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Über die öffentlichen Räume Luganos und ihre Potentiale

Thesisbuch

Herbstsemester 2022

Von Rebecca Baer

Das vorliegende Thesisbuch verbindet das Thesisprojekt mit der theoretischen Annäherung an die Thematik «Lugano -Città in Transizione». Im Zentrum steht dabei die Umnutzung und Weiterentwicklung des ehemaligen BSI Gebäudes an der neu entstehenden Tramhaltestelle Cappuccine inmitten der Innenstadt von Lugano.

Ausgehend von der Analyse zum Gebiet rund um den Perimeter und der Feststellung einer fehlenden Vernetzung und einem Mangel an öffentlichen Räumen für Diskussion, Austausch und Aneignung steht der öffentliche Raum und seine Übergänge im Zentrum dieser Arbeit. Unter Beizug der Theorien von Walter Benjamin, Richard Sennett, Jan Gehl und Herman Hertzberger werden die Voraussetzungen, Qualitäten, Bedeutung für das Stadtleben und das soziale Potential des öffentlichen Raumes untersucht. Der öffentliche und gemeinschaftliche Raum ist dabei keine «leere Fläche», sondern kann zu einem Ort voller Möglichkeiten werden. Ein Ort, der die vielen vorhandenen und über die Zeit gewachsenen Schichten, Zonen, Nutzungen und Bewohner*innen Luganos miteinander verbindet, anstatt sie zu trennen. Die Arbeit soll aufzeigen, wie die Chancen des öffentlichen Raumes, dem Platz zwischen den Häusern, zur vielschichtigen Vernetzung des Perimeters und seiner Bewohner*innen genutzt werden können, um weg von Stadtfragmenten und hin zu einem zusammenhängenden Stadtgefüge und zu mehr Gemeinschaft zu führen.

Thesisbuch Herbstsemester 2022

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Über die öffentlichen Räume Luganos und ihre Potentiale

Verfasserin

Rebecca Baer

Chriesimatt 16

6340 Baar

Begleitung Thesisbuch

Prof. Dr. Oliver Dufner

Begleitung Thesisprojekt

Prof. Peter Althaus

Buchdruck

Gegendruck GmbH

Neustadtstrasse 26

6003 Luzern

Lucerne University of Applied Sciences and Arts

HOCHSCHULE LUZERN

Technik & Architektur

Technikumstrasse 21

6048 Horw

Master in Architektur

Herbstsemester 2022

Datum: 12.01.2023

1 Prolog

«Liebe Sara, Ich habe dir eine Postkarte von meinem Wochenendausflug nach Lugano versprochen, hier ist sie! Vom etwas höher gelegenen Bahnhof sind wir gemütlich zur Kathedrale San Lorenzo spaziert. Die schmalen Gassen und Treppen, die von dort aus in die Stadtmitte führen, sind gesäumt von kleinen Läden und Cafés, die nur so zum Verweilen und Stöbern einladen. Und erst die Arkaden, Innenhöfe und Plätze, die langsam zur Seepromenade führen... Sie sind gefüllt mit Menschen und Leben. So ganz anders als wir es kennen. Es erinnert mich fast schon an die kleinen Städtchen in der Toskana, in denen wir letztes Jahr zusammen waren. Auch hier kann man sich so richtig treiben lassen…

Bis ganz bald, deine Hannah»

Der Tourismus im Tessin boomt. Gerade seit der Corona-Pandemie ist der Südkanton eines der beliebtesten Reiseziele der Schweizer und Schweizerinnen. 1 Vor allem auch der Hauptort Lugano lockt jedes Jahr unzählige Tourist*innen an. Gründe dafür sind sicherlich die milden Temperaturen durch die über 2000 Sonnenstunden pro Jahr, die aussergewöhnliche Lage am See mit umliegendem Bergpanorama, sowie das mediterrane Flair der Stadt. 2 Die schmalen und verwinkelten Gassen, die Hänge überwindenden Treppen und die gepflasterten und von schattigen Arkaden umgebenen Piazze der Altstadt Luganos werden von den Besuchenden zum Flanieren und Verweilen geschätzt. Die unterschiedlichen Raumanordnungen entlang der Topographie ergeben interessante Wegführungen, Ausblicke und Aufenthaltsmöglichkeiten. Cafés, Bars, Restaurants, Kleiderläden und Postkartenständer prägen und beleben das abwechslungsreiche und vielfältige Bild der bevölkerungsreichsten Stadt im Tessin.

Der Architekt Mario Botta zeichnet ein ganz anderes Bild der Stadt: Für ihn ist Lugano «eine luxuriöse Vitrine oder baulich betrachtet ein legalisiertes Desaster. Zwischen Edelboutiquen und dem Finanzdistrikt fehlen Orte für ein Zusammenkommen, für Austausch, für Diskussionen.» 3 Die Altstadt Luganos hat sich über die Jahre stark transformiert. Aus der über Jahrhunderte organisch gewachsenen Stadt hat sich mehr und mehr ein Touristenmagnet, Finanzzentrum und dienstleistungsorientiertes Stadtwesen herausgebildet. Der Einzelhandel mit bekannten Marken entlang der Via Nassa, der Bankensektor rund um die Piazza di Riforma, die Gastronomie entlang des Seeufers und den Arkaden, sowie Wohnungen im oberen Preissegment haben nach und nach das ältere, differenzierte Angebot von Nutzungen innerhalb der Altstadt ersetzt. Glaubt man der Aussage von Mario Botta, wird der historische Kern nun vor allem von Besuchenden genutzt oder dieser lässt zumindest zu wenig Platz für die Bedürfnisse und eine mögliche Aneignung durch die lokale Bevölkerung. Ausserhalb der Kernstadt ändert sich dann das Bild der Stadt recht deutlich: Statt geschäftigem Treiben findet man hier breite Strassen voll von Fahrzeugen und leere Trottoirs. Tourist*innen verirren sich nur selten aus der Altstadt in die neueren Stadtteile – sie bewegen sich vor allem zwischen Bahnhof und Uferpromenade oder verweilen auf den Piazze des historischen Ortsteils.

Die Wahrnehmung der Stadt Lugano und deren öffentlichen Räume schwankt so zwischen zwei Polen – dem alltäglichen Erleben der einheimischen Bevölkerung und dem kurzfristigen und situativen Eindruck der Tourist*innen. Um ein Gefühl für die Entstehung dieser Diskrepanz zu finden, befasste ich mich mit genau diesen öffentlichen Räumen - ihrer Ausformulierung, ihrer Nutzung und schliesslich ihren Chancen. Das Vorgefundene und meine Erkenntnisse daraus formen die Grundlage der im Rahmen dieser Thesisarbeit entstandenen Haltung gegenüber der Stadt und des Entwurfs. Die Lage des Projektperimeters Cappuccine direkt zwischen dem historischen und hochfrequentierten Ortskern und den neueren, wenig belebten Stadtteilen bietet dafür die Ausgangslage.

2 Lugano

2.1 Gestern

Die Stadt Lugano kann städtebaulich als ein Ort betrachtet werden, der sich über die Jahrhunderte stark veränderte und sich stetig weiterentwickelte. Noch heute sind diese geschichtlichen Entwicklungen in der vielfältigen Ausformulierung des Stadtbildes ablesbar und prägen sowohl die Bebauungsstruktur, als auch die öffentlichen Räume. Es lohnt sich daher, einen Blick auf die wichtigsten geschichtlichen Wendepunkte der Stadtentwicklung zu werfen und mögliche Gründe für ebendiese Entwicklungen aufzuzeigen.

Die Gemeinde Lugano liegt im Sottoceneri, also unterhalb des Monte Ceneri, dem Höhenzug, der die Magadinoebene vom Vedeggiotal trennt. 4 Als ursprüngliches Fischerdorf entwickelte sich das Siedlungsgebiet Luganos halbkreisförmig am Westufer des gleichnamigen Sees, mit etwas Abstand zur Mündung des Flusses Cassarate. Der Ort ist eingebettet in die Talebene zwischen drei Bergen, dem Monte Brè im Osten, dem Monte San Salvatore im Westen und dem Sighignola am gegenüberliegenden Seeufer. Die Zugänglichkeit und Vernetzung mit der Deutschschweiz und Italien war auf Grund der Lage zwischen den Bergen und am See schwierig und das Wachstum des Ortes entsprechend langsam, aber stetig. Über die Zeit ergaben sich trotz der topographischen Herausforderungen wichtige Handelsrouten vom Süden her in Richtung der Alpenpässe im Norden, welche sich in Lugano kreuzten. Entsprechend konnte sich der inzwischen zur Stadt angewachsene Ort ab dem 9. Jahrhundert als Markt- und Handelsplatz im Süden der heutigen Schweiz etablieren. Daneben bildete sich Lugano auch bereits früh zu einem bedeutsamen religiösen Zentrum aus. Sowohl die Cattedrale San Lorenzo, sowie einige der zahlreichen, unterschiedlichen Orden angegliederten Klosterund Kirchenbauten stehen heute stellvertretend für diese Zeit und prägen noch immer das Stadtbild. 5

4 Wikipedia, 2022.

5 Historisches Lexikon, 2022.

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Während in anderen Gebieten im 18. und 19. Jahrhundert die Industrialisierung das Stadtleben und den Wohlstand stark veränderte, zog diese grösstenteils an Lugano und dem gesamten Tessin vorbei. Zu wenig vernetzt war der Südkanton mit der Deutschschweiz und dem nördlichen Italien. Ein durch die Industrialisierung vorangetriebenes Bevölkerungswachstum blieb aus und eine moderne Stadtplanung, wie sie in vielen anderen Städten im 19. Jahrhundert notwendig wurde, ergab sich in Lugano nie. Die Stadt wuchs weiterhin organisch und in langsamem Tempo entlang der Ränder des Kerns. Statt einer dichten Stadt des 19. Jahrhunderts finden sich so an den Hängen in unmittelbarer Nähe zur Altstadt locker bebaute Wohnzonen mit freistehenden Villen, welche von der oberen Mittelschicht gebaut und bewohnt wurden. 6

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8 Projektperimeter

Ende des 19. Jahrhunderts öffneten der Damm zwischen Melide und Bissone, sowie der Bau des Gotthardtunnels den noch ländlichen Kanton für den Tourismus und die Wirtschaft – sowohl von der Deutschschweiz, als auch von Mailand her. Rasch entstanden Industriebetriebe, die von den günstigen italienischen Arbeitern profitierten. Der Kanton und die Stadt Lugano erlebten einen wirtschaftlichen Aufschwung. Lugano entwickelte sich ausgehend von der Gründung der Banca della Svizzera Italiana, kurz BSI, im Jahr 1873 zu einem der 3 wichtigsten Finanzplätze der Schweiz und die öffentlichen Räume Luganos und ihre Potentiale wirtschaftlichen Tätigkeiten verlagerten sich nach und nach in den Dienstleistungssektor. Der Tourismusstandort Lugano wurde ausgebaut: Hotels entlang der Uferpromenade und die beiden Funicolare auf den San Salvatore und den Monte Bré zogen Reisende aus der Schweiz und den umliegenden Ländern an. Die Bevölkerung verzeichnete durch diese Entwicklungen einen enormen Zuwachs. 7

Der wirtschaftliche Aufschwung machte sich auch in einer gesteigerten Bautätigkeit und einem Immobilienboom während den 1960er Jahren bemerkbar. Viele Einwohner*innen Luganos zogen in Einfamilienhäuserquartiere an den Stadtrand. Das Siedlungsgebiet erweiterte sich innerhalb kürzester Zeit in der gesamten Talebene und entlang der Hänge rund um das Seeufer. Die damals fehlende städtebauliche Planung prägt das heutige Bild von Lugano – weiträumig zersiedelte Flächen durch unkontrolliertes Wachstum, niedrige Dichte und heterogene Bebauungsstruktur.

Heute zeichnet sich, wie einleitend erwähnt, ein kontroverses Bild der Stadt Lugano. Im Gegensatz zum stark florierenden Tourismus in der Altstadt schwächte sich die Attraktivität der Region als Wohn- und Arbeitsort im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte immer stärker ab – so rangierte das Tessin 2018 auf einem der letzten Plätze des Credit-Suisse-Standort-Ratings. Die Gründe dafür lassen sich auch in Lugano selbst finden – und viele davon sind Auswirkungen der historischen Entwicklung des Ortes. Noch immer gehört der Pendlerverkehr von Grenzarbeitern aus Italien zum Alltagsleben der Stadt. Fast 75'000 Menschen pendeln inzwischen jeden Tag ins Tessin, die meisten davon mit dem Auto. 8 Folglich entsteht in der Stadt einerseits Verkehrsüberlastung, verbunden mit Lärm, zum anderen wird das Lohnniveau durch ausländische Arbeiter*innen gedrückt. Bis zu 20% tiefer sind die Löhne in Lugano als in der übrigen Schweiz, die beruflichen Perspektiven eingeschränkt, und die Armutsquote dafür umso höher.

Gleichzeitig zieht es auswärtige Anwohner – auch viele Reiche aus dem Ausland – nach Lugano. Circa 10% des Wohnungsbestandes lassen sich als Zweitwohnung deklarieren. 9 Sei es das milde Klima, das mediterrane Flair, die Lage zwischen Zürich und Mailand, der nahegelegene Flughafen oder die Pauschalbesteuerung – die Zuwanderung treibt die Mieten in Lugano in die Höhe. So weit, dass vor allem Familien und junge Leute aus dem Zentrum in umliegende Täler oder andere Kantone ziehen müssen. Der Wohnungsleerstand nimmt zu, und dies obwohl genügend Nachfrage nach kostengünstigem, zentralem Wohnraum bestehen würde. Lugano kämpft als eine der einzigen Schweizer Städte mit einer Abnahme der Einwohnenden - ganz im Gegensatz zum schweizerischen Trend. 10 Das städtische Leben, die Kultur und die Gemeinschaft sind dabei die Leidtragenden.

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Die Stadt Lugano zeigt sich den Herausforderungen bewusst. Vor allem die Abnahme der ständigen Wohnbevölkerung sei besorgniserregend – nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht, sondern auch für die Gesellschaft selbst, so der Tessiner Ökonom Ivano D’Andrea.11 Die vom Abbau des Finanzsektors hinterlassenen Lücken versucht die Stadt mit einem Ausbau des Kultur- und Bildungsnetzwerkes zu schliessen und so die Lebensqualität und Attraktivität der Stadt zu erhöhen. So wurde nach einer fast 15-jährigen Planungsphase 2015 das Kultur- und Kunstzentrum LAC – Lugano Arte Cultura eröffnet. Des weiteren werden die SUPSI und auch die USI kontinuierlich ausgebaut, damit junge Leute für ihr Studium weniger auf andere Kantone ausweichen. 12 Jüngere Bestrebungen der Stadt zielen vor allem darauf ab, die beruflichen Perspektiven zu verbessern und den Kanton auch für gut ausgebildete Arbeitnehmer*innen attraktiver zu machen.

Zur Steigerung der innerstädtischen Lebensqualität soll neben dem Ausbau des kulturellen Netzwerks und der Berufsangebote auch der grossflächige Ausbau des öffentlichen Verkehrs beitragen. Das voraussichtlich ab 2027 verkehrende Tram der RTTL (Rete tram-treno del Luganese) verbindet die Kernstadt Luganos mit den Agglomerationen des «Piano del Vedeggio» und Ponte Tresa. Neben den beiden geplanten Haltestellen der «Stazione Nord» und der «Piazza ex scuole» wird zukünftig auch die dazwischen liegende Haltestelle «Cappuccine» vom neuen Tram bedient werden. Sie wird zu einer wichtigen Schnittstelle zwischen der neuen öffentlichen Mobilitätsinfrastruktur und dem Stadtgefüge, denn sie liegt direkt am Ausgangspunkt des neu entstehenden Tramtunnels. Die Planer der neuen Verbindungsstrecke gehen davon aus, dass die lokalen Auswirkungen der neuen Infrastruktur mit denen des Gotthardbasistunnels oder des Tunnels durch den Monte Ceneri verglichen werden können. Hauptargument ist dabei, dass durch die enorme Reduktion der Fahrzeit durch die neue Tramlinie – um bis zu 2/3 der Zeit – die Siedlungs- und Gewerbegebiete des Valle del Vedeggio mit den Orten Manno und Bioggio und dem Flugplatz in Agno näher ans Zentrum rücken, die Vernetzung stärken und den motorisierten Individualverkehr in der Innenstadt reduziert wird.

11 NZZ, 2022.

12 Begehung vor Ort, September 2022.

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