AMEN HAYR SURB

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ARMENIAN SACRED MUSIC

N JOHANN SEBASTIAN BACH

Amen Hayr Surb LILIT TONOYAN – violin DAVIT MELKONYAN – cello

Alle armenischen Sakral-Lieder arrangiert von Lilit Tonoyan, außer Miayn surb, arrangiert von Davit Melkonyan. Amen Hayr Surb, Sirt im sasani und Preludio / Aysor Dzaynn Hayrakan arrangiert von Lilit Tonoyan und Davit Melkonyan. All sacred Armenian chants arranged by Lilit Tonoyan, except Miayn Surb, arranged by Davit Melkonyan. Amen Hayr Surb, Sirt im sasani and Preludio / Aysor Dzaynn Hayrakan arranged by Lilit Tonoyan and Davit Melkonyan.

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Edition Kaleidos · KAL 6340-2 Recording / Aufnahme: 08/2017, Christuskirche Neuss Recording Producer / Tonmeister: Jens F. Meier Artwork / Cover-Design & Text-Layout: Jens F. Meier Photos: Pierre Hansen (cover photo, booklet p. 1), Laurence Chataigne (backside, booklet pp. 15/16) Liner-Notes / Booklettext: Dr. Vladimir Ivanoff · Translations / Übersetzungen: Anika Mittendorf Executive Producer: Jens F. Meier

p& © 2018 Kaleidos Musikeditionen · www.musikeditionen.de

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ARMENIAN

A MEN

SACRED MUSIC N JOHANN SEBASTIAN BACH

HAYR SURB

Ամէն Հայր Սուրբ

Սիրտ իմ սասանի 1 Sirt im sasani (part 1) 2:01 Mein Herz erzittert / My heart trembles Gründonnerstagshymne / Maundy Thursday Hymn MKHITAR AYRIVANETSI (ca. 1230–1297)

Տէր ողորմէա 2 Ter voghormea 5:51 Herr, erbarme Dich / Lord, have Mercy Aus der Heiligen Liturgie / From the Divine Liturgy KOMITAS (1869–1935) Որ նշանաւ ամենայաղթ 3 Vor nshanav amenahaght 3:05 Siegreiches Kreuz / The sign of the victorious and almighty cross

Scharakan zum Fest des heiligen Kreuzes von Varak / Sharakan for the Feast of the Holy Cross of Varak

SAHAK G. DZORAPORETSI (7. Jh. n. Chr. / 7th century A. D.) 4 Invention Nr. 11 g-Moll BWV 782 1:48 Invention No. 11 G minor BWV 782 JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750)

Զօրութիւն սուրբ Խաչի

5 Zorutyun surb Khachi 3:47 Die Kraft des Heiligen Kreuzes / The power of the Holy Cross

4

Scharakan zum Fest der Kreuzerhöhung / Sharakan for the Feast of the Holy Cross SAHAK G. DZORAPORETSI (7. Jh. n. Chr. / 7th century A. D.)


Նայեաց սիրով 6 Nayeac sirov Schau liebevoll, barmherziger Vater / Look lovingly, compassionate Father

3:58

Scharakan zum Friedensgottesdienst / Sharakan for the peace service NERSES SHNORHALI (1102–1173)

Ով Զարմանալի 7

Ov Zarmanali Welch wundersames Mysterium / Oh amazing great mystery Canto (tagh), gesungen während der Segnung des Wassers nach der Weihnachtlichen Liturgie / Canto (tagh), sung during the blessing of the Waters after Christmas Holy Mass GRIGOR G. PAHLAVUNI (1093–1166)

4:07

8

Sarabanda aus der Partita d-Moll BWV 1004 4:22 Sarabanda from Partita in D minor BWV 1004 JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750)

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Invention Nr. 4 d-Moll BWV 775

Invention No. 4 D minor BWV 775 JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750)

0:54

Միայն Սուրբ 10

Miayn Surb

Einzig Heilig / Only Holy Aus der Heiligen Liturgie / From the Divine Liturgy MAKAR YEKMALYAN (1856–1905)

1:48

Հաւուն հաւուն 11 Havun Havun (violin) 4:14 Der Vogel, der Vogel erwachte / The bird, the bird awoke Auferstehungshymne / Canto (tagh) of the Resurrection GRIGOR NAREKATSI (951–1003)

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Ամէն Հայր Սուրբ 12 Amen Hayr Surb Amen Heiliger Vater / Amen Holy Father

3:41

13 Invention Nr. 13 a-Moll BWV 784 Invention No. 13 A minor BWV 784 JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750)

1:35

14

3:13

Aus der Heiligen Liturgie / From the Divine Liturgy MAKAR YEKMALYAN (1856–1905)

Largo aus der Sonate C-Dur BWV 1005

Largo from Sonata in C major BWV 1005 JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750)

Յամենայնի 15 Hamenayni (1) Von allen bist Du gesegnet, Herr / You are blessed of all, Lord

0:46

Aus Patarag (Liturgie) / From Patarag (Liturgy) KOMITAS (1869–1935)

Հաւուն հաւուն

16 Havun Havun (cello) 2:56 Der Vogel, der Vogel erwachte / The bird, the bird awoke Auferstehungshymne / Canto (tagh) of the resurrection GRIGOR NAREKATSI (951–1003)

Յամենայնի 17 Hamenayni (2) Von allen bist Du gesegnet, Herr / You are blessed of all, Lord Aus Patarag (Liturgie) / From Patarag (Liturgy) KOMITAS (1869–1935)

6

0:50


Սիրտ իմ սասանի 18

Sirt im sasani (part 1 & 2) 3:54 Mein Herz erzittert / My heart trembles Gründonnerstagshymne / Maundy Thursday Hymn MKHITAR AYRIVANETSI (ca. 1230–1297)

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Invention Nr. 14 B-Dur BWV 785

Աւետիս Ծննդեան

Invention No. 14 B flat major BWV 785 JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750)

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Avetis tsnndyan

Frohe Botschaft der Geburt Jesu / Good news of the birth of Jesus Weihnachtslied (Scharakan) / Christmas Carol (Sharakan) KOMITAS (1869–1935)

Այսօր ձայնն հայրական 21 Aysor dzaynn Hayrakan

Heute die Stimme des Vaters / Today the voice of the Father Canto (tagh), gesungen während der Segnung des Wassers nach der weihnachtlichen Liturgie / Canto (tagh), sung during the blessing of the Waters after Christmas Holy Mass HOVHANNES YERZNKATSI (ca. 1230–1293)

22 Preludio / Aysor dzaynn Hayrakan Preludio aus der Partita E-Dur BWV 1006 (mit der Melodie von Aysor dzaynn Hayrakan)

1:27

0:32

2:03

3:41

Preludio from Partita in E major BWV 1006 (with the melody of Aysor dzaynn Hayrakan) JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750) / HOVHANNES YERZNKATSI (ca. 1230–1293)

Օրհնութիւն երից մանկանց 23

Orhnutyun eric mankanc Die Segnung der drei Knaben / The consecration of the three boys Scharakan aus dem armenischen Horologion / Sharakan from the Armenian Book of Hours (Verfasser unbekannt / Author unkown)

3:09 7


AMEN HAYR SURB Musikalische Meditationen Die armenische Musik hat eine fruchtbare und alte Tradition. Nach den Vertreibungen und dem Genozid im Ersten Weltkrieg und sieben Jahrzehnten Sowjetherrschaft, in denen der Zugang zu den kulturellen Schätzen kaum möglich war, entdecken Künstler und Publikum in Armenien, aber auch die zahlreichen in der weltweiten Diaspora lebenden Musiker und Musikliebhaber in den letzten Jahrzehnten ihre musikalische Tradition ganz neu. Ein weltweites Publikum ist fasziniert von den Klängen der armenischen Volks- und Kirchenmusik, und auch Musiker aus ganz unterschiedlichen Stilrichtungen, die keine armenischen Wurzeln haben, lassen sich von dem farbenprächtigen Schatz an Melodien, intensiven Emotionen und tiefer Spiritualität inspirieren. Die Gesänge der armenischen Kirche aus der klassischen Periode vom 5. bis 15. Jahrhundert gehören zur ältesten überlieferten Musik des Christentums. Sie haben eine enorme Bedeutung für das Überleben armenischer Kultur und armenischer Identität, im Heimatland und in der globalen Diaspora werden sie von Hörern mit armenischen Wurzeln als kulturelle und spirituelle Heimat empfunden. Komitas Vardapet (1869–1935), armenischer Priester, Musikethnologe, Komponist, Sänger und Chorleiter, schuf mit seiner Feldforschung, seinen Arrangements und Kompositionen die Grundlagen der armenischen Musikwissenschaft und einen nationalen Kompositionsstil. Gerade weil er als Geistlicher das einstimmige Repertoire der armenischen Kirche in zahlreichen mehrstimmigen Arrangements aktualisierte, öffnete er den folgenden Generationen von Musikern die Möglichkeit, sich mit der kirchlichen Musiktradition Armeniens in kreativer Weise auseinanderzusetzen.

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Ganz in dieser kreativ-spirituellen Tradition ruhend, arrangierte die junge in Deutschland lebende Geigerin Lilit Tonoyan ursprünglich vokale Kirchenmusik im instrumentalen Idiom: für Violine und Violoncello. Das ist gewagt, denn sie transferiert die alten geistlichen Lieder aus ihrem ursprünglichen Ritus und dem kirchlichen Raum in den Konzertsaal und auf die CD. Sie löst die Melodien von ihrem traditionellen geistlichen Zusammenhang und den von ihnen getragenen Texten ab und verlässt sich ganz auf die eindringliche Kraft dieser über Jahrhunderte geschliffenen geistlichen Juwelen. Dieses Vertrauen und dieser kreative Prozess sind ganz „unmodern“ und damit auch ein wenig mit der Kompositionsarbeit von Hildegard von Bingen vergleichbar: Hildegard gab ihrer Sammlung von einstimmigen Chorälen den Titel Symphonia Harmoniae Caelestium Revelationum. Für sie ist die menschliche Seele „symphonisch“, denn über das Gehör erreichen Melodie und Worte die Seele und werden dort zu einem höherwertigen Ganzen vereint. Hildegard versteht sich damit weniger als Komponistin, sondern mehr als Hörende der Harmoniae Caelestium Revelationum, der Harmonie himmlischer Offenbarungen. Lilit Tonoyan lauscht als Interpretin ihrer eigenen Fassungen armenischer Kirchengesänge, wie Hildegard es für sich beschrieb, der „Stimme des lebendigen Lichts“. Die geistlichen Texte ruhen dabei in ihrem Bewusstsein und werden im Spiel wieder mit ihren Muttermelodien vereint: musikalische Meditationen. Tonoyan stellt der armenischen Musiktradition instrumentale Kompositionen von Johann Sebastian Bach gegenüber. Bachs „weltliche“ Instrumentalmusik ist so geistlich wie seine vokale geistliche Musik weltlich. Seine Werke erfolgreich zu interpretieren gelingt nur in einer achtsam meditativen Haltung. Und genau deshalb 9


ergänzen sie auf der vorliegenden CD die armenischen Melodien auf ganz natürliche Weise. Einmal durchdringen sich Bachs Musik und die armenische Liturgie: Die Ode (tagh) Aysor dzaynn Hayrakan (Track 21) von Hovhannes Yerznkatsi (13. Jh.) begleitet nach der Weihnachtsmesse die Wasserweihe. In Lilit Tonoyans Arrangement stützt sie als melodischer Tenor das perlende Fließen des Preludio aus der Partita in E-Dur BWV 1006 (Track 22). Demut & Sühne, Heil & Mysterium, Ekstase & Dankbarkeit Demut … zeigt das Zusammenspiel von Violine und Cello bei Sirt im Sasani („Mein Herz erzittert“, Track 1) von Mkhitar Ayrivanetsi (um 1230–1297), das im armenischen Ritus die Fußwaschung am Gründonnerstag begleitet. Violine und Cello stützen sich abwechselnd mit einem Halteton (Bordun, byzantinisch Ison), der traditionell für die ewige Stimme Gottes steht. Die behutsame Begegnung der beiden Instrumente mündet erst in der zweiten Metamorphose der Melodie (Track 18) in ein kurzes Unisono. Sühne Das armenische Kyrie eleison, Ter Voghormea („Herr, erbarme Dich“, Track 2), wurde ursprünglich in schweren Zeiten als Teil eines Sühneritus gesungen, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ist es Teil des Surb Patarag („Heilige Messe“), direkt vor der Kommunion, während der Vorhang zwischen Gläubigen und Priestern geschlossen wird. Lilit Tonoyan bezieht sich in ihrer Fassung dieses transzendenten Augenblicks auf die mittelalterlich archaisierende Fassung von Komitas Vardapet.

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Heil Armenien wird auch „Land der Kreuze“ genannt. Zwei Kreuze schmücken die Fassaden vieler armenischer Kirchen, überall sind steinerne Kreuze zu finden. Das Kreuz wird als Symbol für den Sieg Christi über den Tod und sein Heilsversprechen betrachtet. Die beiden „Feste des Kreuzes“, eines davon nur von der armenischen Kirche gefeiert, nehmen einen wichtigen Teil des Kirchenjahres ein, die Erhöhung des Kreuzes in einer Prozession schließt die Heilige Messe ab. Im 7. Jahrhundert erschien dem Einsiedler Thotig und seinem Schüler Hovel auf dem Berg Varak (bei Van) eine Kirche mit zwölf Säulen und einem großen Kreuz, welches die beiden zur Kreuzreliquie am Altar der Klosterkirche führte. Dieser Erscheinung wird seit dem Jahr 650 mit einem Kirchenfest gedacht. Das Scharakan (Hymne) zum Fest des Heiligen Kreuzes von Varak Vor nshanav amenahaght („Im Zeichen des siegreichen und allmächtigen Kreuzes”, Track 3) feiert Erscheinung und Reliquie in ekstatischer Weise. Die Hymne Zorutyun surb Khachi („Die Kraft des Heiligen Kreuzes“, Track 5) zum Feiertag der Erhöhung des Heiligen Kreuzes verkündet den Glauben an das Heilsversprechen des Kreuzes. Mysterium Im aus dem 12. Jahrhundert stammenden Canto (tagh) Ov Zarmanali („Welch wundersames Mysterium“, Track 7) wird von der Taufe Jesu durch Johannes erzählt. Das armenische Wort für „Sakrament“ ist Khorhoort – Geheimnis bzw. Mysterium. Die Armenische Kirche sieht den Empfang der Sakramente wie das in ein spirituelles Leben Geborenwerden durch die Taufe, dem ersten Sakrament, als mysteriösen Prozess. Lilit Tonoyan lässt hier das transzendente Wasserleuchten der Taufe durch virtuoses Geigenflimmern in lichter Höhe scheinen; vielleicht ein wenig im Geiste der Mysteriums-Visionen des russischen Klaviervirtuosen und theosophischen Komponisten A. Skrjabin (1872–1915).

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Ekstase Der erwachende oder aufsteigende Vogel, oft eine Taube, ist in der Dichtung der östlichen Kirchen ein beliebtes Symbol für die Geburt und für die Auferstehung Christi. Während z. B. aramäische Hymnen wie Yawno Tlito die Ekstase dieser lebenserschaffenden Momente mit rhythmischer Erregung beschreiben, kennt die Musik der armenischen Kirchenmusik die stille Ekstase, erzeugt durch ein langsames Aufsteigen des Gesangs in die Höhe. Die Auferstehungshymne Havun Havun („Der Vogel erwachte“, Track 11 mit Violine, Track 16 mit Cello) ist einer der ältesten liturgischen Gesänge. Lilit Tonoyan betont das Alter dieser ehrwürdigen Melodie von Grigor Narekatsi (951–1003) durch den archaisierenden Halteton (Bordun), mit dem (in traditionellen Aufführungen) der Chor dem sich in die Höhe erhebenden ätherischen Gesang des Solisten stützenden Boden gibt. Dankbarkeit Die Eucharistie – griechisch wörtlich „Danksagung“ – ist der Mittelpunkt der Heiligen Messe. Ihr voran geht die Akklamation der Dreifaltigkeit: Amen – Heiliger Vater – Heiliger Sohn – Heiliger Geist (Amen Hayr Surb, Track 12). Lilit Tonoyan wählte für ihr Arrangement die hochromantische melodische Fassung von Makar Yekmalyan (1856–1905). Obwohl er der Sohn armenischer Bauern war, führte ihn seine musikalische Berufung als Schüler von N. Rimski-Korsakow bis nach St. Petersburg, wo er unter anderem Leiter der armenischen Musikschule war. Er war der erste Brückenbauer zwischen armenischer Tradition und europäischer Klassik. 1895 unterrichtete er Komitas Vardapet, den Begründer des armenischen Nationalstils in der klassischen Musik. Hamenayni, die Dankgesang an Gott („In allen Dingen gesegnet bist Du, o Herr”, Tracks 15 & 17), hier in der Fassung von Komitas Vardapet (1869–1935), leitet den Höhepunkt der Eucharistie, die Epiclesis ein.

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Den Abschluss von Lilit Tonoyans Transformationen armenischer Kirchengesänge bildet eine Litanei, in der die alttestamentarische Geschichte von den „Drei Jünglingen im Feuerofen“ (3. Buch Daniel) erzählt wird: Orhnutyun eric mankanc („Die Segnung der drei Knaben“, Track 23). Der babylonische Herrscher Nebukadnezar ließ die drei jüdischen Männer in einen Schmelzofen werfen, nachdem sie sich geweigert hatten seinen goldenen Götzen anzubeten. Dort priesen sie jedoch unbeirrt und unversehrt weiter Gott und seine Schöpfung, was Nebukadnezar vom jüdischen Glauben überzeugte. In dieser Erzählung verbinden sich wesentliche Glaubensinhalte der christlichen, vor allem orthodoxen Kirchen – Demut & Sühne, Heil & Mysterium, Ekstase & Dankbarkeit – mit einer zentralen Kraft, die vor allem den immer wieder bedrohten, im Feuerofen der Geschichte stehenden orientalischen Kirchen das Überleben ermöglichte: der widerstandsfähigen Festigkeit des Glaubens. Deshalb spielt diese Litanei in den orthodoxen Liturgien eine wichtige Rolle. In der armenischen Kirche ist sie Grundlage des mönchischen Stundengebets am Morgen (Orthros) und eröffnet die Liturgie zu Mariä Lichtmess. Karlheinz Stockhausen, Pionier der Verschmelzung synthetischer und konkreter Klänge, schrieb über sein heute legendäres Frühwerk Gesang der Jünglinge im Feuerofen (1956): „Wo immer also aus den Klangzeichen der Musik für einen Augenblick Sprache wird, lobt sie Gott.“ Vladimir Ivanoff

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it der in Jerewan (Armenien) geborenen und aufgewachsenen Violinistin LILIT TONOYAN verbinden sich zwei Musikkulturen auf besondere Weise: Geprägt durch die vielseitige traditionelle Musik ihrer Heimat beschäftigt sich die Künstlerin seit ihrem Studium des abendländischen Musikkanons in Deutschland intensiv mit armenischer Vokal- und Instrumentalmusik. So gründete sie 2008 das Cologne World Jazz Ensemble, welches hauptsächlich traditionelle armenische Musik mit Jazz und Improvisation verbindet. Mit der Band gewann sie 2012 einen Sonderpreis beim CitroënMusikwettbewerb und war 2013 Finalistin bei Creole NRW. Lilit Tonoyan kam 2007 mit einem Stipendium des DAAD aus Armenien nach Deutschland und studierte an der Hochschule für Musik und Tanz Köln in den Klassen von Prof. Ingeborg Scheerer und Prof. Albrecht Winter; dort machte sie 2012 ihren Master-Abschluss. Entscheidende Impulse erhielt sie außerdem von den Professoren Anthony Spiri (Kammermusik), Dirk Mommertz (Kammermusik), Richard Gwilt (Alte Musik) und David Smeyers (Neue Musik).

Tonoyan gewann etliche Auszeichnungen bei Wettbewerben, so z. B. beim Khachaturyan-Wettbewerb in Armenien und beim Internationalen Violinwettbewerb Henri Marteau. Sie war Stipendiatin der WagnerStiftung, der Günther-Wand-Stiftung und aktuell der Deutschen Kammerakademie Neuss. Im Jahr 2015 erspielte sich die Violinistin mit ihrem Arrangement eines armenischen Sakralgesangs („Ter voghormea“) sowie ihrer Interpretation einer Bach-Sonate den Kunstförderpreis der Stadt Neuss. Aktuell beschäftigt sich Lilit Tonoyan intensiv mit der Sakralmusik Armeniens. Da es bisher keine instrumentalen Fassungen dieser Werke gibt, hat sie sich der Aufgabe gewidmet, ausgewählte Sakralgesänge des frühen Mittelalters für Violine zu arrangieren. Seit Anfang 2017 wirkt der ebenfalls aus Armenien stammende Cellist Davit Melkonyan im Projekt mit.

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AVIT MELKONYAN begann seine Ausbildung an der Hochschule für Künste Bremen bei Viola de Hoog und setzte sie an der Hochschule für Musik und Theater Rostock bei Gert von Bülow fort. Sein Studium schloss er im Jahre 2011 an der Universität der Künste Berlin bei Jens-Peter Maintz mit Auszeichnung ab. Wichtige Anregungen und Impulse erhielt er von Walter Levin, Anner Bylsma, Christophe Coin und Helmut Lachenmann. Als Preisträger des XVI. Internationalen Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerbs in Leipzig gastierte Davit Melkonyan bei bedeutenden Musikfestivals wie dem Musikfest Bremen, den Tagen Alter Musik Herne, den Bach-Mendelssohn Festtagen in Leipzig und im Bachhaus Eisenach, den Thüringer Bachwochen in Weimar und den Frankfurter Kammermusiken in Frankfurt (Oder). 2011 erspielte er sich den 2. Preis beim XXXIV. Internationalen Wettbewerb für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts „Premio Valentino Bucchi“ in Rom, Italien. Als Preisträger des Wettbewerbs der Deutschen Stiftung Musikleben spielte Davit Melkonyan von 2009 bis 2013 ein Instrument von Leonidas Rafaelian, Cremona 2006, Eigentum des Deutschen Musikinstrumentenfonds. Melkonyan war Stipendiat der Deutschen Stiftung Musikleben und der Alfred Töpfer Stiftung. Darüber hinaus wurde er von Yehudi Menuhin Live Music Now gefördert. Im September 2012 gewann er gemeinsam mit seinem Klavierpartner Mikayel Balyan den Förderpreis Deutschlandfunk und des Musikfests Bremen (Artist in Residence).

2013 spielte das Duo Melkonyan/Balyan die Sonaten von Bernhard Romberg ein, im folgenden Jahr erschien ihre Aufnahme der Sonaten von Johannes Brahms bei Sony Classical (DHM). Im Dezember 2015 veröffentlichte cpo Melkonyans Einspielung der Cellokonzerte Nr. 1 und Nr. 5 von Bernhard Romberg mit der Kölner Akademie unter der Leitung von Michael Alexander Willens. Davit Melkonyan spielt ein Cello von Albert Caressa, Paris 1905, private Leihgabe. 17


Սիրտ իմ սասանի Սիրտ իմ սասանի, սարսափ զիս ունի վասն Յուդայի: Նա ոչ ամաչէ եւ ոչ զարհուրի՝ սիրողն արծաթի,

Որ Տէրն ամենի, նմա առաջի ի ծունկըս անկանի.

Փրկիչըն բազմի դասուք երջանկի ի յերեկոյի: Տէր իմ, արժանի արա զմեզ հացի Քո Սուրբ Սեղանի: Ահա ազատեա՛ զմեզ ի մեղաց, քաւիչ յանցանաց, Աղաչ եմք, լո՛ ւր, Տէ՛ ր, եւ ողորմեա՛ :

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Sirt im sasani Mein Herz erzittert, mich erschüttert Judas; Er schämt sich nicht und fürchtet sich nicht: er liebt das Geld, Und er weigert sich, vor unserem Herrn zu knien, unser aller Herrn. Der Heiland bettet sich am Abend gemeinsam mit den Glücklichen. Herr, gib, dass wir uns würdig erweisen, das Brot an Deinem Heiligen Tisch zu essen! Oh, Du Erlöser, befreie uns von unseren Sünden! Wir bitten Dich, höre, o Herr, erbarme Dich unser!

My heart is trembling, I am horrified because of Judas; He is not ashamed and does not fear: he's fond of money, And he will not kneel before our Lord, Lord of everyone. The Saviour reclines with the happy ones during the evening. Lord, make us worthy to eat the bread of Your Holy Table! Now liberate us from our sins, Oh You, Redeemer! We beg You, hear, Lord, have mercy on us!

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AMEN HAYR SURB Musical Meditations Armenian music has a rich and ancient tradition. Exodus and genocide during the First World War and seven centuries of Soviet domination made access to cultural treasures nearly impossible. Since then, artists and audiences in Armenia, as well as numerous musicians and music appreciators living throughout the Armenian diaspora, have been rediscovering their musical tradition over the last few decades. Audiences worldwide are fascinated by the sounds of Armenian folk and sacred music. Even musicians from completely different stylistic backgrounds, absent of any Armenian roots, are inspired by the rich treasure trove of melodies, intense emotions und deep spirituality. The songs of the Armenian church from the classical period of the 5th to 15th century belong to the oldest music tradition of Christianity. They are of great importance to the survival of Armenian culture and identity. Whether in Armenia or in the global diaspora, listeners with Armenian roots perceive these songs as their cultural and spiritual homeland. Komitas Vardapet (1869–1935), Armenian priest, musicologist, composer, singer and choir conductor, created the foundations for Armenian musicology and a national compositional style with his field research, arrangements and compositions. Precisely because he, as a clergyman, reformed the repertoire of the Armenian church by arranging numerous plainsongs for several voices, he paved the way for following generations to creatively interact with the sacred music traditions of Armenia.

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Wholly within this creative spiritual tradition, the young violinist Lilit Tonoyan, who lives in Germany, has arranged church music, originally vocal, for the instrumental idiom: for violin and violoncello. Ancient spiritual songs are audaciously transferred from the church and its rituals to the concert hall and on CD. She frees the melodies from their traditional spiritual context and from their textual meaning and relies solely on the emphatic strength of these spiritual jewels, polished over centuries. Her faith and her creative process are quite “unmodern” and can therefore be somewhat compared to the compositions by Hildegard of Bingen: Hildegard gave her collection of monophonic chorales the title Symphonia Harmoniae Caelestium Revelationum. She understood the human soul as “symphonic”, melodies and texts touching the soul aurally and becoming unified as an exalted whole. Hildegard saw herself less as a composer and more as a listener of the Harmoniae Caelestium Revelationum, the harmonies of heavenly epiphanies. Lilit Tonoyan listens as an interpreter of her own version of Armenian hymns, just as Hildegard described herself as the “voice of the living light”. The spiritual texts remain in her consciousness and are playfully reunited with their original melodies: musical meditations. Tonoyan juxtaposes the Armenian music tradition with instrumental compositions by Johann Sebastian Bach. Bach’s “secular” instrumental music is as sacred as his sacred vocal music is secular. A successful interpretation of his works can only be achieved in a mindful, meditative state. That is exactly why they naturally complement the Armenian melodies on this CD. 21


The music of Bach is once imbued with the Armenian liturgy: The Ode (tagh) Aysor dzaynn Hayrakan (track 21) by Hovhannes Yerznkatsi (13th century) accompanies the Blessing of the Waters after Christmas mass. In Lilit Tonoyan’s arrangement she underlays the ornamental flow of the Preludio from the Partita in E major BWV1006 as a melodic thread (track 22).

Humility & Atonement, Salvation & Mystery, Ecstasy & Gratitude Humility … is shown in the interaction between violin and cello in Sirt im Sasani (“My heart trembles”, track 1) by Mkhitar Ayrivanetsi (1230–1297), that accompanies the Armenian rite of foot-washing on Maundy Thursday. Violin and cello alternately play the pedal point (bourdon, Byzantine Ison) which traditionally stands for the everlasting voice of God. In the second melodic metamorphosis, the gentle encounter of both instruments segues to a brief unison (track 18) for the first time. Atonement The Armenian Kyrie eleison, Ter Voghormea (“Lord have mercy”, track 2), would originally be sung in difficult times as part of an atonement. Since the late 18th century, it has been part of the Surb Patarag (“Holy Mass”), just before communion, during which the curtain between worshippers and priests is drawn. In her version, Lilit Tonoyan alludes to the moment of transcendence in the archaic medieval setting by Komitas Vardapet.

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Salvation Armenia is also called the “Land of crosses”. Two crosses adorn the façades of many Armenian churches and stone crosses can be found everywhere. The cross is regarded as a symbol of Christ’s victory over death and his promise of salvation. The two “Feasts of the Cross”, one of which is only celebrated in the Armenian church, are an important part of the church calendar, where the exaltation of the cross in a procession concludes Holy Mass. In the seventh century, a church with twelve pillars and a great cross appeared to the hermit Thotig and his disciple Hovel at Mount Varak (near Van), which led both to the relic of the cross at the altar of the monastery church. This revelation has been commemorated with a church festival since the year 650. The Sharakan (hymn) of the Feast of the Cross of Varag Vor nshanav amenahaght (“The sign of the victorious and almighty cross”, track 3) ecstatically celebrates revelation and relic. The hymn Zorutyun surb Khachi (“The power of the Holy Cross”, track 5) for the Feast of the Exaltation of the Holy Cross proclaims the belief of the promise of salvation of the cross. Mystery The canto (tagh) Ov Zarmanali (“Oh amazing great mystery”, track 7), dating from the 12th century, recounts the baptism of Jesus by John the Baptist. The Armenian word for “sacrament” is Khorhoort – mystery. The Armenian church views receiving the sacraments as a mystifying process, such as being born into spiritual life through baptism, the first sacrament. Lilit Tonoyan virtuosically lets the transcendental radiance of the baptismal water shimmer and shine in the bright heights of the violin – perhaps somewhat in the spirit of the mystery visions of the Russian piano virtuoso and theosophical composer A. Skrjabin (1872–1915).

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Ecstasy The arising or ascending bird, often a dove, is a common symbol of the birth and resurrection of Christ in the literature of the Eastern Church. While Aramaic hymns such as Yawno Tlito, for example, describe the ecstasy of such moments of creation with rhythmical excitation, the music of the Armenian church observes tranquil ecstasy, created by the voice slowly rising upwards. The resurrection hymn Havoun Havoun (“The bird, the bird awoke”, track 11 with violin and track 16 with cello) is one of the oldest liturgical hymns. Lilit Tonoyan emphasizes the age of this venerable melody by Grigor Narekatsi (951–1003) with an archaic pedal point (bourdon). This is traditionally performed by the choir, who provide the supportive foundation for the ethereal voice of the soloist to rise and soar. Gratitude The Eucharist – literally Greek for “thanksgiving” – is at the heart of Holy Mass. It is proceeded by the acclamation of the Trinity: Amen – Holy Father – Holy Son – Holy Spirit (Amen Hayr Surb, track 12). For her arrangement, Lilit Tonoyan chose the highly romantic melodic version by Makar Yekmalyan (1856–1905). Though a son of Armenian peasants, his musical calling led him to St. Petersburg where he became a student of N. Rimsky-Korsakov and later head of the Armenian music school. He was the first to build a bridge between the Armenian and European classical traditions. In 1895 he taught Komitas Vardapet, founder of the Armenian national style of classical music. Hamenayni, the song of thanks (“You are blessed of all, Lord”, tracks 15 & 17) in the version by Komitas Vardapet (1869–1935), preludes the climax of the Eucharist, the epiclesis.

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The conclusion of Lilit Tonoyan’s transformations of Armenian church songs forms a litany which tells the story of the “Three youths in the furnace” (Daniel 3) from the Old Testament: Orhnutyun eric mankanc (“The consecration of the three boys”, track 23). The Babylonian ruler Nebuchadnezzar has three Jewish men thrown into a furnace after they had refused to worship his golden idol. They continue to praise God and his creation, unswervingly and unscathed, which convinces Nebuchadnezzar of the Jewish faith. This story combines the essential beliefs of the Christian, particularly Orthodox, Church – humility & atonement, salvation & mystery, ecstasy & gratitude. It was its central force – the resilient strength of faith – which above all made the survival of the Oriental Church possible despite being threatened again and again, standing in the fiery furnace of history. That is why this litany plays an important role in Orthodox liturgy. In the Armenian church it is the foundation of monastic morning prayer (Orthros) and it opens the liturgy of Candlemas. Karlheinz Stockhausen, who pioneered merging synthetic and recorded sounds seamlessly, wrote about his now legendary early work Gesang der Jünglinge im Feuerofen (1956): “Whenever language emerges momentarily from the sound signals of the music, it praises God.” Vladimir Ivanoff

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wo music cultures uniquely combine in the violinist LILIT TONOYAN, born in Jerewan, Armenia. Influenced by the diverse traditional music of her homeland, the artist has intensely focussed on Armenian vocal and instrumental music since her studies of Western classical music in Germany. She thus founded the Cologne World Jazz Ensemble in 2008 which specialises in combining traditional Armenian music with jazz and improvisation. Along with her band she won a special prize at the Citroën Music Competition in 2012 and was a finalist at Creole NRW in 2013. Lilit Tonoyan came to Germany in 2007 on a DAAD scholarship to study with Prof. Ingeborg Scheerer and Prof. Albrecht Winter at the Cologne University of Music and Dance, graduating from her Masters degree in 2012. Further key influencers include Professors Anthony Spiri and Dirk Mommertz (chamber music), Richard Gwilt (early music) and David Smeyers (new music). Tonoyan has won numerous accolades at competitions, for example at the Khachaturyan Competition in Armenia and the International Violin Competition Henri Marteau. She has been a scholarship recipient of the Wagner Foundation, the Günter Wand Foundation and recently the Deutschen Kammerakademie Neuss. With her arrangement of a sacred Armenian song (“Ter voghormea”) as well as her interpretation of a Bach Sonata, she received the Arts Sponsorship Award of the city of Neuss in 2015. She is currently concentrating on the sacred music of Armenia. As there are as yet no instrumental versions of these works, she has dedicated herself the task of arranging select sacred chants of the early middle ages for the violin. The cellist Davit Melkonyan, also from Armenia, joined the project at the beginning of 2017.

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AVIT MELKONYAN began studies with Viola de Hoog at the University of the Arts Bremen before continuing with Gert von Bülow at the Rostock University of Music and Drama. He studied with Jens-Peter Maintz at the Berlin University of the Arts where he graduated with distinction in 2011. Walter Levin, Anner Bylsma, Christophe Coin and Helmut Lachenmann have provided him with further input and inspiration. As prize winner of the XVI. International Johann Sebastian Bach Competition in Leipzig, Davit Melkonyan was invited to perform at major music festivals such as the Music Festival Bremen, Tage Alter Musik Herne, Bach-Mendelssohn Festtagen in Leipzig and at Bachhaus Eisenach, the Thuringia Bach Festival in Weimar and the Frankfurter Kammermusiken in Frankfurt (Oder). In 2011 he received second place at the XXXIV. International Competition for 20th & 21st Century Music „Premio Valentino Bucchi“ in Rome, Italy. As prize winner of the Deutschen Stiftung Musikleben competition, Davit Melkonyan played on an instrument by Leonidas Rafaelian, Cremona 2006, property of the Deutsche Musikinstrumentenfond, from 2009 until 2013. Melkonyan is a scholarship recipient of the Deutschen Stiftung Musikleben and the Alfred Töpfer Stiftung and has received support from Yehudi Menuhin Live Music Now. In September 2012 he won the Förderpreis Deutschlandfunk and was Artist in Residence at the Music Festival Bremen alongside his piano partner Mikayel Balyan.

The duo Melkonyan/Balyan recorded the sonatas by Bernhard Romberg in 2013. The following year their recording of the sonatas by Johannes Brahms was released by Sony Classical (DHM). Their recording of the Cello Concertos No. 1 and No. 5 by Bernhard Romberg with the Kölner Akademie conducted by Michael Alexander Willens was released by cpo in December 2015. Davit Melkonyan plays a cello by Albert Caressa, Paris 1905, private loan. 27



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