10 minute read
SELIG SIND DIE HOLZKÖPFE!
Um Paula Roth, die Besitzerin des Wirtshauses Bellaluna im Albulatal, rankten sich bereits zu Lebzeiten zahlreiche Geschichten. Sie war Wirtin, Geschichtenerzählerin, Künstlerin und Heilerin zugleich. Durch ihre Ermordung 1988 wurde die «Hexe vom Albulatal» endgültig zur Legende. Schon lange ist Schauspieldirektor Jonas Knecht fasziniert vom Leben dieser unerschrockenen Frau. In seiner letzten Spielzeit bringt er die Geschichte von Paula Roth als musiktheatralische Séance auf die Bühne. Im Gespräch mit Jonas Knecht und Karin Hofmann, der Enkelin von Paula Roth, erfahren wir von ihren Eigenheiten, Ängsten und Sehnsüchten.
Jonas, du hast deine Zeit als Schauspieldirektor hier in St.Gallen mit einem Schweizer Stoff begonnen: Vrenelis Gärtli, nach Tim Krohns Roman, eine Inszenierung, die du aus der freien Szene mitgebracht hast. Jetzt beschliesst du deine letzte Spielzeit wiederum mit einem Schweizer Stoff, nämlich mit Selig sind die Holzköpfe!. Was bedeutet dir die Beschäftigung mit deiner Heimat?
Advertisement
Ja, die Auseinandersetzung mit der Schweiz, den Menschen hier und ihren Geschichten ist eine sehr intensive geworden. Vielleicht auch deshalb, weil ich so lange fern der Heimat war. Wir haben in den letzten Jahren viele lokale Stoffe auf die Bühne gebracht, uns damit beschäftigt, was diese Region hier ausmacht. Wodurch entstehen Heimatgefühle, was schafft Identifikation? Welche Geschichten wir uns erzählen, ist kein Zufall: Geschichten dienen immer der Selbstvergewisserung, in sie projizieren wir Ängste und Sehnsüchte. Und gerade Geschichten, die sich zu Legenden verdichten, verraten mehr über eine Gesellschaft, in der sie spielen, als ihr vielleicht lieb sein kann.
Mit Selig sind die Holzköpfe! erzählst du eine Geschichte über Paula Roth. Kann man sagen, dass dieser Stoff dich gefunden hat?
Ja, lange bevor ich hier als Schauspieldirektor angefangen habe. Nach einer Vorstellung von Vrenelis Gärtli kam eine Frau auf mich zu, Lucette Achermann aus Luzern, die Geschichten rund um Paula Roth gesammelt hat. Sie sagte: «Das hat mir so gut gefallen, dieses Vreneli, ich hätte einen Stoff für dich.» Dann erzählte sie mir über Paula Roth, diese «Hexe aus dem Albulatal». Eine besondere Frau, die einsam in den Bergen gelebt hat. Eine Ostschweizerin, die ein sehr bewegtes Leben hatte und um die sich wahnsinnig viele Geschichten ranken. Und dann habe ich mich da reingelesen und wusste sofort, ja natürlich, das ist ein Stoff, der mich sehr interessieren würde, der ebenso wie das Vreneli mit der Natur, der Landschaft, den Menschen hier verknüpft ist. Und so trage ich diesen Wunsch schon ganz lange in mir rum, aus dem Paula-Roth-Universum etwas für die Bühne zu machen.
Karin, viele Menschen nannten Paula die «Hexe aus dem Albulatal». Einigen war sie unheimlich, manche fanden sie sonderlich, andere wiederum faszinierend. Wie hast du sie empfunden?
Für mich war sie auch sehr speziell. 1972, da war ich vier Jahre alt, sind wir das erste Mal dort hochgefahren. Meine Eltern sagten, dass wir zur Grossmutter mit den Schafen fahren. Ich weiss noch, wie ich gestaunt habe, weil das Haus tief im Wald lag. In der Nacht hatte man eine Bierflasche als Bettflasche. Es war im Sommer, aber es war so kalt in diesem Haus. Als ich nachts raus musste, bin ich bei ihr durchs Zimmer, und dort hatte sie ganz viele Sachen auf dem Boden. Kleider, Matten für die Hunde und Katzen. Man hätte meinen können, es wäre ein Tierlager. Für mich war das alles ein bisschen mystisch, aber sehr interessant. Für mich war sie allgemein eine interessante Person.
Deine Mutter hatte damals kaum Kontakt zu ihrer eigenen Mutter?
Sehr selten. Das lag an der Vorgeschichte. Aber zu ihrem Sohn, dem Richard, hatte Paula mehr Kontakt. Er ging viel bei ihr vorbei. Und als ich erwachsen war und Auto fahren konnte, habe ich meine Grossmutter auch oft besucht. Wenn ich zur Bellaluna kam, war es dort immer voll, selbst an einem Mittwochnachmittag.
Wenn sie mich sah, rief sie: «Mein Grosskind ist da.» Ich weiss noch, ich war mit meinem ersten Freund da und mit meiner Schwester. Da war Wein ausgeleert auf dem Tischtuch. Was machte sie, sie holte ein neues Tischtuch und legte es einfach darüber. Der Wein saugte sich natürlich gleich wieder durch. Das fand ich cool. Sie war speziell.
Paula war sehr gesellig und fröhlich, konnte aber auch sehr resolut werden?
Ja, sie hat schon gesagt, was ihr passt und was nicht. Sie hat auch auf den Hund gehört. Wenn der Hund gebellt hat, hat sie den Gast nicht bedient. Manchmal hat sie den Leuten auch Streiche gespielt. Das Schönste war, als ich an einer Lesung von Lucette Achermanns Buch über Paula war.
Da ist einer aus dem Publikum aufgestanden und meinte, er müsse was erzählen. Er war über Jahre im Aussendienst, und wenn er frei hatte, ging er oft in die Bellaluna. In dem Zimmer waren sieben Betten und keine Nachttischlampe. Da musste er sich vorne ausziehen und wissen, wo das Bett steht. Als er ins Bett wollte, lag da schon jemand drin. Eine nackte Schaufensterpuppe. Am nächsten Morgen fragte ihn Paula augenzwinkernd, ob er gut schlafen konnte. Ja, solche Streiche machten ihr Freude.
Jonas, du hast diesen Theaterabend eine musiktheatralische Séance genannt. Was müssen sich die Zuschauer*innen darunter vorstellen?
Nun, wir haben an diese Inszenierung nicht den Anspruch, ein vollständiges Bild von Paula Roth zu zeichnen. Eine Séance ist ja eigentlich eine Geisterbeschwörung. Wir wollen versuchen, gewisse Aspekte von Paula greifbar, spürbar zu machen, Bilder dafür zu finden. Wir werden Paula nicht als Figur darstellen. Wir werden intensiv mit Musik arbeiten, haben zwei
Selig sind die Holzköpfe!
Eine musiktheatralische Séance um Paula Roth von Katja Brunner, Anja Horst, Ariane von Graffenried, Martin Bieri und Jonas Knecht
Uraufführung
Samstag, 1. April 2023 19 Uhr, UM!BAU
Einführungsmatinee
Sonntag, 26. März 2023 11 Uhr, Lokremise, Eintritt frei
Leitung
Inszenierung: Jonas Knecht
Bühne: Michael Köpke
Kostüm: Sabine Blickenstorfer
Licht: Andreas Volk
Live-Musik: Anna Trauffer, Andi Peter Choreografie: Marcel Leemann
Dramaturgie: Anja Horst
Regieassistenz: Sina Wider
Spiel Anna Blumer, Tabea Buser, Birgit Bücker, Pascale Pfeuti, Anja Tobler, Tobias Graupner, Bruno Riedl, Julius Schröder
Weitere Vorstellungen
2./5./13./14./16./17. April 2023
9./10./11. Mai 2023
Live-Musiker*innen auf der Bühne, werden singen, und auch Bewegung wird von grosser Bedeutung sein. Wir suchen nach Ritualen tänzerischer Natur, die es uns ermöglichen, Menschen, aber auch Tiere darzustellen, die ja in Paulas Leben von grosser Bedeutung waren. Wir wollen Bilder wachrufen und Paula Roth über diese Bilder lebendig werden lassen.
Karin, Paula hatte ja ein überaus bewegtes Leben. Vor allem ihre unglückliche Ehe mit dem Soldaten Paul Bühler, den sie 1941 heiratete und mit dem sie zwei Kinder hatte, warf sie in eine tiefe Krise. Sie wurde sehr krank, litt zudem an einer Zitterlähmung und fasste 1946 den Entschluss, sich von dem «herzlosen Ehemann» zu trennen. Die Kinder wurden dabei dem Mann zugesprochen. Das führte dazu, dass sie zeitlebens eine sehr schwierige Beziehung zu ihren Kindern hatte, vor allem zu deiner Mutter. Aber sie kämpfte sich weiter durchs Leben, arbeitete als Schneiderin, Haushälterin und Serviertochter. 1962 entdeckte sie auf dem Weg nach Bergün das recht heruntergekommene, leerstehende Gasthaus Bellaluna im Albulatal. Sie pachtete und renovierte das abgelegene Haus und kaufte es wenige Jahre später. Kann man sagen, dass die Bellaluna ihr Glücksort geworden ist?
Genau. Diese einsamen, abgelegenen Orte hatten auf Paula eine grosse Anziehungskraft. Und von der Bellaluna hatte sie schon in den 50er-Jahren einen Traum. Das konnte ich in ihren Tagebüchern nachlesen. Sie träumte, dass sie mit ihrem Sohn Richard in einem Wald spazieren ging und zu einer Lichtung kam und dort ein Haus mit Glockenturm sah. Das Telefon klingelte. Sie ging hinein, aber alles stand leer. Eine innere Stimme sagte ihr, dass dieses Haus eines Tages ihres sein würde. So kam es dann auch.
Jonas, vor einigen Wochen erschien ein Aufruf in der Zeitung, dass das Theater St.Gallen um Kleiderspenden in Rot- und Brauntönen bittet. Was hat es damit auf sich?
Karin hat uns in unserem ersten Gespräch erzählt, dass es kurz nach Paulas Tod eine Hausbegehung mit der Familie und der Polizei gab. Als man auf den Dachboden kam, fand man enorme Mengen von Lumpen und Bekleidung. Vielleicht hat sie damit das Haus isoliert, vielleicht hat sie sich auf diesem Wege auch vor bösen Geistern geschützt. Sicher ist, dass die Hühner dort im kalten Winter Unterschlupf fanden. Diese Geschichte war eine Inspiration für unser Bühnenbild, das vor allem aus einem riesigen Berg von Bekleidung besteht. Eine Kleiderlandschaft, die nach und nach Geschichten freigibt.
Karin, Paula Roth wurde am 18. April 1988 von drei Männern überfallen und mit zahlreichen Messerstichen getötet. Erbeutet haben die Täter nur 2500 Franken. Deine Grossmutter war sich der Gefahr durchaus bewusst, an einem so abgelegenen Ort zu leben. Sie model- lierte auf alte Weinflaschen Köpfe und stellte diese ins Fenster, damit die Wirtschaft immer belebt wirkte. Zu ihrem Schutz hatte sie die Hunde, ein Flobert, mit dem sie auch schon mal aus dem Fenster schoss, und auch einen «Schellengriff» setzte sie, wenn nötig, beherzt ein. Auf der anderen Seite war sie aber sehr redselig und erzählte den Gästen, dass sie ihr Geld in Dosen und Strümpfen im Haus verstecke. Hat sie das am Ende ihr Leben gekostet?
Vermutlich schon. Aber das mit dem Geld hatte ja eine Geschichte. Zuerst bewahrte die Grossmutter das Geld in Scheinen im Haus auf. Doch die Mäuse haben sich darüber hergemacht. Dann hat sie nur noch Silbergeld versteckt. Doch als sie bei einer Lawinenevakuierung mitsamt ihren Schafen, Hunden, Hühnern und Pfauen die Bellaluna für einige Zeit verlassen musste, wurde das viele Silbergeld zur gewichtigen Belastung. Da hat sie sich überreden lassen, das Geld zur Bank zu bringen. Dann ist das Silbergeld eingezogen worden und da hat sie gefunden, sie will nichts mehr mit den Banken zu tun haben.
Karin, magst du noch ein wenig erzählen, welches Bild sich euch bot, als ihr mit der Polizei den Tatort betreten habt?
Zu Paulas Lebzeiten durften wir ja nie alle Räume betreten. Da war sie sehr eigen. Als wir dann das erste Mal durch das Haus gingen, ist uns die Spucke weggeblieben. Alles wirkte verlottert und verlassen. Es roch nach Katzendreck, überall ein Durcheinander, die Täter hatten ja nach dem Geld gesucht, aber nur einen kleinen Teil gefunden. Wir haben danach fast ein Jahr gebraucht, um das Haus auszuräumen. Man hat gar nicht gewusst, wo anfangen. Es war aber auch irrsinnig spannend. Hat man irgendetwas hochgehoben, eine Bettdecke zum Beispiel, dann kam der Arm einer Schaufensterpuppe zum Vorschein, mit dem sie ihre Gäste erschreckte.
Karin, bevor Paula die Bellaluna bewirtete, hat sie bei dem Naturarzt Emil Schneider gearbeitet. Ihm ist es gelungen, Paulas Zitterlähmung zu heilen. Er wurde zu ihrem Mentor. Sie lernte von ihm vieles über die Naturheilkunde, konnte Salben, Tinkturen und magische Briefe herstellen. Fanden sich solche Dinge im Haus?
Ein ganzes Regal mit Kräutern, die sie im Mondschein sammelte, haben wir gefunden. Dazu Fläschchen mit geheimnisvollen Tinkturen. Es ist nur nicht so genau darauf gestanden, was es war. Vieles ist sicher auch bei den Aufräumarbeiten verloren gegangen. Zu viele Dinge gab es. Dann tauchte plötzlich wieder eine Notiz von Paula auf. «Warum lässt man die Verwundeten in ihrem Blute liegen, bis sie verbluten?» Da hab ich sofort eine Gänsehaut bekommen. So ist sie dann ja auch gestorben.
Glaubst du, sie hatte eine Vorahnung?
Ja, sie hatte schon Angst. Darum wollte sie auch keinen Fernseher. Es hat ihr Angst gemacht, was da in der Welt pas- siert. Sie hat auch erzählt, dass sie eine Pistole unter dem Kopfkissen hätte. Und mit dem Flobert hat sie tatsächlich aus dem Fenster geschossen, wenn jemand ihr den Holder klauen wollte oder zu spät Einlass begehrte.
Jonas, wie kam es zu dem Stücktitel Selig sind die Holzköpfe!?
Paula Roth war ja auch eine Künstlerin. Vor allem in den einsamen Wintermonaten zeichnete, malte oder schnitzte sie. So entstand auch ein Selbstbildnis, ein geschnitzter Holzkopf mit der Inschrift «Selig sind die Holzköpfe, denn sie ertrinken nicht».
Wo lag denn für dich als Regisseur die Faszination an Paula Roth?
Ich glaube, die Stärke, dieses Unverrückbare hat mich angezogen. Sie ist ja durch alle gesellschaftlichen Maschen gefallen, schaffte sich dort im Albulatal eine Art Parallelwelt, in der sie nach eigenen Vorstellungen regierte. Sie war eine ganz starke Person, ist immer wieder auf die Beine gekommen, hat sich behauptet gegen alle Widrigkeiten. Eine Ostschweizerin, was für mich auch eine Rolle spielt, denn wir wollen ja Geschichten von Menschen aus der Region erzählen. Und diese unendlich vielen Geschichten, die sich um Paula Roth ranken, bieten so viel Material. Manchmal denke ich, wir werden noch verrückt. Wann immer man eine Geschichte recherchiert, tun sich unzählige neue auf. Ein reicher Schatz!
Karin, jemand hat Paula Roth mal eine Zaunreiterin zwischen den Welten genannt. War sie das?
Ja, das war sie. Sie war so unglaublich eigen. Und sie hatte ein grosses Wissen. Die Menschen kamen zu ihr zur psychologischen Beratung. So was hat es ja früher noch nicht gegeben. Da blieb man eher mit seinen Sorgen alleine. Sie hat die Menschen gut beraten können. Und bei dem Naturarzt Schneider hat sie sich natürlich auch grosses Wissen angeeignet. Auch Fernheilung. Alles etwas esoterisch.
Genau das hat manche aber auch beängstigt und wahrscheinlich zu ihrem Ruf als «Hexe» beigetragen. Als wir zum ersten Mal bei dir zu Besuch waren, um mehr über Paula Roth zu erfahren, war mein Eindruck, dass sie in deiner Wohnung fast spürbar ist. Überall hängen Bilder von ihr, Fotos, Briefe. Ist sie für dich heute noch präsent?
Ja, bei mir kann sie ja weiterleben, in diesem Museum. Ich weiss halt nicht, ob sie Ruhe gefunden hat. Aber Aufmerksamkeit hat sie immer genossen. Sie wollte gerne, dass man ein Buch über sie schreibt. Sie hat ja auch ihre Lebensgeschichte auf Kassetten gesprochen, die man bei ihr kaufen konnte. Und ein Theaterstück hätte ihr sicher auch gefallen. Sie hat ja selbst Theater gespielt in jungen Jahren. Aber es könnte auch passieren, dass sie euch reinfunkt. Das ist passiert, als vor einigen Jahren eine andere Theatergruppe ein Stück über sie gemacht hat. Da ist ständig etwas umgefallen. Oder bei den Solothurner Filmtagen, als zum ersten Mal der Film von Kuno Bont über sie gelaufen ist. Der Film ist etwa zehn Minuten gelaufen, dann sind wir alle im Dunklen gesessen. Stromausfall. Das war typisch, das passt. Da hat sie sicher Freude gehabt, so wie sie immer Freude hatte, den Menschen Streiche zu spielen.
Dann dürfen wir ja sehr gespannt sein, was in unserer Probezeit so alles passieren wird. Ich danke euch sehr für dieses Gespräch.
Das Gespräch führte Anja Horst
Was ich noch kurz anmerken möchte. Als ich dieses Gespräch in meiner Küche abtippte, ist plötzlich das Küchenlicht angegangen. Einen Schalter habe ich nicht betätigt. Vielleicht lässt Paula grüssen?