Hugo Wolf

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Hugo Wolf

(1860-1903)

61‘42

Spanisches Liederbuch: Geistliche Lieder Gedichte aus dem Spanischen übersetzt von Emanuel Geibel & Paul Heyse N 3‘11 1 r. 3 Nun wandre Maria (Ocaña/Heyse) 2r. 4 N Die ihr schwebet (Lope de Vega/Geibel) 2‘38 N3r. 2 Die du Gott gebarst, du Reine (Nuñez/Heyse) 2‘58 N4r. 9 Herr, was trägt der Boden hier (anon./Heyse) 2‘47 N5r. 5 Führ‘ mich, Kind, nach Bethlehem (anon./Heyse) 3‘21 N6r. 10 Wunden trägst du, mein Geliebter (Valdivielso/Geibel) 5‘07 N7r. 8 Ach, wie lang die Seele schlummert (anon./Geibel) 3‘42 N 8 r. 6 Ach, des Knaben Augen (Lopez de Ubeda/Heyse) 2‘18 N9r. 7 Mühvoll komm‘ ich und beladen (del Rio/Geibel) 4‘51 N r. 1 Nun bin ich dein (Juan Ruiz/Heyse) 5‘33 10 Mignon-Lieder nach Texten von Johann W. von Goethe (aus Wilhelm Meisters Lehrjahre) 11 12 13 14

Mignon Kennst du das Land Mignon II Nur wer die Sehnsucht kennt Mignon I Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen Mignon III So laßt mich scheinen, bis ich werde

6‘18 2‘36 3‘58 3‘42

Zwei Lieder nach Gedichten von Eduard Mörike 15 Auf eine Christblume I 6‘24 16 Auf eine Christblume II 1‘58


Monika Eder Bernd Grußendorf

Sopran Klavier

Die Reihenfolge der Lieder wurde von Monika Eder zusammengestellt Recording Producer / Tonmeister: Jens F. Meier ∙ Aufnahme: 6.-8. März 2006, Bad Zwesten Cover & Booklet-Design: Jens F. Meier ∙ Kaleidos media & arts ∙ www.kunstmedien.eu Foto (Monika Eder): © Dorothea Stumpf; Foto (Bernd Grußendorf): © Ralf Mohr Gemäldeabbildungen: c Christa Meier-Drave, Detmold ∙ www.kunstgalerie-kaleidos.de p& c 2007 Kaleidos Musikeditionen ∙ www.musikeditionen.de KAL 06203-CD


Zehn geistliche Lieder aus dem „Spanischen Liederbuch“ Selten hört man die geistlichen Lieder des Spanischen Liederbuchs an einem Abend in ihrer Gesamtheit. Ich wurde auf den Zyklus aufmerksam, als ich gerade das literarische Werk des spanischen Mystikers und Dichters Johannes vom Kreuz gelesen hatte. Im Zentrum des Johannes vom Kreuz steht, wie bei allen Mystikern aller Kulturen, Religionen und Zeiten die Erfahrung einer „dunklen Nacht der Seele“ und die damit verbundene, zunächst paradox erscheinende, Erfahrung des Lichts, dessen Erleben eine nie wieder erlöschende Sehnsucht erweckt! Tritt man aus dem „religiös befrachteten“ Vokabular heraus, was für viele Menschen tatsächlich eine Hürde für die Rezeption der Kompositionen darstellt, so erreicht man eine Ebene tiefster allgemein menschlicher Erfahrung des Dunklen, des Leids, der Verlassenheit und der damit verbundenen Transformation – vom unvorstellbar abgründigsten Ort des Menschen hin zur Liebe zu sich selbst, zum Nächsten und zur Schöpfung. In der Dichtung, wie in den Kompositionen, vermählen sich Eros und Religiosität durch die Bilder und Farben, die uns durch die äußeren in die inneren Sinne eintreten lassen. Hugo Wolf, der bekanntlich viele dieser dunklen Nächte selbst durchschritten hat, leitet uns mit seiner Tonsprache, die mehr der Wortfarbe als der Wortgestalt Rechnung trägt, durch einen Transformationsprozess. Aus diesem Grund entschied ich mich bei der Anordnung der zehn Lieder für die Reihenfolge der Kompositionsdaten. Am Ende steht das in der Gesamtausgabe des musikwissenschaftlichen Verlags Wien als erstes erscheinende Lied Nun bin ich dein. Das Bild der Jungfrau ist in seiner abstrakten Bedeutung das Symbol eines Menschen, der sich geöffnet hat für das Geistige, für das Wesentliche des Menschen... Ich möchte keine Anleitung zum Verständnis einzelner Lieder geben, um dem Prinzip des persönlichen und individuellen Weges jedes einzelnen Menschen entgegen zu kommen. Die Sprache des „Ton-Psychologen“ Wolf reicht von innigster Zärtlichkeit (Ach, des Knaben Augen…) über äußerste Hingabe (Wunden trägst du, mein Geliebter) bis hin zu tiefster Verzweiflung und Schmerz (Mühvoll komm‘ ich und beladen). Ebenso lässt sie uns überirdische und zugleich menschlich beglückende Erfahrungen miterleben, wenn die Seele vom Licht getroffen wird, das ihre Sehnsucht stillt (Ach, wie lang die Seele schlummert), oder in innigster Zweisamkeit im Dialog mit ihrem Herrn und Geliebten aufgeht. Die Lieder des Spanischen Liederbuchs, die Wolf selbst als seine „Charakteristischen“ bezeichnet, sind Hymnen auf die Gefühlswelt eines zu Mitgefühl und Liebe fähigen Wesens Mensch.


Die Mignon-Lieder nach Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre Im VIII. Buch des Wilhelm Meister von J.W. von Goethe erfahren wir einiges über die Geschichte der Mignon. Zunächst begegnet sie uns so, wie wir sie auch durch die Vertonungen erleben: Als Kind und doch als reife Seele, zerrissen und doch schwebend, verschlossen und doch aus tiefstem Herzen zu uns fließend, leidet sie an einer Krankheit, deren Symptome den modernen Menschen an Formen der Epilepsie erinnern - eine Krankheit, die den Leidenden „zwischen die Welten“ stellt: „...daß das Kind von wenigen tiefen Empfindungen nach und nach aufgezehrt werde, daß es bei seinem armen Herzen oft heftig und gefährlich leide, daß dieses erste Organ des Lebens bei unvermuteten Gefühlsbewegungen manchmal plötzlich stillestehe und keine Spur der heilsamen Lebensregung in dem Busen des guten Kindes gefühlt werden könne. Sei dieser ängstliche Krampf vorbei, so äußere sich die Kraft der Natur wieder in gewaltsamen Pulsen und ängstige das Kind nunmehr durch Übermaß wie es vorher durch Mangel gelitten habe [...]“. (Goethe W.M.L. VIII.2) An späterer Stelle erfahren wir von einem Erlebnis Mignons, das uns an die Erfahrungswelt des Mystikers in den geistlichen Liedern erinnert. Auch Mignon kennt das mystische Erleben und ist so geprägt davon, dass es sie zur Verkörperung der Sehnsucht werden lässt. „...sie mag in der Gegend von Mailand zu Hause sein und ist in sehr früher Jugend, durch eine Gesellschaft Seiltänzer, ihren Eltern entführt worden. Näheres kann man von ihr nicht erfahren, teils weil sie zu jung war, um Ort und Namen genau angeben zu können, besonders aber, weil sie einen Schwur getan hat, keinem lebendigen Menschen ihre Wohnung und Herkunft näher zu bezeichnen. Denn eben jene Leute, die sie in der Irre fanden und denen sie ihre Wohnung so genau beschrieb, mit so dringenden Bitten, sie nach hause zu führen, nahmen sie nur desto eiliger mit sich fort und scherzten nachts in der Herberge, da sie glaubten, das Kind schlafe schon, über den guten Fang und beteuerten, daß es den Weg zurück nicht wieder finden sollte. Da überfiel das arme Geschöpf eine gräßliche Verzweiflung, in der ihm zuletzt die Mutter Gottes erschien und es versicherte, daß sie sich seiner annehmen wolle. Es schwur darauf bei sich selbst einen heiligen Eid, daß sie künftig niemand mehr vertrauen, niemand ihre Geschichte erzählen und in der Hoffnung einer unmittelbaren göttlichen Hilfe leben und sterben wolle […]. Wilhelm konnte sich nunmehr manches Lied, manches Wort dieses guten Kindes erklären […]“. (Goethe W.M.L. VIII.3.) „[…] sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der


Gesang dumpfer und düsterer; das Kennst du es wohl? drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem Dahin! Dahin lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr Laß uns ziehn! wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war […]“. (Goethe W.M.L. III.1.) Welch‘ Vorgabe für Komponist und Interpreten! Auch die Sehnsucht der Ganzwerdung, die dem Bild der heiligen Vermählung entspricht, können wir aufspüren, wenn Mignon dem Wunsch Ausdruck verleiht, zu den himmlischen Gestalten zu gehören, „die nicht nach Mann und Weib fragen“, deren verklärten Leib „keine Kleider und Falten“ umgeben. Die Metamorphose des Menschenwesens zu einem „Geistigen“ ist ihre Schau. Die Flügel, die sie bei ihrem Auftritt als Engel trägt (VIII.3.) „...stellen schönere vor, die noch nicht entfaltet sind!“ (Goethe W.M.L. VIII.3.) Zwei Christblumen-Lieder nach Dichtungen von Eduard Mörike Nach den „Bekenntnissen einer schönen Seele“ im VI. Buch des Wilhelm Meister präsentiert uns Mignon bei ihrem Auftritt als Engel ein uraltes Sinnbild der in die Morgenröte, in den Neuaufgang strebenden Lilie. „Bist du ein Engel? fragte das eine Kind. Ich wollte, ich wär es, versetzte Mignon. Warum trägst du eine Lilie? So rein und offen sollte mein Herz sein, dann wär’ ich glücklich.“ (Goethe W.M.L. VIII.2.) Das letzte Lied der geistlichen Lieder aus dem Spanischen Liederbuch endete gerade in diesem Zustand der geöffneten Seele mit Blick auf den „weiblichen Teil des Himmels“, der in vielen Traditionen die Farbe blau-violett angezogen hat. Der Beginn des ersten Christblumen-Liedes Tochter, des Walds du Lilienverwandte erinnert uns in seinem ganzen Duktus an das Nun bin ich dein! So wie Mignon in der Erfahrung der Vision der Mutter Gottes, die auch die Erfahrung einer „Innenschau“- eines „gefühlten Sehens“ - sein kann, einen Ankerpunkt im Leben fand, so findet die Seele des Suchers im geistlichen Liederbuch im Bild der Jungfrau und allem, was ihr damit verbunden ist, den Orientierung gebenden Stern im Meer, die Königin der immer wieder aufgehenden Sonne... Den menschlichen Geschöpfen wohl aller Zeiten geben die lebendigen Bilder der Metamorphosen in der Natur Hoffnung auf die Teilhabe an diesem ewig wiederkehrenden Sterben und Werden...


„Im Winterboden schläft ein Blumenkeim...“ (Auf eine Christblume II) - Warum sollten nicht auch wir einst die Flügel eines Engels tragen, wenn sogar die Raupe sich zum Schmetterling entpuppt? Christblume - Lilienverwandte, „kindlich zierst du die Weihnachtszeit“ mit deiner „mystischen Glorie“, die auch unseren Sucher im Spanischen Liederbuch als Beobachter des Weihnachtsgeschehens, Sinnbild der Menschwerdung, losgehen ließ. Bilder für einen Weg - Sehnsucht am Rand der Ferne... © Monika Eder

Die Farbtafeln Den Liedern von Hugo Wolf sind Farbtafeln zur Seite gestellt, die nach Arbeiten von Christa Meier-Drave entstanden sind. Sie zeigen Ölbilder (sowie Ausschnitte daraus), die nicht die Liedtexte interpretieren sollen. Vielmehr bieten sie eine zusätzliche Möglichkeit, sich in die Lebenswelt, das Temperament der Lieder hinein zu begeben. Die Bilder sind von einer scheinbaren Einfachheit, weisen jedoch bei genauem Betrachten eine Fülle von farbigen Klängen, Schichten, Harmonien und Kontrasten auf. So wie das Ohr die Vielfalt der Klangfarben wahrnimmt, so kann das Auge die unterschiedlichen Farbklänge der Bilder aufspüren. Christa Meier-Drave studierte Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kunst. Nach fünf Jahren im Schuldienst übernahm sie museumspädagogische Aufgaben in der Kunsthalle Bielefeld. Sie ist auf vielfältige Weise künstlerisch tätig. Im Herbst 2006 erschien im Aisthesis – Verlag Bielefeld ihr Roman Himmel und Erde – Eine Kindheit. Eine ausgewählte Sammlung ihrer Werke kann auf der Seite der Internetgalerie www.kunstgalerie-kaleidos.de eingesehen werden.


Spanisches Liederbuch: Geistliche Lieder nach Gedichten aus dem Spanischen von Emanuel Geibel & Paul Heyse 1. Nun wandre, Maria Nun wandre, Maria, nun wandre nur fort. Schon krähen die Hähne und nah ist der Ort. Nun wandre, Geliebte, du Kleinod mein, und balde wir werden in Bethlehem sein. Dann ruhest du fein und schlummerst dort. Schon krähen die Hähne und nah ist der Ort. Wohl seh ich, Herrin, die Kraft dir schwinden; kann deine Schmerzen, ach, kaum verwinden. Getrost! Wohl finden wir Herberg dort. Schon kräh’n die Hähne und nah ist der Ort. Wär’ erst bestanden dein Stündlein, Marie, die gute Botschaft, gut lohnt’ ich sie. Das Eselein hie gäb’ ich drum fort! Schon krähen die Hähne, komm! nah ist der Ort.

Paul Heyse (1830-1914) nach einem spanischen Text von Ocaña (17. Jhdt.) , „Camino a Belén“



2. Die ihr schwebet Die ihr schwebet

Der Himmelsknabe

um diese Palmen

duldet Beschwerde,

in Nacht und Wind,

ach, wie so müd’ er ward

ihr heil’gen Engel,

vom Leid der Erde.

stillet die Wipfel!

Ach nun im Schlaf ihm

Es schlummert mein Kind.

leise gesänftigt die Qual zerrinnt, stillet die Wipfel! Es schlummert mein Kind.

Ihr Palmen von Bethlehem

Grimmige Kälte

im Windesbrausen,

sauset hernieder,

Wie mögt ihr heute

womit nur deck ich

So zornig sausen!

des Kindleins Glieder!

O rauscht nicht also!

O all ihr Engel,

Schweiget, neiget

die ihr geflügelt

euch leis’ und lind;

wandelt im Wind,

stillet die Wipfel!

stillet die Wipfel!

Es schlummert mein Kind.

Es schlummert mein Kind.

Emanuel Geibel (1815-1884) nach einem spanischen Text von Lope Felix de Vega Carpio (1562-1635) , „Cantarcillo de la Virgen“



3. Die du Gott gebarst, du Reine Die du Gott gebarst, du Reine, und alleine uns gelöst aus unsern Ketten, mach‘ mich fröhlich, der ich weine, denn nur deine Huld und Gnade mag uns retten. Herrin, ganz zu dir mich wende, daß sich ende diese Qual und dieses Grauen, daß der Tod mich furchtlos fände, und nicht blende mich das Licht der Himmelsauen. Weil du unbefleckt geboren, auserkoren zu des ew‘gen Ruhmes Stätten wie mich Leiden auch umfloren, unverloren bin ich doch, willst du mich retten.

Paul Heyse (1830-1914) nach einem spanischen Text von Nicolas Nuñez (15. Jhdt.) , „O Virgen que a Dios pariste“



4. Herr, was trägt der Boden hier Herr, was trägt der Boden hier, den du tränkst so bitterlich? „Dornen, liebes Herz, für mich, und für dich der Blumen Zier.“ Ach, wo solche Bäche rinnen, wird ein Garten da gedeih’n? „Ja, und wisse! Kränzelein, gar verschiedne, flicht man drinnen.“ O mein Herr, zu wessen Zier windet man die Kränze? Sprich! „Die von Dornen sind für mich, die von Blumen reich’ ich dir.“

Paul Heyse (1830-1914) nach einem spanischen Text eines unbekannten Dichters



5. Führ mich, Kind nach Bethlehem Führ mich, Kind nach Bethlehem!

Von der Sünde schwerem Kranken

Dich, mein Gott, dich will ich sehn.

bin ich träg und dumpf beklommen.

Wem geläng‘ es, wem,

Willst du nicht zu Hülfe kommen,

ohne dich zu dir zu gehn!

muß ich straucheln, muß ich schwanken.

Rüttle mich, daß ich erwache,

Leite mich nach Bethlehem,

rufe mich, so will ich schreiten;

dich, mein Gott, dich will ich sehn.

gib’ die Hand mir, mich zu leiten,

Wem geläng‘ es, wem,

daß ich auf den Weg mich mache.

Ohne dich zu dir zu gehn!

Daß ich schaue Bethlehem, dorten meinen Gott zu sehn. Wem geläng‘ es, wem, Ohne dich zu dir zu gehn!

Paul Heyse (1830-1914) nach einem spanischen Text eines unbekannten Dichters



6. Wunden trägst du mein Geliebter Wunden trägst du, mein Geliebter, und sie schmerzen dich; trüg‘ ich sie statt deiner, ich! Herr, wer wagt‘ es so zu färben deine Stirn mit Blut und Schweiß? „Diese Male sind der Preis, dich, o Seele, zu erwerben. An den Wunden muß ich sterben, Weil ich dich geliebt so heiß.“ Könnt‘ ich, Herr, für dich sie tragen, da es Todeswunden sind. „Wenn dies Leid dich rührt, mein Kind, magst du Lebenswunden sagen: Ihrer keine ward geschlagen, draus für dich nicht Leben rinnt.“ Ach, wie mir in Herz und Sinnen deine Qual so wehe tut! „Härtres noch mit treuem Mut trüg‘ ich froh, dich zu gewinnen; denn nur der weiß recht zu minnen, der da stirbt vor Liebesglut.“ Wunden trägst du mein Geliebter, Und sie schmerzen dich; trüg‘ ich sie statt deiner, ich!

Emanuel Geibel (1815-1884) nach einem spanischen Text von José de Valdivielso (1560-1638)



7. Ach, wie lang die Seele schlummert! Ach, wie lang die Seele schlummert! Zeit ist‘s, daß sie sich ermuntre. Daß man tot sie wähnen dürfte, also schläft sie schwer und bang, seit sie jener Rausch bezwang den in Sündengift sie schlürfte. Doch nun ihrer Sehnsucht Licht blendend ihr ins Auge bricht: Zeit ist‘s, daß sie sich ermuntre. Mochte sie gleich taub erscheinen Bei der Engel süßem Chor: Lauscht sie doch wohl zag empor, hört sie Gott als Kindlein weinen. Da nach langer Schlummernacht solch ein Tag der Gnad‘ ihr lacht, Zeit ist‘s, daß sie sich ermuntre.

Emanuel Geibel (1815-1884) nach einem spanischen Text eines unbekannten Dichters



8. Ach, des Knaben Augen Ach, des Knaben Augen sind mir so schön und klar erschienen, und ein Etwas strahlt aus ihnen, das mein ganzes Herz gewinnt. Blickt‘ er doch mit diesen süßen Augen nach den meinen hin! Säh’ er dann sein Bild darin, würd‘ er wohl mich liebend grüßen. Und so geb‘ ich ganz mich hin, seinen Augen nur zu dienen, denn ein Etwas strahlt aus ihnen, das mein ganzes Herz gewinnt.

Paul Heyse (1830-1914) nach einem spanischen Text von Lopez de Ubeda (17. Jhdt.)



9. Mühvoll komm‘ ich und beladen Mühvoll komm‘ ich und beladen, nimm mich an, du Hort der Gnaden! Sieh, ich komm‘ in Tränen heiß mit demütiger Gebärde, dunkel ganz vom Staub der Erde. Du nur schaffest, daß ich weiß wie das Vließ der Lämmer werde. Tilgen willst du ja den Schaden dem, der reuig dich umfaßt; nimm denn, Herr, von mir die Last, mühvoll komm‘ ich und beladen. Laß mich flehend vor dir knie‘n, daß ich über deine Füße Nardenduft und Tränen gieße, gleich dem Weib, dem du verzieh‘n, bis die Schuld wie Rauch zerfließe. Der den Schächer du geladen: „Heute noch in Edens Bann wirst du sein!“ O nimm mich an, du Hort der Gnaden!

Emanuel Geibel (1815-1884) nach einem spanischen Text von Don Manuel del Rio (Pseudonym von Emanuel Geibel)



10. Nun bin ich dein Nun bin ich dein, du aller Blumen Blume, und sing‘ allein allstund zu deinem Ruhme; will eifrig sein, mich dir zu weih‘n und deinem Duldertume. Frau, auserlesen, zu dir steht all mein Hoffen, mein innerst Wesen ist allezeit dir offen. Komm, mich zu lösen vom Fluch des Bösen, der mich so hart betroffen! Du Stern der See, du Port der Wonnen, von der im Weh die Wunden Heil gewonnen, eh‘ ich vergeh‘, blick‘ aus der Höh‘, du Königin der Sonnen! Nie kann versiegen die Fülle deiner Gnaden; du hilfst zum Siegen dem, der mit Schmach beladen. An dich sich schmiegen, zu deinen Füßen liegen heilt allen Harm und Schaden. Ich leide schwer und wohl verdiente Strafen. Mir bangt so sehr, bald Todesschlaf zu schlafen. Tritt du einher, und durch das Meer o führe mich zum Hafen.

Paul Heyse (1830-1914) nach einem spanischen Text von Juan Ruiz (14. Jhdt.), „Quiero seguir“



Goethe-Lieder 11. Mignon: Kennst du das Land? Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn, ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, die Myrte still und hoch der Lorbeer steht? Kennst du es wohl? Dahin! Dahin möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn. Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach, es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach, und Marmorbilder stehn und sehn mich an: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Kennst du es wohl? Dahin! dahin möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) aus: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg; in Höhlen wohnt der Drachen alte Brut; es stürzt der Fels und über ihn die Flut! Kennst du ihn wohl? Dahin! dahin geht unser Weg! O Vater, laß uns ziehn!



12. Mignon II Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide! Allein und abgetrennt von aller Freude, seh ich ans Firmament nach jener Seite. Ach! der mich liebt und kennt, ist in der Weite. Es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) aus: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“



13. Mignon I Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen, denn mein Geheimnis ist mir Pflicht; ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen, allein das Schicksal will es nicht. Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen; der harte Fels schließt seinen Busen auf, mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen. Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh, dort kann die Brust in Klagen sich ergießen; allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu, und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) aus: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“



14. Mignon III So laßt mich scheinen, bis ich werde, zieht mir das weiße Kleid nicht aus! Ich eile von der schönen Erde hinab in jenes feste Haus. Dort ruh‘ ich eine kleine Stille, dann öffnet sich der frische Blick; ich lasse dann die reine Hülle, den Gürtel und den Kranz zurück. Und jene himmlischen Gestalten, sie fragen nicht nach Mann und Weib, und keine Kleider, keine Falten umgeben den verklärten Leib. zwar lebt‘ ich ohne Sorg‘ und Mühe, doch fühlt‘ ich tiefen Schmerz genug. Vor Kummer altert‘ ich zu frühe; macht mich auf ewig wieder jung!

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) aus: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“



Mörike-Lieder 15. Auf eine Christblume I Tochter des Walds, du Lilienverwandte, so lang von mir gesuchte, unbekannte, im fremden Kirchhof, öd‘ und winterlich,

In deines Busens goldner Fülle gründet ein Wohlgeruch, der sich nur kaum verkündet; so duftete, berührt von Engelshand,

zum ersten mal, o schöne, find‘ ich dich!

der benedeiten Mutter Brautgewand.

Von welcher Hand gepflegt du hier erblühtest,

Dich würden, mahnend an das heil‘ge Leiden,

ich weiß es nicht, noch Wessen Grab du hütest; ist es ein Jüngling, so geschah ihm Heil,

fünf Purpurtropfen schön und einzig kleiden: Doch kindlich zierst du, um die Weihnachtszeit,

ist‘s eine Jungfrau, lieblich fiel ihr Teil.

lichtgrün mit einem Hauch dein weißes Kleid.

Im nächt‘gen Hain, von Schneelicht überbreitet,

Der Elfe, der in mitternächt‘ger Stunde

wo fromm das Reh an dir vorüber weidet, bei der Kapelle, am krystall‘nen Teich, dort sucht‘ ich deiner Heimat Zauberreich. Schön bist du, Kind des Mondes, nicht der Sonne; dir wäre tödlich andrer Blumen Wonne, dicht nährt, den keuschen Leib voll Reif und Duft, himmlischer Kälte balsamsüße Luft.

Eduard Mörike (1804-1875)

zum Tanze geht im lichterhellen Grunde, vor deiner mystischen Glorie steht er scheu neugierig still von fern und huscht vorbei.



16. Auf eine Christblume II Im Winterboden schläft ein Blumenkeim, der Schmetterling, der einst um Busch und Hügel in Frühlingsnächten wiegt den sammt‘nen Flügel; nie soll er kosten deinen Honigseim. Wer aber weiß, ob nicht sein zarter Geist, wenn jede Zier des Sommers hingesunken, dereinst, von deinem leisen Dufte trunken, mir unsichtbar, dich blühende umkreist?

Eduard Mörike (1804-1875)



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