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Gastkommentar: Michael Loebenstein, Chef
from celluloid 5/2020
GAST KOMMENTAR
Michael Loebenstein, der Direktor des Österreichischen Filmmuseums, schreibt exklusiv in celluloid über die Ist-Situation und die Herausforderungen für das Kino.
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A SCHENE LEICH!
Mit dem Coronavirus hat der Sager vom „Tod des Kinos“ erneut Konjunktur. Tatsächlich sind die Auswirkungen der Pandemie für die Filmindustrie und die Filmkultur – von Drehstopps über Startverschiebungen bis zum Kinokonkurs – enorm, wie auch in Celluloid bereits berichtet. Es ist klar, dass die Krise Tendenzen und Trends, die sich seit Jahren abzeichnen, nun entscheidend beschleunigt hat: der Trend zum Streaming; zunehmende Marktkonzentration im Bereich von Rechten und Vertrieb; der Niedergang des Zelluloidfilm als Vertriebs- und Herstellungsmedium; die immer stärkere Segmentierung des Kinopublikums sowie die “Eventisierung” des Kinobesuchs.
Das mediale Getöse und das Ausrufen einer „Revolution“, von „Umbruch“ oder „Zeitenwende“ verdeckt dabei allerdings, dass die Katastrophe (oder zumindest Krise), von der die Rede ist, sich bereits lange anbahnte. Das Schlagwort von der „Disruption“, also der mutwilligen (kreativen) Störung oder Unterbrechung des Status quo, gehört seit fast einem Jahrzehnt zum Jargon der digitalen Ökonomie und ihren Superstars wie Google, Facebook oder Amazon. Denn Krisen kommen immer denjenigen zugute, zu deren Arsenal sowieso Überrumpelung und Überwältigung gehört. Speed kills!
Problematisch ist bei all dem Gerede vom „Neuen“, dass es als Totschlagargument dient. „Neu“ heißt automatisch „besser“, und es sei praktisch Naturgesetz, dass das Alte dem Neuen Platz zu machen habe. Wenn kleine Kinos in die roten Zahlen schlittern, weil sie keine “neue Ware” bekommen, sich zugleich aber die exorbitanten Lizenzen für restaurierte Klassiker nicht leisten können: Pech gehabt! Wenn Festivals, Kinematheken und Filmclubs weltweit der Zugang zu Hunderten Archivfilmen verwehrt wird, weil die Studios und Weltvertriebe zugunsten des Streamings den Hahn zudrehen: dann müsst Ihr halt mit der Zeit gehen! Wenn FilmliebhaberInnen auf ihr Recht bestehen sich auszusuchen, ob Sie einen Film gemeinsam mit anderen oder einsam daheim ansehen wollen: wie altmodisch!
VOLLENDETE TATSACHEN Fazit ist dennoch: 2020 stellt uns in mancherlei Hinsicht vor vollendete Tatsachen. Die Hoffnung, dass sich der 35mm-Kinofilm durch den Einsatz von HollywoodSchwergewichten wie P.T. Anderson oder Christopher Nolan langfristig retten ließe, hat sich mit dem jüngsten Skandal um windige Finanzgeschäfte bei Kodak (dem Wandel des einstigen Filmherstellers zum Pharmakonzern) wohl erledigt. Und die Illusion, dass durch VOD und Streaming Schätze der Filmgeschichte gehoben und massenhaft zugänglich werden wurde heuer bitter enttäuscht. Mit dem Kauf von 20th Century Fox durch Disney verschwand nicht nur die legendäre Marke, sondern auch ein Jahrhundert Filmgeschichte (hoffentlich nur vorübergehend!) aus den Verleihkatalogen. Und nahezu alle Hollywoodstudios entließen im Laufe der letzten Monate ihre FilmrestauratorInnen: im digitalen Kurzzeitgedächtnis, wo Filmgeschichte mit „Pulp Fiction“ beginnt, bedarf es keiner ArchivarInnen.
LERNEN AUS DER KRISE Aber was können wir – das Filmmuseum und alle, die sich mit der Filmgeschichte und ihrer Vermittlung befassen – aus der Krise lernen? Denn die Erfahrungen der letzten Monate waren bei allen Schwierigkeiten auch positiv: unser Sommerkino, welches wir zur Gänze aus unserer eigenen Filmsammlung bestritten, kam hervorragend an und verzeichnete – obwohl „indoor“ und mit Maskenpflicht – eine hohe Auslastung. Hier ein paar Gedanken, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und in loser Reihenfolge:
Es gibt nicht nur ein „Entweder / oder“, analog oder digital, physisch oder virtuell. Die letzten Monate haben gezeigt, dass Online keine Alternative zum physischen Zusammenkommen im Kino oder auf Festivals, sondern eine zusätzliche Option ist, um Filme und ihr Publikum zueinander in Beziehung zu setzen.
Wenn wir „Kino“ langfristig denken, sollten wir anerkennen, dass die soziale Dimension des Kinogehens wichtiger ist als die Exklusivität des Contents. Es ist unserem Publikum offenbar gleich, ob ein Film, den wir spielen, auf Youtube steht oder nicht. Es ist eine bewusste
Michael Loebenstein leitet seit 2017 das Österreichische Filmmuseum in der Wiener Albertina.
Entscheidung, ihn in diesem Ambiente, im Kino und auf Film zu sehen.
Das hat auch mit dem Vertrauen in unsere Programmierung zu tun. Denn Computer sind keine KuratorInnen. Die Algorithmen der Streamingplattformen und der sozialen Mediendienste interessieren sich für unsere digitalen Bewegungsdaten und nicht für das Kino. Deshalb braucht es Kinematheken, Programmkinos, Festivals: um Dialog, Begegnung, Entdeckungen zu ermöglichen.
ALLEIN UNTER VIELEN Sharing is caring. Das schönste am ins Kino gehen ist, dass man allein unter vielen sein kann, den Film für sich hat, aber diese Erfahrung mit anderen teilt. Die letzten Monate lehren uns, dass das kostbar und nicht selbstverständlich ist.
Wir müssen unseren ständigen Hunger auf Neues kritisch hinterfragen. Wir sind in einem Teufelskreis aus immer kürzeren Verwertungszyklen, mehr Filmen / Serien / Events, und immer weniger Zeit und Aufmerksamkeit gefangen. Wie bei anderen Konsumgütern wie etwa Mode („fast fashion“), Unterhaltungselektronik oder Kommunikationsmedien produziert dies Müll und erschöpft Ressourcen. Wie wäre es also, im übertragenen Sinne, mit Recycling statt mit Wegwerfen, mit Reparatur statt Neukauf? Wieviel Filmgeschichte können wir entdecken, wenn wir weiter als bis zum dritten Suchresultat scrollen oder sogar von der Couch aufstehen?
Das beinhaltet auch die bessere Erschließung der Filmarchive. Corona sollte zumindest ein deutlicher Anstoß dazu sein, chronische Missstände endlich zu beheben. Es gibt in Österreich immer noch keinen Plan und keine ausreichenden Fördermittel zur systematischen Erschließung und Katalogisierung des hierzulande aufbewahrten Filmerbes.
Das ist eine öffentliche Aufgabe. Wir können uns glücklich schätzen, dass es in Österreich öffentlich geförderte Filmsammlungen und Mittel für Herstellung, Verleih und Ausstellung künstlerisch wertvoller, internationaler und österreichischer Filmwerke gibt. Der Markt regelt eben nicht alles. Doch es braucht zusätzliche Anreize und Weichenstellungen in Sachen Nachhaltigkeit, und zwar jetzt.
LEBENSZEICHEN Die Liste lässt sich sicher fortsetzen. In jedem Fall gibt es aber genug Lebenszeichen, um das Kino einstweilen doch nicht zu Grabe zu tragen. „Der Jazz ist nicht tot. Er riecht nur seltsam“, meinte einst Miles Davis. Und so ist es wohl auch mit dem Kino. Es ist also durchaus programmatisch zu verstehen, dass unsere gemeinsame Retrospektive mit der Viennale heuer in Zusammenarbeit mit sixpackfilm konzipiert wurde und “Recycled Cinema” heißt. Sie zeigt Filme, die aus der Not erfinderisch sind, und neue Geschichten aus den Trümmern alter erzählen. Kino wider die Wegwerfgesellschaft? Kino als zweiter, kritischer Blick auf Geschichte, Genre, Sehkonventionen? Oder Kino als Leichenfledderei? Urteilen Sie selbst ab 23. Oktober im Filmmuseum. MICHAEL LOEBENSTEIN