Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke

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Mit freundlicher Unterstützung von / with friendly support of: Internationale Martin-Buber-Stiftung Die Internationale Martin-Buber-Stiftung will mit ihrer Namensgebung und durch ihren Sitz im Martin-Buber-Haus, Heppenheim, die Erinnerung an den großen Philosophen, Theologen, Pädagogen und Religionswissenschaftler Martin Buber lebendig erhalten. Ein Schlüsselsatz in seinem umfangreichen Opus heißt „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. Diese griffige Formel hat er nicht nur wissenschaftlich in seinen Büchern zu „Ich und Du“ oder zum dialogischen Prinzip entfaltet, sondern glaubhaft gelebt. Er gehört mit Margret Susman und Franz Rosenzweig zu den Vertretern der „jüdischen Renaissance“, die das Gespräch in einer dominant antisemitischen Gesellschaft mit einem Christentum aufnahmen, das sich selbst jahrhundertelang durch ein negatives Bild des Judentums in helleres Licht setzte. 1938 aus Deutschland vertrieben schloss Buber sich israelischen Friedensgruppen an, die einen Ausgleich mit den Palästinensern suchten. Die Internationale MartinBuber-Stiftung unterstützt Initiativen, die im Geist Martin Bubers arbeiten, das reiche Erbe des in der Schoah fast vernichteten europäischen Judentums lebendig zu erhalten. Stiftung Stahlwerk Georgsmarienhütte

Verkehrsverein Stand und Land Osnabrück e. V.

Kunsthistorisches Museum Wien Die Cover-Abbildung (Türkenschlacht von Jacques-Ignace Parrocel) wurde mit freundlicher Genehmigung des Kunsthistorischen Museums Wien bereitgestellt. The cover image was provided courtesy of Kunsthistorisches Museum Wien.


VIKTOR ULLMANN

Die Weise vo n Li e be und Tod des Co rnets Christoph Rilke ANTON ARENSKY

Dr ei Melod eclamationen

o p.  6 8

W E LT E R S T E I N S P I E L U N G / W O R L D P R E M I E R E R E C O R D I N G

DUO PIANOWORTE HELMUT THIELE Rezitation / recitation BERND-CHRISTIAN SCHULZE Klavier / piano

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Edition Kaleidos · KAL 6341-2 Recording / Aufnahme: 09/2017, Fattoria Musica, Osnabrück (Steinway & Sons D-274) Recording Producer / Tonmeister: Jens F. Meier Cover image / Cover-Abbildung: Türkenschlacht by Jacques-Ignace Parrocel (um 1711/1720) © Kunsthistorisches Museum Wien (KHM-Museumsverband) Artist picture / Künstlerfoto: © Lev Silber Cover design & text layout / Grafikgestaltung: Jens F. Meier (www.kaleidos.media) Liner notes / Booklettexte: Dr. Günter Katzenberger, duo pianoworte Translations / Übersetzungen: Anika Mittendorf Executive Producer: Jens F. Meier p& © 2018 Kaleidos Musikeditionen · www.musikeditionen.de


VIKTOR ULLMANN (1898–1944)

Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1944) Rainer Maria Rilke (1875–1926) Erster Teil 1 I »… den 24. November 1663« 0:41 2 II »Reiten, reiten, reiten« 3:15 3 »Der von Langenau rückt im Sattel« 0:50 4 III »Jemand erzählt von seiner Mutter« 3:13 5 »So reitet man in den Abend hinein« 4:43 6 IV »Ein Tag durch den Tross« 1:40 7 »Endlich vor Spork« 2:18 8 V »Der von Langenau schreibt einen Brief« 4:18 Zweiter Teil 9 I »Rast! Gast sein einmal« 10 II »Als Mahl begann's« 11 »Und einer steht und staunt« 12 III »Einer, der weiße Seide trägt« 13 »Hast Du vergessen, dass Du mein Page bist für diesen Tag?« 14 IV »Die Turmstube ist dunkel« 15 »Im Vorsaal über einem Sessel« 16 V »Ist das der Morgen?« 17 VI »Aber die Fahne ist nicht dabei« 18 VII »Er läuft um die Wette mit brennenden Gängen« 19 »Der von Langenau ist tief im Feind« 20 VIII »Im nächsten Frühjahr«

2:44 1:59 0:56 3:32 1:38 2:38 1:16 1:39 1:03 1:15 1:06 2:37


ANTON S. ARENSKY (1861–1906)

Drei Melodeclamationen op. 68 (1903) Ivan S. Turgenev (1818–1883) 2 1 22 23

Wie waren einst so schön, so frisch die Rosen Das azurblaue Reich Die Nymphen

5:16 4:45 7:03

DUO PIANOWORTE Rezitation HELMUT THIELE Klavier BERND-CHRISTIAN SCHULZE

Viktor Ullmann, 1924

Anton Arensky, ca. 1900

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VORWORT

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eit unserer Gründung 1994 hatten wir im Konzertalltag neben den Uraufführungen zahlreicher zeitgenössischer Werke natürlich auch immer wieder die „klassischen“ Melodrame von Schubert, Schumann, Liszt, Strauss, von Schillings u. a. im Programm. Insbesondere die Vertonung des Cornets von Viktor Ullmann hat uns fasziniert – kann sie doch als eine Art Bindeglied aufgefasst werden zwischen den romantischen Melodramen und zeitgenössischen Werken, das an vielen Stellen gegenwärtige Kompositionsansätze vorwegnimmt. Auch wenn Viktor Ullmann wohl eher nur die Aufführung der von ihm melodramatisch bearbeiteten Teile vorgeschwebt hat, haben wir uns dafür entschieden, auch die übrigen Textteile einzufügen. Zum einen ist die Dichtung Rilkes heute längst nicht mehr so bekannt wie Mitte des 20. Jahrhunderts und für den Hörer ergibt sich so eine lückenlose Handlung. Zum anderen tragen die freigestellten Textpassagen zu einer entspannenden Abwechslung zwischen den melodramatischen Abschnitten bei. Besonders bedanken möchten wir uns bei dem Ullmann-Experten Ingo Schultz (Viktor Ullmann – Leben und Werk, Bärenreiter-Verlag, BVK 2031, 2008), auf dessen Anregung hin wir uns intensiv mit dem Originalmanuskript beschäftigten, welches in der Paul Sacher Stiftung in Basel aufbewahrt wird. Daraus ergaben sich für uns etliche weiterführende Erkenntnisse sowohl in Bezug auf die korrekte Lesart von Tönen, Harmonien und Vortragsbezeichnungen als letztlich auch auf die Gestaltung des Klavierparts.

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Ebenfalls äußerst reizvoll war für uns die Ersteinspielung der drei Arensky-Melodramen, die als Paradebeispiele des romantischen Genres gelten können. Durch das Zusammenwirken von gesprochenem Wort und Musik ermöglichen uns diese Kleinode, in der heute eher nüchternen Zeit – wie durch ein geöffnetes Fenster – einen Blick auf die Gefühlswelt der Romantik und deren Umsetzung in Musik zu werfen. Ist das erste Stück Wie waren einst so schön die Rosen noch relativ populär, so war das Notenmaterial des Zweiten nur in der russischen Nationalbibliothek Moskau aufzutreiben. Die deutsche Übersetzung von Turgenjews Texten erschien uns dabei an vielen Stellen im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs überarbeitungswürdig. Deshalb haben wir in enger Abstimmung mit der Slawistin Erika Hoppe eine neue Fassung erstellt, die uns in sprachlicher Hinsicht zeitgemäßer erscheint. Diese CD ist dem Andenken an Erika Schulze, der Mutter des Pianisten, gewidmet. Helmut Thiele & Bernd-Christian Schulze

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VIKTOR ULLMANN Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1944)

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as Melodram, jene scheinbar vergessene „Zwitter“-Gattung zwischen Rezitation und Klavierlied, hatte in seiner klassischen Form einen Höhepunkt um 1900 erreicht. Dabei wird leicht übersehen, dass es im 20. Jahrhundert geradezu bahnbrechend aufgegriffen, szenisch oder halbszenisch erweitert oder auch erneuert wurde – etwa von Arnold Schönberg (Pierrot lunaire), Igor Strawinsky (Histoire du Soldat) und Alban Berg (in der Oper), aber auch in Frankreich durch Darius Milhaud und Arthur Honegger, ungeachtet der enormen Wirkung des Sprechgesangs im Brecht-Weillschen „Epischen Theater“. Erstaunlich ist aber auch, dass es gerade in der tschechischen Musik, aus jener Umgebung also, in der Viktor Ullmann aufwuchs, eine eigenständige Gattungsentwicklung gegeben hatte. Dass nun Ullmanns Cornet-Melodram nach einem der bekanntesten Rilke-Texte eine herausgehobene Stellung in der wechselvollen Gattungsgeschichte einnimmt, lässt sich nach heutigem Kenntnisstand kaum noch bezweifeln. Zum einen liefert dieses Werk zu der manchmal als ein wenig „altbacken“ angesehenen spätromantischen Gattungstradition einen markanten eigenständigen Beitrag des frühen 20. Jahrhunderts. Zum andern gründen die Bedingungen seiner Entstehung – zugleich als letztes Werk des Komponisten – auf einem nicht nur außergewöhnlichen, sondern auch außergewöhnlich tragischen Schaffenshintergrund. Als letztes zumindest im Particell abgeschlossenes Werk entstand es in Theresienstadt im Sommer 1944 (datiert „Juli 1944“, bzw. „4. Juli“ und „12. Juli“ für die beiden Teile), also kurz vor seiner Deportation nach Auschwitz im Oktober 1944. Wie bei vielen Komponisten seiner Generation kann man den Lebens- und Berufsweg von Viktor Ullmann nur als sehr bewegt bezeichnen. Nach frühem

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musiktheoretischem Unterricht folgten schon während seiner Teilnahme am 1. Weltkrieg erste Kompositionsstudien, bevor er um 1920 – im Einflussbereich seines Lehrers Arnold Schönberg und dessen Kreis – bereits Erfolge in der damaligen Avantgarde erzielte. Zugleich äußerte sich bei ihm ein ausgeprägtes literarisches Interesse. Nach diversen Kapellmeisterstellen (u. a. in Prag und Zürich) wandte er sich vorübergehend anthroposophischer Literatur zu (sogar beruflich als Buchhändler) und entfaltete ab 1933 in Prag eine erstaunliche kompositorische Produktivität, die sich nach der Deportation 1943 sogar eher noch verstärkte – trotz geringer Aussicht auf ungestörte Fertigstellung und Aufführung vieler dieser Werke. Im Rahmen seiner regen Tätigkeit (mit Vorträgen, Rezensionen, Konzerten) in der sogenannten „Freizeitgestaltung“ in Theresienstadt (im Dienst eines rein äußerlichen Renommés dieses bedrückenden Orts) waren ihm immerhin auch Aufführungen des Cornet möglich geworden. Einige wesentliche ästhetische Grundsätze hatte Ullmann erstaunlicherweise bereits am Tag seines 20. Geburtstags brieflich mitgeteilt: „Was ist also Kunst? Die Gestaltung eines Inhalts unter gesetzmäßigen Formen. Und der Zweck? Sie hat nur sich selbst zum Zweck. … Und Kunst ist letzten Endes nur Gestaltung aus Klarheit heraus! Das scheinbar Freie, Ungesetzliche, Komplizierte will nur der Unfertige. Später sieht man, dass die 'Freiheit' irgendwo anders liegt … und Ökonomie und höhere Einfachheit das Wunderbarste sind.“ Dies prägt wohl auch seine aus der frühen Phase nur teilweise erhaltenen Kompositionen: neben Orchester- und Bühnenwerken (darunter die Theresienstädter Oper Der Kaiser von Atlantis) vor allem Klavier- und Kammermusik; wobei die mehr als 20 in Theresienstadt entstandenen

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Werke noch relativ zahlreich überliefert sind, wenn auch oft nur in reduzierten Fassungen. Als letztes größeres Werk vor dem sogenannten „Künstlertransport“ nach Auschwitz gilt heute der Cornet, der in der pianistisch oft kniffligen Klavierfassung immerhin noch 1944 mit dem Komponisten am Klavier zur Aufführung gebracht worden war. Soweit man den nur unvollständig erhaltenen Werken eine allgemeinere Charakteristik entnehmen kann, war Ullmann von Schönbergs expressionistischen Stilmerkmalen ausgegangen, um dann seit Mitte der 1920er Jahre eine eigene Tonsprache zwischen freier Tonalität und tradierten Formen (Sonate, Fuge, Klavierlied, Streichquartett) zu gewinnen oder – in seinen eigenen Worten – „die Kluft zwischen der romantischen und der atonalen Harmonik auszufüllen“. Dabei spielte sein breit gefächertes literarisches Interesse für seine Textvertonungen eine nicht zu unterschätzende Rolle, gerade auch bei der feinsinnigen Textauswahl aus Rilkes  Cornet. Rainer Maria Rilke (1875–1926) war als Lyriker und Prosaschriftsteller nicht nur besonders einflussreich für die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch besonders anregend für viele Komponisten dieser Epoche – vielleicht gerade, weil (oder sogar obwohl) seinen Texten hohe musikalische Qualitäten zugeschrieben werden. Der immer wieder lyrisch durchsetzte Prosatext des Cornet wurde 1899 geschrieben (endgültige Fassung 1906) – in einer sehr bewegten, von Ortswechseln, Beziehungen, ernsthaften bildnerischen und philosophischen Interessen geprägten Lebensphase. Als überhaupt erster und zugleich erfolgreichster Band der bekannten „Insel-Bücherei“ hat er seit 1912 Generationen von Lesern beeindruckt, dazu auch sehr unterschiedliche Komponisten wie Kurt Weill, Frank Martin oder Siegfried Matthus (als Opernstoff). In seinem Schwanken zwischen Verklärung des patrioti-

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schen Heldentods und der Sinnlosigkeit des Sterbens im Krieg, vermittelte der Text Gefühlswelten von Jugend, Liebe und Tod und wurde so zu einer Art „Kultbuch“ in beiden Weltkriegen – entsprechend seinem Diktum: „Wer spricht von siegen, überleben ist alles.“ Fast zu einem Mythos führte Rilkes brieflicher Entstehungshinweis „... der Cornet war das unvermutete Geschenk einer einzigen Herbstnacht“. Aus den 27 mehr oder weniger kurzen Abschnitten des Textes hat Ullmann eine kontrastierend angelegte Auswahl von zwölf Texten vertont. Unvertont bleibt Rilkes historischer Vorspann. Aus dem überlieferten Particell (eine Art verknappter Partitur) mit seinen Instrumentationsangaben geht eindeutig die Bestimmung des Werkes für großes Orchester hervor, selbst wenn in der Klavierversion das eine oder andere Detail sogar klarer und prägnanter durchklingt. Dazu kann der Hörer schon den markant rhythmisierten Einstieg mit dem suggestiven Motiv des „Reiten, reiten, reiten“ zählen. Ohnehin halten motivisch wirkende rhythmisch-melodische Figuren die Form einzelner Teile zusammen, wobei etwa das vollständige Cornet-Thema als melodischer Zielpunkt zuerst in Nr. V des ersten Teils erscheint. Es wird im weiteren Verlauf situationsgebunden stets variiert. Auch wenn die weitgehend „sprechende“ Musik vom Komponisten durchaus eigenständig und eigenwertig konzipiert erscheint, so erweist sich seine ursprüngliche Anweisung „Die Rezitation ohne Rücksicht auf die Musik“ zu Beginn doch als im weiteren Verlauf kaum noch streng durchgehalten. Zu deutlich wirken viele rhythmisch-melodische Prägungen von der Sprache selbst inspiriert – etwa, wenn in der Nr. II des zweiten Teils festliche Walzerklänge im Wechsel von 5/8- und 6/8-Takt zu „schweben“ scheinen. Wie es ein in der erstaunlichen Produktivität der Entstehungszeit fast schon zu erwartender Ideenaustausch nahelegt, fließen in dieses Werk eben auch Einfälle aus anderen Werken mit ein, wie die Einbindung 11


von Entwürfen zu einem nicht mehr vorhandenen Streichquartettsatz in das vierte Stück des zweiten Teils. Die darauffolgenden vier Stücke gehen dann nahtlos ineinander über – in ihrem Beziehungs- und Kontrastreichtum durchaus einem klassischen Opernfinale vergleichbar. Damit schließt ein Werk, dessen Durchformung der Einzelteile eigenständig musikalischen Sinn bietet, doch mit der Übernahme von Sprachelementen, vor allem aber durch seine musikalische Charakteristik, die poetische und zugleich plastische Sprache Rilkes ergänzt und verstärkt. ANTON S. ARENSKY Drei Melodeclamationen op. 68 (1903)

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er zu Lebzeiten durchaus bekannte und (etwa von P. Tschaikowsky) geschätzte russische Komponist, Pianist und Pädagoge Anton Arensky (er war der Lehrer von A. Skrjabin und S. Rachmaninow) hatte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Vorwurf der Epigonalität und geringeren Eigenständigkeit eines Teils seiner Werke zu leiden – wohl auch deshalb, weil er russische Elemente in Melodik und Rhythmus (laut Kollegenurteil) durch eine „alles überfärbende Schönheit“ zu glätten wusste. (In der beginnenden Sowjet-Ära galt er deshalb sogar als „im Kampf nutzlos“.) Dabei war sein Grundsatz innere Harmonie und Schönheit, was auch im Nachruf von Peter Tschaikowskys Bruder Modest als besondere Fähigkeit gewürdigt wurde, nämlich „neue Dinge auf alte Art zu sagen“ – er habe „zwar nichts Großes, aber viel Schönes“ geschaffen. Dazu wäre heute vor allem seine höchst seriöse Kammermusik und sein Liedschaffen zu rechnen, während sein reiches Klavierwerk teils salonhafte Züge trägt.

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Um 1900 gehörte der auch als Orchesterdirigent tätige versierte Pianist Arensky ohne Zweifel zu den wichtigen Anregern der russischen „Gedichte mit Musik“, die damals in der Kunstelite Russlands durchaus „modern“ waren, wenn auch gefährdet durch salonnahe Nachahmer. (Der damals bedeutendste russische Musikschriftsteller Boris Assafjew bezeichnete 1930 die sogenannten „Melodischen Deklamationen“ als „ein sehr gefährliches Feld, das bald nach Arensky durch zahlreiche 'Verfertiger von musikalischen Geschmacklosigkeiten' endgültig zugrunde gerichtet worden ist.“) Von den Drei Melodeclamationen op. 68 nach „Gedichten in Prosa“ des renommierten russischen Dichters Ivan Turgenev wurde seinerzeit vor allem das dritte Stück Die Nymphen geschätzt, da hier Rezitation und Klavier im Dienste einer lyrischen Bildhaftigkeit nahtlos ineinandergreifen. Eine gewisse Konstante bei der Vertonung der stimmungshaften Texte bilden absteigende Motive, besonders ausgeprägt im melodisch liedhaften Nymphen-Motiv des dritten Stücks, wodurch die jeweilige Form gut wahrnehmbar zusammengehalten erscheint. Im ersten Stück (Wie waren einst so schön, so frisch die Rosen) steht der fast resignierenden Abwärtsbewegung (etwa bei „Winter“) als Charakteristikum das volksliedhafte, eher „frische“ Rosen-Motiv entgegen, dessen jeweiliges Erscheinen schon vom Text her eine naheliegende Gliederung erzeugt. Ebenso naheliegend wirkt die Gestaltung des zweiten Stücks (Das azurblaue Reich) durch eine heiterlichte Wasser- und Wellenbewegung im Instrumentalpart des ursprünglich mit Orchester ausgeführten Werks. Günter Katzenberger

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DUO PIANOWORTE

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as mit dem Echo Klassik 2002 ausgezeichnete duo pianoworte ist in der deutschsprachigen Musiklandschaft ein Unikat. Seit 1994 widmen sich der in Kiel geborene Pianist BerndChristian Schulze und der aus Wien stammende Schauspieler Helmut Thiele dem Melodram und „entführen in Welten, die man bisweilen schon verloren glaubte” (Musikblatt 1996). Dabei geht es nicht nur um das Anknüpfen an die mittlerweile fast in Vergessenheit geratene Tradition des romantischen Konzertmelodrams. Etliche Uraufführungen von zeitgenössischen Melodramen durch das duo pianoworte zeigen, dass es gerade in dieser immer noch viel zu wenig beachteten Musikgattung ein äußerst vielfältiges und spannendes Potential zu entdecken gibt. Die beiden Künstler präsentieren fantastische Geschichten, skurrile Erzählungen, traditionelle und moderne Lyrik sowie Textcollagen, die auf ihre Anregung hin von zahlreichen Komponistinnen und Komponisten aus Deutschland und Österreich vertont werden. So sind mittlerweile etliche dem duo pianoworte gewidmeten Werke bei Deutsche Grammophon, Thorofon, Random House, Querstand, Musicaphon und KALEIDOS auf CD veröffentlicht. Neben einer umfangreichen Konzerttätigkeit – u. a. bei Musikfestspielen wie den Sommerlichen Musiktagen Hitzacker, den Niedersächsischen Musiktagen und den Wiener Festwochen – begeistert das duo pianoworte auch bei zahlreichen Rundfunk- und Fernsehsendungen regelmäßig sein Publikum. „Mit einfachsten Mitteln wird eine dichte und intime Atmosphäre geschaffen. Die einfühlsam komponierte Musik vertieft die Bedeutung der Worte und inspiriert die Fantasie der Zuhörer”. Mit dieser Begründung wird das duo pianoworte 1997 beim Medienpreis des Verbandes Deutscher Musikschulen geehrt. 2001 erhält es den Förderpreis für Musik des Landes Niedersachsen, 2002 den deutschen Schallplattenpreis ECHO-Klassik für die Einspielung „Ophelias Schattentheater“ von Michael Ende sowie 2007 den LEOPOLD für die CD „Der Schnabelsteher“ von Rafik Schami. www.pianoworte.de

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HELMUT THIELE Nach dem Diplomabschluss (Maschinenbau) Schauspiel- und Gesangsstudium in Wien. Engagements am Landestheater Linz. Es folgten 4 Jahre Coburg, 7 Jahre Osnabrück und 9 Jahre Schlosstheater Celle. Seither freischaffend. Gastspiele u. a. am Stadttheater Bremen, am Staatstheater Kassel, in Den Haag und in Moskau. Moderation bei mehreren Familienkonzerten des Osnabrücker Symphonieorchesters und seit fünf Jahren auch beim „Classic con brio“-Festival in Osnabrück. Freie Produktionen: „Der Kontrabass“ (Süskind), „Geliebter Lügner“ (Kilty), „Gut gegen Nordwind“, „Die Wunderübung“ (Glattauer) u. a. BERND -CHRISTIAN SCHULZE 1983 bis 1991 Klavierstudium an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover bei David Wilde, Meisterkurse u.  a. bei Halina Czerny-Stefanska (Warschau), Boris Berman (USA) und Volker Banfield (Hamburg). Mehrfacher Preisträger bei Kammermusikwettbewerben. Vielseitige Konzerttätigkeit u. a. in Deutschland, England, Österreich, Russland und Japan. Seit 2001 Dozent für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, seit 2012 Mitglied im Präsidium des Landesmusikrates Niedersachsen sowie Vorsitzender des Ausschusses für Neue Musik Niedersachsen.

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HELMUT THIELE Graduated with a degree in mechanical engineering before studying theatre and voice in Vienna. Engagements at the Landestheater Linz followed by 4 years at the theatre in Coburg, 7 years in Osnabrück and 9 years at the Schlosstheater Celle. Has since performed freelance with guest performances at the Stadttheater Bremen, Staatstheater Kassel, in The Hague and in Moscow, among others. Presenter at several family concerts of the Osnabrücker Symphonieorchester as well as at the “Classic con brio” festival in Osnabrück for the past five years. Independent productions include “Der Kontrabass” (“The Double Bass” by Süskind), “Geliebter Lügner” (“Dear Liar” by Kilty), “Gut gegen Nordwind” (“Love Virtually”, by Glattauer) and “Die Wunderübung” (by Glattauer), i. a. BERND -CHRISTIAN SCHULZE Studied piano with David Wilde at the Hannover University of Music, Drama and Media from 1983 to 1991. Masterclasses with Halina Czerny-Stefanska (Warsaw), Boris Berman (USA) and Volker Banfield (Hamburg), among others. Multiple prizewinner at chamber music competitions. Versatile concert activities in Germany, England, Austria, Russia and Japan, i. a. Teacher for piano at the Hannover University of Music, Drama and Media since 2001, committee member of the Landesmusikrat Niedersachsen since 2012 as well as Chairperson of the Committee for New Music Niedersachsen.

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DUO PIANOWORTE

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warded the Echo Klassik 2002, the acclaimed duo pianoworte are unique in the German-speaking musical landscape. Since 1994, the pianist Bernd-Christian Schulze from Kiel and the actor Helmut Thiele from Vienna have dedicated themselves to melodrama and “escaping to worlds that were once thought to have been lost” (Musikblatt 1996). It is not only about continuing the now almost forgotten tradition of romantic concert melodrama. Many premieres of contemporary melodramas by duo pianoworte have shown that it is precisely in this largely neglected music genre that there is an extremely diverse and exciting potential to discover. Both artists present fantastical tales, quirky stories, traditional and modern verse as well as text collages which, at their request, have been set to music by several composers from Germany and Austria. Thus there are now numerous works dedicated to duo pianoworte published on CD by Deutsche Grammophon, Thorofon, Random House, Querstand, Musicaphon and KALEIDOS. Alongside their extensive concert schedule at music festivals such as the Hitzacker Summer Music Festival, the Niedersächsische Musiktagen and the Wiener Festwochen, among others, duo pianoworte also regularly captivates audiences in numerous radio and television broadcasts. “Through the simplest of means a comforting and intimate atmosphere is created. The sensitively composed music deepens the meaning of the words and inspires the imagination of the listener”. For this reason, duo pianoworte were awarded the 1997 Media Award of the Association of German music schools. They received the Award for Music from the state of Lower Saxony in 2001, the German gramophone prize ECHO-Klassik for the recording “Ophelias Schattentheater” (“Ophelia’s Shadow Theater”) by Michael Ende in 2002 as well as the LEOPOLD for their CD “Der Schnabelsteher” (“The Crow Who Stood on His Beak”) by Rafik Schami in 2007. www.pianoworte.de

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FOREWORD

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ince our foundation in 1994, we have naturally also included “classical” melodramas by Schubert, Schumann, Liszt, Strauss, von Schillings, and others in our regular concert programmes alongside world premieres of numerous contemporary works. In particular, Viktor Ullmann’s setting of Cornet intrigued us – it can be understood as a kind of link between the romantic melodramas and contemporary literature, in many places anticipating modern approaches to composition. Even though Viktor Ullmann probably only had the performance of the parts that he had melodramatically revised in mind, we have deliberately chosen to additionally include the other parts of the text. On the one hand, Rilke’s work is today nowhere near as well-known as in the mid-20th century and this ensures the listener gets a seamless story. On the other hand, the optional text passages provide a relaxing contrast to the melodramatic passages. We would especially like to thank the Ullmann expert Ingo Schultz (Viktor Ullmann – Leben und Werk, Bärenreiter-Verlag, BVK 2031, 2008), who suggested to work intensively with the original manuscript which is kept at the Paul Sacher Stiftung in Basel. This led to a number of further insights for us both in terms of the correct interpretation of the notation, harmonies and performance instructions and also, ultimately, to the arrangement of the piano part. The first recording of the three Arensky melodramas, which can be considered as prime examples of the genre, was just as fascinating for us. Through the interaction of spoken word and music, these treasures allow us, in today’s rather sober times, to cast a glance, as if through an open window, at the emotional world of romanticism and its translation into music. Although the first piece Wie waren einst so schön die Rosen (“How beautiful were once the roses”) is still relatively popular, the sheet music for the second piece could only be found at the Russian National Library in Moscow. The German translation of Turgenev’s texts seemed to us to be in need of reworking in many parts to be more in line with today’s parlance. We have thus created a new version in close collaboration with the Slavic philologist Erika Hoppe which we feel is more up-to-date in terms of its language usage. This CD is dedicated to the memory of Erika Schulze, the pianist's mother. Helmut Thiele & Bernd-Christian Schulze 19


VIKTOR ULLMANN Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (The Lay of Love and Death of Cornet Christopher Rilke, 1944)

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he melodrama, that seemingly forgotten “hybrid” genre between recitation and piano song, reached a climax in its classical form around 1900. However, it is easily overlooked that it was groundbreakingly revisited in the 20th century with expanded scenery, semi-staged or even modernized, not only by composers such as Arnold Schönberg (Pierrot lunaire), Igor Stravinsky (Histoire du Soldat) and Alban Berg (in his operas), but also by Darius Milhaud and Arthur Honegger in France, notwithstanding the enormous appeal of Sprechgesang in Brecht-Weill's “epic theatre”. It is also astonishing that there had been an independent development of the genre in Czech music, especially in the environment in which Viktor Ullmann grew up. From today's perspective, Ullmann's Cornet melodrama, based on one of the bestknown Rilke texts, without a doubt takes a prominent position in the eventful history of the genre. On the one hand, this work makes a distinctively original early 20th-century contribution to the traditional late Romantic genre, which is sometimes regarded as somewhat “old-fashioned”. On the other hand, the conditions for its creation – as the composer's last work – are based not only on an extraordinary but also on an extraordinarily tragic creative background. The last draft was composed in Theresienstadt in the summer of 1944, (dated “July 1944”, or “July 4” and “July 12” for both parts), shortly before his deportation to Auschwitz in October 1944. As with many composers of his generation, Viktor Ullmann's life and career can only be described as particularly eventful. After music theory lessons in his youth,

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his first compositional studies followed during his participation in World War I, before achieving success in the avant-garde around 1920 – under the influence of his teacher Arnold Schönberg and his circle. At the same time, he expressed a pronounced literary interest. After various positions as Kapellmeister, e. g. in Prague and Zurich, he turned momentarily to anthroposophical literature, (even working professionally as a bookseller), and from 1933 developed an astonishing compositional productivity in Prague, which even increased after his deportation in 1943 – despite little prospect of unhindered completion and the performance of many of these works. In the course of his lively activities, lectures, reviews, concerts, etc., as part of the so-called “recreational programme” in Theresienstadt, (in the service of the purely external reputation of this oppressive place), he had at least been able to put on some performances of Cornet. In a letter written on the day of his 20th birthday, Ullmann had surprisingly already revealed some of his fundamental aesthetic principles: “So what is art? The creation of contents according to the rules of form. And the purpose? The only purpose is itself. ... And art is ultimately just creation out of clarity! Only an unfinished artist seeks the seemingly free, forbidden, complicated. Later one sees that 'freedom' is somewhere else... and economy and higher simplicity are the most wonderful things.” This arguably also shaped his early compositions, only some of which still exist: mostly piano and chamber music besides orchestral and stage works – among them the Theresienstadt opera Der Kaiser von Atlantis (“The Emperor of Atlantis”), whereas a relatively good number of the more than 20 works created in Theresienstadt have survived, although some only in reduced versions. 21


The last major work before the deportation of artists to Auschwitz, (the so-called “Künstlertransport”), is regarded today as Cornet, which was performed by the composer in the quite challenging piano version in 1944. As far as a more general characteristic can be surmised from his remaining works, Ullmann had started out with Schönberg's expressionistic stylistic features in order to develop his own tonal language between free tonality and traditional forms, i.e. sonata, fugue, piano song, string quartet, in the mid-1920’s. In his own words – “to fill the gap between romantic and atonal harmony”. His broad literary interest played quite a substantial role in his text settings, especially in the subtle selection of texts from Rilke's Cornet. As a writer of poetry and prose, Rainer Maria Rilke (1875–1926) was not only particularly influential for the literature of the early 20th century, but also particularly inspiring for many composers of this era – perhaps precisely because his texts were said to have great musical qualities. Interspersed with lyrical passages, the prose text of Cornet was written in 1899, (the final version in 1906), in a very eventful phase of his life marked by changes of location, relationships and profound artistic and philosophical interests. As the first-ever and coincidently the most successful volume of the well-known publication series “Insel-Bücherei”, Cornet has impressed generations of readers since 1912, as well as composers as diverse as Kurt Weill, Frank Martin or Siegfried Matthus (as opera material). Wavering between the glorification of the death of a patriotic hero and the futility of war, the text conveys the emotional worlds of youth, love and death and thus became a “cult book” of sorts in both world wars – in accordance with its dictum: “Who speaks of winning? Survival is everything”. Rilke referred to the work’s almost mythical origin in a letter: “Cornet was the unexpected gift of a single autumn night”. 22


Out of the 27 more or less short sections in total, Ullmann set a contrasting selection of twelve texts to music. Rilke's historical opening words remain untouched. The surviving sheet music, (a kind of shortened score), with its specifications for instrumentation, clearly shows that the work was intended for large orchestra, even if some of the details are clearer and more concise in the piano version. This is apparent to the listener in the strikingly rhythmic introduction with the evocative motif “riding, riding, riding”. In any case, motivic, rhythmic-melodic figures hold the form of individual parts together, for example with the complete “cornet” theme first appearing as the melodic climax in No. V of the first part. As the piece progresses, it is continuously varied depending on the context. Even if the composer's largely “spoken” music appears to be quite original and intrinsic, his initial instruction “the recitation should disregard the music” at the beginning is however hardly adhered to hereafter. Clearly, many rhythmic-melodic characteristics seem inspired by the spoken word itself – for example, in No. II of the second part, the festive waltz seems to float between 5/8 and 6/8 time. Due to the composer’s astonishing productivity around this time, an exchange of ideas can almost be expected. Ideas from his other works also flow into this work, such as weaving in sketches of a movement from a string quartet, which no longer exists, into the fourth piece of the second part. The following four pieces then merge seamlessly into one another, comparable to a classical opera finale in their richness in evocativeness and contrasts. Thus ends a work in which each individual part has been shaped to offer musical meaning in its own right. Taking the spoken word, particularly its musical characteristics, Rilke's poetic yet vivid language is complemented and enhanced.

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ANTON ARENSKY Three Melodeclamations op. 68 (1903)

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he Russian composer, pianist and teacher Anton Arensky (teacher of A. Scriabin and S. Rachmaninov), was appreciated, (by none other than P. Tchaikovsky), and well-known during his lifetime. Already by the beginning of the 20th century, some of his works had been criticized as being epigonous and of limited originality – probably also because, according to the opinion of his colleagues, he knew how to smoothen the Russian elements in the melody and rhythms with a “beauty that smothers everything”. (In the early Soviet era, he was even considered “useless in battle”). His maxim was inner harmony and beauty, which was also commended in the epitaph of Peter Tchaikovsky's brother Modest as an exceptional skill, namely “to say new things the old way” – he had created “nothing great, but great beauty”. Today, this would above all include his highly respectable chamber music and his songs, while his prolific works for piano have some salon-like features. The accomplished pianist Arensky, who also worked as an orchestral conductor, was without a doubt an important driving force behind Russian “poems with music” around 1900, which at the time were quite “modern” amongst Russia's art elite, albeit jeopardised by salon imitators. (The then most important Russian music writer, Boris Asafyev, described the so-called “Melodic Declamations” in 1930 as “a very dangerous field, which was finally destroyed soon after Arensky, by several “manufacturers of musical insipidity”.)

Of the Three Melodeclamations op. 68 based on “Poems in Prose” by the renowned Russian poet I. S. Turgenev, the third piece The Nymphs was particularly appreciated

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at the time, since here recitation and piano interlock seamlessly for the purpose of lyrical imagery. Descending motifs form a certain constant in the setting of the atmospheric texts, particularly pronounced in the melodically songlike “nymph” motif of the third piece, whereby the form seems discernibly cohesive. In the first piece How beautiful were once the roses, the almost resigned downward movement, (for example in “Winter”), contrasts with the characteristic, rather “fresh”, folk-song-like “Rose” motif. The appearance of this motif, in the text as well as in the music, structures the piece naturally. The form of the second piece, The azure realm, is defined through a cheerful, lighthearted water and wave movement in the instrumental part, originally performed by the orchestra. Günter Katzenberger

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RAINER MARIA RILKE (1875–1926) Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1899) 1

»... den 24. November 1663 wurde Otto von Rilke / auf Langenau / Gränitz und Ziegra / zu Linda mit seines in Ungarn gefallenen Bruders Christoph hinterlassenem Anteile am Gute Linda beliehen; doch mußte er einen Revers ausstellen / nach welchem die Lehensreichung null und nichtig sein sollte / im Falle sein Bruder Christoph (der nach beigebrachtem Totenschein als Cornet in der Kompagnie des Freiherrn von Pirovano des kaiserl. österr. Heysterschen Regiments zu Roß .... verstorben war) zurückkehrt ...«

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Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß. Es gibt keine Berge mehr, kaum einen Baum. Nichts wagt aufzustehen. Fremde Hütten hocken durstig an versumpften Brunnen. Nirgends ein Turm. Und immer das gleiche Bild. Man hat zwei Augen zuviel. Nur in der Nacht manchmal glaubt man den Weg zu kennen. Vielleicht kehren wir nächtens immer wieder das Stück zurück, das wir in der fremden Sonne mühsam gewonnen haben? Es kann sein. Die Sonne ist schwer, wie bei uns tief im Sommer. Aber wir haben im Sommer Abschied genommen. Die Kleider der Frauen leuchteten lang aus dem Grün. Und nun reiten wir lang. Es muß also Herbst sein. Wenigstens dort, wo traurige Frauen von uns wissen. 26

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Der von Langenau rückt im Sattel und sagt: »Herr Marquis ...« Sein Nachbar, der kleine feine Franzose, hat erst drei Tage lang gesprochen und gelacht. Jetzt weiß er nichts mehr. Er ist wie ein Kind, das schlafen möchte. Staub bleibt auf seinem feinen weißen Spitzenkragen liegen; er merkt es nicht. Er wird langsam welk in seinem samtenen Sattel. Aber der von Langenau lächelt und sagt: »Ihr habt seltsame Augen, Herr Marquis. Gewiß seht Ihr Eurer Mutter ähnlich –« Da blüht der Kleine noch einmal auf und stäubt seinen Kragen ab und ist wie neu.

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Jemand erzählt von seiner Mutter. Ein Deutscher offenbar. Laut und langsam setzt er seine Worte. Wie ein Mädchen, das Blumen bindet, nachdenklich Blume um Blume probt und noch nicht weiß, was aus dem Ganzen wird –: so fügt er seine Worte. Zu Lust? Zu Leide? Alle lauschen. Sogar das Spucken hört auf. Denn es sind lauter Herren, die wissen, was sich gehört. Und wer das Deutsche nicht kann in dem Haufen, der versteht es auf einmal, fühlt einzelne Worte: »Abends« ... »Klein war ...« Da sind alle einander nah, diese Herren, die aus Frankreich kommen und aus Burgund, aus den Niederlanden, aus Kärntens Tälern, von den böhmischen Burgen und vom Kaiser Leopold. Denn was der Eine erzählt, das haben auch sie erfahren und gerade so. Als ob es nur _eine_ Mutter gäbe ...


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So reitet man in den Abend hinein, in irgend einen Abend. Man schweigt wieder, aber man hat die lichten Worte mit. Da hebt der Marquis den Helm ab. Seine dunklen Haare sind weich und, wie er das Haupt senkt, dehnen sie sich frauenhaft auf seinem Nacken. Jetzt erkennt auch der von Langenau: Fern ragt etwas in den Glanz hinein, etwas schlankes, dunkles. Eine einsame Säule, halbverfallen. Und wie sie lange vorüber sind, später, fällt ihm ein, daß das eine Madonna war. Wachtfeuer. Man sitzt rundumher und wartet. Wartet, daß einer singt. Aber man ist so müd. Das rote Licht ist schwer. Es liegt auf den staubigen Schuhn. Es kriecht bis an die Kniee, es schaut in die gefalteten Hände hinein. Es hat keine Flügel. Die Gesichter sind dunkel. Dennoch leuchten eine Weile die Augen des kleinen Franzosen mit eigenem Licht. Er hat eine kleine Rose geküßt, und nun darf sie weiterwelken an seiner Brust. Der von Langenau hat es gesehen, weil er nicht schlafen kann. Er denkt: ich habe keine Rose, keine. Dann singt er. Und das ist ein altes trauriges Lied, das zu Hause die Mädchen auf den Feldern singen, im Herbst, wenn die Ernten zu Ende gehen. Sagt der kleine Marquis: »Ihr seid sehr jung, Herr?« Und der von Langenau, in Trauer halb und halb im Trotz: »Achtzehn.« Dann schweigen sie. Später fragt der Franzose: »Habt Ihr auch eine Braut daheim, Herr Junker?« »Ihr?« gibt der von Langenau zurück. »Sie ist blond wie Ihr.«

Und sie schweigen wieder, bis der Deutsche ruft: »Aber zum Teufel, warum sitzt Ihr denn dann im Sattel und reitet durch dieses giftige Land den türkischen Hunden entgegen?« Der Marquis lächelt. »Um wiederzukehren.« Und der von Langenau wird traurig. Er denkt an ein blondes Mädchen, mit dem er spielte. Wilde Spiele. Und er möchte nach Hause, für einen Augenblick nur, nur für so lange, als es braucht, um die Worte zu sagen: »Magdalena, – daß ich immer _so war,_ verzeih!« Wie – war? denkt der junge Herr. – Und sie sind weit. Einmal, am Morgen, ist ein Reiter da, und dann ein zweiter, vier, zehn. Ganz in Eisen, groß. Dann tausend dahinter: Das Heer. Man muß sich trennen. »Kehrt glücklich heim, Herr Marquis. –« »Die Maria schützt Euch, Herr Junker.« Und sie können nicht voneinander. Sie sind Freunde auf einmal, Brüder. Haben einander mehr zu vertrauen; denn sie wissen schon so viel Einer vom Andern. Sie zögern. Und ist Hast und Hufschlag um sie. Da streift der Marquis den großen rechten Handschuh ab. Er holt die kleine Rose hervor, nimmt ihr ein Blatt. Als ob man eine Hostie bricht. »Das wird Euch beschirmen. Lebt wohl.« Der von Langenau staunt. Lange schaut er dem Franzosen nach. Dann schiebt er das fremde Blatt unter den Waffenrock. Und es treibt auf und ab auf den Wellen seines Herzens. Hornruf. Er reitet zum Heer, der Junker. Er lächelt traurig: ihn schützt eine fremde Frau. 27


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Ein Tag durch den Troß. Flüche, Farben, Lachen –: davon blendet das Land. Kommen bunte Buben gelaufen. Raufen und Rufen. Kommen Dirnen mit purpurnen Hüten im flutenden Haar. Winken. Kommen Knechte, schwarzeisern wie wandernde Nacht. Packen die Dirnen heiß, daß ihnen die Kleider zerreißen. Drücken sie an den Trommelrand. Und von der wilderen Gegenwehr hastiger Hände werden die Trommeln wach, wie im Traum poltern sie, poltern –. Und Abends halten sie ihm Laternen her, seltsame: Wein, leuchtend in eisernen Hauben. Wein? Oder Blut? – Wer kanns unterscheiden?

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Endlich vor Spork. Neben seinem Schimmel ragt der Graf. Sein langes Haar hat den Glanz des Eisens. Der von Langenau hat nicht gefragt. Er erkennt den General, schwingt sich vom Roß und verneigt sich in einer Wolke Staub. Er bringt ein Schreiben mit, das ihn empfehlen soll beim Grafen. Der aber befiehlt: »Lies mir den Wisch.« Und seine Lippen haben sich nicht bewegt. Er braucht sie nicht dazu; sind zum Fluchen gerade gut genug. Was drüber hinaus ist, redet die Rechte. Punktum. Und man sieht es ihr an. Der junge Herr ist längst zu Ende. Er weiß nicht mehr, wo er steht. Der Spork ist vor Allem. Sogar der Himmel ist fort. Da sagt Spork, der große General: »Cornet.« Und das ist viel.

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Die Kompagnie liegt jenseits der Raab. Der von Langenau reitet hin, allein. Ebene. Abend. Der Beschlag vorn am Sattel glänzt durch den Staub. Und dann steigt der Mond. Er sieht es an seinen Händen. Er träumt. Aber da schreit es ihn an. Schreit, schreit, zerreißt ihm den Traum. Das ist keine Eule. Barmherzigkeit: der einzige Baum schreit ihn an: Mann! Und er schaut: es bäumt sich. Es bäumt sich ein Leib den Baum entlang, und ein junges Weib, blutig und bloß, fällt ihn an: Mach mich los! Und er springt hinab in das schwarze Grün und durchhaut die heißen Stricke; und er sieht ihre Blicke glühn und ihre Zähne beißen. Lacht sie? Ihn graust. Und er sitzt schon zu Roß und jagt in die Nacht. Blutige Schnüre fest in der Faust. 8

Der von Langenau schreibt einen Brief, ganz in Gedanken. Langsam malt er mit großen, ernsten, aufrechten Lettern: »Meine gute Mutter, seid stolz: Ich trage die Fahne, seid ohne Sorge: Ich trage die Fahne, habt mich lieb: Ich trage die Fahne –«


Dann steckt er den Brief zu sich in den Waffenrock, an die heimlichste Stelle, neben das Rosenblatt. Und er denkt: er wird bald duften davon. Und denkt: vielleicht findet ihn einmal Einer ... Und denkt: ....; Denn der Feind ist nah.

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und Glanz, und endlich aus den reifgewordenen Takten: entsprang der Tanz. Und alle riß er hin. Das war ein Wellenschlagen in den Sälen, ein Sich-Begegnen und ein Sich-Erwählen, ein Abschiednehmen und ein Wiederfinden, ein Glanzgenießen und ein Lichterblinden und ein Sich-Wiegen in den Sommerwinden, die in den Kleidern warmer Frauen sind.

Sie reiten über einen erschlagenen Bauern. Er hat die Augen weit offen und Etwas spiegelt sich drin; kein Aus dunklem Wein und tausend Rosen rinnt die Himmel. Später heulen Hunde. Es kommt also ein Stunde rauschend in den Traum der Nacht. Dorf, endlich. Und über den Hütten steigt steinern ein Schloß. Breit hält sich ihnen die Brücke hin. Groß wird das Tor. Hoch willkommt das Horn. Horch: 11 Und Einer steht und staunt in diese Pracht. Und er Poltern, Klirren und Hundegebell! Wiehern im Hof, ist so geartet, daß er wartet, ob er erwacht. Denn nur im Schlafe schaut man solchen Staat und solche Hufschlag und Ruf. Feste solcher Frauen: ihre kleinste Geste ist eine Falte, Rast! Gast sein einmal. Nicht immer selbst seine fallend in Brokat. Sie bauen Stunden auf aus silbernen Gesprächen, und manchmal heben sie Hände so –, Wünsche bewirten mit kärglicher Kost. Nicht und du mußt meinen, daß sie irgendwo, wo du nicht immer feindlich nach allem fassen; einmal sich alles hinreichst, sanfte Rosen brächen, die du nicht siehst. geschehen lassen und wissen: was geschieht, ist gut. Und da träumst du: Geschmückt sein mit ihnen und [Auch der Mut muß einmal sich strecken und sich am anders beglückt sein und dir eine Krone verdienen für Saume seidener Decken in sich selber überschladeine Stirne, die leer ist. gen.] Nicht immer Soldat sein. Einmal die Locken offen tragen und den weiten offenen Kragen und in seidenen Sesseln sitzen und bis in die Fingerspitzen so: 12 Einer, der weiße Seide trägt, erkennt, daß er nicht erwachen kann; denn er ist wach und verwirrt von nach dem Bad sein. Und wieder erst lernen, was Frauen sind. Und wie die weißen tun und wie die blauen Wirklichkeit. So flieht er bange in den Traum und steht im Park, einsam im schwarzen Park. Und das sind; was für Hände sie haben, wie sie ihr Lachen singen, wenn blonde Knaben die schönen Schalen Fest ist fern. Und das Licht lügt. Und die Nacht ist bringen, von saftigen Früchten schwer. nahe um ihn und kühl. Und er fragt eine Frau, die sich zu ihm neigt: Als Mahl beganns. Und ist ein Fest geworden, kaum weiß man wie. Die hohen Flammen flackten, die »Bist Du die Nacht?« Stimmen schwirrten, wirre Lieder klirrten aus Glas

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Sie lächelt. Und da schämt er sich für sein weißes Kleid. Und möchte weit und allein und in Waffen sein. Ganz in Waffen. 13

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»Hast Du vergessen, daß Du mein Page bist für diesen Tag? Verlässest Du mich? Wo gehst Du hin? Dein weißes Kleid gibt mir Dein Recht –.« »Sehnt es Dich nach deinem rauhen Rock?«

Er fragt nicht: »Dein Gemahl?«

»Frierst Du? – Hast Du Heimweh?«

Sie fragt nicht: »Dein Namen?«

Die Gräfin lächelt. Nein. Aber das ist nur, weil das Kindsein ihm von den Schultern gefallen ist, dieses sanfte dunkle Kleid. Wer hat es fortgenommen? »Du?« fragt er mit einer Stimme, die er noch nicht gehört hat. »Du!« Und nun ist nichts an ihm. Und er ist nackt wie ein Heiliger. Hell und schlank. Langsam lischt das Schloß aus. Alle sind schwer: müde oder verliebt oder trunken. Nach so vielen leeren, langen Feldnächten: Betten. Breite eichene Betten. Da betet sichs anders als in der lumpigen Furche unterwegs, die, wenn man einschlafen will, wie ein Grab wird. »Herrgott, wie Du willst!« Kürzer sind die Gebete im Bett. Aber inniger.

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Die Turmstube ist dunkel. Aber sie leuchten sich ins Gesicht mit ihrem Lächeln. Sie tasten vor sich her wie Blinde und finden den Andern wie eine Tür. Fast wie Kinder, die sich vor der Nacht ängstigen, drängen sie sich in einander ein. Und doch fürchten sie sich nicht. Da ist nichts, was gegen sie wäre: kein Gestern, kein Morgen; denn die Zeit ist eingestürzt. Und sie blühen aus ihren Trümmern.

Sie haben sich ja gefunden, um einander ein neues Geschlecht zu sein. Sie werden sich hundert neue Namen geben und einander alle wieder abnehmen, leise, wie man einen Ohrring abnimmt. 15

Im Vorsaal über einem Sessel hängt der Waffenrock, das Bandelier und der Mantel von dem von Langenau. Seine Handschuhe liegen auf dem Fußboden. Seine Fahne steht steil, gelehnt an das Fensterkreuz. Sie ist schwarz und schlank. Draußen jagt ein Sturm über den Himmel hin und macht Stücke aus der Nacht, weiße und schwarze. Der Mondschein geht wie ein langer Blitz vorbei, und die reglose Fahne hat unruhige Schatten. Sie träumt. War ein Fenster offen? Ist der Sturm im Haus? Wer schlägt die Türen zu? Wer geht durch die Zimmer? – Laß. Wer es auch sei. Ins Turmgemach findet er nicht. Wie hinter hundert Türen ist dieser große Schlaf, den


zwei Menschen gemeinsam haben; so gemeinsam wie _eine_ Mutter oder _einen_ Tod. 16

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jetzt sehn sie sie alle, fern voran, und erkennen den hellen, helmlosen Mann und erkennen die Fahne ... Aber da fängt sie zu scheinen an, wirft sich hinaus und wird groß und rot ...

Ist das der Morgen? Welche Sonne geht auf? Wie groß ist die Sonne. Sind das Vögel? Ihre Stimmen sind überall. Alles ist hell, aber es ist kein Tag. Da brennt ihre Fahne mitten im Feind und sie jagen Alles ist laut, aber es sind nicht Vogelstimmen. ihr nach. Das sind die Balken, die leuchten. Das sind die Fenster, die schrein. Und sie schrein, rot, in die Feinde 19 Der von Langenau ist tief im Feind, aber ganz allein. hinein, die draußen stehn im flackernden Land, Der Schrecken hat um ihn einen runden Raum geschrein: Brand. macht, und er hält, mitten drin, unter seiner langsam Und mit zerrissenem Schlaf im Gesicht drängen sich verlodernden Fahne. alle, halb Eisen, halb nackt, von Zimmer zu Zimmer, von Trakt zu Trakt und suchen die Treppe. Langsam, fast nachdenklich schaut er um sich. Es ist Und mit verschlagenem Atem stammeln Hörner im viel Fremdes, Buntes vor ihm. Gärten – denkt er und Hof: Sammeln, sammeln! Und bebende Trommeln. lächelt. Aber da fühlt er, daß Augen ihn halten und erkennt Männer und weiß, daß es die heidnischen Aber die Fahne ist nicht dabei. Rufe: Cornet! Hunde sind –: und wirft sein Pferd mitten hinein. Rasende Pferde, Gebete, Geschrei, Flüche: Cornet! Eisen an Eisen, Befehl und Signal; Stille: Cornet! Aber, als es jetzt hinter ihm zusammenschlägt, sind Und noch einmal: Cornet! es doch wieder Gärten, und die sechzehn runden Und heraus mit der brausenden Reiterei. Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Aber die Fahne ist nicht dabei. Eine lachende Wasserkunst. Er läuft um die Wette mit brennenden Gängen, durch Türen, die ihn glühend umdrängen, über Treppen, die Der Waffenrock ist im Schlosse verbrannt, der Brief ihn versengen, bricht er aus aus dem rasenden Bau. und das Rosenblatt einer fremden Frau. – Auf seinen Armen trägt er die Fahne wie eine weiße, bewußtlose Frau. Und er findet ein Pferd und es ist 20 Im nächsten Frühjahr (es kam traurig und kalt) ritt wie ein Schrei: über alles dahin und an allem vorbei, ein Kurier des Freiherrn von Pirovano langsam in auch an den Seinen. Und da kommt auch die Fahne Langenau ein. wieder zu sich und niemals war sie so königlich; und Dort hat er eine alte Frau weinen sehen. 31



IVAN S. TURGENEV (1818–1883) 21

Wie waren einst so schön, so frisch die Rosen Irgendwo, irgendwann, vor langer, langer Zeit habe ich ein Gedicht gelesen. Schon bald hatte ich es wieder vergessen... nur an die erste Zeile konnte ich mich erinnern: „Wie waren einst so schön, so frisch die Rosen ...“ Jetzt ist es Winter; der Frost hat die Fensterscheiben beschlagen, im dunklen Zimmer brennt nur eine Kerze. Ich habe mich in eine Ecke verkrochen und immerfort klingt es in mir: „Wie waren einst so schön, so frisch die Rosen ...“ Und ich sehe mich vor dem niedrigen Fenster eines russischen Vorstadthauses. Der Sommerabend weicht leise der Nacht. In der lauen Luft liegt ein Hauch von Reseda und Lindenblüten; und am Fenster, den Arm aufgestützt und den Kopf zur Schulter geneigt, sitzt ein Mädchen. Es blickt schweigend und wachsam zum Himmel, so als erwarte es das Erscheinen der ersten Sterne. Wie treuherzig und beseelt sind die nachdenklichen Augen, wie rührend unschuldig die fragend geöffneten Lippen! Wie gleichmäßig atmet die kindliche, noch von keinerlei Erregung bewegte Brust. Wie rein und zart sind die Züge des jugendlichen Antlitzes ... Ich wage nicht sie anzusprechen, doch wie teuer ist sie mir und heftig schlägt mein Herz! ...

Da sehe ich plötzlich andere Gestalten: Es erklingt der fröhliche Lärm ländlichen Familienlebens. Zwei blonde Köpfchen, einander zugeneigt, strahlen mich mit hellen Augen munter an; mit erröteten Wangen können sie das Lachen kaum zurückhalten; die Hände sind liebevoll verschlungen; junge, ausgelassene Stimmen fallen sich gegenseitig ins Wort; und ein wenig weiter, im Hintergrunde eines behaglichen Zimmers, gleiten andere, ebenfalls junge Hände mit unsicheren Fingern über die Tasten eines alten Pianinos, und ein Lannerscher Walzer vermag das Brummen des altertümlichen Samowars nicht zu übertönen ... „Wie waren einst so schön, so frisch die Rosen! ...“ Die Kerze brennt nieder und verlischt ... Wer hustet dort so heiser und dumpf? Zusammengerollt liegt mir zu Füßen, in unruhigem Schlaf, ein alter Hund, mein einziger Gefährte! ... Mich schaudert ... Ich friere ... Und alle sind sie längst schon tot, längst schon tot. „Wie waren einst so schön, so frisch die Rosen! ...“

„Wie waren einst so schön, so frisch die Rosen!“...

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IVAN S. TURGENEV (1818–1883) 22

Das azurblaue Reich O azurblaues Reich, o Reich des Lichtes, der Jugend und des Glücks! Ich sah dich einst ... im Traume. Wir befanden uns auf einem prächtigen, geschmückten Boot. Wie eine Schwanenbrust blähte sich das weiße Segel unter den flatternden Wimpeln. Ich wusste nicht, wer meine Gefährten waren, doch ich war mir sicher, dass sie ebenso jung, heiter und glücklich waren wie ich. Aber ich beachtete sie nicht weiter. Ringsum sah ich nur das endlose, azurblaue Meer, bedeckt vom Glitzern der funkelnden Wellen, und über mir ein zweites, ebenso endloses azurblaues Meer, und darüber zog triumphierend, als ob sie lacht, die freundliche Sonne dahin. Vögel kreisten über uns, Maiglöckchen und Rosen tauchten im perlmuttfarbenen Schaume auf, der an den Seiten unseres Bootes dahin glitt. Mit den Blumen und Vögeln drangen auch süße Töne an unser Ohr ... Frauenstimmen schienen es zu sein ... Und alles ringsum: der Himmel, das Meer, das bewegte Segel über mir, das Rauschen der Strömung unter mir – alles sprach von Liebe, von seliger Liebe! Und ein jeder von uns dachte an diejenige, die er lieb hatte, sie war da ... unsichtbar und nahe. Noch ein Augenblick und es glänzen ihre Augen, es erstrahlt ihr Lächeln ... ihre Hand erfasst die deine. Sie zieht dich mit sich ins ewig blühende Paradies. O, azurblaues Reich! Ich habe dich gesehen! Im Traume! 34


IVAN S. TURGENEV (1818–1883) 23

Die Nymphen Ich stand vor einer Kette schöner Berge, die sich im Halbkreis ausbreiteten; junger, grüner Wald bedeckte sie von den Gipfeln bis zum Tale. Über mir das durchsichtige Blau des südlichen Himmels, von oben herab strahlte die Sonne, und unten plätscherten, vom Gras halb verdeckt, muntere Bäche. Ich erinnerte mich an die Sage von einem griechischen Schiff, das im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt das Ägäische Meer überquerte. Es war um die Mittagstunde ... das Wetter war ruhig und mild. Da hörte der Steuermann plötzlich über sich laut und deutlich eine Stimme: „Wenn du an der Insel vorüberfährst, dann rufe so laut du kannst: ‚Tot ist der große Pan.’“ Der Steuermann wunderte sich und bekam Angst. Als jedoch das Schiff an der Insel vorüber kam, gehorchte er und rief: „Tot ist der große Pan.“ Und sofort erschallten entlang der ganzen Küste als Antwort auf seinen Ruf lautes Schluchzen, Stöhnen und lang gedehntes Wehklagen: „Tot! Tot ist der große Pan!“ Ich erinnerte mich an diese Sage und ein sonderbarer Gedanke kam mir in den Sinn: „Was wäre, wenn ich auch etwas riefe?“ Doch angesichts der Natur um mich herum, konnte ich nicht an den Tod denken und rief aus Leibeskräften: „Auferstanden, auferstanden ist der große Pan!“ Und sofort, o Wunder, erschallte als Antwort auf meine Rufe über dem weiten Halbkreis der grünen Berge ein vielstimmiges Gelächter, und es erhob sich ein freudiges Stimmengewirr: „Auferstanden, auferstanden ist der große Pan!“

Alles vor mir jauchzte freudig, heller als die Sonne, fröhlicher als die im Gras plätschernden Bäche. Ich hörte eilige leichte Schritte, durch das grüne Dickicht schimmerten marmorweiße Gewänder und die frische Farbe entblößter Körper ... Nymphen waren es; Nymphen, Driaden und Bachantinnen liefen von den Höhen hinab in das Tal... Allen voran schwebte die Göttin: größer und schöner als die andern, den Köcher über der Schulter, den Bogen in der Hand, die silberne Mondsichel in den wehenden Locken ... Diana ... bist du es? Doch plötzlich hielt die Göttin inne ... und sofort blieben auch alle Nymphen hinter ihr stehen; das schallende Gelächter erstarb. Ich sah, wie das Antlitz der jäh verstummten Göttin totenblass wurde; ich sah ihre Beine zu Stein erstarren, wie unbeschreibliches Entsetzen ihre Lippen öffnete und die in die Ferne blickenden Augen weitete. Was hatte sie gesehen? Wohin schaute sie? Ich wandte mich um – dorthin, wohin sie blickte. Am Horizont, jenseits der Felder, leuchtete wie Feuer ein goldenes Kreuz ... Dieses Kreuz hatte die Göttin gesehen. Ich hörte hinter mir einen langen Seufzer, ähnlich dem Klang einer gesprungenen Saite; als ich mich wieder zurückwandte, waren die Nymphen spurlos verschwunden ... Der weite Wald grünte wie vorher und nur hie und da schimmerte es weiß durchs dichte Netz der Zweige. Ob es die Gewänder der Nymphen waren, oder ob Nebel aus dem Tal aufstieg, ich weiß es nicht. Doch wie leid tat es mir um die entschwundenen Göttinnen! 35



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