Ein Allgäuer und seine Ölmühle
Flüssig schmeckt das Gold am besten Sie lässt den Tropfen ganz langsam auf ihren Handrücken fließen und ist begeistert von der Farbe: Goldgelb und rein, nichts stört an diesem Tropfen Öl. Sonnenblumenöl. Annika muss nur kurz riechen, schon hat sie den Kandidaten erkannt. Dann testet sie ihn mit der Zunge, für die Geschmacksprobe reicht wie bei Asterix „ein winziger Tropfen“. Die junge Frau ist nur eine vom Qualitäts-Quartett der Allgäuer Ölmühle in Kempten, in der wir die Szene beobachten dürfen. Ein herrlicher Job vermutlich: Täglich die besten Öle beschnuppern, im Mund verkosten, dann aber auch ein Urteil fällen. Denn: So unschuldig wie das flüssige Gold auch aussieht, so betörend der Duft ist, die vier Damen schmecken jede falsche Nuance sofort, sie sind auf Du und Du mit der Quintessenz! Von Rudi Holzberger | Fotos: Felix Kästle
Tatsächlich: Im Allgäu lebt die Alchemie noch oder wieder, wir finden den Tatort in Kempten, die Allgäuer Zeitung in Sichtweite, in den Hallen einer ehemaligen Schreinerei. Hier tropft das flüssige Gold aus vielen Mühlen, wir finden uns in einer Manufaktur im besten Sinne wieder. Hier herrscht noch das das Handwerk in der Produktion - und das Mundwerk bei jeder Probe. Tatsächlich: Wenn die Rede von der Quintessenz, der magischen reinen Substanz, einen Sinn macht, dann ist das Öl wohl das beste Beispiel. Das Olivenöl, die Sehnsucht nach der italienischen Küche, sie hat
26
2022
uns auf den Geschmack gebracht, nach vielen Kostproben und viel „nativem“ Blendwerk. Längst aber ist Olivenöl nicht mehr das einzige Maß der Dinge: Die Feinschmecker wie unsere Alchemisten in Kempten lieben viele köstliche Elixiere: Traubenkern- und Distelöl, Haselnuss- und Walnussöl, Leinund Leindotteröl, oder gar, Mund öffne Dich, das märchenhafte Sesam-Öl. Wir kennen die Nüsse, auch den Lein, aber schon bei Leindotter oder beim Sesam wird es eng mit der botanischen Ahnung. Höchste Zeit, Tropfen für Tropfen die Zunge verwöhnen und neue Nuan-
cen des Geschmacks erleben. Bis wir aber mit dem „Gespür für Öl von Fräulein Annika“ wetteifern können, ist es ein langer Weg. Höchste Zeit daher für eine große Öl-Probe, für die Farbe, den Duft, den Geschmack – die Essenz. Mal edel, mal rustikal, mal goldfarben, mal dunkelgrün. Nach jedem Tropfen Öl ein Bissen Weißbrot, das die Zunge ,für immer neue Proben empfänglich macht. Bis der Allgäuer in mir sogar das beste Öl für einen Lumpensalat erkannt hat. In dem sich Essig und Öl versöhnen, mit Limburger, Pressack und Zwiebeln vereinen. Für die Essenz sorgen Sonnen-