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5.3 Ambivalenzen und Verbindungen
1925 besuchte der deutsche Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin zusammen mit der Schauspielerin und Regisseurin Asja Lacis die süditalienische Stadt Neapel. Sie fanden dort ein organisches, chaotisches, aber wohl auch faszinierendes Stadterleben vor, welches sie im Essay, oder wie sie selbst es nannten, dem Denkbild Neapel festhielten. Ihre Beschreibung der Stadt beschreibt wohl auch in gewissem Mass die neu entstehende Vernetzung und die unterschiedlichen öffentlichen Räume, die sich dadurch ergeben: «Porös wie dieses Gestein ist die Architektur. Bau und Aktion gehen in Höfen, Arkaden und Treppen ineinander über. In allem wahrt man den Spielraum, der es befähigt, Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen zu werden. Man meidet das Definitive, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr »so und nicht anders«.» 24 Strassen und Plätze waren schon immer die Grundelemente, um die Städte herum organisiert wurden, um die öffentlichen Räume herum. Es braucht dabei immer eine differenzierte Struktur, die unterscheidet zwischen Haupt- und Nebenschauplätzen. 25 Denn so heterogen wie die Bewohner*innen einer Stadt, sollten auch ihre öffentlichen Räume sein. Verschiedene Nutzergruppen haben andere Anforderungen an die Räume, die sie bespielen sollen. Andere Voraussetzungen, damit Räume angeeignet werden können. Grössere Gruppen brauchen mehr Platz, kleinere Gruppen Intimität, damit sie sich innerhalb einer zu grossen Fläche nicht verlieren. Es gilt also, sich von der Vorstellung zu entfernen, dass man nur einen bestimmten öffentlichen Raum entwerfen kann, der von der gesamten Öffentlichkeit genutzt werden kann. Der öffentliche Raum sollte vielmehr, ganz im Sinne der Durchlässigkeit, einem Netzwerk aus unterschiedlichen öffentlich genutzten Flächen entsprechen. Nur so können verschiedene Nutzergruppen sich die Bereiche aneignen und im besten Fall mit weiteren Gruppen interagieren. 26 Dies entspricht wohl auch dem, was man an der Stadt liebt: die Ambivalenzen; die Heterogenität und das Spiel mit Gegensätzen. öffentlichen Räume Luganos und ihre Potentiale
24 Benjamin (1991). S.309. 25 Gehl (2020). S.85.
In Lugano lassen sich vor allem im historischen Kern diese angesprochenen Ambivalenzen finden. Es sind die engen Gassen, die sich mit grosszügigen Plätzen abwechseln, die entstehende Distanz oder Nähe, das Wechselspiel zwischen Innen und Aussen oder Öffentlich und Privat in den Arkaden, die Homogenität und Heterogenität der Nutzungen, Tourist*innen oder Bewohner*innen, der Wechsel zwischen Anonymität und Gemeinschaft entlang der Hausfassaden und die möglichen Freiheiten bei gleichzeitigem Rückhalt und Heimatgefühl. Ambivalente Stadtgefüge fördern und lassen eine Diversität an Nutzungen zu, erzeugen für das Stadtleben signifikante öffentliche Räume und vernetzen diese mit der angrenzenden Stadt. Die Ambivalenzen erfüllen im Zusammenhang mit der Abfolge von verschiedenen öffentlichen Räumen für Jan Gehl auch ein weiteres wichtiges Bedürfnis an die Stadt: Dem Bedürfnis nach Anregung und Abwechslung. Andere zu erleben, Differenzen wahrzunehmen und zu erkennen, kann einem selbst zu neuen Handlungen inspirieren, forciert Interaktion und bildet so die Grundlage für ein aktives und facettenreiches Zusammenleben innerhalb der Stadt.
Abb. 35. Erdgeschoss mit neuer Durchwegung und Anschlüssen an die bestehenden Wege und Treppen
Abb. 36. 1. Obergeschoss mit neuer Durchwegung und Anschlüssen an die bestehenden Wege und Treppen
Abb. 37. 2. Obergeschoss mit neuer Durchwegung und Anschlüssen an die bestehenden Wege und Treppen
Das Projekt auf dem Gebiet der ehemaligen BSI spielt genau mit diesen Gegensätzen und Ambivalenzen. Entlang der neuen oder wieder entdeckten Wege in und aus dem Perimeter siedeln sich zum einen unterschiedliche Nutzungen an, zum anderen werden auch unterschiedliche räumliche Qualitäten und Massstäbe gesucht.
Vom Salita M. eA. Chiattone gelangt man über den ehemals privat genutzten Platz über eine schmale Treppe, die unter einem Gebäude hindurchführt, in den als Werkgasse bezeichneten Bereich auf der Südseite des Projekts. Hier ermöglicht die ebenerdige Öffnung der ehemaligen Tiefgarage und die Anpassung des Terrains die neue Ansiedlung einer Erdgeschossnutzung. Durch die Öffnung des Untergeschosses entsteht entlang der bislang ungenutzten Rasenfläche eine Abtreppung aus ebenerdig zugänglichen Räumen. In Zusammenspiel mit den umliegenden Bestandesgebäuden und der Erschliessung der beiden Hofräume des ehemaligen Klosters S. Caterina ergibt sich so ein Netz aus intimen und kleinmassstäblichen Gebäudezwischenräumen, die durch ihre zufällige geometrische Form als eine Erweiterung des Altstadtgefüges gelesen werden können. Das ein Zusammenhang zwischen den architektonischen Dimensionen und der Wahrnehmung des öffentlichen Raumes dazwischen besteht, liegt an den Distanzen und der Art, wie man sich in den Räumen bewegt. In engeren Gassen mit weniger Platz, nimmt man Häusern, Details und die sich darin befindenden Mitmenschen sehr direkt war. Erst dadurch erzeugt sich die Intimität und persönliche Atmosphäre. 27 Bespielt wird die Werkgasse durch die in der ehemaligen Einstellhalle angesiedelten Werkstätten und Handwerksbetriebe. Jeweils Samstags kann hier zwischen den Gebäuden zudem ein Handwerkermarkt stattfinden. Die Werkgasse verbindet sich räumlich, durch eine Passage auf Erdgeschossniveau und im 1. Obergeschoss, und visuell durch Sichtbezüge mit dem Zwischenraum der beiden Zeilen und somit dem Ankunftsort des Trams an der Haltestelle Cappuccine. Jan Gehl schreibt dazu: «Sichtachsen sind wichtig. Wenn Menschen einen Raum nicht sehen, werden sie ihn nicht nutzen.» 28 Der Blick von der Haltestelle und von der Werkgasse in den jeweils anderen Raum weckt die Neugierde der Passant*innen.
27 Gehl (2020). S.65. 28 Gehl (2020). S.93.
Die Werkstattterrasse im 1. Obergeschoss bildet den in der Höhe gestaffelten Übergang zum grosszügigen Platz im 2. Obergeschoss. Hier verknüpft sich auch die direkte Wegverbindung in Richtung Cattedrale S. Lorenzo und Bahnhof, welche über den begrünten am Hang gelegenen Grünraum in die Via Cattedrale endet. Die Piazza Sant’Anna ermöglicht eine gewisse Grosszügigkeit innerhalb des Perimeters. Auf ihr können unter freiem Himmel grössere Veranstaltungen, mit vielen Teilnehmenden, wie Konzerte, Freilichttheater, Open-Air Kinos oder Versammlungen stattfinden. An normalen Wochentagen lädt die Fläche zu Ballspielen oder zum Inlineskaten ein. Die direkt angrenzende und als Sitzbank ausformulierte Stützmauer in Richtung Hang lädt zum Verweilen und Beobachten ein. Das in der südlichen der beiden Zeilen gelegene Café bespielt beide Zeilenseiten – sowohl den Platz, als auch den Gebäudezwischenraum. Seine grosszügigen Faltfenster lassen die Grenzen zwischen Innen und Aussen, zwischen Café und Platz und zwischen ausserhalb der Zeilen und innerhalb der Zeilen verschwinden und zu Membranen werden.
«Schwämme sind porös, weil sie Wasser aufnehmen – doch dabei behalten sie ihre Form. In ähnlicher Weise ist ein Gebäude durchlässig, wenn es einen freien Fluss zwischen innen und aussen gibt, ohne dass seine Funktionen oder seine Form darunter litten.» öffentlichen Räume Luganos und ihre Potentiale
Von Norden her wird die bestehende Durchwegung von Architekt Claudio Pellegrini wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der schmale geschwungene Weg verbindet in Zukunft die neue Unterführung am Bahnhof und den neuen Campus der Hochschule durch den Gebäudezwischenraum mit dem Tramstopp Cappuccine und der Stadt. Zudem ermöglicht sie ein direktes Zusammenspiel zwischen den beiden bestehenden Wohngebäuden des Areals und den neuangesiedelten Nutzungen.
Der öffentliche Raum im Erdgeschoss der beiden Gebäudezeilen wird bestimmt durch die Funktion der Haltestelle. Der schmale längliche Raum übernimmt infrastrukturelle Aufgaben: Sitzmöglichkeiten für wartende Pendler, Billettautomaten, eine Bäckerei für einen Cappuccino to go und verschiedenste Einkaufsmöglichkeiten und kleinere lärmunempfindliche Atelierflächen mit Anlieferung im Untergeschoss. Das Fab-Lab verbindet die Werkgasse räumlich und funktionell mit der Haltestelle. Der Tunnel, sowie die beiden Gleisbette trennen den Zwischenraum in zwei Bereiche – links vom Gleis und rechts vom Gleis. Durch das langsame Fahren der Züge ist jedoch ein Queren dieser Zone dennoch möglich. Die räumliche Abgeschlossenheit der Situation lässt den Blick nach oben wandern: Zum freien Himmel und zu einer neuen vernetzenden Struktur, die über den Gebäudezwischenraum hinweg spannt. Sie verbindet sämtliche der verschiedenen und bis anhin beschriebenen öffentlichen Räume und Wegführungen miteinander zu einem zusammenhängenden Wegnetz. Zudem erzeugt sie im Erdgeschoss ein Wechselspiel aus geschützten, überdachten Bereichen und offenen Zonen mit visuellen Beziehungen zu den verschiedenen Geschossen. Sechs grosse Wendeltreppen leiten die Fussgänger*innen nach oben, in die Vertikale der beiden Zeilen.