JASON BARTSCH
am
s Sl
ry
Poe t
sik
er Mu
lassis ch
und k
iose au
mb
e Sy
ENSEMBLE RUHR
Ein
ÄCKER DES RUHRGEBIETS
Gefördert und mit freundlicher Unterstützung von:
Edition
K · KAL 6354-2 K Edition Recording / Aufnahme: 10/2020, Immanuelskirche Wuppertal Recording Producer / Tonmeister: Jens F. Meier
Publishers / Verlage: Durand (Milhaud), Breitkopf & Härtel (Sibelius) Text („Was bleibt ist alles“): cJason Bartsch Cover photo & „Ruhrgebiet“-photos (S. 8, 16, 18, 20, 25): cJan Pauls Artist Photos / Künstlerfotos: cSally Plöger; photo (Tray): cPhilip Mayer Liner notes / Booklettext: Ensemble Ruhr Artwork / Cover-Design: Kristina Kasperczyk, Spür Design Text-Layout / Bookletgestaltung: Jens F. Meier Executive Producer: Jens F. Meier p& cKALEIDOS Musikeditionen · www.musikeditionen.de
ÄCKER DES RUHRGEBIETS Eine Symbiose aus Slam Poetry und klassischer Musik
Sprecher Jason Bartsch Konzertmeister und musikalische Leitung Stefan Hempel Violine 1 Antje Weltzer-Pauls, Carmen Molina Espejo, Hans Henning Ernst Violine 2 Jackie Xiao, Laura Kania, Eunseo Kwon Viola Nina Arnold, Erin Kirby, Miriam Barth Violoncello Janina Ruh, Anna Betzl-Reitmeier Kontrabass Szymon Marciniak
Äcker des Ruhrgebiets Eine Symbiose aus Slam Poetry und klassischer Musik GIACOMO PUCCINI (1858–1924) 1
Crisantemi – Elegie für Streichquartett cis-Moll, SC65 (1890)
06:59
Kammerorchesterfassung 2
„Stellt euch einmal vor, wir lebten in einer Stadt … “ [J. Bartsch]
JOSEPH HAYDN (1732–1809)
Konzert Nr. 4 G-Dur für Violine und Orchester, Hob. VIIa: 4
02:41
STEFAN HEMPEL, Solo-Violine 3
I. Allegro moderato
4
„Unsere Stadt kann lesen und schreiben ...“ [J. Bartsch]
08:46 01:02
5
II. Adagio
05:33
6
„Wenn ich das richtig verstehe ...“ [J. Bartsch] 00:58
7
III. Allegro
8
„Man sollte den Menschen gegenüber wieder Hoffnung erwähnen …“ [J. Bartsch] 02:56
4
03:45
9
„Denn alles, was der Mensch immer wollte, war alles …“ [J. Bartsch] 01:31
DARIUS MILHAUD (1892–1974)
Streichquartett Nr. 1 op. 5 (1912), Kammerorchesterfassung
10
I. Rythmique
06:48
11
II. Intime, contenu
07:34
12
III. Grave, soutenu
08:42
13
„Die Welt ist alles, was der Fall ist ...“ [J. Bartsch] 00:37
14
IV. Vif, très rythmé
06:02
JEAN SIBELIUS (1865–1957) 15
Impromptu für Streichorchester
nach den Impromptus für Klavier op. 5, Nr. 5 & 6
06:53
PHILIPP MATTHIAS KAUFMANN (*1970) 16
Das Steigerlied (Trad. Bergmannslied)
Bearbeitung für Kammerorchester
03:20
JASON BARTSCH | Sprecher STEFAN HEMPEL | musikalische Leitung ENSEMBLE RUHR 5
„Bergwerke sind Äcker, die sich nur einmal ernten lassen.“ Zitat unter Tage
Äcker des Ruhrgebiets
Ein künstlerischer Blick von Slam Poetry und klassischer Musik auf 100 Jahre Bergbau Ende 2018 wurde die letzte Tonne Steinkohle gefördert. Damit endete die Ära der über 100 Jahre alten Geschichte des Bergbaus im Ruhrgebiet. Als mit der Region verbundenes Kammerorchester ist es dem Ensemble Ruhr wichtig, sich gerade mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Eine Region, die sich lange Zeit über den Bergbau identifizierte, musste sich die letzten Jahre eine neue Identität schaffen. Über Generationen lebten die Menschen im Ruhrgebiet vom Kohleabbau. Was passiert nun? Wie geht die Bergmannsgeneration, wie junge Menschen mit dem Wandel um? Sind junge Menschen überhaupt noch durch Bergbau geprägt oder können sie sich noch mit diesem Zeitalter identifizieren? Das Ensemble Ruhr sucht in Zusammenarbeit mit dem Poetry Slammer Jason Bartsch seinen ganz eigenen Zugang zu den unterschiedlichen Gesichtspunkten und Zeitabschnitten der Industrieepoche. Die jungen Akteur*innen haben die goldenen Jahre des Ruhrgebietes, als es sich vor allem über den Bergbau identifizierte, nicht miterlebt. Doch als Künstler*innen vor Ort und im Ruhrgebiet Lebende, sind sie im Strukturwandel tief verhaftet und aktiv bei der Neufindung des Ruhrgebietes beteiligt. Es ist es ihnen ein Bedürfnis, sowohl an der Vision der Neufindung des Ruhrgebietes in ihrer Sprache mitzuwirken, als auch das bergbauliche Erbe und die Tradition für die junge Generation lebendig zu halten. Mit dem Projekt „Äcker des Ruhrgebiets“ finden sie in einer Symbiose aus Wort und Musik ihre eigene Ausdrucksform. In einer fein aufeinander abgestimmten Dramaturgie beleuchten die Musiker*innen und Jason Bartsch mit Musik und Wort Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Region. Sie entdecken die verschiedenen Facetten und arbeiten die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt, die positiven wie negativen Aspekte des Bergbaus heraus – immer mit Blick auf die Bedeutung und den Einfluss des Bergbaus für und auf die junge Generation.
6
Das Ende des flächendeckenden Bergbaus hat die Städte vor eine Herausforderung gestellt. Durch Strukturwandel und Verschiebungen in der Industrie wurden ehemalige Standorte zu Museen. Die allgegenwärtige Geschichte bleibt dadurch in einem neuen Rahmen erfahrbar und bewahrt. Mit dem Ende der Steinkohleförderung müssen neue Perspektiven in diesen Bergbaurevieren geschaffen werden. Das Ruhrgebiet muss sich zu einer lebenswerten und wieder identitätsstiftenden Region weiterentwickeln. Der Bergbau ist etwas Nostalgisches geworden. Es geht aber nicht um Melancholie, sondern um eine Erinnerungskultur, die Neues schafft. Das Erbe der Bergbaugeneration sollte gegenwärtig sein und die Leistung der Bergleute gewürdigt werden. Die Gemeinschaft der Kumpel steht sinnbildlich für den Zusammenhalt einer ganzen Region. Das Zusammenrücken der Bergleute durch die körperlich höchst anstrengende und gefährliche Arbeit unter Tage ist ein hohes Gut und sollte geschützt und in die „Neuzeit“ hinübergetragen werden. Doch kann die junge Generation diese Form von Zusammenhalt und Gemeinschaft noch nachvollziehen? Der bereits aktive und weiterhin bevorstehende Wandel muss im Kollektiv vollzogen werden. Eine Identifizierung mit der Region und seiner Geschichte sowie der Blick nach vorne sind Voraussetzung, um Neues zu schaffen. In der Zukunft wartet eine Identität, die im Jetzt formbar ist. Aber ein neuer Charakter entsteht nur mit dem Wissen um das, was diesen Charakter überhaupt erst möglich gemacht hat: Die Geschichte. Um diese Geschichte und sein Entwicklungspotenzial neu erfahrbar zu machen, wird gemeinsam in Partituren und Textfragmenten nach möglichen Momenten der Interaktionen beider Kunstformen gesucht. Die Zusammenarbeit des Wortkünstlers Jason Bartsch und den Musiker*innen des Ensemble Ruhr basiert auf der genauen Kenntnis des Potenzials der jeweils eigenen Literatur. So entsteht eine enge und intime Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Indem kompositorische Bausteine der ausgewählten Werke herausgenommen, weiterentwickelt und direkt mit den Texten des Poetry Slammers Jason Bartsch in Beziehung gesetzt werden, verbinden sich Wort und Musik ganz unmittelbar. Der Wettbewerbsgedanke des Poetry Slam spielt dabei keine Rolle, da Wort und Musik nicht in Konkurrenz treten, sondern voneinander profitieren.
7
Vielmehr geht es um die Spontanität und den Wunsch nach Grenzüberschreitung und Improvisation der auf der Bühne Agierenden, die beim Poetry Slam grundlegend eine Rolle spielen. Das Ensemble Ruhr arbeitet dafür mit Musik aus unterschiedlichen Epochen und improvisatorischen Elementen in kleineren und unterschiedlichen Kammermusikbesetzungen. Die ausgewählten Kompositionen zeichnen sich durch programmatische Klangsprache aus, die zur Geschichte des Bergbaus passt und ebenso das Potenzial hat, die emotionale Dichte von Jason Bartschs Texten zu unterstreichen. Mit viel Gefühl für Timing und den großen Spannungsbogen erarbeiten die Musiker*innen und der Poetry Slammer gemeinsam auf Basis von Text und Musik das Gesamtkonzept. So entsteht eine kammermusikalische Dichte höchster Qualität und Virtuosität, die einen frischen und unverstellten Blick einer Generation widerspiegelt, die seine künstlerische und persönliche Zukunft im Ruhrgebiet sieht. Das Ensemble Ruhr steht für ungewöhnliche und künstlerisch anspruchsvolle Konzerterlebnisse, die fernab vom Mainstream neue Wege und Räume öffnen. Die Zusammenarbeit mit anderen Kunstformen bedeutet für die Musiker*innen nicht nur Erweiterung des Programms, sondern auch einen unmittelbaren und engen Austausch, der neue Ausdrucksformen ergibt. In seinen Projekten setzt sich das Ensemble Ruhr als Kammerorchester aus dem Ruhrgebiet oft mit Themen der Region auseinander und nutzt Musik als Sprachrohr, um darauf aufmerksam zu machen. So dienen die Erfahrungen des Projekts „Die sieben letzten Worte an sieben Orten“ als Ideengeber und Inspiration für „Äcker des Ruhrgebiets“. Durch die musikalische Inszenierung von Orten im Ruhrgebiet, die positiv wie negativ mit den Themen Strukturwandel in Verbindung stehen, bekamen die Musiker*innen einen genaueren und durchaus kritischen Einblick in die Geschichte der Region und befassten sich mit dem Bergbau und seinen Auswirkungen.
9
D
as Ensemble Ruhr, 2012 gegründet, ist ein Orchester aus der Region für die Region – stolz führt es die Ruhr im Namen. Es ist das einzige professionelle, von den Musiker*innen gemeinsam geleitete und ohne Dirigenten auftretende Kammerorchester im Ruhrgebiet. Von der Bundesregierung wurde das Ensemble Ruhr 2014 mit dem Titel Kultur- und Kreativpilot ausgezeichnet und ist damit einer der Preisträger des bundesweiten Wettbewerbs. Für seine weiterführende Arbeit erhält das Ensemble Ruhr ab 2020 eine dreijährige Ensembleförderung des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen. 2020 wurde das Ensemble Ruhr für seine außergewöhnlichen und innovativen Konzepte und sein kulturelles Engagement für die Stadt Essen mit dem Allbau-Kulturpreis der Stadt Essen ausgezeichnet. Mit dem Projekt Sehnsucht und Ahnung wurde das Ensemble Ruhr als eins von 27 freien Orchestern für das CoronaHilfsprogramm „Neustart Kultur – Orchester vor neuen Herausforderungen“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien ausgewählt.
Selbstbestimmt konzertiert das Streicherensemble auf höchstem künstlerischen Niveau. Anstelle eines Dirigenten laden sich die Mitglieder*innen des Ensemble Ruhr für ihre gefeierten Auftritte namhafte Solist*innen oder Konzertmeister*innen ein. Bereits mehrfach arbeitete das Ensemble mit Prof. Stefan Hempel (Morgenstern Trio) zusammen. Mit spartenübergreifenden Projekten, an außergewöhnlichen Orten begeistert das Ensemble Ruhr altes wie neues Publikum für zeitgemäßen Hörgenuss aus sämtlichen musikalischen Epochen. Egal, ob im Fußballvereinsheim oder im Konzertsaal, in Verbindung mit Lichtinstallationen, Poetry Slam, Fotografien, Schauspielkunst oder Flugtheater – das Ensemble Ruhr schafft Verbindungen und zeigt innovative künstlerische Wege auf. www.ensembleruhr.de
10
12
S
tefan Hempel ist einer der vielseitigsten Geiger seiner Generation, er gewann als Solist zahlreiche Preise bei internationalen Wettbewerben wie dem „Max RostalViolinwettbewerb, dem „Michael Hill International Violin Competition“ Neuseeland und dem Wettbewerb „Schubert und die Musik der Moderne“ in Graz.
Seit 2009 ist Stefan Hempel Violinist des Morgenstern-Trios, eines der führenden Klaviertrios seiner Generation, und konzertiert sowohl auf den wichtigsten europäischen Bühnen (Kölner und Berliner Philharmonie, Laeiszhalle, Musikverein Wien, Concertgebouw Amsterdam, Pierre-Boulez-Saal etc.) als auch regelmäßig in den berühmtesten US-amerikanischen Sälen wie dem Kennedy Center, Washington, der Carnegie Hall, und dem Lincoln Center, New York. Zahlreiche Rundfunkmitschnitte, Portraits und CD-Produktionen beim DLF, Deutschlandradio Kultur, WDR 3 und des Bayerischen Rundfunks dokumentieren die Ausnahmestellung des Ensembles. 2015 wurde dem Morgenstern Trio der Förderpreis des Landes NRW verliehen. Weiterhin ist das Trio auch Träger des renommierten „Kalichstein-Laredo-Robinson-International Trio-Award“. Seine künstlerische Ausbildung genoss er bei Stephan Picard (Violine) und Eberhard Feltz (Kammermusik) an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler” Berlin. Stefan Hempel wurde 2010 als einer der jüngsten Professoren Deutschlands an die Hochschule für Musik und Theater Rostock berufen. Viele seiner Studierenden sind mittlerweile u. a. Preisträger internationaler Wettbewerbe und haben vordere Positionen bei namhaften Orchestern in Deutschland. Stefan Hempel ist außerdem ein gefragter Gastkonzertmeister bei einigen Kammerorchestern (Württembergisches Kammerorchester Heilbronn, Kammerakademie Neuss, Neues Mendelssohn Kammerorchester Leipzig, Ensemble Ruhr) und leitet diese häufig vom Konzertmeisterpult. Er gibt Meisterkurse in den verschiedensten Ländern, z. B. in Frankreich, Italien, USA, Japan und China und ist inzwischen auch als Juror bei internationalen Musikwettbewerben gefragt. 13
J
ason Bartsch, geboren 1994, lebt als Musiker, Autor und Moderator in Bochum. Seit 2013 tourt er als Bühnenkünstler zunächst mit seinen Texten, später mit seinen Liedern durch den deutschsprachigen Raum. Seine Texte sind u. a. ausgezeichnet mit dem Nachwuchsförderpreis des Landes NRW; sein letztes Album („Eine Idee für das Klappen aller Dinge“) und die anschließende Tournee wurden von der Initiative Musik gefördert. Seine sich zunehmend erweiternde Sammlung an Lyrik über die verschiedenen Gesichter des Ruhrgebiets und die Verantwortung einer Region im Wandel eröffneten Ausstellungen und gaben Input zu politischen Diskussionen über die Zukunft des Ballungsraums. Seit einigen Jahren begleitet Bartsch Veranstaltungen im gesamten Ruhrgebiet auch in Form von sogenannten Poetic Recordings, unmittelbaren lyrischen Zusammenfassungen des Gesagten, z. B. für die Grüne Hauptstadt Essen, Zehn nach Zehn, Bildungskonferenzen und die Ruhrkunstmuseen.
14
WA S BLEIBT IST ALLE S von JASON BARTSCH
1
Die Welt ist alles, was der Fall ist und dieser Fall hat folgende Sachlage: Im Ursprung eines harschen Schalles liegt Ästhetik, keine Krachfrage. Hier, wo sich über Jahre und Jahrzehnte jede Sekunde unter Tage wie die Gräbentunnel dehnte, ist das Grau unserer Fassade nur das Außen von Gelebten, die im Herzen bunte Farben auf Leinwand gemalt haben. In einem Rahmen aus Brokat liegt ein Ölgemälde akkurat, in Gold gefasste Ornamente zeigen graue Streifen ohne Grenzen in der sanften Perlmuttlinie, die das Außen seicht verziert; in jedem Winkel ein Detail, intensiver als der Schrei. Alles brummt in diesem Bild, alles wirkt ganz leise, still streift ein Pulk junger Kinder durch die Straßen, die geziert sind von den Qualmen und den Gasen einer Geschichte, die die Ortschaften verbindet, sodass die Grenze, die man einst gezogen, übermalt verschwindet und auch, wenn man es schon auf den ersten Blick gut sieht, dieses Bild hier ist ein Klassiker, es heißt: das Ruhrgebiet.
2
Stellt euch einmal vor, wir lebten in einer Welt, in der immer die Sonne scheint. Ja, im Ruhrgebiet. Soll es geben. Immer dann nähmen wir unser Fahrrad und wir gingen raus und da wäre nur Beton.
17
Wir hätten uns ein graues Meer erschaffen, alles grau und weiß wie Rohrschachnormen, Straßen, deren Wellen an Bordsteine schwappen, mit Hochhäusern als Bohrplattformen. Ein Meer, in dem die Gischt aus Teer und Asphalt dir grau ins Gesicht spritzt und lautlos verhallt. Ich nehme mein Fahrrad mit an diesen Strand, ich lasse mir von den Auspuffen die Haare föhnen, ich lasse mich bräunen von dem Licht, das vom Smog reflektiert wird, ich lasse mir die Fußnägel vom Straßenbelag schleifen. Wir haben uns angewöhnt von Städten zu sprechen, als wären sie ein Fußballteam im Abstiegskampf, wir rechtfertigen uns und sagen, es gäbe ja auch schöne Ecken und mit jedem Großbauprojekt geht der Drang zum Loslaufen weg, denn Draußen sind alle Katzen grau und Innen haben wir es warm. Wir haben aufgehört fürs Leben in die Großstadt zu fahren und versuchen uns den Charme der Industriestadt zu wahren, doch der Großteil wird verkauft und am Schluss leider total verbaut. Ich fahre mit dem Fahrrad durch Straßen, die alle gleich aussehen und frage mich, ob ich hier schonmal gewesen bin; ich frage nach mehr Sauerstoff und mich, ob ich noch am Leben bin, ich rauche eine Zigarette, deren qualm mich erfrischt. Neben mir sitzt eine Frau auf der Bank, die auch aus Beton ist (die Bank, nicht die Frau). Ich scheine ihr unsympathisch zu sein, denn sie gähnt nicht mit, wenn ich gähne; sie sagt, sie sei hier, um eine Bestattung zu leiten. Ich frage nach, sie scheint nichts zu bestreiten, ich begrabe die grüne Stadt unter der ihr eigenen Last. Und sie zündet eine Kerze an für jeden Baum, der hier gefällt, eine zweite für die Parks und die Wälder dieser Welt, 18
eine dritte für den angelegten Garten hinterm Haus, eine vierte für das Treibhaus, das im Stadtviertel verstaubt und sie zündet diese Kerzen an, bis es ein Lampenfest geworden ist. Menschen beginnen zu tanzen manche tragen Monstranzen, ein heiliges Taizégebet, das ungewohnte Wege geht, denn aus der Masse der Demonstranten Trauergasse platzt so manchen der Kragen um das Grau, das ihm im Wege steht. Die Frau sitzt neben mir und gähnt, sie entzündet einen weit’ren Docht, sie wirft die Kerze auf die Straße und brüllt laut: Beton brennt doch!
3
Stellt euch einmal vor, wir lebten in einer Welt, in der es immer regnet. Ja, das Ruhrgebiet. Und dann kommen diese Freunde, die das Gesicht verziehen, wenn man sagt, dass man aus dem Ruhrgebiet kommt und ihr nehmt euch das Fahrrad und überall sind Radwege und da ist nur grüngrüngrün, aber sie zeigen immer nur auf den Beton, als wüssten sie es und sagen: Guck! Wir sollte anfangen über unsere Stadt zu reden, als wäre sie unser eigenes Kind. Ja, sie hat auch Macken und sie schreit nachts, doch sie muss sich für nichts verstecken, hier kann man sich vor schönen Ecken kaum retten.
4
Unsere Stadt kann lesen und schreiben; sie kann im Sommer ein Nest sein, für Liebe zu zweit, in unserer Stadt ist man glücklich und entspannt, denn der Park ist Markt und die Wege bekannt. Bei 13 Grad und dem ersten Sonnenschein nach 12 hat der Student einen Ort, an dem er die Grillsaison für offiziell eröffnet erklären kann. Wenn er dann schon wach ist. Menschen, die freiwillig joggen und allein mit einem Ball erziehende Väter soll es geben. Wir lassen uns von den Ameisen das Picknick verderben, wir schauen verärgert von unserem Buch hoch, wenn Kinder lachen. Der Schrebergarten ist die Insignie einer Gesellschaft, die den Traum verloren hat, ihre Stadt zu einem Hafen zu machen. 19
Wir nicht, wir träumen weiter. Erst essen wir Eis, aber dann, dann träumen wir weiter. Okay, zunächst drehen wir eine Runde um den See, schauen den Schwänen am Teich zu und sehen benebelt vom Glanz unserer Stadt, dass Leben so ganz gut klappt.
5
Neben mir sitzt eine Frau auf der Bank, die wunderschön ist (die Bank und die Frau), ich scheine ihr sympathisch zu sein, denn sie läuft nicht schreiend vor mir weg, wie es einige ihrer Vorgängerinnen getan haben, sie sagt, sie sei hier, um eine Geburt zu begleiten, ich frage nach, sie scheint nichts zu bestreiten. Ich bin die Königin, lang lebe der König!
6
Wenn ich das richtig verstehe, merkt man, es braucht Kontinuität. Niklas Luhmann sagt, man könne keine Revolution in einem geschlossenen System verfolgen. Boris Becker sagt, er habe mehr aus seinen Niederlagen gelernt als aus seinen Erfolgen. Solange Schulen noch aussehen wie Kasernen und manche Universitäten wie ein Bunker, solange manche Menschen aufhören zu lernen, weil man sie nicht wertschätzt oder ermuntert, ist der Weg noch weit und Prioritäten falsch gewichtet. Niemand hat die Absicht, einen Graben zu errichten. Doch dieser Ort hat sich gewandelt, hier spricht man von der Industrie, und meint damit nur Nostalgie. Man sollte den Menschen gegenüber wieder Hoffnung erwähnen und Geschichten von der Zukunft erzählen. Wir haben eine mitgebracht, sie heißt: Die Zukunft und ist ein Zirkelschluss.
8
Man sollte den Menschen gegenüber wieder Hoffnung erwähnen und Geschichten von der Zukunft erzählen. Wir haben eine mitgebracht, sie heißt: Die Zukunft und ist ein Zirkelschluss. Es gibt da einen Ort, in dem das Morgen eine Zuflucht ist, in dem Lehren ein Akkord und in dem Bildung unsre Zukunft ist. Dieser Ort, niemand von uns wird ihn jemals sehen, wird von Digitalisierung angetrieben, er ist System, 21
er ist der Versuch zu verstehen, er ist zu wissen, wo die Stärken liegen. Der Ort ist ein Akkord aus Kraft und die Frage, wie man Einwände zu Innovationen aller macht. Und um diesen Ort, also die Zukunft, zu erforschen, braucht es einen Kompass, Mut und Horden von starken Menschen, die ohne Grenzen Kompetenzen bündeln und eine neue Art zu denken gründen. Dieser Ort liegt an der Ruhr, er ist riesig und seine Zukunft ungeklärt, am Ruhschnellweg, an dem man weder schnell, noch an der Ruhr vorbeifährt. Diesen Ort gibt es schon lange. Und trotzdem ist er Veränderung und Zuversicht. Düster ist es vor der Hacke, doch hinter Stein verbirgt sich Licht, Glück auf, der Steiger ist gegangen, doch unsere Zukunft ist es nicht. Meine Welt ist alles, was gefallen ist. Der Tatort ist ein kleiner Fleck, zwischen Köln und Münster eingequetscht, wo in jeder Stadt Geschichte steckt. Wir haben den Boden als unausschöpflichen Rahmen für Farben begriffen, das schwarze Gold als Ware im Lager begriffen, alles gewollt und die Erde bis zur Leere verschlissen, verstollt. Und so mäandern durchs Revier die Narben aus Beton und Stahl. Die Flöze sind die Adern, die pulsieren, jeder Förderturm ein Muttermal. Heiliger Vater, der du bist in der Erde, deine Pinselstriche sind gnadenlos. Und so laufe ich durch eine Stadt, die im Werden begriffen, nach ihrem eig’nen Atem sucht. Damals – unten, ein Wort ohne Kontur, „warn wa alle schwatz“, heute sind wir alle geschasst. Der Zweifel hat Konjunktur. Mit dem Tod einer Tradition kann eine Natur geboren werden, doch das Natürlichste, die Idee, ist im Museum, liegt im Sterben. Und so vergeht eine ganze Utopie, an den Rändern verbleicht und vom Gleichschritt besiegt, die Kunst und der Bergbau liegen beide abseits des Gebiets. Doch das eine hat Zukunft, weil es auf Träume baut, das andere war Zuflucht und ist jetzt aufgebraucht. 22
9
Denn alles, was der Mensch immer wollte, war alles. Und in diesem Falle des Falles war das eine Industrie, die mit Maschinen, von Maschinen bedient, die Natur aus ihren Angeln hob und sie als eine Masse verstand, die im Prinzip als Form für ein mechanisches Wunder gedieh. Wir machten Bleistiftskizzen auf dem Pergament unserer Felder und lachten über die Witze der Kumpel unserer Eltern. Jedes Flöz war Petersburger Hängung und Relikt der Historie, doch nicht alles ist restaurierbar und nicht jeder Riss eine Glorie. Vielleicht ein Dammbruch, ein schwarzer Katarakt. Das Ruhrgebiet ist brüchig, verschwimmt und sackt ab. Hier scheidet sich die Kunst von der Kultur. Kunst hat keinen Zweck, ist über den Dingen und pflanzt Ideen für längere Reifung. Die Kultur des Bergbaus ist verdreckt, im Inbegriff das Herz der Region zu verschlingen und verramschte hier jeden für stärkere Reibung. Und so, wie sich unter der Erde die Kumpel gegenseitig – wie Kunst – die Zukunft versprachen, so liegt mit Ihnen heute im Dunkeln die Angst um den eigenen Zuspruch im Magen. Doch über die Dekaden, entwickeln sich Arkaden. Das Ruhrgebiet zentriert sich neu, eine bildhaft schöne Partitur: denn Form ist eo ipso die Möglichkeit einer Struktur.
10
Es wurde gemalt von tausenden von Menschen, aufbewahrt in Tüll, sodass die Häuser immer glänzen, natürlich etwas angerußt vom Schweiß der ganzen Arbeit, doch wichtig ist, dass diese Zweckgemeinschaft stets gewahrt bleibt. Also bildete man ein Kollektiv aus Pinselstrichen, Bleistiftskizzen, jede Farbe, die verlief, 23
ist Zeuge von Gedankenblitzen; hier sprießt Kultur aus jedem Pixel, sie ist verbunden mit dem Wort, das in der Sonne gleißend glitzert. Wer etwas näher rangeht, sieht die im Sand verlauf’ne Spur eines Blaus, das uns vereint, keine Krankheit, aber trotzdem noch die Ruhr. Ausgestellt im westlichsten Flügel eines Landes, das für seine echt gemeinte wahre Kunst bekannt ist, und hat die Leinwand auch ihre zeitbedingten Schäden, verbinden sich im Rauch hier die losen roten Fäden; und geht man mit der Lupe etwas ran, sieht man, was das Ruhrgebiet auch noch so alles kann.
11
Man sieht Nachbarn, die gemeinsam Wege zueinander schaffen, Pinsel, Bildung, Farbe sind die selbstgewählten Waffen für das Bunte, das hier expressiv, manchmal auch ein bisschen schief das Brachland, das Gewässer mit Gemeinschaften verbessert. Hier geht die Begeisterung für Großes Hand in Hand, man ist Metropole, alles wummert hier im Land, kämpft man gegen Vorurteile, die man im Keim schon verhindert. Und als du dich gerade in der Schönheit zu verlieren glaubst, hörst du die Fabrik, die in der Ferne anner Kupplung schraubt. Du erinnerst dich daran, wie man dich früher häufig fragte, was das Bild bedeute, und du dann darauf sagtest, das Ruhrgebiet ist inner Bude Tüten kaufen, das erste mal ein Fiege saufen, und egal wohin man schaut – er hat Recht –, ist es besser als man glaubt, gar nicht schlecht.
24
Dieses Bild steht für Gemeinschaft, es verbindet und vereint fast alles, wie es scheint, dass in unsren Herzen keimt. Was auch immer kommen mag, wir winken gerne rüber; ist der Nachbar mal im Urlaub, dann begießen wir die Kübel der van Gogh’schen Sonnenblumen, Monets kleine Teiche hinter dem Licht einer Eiche über die Zeit schon verbleicht, denn auch, wenn das Ruhrgebiet jede Erwartung fast erfüllt, ist diese Zeichnung unterm Strich auch ein Linsenrasterbild. So kam die Idee über das Land, das Wimmelbild, das unbekannt in einen Ort zu stellen und damit vorzustellen; einen Ort, an dem die Leute rein und rausgehen, wie sie wollen, wo sie das Gestern und das Heute vergleichen können sollen. Und dieser wundersame Ort ist nicht in einer Stadt, es ist, so verheißt es jedes Wort etwas, das jeder von uns in sich hat. Der Gedanke ist der sinnvolle Satz. Etwas, das jeder von uns in sich hat. So wie das Gespür für das Gute, die Hoffnung, das unvermutet Mutige, das unvergessen zu Hütende, das Urige. Und so fand eine Entwicklung statt, die in sich Perspektive hat. Man nahm die Fehler, das Leiden, 26
das Große, das Unten, das Scheiden der Natur und des Menschen, den Bergbau in seiner tiefschwarzen Gänze und man nahm sich seiner als Objekt an und nahm sich die Dinge, die an sich perfekt waren (die Ästhetik, das Zusammen, das Eins) und schuf eine Kunst, die das alles vereint. Dieses Vermächtnis zu hüten, in einer Zeit, in der die Welt auseinandertreibt, in der der Mensch lieber untereinander bleibt, ist von oberster Güte. Es ist moralisch, wie Kunst nur sein kann, denn sie schafft etwas, das man nur gemeinsam in der Gruppe als erfahrbar begreift und das toto pro pars als Wahrheit erscheint. In einer Zeit, in der man sich abriegelt und die eigenen Gräben nach unten ausdehnt, ist das Kumpelhafte, das Leiden, das Bewahren der Geschichte verpflichtend. Wir haben es in der Hand, Kumpel aller Länder, nicht die alte Sprache, das Neue in Gewändern einer überbrachten Nähe, die man als Wunsch verstehe.
13
Die Welt ist alles, was der Fall ist und dieser Fall hat folgende Sachlage: Im Ursprung eines harschen Schalles liegt Ästhetik, keine Krachfrage. Hier, wo sich über Jahre und Jahrzehnte jede Sekunde unter Tage wie die Gräbentunnel dehnte, ist das Grau unserer Fassade nur das Außen von Gelebten.
27
15
Denn in uns drin, da ist was uns die Farben für die Zukunft gibt: die Kunst. 2030. Auf der ganzen Welt gibt es Orte, in denen Stahlöfen rauchen, in denen Straßenzüge dampfen, wo die Menschen mehr verbrauchen, als sie haben, sodass krampfhaft fehlt, was mal war, denn: die Luft ist grau, hier wohnt man auf heißer Kohle, hier stellt man sich zur Schau, denn man ist Metropole. Orte auf der Welt, in denen den Menschen das Smartphone der einzige Halt in der Rastlosigkeit ist; Orte, in denen man verschwendet und Arcor schon lange nicht mehr der Eintritt zur Welt in das Schattenreich ist. Hier wird sich mit Designermöbeln geschmückt, man selbst mit den neuesten Styles so bestückt, dass man mit seiner Einzigartigkeit in der Masse untergeht und scheinbar bleibt allen gleich, dass man sich wünschte man hätte mehr Zeit für die Kinder, den Mann, das Haus und die Eltern, doch man hat immer nur Stress und man wird ja nur älter, aber einen wirklichen Halt, den gibt es hier nicht, wir sind eine Großstadt, hier scheint immer Licht. 2030. Auf der ganzen Welt wird es eng und so stellt man fest, es hält nicht alles immer so lang, wie man es gerne hätte. Es gibt keine Landflucht mehr, das Land sind noch mehr Städte, jedes davon eingekreist in ein Nebelbild aus grau und weiß, ein Ebenbild, das Rauchluft heißt; eine Glocke aus Dunst aus der Ferne wie Kunst doch von Hieronymus Bosch. Und glaubte man noch, das Moloch zu zähmen und Brücken zu bauen, 29
kämpft heute jeder mit Zähnen und fürchtet das Grauen. Diese Welt ist keine Welt mehr, sie ist das planetarische Sternbild des Müllschluckers in einer Person, und auf dieser Welt hilft auch kein Geld mehr, denn das fragmentarische Sterben des Versuchers Judas ist leider schon so weit fortgeschritten, es hilft kein Schritt mehr zurück, der Chef von Nestle hört das und jubelt vor Glück. 2030. Beim Versuch zu atmen strömen Briketts in meine Lunge, neben mir im Straßengraben, dem neuen Friedhof der Hunde graben die Maden in den Wunden einer Zivilisation, die, anstatt zu handeln, nur sagte: es wird halt irgendwie schon. Die Erfindung des in sich nachhaltigen Unternehmens ist gleichermaßen die Suche nach dem perpetuum mobile, haben sie damals gesagt. Die Verschwendung der an sich endlichen Ressourcen ist gleichermaßen Mord an dem geliehenen Planeten, hat damals niemand gesagt – viel zu kompliziert fürs Fernsehen. 2030. Das ist gar nicht so weit hin, auch George Orwell hatte weniger im Sinn, dass 1984 wirklich schon 2001 eintritt. 2001: Odyssee im Webspace, solange es Wifi gibt, solange es Menschen mit Interesse daran gibt, dass die Presse damit wirbt, dass der Klimawandel mit Vorsicht zu genießen sei und man als Präsident keine Vorschriften bediene, weil es Menschen gibt, die wollen ohne Fortschritt im Betrieb einen Ort, an dem es bleibt wie es war, sorgenfrei und bewahrt. Und heute, gerade jetzt, wo man gemächlich sondiert, entscheidet sich, wie unsere Heimat, die Erde, denn stirbt. Man redet über: was sieht gut aus? Was klingt gut? Und man einigt sich auf den Slogan: Nach mir, nach mir die Sintflut … 30