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Buch: The Crisis Inside | International Short Story Project www.visionbakery.com/issp ............................................................................................................. Fundingtitel: The Crisis Inside Genre/Tags: Erzählung, Anthologie, Short Story Manuskript: abgeschlossen Format: 11 x 18 Visuals: Diese Leseprobe entspricht nicht der Gestaltung und dem Satz der Publikation.

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Leila Al-Serori | Österreich In der Warteschleife Dienstag. 10:44 Uhr. „Frau Andritz, Sie können jetzt hereinkommen.“ Frau Andritz, das bin ich. Ein Räusperer, dann stehe ich auf, packe meine schwarze Jacke und klemme sie unter meine

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Achsel. Gerade Haltung, Bauch rein. Dann mit festen Schritten auf in sein Büro. Das ist mein

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drittes Bewerbungsgespräch innerhalb eines Monats. Die Leute sagen, dass ich froh sein soll,

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überhaupt eingeladen zu werden. Froh und dankbar, dass jemand mein Motivationsschreiben

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gelesen hat. Sich die Zeit genommen hat.

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Vor sechs Monaten habe ich mein Studium beendet. Seitdem bin ich auf der Suche nach einem

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Arbeitsplatz. Tausende arbeitslose Akademiker gibt es in Österreich. Meist trifft es die

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Geisteswissenschaftler. Von uns gibt es zu viele, sagt die Statistik.

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„Nehmen Sie Platz!“ Ich setze mich auf den rot gepolsterten Sessel, schlage die Beine übereinander, meine Hände in den Schoß gelegt. Wie ein artiges Mädchen. Schultern zurück.

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Lächeln. „Na, dann erzählen Sie mal über sich.“ Ich setze an, rattere alle Höhepunkte meines Lebenslaufs herunter. Studium, Fremdsprachen, Praktika. Er sieht gelangweilt auf sein HandyDisplay. „Na, das klingt schon mal ganz gut. Aber längere Arbeitspraxis haben Sie nicht, oder?“ Er lehnt sich in seinem Drehstuhl zurück, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und fixiert mich mit seinen kleinen Augen. Ich schüttle den Kopf. „Aber ich lerne schnell.“ Er trägt ein weißes Hemd, um den Bauch spannt es ein wenig. Die Haare sind ergraut, unter den Achseln zeichnet


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sich ein kleiner Schweißfleck ab. „Na, nicht ganz das, was wir suchen. Aber danke für Ihre Bewerbung, na.“ Mein Bauch verkrampft sich. Ich stehe auf, strecke ihm die Hand hin. „Auf Wiedersehen.“ „Alles Gute“, sagt er, ohne mich anzusehen. Seit ich erwachsen bin, lebt Europa in einer Krise. Zuerst schlich sie sich an, war kaum spürbar. Dann schlug sie zu. Fest, auf den Kopf. Die Menschen hörten den Aufprall, aber sie spürten ihn nicht. Erst mit der Zeit, mit den steigenden Arbeitslosenzahlen und Steuererhöhungen wurde die Krise sichtbar. Es ist ein unangenehmes Klima, um erwachsen zu werden. Unsicherheit und Zweifel statt dem Gefühl alles erreichen zu können.

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Mittwoch. 18:20 Uhr. „Ist doch ein Kinderspiel, einen Job zu finden.“ Der, der redet, ist mein Bruder. Er streift sich durch die blonden Haare, zeigt seine geraden, leicht verfärbten Zähne. Ich

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bemerke, wie er mich mit seinen blauen Augen ansieht und versuche, frech und locker zu sein.

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„Für dich vielleicht. Mit Betriebswirtschaft ist das alles auch einfacher,“ sage ich. „Dann hättest

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eben etwas Nützliches studiert. Was willst du denn auch mit Literaturwissenschaft? In einer

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Bibliothek alte Schinken sortieren?“

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Dieses Gespräch habe ich gefühlt schon an die 50 Mal geführt. Es ist jedes Mal ein Stückchen überflüssiger. Aber ihm tut es offenbar gut. Er blüht richtig auf, wenn er unseren Eltern seine Überlegenheit präsentieren kann.

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Wir sitzen an einem hölzernen Tisch, essen Knödel mit Ei. Mama hat gekocht. Um mich aufzumuntern, sagt sie. Warum sie ihn dann eingeladen hat, frage ich sie, als ich nach dem Essen mit ihr alleine bin. Ihre Hand geht nach oben, wischt in der Luft etwas Imaginäres beiseite. „Ach komm, er ist doch dein Bruder.“

Mamas Haare sind orangerot gefärbt und um das Gesicht herum auftoupiert. Das mache sie jünger, sagt sie. Sie trägt ein gemustertes Kleid, welches ihren Körper umspannt und kurz unter den Knien endet. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, ist sie ein Stück gealtert. Doch wenn sie lächelt, sieht sie aus wie auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos aus ihrer Studentenzeit. Sie hat ein schönes, spitzbübisches Lächeln. Mama dreht sich um und sieht mich an. „Alles gut, Hannah?“ Ich schüttle den Kopf. „Ich streng mich doch auch an. Warum klappt das dann nicht?“ „Ach Hannah, das wird schon. Am Anfang ist es immer hart.“ „Freitag habe ich wieder ein Gespräch. Ich weiß nicht, ob ich hingehen mag.“ „Sicher gehst du, so lange bis es dann mal klappt. Aufgeben ist nicht.“ „Doch“, sage ich


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trotzig und wimmere unglücklich. Sie umarmt mich, drückt mich fest an sich und streicht tröstend über meine Haare. Ich spüre ihren Busen, ihre weiche Haut. Mamas Haare riechen immer noch wie damals, als wir Kinder waren – nach Haarspray, Vanille-Parfüm und Talg. Sie bewegt den Kopf ein Stück zurück und sieht mich an: „Vielleicht kann dir dein Bruder helfen?“ Als ich die Wohnung meiner Eltern verlasse, ist es schon dunkel. Ich denke an das Essen zurück, an meinen arroganten Bruder und meine wohlwollenden Eltern, die mich aber nicht verstehen. Muhammad Al-Bdewi | Syrien

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Meine Geschichte

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Aus einer endlosen Flut von Widersprüchen und Fragen entstand meine Geschichte, und mit ihr

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mein Dilemma und das Dilemma meiner Heimat Syrien. Ein Dilemma, das bisher unbekannte

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Horizonte geöffnet und neue Erkenntnisse gebracht hat. Erkenntnisse, die meine Verzweiflung

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und meinen Schmerz manchmal ins Unermessliche trieben, meiner mutlosen Seele aber bisweilen

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auch neue Hoffnung gaben. Die Erinnerung an den ersten Tag der Revolution in Syrien ist für

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mich emotional noch immer schwer zu verkraften. Noch immer habe ich deshalb schlaflose

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Nächte, so als wäre alles gerade eben erst passiert. Wie könnte ich diesen Tag jemals vergessen?

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Es war Freitag, der 18. März 2011. Was an diesem Tag geschah, ließ mich Entschlüsse fassen, die mein bis dahin unbeschwertes Leben für immer veränderten. Ich war an diesem Tag dabei

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gewesen, hatte die Geschehnisse dieses Tages mit eigenen Augen gesehen. Ich hatte miterlebt, wie sich die Bürger nach dem Freitagsgebet vor der Omari-Moschee versammelten und in Sprechchören Freiheit für ihre Kinder forderten, die vom verbrecherischen Regime verhaftet und gefoltert worden waren. Das einzige, was diese Kinder sich zuschulden hatten kommen lassen, war ihr kindliches Spiel unter dem Einfluss der Ereignisse während der Revolutionen des Arabischen Frühlings. Ihre Eltern saßen Tag und Nacht vor den Fernsehgeräten, um die Nachrichten aus Tunesien und Ägypten, später dann aus dem Jemen und aus Libyen zu verfolgen. In ihrer kindlichen Unschuld spielten die Kinder „Demonstration“ und riefen dabei die Parolen, die sie aufgeschnappt hatten, ohne wirklich zu begreifen, was sie da riefen, Parolen, in denen Freiheit und der Sturz des Regimes gefordert wurde. Der Staatssicherheit war nichts Besseres eingefallen, als diese Kinder zu verhaften und zu foltern, ungeachtet der Kinderrechte und der Menschenrechte, ungeachtet der Proteste ihrer Eltern, die


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nun eine Kundgebung veranstalteten, um für ihr eigen Fleisch und Blut die Freilassung zu fordern. Zuerst stand ich etwas abseits, um zu beobachten, was da vor sich ging. Ich war ziemlich verunsichert und ich hatte Angst. Mit 24 Jahren erlebte ich zum allerersten Mal eine Kundgebung in Syrien, auf der ernsthaft etwas gefordert wurde. Je mehr Leute sich der Protestkundgebung anschlossen, desto weniger Angst verspürte ich. Ich schloss mich den Demonstrierenden an, die sich in Richtung Stadtzentrum in Bewegung setzten, mit immer lauter werdenden Protestrufen. Ich zog mit ihnen und stimmte in die Rufe ein: „Freiheit! Freiheit!...“. Noch nie zuvor hatte ich das Wort laut ausgerufen. Je öfter ich es rief, desto größer wurde mein Selbstvertrauen, desto

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stärker wurde das Gefühl, wirklich frei zu sein, und die Gewissheit, dass nichts diese Menschenmenge von ihrem Ziel abbringen werde, Freiheit zu erlangen. Freiheit. Wie oft hatte

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ich mich schon gefragt, was dieses Wort bedeutet? Wie oft hatte mich diese Frage schon an den

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Rand der Verzweiflung gebracht? Mein ganzes Leben lang hatte ich mich einsam und verlassen

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gefühlt, obwohl ich stets von meiner Familie liebevoll umsorgt worden und von Freunden

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umgeben gewesen war, was jedoch nicht verhindern konnte, dass sich das Gefühl der Einsamkeit

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tief in mein Herz fraß und mich glauben ließ, ich sei anders als all die anderen um mich herum, weil ich mir und manchmal auch ihnen ständig diese Fragen stellen musste, die mich einfach

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nicht mehr losließen und in meinem Kopf rumorten, ohne jemals mehr hervorzubringen, als

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unklare, schemenhafte Antworten: Warum produziert der Mensch Waffen? Was bringen der Menschheit all die Kriege? Wozu gibt es Grenzen? Warum legen wir unsere Seele unnötig in Fesseln? Solche und andere Fragen beschäftigten mich ununterbrochen, bis Verzweiflung und Isolation vollkommen von mir Besitz ergriffen. Der winzige Hoffnungsschimmer in meinem Herzen wurde allmählich immer schwächer. Bis zu jenem Tag, an dem ich mich in den Demonstrationszug einreihte. An diesem Tag entdeckte ich, dass ich nicht allein war, und dass viele Menschen so dachten wie ich. Menschen, die ihre Stimme erhoben, um Freiheit zu fordern. Meine Hoffnung erwachte aus dem Tiefschlaf. Bei jedem Schritt, den ich neben ihnen vorwärts ging, wuchsen meine Zuversicht und mein dringlicher Wunsch, den Weg des Wandels weiter zu beschreiten.


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Lina Maria Parra Ochoa | Kolumbien (kein Titel) Mein Großvater starb um vier Uhr morgens. Das Datum habe ich mir nicht gemerkt, wohl aber die Uhrzeit, zu der ich vom Läuten des Telefons aus einem leichten Schlaf geweckt wurde. Immer, wenn man auf einen Tod wartet, wird das Klingeln des Telefons zur Botschaft des Aufbruchs, zum klirrenden Ton des Todes, der sich ankündigt, und des Lebens, das nicht mehr atmet. So leicht erscheint uns das Atmen, dass wir meist nicht daran denken, wir machen uns so viele Sorgen wegen anderer Sachen, dass wir erst wieder die subtile Bewegung der Brust und das leise Sausen der Luft bemerken, die durch die Lunge strömt, wenn es aufhört, wenn es nicht mehr ist. All das passiert plötzlich, weil das Telefon klingelt und der Tod kommt. Auf den klirrenden

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Ton folgen ein paar stumme Worte und eine Stille, die sich im ganzen Haus ausbreitet, denn der

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Tod muss sich nicht erklären, wenn er einzieht. Wir stehen einfach auf und ziehen uns im

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Halbdunkel an, aus irgendeinem Grund wollen wir die Lampen nicht anmachen und so tun, als sei es ein Tag wie jeder andere.

Wir gehen hinaus in die Kälte des frühen Morgens und in die dicke Dunkelheit, die uns direkt vor Tagesanbruch schwer umschließt, während wir die fünfzehn Minuten über die leeren Straßen fahren, die uns vom Haus meines Großvaters trennen. Niemand sagt etwas, obwohl wir viele sind und uns in zwei Autos gedrängt haben. Schon seit einiger Zeit hatten wir auf seinen Tod gewartet. Über zehn Jahre warteten wir, aber der alte Baum, er starb einfach nicht. Es war nicht so, dass er das Leben so sehr geliebt hätte, dass er weiter auf dieser Welt umherlaufen wollte; es war vielmehr so, dass er einfach nicht starb, als könne er nicht, als ließe man ihn nicht. Als meine Großmutter, seine Frau, plötzlich starb, sie voller Leben und Blumen, Mutter der ganzen Familie, im Morgengrauen Schöpferin von Arepas, Erzeugerin von Hühnern, Schweinen und Geschichten, an die ich mich zu erinnern glaube, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob nicht mein Gedächtnis sie später erst erfunden hat; als sie starb und er schweigend zurückblieb und seine Wurzeln vertrockneten. Als bliebe durch ihr Fehlen nichts mehr in der Welt für ihn übrig. Die Hühner und die Hunde im Haus starben nach und nach und die Zimmer wurden durch die Leere immer dunkler. Am Ende blieb nur er; ohne Grund, weiterzuleben existierte er jeden Morgen, weil er keine andere Wahl hatte, atmete er, ohne es zu merken, spazierte langsam, weil


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er gar nicht wusste, wohin er gehen sollte, und eigentlich nirgendwo ankommen wollte. Und trotzdem öffnete er jeden Morgen seine lebendigen grauen Augen, jeden Morgen starb er nicht. Als sei er der einzige, den der Tod einfach versetzt hatte, obwohl er ihn schon seit vielen Jahren erwartete. Auch wenn er nicht mehr viel sagen konnte, hatte der Mann in den letzten Tagen den Anstand, uns zu sagen, dass er endlich sterben werde. Schon seit Jahren wurde er immer schwächer, langsam zwar, aber stetig, und sein mächtiger Körper, ein Körper wie ein Berg, verfiel. Nach dem ersten Herzinfarkt mussten wir ihm einen Gehstock schenken, weil es ihm schwer fiel, das Gleichgewicht zu halten. Nach dem zweiten Herzinfarkt tauschte er den Gehstock gegen einen Gehwagen aus Metall, so einen, wie man sie bei immer in Altenheimen sieht. Da trank er noch

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Bier und lebte allein. Aber nach dem dritten Herzinfarkt musste er aus dem Dorf weg und aus

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seinem herrschaftlichen Haus ausziehen, musste die Hühner zurücklassen, die ihm geblieben

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waren, auch die Dorfkneipe und den Billardtisch, und nach Medellín gehen, wo er von einer

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seiner Töchter gepflegt wurde. Er konnte fast nicht mehr laufen und war an den Rollstuhl

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gefesselt, einen grauen, der bis zum Ende seiner Tage sein letzter Thron sein sollte. Mit den

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Jahren wurde es ihm immer schwerer zu sprechen, und seine Worte waren immer genauer

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abgezählt. Eines Tages bat er mich, ein Taxi zu rufen, und als ich ihn fragte, wohin er fahren sollte, sagte er, zur Hölle wolle er fahren. Auf den Tod, der nicht kam, wartete er mehr als zehn

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Jahre lang. Dabei konnte er nicht sprechen oder laufen, konnte keine feste Nahrung zu sich

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nehmen, ohne sich dabei zu verschlucken, konnte nicht allein auf die Toilette gehen. Zehn Jahre lang saß er in einem Rollstuhl und hörte Tango, spielte Lotto und vertrieb sich die Zeit mit dem Pudel meiner Tante. In diesen zehn Jahren dachte man einige Male, dass er nun sterben würde, aber nach einigen Tagen kam er wieder aus dem Krankenhaus, etwas schwächer, aber genauso am Leben, als sei es ihm unmöglich zu sterben. Kurt Hackbarth | Mexiko Die Schädelinsel „Land in Sicht“, rief der Wachmann fröhlich aus seinem Mastkorb. Die Nachricht wurde über Funk an die Kommandobrücke weitergegeben, auf der sich der Kapitän unbekümmert mit dem Ersten Offizier unterhielt. „Diese bedeutungslose Insel“, sagte er, „hat eine ganze Reihe von


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Problemen auf internationaler Ebene gelöst. Keine Einwohner, weit entfernt von allem anderen, in internationalen Gewässern liegend, hat niemand Anspruch auf sie erhoben. Wer hätte sie auch haben wollen?“ „Vor allem nach dem, was sie mit ihr gemacht haben“, kommentierte der Erste Offizier. „Das stimmt“, sagte der Kapitän und verschränkte seine Hände hinter dem Rücken, „aber eben darum ging es ja: einen Ort zu finden, der so verlassen war, dass er sich nicht in eine Strafkolonie verwandelte, sobald man die Unerwünschten dort absetzte.“ „Aber musste man wirklich so weit gehen?“, fragte der Offizier, „und die ganze Vegetation zerstören ...“ „Roden und verbrennen!“, sagte der Kapitän. „... die Erde mit Salz bestreuen ...“ „Wie die Römer in Karthago!“ „... sie mit Minen umgeben ...“ „Bum!“ rief der Kapitän und warf die Hände in die Luft. „Und der Gipfel

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war es, der Insel die Form eines Schädels zu geben. Das ist doch wirklich makaber.“ „Seien wir

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doch mal ehrlich: Die Insel hatte schon von Natur aus Ähnlichkeit mit einem Schädel. Es ging

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nur noch darum, diese Form zu betonen. Die Löcher der Augen waren schon da; sie sind

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natürliche Becken. Sehen Sie?“, der Kapitän reichte dem Offizier ein Fernglas, das er widerwillig

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entgegennahm. „Und bezüglich der Nasenlöcher: Das rechte war schon da; sie mussten nur noch

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das linke graben.“ „Und diese Felsenreihe am Strand?“, fragte der Offizier, während er mit dem

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Rädchen des Fernglases spielte, „Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass die auch auf natürliche Weise entstanden ist.“ „Ah, natürlich nicht. Der letzte Gefangene hat sie so angeordnet. Um die

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Flut zurückzuhalten, nehme ich an.“ „Oder um beim Sterben etwas zu tun zu haben“, murmelte

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der Offizier, als er ihm das Fernglas zurückgab.

Der Kapitän betrachtete ihn eindringlich. „Darf ich Sie daran erinnern, mein lieber Herr Offizier, dass wir nicht über arme Gestrandete, sondern über Terroristen reden?“ „Des Terrorismus Verdächtigte.“ „Mit erhärtetem Tatverdacht“, entgegnete der Kapitän, „Und nach dem ganzen Skandal, den die illegalen Festnahmen und die außerordentlichen Auslieferungen an Drittländer und die grausamen Verhörmethoden und das alles ausgelöst haben, wurde beschlossen, dass es für alle Beteiligten am einfachsten und sogar gnädiger sei, zu den alten Gewohnheiten zurückzukehren: diese Leute auf einer Insel auszusetzen und das war’s. Aber damit die heutige internationale Gemeinschaft das Angebot annehmen konnte, muss einiges beachtet werden: erstens darf immer nur eine einzige Person auf der Insel sein.“ „Warum?“, fragte der


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Offizier. „Warum?“, entgegnete der Kapitän ungläubig, „Schauen Sie sich doch an, was passiert ist, als man so viele Strafgefangene in Australien zurückließ!“ „Soweit ich weiß, ist Australien ein wohlhabendes Land, Herr Kapitän.“ „Sie haben so ihre Problemchen. Nicht wahr? Und zweitens ...“, der Kapitän hob zur Untermalung zwei Finger in die Luft, „wenn man sie einmal auf der Insel zurückgelassen hat, sollte diese Person nicht die geringste Möglichkeit haben, zu überleben. Wir wollen keine Crusoes, Mon Cher!“ „Crusoe war eine Romanfigur“, sagte der Offizier. „Na gut, aber es gab auch andere Fälle.“ Ein Lächeln deutete sich auf dem von der Sonne gegerbten Gesicht des Kapitäns an. „Wissen Sie was, Herr Offizier? Da Sie so ein großes Interesse gezeigt haben, werde ich Ihnen den Befehl überlassen, das Beiboot mit dem Gefangenen hinunterzulassen, eine Ehre, die normalerweise nur meiner Wenigkeit zusteht. Was halten Sie davon?“ Der Erste Offizier versuchte zu verbergen, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. „Machen Sie sich wegen mir bitte keine Umstände, Herr Kapitän.“ „Das macht doch keine Umstände!“, der Kapitän legte ihm eine Hand auf die Schulter, „Das haben Sie sich

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verdient.“

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Jalida Scheuerman-Chianda | Kenia Leicht angebranntes Karamell

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Als ich die Rolltreppe zum Warteraum nehme, wird mir leicht schwindlig. Ich beeile mich,

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besorgt, dass die Leute bemerken werden, dass ich es bin, die so nach Angstschweiss riecht.

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Obwohl ich am oberen Ende zögere und nach dem Gate suche, tue ich so, als würde ich jeden

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Tag nach Europa fliegen. Ich weiss, dass ich ihnen meine Ängste nicht zeigen darf, oder sie

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werden Bescheid wissen. Die Stewardess fragt nach meinen Reisepass und ich kann spüren, wie die Augen der Leute in der Warteschlange mich beobachten. Sie wissen es. Kalter Schweiss rinnt

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aus meinen Poren und ich stammele "T-t-t-tut m-m-mir leid!". Ich fummele am Verschluss meiner Tasche, aber meine klammen Hände rutschen immer wieder ab. Ich kann das kollektive Seufzen hinter mir hören, und als ich mich schnell umdrehe, kann ich sehen, wie die sonnenverbrannten Touristen Blicke austauschen. Sie wissen es. Schliesslich schaffe ich es, meinen Reisepass herauszuholen und werfe ihn der Frau am Schalter beinahe zu, so eilig habe ich es, dem stummen Geflüster zu entgehen. Plötzlich ertönt eine Stimme aus dem Lautsprecher. "Könnte der Neuling, Amateur, Immigrant, Aussenseiter, der hätte wissen sollen, dass man hier


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den Reisepass zeigen muss, sich bitte endlich beeilen!" Ich erstarre. Jetzt weiss jeder, dass ich keiner von ihnen bin, sondern nur eine Euro-Virgin. Oh Gott! Ich bin sicher, dass sie mich jetzt nicht mehr fliegen lassen werden. "Vielen Dank und einen angenehmen Flug... Miss? Miss? Miss De Wit? Johanna Gakuhĩ De Wit?" "Was? Ah, okay, ja, dankeschön." "... Infoschalter. Passagiere Nafisa Fatou und Bouba Daouda auf Flug 0527 mit Kenya Airways nach Yaoundé, bitte melden Sie sich am Infoschalter." Ich gehe schnell über die Einsteigsbrücke, nervös, dass die Polizei auftaucht und ruft "Hey du Euro-Virgin, bleib sofort stehen!". Als ich das Flugzeug betrete, überkommt mich Erleichterung, schnell gefolgt von Beklemmung. Sich vorzustellen, dass dieser riesige Vogel mit all seinem

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Gewicht auf ein paar Gummireifen unter der Führung eines kleinen Lenkrads in den Händen einer einzigen Person landen kann. Tief einatmen. Ich schaue mich, sehe alle diese kleinen

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Knöpfe und möchte sie drücken, um zu sehen, was sie bewirken. Ich sehe, wie sich zwei Leute nähern. Es sind Touristen, oder, besser gesagt, Weihnachtsbäume, geschmückt mit Rucksäcken, Kameras, Ferngläsern, Souvenirs und Hüten. Sie lassen sich in die zwei Sitze neben mir fallen und lächeln auf diese spezielle Art und Weise, die mir sagt, dass sie genau der Typ Touristen sind, den ich immer gefürchtet habe. Sie wurden mir zunächst ihre perlweisses Lächeln zeigen, um mich in die Falle zu locken. Dann würden sie mir die entscheidende Frage stellen, die ihnen sagen würde, ob sie sich die Mühe machen sollten oder nicht. "Uuuund, woher kommen Sie?" Die Situation wäre kompliziert. Wenn ich antworten würde "Ich bin Kenianerin", dann würden sie mir stundenlang Fotos von ihrer Safari zeigen, begleitet von fortlaufenden Kommentaren, wie jeder einzelne Moment, inklusive die Benutzung von Latrinen, sie hatte fühlen lassen. Danach käme unweigerlich der Satz, den ich gelernt hatte zu hassen. "Wir waren so überrascht, dass die Leute hier, obwohl sie extrem arm sind, anscheinend sehr gut Englisch sprechen!" Wenn ich antworten würde "Ich bin Niederländerin", hätten sie zunächst einen anfänglichen Ausdruck von Überraschung auf ihren Gesichtern, schnell gefolgt von Fragen, während sie darum kämpfen zu verstehen, wie das sein kann. Die Neugier würde mich nicht stören, nur dass ich weiss, dass es unweigerlich zu der Konfrontation führen würde, die ihnen verraten würde, dass ich eine Betrügerin bin. "Also sprechen Sie Holländisch?" "Nein." "Oh! Und Sie haben die niederländische Staatsbürgerschaft? Das ist seltsam." Seltsam, tatsächlich. Und wie erkläre ich ihnen dann das mit Mama und Papa?


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Crystal Lee | Hong Kong Eine glückliche Familie „Werden Sie wieder kommen?“, fragte mich Frau Lee. Ein trauriges Flehen lag in ihren Augen. „Natürlich. Nächste Woche komme ich wieder“, antwortete ich, während die Pflegerin mir die Jacke reichte, die ich an der Rezeption gelassen hatte. „Gut. Schönes Wochenende.“ Sie lächelte, drehte sich um und setzte sich dann zu den anderen Bewohnern des Altersheimes „Zur glücklichen Familie“ vor den Gemeinschaftsfernseher. Ich zog meine Jacke an und ging hinaus.

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Frau Lee und ich waren keine engen Freundinnen, aber wir plauderten viel miteinander. Nach meiner Pensionierung hatte ich begonnen, mich im Altersheim „Zur glücklichen Familie“

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ehrenamtlich zu betätigen und war bald ihre einzige Verbindung zur „Außenwelt“. Ihre wenigen

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Familienangehörigen und Freunde besuchten sie trotz ihrer Versprechen kaum. Sie war bereits seit drei Jahren dort.

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Im Schutz der schönen und glamourösen Skyline von Hongkong hatte die Immobilienkrise der

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Stadt drei Generationen in schuhkartongroße Wohnungen gezwungen. Mit einer 24-Stunden-

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Betreuung, warmen Mahlzeiten und der Möglichkeit, eine Menge neuer Freundschaften zu

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schließen, wurden Altersheime schließlich zu der Lösung für junge Familien, die für ihre alternden Eltern „sorgen“ wollen.

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TUUT! Ein Taxi raste vorbei. Hinter der Windschutzscheibe ragte ein Mittelfinger hervor. „Sie blockieren die Straße, alte Lady!“ brüllte der Taxilenker im Vorbeifahren. Für einen Moment setzte mein Herzschlag aus. Um zu mir zu kommen, schüttelte ich den Kopf und blickte auf meine Uhr. 16 Uhr. Mein Magen knurrte bereits seit Stunden und ich fühlte mich benommen. Autos und Menschen füllten die staubigen, lärmenden Straßen von Wan Chai. Der Geruch kochender Nudeln vermischte sich mit jenem frischen Schweißes. Gemeinsam durchdrangen sie das dynamische Geschäftsviertel. Fußgängerhorden marschierten Schulter an Schulter, mit felsenfesten, undurchdringlichen Mienen, doch niemand blieb stehen. Sie hatten sich alle um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.


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Nur einen Häuserblock weiter sichtete ich meine Lieblingsfastfoodkette Café de Coral. Ihre preiswerten und fröhlichen Imbisse waren die perfekte Nachmittagsbeschäftigung für Leute wie mich, Leute, die Zeit zum Entspannen hatten, statt ihre Köpfe in Bergen von Arbeit zu vergraben. Ich bestellte mir einen Chai Latte und ein paar gebratene Hähnchenflügel, um meinen verfallenden Zähnen etwas zu kauen zu geben. An den Ecktischen hatte es sich eine große Gruppe Menschen meines Alters gemütlich gemacht. Die Gruppe schien gerade eine lebhafte Diskussion über das Zeitgeschehen und die Entwicklungen an der Börse zu führen. Ich nahm mein Tablett und setzte mich an einen freien Tisch. Eine rundliche Dame mit grauem Haar und Acrylnägeln kam zu mir herüber, als ich an meinem Hähnchenflügel kaute. „Ich sehe Sie hier zum ersten Mal. Ich bin Ah Sim. Wie heißen Sie?“ Warum spricht sie mit mir? „Mein

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Name ist Lee Mei Fong“, erwiderte ich zögernd.

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„Hi, Ah Fong. Gesellen Sie sich doch zu unserer Gruppe. Leben Sie im Altersheim ‚Zur

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glücklichen Familie‘?“

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„Oh...sind Sie Kirchgängerin? Setzen Sie sich doch zu uns.“

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„Nein, aber ich bin mehrmals die Woche ehrenamtlich dort.“

Ich schüttelte den Kopf. Wenn man heutzutage etwas Menschliches tat, musste man religiös sein,

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denn reine Freundlichkeit konnte in so einem Betondschungel offensichtlich nicht existieren. Ich

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schnappte meinen Chai Latte und folgte ihr.

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Ich hatte einen vergnügten Nachmittag mit Ah Sims Freunden, die sich als routinierte Kenner des Hongkonger Zeitgeschehens herausstellten. Sie verbrachten Vormittage auf ihren Banken, wo sie,

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an den dortigen Fernsehgeräten klebend, ihre Aktienwerte steigen und fallen sahen. Viel war nicht nötig, um ihren Tag zu retten oder zu ruinieren. Sobald ihre Aktienwerte leicht anstiegen, verkauften sie sie und feierten das mit einer Runde Tee für alle. Ich beschloss, nach meinem Besuch bei Frau Lee öfter ins Café de Coral zu gehen.


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