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SCHULEN AM LIMIT - GRUND- UND MITTELSCHULEN ÄCHZEN UNTER DEM DRAMATISCHEN LEHRKRÄFTEMANGEL
from 0831 (07./08.2023)
SEIT JAHREN SIND SCHULEN AUF SEITEN- UND QUEREINSTEIGER ANGEWIESEN
Steigende Schülerzahlen, Renteneintritt der Babyboomer, viel zu wenige Lehramtsabsolvent:innen: Das sind laut Kultusministerium drei der Gründe für die Personalnot an Schulen. Besonders betroffen davon sind die Grund- und Mittelschulen. Aber auch Realschulen und Gymnasien leiden zunehmend unter dem Lehrkräftemangel. Wir haben Kemptener Schulleiter:innen zur Situation an ihrer Schule und zu ihren Erfahrungen mit Seiten- und Quereinsteiger:innen befragt.
NICHT ZU VERWECHSELN:
SEITENEINSTEIGER SIND NICHT GLEICH QUEREINSTEIGER
Die beiden Begriffe werden gerne munter verwechselt und falsch verwendet: Seiteneinsteiger:innen sind befristet angestellte Aushilfsnehmer:innen. Sie werden als Unterstützungslehrkräfte, Vertretungslehrkräfte oder Teamlehrer:innen an Schulen eingesetzt und nur auf ein Jahr befristet angestellt. Quereinsteiger:innen dagegen haben den zweijährigen Vorbereitungsdienst (das Referendariat) absolviert und gelten in Verbindung mit einem Studienabschluss in einem schulrelevanten Fach als voll lehramtsbefähigt. Sie können unbefristet angestellt und sogar verbeamtet werden. In der Praxis sieht es momentan allerdings etwas anders aus: Notgedrungen übernehmen an manchen Schulen auch Seiteneinsteiger:innen, also Lehrkräfte ohne pädagogische Ausbildung, die volle Unterrichtsverantwortung oder leiten eine Klasse.
MANCHE SEITENEINSTEIGER SIND NATURTALENTE UND MACHEN DAS RICHTIG GUT.
Iris Bergmann, Schulleiterin der Kemptener Grundschule Nord ist aktuell heilfroh um „ihre Seiteneinsteiger“: Die Unterstützung von zwei ukrainischen Muttersprachlerinnen, die seit eineinhalb Jahren an ihrer Schule unterrichten, sei nicht wegzudenken. Insbesondere an Grundschulen ermöglichten Seiteneinsteiger:innen individualisiertes Lernen und die Arbeit in Kleingruppen, um zum Beispiel Lernrückstände aufzuholen oder Deutsch als Zweitsprache zu unterrichten. „Manche Seiteneinsteiger sind Naturtalente und machen das richtig gut“, betont Iris Bergmann. Sie kennt allerdings auch die Schattenseiten dieser Abhängigkeit von nicht ausgebildeten Lehrkräften: Manche täten sich schwer, sei es im Umgang mit Schülergruppen, der Organisation des Unterrichts oder schulrechtlichen Fragen. Gefordert sei hier das gesamte Team, den „Neulingen“ den Einstieg zu erleichtern und Hilfestellung zu bieten. Manuela Holzer, Schulleiterin der Maria-Ward-Mädchenrealschule, die zum Schulwerk Augsburg gehört, hat mit den wenigen Quereinsteiger:innen, die das Nachqualifizierungsprogramm des Schulwerks Augsburg durchlaufen haben und bereits mehrere Jahre an ihrer Schule sind, sehr gute Erfahrungen gemacht. Voll ausgebildete Lehrkräfte aus dem Ausland einzustellen, erscheint ihr daneben eine Option, die in Bayern bisher zu wenig ausgeschöpft werde. Positiv am Quereinstieg findet sie den „Blick über den Tellerrand“: Dieser könne sowohl Schüler:innen als auch dem Kollegium durchaus wertvolle Impulse für den Unterricht geben. Aktuell sieht Manuela Holzer die Maria-Ward-Schule personell allerdings gut versorgt. Engpässe in den naturwissenschaftlichen Fächern seien jedoch vorprogrammiert. Die Schulleiterin sieht die gezielte pädagogische Nachqualifizierung von Quereinsteiger:innen darum ganz pragmatisch als „schnelle und wirksame Lösung.“
BAUSTELLE MITTELSCHULE: ZU WENIG PERSONAL FÜR AUSREICHEND HILFESTELLUNG BEIM QUEREINSTIEG
Christian Gerhart, stellvertretender Vorsitzender des BLLV (Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband e. V.) bestätigt im Gespräch die überaus angespannte Personalsituation insbesondere an Mittelschulen: Eine Aufrechterhaltung des normalen Schulbetriebs sei ohne Seiteneinsteiger:innen an Mittelschulen unmöglich geworden. Er betont die Notwendigkeit, Neulinge intensiv durch erfahrene Lehrkräfte betreuen zu müssen: aber genau dafür mangle es an Kapazitäten – ein Teufelskreis. Für den Moment sei der Ansatz des Kultusministeriums, Berufswechsler:innen pädagogisch für die unterschiedlichen Schulen fit zu machen, die einzige schnell wirkende Möglichkeit, häufige Unterrichtsausfälle zu vermeiden.
#IMHERZENLEHRER? VIELE WEGE FÜHREN JETZT INS LEHRAMT
Seit März ist die neue Werbekampagne des Kultusministeriums – #imHerzenLehrer – online. Ziel der Kampagne ist es, qualifizierte Arbeitskräfte auf der Grundlage ihres fachlichen Knowhows für den Schuldienst zu gewinnen und pädagogisch fit zu machen. Ob Sozialarbeiter:innen, Produktmanager:innen, Künstler:innen oder Ingenieur:innen, ob dauerhaft oder nur zum Schnuppern – die Wege, um als Lehrer:in an einer Schule tätig zu werden, sind aktuell mannigfaltig. Interessent:innen können sich auch persönlich über eine Hotline beraten lassen. Die Homepage ist ansprechend und benutzerfreundlich gestaltet, sodass womöglich der Eindruck entsteht, dass jetzt jede:r ins Lehramt switchen kann, der sich so fühlt. Ganz so einfach ist es aber nicht. Beim Quereinstieg geht ohne Hochschulabschluss (Diplom, Master, Staatsexamen) an den allgemeinbildenden Schulen nichts und wer unbefristet eingestellt werden will, kommt zumindest für den staatlichen Schuldienst am zweijährigen Vorbereitungsdienst, dem Referendariat, nicht vorbei. Mit einem Bachelor kann man als Seiteneinsteiger:in tätig werden. Die wichtigste Voraussetzung für den erfolgreichen Quereinstieg ins Lehramt bringt jedoch der Titel der Kampagne auf den Punkt: Lehrer:in zu sein ist vor allem eine Berufung.