.

Wo bleibt die Nachfrage der Kammern, was dies für die zivile medizinische Versorgung bedeuten könne? Grob fahrlässig ist auch, das von den Militärs vorgegebene Szenario eines kontrollierbaren Krieges an der Ostflanke der NATO unhinterfragt zu übernehmen und nicht davor zu warnen, dass selbst bei einem konventionellen Krieg die medizinische Versorgung der Bevölkerung nicht sicherzustellen ist. Bei einer Eskalation zum Atomkrieg werden wir Ärzt*innen in keiner Weise helfen können. Die gigantische, in diesem Umfang noch nie dagewesene Aufrüstung der Bundeswehr entzieht notgedrungen auch dem Gesundheitswe -

sen Ressourcen. In Zeiten des angestrebten Mentalitätswandels scheint es für Kammerfunktionär*innen nicht opportun, dies zu problematisieren.

Um die Kooperation mit der Bundeswehr zu vertiefen, haben einige Kammern Beauftragte für die zivil-militärische Zusammenarbeit benannt. Der Deutsche Ärztetag forderte 2024 auf Antrag des BÄK-Vorstandes, eine „personelle Durchlässigkeit zwischen zivilem Gesundheitssystem und Zentralem Sanitätsdienst“ zu schaffen.

Das Schloss Oranienstein fand in der Vergangenheit vielfältige Verwendung. Von 1934 bis 1945 wurde es als „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“ genutzt. Hier wurde Jungs und Jugendlichen eine militärische Mentalität beigebracht, gegebenfalls auch eingeprügelt. Keinesfalls sind heute die politischen Umstände mit der faschistischen NS-Diktatur vergleichbar – dennoch ist es erschreckend, wie unreflektiert und geschichtsvergessen an solch einem Ort militärisches Mindsetting beschworen und über Friedensfähigkeit in keiner Weise nachgedacht wird.

Die Quellen zu diesem Artikel finden Sie unter: ippnw.de/bit/mindsetting

Bernhard Winter ist Gastroenterologe, Vorstandsmitglied des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte sowie Vorsitzender des Solidarischen Gesundheitswesens e.V.

Sekunden bis zur Katastrophe

Der einzige Schutz gegen Atomwaffen ist, sie abzuschaffen

Kein Gesundheitssystem der Welt kann sich auf einen Atomkrieg vorbereiten. Als Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges ist unsere Botschaft heute deshalb vielleicht wichtiger denn je: Wir werden Euch nicht helfen können.

Die „Weltuntergangsuhr“ ist vor wenigen Wochen auf 89 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt. Damit stehen wir nach Meinung von Wissenschaftler*innen so nah an einer globalen Katastrophe wie nie zuvor.

Albert Einstein, Robert Oppenheimer und andere hatten die Uhr 1947 als Metapher für die Gefahr einer menschengemachten Apokalypse erfunden, aus Sorge vor dem beginnenden atomaren Wettrüsten. Heute fließen nicht nur die Bedrohung durch Atomwaffen, sondern auch Klimawandel, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten und der zunehmende Einsatz von künstlicher Intelligenz in die symbolische Uhrzeit ein.

Die multiplen Krisen erhöhen die Gefahr eines Atomkrieges, der unverändert die größte akute Bedrohung für das globale Überleben darstellt. In einem Atomkrieg in Europa mit Einsatz von weniger als 3 Prozent der Atomwaffen in den globalen Arsenalen würden sofort über 100 Millionen Menschen sterben, wie eine aktuelle Studie der Rutgers-Universität ergeben hat.

Die Aufwirbelung von Ruß und Staub aus den brennenden Städten würde zur Verdunkelung der Atmosphäre mit nachfolgenden Ernteausfällen und Hungersnöten führen („nuklearer Winter“). Über zwei Milliarden Menschen würden verhungern – also ein Viertel der Weltbevölkerung. Der weltweite Zusammenbruch von Infrastruktur, Wirtschaft und Sozialsystemen wäre die Folge. Effektive humanitäre Hilfe wäre unmöglich. Auch wenn dieses Szenario unvorstellbar erscheint, müssen wir es sehr ernst nehmen: Zu groß ist die Gefahr, dass eine kriegerische Eskalation oder auch menschliche oder technische Fehler zum Einsatz von Atomwaffen führen.

Bereits der Einsatz einer einzigen Atomwaffe hätte katastrophale Folgen für Menschen und Umwelt. Eine moderne Atomwaffe hat die vielfache Sprengkraft der Hiroshimabombe und könnte, wenn sie über einer Großstadt abgeworfen wird, sofort über eine Million Menschen töten.

Im Zentrum der Explosion würden Temperaturen von mehreren Millionen Grad Celsius entstehen und alles Brennbare verdampfen oder entzünden. Eine Druckwelle würde sich mit mehrfacher Überschallgeschwindigkeit ausbreiten. Gebäude würden kollabieren, Leitungen zerfetzt und Trümmer und Fahrzeuge durch die Luft geschleudert.

Hitze und Druckwelle würden zur Entstehung von zahlreichen Feuern führen und es käme – so wie bei den Bombenangriffen auf Hamburg oder Tokio im zweiten

Weltkrieg – zu einem Kamineffekt. Dabei wird durch den säulenförmigen Aufstieg heißer Gase Luft angesaugt, hurrikanartige Winde entstehen und Feuerstürme breiten sich mit rasender Geschwindigkeit aus.

Bei einem Atomwaffenangriff sterben die meisten Menschen an Verbrennungen, andere werden unter zusammenstürzenden Gebäuden begraben oder von umherfliegenden Trümmerteilen verletzt. Überlebende haben häufig schwere Brandverletzungen, mehrfache Knochenbrüche und Verletzungen innerer Organe. Eine angemessene Behandlung wäre unmöglich, da der Großteil der Krankenhäuser zerstört und das medizinische Personal ebenfalls tot oder schwer verletzt wäre.

Durch die Explosion wird direkt Neutronen- und Gammastrahlung freigesetzt, die bei Menschen in der Nähe des Explosionszentrums zum sofortigen Strahlentod führen kann. Diejenigen, die sich weiter entfernt aufhalten, erhalten je nach Entfernung und Abschirmung unterschiedliche Strahlendosen, die noch Wochen später zum Auftreten der akuten Strahlenkrankheit führen können und das Risiko für Krebs und andere Erkrankungen erhöhen.

Bei der akuten Strahlenkrankheit kommt es unter anderem zu einer Schwächung von Immunabwehr und Blutgerinnung. Menschen sterben an einfachen Infekten. Es kommt zu heftigen, oft blutigen Durchfällen, zu Blutungen von Haut und Schleimhäuten und zu Haarausfall.

Außerdem käme es zur Freisetzung von über 300 verschiedenen radioaktiven Substanzen. Vor allem bei bodennahen Explosionen werden Staub und Erde radioaktiv verseucht und mit der Pilzwolke emporgeschleudert und in die Atmosphäre eingebracht. Radioaktive Teilchen in der unteren Schicht der Atmosphäre, der Troposphäre (Schicht, wo das Wetter entsteht) werden mit dem Wind verteilt und kommen mit Regen und Schnee wieder zur Erde. Radioaktive Teilchen, die in höhere Schichten der Atmosphäre (Stratosphäre) eingebracht werden, kreisen um den ganzen Globus und verteilen sich noch Jahre später als weltweiter Fallout. Bis heute leiden und sterben die Überlebenden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki und der über 2.000 Atomtests an Krebs und anderen strahlenbedingten Erkrankungen.

Heutige Atomwaffen sind nicht nur um ein Vielfaches größer und zerstörerischer als die Hiroshimabombe: Simulationen und Planspiele des US-Militärs haben ergeben, dass bereits der Einsatz von nur einer Atomwaffe wahrscheinlich zur Eskalation zum globalen Atomkrieg führen würde.

Studien von Ärzt*innen der IPPNW haben gezeigt, dass das Abfeuern der Atomwaffen eines einzigen russischen U-Boots auf kritische Infrastruktur in den USA zu über sechs Millionen Toten alleine durch die Feuerstürme führen würde. Ein Angriff mit 262 Atomwaffen auf die USA würde bis zu 100 Millionen Todesopfer durch Feuerstürme fordern. Die globale

Temperaturabkühlung und die Ernteausfälle nach einem großen Atomkrieg wären so drastisch, dass innerhalb der folgenden zwei Jahre fünf Milliarden Menschen verhungern würden, ein Team der RutgersUniversität berechnet hat.

Insgesamt gibt es derzeit noch etwa 12.121 Atomwaffen in den weltweiten Arsenalen, davon fast 90 Prozent in den USA und in Russland. Etwa 1.800 Atomwaffen stehen zwischen Russland und den USA auf höchster Alarmstufe und sind innerhalb von Minuten einsatzbereit. Wenn auf den Radarschirmen ein gegnerischer Angriff gemeldet wird, sollen die eigenen Atomraketen gestartet werden, bevor sie durch den Angriff zerstört werden. Aufgrund der kurzen Flugzeit der Interkontinentalraketen bleiben den Präsident*innen nur wenige Minuten, um über einen Gegenschlag zu entscheiden.

Die Deutsche Gesellschaft für Informatik warnt, dass in Zeiten hoher politischer Spannungen wie heute das Risiko hoch ist, dass ein Fehlalarm als echt bewertet wird und ein Gegenschlag ausgelöst wird. Es gibt viele gut dokumentierte Beispiele für Fehlalarme – z.B. 2017 in Spangdahlem in der Eifel oder 2020 in Ramstein.

Durch die derzeit stattfindende Aufrüstung der in Rheinland-Pfalz stationierten US-Atomwaffen und durch die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland, die innerhalb von Minuten Moskau erreichen könnten, steht Deutschland besonders im Fadenkreuz.

Maßnahmen zur Risikoreduktion wie die Herabsetzung der höchsten Alarmstufe, der Ausbau von Gesprächskanälen zwischen der NATO, USA und Russland und der Verzicht auf weitere Aufrüstungsschritte sind von höchster Dringlichkeit. Mittelfristig muss wieder abgerüstet werden. Die IPPNW hat in den 1980er und 90er Jahren durch Aufklärung über die humanitären Folgen von Atomwaffen zu den großen Abrüstungsverträgen beigetragen, unter anderem durch die Initiierung von Studien der Weltgesundheitsorganisation zu den Folgen von Atomwaffen.

Aktuell arbeiten wir darauf hin, dass die WHO auf ihrer Versammlung im Mai 2025 beschließt, ihre Arbeit zu Atomwaffen wieder aufzunehmen, um einen neuen starken Impuls für atomare Abrüstung zu setzen.

Die Quellen zu diesem Artikel finden Sie unter: ippnw.de/bit/sekunden

Dr. Inga Blum ist Mitglied im internationalen Vorstand der IPPNW.

Eine Vision von Frieden und Sicherheit

Europäisches IPPNW-Treffen in Genf

Vom 11.–13. April 2025 findet ein europäisches IPPNW-Treffen in Genf statt. Das Programm umfasst die Themen Atomkriegsgefahr und Ukrainekrieg, globale Gesundheit, Krieg und Frieden sowie die Wahlen zu den europäischen IPPNW-Vertreter*innen der Ärzt*innen und Studierenden.

Die Pläne des wiedergewählten US-Präsidenten Donald Trump für die Beendigung des Krieges in der Ukraine wecken bisher kein Vertrauen, dass es wirklich zu einem Friedenschluss kommt. Bei den Gesprächsformaten zwischen den USA und Russland sind europäische Vertreter*innen bisher ausgeschlossen. Dazu ein amerikanischer Vizepräsident Vance, der den Europäern ein „verkommenes Demokratieverständnis“ vorwirft.

Das Europäische IPPNW-Treffen trägt den Titel: „Finding Clarity in Chaos: Creating a Vision of Peace and Security“. Denn in dieser Zeit braucht die IPPNW starke europäische Sektionen, die sich gemeinsam mit den IPPNW-Studierenden für eine Beendigung des Ukrainekrieges und die Verhütung eines Atomkrieges in Europa einsetzen. Unser neues internationales Büro in Genf hat dazu in den letzten zwei Jahren sehr gute Vorarbeit geleistet. Genf ist die Stadt mit den meisten internationalen Organisationen – die Stadt der Diplomatie. Die IPPNW ist in Genf wegen seiner internationalen Bedeutung natürlich viel besser international vernetzt, mit der WHO und anderen wichtigen internationalen Organisationen. Dort können wir unser gemeinsame Lobbyarbeit viel besser koordinieren, sind wirksamer. Marianne Begemann, Helmut Lohrer und ich haben zusammen mit Urs Ruegg von unserer Schweizer Sektion und dem IPPNW-Team in Genf das Treffen vorbereitet. Ihr seid alle herzlich eingeladen!

Mehr Informationen unter: ippnw-glo.org

Dr. Angelika Claußen ist CoPräsidentin der IPPNW Europa.

Trauer um Dr. Walter Odhiambo

Engagierter Arzt und Aktivist

Am 23. Januar 2025 starb, für uns völlig überraschend, ein langjähriger Weggefährte der internationalen IPPNW. Dr. Walter Odhiambo war nicht nur ein herausragender Arzt, Wissenschaftler und Friedensaktivist, sondern auch ein geschätzter Freund unserer Sektion. Als Präsident der kenianischen IPPNW-Sektion initiierte Walter die Kampagne „One Bullet Story“, die den Opfern von Kleinwaffen ein Gesicht gab und international Beachtung fand. Mehrfach war er in Deutschland zu Gast, unter anderem 2013 als Referent auf dem von der IPPNW organisierten Kleinwaffen-Kongress „Zielscheibe Mensch“ in Villingen. 2016 trat er als Experte im Film „Der Tod, die Waffen, das Schweigen“ auf, in dem er vor den Fabrikhallen von Heckler & Koch über die Folgen von Schussverletzungen spricht.

Walter war auch privat ein wunderbarer Mensch – voller Wissen, Humor und tiefem Mitgefühl. Ich erinnere mich an viele inspirierende Gespräche, sowohl bei seinen Besuchen bei mir in Villingen als auch bei ihm in Nairobi am Rande des IPPNW-Weltkongresses in Kenia. Sein Wirken reichte weit über die IPPNW hinaus: Als Mund-Kiefer-Gesichtschirurg und Hochschullehrer an der Universität Nairobi prägte er Generationen von Studierenden. Bis zuletzt setzte er sich als Dekan der School of Dental Sciences mit großem Engagement für die medizinische Ausbildung und Patientenversorgung ein.

Mit Walter verlieren wir nicht nur einen engagierten Arzt und Aktivisten, sondern auch einen warmherzigen Freund und Kollegen. Sein Vermächtnis wird uns weiterhin begleiten und inspirieren.

Dr. Helmut Lohrer ist International Councillor der IPPNW.

Für einen gerechten Frieden

Das Töten endlich beenden, Waffenexporte stoppen!

Ein breites Bündnis von zivilgesellschaftlichen und humanitären Organisationen hat Mitte Januar 2025 in München mit dem Aufruf „Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel“ protestiert. Weitere Demonstrationen fanden am 14. Februar in Berlin, Nürnberg und Köln statt.

„Die Zerstörung des Gesundheitswesens in Gaza durch die israelische Kriegsführung ist katastrophal, bis dato wurden nach Angaben des UNHCR über 1057 Gesundheitskräfte in Gaza getötet, weitere Hunderte verhaftet. Medizinische Einrichtungen, Krankenhäuser, Kliniken, Ärzt*innen und Pfleger*innen dürfen nicht zu militärischen Zielscheiben erklärt werden und müssen gemäß dem humanitären Völkerrecht geschützt werden“, erklärte Nadia Bieler (IPPNW) auf der Kundgebung in München.

Foto: Georg Escher
Foto: Maria Feckl Foto:

Ärzte der Waffen-SS

Im Internationalen Militärgerichtsprozess in Nürnberg wurde die Waffen-SS als verbrecherische Organisation eingestuft. Sie war an Kriegsverbrechen beteiligt. Und in ihr waren Ärzte aktiv. Um sie geht es in diesem Buch.

Die Professorin für Arbeitsmedizin Gine Elsner hat sich schon mit früheren Publikationen zum Thema „Medizin im Nationalsozialismus“ ausgezeichnet. Dieses Buch beginnt sie mit den Dokumenten eines „engagierten Allgemeinarztes“ aus seiner Zeit als Arzt der Waffen-SS, aufgefunden von seiner Tochter. Er war dort einer von 1.348 Sanitätsoffizieren. Von ihnen taten 546 Dienst als Truppenärzte, 802 waren in Lazaretten, Sanitätsabteilungen oder in Verwaltungsposten tätig. 208, also 15 Prozent von ihnen, waren als KZ-Lagerärzte eingesetzt. Eine Fluktuation zwischen den einzelnen Tätigkeitsfeldern war häufig. Den Dienst als KZ-Arzt konnte man zugunsten einer Tätigkeit als Truppenarzt ablehnen.

Elsner erweitert ihre Einzelfallanalyse mit den verfügbaren Kurzbiografien von 49 weiteren truppenärztlich tätigen Ärzten der Waffen-SS. Dadurch erhält sie eine nichtrepräsentative Stichprobe von etwa zehn Prozent der Ärzte. Thematisiert werden biografischen Gemeinsamkeiten, Motivationen sowie wechselnde Tätigkeiten auch in Konzentrationslagern, Euthanasieanstalten, Einsatzgruppen oder der Wehrmacht. Insgesamt war etwa jede vierte truppenärztlich tätige Arzt der Waffen-SS zwischenzeitlich auch in Konzentrationslagern eingesetzt – in der Stichprobe sind es 70 Prozent. Beim Lesen der Kurzbiografien ist es oft schwer auszuhalten, wie die Verwicklung der Ärzte in schwere Kriegsverbrechen, Mordaktionen und grässliche Menschenversuche nach dem Krieg eher selten juristisch geahndet wurde und auch einer ärztlichen Karriere als Chefarzt oder Universitätsprofessor nicht im Wege stand.

Das Buch bietet einen Überblick über die Struktur der SS und regt an, die eigene ethische Fundierung zu reflektieren. Denn die Ärzte der Waffen-SS handelten keineswegs „unethisch“. Jedoch basierte ihre Ethik nicht auf allgemeiner individueller Menschenwürde, sondern auf einer Ideologie von Volkskörper, Elite und absoluter Verfügungsgewalt über als „minderwertig“ deklarierte Individuen und Gruppen.

Gine Elsner: Die Ärzte der Waffen-SS und ihre Verbrechen, 144 S., 16,80 €, VSA Hamburg 2024, ISBN 978-3-96488-214-1

Dr. Herbert Kappauf

Pazifismus heute

In „Pazifismus heute“ umreißt die skandinavische Sozialwissenschaftlerin Majken Jul Sørensen, wie ein gewaltfreier Widerstand der Ukrainer*innen gegen die russische Invasion aussehen könnte.

Wie könnt ihr in Zeiten wie diesen noch Pazifisten sein?, fragt ein*e Skeptiker*in gleich im ersten Absatz. Und erhält die Gegenfrage: „Wie ist es möglich, dass ihr in Zeiten wie diesen keine Pazifist*innen seid? Bei all dem, was wir über die Folgen moderner Kriegsführung wissen! Warum werden alle Alternativen zum Krieg sorgfältig verschwiegen?“

In der kurzen Abhandlung greift Sørensen auf Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Friedensforschung und der sozialen Verteidigung zurück und untermauert ihre Argumente mit Studien zur Wirksamkeit gewaltfreier Aktionen und anschaulichen Beispielen. Einiges bereits bekanntes ist hier erwähnt, aber gerade die Beispiele aus dem skandinavischen Raum sind auch für ein deutsches Publikum interessant. Dabei kommt die Autorin immer wieder auf den Kontext der Ukraine zurück und beschreibt, auf welche Weise Menschen jede soziale und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit einer Besatzungsmacht verweigern könnten, durch den Boykott von Schulen und von manipulierten Wahlen beispielsweise. Dabei romantisiert sie nicht, sondern sagt sehr klar „Der unbewaffnete Kampf erfordert Mut und Opfer, […] doch ist wahrscheinlich, dass er weniger Menschenleben kosten würde als ein Krieg.“ Sie weist darauf hin, dass Militarismus auf lange Sicht mehr schadet als nützt, und untersucht, unter welchen Umständen das russische Volk in der Lage sein könnte, Putin die Macht zu entziehen.

In einer persönlichen Reflexion beschreibt sie auch, wie sie selbst zur Pazifistin wurde und sich im Angesicht des Ukrainekrieges ihrer pazifistischen Grundhaltung vergewissern musste. Dies kann mithilfe des Wissen um die Möglichkeiten gewaltfreien Widerstandes gelingen – daher ist das Buch ermutigend für alle, die ob der beschworenen „Kriegstüchtigkeit“ verzagen. Das interessante Format eines fiktiven Gesprächs macht das kleine Buch unterhaltsam und absolut lesbar. Es kann als Argumentationshilfe für so manches Gespräch herhalten.

Majken Jul Sørensen: Pazifismus heute: Ein Gespräch über Alternativen zum Krieg in der Ukraine, 80 S., 10,- €, Irene Publishing / Bund für Soziale Verteidigung 2024, ISBN 978-91-89926-03-5 (zum kostenlosen Download verfügbar)

Postkarte & Aufkleber: „Nuclear Justice Now!“

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IPPNW-Information: Überlebende von Atomwaffen

Hibakusha und Survivors sind Überlebende von Atomwaffen. Dieses Faltblatt erläutert die Folgen von Atomwaffen und lässt Betroffene zu Wort kommen.

4 Seiten A4, kostenlos. Bestellen unter: shop.ippnw.de

IPPNW-Banner

Banner mit verschiedenen Slogans:

» Friedensfähig statt kriegstüchtig!

» Nein zur Militarisierung des Gesundheitswesens!

» IPPNW – Ärzt*innen zur Verhütung des Atomkrieges – Ärzt*innen in sozialer Verantwortung

Fahnenstoff 3 x 1 Meter, je 50,- Euro Bestellen unter: shop.ippnw.de

GEPLANT

Das nächste Heft erscheint im Juni 2025. Das Schwerpunktthema ist:

80 Jahre seit Hiroshima und Nagasaki

Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 182 /Juni 2025 ist der 30. April 2025. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS

Herausgeber: Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

Redaktion: Dr. Lars Pohlmeier (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Regine Ratke

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Frankfurter Allee 3, 10247 Berlin, Tel.: 030 6980 74 0, Fax 030 693 81 66, E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de, Bankverbindung: GLS Gemeinschaftsbank

IBAN: DE 23 4306 0967 1159 3251 01, BIC: GENODEM1GLS

Das Forum erscheint viermal jährlich. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung

der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. Redaktionsschluss für das nächste Heft: 30. April 2025

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout: Regine Ratke

Druck: DDL Berlin Papier: Circle Offset, Recycling & FSC.

Bildnachweise: S.6 Mitte: Qasioun News Agency / CC BY 3.0. Nicht gekennzeichnete Fotos: privat oder IPPNW.

MÄRZ

11.3. Jahrestag des Super-GAUs von Fukushima (2011)

21.3. Vortrag Clemens Ronnefeldt: Der Ukrainekrieg – Hintergründe und Perspektiven, Landsberg/Lech

21.-23.3. IPPNW-Peace Academy, Berlin

APRIL

11.-13.4. IPPNW European Regional Meeting, Genf

17.4. Diskussionsforum: „80 Jahre UNO – Hoffnung für die Welt oder Auslaufmodell?“, online

18.- 21.4. Ostermärsche der Friedensbewegung, bundesweit

26.4. Jahrestag des SuperGAUs von Tschernobyl (1986)

25 4.- 9.5. NPT Preparatory Committee, New York

MAI

8.5. Tag der Befreiung: 80 Jahre seit Ende des Zweiten Weltkrieges

JUNI

12.6.–10.7. Ausstellung Hiroshima / Nagasaki, Goslar

JULI

3.-7.7. Camp für Klimagerechtigkeit und nukleare Abrüstung, Nörvenich: buechel.nuclearban.de

OKTOBER

2.-4.10. IPPNW-Weltkongress in Nagasaki, Japan

AUGUST 2025

80. Jahrestage von Hirohima & Nagasaki: Bundesweite Gedenkveranstaltungen

1Noy, Dein Bruder Hayim wurde am am 7. Oktober 2023 von der Hamas getötet. Er lebte nahe der Grenze zu Gaz a Niemand hätte sich vorstellen können, dass so etwas wie der 7. Oktober passiert. Für seine Familie ist sein Tod ein immenser Verlust. Und für die Gesellschaft auch, weil er so ein toller Mensch und Wissenschaftler war. Er recherchierte und schrieb über die rechts-religiöse zionistische Bewegung in Israel. Er setzte sich für den Zugang von Minderheiten zur Wissenschaft ein und gegen ethnische Säuberung im Raum Hebron. Außerdem war er Gärtner und DJ für arabische Musik. Er war davon überzeugt, dass Kulturaustausch Frieden bringt. Obwohl wir uns nicht so nahestanden, bekam ich mit, was er machte, und war stolz auf ihn.

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Was für öffentliche Reaktionen hast Du nach Hayims Tod erlebt? Was mich nach seinem Tod am meisten verletzt hat, war der Verrat durch meine eigene Gesellschaft. Nachdem israelische Zeitungen über seinen Tod berichtet hatten, gab es viele, die sagten, er hätte das verdient, weil er links war, weil er Friedensaktivist war. Das war hart für mich. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch Israeli sein kann, wenn ich nicht für Rache und Zerstörung bin. Ich möchte glauben, dass das möglich ist. Und ich habe Freund*innen, die das hinkriegen. Aber es fällt mir immer schwerer, mich in Israel zugehörig zu fühlen.

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Wie kam es dazu, dass Du friedenspolitisch aktiv geworden bist? Als Kind von Einwander*innen und als queere Person habe ich mich in der israelischen Gesellschaft schon immer als Außenseiter*in gefühlt. Vielleicht war es für mich deswegen einfacher, mich von dem zionistischen Narrativ zu lösen, mit dem wir in Israel aufwachsen. Nach dem Militärdienst zog ich nach Jerusalem und lernte erstmals palästinensische Menschen kennen. Ich begann, Arabisch zu lernen und meine eigene Position zu reflektieren. Uns wird immer beigebracht, dass wir Palästinenser*innen nicht trauen können. Aber plötzlich wurde mir klar, dass es vielleicht die israelische Armee ist, die lügt. Zu dieser Zeit gab ich meine Aussage bei „Breaking the Silence“ ab und begann mich bei „Standing Together“ zu engagieren.

6 Fragen an

Noy Katsman

Engagiert für Frieden zwischen Israelis und Palästinenser*innen

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Wie hast Du nach dem 7. Oktober weitergemacht? Ich habe seitdem Dutzende Interviews gegeben. Ich versuche, die Botschaft zu verbreiten, dass wir in Frieden leben können, keine Rache brauchen, das Blutvergießen beenden können. Diese Dinge erscheinen mir offensichtlich. Mein Bruder wurde getötet, aber warum sollte ich deswegen wollen, dass jemand aus Gaza getötet wird? Die Reaktionen, die ich bekam, haben mich teilweise sehr berührt. Eine Frau aus Gaza schrieb mir: „Ich kann nicht glauben, dass es Israelis gibt, die uns nicht alle töten wollen.“ In Israel kamen meine Interviews leider nicht wirklich an.

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Was ist wesentlich für ein friedliches Zusammenleben? Eine zentrale Forderung ist für mich, dass Gewalt gegen Zivilist*innen nicht akzeptabel ist, egal von welcher Seite. Denn wenn Gewalt gegen Zivilist*innen verübt wird, ist die Chance auf ein friedliches Zusammenleben sehr viel geringer. Ich glaube, es ist wichtig, politische Forderungen wie diese nicht nur an Israelis, sondern auch an Palästinenser*innen zu stellen. Eine ehrliche Kooperation kommt nur zustande, wenn wir von beiden Seiten unsere Forderungen mitbringen und miteinander verhandeln.

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Du lebst jetzt in Deutschland. Was für Perspektiven siehst Du für Deinen Aktivismus? Es ist wichtig, dass wir unsere Arbeit für den Frieden fortsetzen. Damit, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, die Strukturen bereitstehen. Ich lebe jetzt in Deutschland und bin gerade in Berlin mit einer palästinensischen Freundin zusammengezogen. Ich glaube, es ist wichtig, was in der Diaspora passiert. Das beweist, dass Dinge anders laufen können, und gibt Menschen Hoffnung und Inspiration. In Israel fehlt es uns gerade sehr an politischer Vorstellungskraft. Damit Menschen sich etwas vorstellen können, müssen sie es sehen. Ich überlege, mit meiner palästinensischen Freundin ein Projekt zu starten –vielleicht einen Begegnungsort für Palästinenser*innen und Israelis in Berlin. Das wird sicher nicht leicht wegen der Polarisierung, doch es ist möglich. Jetzt müssen wir aber erstmal ankommen. Dies ist die gekürzte Version eines Interviews, das am 4 10 2024 auf www.amnesty.de erschien. Das Gespräch führte Hannah El-Hitami.

03.-07. Juli 2025 • Nörvenich bei Köln

und nukleare Abrüstung Camp für Klimagerechtigkeit

Ihr seid eingeladen zu unserem Klimacamp gegen Atomwaffen nahe der Airbase Nörvenich. Hier verbinden sich unser Engagement für das Klima und nukleare Abrüstung. Zusammen stellen wir uns der Zerstörung unseres Planeten in den Weg!

Am Fliegerhorst Nörvenich übt die Bundeswehr im Rahmen der nuklearen Teilhabe den Einsatz von Atombomben. Nicht weit davon im Hambacher Forst protestieren Klimaaktivist*innen seit Langem gegen ein lebensfeindliches fossiles System. Hier wollen wir Anfang Juli einen gemeinsamen Ort für Protest, Vernetzung und Bildung schaffen und uns gegenseitig inspirieren.

bis heute an den Folgen der Atomtests, die überwiegend in ehemaligen Kolonien und auf den Gebieten ethnischer Minderheiten durchgeführt wurden.

Treffen wir uns!

Treten wir gemeinsam ein für:

• konkrete Klimagerechtigkeit

• eine atomwaffenfreie Welt und den Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland

• den Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag

Auf dem Programm:

Unterstützt von ICAN Deutschland, Netzwerk Friedenskooperative und IPPNW Deutschland.

Die Klimakrise und die weltweite nukleare Aufrüstung gefährden das Leben auf unserem Planeten. Weltweit geben die Industriestaaten Milliarden für Atomwaffen aus. Das Geld fehlt zur Bekämpfung des Hungers, der sozialen Ungleichheit und des Klimawandels, dessen Auswirkungen am stärksten den Globalen Süden betreffen. Auf den untergehenden Pazifik-Inseln leiden viele Menschen

• Workshops, Aktionstrainings, Skill-Shares

• kreativer Protest & vielfältige gewaltfreie Aktionen

• vegane Küche, Musik und Film

• Geburtstagsfeier für das Atomwaffenverbot am 7. Juli

• alles, was Ihr mitbringt.

Wir freuen uns auf Euch!

& Mitgliede r versammlung

9.– 11. Mai 2025 | Berlin

Freitag, 9. Mai

16.30-17.30 Uhr

Mahnwache gegen Atomwaffen am Brandenburger Tor

18 Uhr

Markt der Möglichkeiten

19 Uhr

Vortrag: Militarisierung der Gesellschaft

Prof. Dr. Teresa Koloma Beck, Soziologin

20 Uhr

Podiumsdiskussion: Friedensfähig statt kriegstüchtig –Nachdenken über eine „zivile Zeitenwende“ 80 Jahre nach Kriegsende

Inputs und Diskussion (bis 22 Uhr)

» Militarisierung des Gesundheitswesens

Dr. Ute Rippel-Lau, IPPNW

» Hochschulen für den Frieden

Chris Hüppmeier, Zivilklauselbewegung

» Schule ohne Bundeswehr

Daniel Untch (angefragt)

» Kampagne gegen Wehrpflicht

Cornelia Mannewitz, DFG-VK

Samstag, 10. Mai

9 Uhr

Statement: Es ist wieder Krieg. 80 Jahre Befreiung vom Faschismus. Prof. Dr. Annelie Keil, Soziologin & Gesundheitswissenschaftlerin

10-11.30 Uhr

Workshops

12 Uhr

Mittagspause

13 Uhr

Mitgliederversammlung

Begrüßung – Formalia – Rechenschaftsberichte – Aussprache

14 Uhr

Anträge und Resolutionen Geschäftsordnung

16.30 Uhr

Kaffeepause – Postersession

17 Uhr (bis 19 Uhr) Vorstandswahlen

20 Uhr

Gemeinsames Abendessen

Sonntag, 11. Mai

10 Uhr

Inputs und Diskussion mit Gästen aus Kasachstan: 80 Jahre Atomwaffeneinsatzfolgen

Ab 12.30 Uhr

Tag der Offenen Tür mit Kaffee und Kuchen in der IPPNW-Geschäftsstelle, Frankfurter Allee 3, 10247 Berlin

Ort: Tagungszentrum FM P 1 Fran z - Mehring-Platz 1 10243 Berlin

Mehr Infos: ippnw.d e / bi t / mv

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