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Wie entsteht ein Ungeheuer?

Kellner, Taxifahrer, Bauern, Lehrer als Killer Wie entsteht ein Ungeheuer?

Weil die kroatischen Behörden den vom UNO-Tribunal in Den Haag zur Verhaftung ausgeschriebenen Ex-General Ante Gotovina nicht intensiv genug „suchten“, waren sogar die EUBeitrittsverhandlungen gefährdet. Nach seiner Verhaftung in Spanien ist er nun bereits in Den Haag im Untersuchungsgefängnis, das von seinem Standard her zumindest einem guten 3-Sterne-Hotel entspricht. „Normale“ Menschen werden sich schwer tun, das zu akzeptieren, doch es ist so. Im Gefängnis von Scheveningen geht es den Kriegsverbrechern gut.

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G e r e c h t i g k e i t i s t m ü h s a m

Die Justiz ist nicht blind am Balkan, doch sie arbeitet viel zu langsam. Weder die Serben noch die Kroaten, aber auch nicht die Bosnier wollen ihrer blutigen Kriegsvergangenheit ins Auge sehen. Viele der Kriegsverbrecherprozesse in den eigenen Ländern endeten mit Freisprüchen oder milden Urteilen. Gerechtigkeit, das weiß man, ist meist eine mühsame Sache. „Die Wahrheitsfindung über den Krieg ist der Kern der Kontroverse um das Tribunal“, schreibt die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic in ihrem Buch „Keiner war dabei“. Sie sagt weiter: „Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Wahrheit.“ „Wozu Den Haag?“, fragen sich Millionen Menschen in den ehemaligen Ländern von Jugoslawien, denn viele wollen eines nicht wahrhaben: Dass es nun für Millionen Opfer des jugoslawischen Bruderkrieges – es gab 250.000 Tote, 3 Millionen Vertriebene, unzählige Verletzte und Verschollene – noch immer keine Gerechtigkeit gibt, weder in Belgrad noch in Zagreb oder in Sarajewo. Sie sind noch immer manipuliert von der nationalistischen Politik ihrer Regierungen und man sieht in den ehemaligen Konfliktgebieten immer noch sich selbst einzig und allein als Opfer der anderen Seite. Die eigene Rolle als Täter, Mitläufer, Zuschauer wird geflissentlich ausgeblendet. Ein Phänomen, das wir aus der Nazi-Ära in Österreich kennen.

„Wozu Den Haag?“, fragen sich viele und doch ist es einfach unausbleiblich, diesen Dingen auf den Grund zu gehen. Auch wenn Gerichtsverfahren langweilig und umständlich sind. Aber nur im Verlauf der mühsamen Rekonstruktion eines einzelnen Verbrechens verliert der Tod von hunderten Gefangenen unversehens seine Abstraktion, und zwar dann, wenn durch die grausamen geschilderten Details aus den Opfern Menschen mit Namen und Gesichtern werden. Die kroatische Schriftstellerin Drakulic beobachtete mehrere Wochen und Monate den Prozess in Den Haag. Ihre Schilderungen sind äußerst eindringlich. Sie schreibt: „Je mehr ich mich mit einzelnen Fällen von Kriegsverbrechern beschäftigte, desto weniger glaubte ich, dass es sich um Ungeheuer handelt. Was, wenn sie normale Menschen sind wie wir, die unter bestimmten Umständen unmoralische Beschlüsse fassten? Was sagt das über uns selbst? Je besser man sie kennen lernt durch den Prozess, desto mehr wundert man sich, wie sie diese Verbrechen begehen konnten, diese Kellner und Taxifahrer, Lehrer und Bauern. Je intensiver man begreift, dass Kriegsverbrecher normale Menschen sein könnten, desto mehr Angst bekommt man. Weil die Konsequenzen ernster sind, als wenn sie Ungeheuer wären. Wenn normale Menschen Kriegsverbrechen begingen, dann heißt das, dass jeder von uns sie begehen könnte. Jetzt versteht man, warum es leicht und bequem ist, anzunehmen, dass Kriegsverbrecher Ungeheuer sind, statt dem Philosophen Ervin Staub zuzustimmen, der sagt, dass das Böse, das aus dem normalen Denken kommt und von normalen Menschen getan wird, die Norm und nicht die Ausnahme ist. (Zitat Ende) Es scheint tatsächlich, als wäre Brutalität im Krieg eher die Regel als die Ausnahme, mehr also eine Frage der Umstände als des Charakters. Wenn dies wirklich der Fall ist, kann keiner von uns sicher sein, wie er sich unter bestimmten Bedingungen verhalten würde. Es gibt keine Garantie, wie zahlreiche psychologische Tests beweisen. So erschreckend dieses Fazit ist, man muss mehr verstehen von bestimmten Situationen und menschlichen Reaktionen auf sie. Nur wenn wir begreifen, dass die Täter (mit einigen Ausnahmen) Menschen sind wie wir, sehen wir vielleicht die Gefahr, dass wir demselben Druck erliegen könnten.

Seine Verhaftung löste in Kroatien heftigste Reaktionen aus.

J e d e r k ö n n t e e s s e i n

Eine Frage bleibt jedoch: Was muss einem normalen Menschen geschehen, damit er in seinem Kollegen oder Nachbarn einen Feind sieht? Wie ist es möglich, dass Hass, Demütigung, Brutalität, ja sogar Mord zum normalen Verhalten wurden? Ein Polizist des Nazi-Regimes meinte in einem Prozess,

Kleine Zeitung vom 17. 12.: Auch in Österreich „melden“ sich Kroaten.

dass die Juden für ihn keine menschlichen Wesen waren. Doch welche politischen, sozialen und psychologischen Prozesse machen solches Denken möglich? Eines scheint Voraussetzung zu sein: Für den Anfang ist es wichtig, das Objekt zu identifizieren und überzeugende Gründe für den Hass zu liefern. Die Gründe müssen nicht einsichtig und wahr sein. Wichtig ist, dass sie überzeugend sind, um akzeptiert zu werden. Meist sind es Mythen (vom himmlischen serbischen Volk oder vom tausendjährigen Traum der Kroaten vom eigenen Staat) und Vorurteile (Serben sind primitiv, Kroaten sind Nazis, Muslime sind dumm). Noch besser ist es, wenn die Mythen und Vorurteile in der Wirklichkeit wurzeln, in der Geschichte früherer Kriege oder in kulturellen und religiösen Unterschieden. Objekt des Hasses können auch Angehörige eines anderen Stammes (Hutu, Tutsi) oder einer anderen Rasse sein. Die Propaganda hat die Aufgabe, diese Unterschiede zu formulieren, so dass sie ein Gefühl der Bedrohung von der anderen Seite erwecken und die Homogenisierung befördern. Am wichtigsten ist die Methode: besonders wirkungsvoll ist es, die Menschen langsam, Schritt für Schritt an den Hass zu gewöhnen, bis er Bestandteil ihres Alltags wird.

Unter dem Eindruck der „Beweise“ für die Unterschiede, der ausführlichen Beschreibungen von Unterdrückung und Leid durch die Medien – ob real oder erfunden – verlieren die „anderen“ mit der Zeit ihre individuellen Eigenschaften. Sie sind nicht mehr Bekannte oder Fachleute mit Namen, Gewohnheiten, Aussehen oder Charakter, sondern nur noch Mitglieder der feindlichen Gruppe. Wenn eine Person derart entindividualisiert und zur bloßen Abstraktion gemacht wird, hat man die Freiheit, sie zu hassen, weil die moralischen Schranken beseitigt sind. Ist es „bewiesen“, dass die Feinde keine menschlichen Wesen sind, brauchen wir sie nicht mehr als solche zu behandeln.

Zehn Jahre nach dem Ausbruch des Krieges auf dem Balkan muss man einsehen, dass wir normalen Menschen ihn ermöglicht haben und nicht irgendwelche Irren. Wir haben eines Tages unsere Nachbarn unterschiedlicher Nationalität nicht mehr gegrüßt, und am nächsten Tag wurden in unserem Namen Konzentrationslager eingerichtet. Wir haben das einander angetan. Vielleicht ist das ein guter Anlass zu der Überlegung, ob es zu einfach ist, hundert Menschen in Den Haag vor Gericht zu stellen. Was ist mit den anderen, die eine Ideologie übernahmen, welche 200.000 Opfer forderte? Möglicherweise glaubten sie das nicht, mit Sicherheit jedoch protestierten sie nicht dagegen. Wenn es wahr ist, dass es keine Kollektivschuld gibt, kann es dann eine kollektive Unschuld geben?

A l l t a g i m G e f ä n g n i s

„Normale“ Menschen werden sich schwer tun, das zu akzeptieren, doch es ist so. Im Gefängnis von Scheveningen geht es den Kriegsverbrechern gut. Man muss auch sagen, sie haben Luxus, weil sie sich in einem Untersuchungsgefängnis befinden und noch nicht verurteilt sind. Nicht wenige Beobachter sehen im Gefängnis sogar ein Dreisternehotel. Das Gefängnisessen selbst ist für die Gefangenen fad, doch sie können sich auch selbst verpflegen, ihre angehörigen Besucher bringen ihnen Köstlichkeiten aus den eigenen Ländern und sie kochen dann ihre Spezialitäten. Beim Essen sind sie keine Nationalisten, denn da kocht einer für den anderen und alle nehmen daran teil, wenn sie die Köstlichkeiten ihrer Länder auf den Tisch serviert bekommen. Begleitet wird das Spiel von einer Musik, die typisch für dieses ehemalige Jugoslawien ist – eben balkanische Musik. Während die einen im Gerichtssaal sitzen, arbeiten die anderen an ihrer Fitness im Fitnessraum, der bei den Gefangenen sehr beliebt ist. Slowotan Milosevic arbeitet z.B. in seinem Büro. Man hat ihm dafür eine Extrazelle gegeben, weil er keinen Anwalt hat und sich selbst verteidigt. Inoffiziell wird er allerdings von einem großen Advokatenteam aus Belgrad unterstützt. Nach dem Mittagessen trifft man sich mit den Flurnachbarn im Gemeinschaftsraum zum Kartenspiel oder auch zum Schachspiel. Milosevic verhält sich als mustergültiger Gefangener. Er ist höflich, spricht mit allen, sogar mit Aufsehern und hilft anderen beim Erlernen des Englischen. Außerdem lobt er die Mitgefangenen, wenn diese Küchendienst haben, dass er noch nie so gut gegessen hätte in seinem Leben. Er genießt noch immer seinen alten Ruhm, denn etliche sprechen ihn mit „Herr Präsident“ an. Um sich die Zeit zu vertreiben, gibt es Mal- oder auch Englischkurse, daneben kann man im Gemeinschaftsraum auch Klavier spielen oder auf einer Gitarre musizieren. Weiters stehen auch Ärzte und Psychologen zur Verfügung, die Gefangenen können sogar Massagen bestellen. Ein weiteres Privilegium für die Gefangenen ist, dass sie rauchen dürfen – allerdings nur außer-

Ministerpräsident Ivo Sanader (4. v. l.) bei der Großveranstaltung „check in! SÜDOSTEUROPA“ in Graz: Er steht mit Regierung stark unter Druck.

Foto: AFP

Kriegshelden leben gefährlich: ExGeneral Ante Gotovina. In Kroatien gefeiert, in Den Haag als Kriegsverbrecher auf der Anklagebank.

halb ihrer Zellen und des Gemeinschaftsraums. Die Gefangenen können den ganzen Tag außerhalb ihrer Zellen verbringen und wenn sie allein sein wollen, um zu lesen oder ein Schläfchen zu machen, sind die Räume groß und bequem genug. Logisch, dass es Duschen gibt, Schreibtische, Radio und Fernsehgerät. Im Vergleich mit einem Zagreber Gefängnis ist Scheveningen ein Dreisternehotel. Die Niederländer nennen den Komplex Hetoranje-Hotel – nicht wegen seiner luxuriösen Ausstattung, sondern weil hier während des Zweiten Weltkriegs holländische Widerstandskämpfer von den Nazis gefangen gehalten wurden. Mehr als 50 Jahre danach leben nun in diesem Haus keine Helden mehr, sondern präsumtive Kriegsverbrecher vom Balkan. Streit unter den Gefangenen gibt es sehr wenig, obwohl sie aus verschiedenen Gesellschaftsschichten kommen –ehemalige Polizisten, Militärs, Lehrer, Politiker, Taxifahrer, Automechaniker. Sie alle halten sich streng an die Hausordnung. Besucher können immer kommen und, wenn sie wollen, den ganzen Tag bleiben. Die Insassen erhalten auch ein Taschengeld von täglich 2,– Dollar und wer bereit ist, die Flure zu putzen und die Wäsche zu machen, kann auf 5,– Dollar kommen. Obwohl sich dafür nicht sehr viele Kandidaten melden. Pro Monat gibt es auch eine Telefonwertkarte im Wert von 25,–Dollar. Aber die größte Sensation in diesem Gefängnis ist das so genannte Liebeszimmer. Eigentlich zwei Räume, wo die Gefangenen mit ihren Partnerinnen allein sein können. In dieser Einrichtung sind einige sogar Väter geworden. „Und wie kommt es, dass die Gefangenen solche Privilegien genießen?“, fragt sich der Normalbürger. Die Erklärung dafür: So lange ihre Schuld nicht bewiesen ist, sollten diese Männer und ihre Familien möglichst wenig leiden. Und das komfortable Gefängnis steht in schreiendem Widerspruch zu den Verbrechen, deren sie beschuldigt werden. Eine Situation, die in den Augen der Opfer absurd erscheint. Denn für diese ist es kaum ein Trost, dass die Angeklagten später einmal verurteilt in Haftanstalten sitzen werden, wo sich Länder gegenüber den Vereinten Nationen verpflichtet haben. Dies sind im Einzelnen Norwegen, Schweden, Finnland und Deutschland.

A u s F e i n d e n w e r d e n F r e u n d e

Man möchte glauben, dass die Gefangenen voneinander isoliert untergebracht werden müssten, weil sie doch gegeneinander Krieg geführt haben und Todfeinde seien. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Serben, Kroaten und Bosnier, die jahrelang aufeinander geschossen haben, leben hier friedlich zusammen. Und, obwohl sie ihre politischen Überzeugungen nicht verleugnen, haben sie offenbar einen Kompromiss gefunden, der ihnen die Koexistenz ermöglicht, etwas, wovon die Menschen zu Hause nur träumen können. Es ist pervers, aber es scheint so, dass sich die Untersuchungshaft in Holland auf die physische und seelische Gesundheit der Gefangenen gut auswirkt. Denn wie sonst könnte es sein, dass bei Krankheit oder dem Tod eines Mitgefangenen die Familien von den anderen Beileidstelegramme erhalten oder gar Blumengrüße an die Hinterbliebenen kommen. Es gibt sogar jene, die Gedichte schreiben und eines lautet unter anderem: „Wüssten unsere Menschen daheim, wie wir in Harmonie zusammen leben, sie würden niederknien und für den Frieden die Waffen vernichten. Dieses Gedicht soll eine Lehre sein. Allen anständigen Menschen: Wenn in Den Haag Harmonie herrscht, folgt unserem Beispiel, es wird gut für alle sein.“ In Scheveningen ist Titos Jugoslawien offenbar wieder zum Leben gekommen. Da gibt es wieder Brüderlichkeit und Einheit und die Männer, die für seine Zerstörung und die vielen Opfer verantwortlich sind, leben heute brüderlich und einig unter Luxus. Ihr Dasein in der Haft ist die größte vorstellbare Antikriegsdemonstration, nur leider kommt sie viel zu spät. Diese Karten spielenden, kochenden und TV konsumierenden sympathischen „Gefangenen“ verspotten alle jene, die sie daheim einst zu ernst genommen haben. Sie machen alles lächerlich, die ihren Befehlen gefolgt sind und ihre Angehörigen verloren haben. Und Drakulic schließt mit dem bemerkenswerten Gedanken: „Wenn jedoch diese Brüderlichkeit und Einheit unter den eingeschworenen Feinden von gestern wirklich der Epilog dieses Krieges ist – aus welchem Grund kam es zu all dem?“ Beim Blick auf die fröhlichen Knaben in Scheveningen ist die Antwort klar: Aus keinem. ■

Aus „Der Standard“: Drakulic: Gotovinas Prozess bringt unangenehme Wahrheiten ans Licht. Kroatische Autorin: Ex-General wurde ein Symbol des Widerstandes gegen Kriegsverbrechertribunal Wien – Der Prozess gegen den vor einer Woche gefassten kroatischen Ex-General Ante Gotovina könnte „sehr, sehr unangenehme Wahrheiten ans Tageslicht bringen“. Zolnay-Verlag Das meinte die kroatische Autorin Slavenka Drakulic in einem Gespräch mit der Info-Illustrierten „News“ (Donnerstag-Ausgabe). Das Verfahren vor dem UNOKriegsverbrechertribunal gegen Gotovina werde „das Bild der Kroaten ändern, das sie selbst von sich haben“. Ante Gotovina werde als Kriegsheld verehrt. Die Mehrheit der Kroaten sei gegen eine Auslieferung des Generals an das Gericht gewesen. „Auf Grund der Anklage gegen ihn wurde er ein Symbol des Widerstandes gegen das Haager Kriegsverbrechertribunal“, sagte Drakulic. Jene Kroaten, die nach seiner Verhaftung für Gotovina demonstrieren, „interpretieren seine Anklage als Kriminalisierung des gesamten Krieges, der gesamten kroatischen Nation. Das ist möglich, weil die ethnische Säuberung von Serben in der Krajina von (Präsident) Franjo Tudjman selbst geplant und zugelassen worden war.“ Der seit 2001 untergetauchte General ist unter anderem wegen der Ermordung von 150 Serben und der Vertreibung von 150.000 Menschen bei der Rückeroberung der Krajina 1995 angeklagt. Das kroatische Helsinki-Komitee führte laut Drakulic eine unabhängige Untersuchung der so genannten Operation „Sturm“ durch. „Die Erklärung der Behörden war aber immer die gleiche: Einzelne Soldaten haben diese Verbrechen sozusagen eigenständig, ohne das Wissen der Kommandanten verübt“, sagte die Autorin und Journalistin. „Trotzdem muss man sich fragen: Wie kann es sein, dass einzelne Soldaten durchdrehen und 150 Menschen erschießen, Dorf für Dorf niederbrennen? Ich betone aber, es muss erst bewiesen werden, dass Gotovina tatsächlich davon wusste.“ (APA)

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