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DER KLIMAKÄMPFER

KARL BRAIG KLEBT SICH ALS MITGLIED DER LETZTEN GENERATION IN KEMPTEN AUF DER STRASSE FEST. WIR HABEN IHN BEGLEITET.

Andere gehen mit 67 Jahren in Rente, Karl Braig klebt sich mit Jugendlichen auf die Straße. Seit 40 Jahren kämpft er als Aktivist für seine Überzeugungen –und er ist noch lange nicht am Ziel.

Als die Sonne rauskommt, schließt Karl Braig die Augen. Sein Gesicht ist entspannt, er genießt die Wärme auf seiner Haut, ruht in sich. Mit seinem grauen Bart sieht er aus wie der nette Opa, der gerne mit den Nachbarn plaudert und selbstgemachte Marmelade vorbeibringt. Doch er sitzt in keinem Garten, sondern festgeklebt auf dem Asphalt, umringt von 20 Polizist:innen. Der 67-Jährige ist hier, um zu stören, im Namen der Letzten Generation. Die Umweltschutzbewegung will durch ihre Protestaktionen auf die Klimakrise aufmerksam machen. Sie fordert ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde und eine dauerhafte Einführung des 9-Euro-Tickets. Zudem soll ein Gesellschaftsrat aus allen Bevölkerungsschichten Deutschlands einberufen werden, der Möglichkeiten erarbeitet, wie Deutschland bis 2030 emissionsfrei wird. Dafür kleben sich die Aktivist:innen auf die Straßen oder an Kunstgemälde. Das Beschmieren des Grundgesetz-Denkmals in Berlin gehört zu einer ihrer polarisierendsten Aktionen. Ihr Ziel ist klar: Die Politik endlich zum Handeln zu bewegen.

40 JAHRE AKTIVISMUS, DAS IST EINE BEWUSSTE LEBENSENTSCHEIDUNG, DIE ICH NICHT BEREUE

Vier Tage vorher, inmitten von Regalen mit Fairtrade-Kleidung, stehen in einem Zentrum für Nachhaltigkeit in Kempten bunte Stühle und Sessel im Kreis. Keiner gleicht dem anderen. Ein paar sind gemütliche Erbstücke der Großmutter mit grünen, verbleichten Ornamenten. Zehn Menschen sitzen hier, verteilen vegane Gummibärchen und tauschen sich über die Klimademonstration in Lützerath aus, bei der sie dabei waren. Die Widerstandsgruppe der Letzten Generation Kempten ist komplett, auch Karl Braig ist gekommen. „40 Jahre Aktivismus, das ist eine bewusste Lebensentscheidung, die ich nicht bereue“, sagt er. Schon 1983 mit der Friedensbewegung habe man im Ost-West-Konflikt viel bewegt. „Für mich war damals klar, entweder wir schaffen die Bombe ab oder sie schafft uns ab – wir sind heute in einer ähnlichen Situation.“ Bis zur Rente führte Karl Braig einen kleinen Bioladen und war als Berater für erneuerbare Energien tätig. Vor einem Jahr schließt er sich der Letzten Generation an und kämpft seitdem mit seinen Mitstreiter:innen für das Grundgesetz, Artikel 20A: „Der Staat schützt, auch in Verantwortung für die künftigen Generationen, die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Kurz gesagt: Die Politik verpflichtet sich dazu, die Umwelt zu schützen, damit zukünftige Generationen auch noch einen Lebensraum haben. Eine Aktion damals ging Karl Braig besonders nah: das Abdrehen der Ölpipelines einer Raffinerie in der Nähe der Stadt Schwedt in Norddeutschland. „Zu zweit haben wir zweimal die Pipelines abgedreht. Das war einer der erfüllendsten Momente meiner Aktivisten-Karriere. Das Gefühl, den Hahn abzudrehen und damit direkt etwas bewirkt zu haben, war einzigartig.“

Die Lampe über den Köpfen der Aktivist:innen ist selbstgebastelt aus leeren Glasflaschen. Ihr Licht ist ein wenig zu spärlich für die Größe des Raumes. Alle rutschen etwas enger zusammen. Die Gruppe bespricht die nächste Straßenblockade, sie soll in vier Tagen stattfinden. Gesucht werden Bienen, Hummeln und eine Bienenkönigin. Was nach einem Kinderspiel klingt, beschreibt die Rollenverteilung der Letzten Generation bei ihren Aktionen: Bienen blockieren die Straßen. Hummeln kümmern sich um das Foto- und Videomaterial, pflegen den Livestream in den Zentralen und versuchen, wütende Autofahrer:innen zu beruhigen. Die Bienenkönigin führt die Gruppe an. Für jede Rolle muss man ein Aktionstraining durchlaufen, das zwischen ein paar Stunden und mehreren Tagen dauert. Einer ihrer Werte muss dabei ausnahmslos in jeder Rolle umgesetzt werden: absolute Gewaltfreiheit. Für ihre Ziele wollen sie jederzeit bereit sein, auch die andere Wange hinzuhalten.

Es ist kalt an diesem Montagmorgen um 7:10 Uhr, minus drei Grad. Die Aktivist:innen zittern, ob vor Kälte oder Anspannung ist nicht klar. Alle Akteur:innen sind in den letzten Tagen über Chatgruppen festgelegt worden, dann hat die Bienenkönigin gesprochen: in Längen- und Breitengraden. Für den Treffpunkt gibt es nur Zahlen, falls die Polizei mitliest. Die Königin, ein zwanzigjähriger Aktivist mit Dreadlocks-Dutt, läuft voraus, gefolgt von seinen Bienen und Hummeln. An einer belebten Straße stadteinwärts in Kempten bleiben sie stehen. Es ist soweit. Fünf Aktivist:innen setzen sich auf den Asphalt und breiten Banner aus: „Letzte Generation vor den Kipppunkten“ ist darauf zu lesen. Dem Busfahrer vor ihnen wird schnell klar, was hier passiert. Er steigt aus, ruft die Polizei und fängt an zu schimpfen: „Was soll der Scheiß!?“ Als die ersten Sirenen zu hören sind, wird es hektisch. Drei Aktivist:innen zücken den Kleber, verteilen ihn auf ihren Händen und drücken sie auf die Straße. Zwei kleben sich nicht fest, damit zur Not ein Krankenwagen durchfahren kann. Karl Braig stellt noch ein Schild vor sich, er hat „Bin festgeklebt!“ darauf geschrieben. Es soll Autofahrer davon abhalten, einfach loszufahren. In der Zwischenzeit nimmt die eingetroffene Polizei die Daten auf und beginnt die Aktivist:innen mit Lösungsmittel von der Fahrbahn zu kratzen, um sie in den Polizeibus zu tragen. „Das Holzstäbchen tut mehr weh als der übliche Pinsel“, sagt Karl Braig. „Aber die Polizist:innen haben nicht so viel Zeit, muss man verstehen. Außerdem, was ist dieser Schmerz im Vergleich zu dem Schmerz, den man spürt, wenn man sich die Welt gerade anschaut.“ Die angrenzende Berufsschule wird auf die Aktion aufmerksam, ganze Schulklassen kommen vorbei, um zu schauen, was los ist. Sie machen Selfies mit den Aktivist:innen und diskutieren lautstark mit vorbeilaufenden Passant:innen. Ob sie die Aktion gut oder schlecht finden, ist nicht ganz klar. Nach einer Stunde ist die Fahrbahn geräumt.

„ICH HABE ZWEI SÖHNE, 28 UND 30 JAHRE ALT. DIE ANGST, WIE DIE WELT AUSSEHEN WIRD, WENN SIE IN MEINEM ALTER SIND, LÄSST MICH WEITERMACHEN.“

Die Hummeln harren mit heißem Tee und veganen Krapfen vor dem Polizeipräsidium aus. Bis die letzte Biene frei ist. Sie applaudieren und umarmen jede:n, der wieder freigelassen wird. Als Karl Braig aus dem Gebäude tritt, ist die Betroffenheit in seinem Gesicht zu sehen. „Sie haben uns gezwungen, uns auszuziehen, nur in Unterhose mussten wir in die Zellen. So etwas ist mir noch nie passiert, ich konnte nicht fassen, was geschieht“, erzählt er. „Ich habe gefroren. Sie haben mich bloßgestellt, es war würdelos.“ Später im Café entspannen sich seine Gesichtszüge wieder, vor ihm steht ein Cappuccino. Über 20 Blockaden hat er mit der Letzten Generation mitgemacht.

Will er die tausende Euro an Strafe zahlen oder stattdessen ins Gefängnis gehen? Karl Braig zuckt mit den Schultern. „Vor 40 Jahren hatte ich Prozesse aufgrund von 25 Straßenblockaden, damals haben wir erstritten, dass es nicht Nötigung, sondern das Recht auf freie Meinungsäußerung ist“, erinnert er sich. Er gehe davon aus, dass diese Anklagen fallen gelassen werden. Auf die Frage hin, wie er die wütenden Autofahrer:innen und Passant:innen wahrnimmt, reagiert er verständnisvoll. „Aus meiner Erfahrung heraus kann man in der Ist-Situation schwer jemanden erreichen. Die Menschen sind aufgebracht, der Alltag wird gestört, der innere Motor läuft auf Hochtouren. Egal was man sagt, es kommt nicht an. Wenn man doch genügend Zeit hat und zudem Außenstehende aufklärend einwirken, habe ich auch schon schöne Erfahrungen gemacht. Sie konnten die Situation und unsere Beweggründe besser verstehen. Wenn ich die Möglichkeit bekomme, erkläre ich gerne folgendes: Wir verstehen eure Situation und wollen euch nicht ärgern. Durch viele Studien, sogar durch eine Masterarbeit aus unseren Reihen, sind wir zu der Erkenntnis gekommen, dass wir extrem stören müssen, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen und um zielführend die politischen Vertreter:innen zu einem aktiven sowie schnellem Handeln zu bewegen. Wir sind alle verzweifelt aufgrund des sich zuspitzenden Klimanotstandes. Wir können nicht anders und müssen das tun.“ Eine Alternative zum Protest sieht Braig nicht: „Ich habe zwei Söhne, 28 und 30 Jahre alt. Die Angst, wie die Welt aussehen wird, wenn sie in meinem Alter sind, lässt mich weitermachen.“ Er wird sich nun ausruhen, nächsten Montag muss er wieder einsatzbereit sein. „Da geht es wieder in verschiedenen Städten auf die Straße“, sagt er. Ruhe geben und in Rente gehen können andere.

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