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First-Responder-Plus-Gruppen der Alpinen Rettung Schweiz
from Blaulicht 4/2024
by IV Group
Auf dem Land und in den Bergen: Schnellere Hilfe in Notsituationen
In Notsituationen zählt jede Sekunde. Das weiss auch Andres Bardill, Geschäftsführer der Alpinen Rettung Schweiz (ARS). Dabei spielen im ländlichen sowie im alpinen Raum First-Responder-Plus (FR+) eine entscheidende Rolle.
Seit 2005 ist die vom Schweizer Alpen-Club SAC und der Schweizerischen Rettungsflugwacht Rega gegründete Stiftung Alpine Rettung Schweiz ARS eine hochgeschätzte Garantin für Sicherheit in den Bergregionen der Schweiz. Die humanitäre, gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Bern gewährleistet mit rund 3’300 Retterinnen und Rettern sowie Partnerorganisationen eine 24/7-Einsatzbereitschaft, wobei die Alarmierung via die Rega-Alarmnummer 1414 erfolgt. Als Partnerin der Kantone – mit Ausnahme des Kantons Wallis, in dem das Rettungswesen durch die Kantonale Walliser Rettungsorganisation KWRO organisiert ist – übernimmt die ARS im ganzen Land terrestrische Rettungsaufgaben – mit 84 Rettungsstationen, die in sieben Regionalvereinen zusammengeschlossen sind.
Andres Bardill aus Pragg-Jenaz ist seit rund 18 Jahren Geschäftsführer der ARS – und stets engagiert für noch mehr Tempo. Bei der klassischen Bergrettung ebenso wie bei anderen Rettungseinsätzen, beispielsweise, wenn eine Person einen Schlaganfall, einen Herzinfarkt oder einen Unfall erlitten hat.
15 Minuten bis zum Einsatzort sind das Ziel
«Eine Interventionszeit von maximal 15 Minuten bis zum Eintreffen am Einsatzort ist das Ziel», erklärt er. Und es werde immer komplexer, diese Zeitvorgabe einzuhalten –nicht nur bei Bergrettungseinsätzen. «Nehmen wir als Beispiel die Gemeinde Braunwald», sagt Andres Bardill. «Diese liegt zwar nicht im Hochgebirge, ist aber autofrei. Fährt die Bahn nicht, gelangen wir nur mithilfe eines Helikopters der Rega dorthin. Entsprechend müssen die Patienten häufig zum Helikopterlandeplatz transportiert werden, was länger als die anvisierten 15 Minuten dauern kann. Daher sind dort bereits seit 2016 First-Responder-Plus aktiv, welche die Zeit zwischen dem Eingang einer Notfallmeldung und dem Eintreffen professioneller Rettungskräfte überbrücken.»
Doch nicht nur in Braunwald, sondern in zunehmend mehr Gemeinden im ländlichen Raum wird die Einhaltung der maximalen Interventionszeit von 15 Minuten immer öfter eine Herausforderung. «In zahlreichen Kantonen dünnt insbesondere im ländlichen bis alpinen Bereich das klassische Vor-Ort-Netzwerk der Nothilfe zunehmend aus – nicht zuletzt, weil ältere Hausärzte aufhören und keine Nachfolgelösung etabliert werden kann», sagt Andres Bardill. «Das stellt die Kantone, welche die zeitgerechte Intervention von Rettungskräften im Notfall sicherstellen müssen, vor Herausforderungen – auf welche die ARS mit der Etablierung von First-Responder-Plus-Gruppen reagiert.»
First-Responder-Plus – mehr als nur Ersthelfer
Auf die Frage, wofür das «Plus» steht, sagt Bardill: «Während klassische First Responder oft nicht mehr sind als Laienhelfer, handelt es sich bei First-Responder-Plus-Einsatzkräften (FR+) zwar auch um Freiwillige, die im potenziellen Einsatzgebiet domiziliert sind, die Region und die dort lebenden Menschen kennen und die lokale Sprache beherrschen. Allerdings können FR+ im Fall einer Notsituation aufgrund ihrer erweiterten Fachausbildung, die mindestens auf Niveau First Aid Stufe 2 des Interverbands für Rettungswesen liegt, eine weitergehende, nachweisbar hochwertige Erstversorgung leisten, bis die zeitgleich mit ihnen alarmierte professionelle Rettung am Einsatzort eintrifft. Etwa bei Verbrennungen, Blutungen, Atemnot oder Vergiftungen.»
Rekrutiert werden First-Responder-Plus einerseits aus den Reihen der bestehenden SAC-Rettungskolonnen, andererseits aber auch aus dem Mitglieder-Pool der mit der ARS kooperierenden Partnerorganisationen, beispielsweise lokalen Samaritervereinen.
Dabei ist Andres Bardill wichtig, dass die ARS so wenig wie möglich in die Interna und die gewachsene Kultur potenzieller Partnerorganisationen eingreift. «Wir als ARS stellen im Rahmen einer mit dem Kanton getroffenen Vereinbarung zur Zusammenarbeit die äussere Hülle dar. Die kantonalen respektive lokalen Partnerorganisationen ihrerseits stellen selbstbestimmt die notwendigen personellen Ressourcen für den Aufbau von FR+-Gruppen zur Verfügung. Im Rahmen der Kooperation mit der ARS erhalten sie von uns Unterstützung hinsichtlich Ausbildung, Ausrüstung, Versicherungs- und Entschädigungsleistungen oder auch Schutzimpfungen. Zudem stellt die ARS ein modernes und leistungsfähiges digitales Ökosystem zur Verfügung, über das die FR+ aufgeboten werden und über welches dann auch die unter der Ägide der ARS ablaufenden Rettungseinsätze koordiniert und geleitet werden.»
Aufgebot und Einsatzleitung mit «Momentum»
Bei dem angesprochenen digitalen Ökosystem der ARS handelt es sich um das Alarmierungs- und Lagebildsystem «Momentum & ARMC», wobei «ARMC» für «Alpine Rescue Mission Control» steht. Es ist in der Grundlage ein von der Tessiner DOS-Gruppe erdachtes System, das von der seit 2022 zur Rega gehörenden sureVIVE AG mit Sitz in Mendrisio perfektioniert und weiterentwickelt wurde (siehe BLAULICHT 06-2023).
Die Einsatzleitzentrale der Rega nutzt «Momentum & ARMC» seit 2021, um Notfalleinsätze der ARS und deren FirstResponder-Plus-Gruppen zu leiten – und Andres Bardill ist vom Nutzen des Systems überzeugt. «Momentum & ARMC bietet alles, was es für die professionelle Rettung braucht –und auch alles, was für die schnelle, zielgerichtete Alarmierung von FR+-Personen benötigt wird», sagt er. «Im Fall einer Notsituation, deren Einsatz die ARS übernehmen soll, werden sowohl unsere professionellen Rettungskräfte als auch die allfällig benötigten First-Responder-Plus zentral und zeitgleich aufgeboten. Dank des intelligenten Algorithmus der Momentum-App ist dabei sichergestellt, dass anhand zentraler Kriterien wie des derzeitigen Aufenthaltsorts, der Ausrüstung, der Fachkenntnisse und der Anreisezeit zum Einsatzort die verfügbaren Rettungskräfte nach dem Next-Best-Prinzip alarmiert werden.»
Bestätigt ein First-Responder-Plus (oder die aufgebotene Anzahl an FR+) das Aufgebot, mutiert «Momentum & ARMC» von der Alarmierungslösung zum vollwertigen MissionControl-System. «Wurde ein Einsatz initiiert und sind die benötigten Rettungskräfte aus der Alarmierung selektiert worden, starten innerhalb der Momentum-Anwendung die Kommunikation und die Einsatzführung», erläutert Andres Bardill. «Ab diesem Punkt – und erst dann – erhalten die selektierten Personen weiterführende Informationen zum Einsatz – auch datenkritische Fakten wie beispielsweise Patientendaten. So ist der nötige Datenschutz gewährleistet, was insbesondere für die Kantone, in deren Dienst wir agieren, enorm wichtig ist.»
Zugunsten einer optimalen Koordination verwenden die im laufenden Einsatz involvierten FR+-Personen und die professionellen Rettungskräfte ein im Momentum erzeugtes gemeinsames Lagebild. So kann die Einsatzleitung alle involvierten Kräfte – von der Einzelperson bis zur Mannschaft –überwachen, informieren und steuern. «So wird jeder Notfall in seiner Gesamtheit gemanagt und entsprechend effizient und effektiv gesteuert», betont Andres Bardill.
Immer mehr Kantone zeigen Interesse
Die Vorteile, die das Dreigestirn aus professionellen Rettungskräften der ARS, gut ausgebildeten und ausgerüsteten FR+ und dem digitalen Alarmierungs- und Einsatzleitsystem Momentum & ARMC bietet, überzeugten in den vergangenen Jahren nicht nur die Verantwortlichen der Rega, des SAC und der ARS, sondern auch eine wachsende Anzahl von Kantonen. Denn diesen bietet sich die Möglichkeit, ihnen obliegende Aufgaben im Bereich Rettung in die Hände von Profis zu legen, die sicherstellen, dass im Notfall Hilfe kommt – innerhalb der vorgeschriebenen Interventionszeitgrenze und mit hoher Qualität.
Natürlich ist das für die Kantone nicht gratis. Doch die dafür aufgewendeten Mittel seien gut investiert, ist Andres Bardill überzeugt: «Die Ausbildung und die Ausrüstung von FirstResponder-Plus-Gruppen bietet viele Vorteile – ganz besonders dort, wo Probleme bezüglich kritischer Interventionszeiten herrschen. Die Kosten für die Kantone sind überschaubar – und vielerorts die kleinere Herausforderung verglichen mit dem Problem, genügend Personen zu finden, welche die nötigen Grundkenntnisse und die Bereitschaft mitbringen, sich als First-Responder-Plus zu engagieren.»
Aktiv Werbung für die eigenen Leistungen macht die ARS bei den Kantonen nicht, wie Andres Bardill betont. «Interessierte Kantone müssen von sich aus an uns herantreten. Dann setzen wir uns zusammen, analysieren die Ist-Situation und reichen Hand für die nötige Unterstützung und die Etablierung einer passgenauen Lösung.»
Kooperationen mit mehreren Kantonen etabliert
Wie solche Lösungen aussehen können, zeigen vier aktuelle Beispiele aus den Kantonen Graubünden und Glarus sowie Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden.
Der Kanton Graubünden war der erste Kanton, der die ARS mit dem Aufbau eines First-Responder-Dispositivs beauftragte. Seit dem Jahr 2020 besteht eine Leistungsvereinbarung des Kantons mit der ARS, die parallel zur Bergrettung auch den Aufbau und den Betrieb eines FirstResponder-Plus-Dispositivs über die SAC-Rettungsstationen und weitere Partnerorganisationen umfasst. Damit sollen im schwer zugänglichen und entlegenen Gebiet Lücken in der notfallmedizinischen Grundversorgung geschlossen werden, bis die professionellen Rettungskräfte vor Ort eintreffen. Der Aufbau des Dispositivs ist seit Anfang 2024 abgeschlossen und zählt 83 lokale Gruppen mit insgesamt rund 450 First-Responder-Plus-Kräften. Über 30 Prozent der Ersthelfer im Dispositiv sind medizinische Fachpersonen.
Im Kanton Glarus wurde im Juni 2024 entschieden, im gesamten Kantonsgebiet ein FR+-System nach dem Vorbild von Braunwald, wo bereits seit 2016 First Responder aktiv sind, aufzubauen. Vorgesehen ist die Etablierung von bis zu 100 First-Responder-Plus-Personen, gegliedert in 20 lokalen Gruppen. In einer ersten Phase sollen in Ergänzung zur FR+-Gruppe Braunwald neun zusätzliche First-Responder Plus-Gruppen mit insgesamt rund 50 Personen gebildet werden. Diese sollen die Ortschaften Bilten, Filzbach, Obstalden, Mühlehorn, Rüti, Linthal, Engi, Matt und Elm abdecken, in denen mit längeren Interventionszeiten für den Rettungsdienst des Kantonsspitals Glarus zu rechnen ist.
Die Ausbildung und die alle zwei Jahre anstehenden Auffrischungskurse werden durch den Samariterverband Glarnerland sowie die lokalen Samaritervereine durchgeführt. Zudem erfolgt ein regelmässiger Austausch mit dem Rettungsdienst des Kantonsspitals Glarus.
Für die Jahre 2025 und 2026 muss der Kanton Glarus einen Beitrag von insgesamt 78’500 Franken für die Projektleitung und den Aufbau der neun neuen FR+-Gruppen leisten. Im Jahr 2026 werden dann aber nur noch 7’750 Franken und ab 2027 jährlich 15’500 Franken für die Betriebskosten fällig.
Im Kanton Appenzell Innerrhoden übernahm die ARS vor gut zwei Jahren (2022) die Organisation sowohl der FR+- Gruppen (Milizpersonal) als auch der dortigen Rapid-Responder-Gruppen (Berufspersonal). Beide zusammen überbrücken in Appenzell Innerrhoden, wo keine Notfallstation mehr existiert, die Zeitspanne von der Alarmierung bis zum Eintreffen professioneller Rettungskräfte. Bemerkenswert: Da die Schweizer Berghilfe das System finanziell unterstützt, muss der Kanton AI lediglich rund 25’000 Franken pro Jahr für das FR+-Dispositiv investieren.
Auch im Nachbarkanton Appenzell Ausserrhoden besteht eine Leistungsvereinbarung mit der ARS. Einerseits für die Bergrettung und – seit Frühjahr 2024 – zusätzlich für den Aufbau und den Betrieb eines FR+Dispositivs. Die Aus- und Weiterbildung der Ersthelfenden sowie die zweijährlichen Auffrischungskurse werden durch den Rettungsdienst des Spitalverbunds Appenzell Ausserrhoden durchgeführt. Der Kanton vergütet der ARS die Kosten für die Startinvestition (Ausrüstung der Ersthelfer) pauschal mit 185’000 Franken und bezahlt eine jährliche Beitragspauschale von 12’700 Franken für deren Leistungen. Dafür stellt die ARS die Infrastruktur und den organisatorischen Rahmen des FR+-Systems zur Verfügung, in welches neben der Rettungsstation Schwägalp auch andere Rettungsorganisationen wie die Feuerwehr und der Samariterverein miteinbezogen werden.
Kantone, die sich ebenfalls für den Aufbau von FR+-Gruppen unter dem Dach der ARS interessieren, erhalten weitere Informationen bei der Stiftung Alpine Rettung Schweiz ARS, www.alpinerettung.ch