marx21 Ausgabe Nummer 20 / 2012

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marx 21

Nr. 20 | April/Mai 2011 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de

maGazin füR inteRnationalen sozialismus

malalai Joya

über die Verlogenheit des Westens im Afghanistankrieg

Slavoj Žižek

erklärt, warum die kommunistische Idee noch aktuell ist

Gilbert Achcar

beschreibt die Akteure der arabischen Revolution

Im

D ER E T S N E DI Om-mAFIA AT

Warum Regierung und Energiekonzerne an der Kernkraft festhalten – obwohl der sofortige Ausstieg möglich ist



USA Wochenlang besetzen Demonstranten das Capitol in Madison, der Hauptstadt des US-Bundesstaats Wisconsin. Sie protestieren gegen den Gesetzentwurf von Gouverneur Scott Walker. Der will den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes das Recht auf Tarifverhandlungen nehmen. Dieser Angriff löste die größte Protestbewegung seit Jahrzehnten aus. An der ersten Demonstration gegen das Gesetz beteiligten sich nicht einmal 100 Personen, doch bereits am Tag darauf waren es 2000. Bei der dritten Demonstration wuchs die Teilnehmerzahl auf 15.000. Auf dem Höhepunkt der Bewegung marschierten 200.000 Menschen durch Madison.

Liebe Leserinnen und Leser,

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ie Märchenstunde ist vorbei: Jahrzehntelang haben Politiker und Bosse der Energiekonzerne behauptet, Atomkraft sei sicher. Nun zeigen die dramatischen Ereignisse um das Kernkraftwerk im japanischen Fukushima, dass sie gelogen haben. In einem Schwerpunkt gehen wir der Frage nach, warum Politik und Wirtschaft dennoch an dieser lebensgefährlichen Technologie festhalten – obwohl der Ausstieg sofort möglich wäre. Eine andere Behauptung ist ebenfalls als Mythos entlarvt worden. Immer wieder wurde uns erzählt, Araber seien nicht zu Demokratie fähig. Die Revolutionen in den Ländern Nordafrikas beweisen das Gegenteil. Doch es bleiben auch Fragen: Wie geht es weiter? Können die Bomben der NATO den Menschen in Libyen helfen? Welche Auswirkungen hat die Bewegung auf den Iran? Mit dem Schwerpunkt »Die gefährdete Revolution« versuchen wir, Antworten zu geben. Sowohl die Revolution in Nordafrika als auch die Debatte über Atomkraft halten wir für außerordentlich wichtig. Daher haben wir uns entschieden, dieses Mal zwei Titelcover zu machen – eines auf der Vorder- und eines auf der Rückseite des Heftes. Anfang Juni veranstalten wir in Berlin den Kongress »Marx is’ muss«. Kurz bevor dieses Heft in Druck ging, hat erfreulicherweise Oskar Lafontaine seine Teilnahme zugesagt. Weitere bekannte Redner sind der slowenische Kulturphilosoph Slavoj Žižek, der linke Literat Dietmar Dath und Evelyn Hecht-Galinski von der Organisation Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost. In über 50 Veranstaltungen und Workshops möchten wir mit euch über die derzeitigen politischen Herausforderungen diskutieren – und uns darüber austauschen, wie ein lebendiger Marxismus für das 21. Jahrhundert aussehen könnte. Ein ausführliches Programm findet sich in der Heftmitte. Wir würden uns freuen, euch in Berlin begrüßen zu dürfen. Eure Redaktion

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Weiterer Bericht auf Seite 73

© Matt Baran

Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post.

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REVOLUTION

DIE LINKE zwischen den Lagern

Gentrifizierung

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Schwerpunkt: Arabische Revolution

Aktuelle Analyse

Schwerpunkt: Die Atomkatastrophe

Schwerpunkt: Arabische Revolution

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DIE LINKE nach den Wahlen: Zwischen den Lagern Von Christine Buchholz und Janine Wissler

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Japan: Katastrophe mit Konsequenzen Von Stefan Bornost

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»Eine historische Chance für die Linke« Interview mit Gilbert Achcar

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»Die Ausbeutung wird zunehmen« Interview mit Michael Schlecht

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Atomausstieg: Den Druck erhöhen Von Yaak Pabst und Janine Wissler

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»Deutschland hat massive Interessen« Interview mit Werner Ruf

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Atomfilz: Die Unbelehrbaren Von Karsten Schmitz

42 Libyen: Falsche Freunde der Revolution Von Stefan Ziefle

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Die Wende zum Grünen Von Frank Eßers

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Frauen in der Revolte: 18 Tage, die Vorurteile erschütterten Von Gigi Ibrahim

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Militär in Revolutionen: Von Gleichschritt keine Spur Von Jan Maas

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Iran: Riss im Fundament Von Peyman Jafari

Unsere Meinung 14 NRW-Haushalt: Demokratie unterm Hammer Kommentar von Sven Kühn 15 EU-Gipfel: Wettlauf nach unten Kommentar von Werner Halbauer

31 Ein Vattenfall aus NRW? Replik auf Hermann Dierkes Von Nils Böhlke

neu auf marx21.de

Revolte in Nordafrika 4

Aufbruch in der arabischen Welt: In vielen Ländern der Region gibt es Aufstände, Streiks und Demonstrationen. Auf unserer Homepage berichten wir über die aktuellen Entwicklungen.

Ein Blick lohnt sich also:

www.marx21.de


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Die Energiewende ist möglich

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Kongress »Marx is’ muss« 54

Das Programm: Workshops, Seminare, Podien

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Debatte: Ist die kommunistische Idee noch aktuell? Beiträge von Janine Wissler und Slavoj Žižek

Klassiker: Wallraff undercover

Schwerpunkt: Die Atomkatastrophe

70 Kommunismus-Debatte: Weltgeist Stalin Kolumne von Arno Klönne

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Die Geschichte hinter dem Song: Homens da Luta: »A luta é alegria« Von Yaak Pabst

Internationales Rubriken

60 Stadtpolitik: Gentrify this! Interview mit Christoph Twickel 64 Unsere Stadt ist keine Ware Von Matthias Bernt Netzwerk marx21 66 Serie: Was will marx21 (6) Woher kommt Frauenunterdrückung?

78 Afghanistan: »Es ist auch ein Propagandakrieg« Interview mit Malalai Joya

03 Editorial 12 Impressum 13 Leserbriefe 58

Neues aus der LINKEN

81 Serie: Marx neu entdecken (Nachtrag) Von Elmar Altvater Kultur

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Was macht das marx21-Netzwerk?

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Weltweiter Widerstand

86 Nachruf auf Günter Amendt Von Volkhard Mosler

99 Quergelesen

88 Klassiker des Monats: Günter Wallraff: Der Aufmacher Von Sarah Nagel

92 Review 101 Preview INHALT

Kontrovers

74 China: Kampf auf Knopfdruck Von Florian Butollo

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© Jakob Huber / Flickr.com

Atomalarm vor dem Kanzleramt: DIE LINKE hat die Aktionen der Antiatombewegung unterstützt. Trotzdem bleiben die Grünen in den Augen der meisten »die« Antiatompartei

Zwischen den Lagern Die jüngsten Wahlerfolge der Grünen waren der gesellschaftlichen Stimmung nach dem Reaktorunglück in Fukushima geschuldet. Doch sie offenbaren auch ein strategisches Dilemma der LINKEN: Wie positioniert sie sich unter einer schwarz-gelben Regierung, wenn zugleich Rot-Grün als zentrales Oppositionslager angesehen wird? Von Christine Buchholz und Janine Wissler

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mobilisieren. Diesmal stand nicht die soziale Frage im Zentrum des Wahlkampfs. Zwar demonstrierten im Juni und im November vergangenen Jahres jeweils mehr als 20.000 Menschen in Stuttgart gegen die Sozialkürzungen der schwarz-gelben Bundesregierung. Doch der von den Gewerkschaften angekündigte »heiße Herbst« blieb aus. Sahen bei der Landtagswahl im Jahr 2006 noch 48 Prozent der Wähler Arbeitslosigkeit als »wichtigstes Thema« an, so waren es nun nur noch 17 Prozent. In den sozialen Brennpunkten, beispielsweise im Freiburger Stadtteil Weingarten, wo 9,4 Prozent DIE LINKE wählten, stieg die Wahlbeteiligung geringer als im Landesdurchschnitt. Auch der Krieg in Libyen spielte im Wahlkampf nur eine untergeordnete Rolle, anders als bei der letzten Bundestagswahl, wo die Kriegsfrage durch das Massaker im afghanischen Kundus sehr präsent war.

Mappus‘ Abwahl war der Erfolg anhaltender, außer­ parlamentarischer Mobilisierung

In Baden-Württemberg wurde DIE LINKE zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb zerrieben. Viele potentielle LINKE-Wähler befürchteten, ihre Stimme zu verschenken und wählten stattdessen die Grünen. Trotzdem war es aufgrund der breiten Stimmung gegen Mappus wichtig, klarzustellen, dass die Abwahl von Mappus nicht an uns scheitern würde. Zugleich muss es uns aber eine Warnung für die Zukunft sein, dass das taktische Argument, uns zu wählen, weil wir Rot-Grün die Mehrheit sichern, allein keinen Erfolg bringt. Anders als bei der Bundestagswahl 2009 ist es uns nicht gelungen, unsere Anhängerinnen und Anhänger sowie die Nichtwähler und Nichtwählerinnen zu

In den Wochen vor der Wahl haben sich der voraussichtlich neue Ministerpräsident Kretschmann und sein designierter Vize, der Sozialdemokrat Nils Schmid, als Freunde der Wirtschaft präsentiert. Der badenwürttembergische Arbeitgeberverband und die Industrie- und Handelskammer machten im Gegenzug unmittelbar nach der Wahl klar, dass sie von der neuen Regierung den Bau des umstrittenen Bahnhofprojekts Stuttgart 21 und eine »solide Haushaltspolitik« erwarten. Dies steht im Gegensatz zu den Erwartungen vieler Wählerinnen und Wähler. Konflikte zwischen der Regierung und der Bewegung gegen Stuttgart 21 sind vorprogrammiert. Auch im Umgang mit der Atomkraft ist offen, ob Kretschmann und Schmid Maßnahmen wagen, die über den »Atomkompromiss« der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder hinausgehen. Der Stromriese EnBW gehört zu 45 Prozent dem Land Baden-Württemberg und erzeugt seine Energie zur Hälfte mit vier Atomkraftwerken. Werden diese dauerhaft stillgelegt, verliert EnBW einen großen Teil seines Wertes. Das würde einen Milliardenverlust für den Landeshaushalt bedeuten. Gemeinsam mit der Anti-Atom-Bewegung wird DIE LINKE daher Druck machen müssen, damit die AKWs tatsächlich abgeschaltet werden. Auch bei anderen Themen wie den Studiengebühren muss die grün-rote Regierung entscheiden, ob sie ihre Wahlversprechen einlösen oder sich dem Diktat der Schuldenbremse und der Haushaltskonsolidierung unterwerfen will. Ob aus dem Regierungswech-

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Christine Buchholz ist Bundestagsabgeordnete und Mitglied im geschäftsführenden Parteivorstand der LINKEN.

Janine Wissler ist Fraktionsvorsitzende der LINKEN im hessischen Landtag und Mitglied im Parteivorstand.

AKTUELLE ANALYSE

ie grüne Revolution«, titelte Spiegel Online am Wahlabend. Bei der Landtagswahl in BadenWürttemberg haben Bündnis 90/Die Grünen gerade ein Rekordergebnis von 24,2 Prozent der Stimmen erzielt. Ihr Spitzenkandidat Winfried Kretschmann wird voraussichtlich der erste grüne Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik. Deutliche Verluste mussten hingegen die beiden Regierungsparteien CDU und FDP hinnehmen. Erstmals seit 58 Jahren ist die Union nicht mehr an der Landesregierung beteiligt. Auch die Sozialdemokratie büßte Stimmen ein. Der Erfolg der Grünen, auch bei den zeitgleich stattfindenden Landtags- und Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz und Hessen, ist zweifellos Ausdruck der gesellschaftlichen Stimmung nach dem Reaktorunglück in Fukushima. Viele, die die Partei gewählt haben, verbinden damit die Hoffnung auf einen raschen, vollständigen Atomausstieg. In Umfragen benannten 47 Prozent die Atompolitik als »wichtigstes Problem«. Außerdem hofften die Grünen-Wähler in Baden-Württemberg auf ein Ende des Milliardengrabs Stuttgart 21 und die Abschaffung der Studiengebühren. Die Abwahl von Ministerpräsident Stefan Mappus war ein Erfolg anhaltender, außerparlamentarischer Mobilisierungen gegen Stuttgart 21 und Atomkraft. DIE LINKE war Teil dieser breiten Bewegungen. Doch sie wurde nicht im gleichen Maße wie die Grünen als Antiatompartei und Stuttgart-21-Gegnerin wahrgenommen – und erzielte ein enttäuschendes Ergebnis: Mit 2,8 Prozent der Stimmen blieb sie weit von ihrem Ziel entfernt, in den Landtag einzuziehen.

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sel in Baden-Württemberg ein Politikwechsel wird, hängt davon ab, ob die außerparlamentarischen Bewegungen auch ohne die Unterstützung von SPD und Grünen mobilisierungsfähig sind und welche Mobilisierungskraft DIE LINKE entwickeln kann. Unsere Partei sollte ihre strategische Orientierung auf soziale Themen und die Frage von Krieg und Frieden beibehalten. Auch ihre Orientierung an den Interessen von Erwerbslosen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Rentnerinnen und Rentnern und Studierenden sollte sie nicht aufgeben. Die Wirtschaftskrise ist nicht vorbei. Gerade erst Ende März sank der ifo-Geschäftsklimaindex, der die Zukunftserwartungen der deutschen Wirtschaft bemisst. Die EU hat gerade einen »Pakt für Wettbewerbsfähigkeit« beschlossen, der massive Kürzungen für Arbeitnehmer bedeuten wird. Der vermeintliche Aufschwung geht an der Mehrheit der Menschen vorbei. In Ländern und Kommunen droht aufgrund der Schuldenbremse weiterer Sozialabbau. Zugleich können wir die Energiepolitik nicht den Grünen überlassen. Ökologie ist ein wichtiges Thema – auch und gerade für Arbeitnehmer und nicht nur für Besserverdienende. Die Antiatomproteste werden uns das ganze Jahr 2011 und darüber hinaus begleiten. Die Bewegung wird perspektivisch nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, für eine Lösung jenseits eines privaten, »grünen« Strommarktes zu werben – nämlich für eine gesellschaftliche Kontrolle über die Stromkonzerne und Netze. Dazu müssen wir die Profite der Stromkonzerne angreifen, die Eigentumsfrage stellen und die Höhe der Strompreise in den Mittelpunkt unserer Argumentation stellen. Ob tatsächlich alle alten Meiler stillgelegt bleiben und ob auch neuere AKWs abgestellt werden, wird von der Stärke der Antiatombewegung, aber auch von ihrer politischen Orientierung abhängen. Hier geht es um Milliardenprofite und damit ums Ganze – also letztendlich um die Systemfrage: Können wir eine glaubhafte Alternative zum Kapitalismus anbieten?

die Gefahr, dass DIE LINKE zwischen dem rot-grünen und schwarz-gelben Lager zerrieben wird. Es war und ist richtig, sich in das Lager des Widerstandes gegen Schwarz-Gelb zu stellen. Es existiert eine Kluft zwischen der öffentlichen Wahrnehmung des rot-grünen Oppositionslagers und dessen tatsächlicher Politik. Auch wenn SPD und Grüne in grundsätzlichen Wirtschaftsfragen und in der Kriegsfrage mit den Konservativen und den Liberalen übereinstimmen, nehmen die meisten Menschen sie doch als linke Parteien wahr. Die Vorstellung, dass es einen neoliberalen Block von FDP bis SPD gebe, vertreten die wenigsten. Dort, wo sich Sozialdemokraten und Grüne von der Regierung absetzen, brauchen wir ein scharfes eigenes Profil und gleichzeitig die Bereitschaft, außerparlamentarische Bündnisse gegen Schwarz-Gelb zu schließen. Das schließt den Kampf für den Mindestlohn, gegen Atomkraft und Studiengebühren, aber auch gegen Nazis ein. Auch wenn die Elemente dieses Vorgehens immer wieder neu ausbalanciert werden müssen, ist dies der einzige Weg, sich weder aus dem großen Lager gegen Schwarz-Gelb zu verabschieden, noch ein eigenes Profil aufzugeben. DIE LINKE kann so in der Praxis die Anhänger von SPD und Grünen davon überzeugen, dass sie die besseren Vorschläge macht und entschiedener die Interessen der Wählerinnen und Wähler vertritt. In Hessen haben wir beispielsweise mit Gewerkschaften und Sozialverbänden eine gemeinsamen Kampagne gegen die Schuldenbremse organisiert. Auf diese Weise ist es uns gelungen, das soziale Profil der LINKEN im Wahlkampf zu stärken. Trotz unserer Bemühungen haben sich SPD und Grüne dem Bündnis »handlungsfähiges Hessen« nicht angeschlossen. Aber viele ihrer Mitglieder und sogar einzelne Ortsvereine haben für ein »Nein« zur Schuldenbremse geworben. Es ist ein Erfolg für das Bündnis und dessen Mobilisierung, dass ein Drittel der Wähler gegen die Schuldenbremse votiert hat. Das zeigt, dass es Potential für den Widerstand gegen ihre Umsetzung gibt. Diese Auseinandersetzung hat wohl auch dazu beigetragen, dass DIE LINKE in Hessen bei den Kommunalwahlen nicht eingebrochen ist. Auch in zukünftigen Wahlen werden wir nur Erfolg haben, wenn wir ein eigenständiges Profil entwickeln, das uns für breite Schichten der Bevölkerung von RotGrün unterscheidbar macht. ←

Es war richtig, sich in das Lager des Widerstands gegen Schwarz-Gelb zu stellen

Die Konstellation in Baden-Württemberg war in gewisser Hinsicht eine Vorwegnahme der Situation bei der Bundestagswahl im Jahr 2013. Auch dort besteht

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Ab dem 1. Mai droht eine neue Runde des Lohndumpings. Die Beschränkungen für die europäische Arbeitnehmer- und Dienstleistungsfreiheit fallen fast vollständig weg. Nur der Mindestlohn kann eine drohende Abwärtsspirale bei den Löhnen verhindern, meint Michael Schlecht, Chefvolkswirt der Linksfraktion im Bundestag, im Gespräch mit marx21

© DIE LINKE

AKTUELLE ANALYSE

»Die Ausbeutung wird zunehmen«

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»DIE LINKE wird sich vor Betrieben gegen die Leiharbeits-Mafia engagieren« Michael Schlecht, Chefvolkswirt der Linksfraktion im Bundestag.

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ichael, ab dem 1. Mai gilt für die Bürger der im Jahr 2004 beigetretenen EU-Staaten die volle Freizügigkeit. Welche Folgen wird das haben? Die Beschäftigten werden um die niedrigsten Löhne konkurrieren. Die Ausbeutung sowohl von inländischen als auch von ausländischen Arbeitskräften wird zunehmen. Schon jetzt siedeln sich Zeitarbeitsfirmen vermehrt in Polen an, um von den niedrigeren Löhnen zu profitieren und die Beschäftigten dann zu Dumpingtarifen nach Deutschland zu entsenden. Das wird auch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit unter den Menschen schüren. Europa wird somit zunehmend als Bedrohung empfunden.

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lso lieber die Grenzen dichtmachen für diejenigen, die hier arbeiten wollen? Nein. Eine Partei in der Tradition der Arbeiterbewegung ergreift Partei für alle Beschäftigten gleich welcher Herkunft. Wir dürfen auf die Freizügigkeit des Kapitals nicht mit Fesseln für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer reagieren. Wir brauchen stattdessen endlich einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro, um die Ausbeutung zu stoppen. Die Steuerzahler subventionieren den Unternehmen jährlich mit etwa 10 Milliarden Euro das kriminelle Lohndumping bei den Aufstockern. Diese müssen am Ende des Monats trotz Arbeit zum Amt. Auch eine Erhöhung von Hartz IV auf 500 Euro wäre eine Bremse für das Lohndumping und somit im Interesse der Beschäftigten. Zudem brauchen wir eine Änderung der EU-Verträge dahingehend, das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort wieder durchzusetzen. Es darf nicht sein, dass die EU-Verträge der Freiheit der Unternehmen Vorrang vor der Tariftreue und dem Streikrecht der Beschäftigten einräumen.

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IE LINKE hat zu Beginn der Krise im Jahr 2008 vor explodierender Arbeitslosigkeit gewarnt. Das Gegenteil ist passiert. Haben wir die Situation zu schwarz gesehen? Die Bundesregierung hat mit ihren zaghaften Konjunkturprogrammen und der Kurzarbeit das Schlimmste verhindert. Aber: Die tatsächliche Ar-

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Stichwort

Arbeitnehmerfreizügigkeit Ab dem 1. Mai 2011 erhalten die Bürgerinnen und Bürger der Staaten, die am 1. Mai 2004 der EU beigetreten sind, die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das betrifft Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Fortan haben die Menschen das Recht, ungeachtet ihres Wohnorts in jedem Mitgliedsstaat unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen dieser Staaten eine Beschäftigung aufzunehmen und auszuüben. Mit dem Wegfall der Übergangsbestimmungen erhalten die Bürger der im Jahr 2004 der EU beigetretenen Staaten auch uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Die bisherigen Beschränkungen in Form von Arbeitserlaubnissen und Verwaltungsverfahren entfallen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt nun für alle Bürger der EU abgesehen von Rumänien und Bulgarien, die der Union erst im Jahr 2007 beigetreten sind.


beitslosigkeit läge ohne statistische Tricks um eine Million höher. Ein großer Teil der Beschäftigungsverhältnisse ist befristet oder es handelt sich um Teilzeit- und Minijobs. Die Hälfte der neuen Jobs entsteht im Leiharbeitsbereich. Leute, die vorher vor die Tür gesetzt wurden, dürfen also jetzt wiederkommen – für weniger Geld. Arbeitslose, die älter als 58 sind, werden überhaupt nicht mehr in die Statistik aufgenommen, dabei handelt es sich um mehr als 365.000 Menschen. Hinzu kommt noch eine verdeckte Arbeitslosigkeit von bis zu drei Millionen Menschen. Deutschland hat zudem mit seinem Lohndumping unsere EU-Partner in die Schuldenfalle getrieben. Die Rechnung bezahlt nun die Bevölkerungsmehrheit mit Kürzungspaketen. Das wird den Aufschwung abwürgen. Die Krise ist noch lange nicht vorbei.

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u schimpfst über Teilzeitjobs. Aber ist es angesichts der Folgen von Arbeitslosigkeit für das Selbstwertgefühl nicht besser, wenn die Leute ein bisschen arbeiten anstatt überhaupt nicht? Es wäre noch besser, wenn sie zu vernünftigen Löhnen arbeiten würden. Sicher: Menschen ohne Arbeit vereinzeln und verkümmern. Sie nehmen am öffentlichen Leben nicht mehr teil. Aber was nützt ihnen eine Arbeit, mit der sie ihr Leben nicht planen können und in ständiger Existenzangst leben müssen? Nach dieser Logik müsste ein Sklave dankbar sein, auf der Plantage schuften zu dürfen. Es fehlt nicht an Arbeit, sondern an guten Arbeitsplätzen. Daher brauchen wir höhere Löhne und öffentliche Investitionen, um die Binnenwirtschaft anzukurbeln, und Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, um die Arbeit auf mehr Schultern zu verteilen. ie Gewerkschaften haben das Thema Leiharbeit jetzt angepackt, insbesondere die IG Metall will dazu Kampagnen führen. Gibt es hier Anknüpfungspunkte für DIE LINKE? Die Leiharbeit und andere Formen des kriminellen Lohndumpings müssen ausgetrocknet werden. Fast eine Million Beschäftigte sind mittlerweile als Leiharbeiter und moderne Sklaven tätig. Wir verlangen wie in Frankreich eine Flexibilitätsprämie, das heißt, Unternehmen, die von Leiharbeit Gebrauch machen, sollen diesen Beschäftigten nicht nur gleiche Löhne wie der Stammbelegschaft zahlen, sondern einen Zuschlag. Damit würde die Leiharbeit auf ihren eigentlichen Zweck zurückgeführt: die Abfederung von Auftragsspitzen. DIE LINKE wird sich vor Betrieben gegen die Leiharbeits-Mafia engagieren. Die Fragen stellte Stefan Bornost

AKTUELLE ANALYSE

© Michael Bruns

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus MAGAZIN FÜR

5. Jahrgang Nr. 20, April/Mai 2011 ISSN 1865-2557 www.marx21.de Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V.

dagegen sein! Im Zweifel

Mitarbeit an dieser Ausgabe Michael Bruns, Christine Buchholz, Claude Dierig, Jens Fischer, Nicole Gohlke, Werner Halbauer, Klaus-Dieter Heiser, Sven Kühn, Volkhard Mosler, David Paenson, Jonas Rest, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Janine Wissler, Luigi Wolf Übersetzungen David Meienreis, David Paenson Infografiken Karl Baumann

SoZ

Sozialistische Zeitung

monatlich mit 24 Seiten Berichten und Analysen zum alltäglichen kapitalistischen Irrsinn und den Perspektiven linker Opposition enz

für die Dissid

Mag Wompel, n Critchley, ten Krampitz, plädieren Simo Ströbele, Kars . Hans-Christian pe dissident und die Grup Silke van Dyk

Redaktion Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Natalie Dreibus, Lisa Hofmann, Jan Maas, Tobias Paul (Neues aus der Linken), Michael Ferschke, Veronika Hilmer (Was will marx21), Bruce Paenson (Weltweiter Widerstand), Florian Butollo, Rosemarie Nünning, Win Windisch (Rezensionen)

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numfrage zum hling-LeserInne rner, g der prager-frü Ernst, Heidi Knake-We Auswertun Lenin. von Klaus imir Iljitsch . Und Beiträge ke und Wlad Parteiprogramm Klaus Höpc

2011, 5 Euro 09/ Februar

kommunistisch oder konformistisch? Nr. .de ehling-magazin www.prager-fru

ISSN 1866-5764,

Wie zahm ist die Linke? Über Dissidenz, zivilen Ungehorsam sowie die Chancen und Grenzen von „kritischem Professionalismus“ diskutieren: Simon Critchley, Mag Wompel, Silke van Dyk, Christian Ströbele, LIGNA und ¡No Pasaran! Außerdem: Alexis Passadakis über Postwachstumsökonomien u.v.m. Jetzt online bestellen!

Schwerpunkte der AprilAusgabe: ■ Libyen, Gaddafi, die Linke und

– der Krieg… ■ Henrik Paulitz (IPPNW): AKWs

– sind rechtswidrig ■ Ägypten: Die Muslimbrüder

– und die soziale Frage

Probeausgabe kostenlos Probeabo (3 Ausgaben) gegen 10-Euro-Schein

SoZ-Verlag Regentenstr. 57–59 · D-51063 Köln Telefon (02 21) 9 23 11 96 redaktion@soz-verlag.de · www.sozonline.de

Layout Alexandra Cooper, Philipp Kufferath, Yaak Pabst Covergestaltung Yaak Pabst Redaktion Online Yaak Pabst (verantw.), Frank Eßers, Jan Maas Druck Druckhaus AJSp, Ateities g. 10, LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 - 89 56 25 11 Fax: 030 - 56 82 28 84, Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21- Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im Juni 2011 (Redaktionsschluss: 11.05.)

Game Over

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Tunesien: Europa hält sich seine Despoten · Die tunesische Revolution · Die Einheitsgewerkschaft UGTT · Die tunes. Menschenrechtsanwältin Bochra Bel Haj Hamida · Rachid Ghannouchi • Ägypten: Ägyptische Wirtschaftsreform – Großunternehmer und Finanzmanager · Justiz und Politik · Arbeiterproteste · Soziale Bewegungen · Die Muslimbrüder in der Revolte · Web 2.0 und der autoritäre Staat · Ägyptens Militärbourgeoisie • Marokko: Stabile Monarchie? Marokko 20. Februar 2011 • Algerien: Ein einzigartiger Konflikt: Die algerische Krise – Netzwerke an der Macht · Implosion des Staates, Raubwirtschaft – Kein Volksaufstand in Algerien • Jordanien: Brotunruhen, arabische Solidarität, tribaler Islamismus – Das Regime hat die Lektion gelernt, die Opposition nicht! • Syrien: 1: 0 fürs Regime. In Syrien fällt der Tag des Zorns vorerst aus • Jemen: Die Dynamiken der Proteste im Jemen und ihre Besonderheiten • Libyen: Was kommt nach Qaddhafi? ✉ inamo e.V., Postfach 310727, 10637 Berlin, ☎ 030/86 42 18 45, @ redaktion@inamo.de

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LeserbriefE

Schade! Da macht marx21 so viel Werbung für den wirklich besten politischen Kinofilm seit Jahren, und dann so eine kleinkarierte Kritik. Als ob der Verfasser sagen wollte: Ätsch, ich bin doch ein Sektierer... Mathis Oberhof, Wandlitz

Zum Artikel »Eine zerstörerische Logik« von Karsten Schmitz (Heft 19) Die dem Artikel beigefügte Zeichnung von Käthe Kollwitz (die 1945 übrigens ganz in der Nähe von Dresden gestorben ist) zeigt, dass es sich bei diesem Text um eine zutiefst humanistische und um Wahrheit »ringende« Arbeit handelt. Und gerade deshalb möchte ich als »noch etwas jüngerer alter Dresdner« (53 Jahre) sagen, dass ich den 13. Februar in Dresden als Gedenktag zu »DDR-Zeiten« anders als im Artikel geschildert wahrgenommen habe: nicht als Propagandaevent gegen den »Klassenfeind«. Im Gegensatz zu etlichen anderen Ereignissen aus dieser Zeitepoche, die man zweifelsohne für DDR-Propagandazwecke »umgeformt« und »geschichtsgeklittert« hatte, wurde mit diesem Gedenktag sehr sensibel umgegangen. Sicher auch deshalb, weil es kaum einen Dresdner gab, der nicht in seiner Familie Verluste zu beklagen hatte und auch Funktionäre klug genug waren und wussten, dass man es, schlicht gesagt, mit der Propaganda auch übertreiben konnte, was in bestimmten Situationen auffällig gewesen wäre und gegenteilige Wirkungen erzielt hätte. Die englische Stadt Coventry beispielsweise, die auch stark unter Luft-

Andreas Zieger, Dresden

Zum Artikel »Der erdrosselte Sozialismus« von Marcel Bois (Heft 19) Marcel Bois hat Recht, wenn er schreibt, dass Stalin bei einer Ausweitung der Revolution wohl kaum zur Macht gelangt wäre und dass das letztendliche Scheitern der Oktoberrevolution auch auf das Fehlen einer breiten, bewussten Arbeiterklasse zurückzuführen ist. Einige Schönheitsfehler besitzt der Text dennoch. Er gaukelt zum Beispiel eine Einheit der Opposition gegen Stalin vor, die so nie bestanden hat. Vielmehr haben Sinowjew und Kamenew gemeinsam mit Stalin am Sturz Trotzkis gearbeitet. Im Ganzen ist der Text mit allen Revolutionsführern außer Stalin viel zu unkritisch. Auch Trotzki beispielsweise wollte Arbeitsarmeen, die das Land nach dem Bürgerkrieg mit militärischem Drill wieder aufbauen. Es fehlt eine kritische Stellungnahme zur Rolle der Avantgarde überhaupt. Ziel muss die Selbstorganisation der Klasse sein, nicht die Verwaltung der Klasse durch eine sozialistische Elite. Mario Voss, per E-Mail

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

Zur Filmbesprechung von »We Want Sex« von Phil Butland (marx21.de, 02.02.2011)

angriffen zu leiden hatte, wurde Ende der 1950er Jahre Partnerstadt von Dresden – vor allem aus Gründen des ähnlichen Schicksals. Die Zerstörung Dresdens galt gerade zu DDR-Zeiten ausschließlich als Mahnmal im Sinne von »Nie wieder Krieg«. Im übrigen gehörten die beiden Städte, als diese Partnerschaft in Zeiten des Kalten Krieges initiiert wurde, Ländern mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen an. Jetzt versucht die NPD neue »Sichtweisen« zu vermitteln, die inhuman, gefährlich und geschichtlich absurd sind. Da gehe ich mit dem Autor konform, und, wenn ich das so salopp sagen darf, ich finde es sowieso stark, dass sich junge Journalisten auf diese Weise mit deutscher Geschichte beschäftigen, möchte mich dafür bedanken und werde, vor allem eben auch durch diesen Artikel angeregt, marx21 abonnieren.

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Nachtragshaushalt in NRW

Demokratie unterm Hammer Von Sven Kühn

er Nachtragshaushalt der rot-grünen Minderheitsregierung für das Jahr 2010 ist verfassungswidrig. Das entschied Mitte März der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof – und fällte damit ein Urteil, das weitreichende Konsequenzen haben wird, auch außerhalb Nordrhein-Westfalens. Bereits kurz nach Verkündung des Urteils kündigten CDU und FDP eine Klage auch gegen den Bremer Landeshaushalt an. Die Landesregierung von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) hatte im Dezember mit den Stimmen von Grünen und der LINKEN einen Nachtragshaushalt in Höhe von 2,4 Milliarden Euro verabschiedet. Sie begründete dies vor allem mit den gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen, die das Land für die Kommunen aufbringen muss, und mit den 1,3 Milliarden Euro Rücklage für die durch die Bankenkrise angeschlagene Landesbank WestLB. Gegen den Nachtragshaushalt klagten Union und Liberale vor dem Landesverfassungsgericht. Die Richter stoppten den Nachtragshaushalt, der eine Neuverschuldung von 7,1 Milliarden Euro beinhaltet. Dieser Wert liegt weit über dem der Investitionen (4 Milliarden Euro) und ist damit, so die Richter, nicht verfassungsgemäß. Die Landesverfassung erlaubt eine Nettoneuverschuldung nur bis zur Höhe der Investitionen. Ausnahmen sind nur bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erlaubt. Doch angesichts der vorhandenen Massenarbeitslosigkeit ist eine solche Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts mehr als gegeben. Es handelt sich also nicht um ein juristisches, sondern um ein politisches Urteil. Damit führen die Richter die Schuldenbremse de facto ab sofort ein. Das bedeutet im Kern, dass massiver Sozialabbau, weitere Privatisierungen und Stellenabbau im öffentlichen Dienst drohen. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs stellt zudem einen Angriff auf die Demokratie dar. Das Ge-

richt nimmt dem Landtag das Recht aus der Hand, den Haushalt zu verabschieden. Macht dieses Urteil Schule, wird sich die Aufgabe von Landesparlamenten zukünftig darauf beschränken, Haushaltspläne umzusetzen, die von Finanzexperten, Wirtschaftslobbyisten oder der Bundesregierung vorgegeben werden. Für politische Gestaltung bleibt dann kein Spielraum mehr. Demokratische Wahlen würden wirkungslos. Deshalb ist nach Ansicht der LINKEN die Schuldenbremse auf Landesebene verfassungswidrig. Eine Klage ist diesbezüglich beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Die Steuersenkungsorgien der Bundesregierungen haben den Ländern seit 1998 Steuermindereinnahmen von 50 Milliarden Euro beschert und ihre Schuldenlast um mehr als 50 Prozent erhöht. Das sogenannte strukturelle Defizit ist in Nordrhein-Westfalen nicht deshalb so hoch, weil das Land in der Vergangenheit zu viele Ausgaben getätigt hat, sondern weil die Steuereinnahmen im Haushalt zu gering waren. Die Länder können daran kaum etwas ändern. Wie im Bund hat die Schuldenbremse auch in den Ländern verheerende Auswirkungen. Manche Länder müssen bis 2020 ihre Ausgaben um fast ein Fünftel kürzen, um die Schuldenbremse einzuhalten. Die Alternative zu Kürzungen ist die Verbesserung der Einnahmesituation. Wir leben in einer reichen Gesellschaft. Nordrhein-Westfalen für sich genommen ist die 17.-größte Volkswirtschaft der Welt. DIE LINKE hat im Januar 2011 ein Steuerpaket vorgeschlagen, das zu jährlichen Mehreinnahmen von 180 Milliarden Euro führen kann. Geld ist genug da – es ist nur falsch verteilt.

Nach Ansicht der LINKEN ist die Schuldenbremse verfassungswidrig

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★ ★★ Sven Kühn ist Mitarbeiter in der Linksfraktion im nordrhein-westfälischen Landtag.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

EU-Gipfel

Wettlauf nach unten Von Werner Halbauer

rifverhandlungen gegebenenfalls dezentralisiert werden. Das Ziel: Die Löhne in der Privatwirtschaft sollen nicht zu stark zulegen. Zudem sind die einzelnen EUStaaten angewiesen, dafür zu sorgen, dass

Die Konkurrenz soll verschärft werden die Gehälter im öffentlichen Dienst die »Bemühungen um mehr Wettbewerbsfähigkeit unterstützen«. Das heißt im Klartext: Auch dort sollen die Gehälter nicht zu stark steigen, da sie »wichtige Signaleffekte« für den privaten Sektor haben. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt soll verschärft werden: Die Euro-Länder ver-

pflichten sich, die Beschäftigungsquote zu erhöhen, und für mehr »Zweitverdiener« in den Haushalten zu sorgen. Gemeinsam mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters und der Zurückdrängung von Frühverrentungen sorgt dies für ein steigendes Arbeitsangebot und drückt damit auf das Lohnniveau. Umso wichtiger wird im Vorfeld des 1. Mai die Mobilisierung der Gewerkschaften gegen Dumpinglöhne. DIE LINKE sollte sich mit ihrer Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn dort sichtbar einbringen. ★ ★★ Werner Halbauer ist Mitglied im Vorstand der LINKEN in Berlin-Neukölln. UNSERE MEINUNG

U-Gipfel beschließt Euro-Rettung«, berichteten die Zeitungen in den Tagen nach dem Treffen der europäischen Regierungschefs. Von weiteren Maßnahmen, die Merkel und Co. in Brüssel verabschiedet haben, war in der Presse hingegen wenig zu lesen – obwohl auch sie massive Auswirkungen haben werden. So sollen die einzelnen EU-Staaten beispielsweise gezwungen werden, in eine Konkurrenz um niedrigere Lohnstückkosten einzutreten, um so die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union gegenüber anderen Wirtschaftsblöcken zu stärken. Des Weiteren will die EU die Schuldenaufnahme ihrer Mitgliedsländer stärker kontrollieren. Diese Beschlüsse befeuern einen europaweiten Wettlauf um die schlechtesten Löhne und Sozialstandards. Künftig sollen die Lohnfindungsprozesse in einzelnen Ländern »überprüft« und Ta-

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SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

20 Den Druck erhöhen Wege aus der Atomkraft

22 Die Unbelehrbaren

Die Macht des deutschen Atomfilzes

27 Die Wende zum Grünen

Ein schneller Ausstieg ist möglich

© Carlos Latuff


Katastrophe mit Konsequenzen In kaum einem Land sind Staat und Wirtschaft so eng verbunden wie in Japan. Das Unglück im Atomkraftwerk Fukushima könnte das ändern Von Stefan Bornost

Auch die Anti-Atom-Aktivistin Masako Sawai nimmt eine Veränderung wahr: »In Japan steht das Wohl der Unternehmen immer an erster Stelle, das ist sehr schlecht, und das rächt sich jetzt.« Die Energieunternehmen und die Regierung hätten der Bevölkerung jahrelang erzählt, dass Atomkraft eine verantwortungsvolle Form der Energiegewinnung sei, denn sie sei sauber und produziere kein CO2. Deswegen habe sich auch niemand gegen Kraftwerke gewehrt. »Aber jetzt haben die Japaner gemerkt, dass das nicht

stimmt. Tepco hat immer gesagt, ohne Atomkraftwerke hat Japan keine Energie. Jetzt mussten sie den Strom ausgerechnet wegen des Atomkraftwerks abschalten.« Das Energieunternehmen Tepco steht im Mittelpunkt der jetzt einsetzenden Diskussion. Es symbolisiert die Verflechtung von Profitinteressen mit der Regierungspolitik. Tepco ist der viertgrößte Stromkonzern der Welt und der größte Asiens. Das Unternehmen betreibt 17 Kernkraftwerke und erzeugt ein Drittel der Elektrizität Japans. Es verfügt über eine lange, gut dokumentierte Geschichte von schweren Verstößen gegen Sicherheitsbestimmungen. Dazu gehören mehr als 200 gefälschte Sicherheitsprotokolle, von denen einige die größtenteils zerstörte Atomanlage Fukushima Daiichi betreffen. Im Jahr 2002 gab Tepco zu,

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Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

Tepco verfügt über eine lange Geschichte von schweren Verstößen gegen Sicherheitsbestimmungen. Dazu gehören mehr als 200 gefälschte Protokolle – auch in Fukushima

bis zum Jahr 1993 zurückreichende Berichte über Risse in den Schutzhüllen der Reaktorkerne 1 bis 5 gefälscht zu haben. Die gegenwärtige Krise ist nicht die erste, in die dieser Konzern infolge eines Erdbebens geraten ist. Im Jahr 2007 war aufgrund einer Erderschütterung viel gerin-

SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

rst wurde das Land von einem der stärksten Erdbeben getroffen, die jemals aufgezeichnet worden sind. Dann verwüstete eine über 20 Meter hohe Tsunamiwelle große Teile der nordöstlichen Küstenregionen und schließlich droht eine atomare Katastrophe große Teile des Landes auf Jahre zu verseuchen. Und die Einwohner? In stoischer Ruhe nehmen sie immer neue Hiobsbotschaften hin. Diese Bild zeichnen zumindest die hiesigen Medien über den Umgang der Japaner mit jener unbeschreiblichen Katastrophe, die ihr Land heimgesucht hat. Ganz falsch ist diese Darstellung nicht. Angesichts von unzähligen Toten und Obdachlosen steht für die meisten Menschen verständlicherweise im Vordergrund, die Katastrophenfolgen zu bewältigen. Doch die von der japanischen Regierung proklamierte »nationale Einheit« zeigt durchaus erste Risse. Diejenigen, die sich kritisch mit Politik und Wirtschaft auseinandersetzen, sind zwar wenige. Aber es gibt sie. So gingen am 20. März 1500 Gewerkschafter in Tokio auf die Straße. Anschließend veröffentlichten sie eine Erklärung, die in einem für japanische Verhältnisse unüblichen Ton gehalten ist. Sie hätten protestiert, so die Aktivisten, »um unseren Ärger und unsere Wut über die ernste Lage auszudrücken, die durch das Erdbeben in Tohoku (Ostjapan) verursacht wurde. Wir haben zu der Kundgebung aufgerufen, um den Volkszorn gegen die schrecklichen und brutalen Geschehnisse zu organisieren, um die Lügenpolitik der Regierung öffentlich zu machen und um zu verlangen, dass alle Fakten auf den Tisch kommen, die mit der Katastrophe zu tun haben.«

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© OrgAn Museum / Thierry Ehrmann

geren Ausmaßes ein Feuer im Kraftwerk Kashiwa­ zaki-Kariwa ausgebrochen und Radioaktivität freigesetzt worden. Tepco musste das AKW, das mit sieben Reaktoren als das leistungsstärkste der Welt gilt, herunterfahren. Später gab die Konzernspitze zu, dass die Anlage für derartige Erdstöße nicht ausreichend ausgelegt sei. Die sechzigjährige Geschichte von Tepco gleicht einer Fallstudie darüber, wie die japanische Regierung und die Aufsichtsbehörden bei Sicherheitsmängeln immer wieder zu Komplizen der Atomlobby wurden. Mit Unterstützung der Liberaldemokratischen Partei (LDP), die Japan seit seiner Gründung im Jahr 1955 bis 2009 fast ununterbrochen regierte, verfolgte die Wirtschaftselite rücksichtslos den Bau von mehr als 50 Kernkraftwerken – gegen den Widerstand von Anwohnern und gegen den Rat von Umweltexperten. Dies geschah, obwohl der Inselstaat in einer der am meisten von Erdbeben gefährdeten Regionen der Erde liegt.

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Tepco ist kein Sonderfall. Die Kapitalkonzentration und damit die Macht der Konzerne ist in Japan ex­trem hoch. Mit Beginn der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden die »Zaibatsu«, gigantische Wirtschaftskonglomerate, gegen die der klassische westliche Großkonzern wie ein Krämerladen erscheint. Mitsubishi vereinte beispielsweise bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs über 200 Unternehmen inklusive einer Großbank aus diversen Branchen unter seinem Dach. Nach dem Krieg verbot die US-amerikanische Besatzungsmacht die Zaibatsu wegen deren Verwicklung in die japanischen Kriegsanstrengungen. Doch während des Kalten Kriegs wurden die Mischkonzerngiganten unter dem Namen »Keiretsu« wieder zugelassen. Wie die Keiretsu das Leben der Japaner bestimmen, weiß Dave Handley zu berichten. Seit zehn Jahren lebt der Brite in Japan. Er arbeitet als Englischlehrer und ist mit einer Japanerin liiert. »Der Einfluss der Keiretsu ist unvorstellbar groß«, sagt er. »Sie beherrschen die Industriestruktur, sie beherrschen das Bankenwesen. Sie haben die Regierung in der Tasche, sie besitzen die Medien. Und das Wichtigste: Sie wirken im öffentlichen Raum. Die Keiretsu bauen Schulen, Kindergärten, öffentliche Parks – im Tausch für Gehorsam. Im Kern wird hier versucht, ein ganzes Volk einzukaufen. In den langen Jahrzehnten des Wirtschaftsaufschwungs hat das auch ganz gut funktioniert, die Profite sprudelten, es gab genug zu verteilen. Deshalb bezeichnen sich auch 90


33.000 Selbstmorde in einem Jahr – diese Zahl schreckte die japanische Öffentlichkeit auf

Monat. 15,3 Prozent der Japaner leben unterhalb der Armutsgrenze. Bei den Oberhauswahlen im Jahr 2007 war die ungleiche Einkommensverteilung das drittwichtigste Thema für die Wähler. Die Grundlagen der aktuellen Situation wurden in den 1980er Jahren gelegt. Im Zuge einer neoliberalen Umstrukturierung der Gesellschaft wurde das Wohlfahrtssystem ausgehöhlt. Das Ergebnis war eine deutliche Klassenspaltung. Die Gewerkschaften staatlich kontrollierter Betriebe, wie die mächtige Eisenbahnergewerkschaft Kokuro National Railway Union, wurden im Zuge der Privatisierung aufgelöst. Sie wurden mehr oder weniger durch Pseudogewerkschaften ersetzt, die sich den Interessen der Unternehmensgruppen unterordneten. Wer in Japan seine Arbeit verliert, kann nur mit wenigen Monaten Arbeitslosengeld rechnen. Danach muss sie oder er sich auf Familie und Freunde verlassen oder gehört schnell zu den zahlreichen Obdachlosen, die in blauen Zelten auf den Straßen der Großstädte hausen.

Immerhin entfachten die zunehmende soziale Polarisierung und die damit verbundenen Missstände in den vergangenen Jahren eine öffentliche Debatte über »Gewinner« und »Verlierer« des Marktliberalismus. Auch einige populäre Bestseller über die Nöte der »Unterschicht« wurden veröffentlicht. Eine solche Debatte über soziale Fragen hatte es in Japan noch nicht gegeben. Dave Handley kann die Folgen der sozialen Krise in seinem persönlichen Umfeld beobachten: »Die Verunsicherung und die Angst, die viele Japaner empfinden, kann ein Ventil im Widerstand gegen Politik und Wirtschaft finden. Häufiger passiert es bisher aber, dass die Leute innerlich kaputtgehen, weil sie ihre Probleme als persönliches Versagen und Schande sehen – und nicht als Folge eines Systems, das sie kollektiv angreifen können.« Anfang des Jahrtausends hat eine Zahl die japanische Öffentlichkeit aufgeschreckt: 33.000. So viele Selbsttötungen gab es alleine in der Zeit von April 1999 bis März 2000. Das waren mehr als jemals zuvor. Jeder fünfte Selbstmord in Japan führt die Polizei auf finanziellen Bankrott, Schulden oder Arbeitsplatzverlust zurück. Die überwiegende Zahl der Opfer sind Männer im Alter von 40 bis 60 Jahren. Das sind diejenigen, die in der vorhergegangenen Umbauphase entlassen wurden oder als Unternehmer und Selbstständige bankrott gingen. Nicht selten scheiden ganze Familien gemeinsam aus dem Leben. Auch hierfür gibt es in der japanischen Sprache einen Begriff: »Yonige«, was soviel bedeutet wie »Flucht in der Nacht«. Mitsuru Hisata, Psychiater an einer Tokioter Universitätsklinik, sorgt sich über eine »rasende Depressionswelle« und befürchtet, dass die Angst vor Schulden oder Arbeitsplatzverlust in unkontrollierte Stresshandlungen mit unvorhersehbaren Folgen ausarten könnte. Doch die soziale Krise äußert sich auch in politischer Unzufriedenheit: Im Jahr 2009 wurde nach einer mehr als 50 Jahre währenden, fast ununterbrochenen Regierungszeit die Liberaldemokratische Partei abgewählt. Der Wahlgewinner, die jetzt regierende Demokratische Partei Japans (DPJ) hatte sich vager Parolen vom »Wandel« bedient und bescheidene Zuwendungen für Familien, Bauern und Kleinunternehmen versprochen. Doch diese Versprechungen wurden nicht eingelöst, stattdessen wurde die Kooperation mit Konzernen vom Schlage Tepcos bruchlos weitergeführt. In den Wochen vor dem Erdbeben stand Ministerpräsident Naoto Kan wegen einer Spendenaffäre kurz vor dem Rücktritt. Wegen der Katastrophe wurden die Ermittlungen zurückgestellt, Kan versucht sich jetzt als Krisenmanager zu profilieren. Doch darauf, dass Japans Bevölkerung weiter zuschaut, während die Konzerne und ihre Helfer in der Politik das Land sozial und ökologisch verwüsten, sollte er besser nicht wetten. ←

AKTUELLE ANALYSE SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

Prozent der Japaner als Teil der Mittelschicht. Doch zwei Jahrzehnte wirtschaftlicher Stagnation hinterlassen langsam Spuren.« In den letzten zwanzig Jahren haben Gelegenheitsjobs und Zeitarbeit in Japan massiv zugenommen. Die Zahl der Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Festanstellung lag im März 2007 bei 17,3 Millionen. Das entsprach einer Zunahme um mehr als 50 Prozent binnen eines Jahrzehnts. Mittlerweile befinden sich ein Drittel der verfügbaren Arbeitskräfte, vor allem junge Menschen, in befristeten Arbeitsverhältnissen und verdienen weniger als umgerechnet 600 Euro im

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© Greenpeace Jugend

Den Druck erhöhen Die Wut über die Atompolitik der Regierung wächst. Reicht die Abwahl von Schwarz-Gelb um mit der gefährlichen Technologie Schluss zu machen? Von Janine Wissler und Yaak Pabst ber eine Viertelmillion Menschen gingen in Deutschland unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima für einen Ausstieg aus der Atomkraft auf die Straße – so viele wie noch nie. Auf den Demos war spürbar, wie gering das Vertrauen in Regierung und Konzerne in dieser Frage ist. Zwar hat die Bundesregierung nach den Ereignissen von Japan ein dreimonatiges Moratorium und neue Sicherheitsprüfungen beschlossen. Doch viel mehr als eine Beruhigungspille für die Bevölkerung ist das nicht. Der Kraftwerksbetreiber RWE hat bereits Klage dagegen eingereicht, dass Biblis A vom Netz genommen wurde. Die angekündigten Sicherheitsüberprüfungen sind eine Farce. Denn vieles, das überprüft werden soll, ist schon längst bekannt. Erstens ist allerspätestens seit Fukushima klar, dass ein Restrisiko nie auszuschließen ist. Nicht nur Naturkatastrophen können einen

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Reaktorunfall verursachen, auch ein einfacher Stromausfall oder menschliches Versagen können das auslösen. Zweitens liegen für alle deutschen AKWs umfangreiche Gutachten vor, die gravierende Sicherheitsmängel belegen. So können die deutschen AKWs nicht gegen Flugzeugabstürze gesichert werden. Insgesamt gehört der deutsche Kraftwerkspark zu den ältesten der Welt. Aber gerade an den ältesten und bereits abgeschriebenen AKWs verdienen die Betreiber am meisten, etwa eine Million Euro pro Tag. Auch auf europäischer Ebene ist nun ein »Stresstest« für alle Atomkraftwerke geplant. Allerdings ist die Teilnahme freiwillig und nicht verpflichtend für die Betreiber. Ohne Druck wird sich also nicht viel ändern – deshalb ist weiterhin Bewegung notwendig. Dass die Regierungskoalition trotz zahlreicher Proteste vor einigen Monaten beschlossen hat, die Laufzeiten der AKWs zu verlängern, hat nicht zu Resignation geführt. Im Gegenteil: Gerade deswegen sind auch jetzt viele auf die Straße gegangen. Für Empö-


rung sorgt, dass Schwarz-Gelb den Atomkonzernen mit verlängerten Laufzeiten zusätzliche Milliardenprofite ermöglicht. Dagegen sind schwache Rechtfertigungsversuche wie »Auch wir wollen erneuerbare Energien, aber leider ist Atomkraft noch notwendig« verpufft.

Entscheidender als Wahlen ist massenhafter und entschlossener Druck von unten. Ihre größten Erfolge hatte die Antiatombewegung auf der Straße. Ihre ersten erfolgreichen Aktionen fanden im Jahr 1975 statt. Damals wurde durch massenhaften Widerstand der Bevölkerung in der badischen Gemeinde Wyhl der Bau eines Kernkraftwerks verhindert. Atomkraftgegnerinnen und -gegner hatten über acht Monate den Bauplatz besetzt.

Den Atomausstieg kann man nicht mit den Konzernen verhandeln, sondern nur gegen sie durchsetzen

Doch die Perspektive, einzig auf die Abwahl von Schwarz-Gelb zu hoffen, birgt Risiken. Zumal es schon einmal schief gegangen ist, sich auf eine Regierung von SPD und Grünen zu verlassen: Unter der rot-grünen Koalition sind die Atommülltransporte weitergerollt und wurden sogar mit Polizeigewalt durchgesetzt. Der damals von SPD und Grünen im Konsens mit den Energiekonzernen beschlossene »Atomausstieg« hatte diesen Namen nie verdient. Er stellte im Kern eine Garantie für die Konzerne dar, ihre Kernkraftwerke lange Zeit weiterbetreiben zu dürfen. Der rot-grüne Atomkompromiss ermöglichte die Übertragbarkeit der Stromkontingente von alten auf neue Meiler, aber auch umgekehrt. Zudem wurde kein Zeitpunkt vereinbart, wann die Kraftwerke endgültig abgeschaltet werden sollen, sondern nur die Höhe der Reststrommengen festgelegt. Wird ein AKW jedoch wegen Störungen oder Reparaturen kurzfristig abgeschaltet, dann produziert es keinen Strom. Die diesem AKW erlaubte Reststrommenge geht dann langsamer zur Neige, was wiederum den Zeitpunkt des endgültigen Abschaltens verzögert.

Massenhafter, zäher außerparlamentarischer Widerstand hat auch dafür gesorgt, dass der Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf 1989 eingestellt wurde. In der Mobilisierungszeitung des Bündnisses »Castor? Schottern!« hieß es im vergangenen Oktober: »In der BRD wurde der Bau von rund 25 AKWs verhindert, für die bereits Bauanträge eingereicht waren. Vom nuklearen Entsorgungspark Gorleben sind heute nur ein nicht fertiggestelltes Endlager und ein Zwischenlager übrig geblieben. Für jedes AKW, das in der BRD gebaut wurde, konnte eines verhindert werden, und kein Atombefürworter hätte 1977 bei der Benennung Gorlebens als Endlagerstandort gedacht, dass 33 Jahre danach nicht einmal die Erkundung des Salzstockes abgeschlossen ist.« Die Erfahrungen mit dem rot-grünen Atomkompromiss machen deutlich, dass man einen Atomausstieg nicht mit den Konzernen verhandeln, sondern nur gegen sie durchsetzten kann. Es wäre ein Fehler die Energieversorgung privaten, gewinnorientierten Konzernen zu überlassen. Um eine wirkliche Energiewende und eine wirksame Kontrolle der Strompreise zu erreichen, müssen Konzerne wie RWE und Eon in kleinere Einheiten zerschlagen und in öffentliche Hand überführt werden. Erfreulich ist, dass auch die Gewerkschaften sich an den Protesten gegen Atomkraft beteiligen, denn sie vertreten Millionen Mitglieder. Zudem sind sie die einzige Kraft, die ökonomischen Druck auf Unternehmen und Regierung ausüben kann. Doch noch bleibt die gewerkschaftliche Mobilisierung hinter ihren Möglichkeiten zurück. Dabei gibt es viele Mitglieder, die gegen Atomkraft sind. Es wird nur dann möglich sein, die Atomkonzerne in die Knie zu zwingen, wenn wir ihnen auf der Straße und vor ihren Werken entgegentreten. Die Frage ist, von welcher Seite der Druck stärker ist: von den Atomkonzernen oder von der Bewegung. ←

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Yaak Pabst ist Redakteur von marx21.

Janine Wissler ist energiepolitische Sprecherin und Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Hessischen Landtag.

SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

Bei den Demos waren die Fahnen von SPD und Grünen unübersehbar. Schon seit geraumer Zeit versuchen beide Parteien, das durch die gemeinsame Regierungszeit der Jahre 1998 bis 2005 verlorene Vertrauen in der Bevölkerung und der Antiatombewegung zurückzugewinnen. Beide Parteien mobilisieren zu den Protesten. Das ist begrüßenswert, denn dadurch hat sich die Zahl der Demonstrationsteilnehmer erhöht. Und es ist nun möglich, intensivere Debatten mit den Anhängern von SPD und Grünen zu führen, wie ein wirklicher Ausstieg aus der Atomenergie erreicht werden kann. Die SPD-Strategie hat Parteichef Sigmar Gabriel formuliert: Die Partei werde die Atomkraftfrage zum Wahlkampfthema machen. Im Jahr 2013 könne der Wahlzettel zum Denkzettel für SchwarzGelb werden. Gabriel hat dabei die aktuellen Meinungsumfragen im Kopf, nach denen Rot-Grün vor Schwarz-Gelb liegt.

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Dunkle Atomenergie ist ohne massive Staatszuschüsse nicht profitabel. Warum also wurden jahrzehntelang Steuermilliarden in dieses schwarze Loch geschaufelt? Eine Spurensuche

© United States Department of Defense

Von Karsten Schmitz

A

ngesichts der Atomkatastrophe von Fukushima rufen einige Politiker und Medienvertreter bereits das Ende der Kernenergie aus. Leider ist hier der Wunsch Vater des Gedankens. Noch ist die Welt weit entfernt von einem Ende des Atomzeitalters. Derzeit sind über den gesamten Globus verteilt 439 Reaktoren in Betrieb. Darüber hinaus befinden sich weitere 62 im Bau-, 158 im Plan- und 326 im Konzeptstadium. Zusätzlich sind weltweit etwa 23.000 Atomwaffen stationiert, von denen über 22.000 den atomaren Supermächten USA und Russland gehören. Die restlichen Nuklearwaffen befinden sich in Großbritannien, China, Frankreich, Indien, Pakistan, Nordkorea und Isra-

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el. Weitere Staaten versuchen nach wie vor, über den Umweg der Kernenergie an die Atombombe zu gelangen. Wir scheinen also nicht vor dem Ende, sondern vor einer Renaissance der Kernspaltung zu stehen. Seit 1952 haben bereits 13 Unfälle in atomtechnischen Anlagen stattgefunden, bei denen strahlendes Material in erheblichem Ausmaß ausgetreten ist und bei denen Katastrophenschutzmaßnahmen durchgeführt werden mussten. Warum halten die politischen Entscheidungsträger trotzdem weiter an der Nutzung der Kernkraft fest? Für Deutschland lässt sich diese Frage relativ leicht beantworten: Die Kernenergie ist ein einträgliches Geschäft – vor allem für die großen Energiekonzer-


Motive

ne Eon, EnBW, Vattenfall und RWE, die die Kraftwerke betreiben. Den angeblich so günstigen Atomstrom förderte der Staat zwischen 1950 und 2010 mit 203,7 Milliarden Euro. Im Jahr 2008 wurde aus Steuergeldern jede Kilowattstunde Atomstrom mit 4 Cent subventioniert. Die Umlagen für die erneuerbaren Energien, die der Staat im selben Jahr erhoben hat, betrugen nur ein Viertel dieser Kosten. Volkswirtschaftlich ist die Kernenergie damit die teuerste Stromsorte. Nur betriebswirtschaftlich rechnen sich die nuklearen Reaktoren für die großen Stromkonzerne, weil Entwicklungs- und Forschungsarbeiten, der Unterhalt der Atommülllager und vieles mehr aus Steuergeldern gezahlt wird. Aus diesem für die Unternehmen so lukrativen Geschäftsmodell hat sich ein

Phänomen entwickelt, das oft als »deutscher Atomfilz« bezeichnet wird: Auf den Gehaltslisten der Konzerne standen und stehen Politiker, die der Kernkraft in Bundes- und Landesregierungen den Weg geebnet haben. Zu Recht sagte der Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Gregor Gysi, kürzlich im Deutschen Bundestag: »Die Atomindustrie besitzt nicht nur finanzielle und ökonomische Macht, sie hat nicht nur beträchtlichen Einfluss auf politische Entscheidungen. Sie dominiert diese und damit auch die Bundesregierung und eine große Zahl von Abgeordneten.« Dass unternehmensnahe Unionspolitiker wie Kurt Lauk, Michael Fuchs oder Friedrich Merz für die Atomkonzerne in die Bresche springen, verwundert nicht. Doch der Arm der Atomkonzerne reicht selbst

AKTUELLE ANALYSE SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

Unterwasserzündung einer US-amerikanischen Atombombe auf dem Bikini-Atoll am 25. Juli 1946. Durch die starke radioaktive Verseuchung ist die Rückkehr der Einwohner bis heute unmöglich

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Karsten Schmitz ist Mitarbeiter in der Linksfraktion im Bundestag.

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in Parteien hinein, wo man es nicht vermuten würde. Schwere Irritationen bei der grünen Partei etwa löste vor einigen Jahren die ehemalige Staatssekretärin Margareta Wolf aus. Die Politikerin legte 2008 ihr Bundestagsmandat nieder und wechselte zur Kommunikationsberatung Deekeling Arndt Advisors, die von deutschen AKW-Betreibern beauftragt war, »die Stimmung für eine Verlängerung der Laufzeiten zu verbessern«. Der Energieriese RWE, dessen Chef Jürgen Grossmann sich mit Gerhard Schröder gern im Kanzleramt zu Skatrunden traf, ist in der Rekrutierung von Politprominenz besonders erfolgreich. So hat der Konzern etwa den ehemaligen grünen Außenminister Joschka Fischer und den früheren SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement verpflichtet. Während Fischer als Berater des Unternehmens agiert, ist Clement Mitglied im Aufsichtsrat der Kraftwerkstochter RWE Power. Zugleich sitzt er auch im Aufsichtsrat des russischen Beratungsunternehmens Energy Consulting, was offenbar blendende Synergieeffekte verspricht. Auch zwischen staatlicher Verwaltung und Atomkonzernen funktioniert der Personalaustausch prächtig. Der Physiker Bruno Thomauske beispielsweise war 20 Jahre lang führender Funktionär im Bundesamt für Strahlenschutz, hatte dort die Verantwortung für Endlagerstätten und genehmigte Castor-Transporte. Im Herbst 2003 wechselte Thomauske dann zu Vattenfall und rückte dort schnell in die Geschäftsführung auf.

lichkeit gelangte. Das Strategiepapier trägt den Titel »Kommunikationskonzept Kernenergie – Strategie, Argumente und Maßnahmen«. Erstellt wurde die Arbeit für die Eon Kernkraft GmbH. Eon ist der mit Abstand größte deutsche Energiekonzern (Jahresumsatz 2010: 82 Milliarden Euro) und war zuletzt am Betrieb von zehn deutschen AKWs beteiligt. Die Agentur hat eine Argumentationslinie zum Wahlkampf ausgearbeitet. In dem Papier heißt es: »Sowohl Medien als auch Politik spielen mit Emotionen bzw. gehen auf Emotionen in der Bevölkerung ein, um Aufmerksamkeit und Zustimmung zu erzeugen.« Als Schlussfolgerung empfehlen die PR-Leute: »Es gilt also (…) nicht nur argumentativ, sondern auch emotional die richtigen Themen zu besetzen.« Beispielsweise könne man die »Kernenergie als Preisdämpfer« darstellen, empfahl die PRGS: »Als Preistreiber werden die erhöhte Nachfrage nach Energierohstoffen ausgemacht sowie die hoch subventionierte, ineffektive und langfristig ineffiziente Fotovoltaik.« Und weiter: »Es gibt einige Prominente, die die Kombination Kernkraft und Windenergie favorisieren. Hier bieten sich Allianzen an.« Als probates Mittel wird auch das Schüren von Ängsten und Nationalismus vorgeschlagen: »Als nachgelagertes, aber dennoch chancenreiches Thema hat PRGS die Import-Abhängigkeit vor allem von russischem Erdgas identifiziert. Dieses geostrategische Thema weckt historisch tradierte Ängste vor Russland. Diese Ängste kann Eon in der Debatte für sich nutzen.«

Lobbyorganisationen wie das »Deutsche Atomforum« kämpfen mit dummdreister Propaganda gegen einen Ausstieg an, etwa mithilfe der Plakatkampagne »Deutschlands ungeliebte Klimaschützer«. Jedes Poster dieser Kampagne zeigt ein deutsches Atomkraftwerk in idyllischer Umgebung, der Slogan verweist auf dessen vermeintlichen Beitrag zum Klimaschutz. Beispielsweise Brunsbüttel: Im Vordergrund sind unter blauem Himmel grasende Schafe auf einer grünen Wiese zu sehen, im Hintergrund das norddeutsche AKW. Die Überschrift lautet: »Dieser Klimaschützer kämpft 24 Stunden am Tag für die Einhaltung des Kyoto-Abkommens.« Für die Kampagne wurde das Atomforum mit dem »EU Worst Greenwash Award« ausgezeichnet, also dem Preis für die schlimmste Grünfärberei von ökologisch bedenklichen Praktiken. Hier werde versucht, die öffentliche Besorgnis über den Klimawandel zu instrumentalisieren, um für die Atomenergie zu werben, so die Begründung für Auszeichnung. Einblick in die Methoden der Atomlobby gibt auch ein etwa 109 Seiten starkes Dossier der Berliner PRAgentur PRGS, das im Herbst 2009 an die Öffent-

Mit ihrer Lobbyarbeit wollen die Atomkonzerne nicht nur den Betrieb der laufenden Atomkraftwerke sicherstellen, sondern auch die generöse staatliche Unterstützung beim Atomexport. Hier mischen Hochtechnologiekonzerne wie Siemens mit. Deutsche Ingenieure sind weltweit bei ausländischen Nuklearprojekten im Einsatz – sei es bei der Installation von Komponenten oder der Errichtung ganzer Anlagen. Diese Ausfuhren werden von der Bundesregierung durch so genannte Hermesbürgschaften gefördert. Es handelt sich hierbei um Absicherungen für Unternehmen, die in politisch und wirtschaftlich riskante Regionen liefern, für den Fall, dass die Zahlung durch den Auftraggeber nicht reibungslos abläuft. Fallen Zahlungen aus, werden sie von der Euler-Hermes-Kreditversicherungs-AG oder von PricewaterhouseCoopers beglichen. Übersteigen die Ausfallzahlungen die eingenommenen Versicherungssummen, springt der Bund und damit die Steuerzahler ein – eine Praxis, auf die in der andauernden Wirtschaftskrise verstärkt zurückgegriffen werden dürfte. Bis zum Jahr 2001 wurde der Export für Atomreaktoren ungeniert mit Hermesbürgschaften gefördert.

Joschka Fischer und Wolfgang Clement arbeiten jetzt für RWE


© Tamio Honma

Kampagne des »Deutschen Atomforums«: Das AKW als »Klimaschützer der Woche«. Eine glatte Lüge – der Prozess der Gewinnung von spaltungsfähigem Material ist außerordentlich energie- und damit CO2-intensiv

Atombombe schwärmen. Die Bundesregierung interessierte das nicht: Sie genehmigte im Februar 2010 eine Bürgschaft über 1,3 Milliarden Euro. Der Druck der Atomlobby ist immens. Er allein reicht aber nicht aus, um zu erklären, warum der Staat – unter welcher Regierung auch immer – über so lange Zeit eine unprofitable Energie mit immensen Summen gefördert hat. Es war ein weiterer Faktor, der die Atomkraft so interessant für die deutschen Herrschenden machte: Zivile Nuklearprogramme eröffnen die Möglichkeit, die Atomkraft auch militärisch zu nutzen. Diese Option trug in der Frühphase der Geschichte der Bundesrepublik zur Entscheidung für Atomkraftwerke maßgeblich bei. Zwar gab Kanzler Konrad Adenauer schon 1954 bekannt, dass die Bundesrepublik auf eine eigene Atombewaffnung verzichten würde. Doch in größeren Teilen der deutschen Eliten galt als ausgemacht, dass die militärischen Nuklearkapazitäten wesentlich sind, um weltpolitisch eine Rolle zu spielen. »Bei der atomaren Komponente« der Bundeswehr gehe es »um die Basis, von der aus die Bundesrepublik überhaupt nur Politik machen kann«, erklärte einst der CDUBundestagsabgeordnete Olaf Baron von Wrangel. Damit stand er nicht allein, wie die Aussage des französischen Generals Lionel M. Chassin von 1957 zeigt: »Wenn ein Land wie Westdeutschland sowohl seine militärische Verteidigung als auch seine politische

SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

Dass die rot-grüne Regierungskoalition diese Unterstützung nach ihrem Amtsantritt 1998 ebenso unbekümmert weiterlaufen ließ, sorgte für öffentliches Aufsehen. Erst dann wurde die Vergabe der Bürgschaften an Umweltleitlinien gekoppelt, die eine Förderung für die Ausfuhr von Nuklearenergie ausschloss. Der Begriff »Nukleartechnologie« eröffnete allerdings einen so großen Deutungsspielraum, dass eine weitere Bürgschaftsvergabe für den Export von Komponenten, die in Kernkraftwerken Verwendung fanden, nicht ausgeschlossen war. So beantragte Siemens 2003 eine Bürgschaft für die Ausfuhr von Turbinen für den atomaren Siedewasserreaktor im finnischen Olkiluoto. Erst nachdem der Fall der Öffentlichkeit bekannt geworden war, zog die Firma den Antrag zurück. Seit dem Regierungsantritt der schwarz-gelben Koalition im Oktober 2009 gibt es nicht einmal mehr vorgebliche Einschränkungen bei der Förderung deutscher Atomexporte. Die Umweltleitlinien wurden kurzerhand abgeschafft und knapp einen Monat nach Beginn der Legislaturperiode stand auch schon wieder Siemens – gemeinsam mit seinem französischen Partner Areva – auf der Schwelle. Die Unternehmen beantragten eine Hermesbürgschaft für die Baufortsetzung des brasilianischen Atomreaktors Angra 3, der in einer Erdrutsch- und Erdbebenregion entstehen soll und noch dazu in einem Land, in dem hohe Regierungsmitglieder schon laut vom Besitz der

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Handlungsfreiheit (die volle Gleichberechtigung mit seinen Verbündeten, Anm. d. Red.) sicherstellen will, so müsste es in der Lage sein, den atomaren Sprengstoff selber herzustellen und ihn im Ernstfall einzusetzen. Ist es dazu nicht in der Lage, so riskiert es, dass seine nationale Verteidigungsorganisation ohnmächtig bleibt und die dafür aufgewandten Mittel weggeworfenes Geld sind.« Der CSU-Politiker Franz-Josef Strauß, in den Jahren 1955/56 Minister für Atomfragen und danach Verteidigungsminister, sagte: »Wenn wir unseren zehn- bis fünfzehnjährigen Rückstand nicht sehr rasch aufholen, werden wir wahrscheinlich darauf verzichten müssen, in Zukunft zu den führenden Nationen gezählt zu werden.« Am 25. Juli 1956 stellte er einen Gesetzentwurf zur »Erzeugung und Nutzung der Kernenergie« vor.

glieder sind die fünf offiziellen Atommächte. Jedes einzelne von ihnen kann Entscheidungen des Rates mit seinem Veto blockieren. Dennoch wurde bisher keine deutsche Atombombe gebaut. Die deutschen Herrschenden haben andere Optionen gefunden. Als Frontstaat während des Kalten Krieges beteiligte sich die Bundesrepublik an der nuklearen Abschreckungsstrategie der Westmächte. Mehrere hundert US-amerikanische Atombomben waren zu dieser Zeit auf deutschem Boden stationiert. Bundeswehrsoldaten wurden zu deren Einsatz ausgebildet. Noch heute befinden sich schätzungsweise mehr als ein Dutzend Nuklearraketen auf dem Luftwaffenstützpunkt Büchel. Zudem ist die Bundesrepublik treibender Akteur der europäischen Integration, die auch auf militärischem Gebiet vollzogen wird. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit zu einer europäischen Nuklearstreitmacht, an der Deutschland teilhaben würde. Grundlage dafür ist die französische Atomstreitmacht »Force de Frappe«. Deshalb schwieg 1995 die Bundesregierung zu französischen Atomtests. Stattdessen freute man sich in Bonn über das Angebot von Jacques Chirac, »dass die französische Atomwaffe bald der europäischen Verteidigung dienen wird.« Im gleichen Jahr reiste der CDU-Bundestagsabgeordnete Friedbert Pflüger durch Frankreich und besichtigte militärische Atomanlagen. Er bekam den Eindruck, dass die Franzosen zwar von der »Europäisierung« ihrer Atomwaffen reden, »gedacht wird aber vorrangig an die Deutschen«. Dies belegte auch ein deutsch-französisches Gipfeltreffen im Jahr 2007. Nach Informationen des Spiegel hatte der damals neue französische Präsident Nicolas Sarkozy der Bundesregierung die Teilhabe an der Entscheidungsgewalt über die französischen Atomwaffen angeboten. Auch wenn Kanzlerin Angela Merkel und der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) dies ablehnten, zeigt diese Begegnung doch, dass auf höchster europäischer Ebene über diese Optionen diskutiert wird.

Die Bundesrepublik könnte binnen drei Monaten zur Atommacht werden

Führende Atomwissenschaftler gingen davon aus, dass hiermit die Grundlage zum Bombenbau geschaffen werden sollte. Die in der Gruppe »Kernphysik« organisierten Forscher forderten Strauß im Jahre 1957 auf, er möge erklären, dass die Bundesrepublik Atomwaffen weder herstellen noch lagern werde. Strauß empfing die Physiker und mehrere Anwesende bestätigten später, dass der Politiker sehr wütend war und ihnen vorgeworfen hatte, »seine Bemühungen zu sabotieren«. Im Jahr 1960 beschloss die Regierung schließlich das erste deutsche Atomgesetz. Inoffiziell war damit der Startschuss zu einem »Standby-Programm« gefallen, einem zivilen Atomentwicklungsprojekt, bei dem aber eben auch waffenfähiges Material abfällt. Auf entsprechende Anweisung kann ein solches Programm in kürzester Zeit auf die Produktion nuklearer Rüstung umgestellt werden. Seit Mitte der achtziger Jahre ist die Bundesrepublik jedoch theoretisch nicht mehr auf die zivile Nutzung der Atomkraft angewiesen, um Nuklearwaffen herzustellen. Zu dieser Zeit ging die Urananreicherungsanlage Gronau in Betrieb, in der das radioaktive Isotop Uran militärisch nutzbar gemacht werden kann. Sie wird von der Firma Urenco betrieben, an der auch RWE und Eon beteiligt sind. Der Bundesrepublik steht damit die Möglichkeit offen, im Handumdrehen zur Atommacht zu werden. Sie bräuchte nur den Atomwaffensperrvertrag zu kündigen, was sie innerhalb einer Frist von drei Monaten tun kann. Das Know-how und die Anlagen zum Bau von Raketen und Bomben sind durch Konzerne wie Daimler vorhanden. Die politischen Vorteile, im kapitalistischen Weltsystem Nuklearstreitmacht zu sein, sind offensichtlich. Es genügt ein Blick auf die Zusammensetzung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen: Dessen ständige Mit-

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Diese neueren Entwicklungen ändern nichts daran, dass an der Wiege des deutschen »zivilen« Atomprogramms der Wunsch nach militärischer Nutzung stand. Mittlerweile hat sich die Atommafia gewissermaßen verselbstständigt und setzt ihre Profitinteressen mittels massiver Einflussnahme durch. Doch wer sich von Katastrophen, Strahlentoten und der radioaktiven Verseuchung ganzer Regionen nicht beeindrucken lässt, für den gilt: Wer nicht hören will, muss fühlen. Unsere Proteste und unser Widerstand werden darüber entscheiden, wie schnell das Ende des Atomzeitalters eingeläutet wird. ←


er Alte meldet sich nicht oft zu Wort, und wenn er es tut, brennt es bei den Konservativen. So auch diesmal: Die verlängerten AKW-Laufzeiten entwickeln sich gegenwärtig zum Super-GAU für die Regierung Merkel. Also kommt Ex-Kanzler Helmut Kohl zur Hilfe: In der Bild hat er einen Artikel veröffentlicht mit dem Titel »Warum wir die Kern-Energie (noch) brauchen«. Kohl redet nicht um den heißen Brei herum: »Die Lehre aus Japan muss zunächst einmal sein, dass wir akzeptieren: Was in Japan passiert ist, ist schrecklich, aber – in aller Brutalität – es ist

Ein zügiger Atomausstieg ist möglich. Dafür müssen weder die Stromkunden noch das Klima belastet werden Von Frank Eßers

auch das Leben. Das Leben ist ohne Risiken nicht zu haben«. Reaktorkatastrophen wie die in Tschernobyl oder Fukushima als unvermeidliches Pech? Das ist menschenverachtender Unsinn. Atomkraft gehört ins Technikmuseum, Abteilung: Kuriositäten. Denn Kernenergie ist überflüssig. Um das zu wissen, muss man nicht bei der Antiatombewegung nachfragen. Es reicht, auf den »Sachverständigenrat für Umweltfragen« zu hören, auch bekannt als Umweltrat. Er berät die Bundesregierung in der Umweltpolitik. In seinem Sondergutachten »Wege zur 100 % erneuerbaren Stromversorgung«, das er im Januar vorgelegt hat, ←FORTSETZUNG AUF SEITE 28→

SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

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Frank Eßers ist Online-Redakteur von marx21.de. Er ist aktiv bei Anti Atom Berlin und Mitglied der LINKEN in BerlinNeukölln.

stellt der Umweltrat unmissverständlich klar: »Weder eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken noch der Bau neuer Kohlekraftwerke mit Kohlendioxidabscheidung und -speicherung sind notwendig.« Seiner Einschätzung nach sind Kohle- und Atomkraftwerke ein Hindernis für den Umstieg auf erneuerbare Energien. Ab einem gewissen Anteil regenerativer Energien an der Stromproduktion sei der Betrieb atomar-fossiler Großkraftwerke »technisch problematisch«. Sie seien unflexibel und könnten nicht schnell hoch- oder heruntergefahren werden, um Schwankungen bei Wind- und Sonnenenergie ausgleichen zu können. Ein weiteres Problem ist laut Gutachten, »dass über zunehmend längere Zeitfenster Überkapazitäten im System entstehen«. Diese könnten »entweder die zeitweilige Abschaltung regenerativer Kapazitäten erfordern oder zu kostspieliger Unterauslastung konventioneller Kapazitäten führen und damit die Kosten des Übergangs unnötig erhöhen«. Das Urteil des Umweltrats könnte für Schwarz-Gelb nicht vernichtender sein: »Eine generelle und deutliche Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken ist deshalb mit den hier vorgestellten Szenarien für den Übergang zur regenerativen Vollversorgung nicht vereinbar.« Doch ist die Zeit wirklich reif für die Erneuerbaren? Können sie Atomstrom schnell ersetzen, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden? Sehen wir uns zunächst die Eckdaten der deutschen Elektrizitätswirtschaft an: In den letzten zehn Jahren ist der Atomstromanteil an der Stromproduktion von 29 auf 22,6 Prozent gefallen. Aus regenerativen Energien stammt bereits ein Anteil von 16,5 Prozent, Tendenz steigend. Um den Zeitpunkt für den Abschluss des Atomausstieges zu bestimmen, muss man aber noch berücksichtigen, welche Reserven im nichtatomaren Teil der Kraftwerksparks vorhanden sind und wie viel Strom Deutschland exportiert. An sicheren Reserven sind zwischen 11 und 13 Gigawatt vorhanden. Zum Vergleich: Die Nettoleistung der acht derzeit abgeschalteten AKWs beträgt 8,4 Gigawatt. Aufgrund von »Pannen« und Stillständen lieferten diese Reaktoren in den vergangenen Jahren allerdings real nur rund 6,5 Gigawatt. Sie sind also leicht ersetzbar und das Potential für weitere Abschaltungen ist vorhanden. Dass Stromkonzerne trotzdem mit Preissteigerungen drohen, dient lediglich dem Zweck, Verbraucher zu verunsichern, die Politik unter Druck zu setzen und einen Atomausstieg zu verhindern. Auch der Verzicht auf den Export von Strom würde weitere Kapazitäten für einen Ausstieg bringen. Im vergangenen Jahr betrug die Menge des exportierten Stroms 17 Milliarden Kilowattstunden. Das entspricht der Leistung von zweieinhalb Kernkraftwerken. Nach einer zurückhaltenden Einschätzung des Umweltbundesamtes vom 17. März könnten neun AKWs

sofort abgeschaltet werden. Berücksichtigt man allerdings Exportüberschuss und Kraftwerksreserven, ist noch mehr möglich. Die Grünen gehen von 15 Atomkraftwerken aus, die kurzfristig ersetzt werden können. Als Zeitpunkt eines vollständiges Ausstieges nennt die Partei das Jahr 2017. Auch DIE LINKE plädiert für einen schnellen Ausstieg. Die Bundestagsfraktion hat bereits im Jahr 2009 ein Konzept zur Stilllegung der 17 deutschen Atomkraftwerke innerhalb von vier Jahren vorgelegt. In diesem Zeitrahmen bewegt sich auch das Ausstiegskonzept von Greenpeace, vorgestellt in der Studie »Klimaschutz: Plan B«. Demnach könnte im Jahr 2015 Atomkraft der Vergangenheit angehören. Bis sämtliche Energie aus erneuerbaren Quellen stammt, sind so genannte »Brückentechnologien« notwendig. Kernkraft- und Kohlekraftwerke gehören nicht dazu. Die »Brücke« kann stattdessen aus einem dezentralen Netz flexibler Erdgaskraftwerke bestehen. Gas- und Dampfkombikraftwerke (GuD) könnten innerhalb eines Jahres gebaut werden, haben einen hohen Wirkungsgrad (= weniger Energieverluste bei der Produktion), können sich schnell an Laständerungen im Stromnetz anpassen und schnell gestartet werden. Damit würden sie Schwankungen von Windkraft und Solaranlagen ausgleichen. Geeignet sind sie sowohl als Grund- als auch als Mittellastkraftwerke (erhöhter Strombedarf) und sie können auch Bedarfsspitzen im Stromverbrauch abdecken. In Frage kommen auch Kraft-Wärme-KopplungsAnlagen (KWK). Solche Kraftwerke sind in der Lage, gleichzeitig Strom und Heizwärme zu liefern. Ein Betrieb von Erdgaskraftwerken mit Biogas ist ebenfalls möglich. Warum Erdgasanlagen bauen, wenn es doch bereits Kohlekraftwerke gibt? Weil Erdgas der fossile Energieträger ist, bei dessen Verbrennung die geringste Menge Treibhausgas entsteht. Will man den Atomausstieg nicht mit Schädigung des Klimas »erkaufen«, kommen Stein- und Braunkohle nicht in Frage. Um beim Klimaschutz voranzukommen, muss in regenerative Energien und Technologien zu deren Speicherung investiert werden. Zudem muss das Stromnetz aus- und umgebaut und Energie gespart werden. Ein schneller Ausstieg aus der Kernkraft könnte als Motor des Umbaus wirken, weil Atomstrom dann nicht mehr das Stromnetz »verstopfen« würde. Denn im bestehenden Netz hat Grundlaststrom aus fossilen und atomaren Anlagen faktisch »Vorfahrt«. Das behindert die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Quellen. Ob ein zügiger Atomausstieg zu mehr Treibhausgasausstoß führt oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, wie schnell und konsequent solche Maßnahmen eingeleitet werden. Es liegt auf der Hand, dass der Umbau des Energiesystems Geld kostet. Werden also wieder einmal die Stromkunden zur Kasse gebeten? ←FORTSETZUNG AUF SEITE 30→

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© Kurt Zwahlen

SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

»Je weiter erneuerbare Energien entwickelt und je mehr sie genutzt werden, desto preiswerter ist ihre Produktion«

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Wie eine Litanei wiederholen Atomkraftbefürworter, dass Kernkraft billig sei. Dem widerspricht der Umweltrat. Dass die Kosten für Atomenergie »langfristig sinken werden, kann als unwahrscheinlich betrachtet werden«, heißt es in der bereits zitierten Studie. Während die Kosten für Energie aus atomaren und fossilen Quellen steigen, würden die für erneuerbare Energien weiter fallen. Der Grund: Kohle, Erdgas und Uran sind begrenzte Ressourcen. Sie gehen zur Neige. Wind und Sonne hingegen sind unerschöpflich. Je weiter erneuerbare Energien entwickelt und je mehr sie genutzt werden, desto preiswerter ist ihre Produktion. Mit Recht weist die Bundestagsfraktion der LINKEN darauf hin: »Atomstrom hat keine strompreisdämpfende Wirkung. Die Preisbildung an der Strombörse orientiert sich am teuersten Kraftwerk, das zur Deckung des Strombedarfs zugeschaltet werden muss. So wird vermeintlich billig produzierter Atomstrom an der Strombörse teuer verkauft. Die Energiekonzerne streichen so jährlich Gewinne von über 300 Millionen Euro pro AKW ein.« Atomenergie wird zudem vom Staat subventioniert. Diese Förderung taucht zwar nicht auf der Stromrechnung auf, wird aber von den Steuerzahlern aufgebracht: Sie beträgt 3,9 Cent pro Kilowattstunde Atomstrom. Von den Energiekonzernen wird als Grund für Preiserhöhungen gerne das Erneuerbare-Energien-Gesetz genannt. Was die Konzerne nicht sagen: Regenerative Energien senken an der Strombörse den Preis, wenn viel Strom aus Solar- und Windkraftanlagen produziert wird – eben weil dann das Angebot steigt. Die Verbraucher haben davon allerdings nichts, weil Preissenkungen nicht an sie weitergegeben werden. Früher existierte eine Preisaufsicht der Bundesländer, die im Jahr 2007 von der damaligen schwarz-roten Bundesregierung abgeschafft wurde. Seitdem haben es die Energiemonopole einfacher, ihre Stromkunden zur Kasse zu bitten. Um Abzocke zu mildern und zu verhindern, dass armen Haushalten der Strom abgedreht wird, fordert DIE LINKE »eine wirksame Preisaufsicht sowie eine soziale Tarifgestaltung«. Das wäre ein guter erster Schritt. Wenn man den Energiekonzernen hingegen weiter freie Hand lässt, werden zwei Dinge geschehen: Es wird keinen Atomausstieg und keinen Umstieg auf erneuerbare Energien geben (jedenfalls nicht, bevor der letzte Krümel Kohle verfeuert ist) – und trotzdem werden die Strompreise weiter steigen.

Um den Umstieg auf regenerative Energien zu finanzieren, sollten Konzerne, Banken und Millionäre stärker besteuert werden. Schließlich sind sie die Profiteure der massiven neoliberalen Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben. Damit ein Umstieg nicht nur beschlossen, sondern auch unumkehrbar wird, führt letztlich kein Weg daran vorbei, die Macht der Energiekonzerne zu brechen – also Stromnetze und Energiekonzerne zu verstaatlichen und darüber hinaus eine Kontrolle der Energieversorgung durch Verbraucher und die in der Energieproduktion abhängig Beschäftigten sicher zu stellen. Warum Verstaatlichung? Weil der deutsche Strommarkt von nur vier Konzernen beherrscht wird: Eon, Vattenfall, RWE und EnBW. Sie besitzen die Mehrzahl aller Kraftwerke, kontrollieren das Stromnetz und diktieren ihren Kunden die Preise. Und warum Kontrolle durch Beschäftigte und Verbraucher? Weil Verstaatlichung nicht ausreicht. Vattenfall ist ein schwedisches Staatsunternehmen und verhält sich wie ein privates Unternehmen: Der Profit zählt, nicht Mensch und Umwelt. Ähnliches gilt für EnBW: 45,01 Prozent der Unternehmensaktien gehören seit Januar dem Land Baden-Württemberg. Weitere 45,01 Prozent sind in Besitz der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke (OEW), ein Zusammenschluss von Gebietskörperschaften und Kommunen im südlichen Baden-Württemberg. Kontrolliert wird die OEW von CDU-Politikern. Seit der Landtagswahl streiten Grüne und SPD auf der einen und die CDU auf der anderen Seite um die Macht bei EnBW. Ein Regierungswechsel alleine wird nicht reichen, um die bisherige Unternehmenspolitik sozial und ökologisch zu gestalten. In Deutschland nähmen die Energiekonzerne faktisch den Rang eines Staatsorgans ein, beklagte der im vergangenen Oktober verstorbene SPD-Bundestagsabgeordnete und Präsident von Eurosolar Hermann Scheer. Traditionell sind die Verbindungen zwischen Politik, besonders dem Wirtschaftsministerium, und den Energiemonopolisten eng – und zwar unabhängig davon, welche Parteien regieren. Spielfeld dieser Energiekonzerne sind die Märkte, die blind für wirksamen Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit sind. Um die Macht der Stromriesen zu brechen, ist massenhafter Widerstand von unten nötig – und der Kampf für eine nicht-kapitalistische Gesellschaft, die sozial und ökologisch nachhaltig ist. ←

Atomkraft gehört ins Technikmuseum, Abteilung: Kuriositäten

★ ★★ Weiterlesen Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen: »Wege zur 100 % erneuerbaren Stromversorgung«, Januar 2011: www.tinyurl.com/ sondergutachten Kurzanalyse des ÖkoInstitutes: »Schneller Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland«, März 2011: www. tinyurl.com/kurzanalyse-atomausstieg DIE LINKE: »AtomStopp – Konzept zur Stilllegung der 17 Atomkraftwerke in Deutschland«, Juli 2009: www.tinyurl.com/ atomausstieg-LINKE

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Mit Zustimmung der LINKEN kaufen sechs Städte im Ruhrgebiet den fünftgrößten Stromproduzenten Deutschlands. Doch einen weiteren Energieriesen zu etablieren, kann keine linke Energiepolitik sein. Eine Replik auf Hermann Dierkes

© tjschoss / flickr.com

Ein Vattenfall aus NRW? Von nils böhlke

Nach Überzeugung von Herrmann Dierkes bietet die Übernahme der Steag nun eine Möglichkeit, den Energiesektor sozial-ökologisch umzugestalten. Allerdings geht er in seinem Beitrag nicht darauf ein, dass die Übernahme von dem Mischkonzern selber so gewollt ist. Evonik versucht sich zurzeit als Chemiekonzern neu aufzustellen und plant den Börsengang. Hierfür werden alle Bereiche abgestoßen, die nicht im direkten Zusammenhang mit dieser Branche stehen. Von einer tatsächlichen Vergesellschaftung kann also nicht die Rede sein. Evonik befindet sich zudem im Besitz der mehrheitlich von der öffentlichen Hand betriebenen Ruhrkohle AG (RAG). Dementsprechend handelt es sich bei dem Deal also lediglich um einen Verkauf von einer Ebene der öffentlichen Hand an die andere – mit dem Ziel, einen Teil des öffentlichen Besitzes profitabel an die Börse zu bringen. Die Steag ist nach den »großen Vier« das größte Energieversorgungsunternehmen in Deutschland. Sie betreibt zehn Steinkohlekraftwerke im Inland und drei im Aus←FORTSETZUNG AUF SEITE 33→

SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

in Konsortium aus sechs nordrhein-westfälischen Kommunen will die Energiesparte Steag des Mischkonzerns Evonik übernehmen. In der vergangenen Ausgabe von marx21 hat Hermann Dierkes begründet, warum DIE LINKE dem Kauf zugestimmt hat. Der Kauf bringt jedoch erhebliche Probleme mit sich, weshalb ich die grundlegend positive Beurteilung für bedenklich halte. Richtigerweise setzt DIE LINKE auf erneuerbare Energie, die regional, dezentral und kundenfreundlich erzeugt und zugänglich gemacht werden soll. Dabei sollen für die Beschäftigten soziale Standards mit guter Arbeit und guten Löhnen gelten. Dementsprechend war im Wahlprogramm des nordrhein-westfälischen Landesverbandes die Entmachtung der Stromriesen RWE und Eon eine zentrale Forderung. Die Realität sieht jedoch anders aus: Zwar ist der freie Zugang zu Elektrizität mittlerweile ein Menschenrecht. Doch hierzulande treiben die vier Energieriesen die Preise hoch und verweigern so immer mehr Menschen diesen Zugang. Auch Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit der Energieerzeugung stehen hinter den Profitinteressen der Energieriesen zurück.

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land: in der Türkei, auf den Philippinen und in Kolumbien. Da die zehn Kohlekraftwerke in Deutschland zum größten Teil mit steinzeitlich anmutender Technologie betrieben werden, ist es leider nicht möglich, sie in erneuerbare Energieproduzenten umzuwandeln. Das bedeutet, dass sie in den nächsten Jahren mit erheblichen Kosten abgewickelt werden müssen. Der derzeitig veranschlagte Kaufpreis von etwa 1,2 Milliarden Euro, von dem 30 Prozent direkt durch das kommunale Konsortium und 70 Prozent durch Kredite finanziert werden sollen, wäre daher nur ein Teil dessen, was für die ohnehin überschuldeten Kommunen anfallen würde. Erst nach der Abwicklung der bestehenden Kohlekraftwerke ist die Umstellung der Steag auf erneuerbare Energie möglich. Die erheblichen Kosten, die dabei anfallen, sollen dann aus den Einnahmen einer anderen Sparte des Unternehmens bestritten werden: dem Kohlehandel. Fast 40 Prozent des SteagGewinns stammt dort her. Insbesondere die Minen in Kolumbien gelten als besonders profitabel. Aber zu welchem Preis? Die Süddeutsche Zeitung schrieb vor einigen Monaten, dass die kolumbianischen nach den chinesischen Minen die gefährlichsten der Welt seien. Immer wieder muss man Berichte über Kinderarbeit und die brutale Verfolgung von Gewerkschaftsaktivisten lesen. Trotzdem hat sich das Unternehmen in einer Erklärung vom 30. November 2010 klar zum Auslandsgeschäft bekannt. Zudem hat es sich darauf festgelegt, dass das Management dieses Geschäftsbereiches unverändert bleibt – auch nach dem Kauf durch das Konsortium. Die hiesige Umweltpolitik soll also mit der verschärften Ausbeutung in anderen Ländern bezahlt werden. Kritiker haben das zu Recht als »Öko-Imperialismus« bezeichnet. Nun haben die Fraktionen in den Kommunalräten Resolutionen mit Forderungen an die zukünftige Geschäftsführung der Steag eingebracht. Beispielsweise »bitten« sie die noch zu gründenden Aufsichtsräte, soziale und ökologische Kriterien bei ihrem unternehmerischen Handeln zu berücksichtigen. Doch zugleich wird in manchem Text schon das Eingeständnis gemacht, dass zum derzeitigen Zeitpunkt das Auslandsgeschäft »nicht sofort abtrennbar« sei. Eine Veräußerung sei »nach wirtschaftlichen Kriterien zu prüfen«. So steht es in der Essener Resolution, die die dortige LINKE mitverfasst hat. Eigentlich wäre es Aufgabe der Partei, dahingehend Druck auszuüben. Das Auslandsgeschäft der Steag wird also auf absehbare Zeit eine

In den Kohleminen der Steag in Kolumbien sind Kinderarbeit und die Verfolgung von Gewerkschaftsaktivisten an der Tagesordnung

Kolumbianische Arbeiter schuften unter gefährlichen Bedingungen. Die Steag hält Anteile an der Mine

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DIE LINKE muss nun die Debatte über die Unternehmensziele des kommunalen Konsortiums vorantreiben. Das schließt eine Debatte über die Demokratisierung der Entscheidungen ein. In nichtöffentlichen Sitzungen wird es nicht gelingen, eine ökologisch und sozial verantwortliche Ausrichtung auszuhandeln. Wir brauchen daher Transparenz und demokratische Kontrolle. DIE LINKE muss hier Druck machen und eine Debatte über die Frage, wie eine demokratische Selbstverwaltung aussehen kann, organisieren. Die Eigentumsfrage alleine sagt nicht generell etwas über die Geschäftspraktiken und die Unternehmensführung aus. Auch die »großen Vier« sind zum Teil staatliche Unternehmen. Lediglich Eon befindet sich ausschließlich in privater Hand. Vattenfall beispielsweise ist ein schwedischer Staatskonzern. Zweitgrößter Anteilshalter an RWE-Aktien sind die Kommunen. Und das Land Baden-Württemberg hat richtigerweise kürzlich Anteile an EnBW gekauft. Trotz staatlichen Einflusses handeln diese Unternehmen genauso wie andere internationale Stromkonzerne als gewinnorientierte Akteure. Sie setzen auf Atom- und Kohlestrom und haben mit der Kanzlerin die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke in kleiner Runde ausgehandelt. Es ist Aufgabe der LINKEN, darauf hinzuwirken, dass das Land und die Kommunen ihren Einfluss einfordern und dass die Energiekonzerne zu ökologisch nachhaltigen, sozial verantwortlichen öffentlichen Unternehmen ohne weltweite Auslandsgeschäfte umgebaut werden. Eine reine Etablierung eines weiteren Riesen, der als »Vattenfall aus NRW« agiert, kann und darf jedoch keine linke Energiepolitik sein. ←

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nils böhlke ist Referent der Linksfraktion im nordrheinwestfälischen Landtag und Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN in Düsseldorf.

SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

© AveLardo / flickr.com

wesentliche Einnahmequelle des Unternehmens bleiben. Ob sich die kolumbianische Regierung ausgerechnet von sechs westdeutschen Kommunen überzeugen lässt, die eingeforderten ILO-Kernarbeitsnormen durchzusetzen, bleibt fraglich. Dem Land Nordrhein-Westfalen, das bislang im einflussreichen Kuratorium der RAG saß, ist das zumindest nicht gelungen. Hermann Dierkes zählt in seinem Artikel weitere Forderungen auf, die die Kommunen an die Steag-Aufsichtsräte richten. Sicherlich sind diese insgesamt gut gemeint und versuchen den versprochenen Wandel tatsächlich voranzutreiben. Aber die Unternehmensform der Steag bleibt privatrechtlich. Damit ist sie dem direkten Einfluss der politischen Entscheidungsträger entzogen. Bislang existiert von Seiten der Kommunen keine Strategie, wie sie auf eine Nichteinhaltung ihrer Forderungen reagieren sollen – beispielsweise wenn die Steag-Geschäftsführung sie mit wirtschaftlichen Interessen begründet. Vielmehr ist zu befürchten, dass die ohnehin schon wachsweichen Formulierungen aus den Ratsresolutionen lediglich in die Werbebroschüren aufgenommen werden, sich aber an der realen Geschäftspolitik nichts ändern wird. In diesem Fall ist durch eine »Rekommunalisierung« nichts gewonnen. Der Konzern wird nicht anders agieren als bisher, nur dass jetzt die Kommunen und auch die kommunalen Vertreter der LINKEN die Mitverantwortung dafür tragen. In Duisburg soll dies sogar in Form eines rot-rot-grünen-Kooperationsvertrages institutionalisiert werden.

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SCHWERPUNKT Arabische Revolution

39 Konsequente Interessenpolitik Interview mit Werner Ruf

42 Falsche Freunde der Revolution Mit NATO-Bomben zur Demokratie?

44 Erschütterte Vorurteile Frauen in der Revolution

46 Todfeind oder Waffenbruder? Militär im arabischen Frühling

49 Riss im Fundament

Die iranische Demokratiebewegung

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© Michael Thompson / Grafik verändert durch marx21


»Eine historische Chance für die Linke« Die arabische Revolte hat die politischen Verhältnisse kräftig durcheinander gebracht. Gilbert Achcar beschäftigt sich seit Jahren mit der Region. Im Interview mit marx21 erklärt er, welche Kräfte gegenwärtig profitieren – und welche an Einfluss verlieren ilbert, die arabischen Revolutionen wurden oft mit dem Umbruch in Osteuropa im Jahr 1989 verglichen. Zu Recht? Nun, die Ähnlichkeiten sind offensichtlich: Die Menschen kämpfen für Demokratie und gegen diktatorische Regime, die seit Jahrzehnten regierten. Das erklärt die sehr breite Beteiligung an den Bewegungen, verschiedene soziale Schichten sind auf die Straße gegangen. Die Schockwelle aus Tunesien pflanzte sich in der gesamten Region fort – auch das haben wir 1989 in Osteuropa gesehen. Die andere große Ähnlichkeit ist, dass kleine Gruppen von Demokratieaktivisten eine große Rolle spielen konnten, weil die jahrzehntelange Repression ein politisches Vakuum hinterlassen hatte.

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ie Hauptprofiteure der Umwälzungen von 1989 waren konservative und neoliberale Kräfte, es folgte eine Welle von Sozialabbau und Privatisierungen. Droht den arabischen Ländern jetzt Ähnliches? Damit sind wir bei den Unterschieden. In Osteuropa hatten die Menschen Jahrzehnte stalinistischer Herrschaft hinter sich, die sich sozialistisch nannte und deren ökonomisches System auf staatlichem Eigentum und staatlicher Planung beruhte. Hier waren die Marktwirtschaft und ihr Wohlstandsversprechen attraktiv. Die Menschen im arabischen Raum hingegen haben in der Vergangenheit schon Erfahrungen mit neoliberaler Politik, freier Marktwirtschaft und deren sozia-

Gilbert Achcar

Mohammed El Baradei geht zu Gewerkschaftstreffen. Das war zu Zeiten der neoliberalen »Schocktherapie« in Osteuropa in den 1990ern ganz anders.

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Gilbert Achcar ist Professor für Entwicklungsstudien und internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies (SOAS) und Autor zahlreicher Bücher. Er stammt aus dem Libanon. Seine letzte Buchveröffentlichung ist »The Arabs and the Holocaust« (»Die Araber und der Holocaust«). Auf deutsch erscheint das Buch Anfang 2012 im Nautilus Verlag.

len Folgen gemacht – die Verheerungen durch den Neoliberalismus sind wesentliche Grundlage ihres Aufstands. Deshalb ist die Attraktivität von neoliberalen Kräften sehr gering. Selbst der liberale Flügel der Bewegung vermeidet, allzu marktradikal zu klingen, um nicht an Einfluss zu verlieren. Die Liberalen in Ägypten klingen wie Sozialdemokraten, ihre Frontfigur

l Baradei ist zu einer schon bestehenden Bewegung hinzugestoßen. Vorher sah es so aus, als habe die Bewegung in Ägypten keinerlei Führung. Es gab jedenfalls nicht die eine überragende Figur der Opposition, bei der die Fäden zusammenliefen. Organisiert wurde aber trotzdem – im Wesentlichen von kleinen Gruppen von meist jungen Demokratieanhängern, die sich über das Internet vernetzt hatten. Eine sichtbare Rolle spielte dabei ein breites Spektrum der Linken von den revolutionären Sozialisten bis zur nationalistischen Linken. Diese Gruppen haben während der großen Streiks und Bewegungen in Ägypten im letzten Jahrzehnt viele Erfahrungen gesammelt, die sie in die Bewegung einbringen konnten. Nachdem der Stein von diesen kleinen Netzwerken ins Rollen gebracht worden war, sind andere größere Kräfte dazugestoßen – an allererster Stelle die Muslimbruderschaft, die zuerst sehr zögerlich war. Als jedoch klar wurde, dass die Bewegung zur Massenbewegung wird, sind sie aufgesprungen.

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ie haben sich durch die Revolten die Kräfteverhältnisse in der arabischen Politik verändert? Um die Kräfteverhältnisse einzuschätzen, lohnt es sich, historisch ein Stück zurückzugehen – in die Zeit vor dem Zwei-

SCHWERPUNKT Arabische Revolution

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Die Revolte hat neue politische Kräfte hervorgebracht. Der Einfluss der islamischen Fundamentalisten geht zurück Die Nationalisten befinden sich am Scheideweg: Die Bewegung hat sie gespalten. Während Mubarak, der sich selbst als Nationalist in der Tradition Nassers sehen würde, in seinem Palast saß, haben draußen viele Nationalisten gegen ihn demonstriert – vor allem diejenigen, die aus der Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften kommen. Insgesamt sind die Nationalisten schon lange nicht mehr die dominante Kraft, die sie bis zu den 1970ern waren. Die islamischen Fundamentalisten wiederum sehen sich mit großen Problemen konfrontiert. In den 1990ern waren sie die

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Hauptprofiteure des Niedergangs der Linken und der Hinwendung der Nationalisten zum Neoliberalismus – sie dominierten die Opposition fast vollständig. Jetzt sind sie zwar noch sehr präsent, ihre Hegemonie ist aber gefährdet durch den aufstrebenden Liberalismus und die kleine, aber sehr agile Linke.

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lso wird es keine Wiederholung der islamistischen Machtergreifung wie im Iran im Jahr 1979 geben? Nein, im Gegenteil. Die Revolte im arabischen Raum hat neue Kräfte hervorgebracht, die sich auf Kosten der islamischen Fundamentalisten ausbreiten und ihnen die Hegemonie in der Opposition streitig machen. Ägypten ist dafür das beste Beispiel: Die Muslimbruderschaft ist die erfahrenste, größte und am besten organisierte islamisch fundamentalistische Organisation der Welt. Sie wurde dennoch von der Bewegung überrollt und war immer eine Spur zu langsam, um prägenden Einfluss zu gewinnen. Die Muslimbruderschaft ist es gewohnt, dass sie Zeitplan und Aktionsformen festsetzt – diesmal mussten sie mitziehen bei Dingen, die viel kleinere Gruppen beschlossen hatten. In den Komitees, die die Aktionen geleitet haben, war die Muslimbruderschaft nicht mit mehr Leuten vertreten, als es die Gruppen waren, die alles ins Rollen gebracht haben. Jetzt gibt es eine scharfe Spaltung zwischen der Muslimbruderschaft und der übrigen Bewegung. Die Muslimbrüder haben sich hinter das Militär gestellt und unterstützen dessen Vorstellung eines begrenzten Übergangs zu mehr Bürgerrechten. Deshalb haben sie auch aufgerufen, bei der Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung mit »Ja« zu stimmen. Der Rest der Bewegung, sowohl die Liberalen als auch die Linke, hat diese Forderung als unzureichend verworfen. Stattdessen verlangen sie die Wahl einer Versammlung, die eine ganz neue Verfassung ausarbeitet. Sie lehnen den begrenzten Übergang zur Demokratie ab, weil sie befürchten, dass die konservativen Militärs – nachdem Ruhe eingekehrt ist – den Zustand vor Mubaraks Sturz wiederherstellen und die Revolution verraten werden. Sie wollen so schnell wie möglich Bürgerrechte, die Muslimbrüder nicht.

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o würdest du auf einer Skala der islamistischen Organisationen von

© Jonathan Rashad

ten Weltkrieg. Vier Kräfte dominieren die arabische Politik: die Nationalisten, die später in Nasser ihren wichtigsten Vertreter fanden, die Kommunisten, die islamischen Fundamentalisten und die westlich orientierten liberalen Modernisierer. Die Modernisierer waren eine der stärksten Strömungen vor dem Zweiten Weltkrieg, wurden dann aber durch die Nationalisten in den Hintergrund gedrängt, die mehr auf eine staatlich geplante Wirtschaft und einen starken Staat setzten als auf eine Integration in den Weltmarkt und eine entwickelte Zivilgesellschaft. Was wir jetzt erleben, ist ein massives Comeback des politischen Liberalismus. Damit meine ich Kräfte, für die die Frage der Bürger- und Freiheitsrechte zentral ist. Ebenfalls stärker geworden ist die Linke, die in den 1990ern durch eine Mischung aus Demoralisierung nach dem Zerfall des Ostblocks, Druck durch den Staat und Druck durch die islamischen Fundamentalisten fast vollständig aufgerieben war. Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten haben sich linke Netzwerke aufbauen und eine Rolle spielen können, die wesentlich über ihre reale Größe hinausging.

Hamas bis zur türkischen Regierungspartei AKP die Muslimbruderschaft einordnen? Nun, die Hamas ist die Muslimbruderschaft, es handelt sich um die gleiche Organisation, nur unter einem anderen Namen. Die AKP würde ich hingegen gar nicht als islamisch-fundamentalistisch bezeichnen – sie ist eine konservative Partei, wie wir sie bei uns in Mitteleuropa auch haben. Nur ist es eben eine muslimische und keine christlich-konservative Partei. Die AKP ist viel eher mit der deutschen CSU zu vergleichen als mit der Muslimbruderschaft. Seit einiger Zeit gibt es eine Debatte in der Muslimbruderschaft darüber, wie es weitergehen soll. Vielen moderaten Kräften gilt die AKP als das Erfolgsmodell, an dem sich die Muslimbruderschaft orientieren sollte. Den Traditionalisten geht das zu weit. Durch die neuen Möglichkeiten nach Mubaraks Sturz, vor allem die Möglichkeit freier Wahlen, ist diese Richtungsdebatte we-


Jubelfeier auf dem Tahrir-Platz nach Mubaraks Rücktritt: Zwei Mal hatten die Anhänger des alten Regimes versucht, den Platz zurückzuerobern. Beide Male wurden sie vertrieben

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eim ersten Protest auf dem TahrirPlatz nach Mubaraks Sturz ging es um höhere Löhne. Wie wichtig sind soziale Fragen in dem Aufstand? Die soziale Dimension ist entscheidend. Der wesentliche Charakter der Bewegung ist demokratisch, die unmittelbaren Forderungen zielten auf das Ende der Diktatur, auf Demokratie. Aber wenn wir uns fragen, warum diese Massenbewegungen überhaupt möglich waren, wo doch die Diktatur schon so lange besteht, dann kommen wir zu sozialen und ökonomischen Faktoren: hohe Arbeitslosigkeit, wachsende soziale Polarisierung, steigende Nahrungsmittelpreise. Die Bewegung begann, nachdem sich ein Mann selbst verbrannt hatte, weil er nicht mehr wusste, wovon er leben sollte.

Entsprechend groß war auch die Rolle der Arbeiterbewegung in den Protesten. In Tunesien waren die unabhängigen Gewerkschaften, zumindest ihr linker Flügel, von Anfang an mit dabei. In Ägypten ist die offizielle Gewerkschaft staatlich kontrolliert, daneben hatten sich aber in der vorhergegangenen Streikwelle Netzwerke linker Gewerkschafter gebildet, die sofort in der Bewegung aktiv wurden. Zwei Tage vor Mubaraks Sturz begann dann eine gewaltige Streikwelle, in der eine ganze Reihe neuer Gewerkschaften gegründet wurden – als Alternative zur Staatsgewerkschaft. Das heißt, die Arbeiterbewegung schafft sich die organisatorischen Mittel, um als Akteur in diesen fortlaufenden revolutionären Prozess eingreifen zu können. Der politische und der soziale Kampf überlagern sich: In Ägypten gibt es bisher noch keine Demokratie, sondern allerlei Ankündigungen und Versprechungen. Dieser Kampf geht also weiter, gleichzeitig zeichnet

sich bereits eine Klassenspaltung in Bezug auf die Forderungen der Arbeiter ab. Das könnte in der Zukunft zur entscheidenden Frage werden.

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ie gehen die neuen Herrscher mit den sozialen Forderungen um? Es gab einige Zugeständnisse, aber generell stehen die Zeichen auf Konfrontation. In Ägypten hat das Militär die Streiks als Sabotage bezeichnet und ist mit Gewalt gegen Streikende vorgegangen. Unterstützt wurde es dabei von den Muslimbrüdern. Gewünscht ist ein »geordneter Übergang«, das heißt eine etwas demokratischere Fassade, hinter der Ausbeutung und die daraus resultierende soziale Ungleichheit weiterbestehen. Das Militär besitzt selbst viele Unternehmen und hat daher kein Interesse an einer erfolgreichen Arbeiterbewegung. Vielen aktiven Arbeiterinnen und Arbeitern ist das klar, sie versuchen sich deshalb entsprechend vorzubereiten, indem

SCHWERPUNKT Arabische Revolution

sentlich schärfer geworden – eine Spaltung deutet sich an. An deren Ende wird wohl die Gründung einer AKP-ähnlichen muslimisch-konservativen Partei stehen, als Abspaltung von der Muslimbruderschaft.

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© Mai Shaheen

Die Bewegung tritt für eine weitreichende Demokratisierung der ägyptischen Gesellschaft an. Militär und Muslimbrüderschaft wünschen sich hingegen so wenig Veränderung wie möglich

sie gewerkschaftliche Organisationen im Betrieb aufbauen und diese zunehmend vernetzen und zentralisieren – deshalb die Gewerkschaftsgründungen.

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u sagst, die Linke hat Rückenwind. Davon hören wir hier aber nichts. In Ägypten gab es in den letzten Jahren eine Streikwelle von historischem Ausmaß, mit hunderttausenden Teilnehmern. Hat die deutsche Presse davon berichtet? Ich vermute wenig bis gar nichts. Die Medien konzentrieren sich auf das, was ihnen passt, nicht darauf, was uns interessieren würde. Tatsache ist, und das gilt insbesondere für Tunesien, dass die radikale Linke in dem Aufstand eine entscheidende Rolle spielte und immer noch spielt. Als andere Kräfte sich nach dem Sturz Ben Alis schon mit vagen Versprechungen zufrieden gaben und sich aus der Bewegung zurückzogen, hat die Linke weiter Druck ausgeübt, Proteste organisiert und Ben Alis Nachfolger zum Rücktritt gezwungen sowie die Auflösung von Ben Alis Partei durchgesetzt. Jeder in Tunesien weiß Bescheid über die Rolle der Linken – dass hier nicht darüber berich-

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Nach der Revolution ist das Militär mit Gewalt gegen Streikende vorgegangen

tet wird, ist also kein Zufall, sondern bewusstes Vorgehen. In Ägypten ist die Lage noch nicht so weit gediehen – das Militär hofft, ohne größere Regimeänderungen weitermachen zu können. Es wird dabei von der Muslimbruderschaft unterstützt, die nach Mubaraks Sturz faktisch aus der Oppositionsbewegung ausgestiegen ist. Aber auch hier ist die Linke an vorderster Front und kämpft gemeinsam mit den Liberalen für demokratische Forderungen, hält aber auch gleichzeitig Tuchfühlung mit der sich neu organisierenden Arbeiterbewegung und bringt soziale Forderungen ein. Jeder, der in der Bewegung in Ägypten organisiert ist, kennt die linken Aktivisten von den Diskussionen in den gemeinsamen Komitees. Natürlich steht der Einfluss der linken Gruppen in keinem Verhältnis zu ihrer Größe – sie sind wie Ameisen verglichen mit dem Elefanten der Muslimbruderschaft. Doch bekanntlich können ja Ameisen ein Vielfaches ihres Körpergewichtes tragen. Der Aufstand im arabischen Raum hat jedenfalls die Möglichkeiten für den Aufbau einer neuen Linken wesentlich verbessert. Die Fragen stellte Stefan Bornost


»Deutschland hat massive Interessen in der Region« Für den Westen war der libysche Diktator Gaddafi erst ein Schurke, dann ein enger Verbündeter. Nun gilt er wieder als Schurke. Das ist keine politische Irrfahrt, sondern konsequente westliche Interessenpolitik, meint der Nordafrikaexperte Werner Ruf im Gespräch mit marx21 erner, vor der westlichen Intervention in Libyen standen die Rebellen am Rande der Niederlage. In Ägypten und Tunesien hingegen gelang es der Bewegung, das Regime zu stürzen. Warum verlaufen die Dinge in Libyen anders? Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Zum ersten sind Ägypten und Tunesien recht entwickelte Gesellschaften, die relativ breite Mittelschichten haben und auch eine nationale Identität. All das hat es in Libyen nie gegeben. Die Wertschöpfung in dem Land haben im Wesentlichen tausende Gastarbeiter besorgt, die Bevölkerung wurde mit Leistungen aus den erwirtschafteten Profiten ruhiggestellt. Das ist ein erheblicher Unterschied zu Ägypten und Tunesien, wo die organisierte Arbeiterschaft eine zentrale Rolle in der Bewegung gespielt hat. Zudem ist Libyen eine Stammesgesellschaft mit großen regionalen Spaltungen. Die Großprovinz Tripolitanien, in der auch die Hauptstadt Tripolis liegt, ist durch gut tausend Kilometer Wüste von der Kyrenaika im Osten getrennt. In der Kyrenaika hat immer der Sufi-Orden der Sanussiya eine große Rolle gespielt – von dort entstammte der Anfang der 1950er Jahre von den Briten eingesetzte König Idris I. Der dritte Landesteil Fessan in der Sahara ist kulturell und politisch schon wieder ganz anders geprägt. Diese Widersprüche hat auch Gaddafi nicht aufgelöst, im Gegenteil: In der Phase des Niedergangs seiner Herrschaft vor der Intervention hat er sich mehr und mehr auf seine Stammesangehörigen und darin auf bestimmte Clans

Werner Ruf

Werner Ruf war bis zu seiner Pensionierung Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Er hat viele Jahre in Nordafrika gelebt und geforscht.

konzentriert, um seine Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Folge war, dass mehr Ressourcen an seinen Stamm umgelenkt wurden, was natürlich weniger für alle anderen bedeutete. Dadurch entwickelte sich das bestehende regionale Gefälle auch zu einem sozialen Gefälle. Das wesentliche Merkmal des Aufstandes in Libyen ist, dass diese regionalen Spaltungen aufbrechen – während in der Bewegung Ägypten gerade die Einheit über Bevölkerungs- und Religionsgruppen hinweg ihre Dynamik verliehen hat.

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er venezolanische Präsident Hugo Chavez hatte anfangs die Rebellen als Marionetten des Westens bezeichnet. Lag er richtig? Nein, das denke ich nicht, ich kann aber nachvollziehen, woraus sich diese These nährt. Nehmen wir die französische Außenpolitik mit ihren atemberaubenden Wendemanövern in den letzten Wochen: Kurz vor Ausbruch der Aufstände war Gaddafi noch bester Freund, dem man jede mögliche Unterstützung zusagte. Keine vier Wochen später droht Frankreich damit, ihn allein anzugreifen und erkennt als erster Staat die Gegenregierung der Rebellen in Bengazi an – das alles, ohne dass die Regierung in Frankreich gewechselt hätte und ohne dass man genau wüsste, wer die Rebellen wirklich sind.

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tichwort Interessen: Frankreich und Deutschland streiten über den Umgang mit Gaddafi. Was ist der Hintergrund für die Differenzen? Differenzen gibt es nicht nur zwischen Frankreich und Deutschland, sondern auch zwischen Frankreich und den USA. Der US-Verteidigungsminister Robert Gates ist wesentlich zurückhaltender aufgetreten als Sarkozy. Die USA haben zwei Kriege in Irak und Afghanistan am Hals und schienen bis kurz vor der Verabschiedung der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats nicht willens, eine dritte Front aufzumachen, vor allem nicht mit Bodentruppen. Die Bundesregierung orientierte sich anfänglich an den USA und wollte angesichts der Schwierigkeiten des Afgha-

SCHWERPUNKT Arabische Revolution

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nistan-Krieges auch keine weitere Front eröffnen. Außerdem fanden gerade mehrere Landtagswahlen statt.

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addafi galt im Westen lange Zeit als Schurke, dann wurde er zum Bündnispartner des Westens. Welche Interessen steckten dahinter? Gaddafi war immer schwer berechenbar und hat dadurch eine Annäherung des Westens an ihn lange Zeit schwierig gemacht. Doch letztendlich siegten dann die gemeinsamen Interessen. Gaddafi will Öl und Gas verkaufen, Europa liegt in direkter Nachbarschaft und braucht Öl und Gas. Gaddafi will Waffen für Milliarden kaufen, die EU-Staaten produzieren Waffen und wollen sie verkaufen. Und schließlich will die EU keine Flüchtlinge aus Afrika und Gaddafi (wie auch die anderen Maghreb-Staaten) kann gegen entsprechendes Entgelt dafür sorgen, dass die Flüchtlinge in Wüstenlagern landen, anstatt nach Europa überzusetzen. Das sind starke Motive für eine Kooperation, die dann auch intensiv betrieben wurde.

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ibt es eine ausformulierte EU-Strategie gegenüber Nordafrika? Ja, eine solche Strategie gab es unter dem Namen »Barcelona-Prozess«. Drei Ziele sollten erreicht werden: wirtschaftli-

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»Die EU schließt Abkommen mit Nordafrika, die Unterentwicklung und soziale Polarisierung verschärfen«


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ber arme und kaum entwickelte Länder können doch jede Investition gebrauchen. Wäre es nicht fahrlässig, wenn ein so großer Wirtschaftsraum wie die EU seinen Nachbarländern nicht unter die Arme greift? Die Frage ist, wie unter die Arme gegriffen wird. Wenn wir uns die jeweiligen Assoziierungsabkommen, zum Beispiel mit Tunesien und Marokko, anschauen, dann stellen wir fest: Westliche Investoren genießen grundsätzlich 20 bis 25 Jahre Steuerfreiheit, sie können die Gewinne steuerfrei in ihre Herkunftsländer überweisen, während der Gaststaat alle Kosten für Infrastruktur wie Straßen, Elektrik und Abwasser trägt. Das sind natürlich Bedingungen,

die die einheimische Wirtschaft nicht hat, deshalb kein Kapital akkumulieren kann und von der westlichen Konkurrenz verdrängt wird. Das sind Bedingungen, die zwangsläufig die Unterentwicklung und soziale Polarisierung vorantreiben. Die EU möchte diese Entwicklung fortsetzen. Schlimmer noch: Der Vertreter einer deutschen politischen Stiftung in Tunis hat nach dem Umsturz sogar zusätzliche Unterstützung gefordert, damit deutsche Unternehmen »unter diesen Bedingungen« im Land bleiben können. Eine andere Seite der Assoziierungs­ abkommen betrifft die Landwirtschaft: Selbstverständlich hat die EU-Agrarlobby durchgesetzt, dass hohe Hürden für den Import von Agrarprodukten aufgebaut wurden, um keine Konkurrenz insbesondere zu Produzenten in Spanien, Italien und Griechenland aufkommen zu lassen. Das betrifft vor allem Olivenöl und Zitrusfrüchte. Ein altes Muster: Wenn es um die Eroberung anderer Märkte geht, wird der Freihandel hochgehalten, gleichzeitig aber der eigene Markt abgeschottet.

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er Westen hat lange Zeit den tunesischen Diktator Ben Ali und auch Husni Mubarak in Ägypten gestützt, dann aber die Revolutionen begrüßt. Jetzt rückt der US-Verbündete Sau-

di-Arabien in Bahrain ein, um den König gegen die Demokratiebewegung zu unterstützen. Gleichzeitig wird Libyen mit dem Argument angegriffen, die Bewegung zu schützen. Sind die westlichen Regierungen einfach planlos und überfordert? Sie sind weder planlos noch überfordert, sondern konsequent. Auf der einen Seite gibt es befreundete Regime, die sie um jeden Preis halten wollen und von denen sie meinen, dass sie zu halten sind – beispielsweise auf der arabischen Halbinsel. Gleichzeitig reift unter den westlichen Regierungen die Erkenntnis, dass die Art von Repression, wie sie in Ägypten und Tunesien stattgefunden hat und in Libyen stattfindet, den Druck im Kessel so ansteigen lässt, dass er irgendwann explodiert – mit unkalkulierbaren Folgen für den Westen. Deshalb wird jetzt versucht, in Staaten, in denen man Ansätze dafür sieht, über einige rechtsstaatliche Reformen ein Ventil einzubauen, um die Explosion zu verhindern. Das betrifft Jordanien, Marokko, Algerien und in einem gewissen Maß auch Saudi-Arabien. Hinter der renovierten Fassade soll es wirtschaftlich genauso weitergehen wie bisher.

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ie US-Regierung ist bekanntlich sehr von den Rohstofflieferungen aus Nahost abhängig – Deutschland bezieht seine Energie hauptsächlich aus Russland und setzt zudem auf erneuerbare Energien. Ist die Bundesregierung deshalb ein ehrlicher Makler ohne Interessen in der Region? Nein. Auch Deutschland hat massives Interesse an Öl- und Gaslieferungen aus Libyen und Algerien. Dazu ist die Bundesrepublik zusammen mit Frankreich Führungsmacht der EU und als solche auch Architekt sowohl der bereits skizzierten Wirtschaftspolitik in der Region als auch des Projekts Flüchtlingsabwehr, die umso besser funktioniert, je repressiver die kooperierenden nordafrikanischen Regime sind. Andererseits hat die irrlichternde Politik des französischen Staatspräsidenten und die relativ zurückhaltende Politik der Bundesregierung einen bemerkenswerten Riss in der gemeinsamen europäischen Außenpolitik, und auch innerhalb der NATO, entstehen lassen. Wie dauerhaft der sein wird, bleibt abzuwarten. Die Fragen stellte Stefan Bornost

© Carlos Latuff

SCHWERPUNKT Arabische Revolution

che Kooperation, Sicherheit und kulturelle Zusammenarbeit – wobei diese Akzente von den Vertragspartnern jeweils unterschiedlich gewichtet wurden. Der Prozess ist letztendlich an der Einbindung Israels und den Unverträglichkeiten der israelischen Politik mit den Positionen einiger arabischer Länder gescheitert. Geblieben aber ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Tunesien, Marokko und Ägypten sind so zu verlängerten Werkbänken des ausländischen Kapitals geworden.

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© montage marx21

Falsche Freunde der Revolution Mit NATO-Bomben zur Demokratie? Warum der Einsatz des Militärbündnisses der Oppositionsbewegung in Libyen einen Bärendienst erweisen könnte Von Stefan Ziefle arum fällt es uns in Deutschland so schwer einzusehen, dass man den Revolutionären in Libyen helfen musste, weil insbesondere in Bengasi ein Blutbad drohte?«, fragt der GrünenPolitiker Daniel Cohn-Bendit. Und fügt gleich noch einen Vergleich mit der Niederschlagung des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto durch die deutsche Wehrmacht im Jahr 1943 an. Das scheinbar linke Argument lautet, nur ein Militärschlag der NATO könne ein Massaker verhindern. Kriegsgegner werden als Kollaborateure oder »nützliche Idioten« dargestellt. Wenn der französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy, der sich brüstet, Frankreichs Präsident Sarkozy von der Notwendigkeit der Intervention überzeugt zu haben, Deutschland im Welt-Interview »Neopazifismus« vorwirft, klingt das in dem Zusammenhang fast wie »Neofaschismus«. In Libyen hat eine Revolte stattgefunden, die von einfachen Leuten getragen wurde. Die Bewegung richtete sich gegen die Diktatur Gaddafis und sei-

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ner Clique. Anders als in Tunesien und Ägypten ist es der Bewegung bisher jedoch nicht gelungen, flächendeckend die Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen. Besonders die Schwäche der Bewegung in der Hauptstadt Tripolis und das Ausbleiben eines Generalstreiks lassen dem Staatsapparat Spielraum zur Unterdrückung. Weil aber gleichzeitig Flügel des Establishments und des Militärs sich auf die Seite der Revolution gestellt haben, nimmt diese den Charakter eines Bürgerkriegs an. Das macht die Revolte nicht weniger legitim. In diesem Krieg gibt es zivile Opfer – aber für ein Blutbad, Massaker oder gar einen rassistisch motivierten Massenmord wie in Warschau 1943 gibt es keine Hinweise. Und es ist nicht ersichtlich, inwiefern die Bomben der NATO die Anzahl der Toten verringern könnten. Dass nur eine Armee den Kriegs beenden könnte, ist reine Propaganda. Ausnahmsweise hat Außenminister Guido Westerwelle recht, wenn er sagt, dass nicht alle diplomatischen und politischen Mittel ausgenutzt worden sind, um eine militärische Es-


Krieg zu rechtfertigen. Nach den Erfahrungen mit dem Kosovo, dem Irak und mit Afghanistan ist das politisch ein weiterer Durchbruch der Kriegsbefürworter, ein Präzedenzfall für zukünftige koloniale Kriege. Das betonte auch bereits erwähnter Lévy im Gespräch mit der britischen Tageszeitung Guardian: »Das Wichtige an der ganzen Sache ist, dass die Pflicht zur Einmischung (in die Angelegenheit souveräner Staaten, Anm. d. Red.) anerkannt wurde. Zum ersten Mal wurde dieses Konzept von der Arabischen Liga, der Afrikanischen Union und dem UNSicherheitsrat unterstützt. Das ist eine echt große Sache.«

Die Kooperation mit der NATO schwächt die Bewegung

Die NATO ist kein Freund der Revolution. Der italienische Außenminister Franco Frattini warnte angesichts der Bewegung in Libyen vor Islamisten. Gerüchte kursierten und kursieren immer noch über angebliche Al-Qaida- und HisbollahAktivisten, die dort aktiv sein sollen. Vor allem die Basisaktivisten aus der Ölregion um Bengasi waren dem Westen suspekt. Der britische Geheimdienst entsandte im Februar Agenten in die Region, wie die britische Regierung nach Angaben der Tageszeitung Sun zugab, um die Bewegung auszuspionieren und Kontakte zu »gemäßigten« Flügeln zu knüpfen. Die NATO-Staaten versuchen, die Rebellen für ihre eigenen Ziele einzuspannen. Das Militärbündnis ist eben nicht die Luftwaffe der Revolution. Im Gegenteil wird versucht, die Rebellen zu den Bodentruppen der NATO zu machen. Dabei geht es nicht um den Sieg der Revolution. Denn trotz aller Differenzen in den Kriegszielen sind sich alle NATO-Staaten in einem Punkt einig: Der revolutionäre Prozess in der arabischen Welt soll gestoppt beziehungsweise in sichere Bahnen gelenkt werden. Garant dafür muss aus ihrer Sicht die NATO sein, am besten mit direktem Truppeneinsatz. Deswegen erhält das Militärbündnis ein Gleichgewicht der Kräfte aufrecht. Bis heute weigert sich der Westen, die wesentliche Forderung der Aufständischen nach Waffenlieferungen zu erfüllen. Unmittelbar nach Beginn des NATO-Angriffs kamen die Rebellen in die Offensive. Daraufhin schränkte die »Koalition der Willigen« ihre Luftangriffe wieder ein und ermöglichte der libyschen Armee eine Gegenoffensive. Deswegen hat das Militärbündnis auch kein Problem damit, im Fall Libyen gemeinsame Sache mit Saudi-Arabien, Jordanien und Katar zu machen – allesamt Staaten, die derweil damit beschäftigt sind, ihre eigene Bevölkerung zu unterdrücken. SaudiArabien hat zudem gerade Truppen nach Bahrein geschickt, um dort die Demokratiebewegung niederzuschießen. Wieder einmal wurde eine drohende »humanitäre Katastrophe« als Vorwand gebraucht, um einen

Für die Bewegung in Libyen ist die Militärintervention hingegen katastrophal. Journalisten der Nachrichtenagentur dpa berichteten Ende März aus der Region: »Bewohner der Hauptstadt Tripolis beobachteten, dass sich einige Bürger nach den Luftangriffen der vergangenen Nächte stärker als vorher mit dem Regime solidarisieren.« Die Kooperation mit der NATO schwächt die Bewegung und wird sie noch abhängiger vom Westen machen. Das stärkt wiederum jene Kräfte, die nur einen Austausch der Regierung, nicht aber echte politische und soziale Veränderung wollen. Als Ergebnis des NATO-Angriffs besteht die Gefahr einer Teilung Libyens. Dann würde es zwei westlichorientierte Diktaturen geben, eine mit Gaddafi im Westen und eine mit NATO-Truppen (und den wesentlichen Ölvorkommen) im Osten. Weil die Bewegung in Libyen zu schwach war, Gaddafi zu stürzen, ist sie in eine bedauerliche Lage geraten. Die staatliche Unterdrückung hat sie trotz ihrer politischen Schwäche zum bewaffneten Aufstand getrieben. Angesichts der militärischen Niederlage hat sich ein Flügel der Bewegung der NATO zugewandt und hofft auf echte Unterstützung. Selbst wenn diese Rechnung aufgeht, werden nur eine Handvoll Vertreter der Bewegung davon als libysche Karsais profitieren, als neue, vom Westen abhängige Diktatoren. Wenn Revolutionen scheitern, dann mit allen blutigen Folgen, die das hat. Trotzdem sind sie der einzige Weg zur Befreiung. Es gibt keine Abkürzung über die NATO. Und nur die Libyer selbst können die Revolution machen. Aber es gibt Möglichkeiten für uns, ihnen dabei zu helfen: Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Regierungen den revolutionären Prozess nicht mit Waffengewalt ersticken. Vor allem dürfen wir uns nicht zu Handlangern der westlichen Regierungen machen, die alles daran setzen werden, eine wahre Befreiung zu verhindern. ←

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Stefan Ziefle ist Mitglied im Sprecherrat der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik der LINKEN.

SCHWERPUNKT Arabische Revolution

kalation zu vermeiden. Beispielsweise wäre es möglich gewesen, durch Wirtschaftssanktionen Druck auf Gaddafi auszuüben. Doch Italien hat selbst Tage nach Beginn der Bombardierung noch Öl von der libyschen Regierung bezogen. Am 24. März berichtete eine türkische Tageszeitung, dass die türkische Regierung kurz vor Abschluss eines Waffenstillstandsabkommens zwischen Gaddafi und den Rebellen gestanden habe. Dann begann der militärische Eingriff.

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18 Tage die Vorurteile erschütterten

© Sarah Carr

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Sie stellten sich ins Tränengas und warfen Steine gegen Mubaraks Schergen. Frauen spielten eine zentrale Rolle in der ägyptischen Revolution. Viele Männer sehen sie nun mit anderen Augen Von Gigi Ibrahim

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Gigi Ibrahim ist Sozialistin und Bloggerin aus Kairo. Sie war von Anfang an an den Protesten am Tahrir-Platz beteiligt.

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iskriminierung und sexuelle Belästigung von Frauen sind fest in der ägyptischen Alltagskultur verankert. Überall und ständig werden wir angemacht. Unterwegs zum Supermarkt oder zur Uni habe ich es erlebt. Allen Frauen, unabhängig von ihrem Alter und ihrer Kleidung, ist das schon passiert. Doch seit Beginn der Revolution ist es anders. Während der 18 Tage, die ich auf dem Tahrir-Platz verbrachte, wurde ich kein einziges Mal sexuell belästigt. Zu Tausenden schliefen wir in Zelten, häufig lagen wir neben Fremden. Es war jedoch, als ob wir alle alte Freunde, eine große Familie waren. Ich fühlte mich vollkommen sicher. Wir teilten uns das Essen und Wasser, wir achteten uns gegenseitig. Es war gänzlich anders als vorher. Wenn man sich auf dem Tahrir-Platz umsah, entdeckte man Menschen aus allen Lebenslagen: Arme, Mittelständler, Männer, Frauen mit und ohne Kopftuch, Muslime und Christen. Gemeinsam stellten wir unsere Forderungen. Sie vereinigten die gesamte Bewegung. Während der Tage der Revolution waren Frauen den Männern gleichbe-

rechtigt. Wir Frauen spielten eine zentrale Rolle bei den Protesten. Frauen beteiligten sich Tag für Tag an der Organisation der Proteste. Wir demonstrierten, wir bekämpften die Polizei, wir stellten uns dem Tränengas und den Kugeln. Ich selber wurde von einem Gummigeschoss im Rücken getroffen. Der Tag, an dem Mubaraks Schergen uns auf Kamelen und Pferden überfielen, war grausam. Aber viele Frauen beteiligten sich an der Verteidigung des Platzes. Manche halfen, die Verwundeten zu versorgen, andere behielten die verschiedenen Zugänge zum Platz im Blick, so dass sie die Protestierer rechtzeitig warnen konnten, woher die Angriffe kamen. Andere Frauen wiederum nahmen ganz unmittelbar an den Kämpfen teil. Sie rissen Pflastersteine aus der Straße und zerkleinerten sie, um sie als Wurfgeschosse gegen die angreifenden Schergen mit ihren MolotowCocktails und Maschinengewehren zu schleudern. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass ägyptische Frauen sich politisch betätigen. In den Streiks und Protesten in den vergangenen Jahren haben wir eine Schlüsselrolle gespielt und auch so manchen


Die Revolution hat gezeigt, was sich verändern kann, wenn Menschen kollektiv handeln

ten wurde diese Spaltung vom autoritären Regime lange Jahre absichtlich geschürt, so dass die Herausforderungen hier noch größer sind. Die Revolution hat gezeigt, was sich verändern kann, wenn Menschen kollektiv handeln. Allerdings ist der Kampf um Gleichberechtigung noch lange nicht am Ziel angelangt. Am Internationalen Frauentag erschien eine Gruppe von Männern und rief: »Das Volk verlangt die Entfernung der Frauen« vom Tahrir-Platz. Viele glaubten, dass diese Männer von der Staatssicherheit seien. Denn seit Beginn der Revolution haben Geheimagenten der Polizei stets versucht, die Einheit der Bewegung zu brechen und uns gegeneinander aufzuhetzen. Aber

selbst wenn die Männer nicht der Geheimpolizei angehörten, überrascht ihre Forderung nicht. Vielmehr mahnt uns dieses Beispiel, dass es noch viele Menschen in Ägypten gibt, die die Erfahrung vom Tahrir-Platz nicht gemacht haben – die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes und der gemeinsamen Organisation, jene Erfahrung, die Menschen verändert. Der Angriff auf die Proteste der Frauen spiegelt eine Haltung gegenüber Frauen wider, die im Staatsapparat weiterhin fest verankert ist. Beispielsweise hat das Übergangskomitee, das beauftragt ist, eine neue Verfassung zu erarbeiten, kein einziges weibliches Mitglied. Es wird länger als 18 Tage dauern, bis die Frauenunterdrückung in Ägypten ein Ende hat. Aber wir werden keinen Schritt zurückweichen. Wir können für unsere eigene Befreiung kämpfen und sie auch erreichen. Die Revolution ist ein Prozess, der jeden Tag neue Streiks und Proteste hervorbringt. Wir müssen den Kampf fortsetzen und sicherstellen, dass Frauen an vorderster Front ihren Platz einnehmen. ←

Internationaler Frauentag am 8. März: Auf dem Tahrir-Platz demonstrieren Tausende Frauen und Männer für Gleichberechtigung

© Al Jazeera English

SCHWERPUNKT Arabische Revolution

Streik angeführt. Frauen wurden genau so wie die Männer von der Polizei verhaftet und zusammengeschlagen. Dennoch sitzen manche Spaltungen in der Gesellschaft so tief, dass man sie nicht ohne weiteres überwinden kann. Auch in den so genannten fortschrittlichen Ländern wie den USA und Deutschland sind Frauen noch lange nicht gleichberechtigt. In Ägyp-

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Von Gleichschritt keine Spur Todfeind oder Waffenbruder? Im arabischen Frühling steht das Militär in verschiedenen Ländern auf unterschiedlichen Seiten Von Jan Maas ★ ★★

Jan Maas ist Online-Redakteur von marx21.de.

egensätzlicher könnten die Szenen kaum sein. Auf einem Platz klettern Kinder auf Panzern herum. Jugendliche Demonstranten malen Parolen darauf, während die Besatzung, die kaum älter ist, scheu in die Kamera lächelt. So geschehen in Ägypten im Februar. Anderswo beschießen Kriegsflugzeuge schlecht bewaffnete, schutzlose Aufständische. Panzer und Artillerie folgen, viele sterben, die Ärzte in den befreiten Gebieten haben alle Hände voll zu tun. So geschehen in Libyen im März. An beiden Szenen ist das Militär beteiligt. Sowohl in Ägypten als auch in Libyen revoltiert die Bevölkerung gegen einen Diktator. Und doch handelt die Armee in beiden Ländern völlig gegensätzlich. Der Grund: Die Bewegungen sind unterschiedlich. Der Sturz Mubaraks in Ägypten hat eine lange Vorgeschichte. Trotz staatlicher Unterdrückung gab es in der Vergangenheit Proteste der Bevölkerung. Demonstrationen zur Unterstützung der palästinensischen Intifada im Jahr 2000 konnte das Regime ebenso wenig verhindern wie gegen den US-Angriff auf den Irak 2003. Immer wieder streikten Arbeiter in verschiedenen Branchen. Wiederholt wehrten sich die Ägypter gegen steigende Preise für Lebensmittel, vor allem Brot. Husni Mubarak hatte seit 1991 im Bündnis mit dem Internationalen Währungsfonds Staatsbetriebe privatisiert und verschiedene Subventionen gestrichen. In der Folge stiegen Arbeitslosigkeit und Lebenshaltungskosten. Auch in den Familien der Soldaten. Schließlich fuhren die einen die Panzer auf den Tahrir-Platz, während sich die anderen vor ihnen auf die Straße setzten. Selbst Offiziere liefen dann zu den Demonstranten über. Auch in Libyen hat die Opposition eine lange Tradition. Bereits 1976 gab es große Demonstrationen von Studierenden. Sie protestierten, weil Gaddafi die un-

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abhängigen Studentenvereinigungen verboten hatte. Zuletzt blitzte der Widerstand gegen das Regime im Jahr 2006 auf. Damals gingen tausende Libyer in Bengasi gegen die Mohammed-Karikaturen auf die Straße – und nutzten die Gelegenheit, um auch gegen Gaddafis Regime zu protestieren. Doch stets unterdrückte die Polizei den Widerstand gewaltsam. Denn der libyschen Opposition hat bisher die selbstbewusste Massenbasis gefehlt, die die Revolution in Ägypten zum Erfolg geführt hat. Gaddafi setzt den Reichtum des Landes geschickt ein. Mit den Öleinkünften sichert er sich die Loyalität des Staatsapparats, des Militärs und verbündeter Clans. Unter der Bevölkerung gibt es aber durchaus Potenzial für Widerstand: Obwohl das libysche Pro-Kopf-Einkommen ungefähr dreimal so hoch ist wie in Ägypten, liegt die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent.


© Ahmed Al-Hilali

Während der Revolten in Ägypten und Tunesien stellten viele Soldaten die Loyalität zu ihren Familien über die zu ihren Offizieren

Während also in Libyen Soldaten und Polizisten bislang nur vereinzelt zu den Protesten übergelaufen sind, hatten die Revolten in Tunis und Kairo durch ihre soziale Zusammensetzung eine Kraft erreicht, die das Militär entlang der Klassenlinien spaltete und somit lähmte. Wie in jeder Armee rekrutieren sich die einfachen Soldaten in Ägypten aus der Arbeiterklasse. Die Wehrpflicht ist nach Bildungsstand gestaffelt: Drei Jahre für Männer, die nur die Grundschule besuchen konnten, zwei Jahre für Mittelschüler, ein Jahr für Abiturienten, die ungefähr ein Fünftel stellen. Die meisten Soldaten haben Armut und Arbeitslosigkeit erfahren, hegen vielleicht Sympathien für die Opposition. Auf jeden Fall sind sie skeptisch gegenüber den Privilegierten, die die Kontrolle über Armee und Gesellschaft ausüben.

SCHWERPUNKT Arabische Revolution

Es strengt Soldaten an, die Privilegien der oberen Zehntausend zu verteidigen – vor allem wenn sie gegen Mutter, Vater, Bruder oder Schwester eingesetzt werden

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Dazu gehören die Offiziere. Ein Fünftel der Wirtschaft steht unter Aufsicht der Armee. Ehemalige aktive Offiziere leiten nicht nur Waffenfabriken, sondern auch Wasserwerke und Getreidefarmen, lassen Bekleidung und Brot herstellen. Die Armeeführung sorgt dafür, dass sie sich ihrer Offiziere sicher sein kann. Im Kairoer Stadtteil Heliopolis liegen rund um die Militärakademie Klubs, Tennisplätze, Golfrasen und große Schwimmbäder, Hotels und Tanzpaläste. Zusätzlich kontrollieren drei verschiedene Geheimdienste das Militär und stellen sicher, dass die Offiziere loyal bleiben. Im Alltag bleibt die Klassenspaltung im Militär verborgen. Drill, Disziplin und Ideologie sorgen dafür, dass die Armee ihre Aufgabe erfüllen kann: Soldaten aus der Arbeiterklasse für die Interessen der herrschenden Klasse kämpfen zu lassen. Doch im Zuge der Revolten in Ägypten und Tunesien stellten viele Soldaten die Loyalität zu ihren Familien über die zu ihren Offizieren. Dem Grundpfeiler der Staatsmacht drohte Handlungsunfähigkeit. Um ihn zu retten, kündigten hohe Offiziere Ben Ali und Mubarak die Gefolgschaft.

le waren im Jahr 1973 Offiziere ebenfalls die letzte Hoffnung der Herrschenden. Drei Jahre zuvor hatte Salvador Allende als Kandidat des linken Bündnisses Unidad Popular (UP) die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Er verstaatliche Bodenschätze und verteilte Ländereien der Großgrundbesitzer an Bauern und Kollektive. Bei den Parlamentswahlen 1973 gewann die UP noch hinzu. Mit Unterstützung der US-Regierung stürzte General Pinochet die Regierung, errichtete eine Militärdiktatur und ließ Tausende ermorden. In Portugal dagegen stürzten junge Offiziere 1974 die Militärdiktatur unter Mercello Caetano. Der blutige Krieg gegen die antikolonialen Befreiungsbewegungen in Afrika hatte seit 1961 tausende portugiesische Soldaten das Leben und den Staat immer mehr Geld gekostet. Als Ausweg versprach die Bewegung der Streitkräfte Demokratie, Selbstbestimmung für die Kolonien und wirtschaftliche Entwicklung in Portugal. In der folgenden Revolution besetzten Arbeiter Fabriken und Bauern das Land der Großgrundbesitzer. Doch die Offiziere hatten nicht im Sinn, die Macht der Herrschenden zu brechen, sondern wollten Portugal in einem modernen kapitalistischen Staat umwandeln. Die Revolutionäre scheiterten.

Man muss Soldaten gewinnen, um die militärische Macht eines Regimes zu brechen

Dass so etwas in revolutionären Situationen passieren kann, ist jedoch kein Grund, dem Militär grundsätzlich zu vertrauen. Vielmehr war die Rolle der Armee schon immer von den gesellschaftlichen Umständen abhängig. Als in Russland im Februar 1917 vor allem Frauen gegen Hunger und Krieg streikten und demonstrierten, beschützten Petrograder Soldaten sie vor Angriffen der Polizei. Viele Einheiten, die sich zu dieser Zeit politisierten, spielten eine große Rolle in der Oktoberrevolution und verteidigten massenhaft ihre Errungenschaften im folgenden Bürgerkrieg gegen die alten Generäle und die westlichen Armeen, die die Revolution niederschlagen wollten. Auch in Deutschland ging die Novemberrevolution 1918 von Matrosen und Soldaten aus. Der Aufstand führte zwar zum Sturz des Kaisers, nicht aber des Kapitalismus. Gegen die Massenbewegung organisierten rechtsradikale Offiziere die sogenannten Freikorps. Im Elend nach dem Krieg gelang es ihnen, viele ehemalige Unteroffiziere und Soldaten als Fußtruppen anzuwerben. Die Freikorps zogen in den Jahren 1919 und 1920 von Aufstandsregion zu Aufstandsregion und ermordeten Tausende. In Chi-

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Angesichts der Erfahrungen mit dem Militär in Revolutionen sind die Ägypter gut beraten, sich in ihrem Kampf für Demokratie nicht auf die Armee zu verlassen. Die gewaltsame Räumung des TahrirPlatzes durch Soldaten gab schon einen Vorgeschmack. Die Libyer dagegen würden einen großen Fehler machen, wenn sie Gaddafis Militär komplett abschreiben. Soldaten zu gewinnen ist wichtig, um die militärische Macht des Regimes zu brechen. Doch die Voraussetzung dafür ist, mehr Menschen für die Opposition zu gewinnen. In jeder Revolution liegt der Schlüssel zum Erfolg darin, eine vom Militär unabhängige Massenbewegung aufzubauen, die Wurzeln in der Arbeiterklasse schlägt, damit sich die Armee spaltet. Nur so können Panzer irgendwann zu Museumsstücken werden, auf denen Kinder herumklettern und die Jugendliche mit Parolen bemalen. ←


Riss im Fundament Es war still geworden um die iranische Demokratiebewegung. Doch die arabische Revolution hat ihr neues Leben eingehaucht

ls Ende vergangenen Jahres die Proteste der Demokratiebewegung in Tunesien begannen und sich auf die gesamte Region ausweiteten, war es in den iranischen Straßen seit fast einem Jahr ruhig geblieben. Die letzte große Demonstration hatte am 16. Dezember 2009 stattgefunden. Sie markierte die Endphase einer Protestwelle, die mit der Wiederwahl des populistischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad am 12. Juni angefangen hatte. Seine Hauptgegner, die Reformer Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karrubi, hatten die Regierung der Wahlmanipulation bezichtigt und hunderttausende Iraner waren mit der Parole »Wo ist meine Stimme?« auf die Straße geströmt. Viele der Demonstranten verwendeten die Farbe Grün als Symbol dieser Demokratiebewegung. Unterstützt vom Obersten Rechtsgelehrten Ali Chamenei und den Generälen der Revolutionswächter, beantwortete die Regierung Ahmadinedschad die Proteste mit Gewalt, um sie zu ersticken. Dutzende Menschen wurden getötet und hunderte wurden verhaftet. ←FORTSETZUNG AUF SEITE 50→ © Iman Nabavi

SCHWERPUNKT Die Atomkatastrophe

Von Peyman Jafari

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Peyman Jafari wurde im Iran geboren und lebt seit zwanzig Jahren im niederländischen Exil. Er ist Mitarbeiter am Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam und Autor des Buchs »Der andere Iran«.

Über Monate hinweg zeigten viele Iranerinnen und Iraner großen Mut und boten den paramilitärischen Bassidschi-Milizen und Zivilpolizisten, die die Demonstrationen angriffen, die Stirn. Nachts riefen sie »Allahu akbar« (»Gott ist groß«) und sprühten Parolen wie »Tod dem Diktator« an Hauswände. Als die Regierung es unmöglich machte, Demonstrationen zu organisieren, nutzten die Oppositionellen offizielle Veranstaltungen zum Protest. Eine solche Möglichkeit ergab sich am 16. Dezember 2009, dem Aschura-Tag, an dem schiitische Muslime des Todes von Imam Hussein gedenken. Hussein lebte im 7. Jahrhundert und gilt als religiöse Symbolfigur für den Kampf gegen Ungerechtigkeit. An diesem Tag passierte etwas Wichtiges: Die gewalttätige Niederschlagung der Proteste hatte Teile der grünen Bewegung radikalisiert. Viele Demonstranten riefen Parolen gegen Chamenei und rissen Bilder von ihm herunter. Als sie angegriffen wurden, leisteten sie Widerstand, konnten in vielen Fällen die BassidschiMilizen zurückdrängen und zündeten sogar einige ihrer Motorräder an. Das gab vielen radikalen Aktivisten so viel Selbstbewusstsein, dass sie verkündeten, das Regime könne schon bald gestürzt werden. Einige erwarteten, dass der 31. Jahrestag der iranischen Revolution, der 11. Februar 2010, der Beginn einer neuen revolutionären Erhebung würde. Allerdings organisierte die Regierung an diesem Tag eine eigene Massendemonstration mit hunderttausenden Anhängern, die unter anderem mit Bussen in die Hauptstadt Teheran gebracht wurden. Die Demonstration der grünen Bewegung wurde dadurch an den Rand gedrückt – auch weil kein zentraler Sammelpunkt vereinbart worden war. Hinzu kam, dass die Ereignisse vom 16. Dezember 2009 die Meinungsverschiedenheiten in der Bewegung verschärft hatten – zwischen Radikalen, die das Regime stürzen, und Moderaten, die schrittweise Veränderungen wollen. Viele Vertreter des gemäßigten Flügels gingen an diesem Tag nicht auf die Straße. Während des restlichen Jahres 2010 blieb es relativ ruhig auf den Straßen Irans. Mussawi und Karrubi wurden unter Hausarrest gestellt und viele reformerische Politiker, Journalisten und Intellektuelle verhaftet. Die Regierung und manche Kommentatoren erklärten die grüne Bewegung für beendet. Erst die Revolutionen in Tunesien und Ägypten belebten die Bewegung im Iran wieder. Die Aktivisten organisierten Solidaritätsdemonstrationen mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern. Am 14. Februar gingen in Teheran Zehntausende auf die Straße und riefen Parolen wie »Nach Mubarak und Ben Ali kommt als nächstes Sayyed Ali«, womit sie den Obersten Rechtsgelehrten Chamenei meinten. Die Regierung stellte Mussawi und Karrubi erneut unter Hausarrest und versuchte, die Reformer noch weiter zu isolieren, indem sie Ali Rafsandschani, den

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Vorsitzenden des wichtigen Expertenrats aus dem Amt drängte. Der Expertenrat wählt und kontrolliert den Obersten Rechtsgelehrten. Obwohl die jüngsten Proteste kleiner waren als im Sommer 2009, machten sie deutlich, dass die iranische Demokratiebewegung noch lebendig ist. Gleichzeitig erinnern sie daran, dass die Situation im Iran anders ist als etwa in Tunesien und Ägypten, wo sich die Proteste schnell auf weite Teile der Bevölkerung ausweiteten und so die Diktatoren stürzen konnte. Der Kampf für Demokratie setzt sich im Iran also fort, steht aber vor vielen Herausforderungen.


© Hamed Saber / flickr.com/hamed

Seit Präsident Ahmadinedschad im Jahr 2005 zum ersten Mal gewählt wurde, haben die Revolutionsgarden in Politik und Wirtschaft größeres Gewicht bekommen. Viele militärische Führungsfiguren sind mittlerweile im Parlament, im Kabinett oder in anderen politischen Institutionen vertreten. Zudem hat die Regierung viele privatisierte Unternehmen an die Revolutionsgarden verkauft. Zwei Faktoren stehen hinter dieser Entwicklung: Zum einen ist die islamische Republik seit Beginn der 1990er Jahre wiederkehrenden politischen Krisen ausgesetzt, weshalb sich die Führung des Landes

zunehmend auf ihre militärische Stärke verlässt, um das System zusammenzuhalten. In den ersten zehn Jahren nach der Revolution gab der Krieg gegen den Irak und die Anziehungskraft Ajatollah Chomeinis der herrschenden Klasse einen hohen Grad an Zusammenhalt. Ein populistischer Pakt kam den armen Schichten zugute: Reichtum wurde umverteilt, staatliche Subventionen wurden ausgebaut, Wohlfahrtspolitik sowie mehr Arbeitsplätze und Bildung banden große Teile der Gesellschaft an den Staat. Nach Ende des Kriegs im Jahr 1988 und nach dem Tod von Chomeini entwickelten sich in-

SCHWERPUNKT Arabische Revolution

Der Oppositionskandidat Mir Hossein Mussawi bezichtigte nach den Präsidentschaftswahlen 2009 die Regierung der Wahlfälschung. Daraufhin begann die größte Protestwelle seit der Revolution 1979

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nerhalb der herrschenden Klasse unterschiedliche Auffassungen über politische, wirtschaftliche und religiöse Fragen. Die Hinwendung des Regimes zu einer Politik des freien Markts schuf einerseits eine neue, reiche Klasse, die ihre Privilegien im System zur eigenen Bereicherung nutzte. Die Familie Rafsandschani ist dafür ein typisches Beispiel. Auf der anderen Seite geriet die Arbeiterklasse immer stärker durch niedrige Löhne, befristete Arbeitsverträge und hohe Inflation unter Druck. Paradoxerweise führte die Ausweitung des Bildungssystems und die Verstädterung dazu, dass die sozialen und ideologischen Fundamente des Regimes ausgehöhlt wurden. Diese Entwicklung zeigt sich beispielsweise im Umgang mit der Religion. Zwar sind viele Iraner nach wie vor religiös, sie lehnen es aber ab, von den Behörden vorgeschrieben zu bekommen, wie sie ihre Religiosität praktizieren sollen. Besonders die Jugend – zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre – wehrt sich gegen die konservativen staatlichen Beschränkungen. Dieser soziale Druck führte in den 1990er Jahren zur Bildung einer Reformfraktion, die Veränderungen

Wer übt die Macht aus? Der Oberste Rechtsgelehrte (Revolutionsführer) ist der höchste Repräsentant des Staats und wird vom Expertenrat gewählt. Er ernennt die obersten Richter und ist auch Oberkommandierender der Streitkräfte. Das Amt übten seit der islamischen Revolution bislang nur zwei Personen aus: zunächst Ruhollah Khomeini und seit dessen Tod im Jahr 1989 Ali Chamenei. Der Expertenrat wird alle acht Jahre vom Volk gewählt. Er hat die Aufgabe, den Obersten Rechtsgelehrten zu wählen und zu kontrollieren. Seine 86 Mitglieder werden vom Wächterrat auf ihre Übereinstimmung mit der iranischen Verfassung und den islamischen Lehren überprüft. Bis zum 8. März war der konservative Reformer und Ex-Präsident Ali Rafsandschani Vorsitzender des Expertenrats. Sein Nachfolger ist Mohammad Reza Mahdavi Kani. Der Wächterrat ist Teil der iranischen Regierung. Er besteht aus zwölf Personen, zur Hälfte Geistliche und zur Hälfte Juristen. Die sechs geistlichen Mitglieder werden vom Obersten Rechtsgelehrten direkt ernannt, die Juristen vom Parlament gewählt. Vorsitzender des Wächterrats ist Ahmad Dschannati. Der Präsident ist der iranische Regierungschef. Er wird in allgemeinen Wahlen für eine vierjährige Amtszeit bestimmt. Seit August 2005 übt der ultrakonservative Mahmud Ahmadinedschad dieses Amt aus.

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herbeiführen wollte, ohne das gesamte System zu gefährden. Allerdings entfaltet Politik eine eigene Dynamik, und der politische Kampf zwischen Reformern und Konservativen begann das Gesamtsystem zu destabilisieren. Das verschaffte Studenten, Frauenrechtsaktivistinnen und Arbeitern einen größeren Spielraum für die Organisierung eigener Kämpfe. Als die Konservativen um den Obersten Rechtsgelehrten und die Revolutionsgarden versuchten, diese auseinanderdriftenden Kräfte unter Kontrolle zu bekommen, half ihnen ein weiterer Faktor: die imperialistische Politik der USA und ihrer Verbündeten. Der Reformer Chatami hatte während seiner Präsidentschaft (1997 bis 2005) versucht, bessere Beziehungen zum Westen aufzubauen. Der USamerikanische Präsident George W. Bush schlug ihm nach den Attentaten vom 9. September 2001 sprichwörtlich die Tür vor der Nase zu und zählte das Land fortan zur »Achse des Bösen«, obwohl jeder wusste, dass der Iran mit den Angriffen nichts zu tun hatte. Nach dem US-amerikanischen Überfall auf Afghanistan und den Irak wuchs bei der Führung der Revolutionsgarden die Angst vor einem Krieg. Wie Bush später in seiner Autobiografie zugab, war das auch das eigentliche Ziel seines Vorgehens. Der Iran war von US-amerikanischen Truppen eingekreist, auch nördlich in den ehemaligen Sowjetrepubliken und südlich im Persischen Golf waren sie stationiert. Die Führung der Revolutionsgarden befürchtete daher, dass politische Instabilität den Feinden im eigenen Land helfen könnte. Sie nutzten die Kriegsdrohung und die – auch unter der Regierung Obama fortgeführten – Wirtschaftssanktionen, um ihre eigene Position zu stärken. Sie heizten nationalistische Stimmungen an, um eine Einheit gegen fremde Mächte zu schmieden. Entsprechend ist der Kampf für Demokratie im Iran das größte Opfer der US-amerikanischen Wirtschaftssanktionen und Kriegsdrohungen. Die Macht der Revolutionsgarden, der etwa eine Million Mitglieder der paramilitärischen Bassidschi-Miliz zur Verfügung stehen, ist ein echtes Hindernis für den Fortschritt der iranischen Demokratiebewegung. Allerdings war die Zahl der Toten während der Proteste im Jahr 2009 wesentlich geringer als in Tunesien und Ägypten. Gewalt kann also nicht die einzige Erklärung dafür sein, dass sich das Regime von Ahmadinedschad halten kann und die Proteste im Iran sich noch nicht zu einem revolutionären Umsturz entwickelt haben. Es gibt eine Reihe weiterer Gründe: Erstens konnten sich in Tunesien und Ägypten die verschiedenen Oppositionsgruppen auf Angriffe gegen die Diktatoren einigen. Im Iran ist das anders. Dort sind die Machtstrukturen zersplitterter.


Obwohl der Oberste Rechtsgelehrte im Zentrum der Herrschaft steht, spielen auch der Präsident und das Parlament eine wichtige Rolle. Derzeit gibt es unter denen, die sich für Veränderungen einsetzen, keinen Konsens darüber, dass ein politischer Angriff auf Chamenei der nächste Schritt sein sollte. Manche halten das für nicht erstrebenswert, während andere es für nicht realistisch halten. Aus diesem Grund sollte die Demokratiebewegung das schwächste Glied in der Führungskette ausmachen und ihre Angriffe darauf konzentrieren, um größeren Spielraum für radikale Veränderungen zu erlangen. Zweitens handelt es sich bei der gegenwärtigen Krise nicht einfach um eine Konfrontation zwischen einem monolithischen Staat und der Gesellschaft. Es gibt im Staat und in der Gesellschaft viele Spaltungen, und beide sind auf verschiedene Weise miteinander verwoben. Während die herrschenden Gruppen um Mubarak und Ben Ali verhältnismäßig klein waren, stützt sich das iranische Regime auf wesentlich größere Kreise, die das System aufrechterhalten. Es handelt sich vor allem um höhere Posten in der Bürokratie und im Militärapparat. Wie schon beschrieben, schuf die Islamische Republik nach der Revolution von 1979 ihre eigene soziale Basis. Diese ist zwar erodiert, aber noch längst nicht verschwunden. Zudem ist es den Populisten um Ahmadinedschad in den letzten acht Jahren gelungen, sich eine eigene Wählerbasis zu verschaffen. Zwar standen auch in Ägypten und Tunesien Teile der Bevölkerung hinter Mubarak und Ben Ali, sie waren aber nicht nur zahlenmäßig geringer, sondern blieben auch weitgehend passiv. Im Iran kann der Staat seine Anhänger mithilfe verschiedener Institutionen mobilisieren. Die Revolutionsgarden und die Bassidschi-Milizen bieten Armen Arbeit, Bildung und Aufstiegschancen. Viele Iraner hängen auch von der finanziellen Unterstützung ab, die sie von Organisationen wie der »Stiftung der Unterdrückten« erhalten. Aus diesem Grunde gehört zu einer erfolgreichen Strategie die Schaffung von Organisationen und Netzwerken, die in der Lage sind, die Opposition zu mobilisieren und einen Großteile der Bevölkerung sowie Anhänger der Regierung zu gewinnen. Drittens ist die Opposition in verschiedene Strömungen gespalten. Manche setzen sich für eine Fundamentalopposition gegen das gesamte System ein, andere nur gegen Teile des Systems.

Noch entscheidender ist, dass der organisatorische Kern der Bewegung sehr stark von der städtischen Mittelschicht beherrscht ist. Diese hat mit rechten Kräften wie Rafsandschani zusammengearbeitet, den viele in der Arbeiterschaft wegen seiner Korruptheit und seines immensen Reichtums verabscheuen. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter leiden unter Arbeitslosigkeit und hoher Inflation. Sie sind aber nicht davon überzeugt, dass wirtschaftliche Veränderungen unter einer Reformführung ihre Lebensqualität verbessern würde. Sie erinnern sich an die Begeisterung, mit der Rafsandschani und Chatami die Politik des freien Marktes einführten. Deshalb hat die Oppositionsbewegung es noch nicht geschafft, Menschen der unteren Klassen und außerhalb der Großstädte zu mobilisieren. Der Unmut über die wirtschaftliche Lage führte zu einer Zunahme von Streiks, aber die Kämpfe der Arbeiter sind noch nicht mit der Demokratiebewegung verschmolzen. In Tunesien spielte die Gewerkschaft eine entscheidende Rolle beim Sturz von Ben Ali, und in Ägypten musste Mubarak abtreten, als sich die Streiks auf das ganze Land ausweiteten. Ein Netzwerk aus Sozialisten und Arbeiteraktivisten war entscheidend für den Erfolg der Revolutionen in Ägypten und Tunesien. Sie verknüpften die Kämpfe der Arbeiter mit der Demokratiebewegung. Die Bildung solcher Netzwerke wird im Iran ein notwendiger Schritt sein, um den Kampf für Demokratie voranzubringen.

Die Oppositionsbewegung hat es noch nicht geschafft, Menschen der unteren Klassen zu mobilisieren

★ ★★ WEITERLESEN Peyman Jafari: Der andere Iran – Geschichte und Kultur von 1900 bis zur Gegenwart (C. H. Beck 2010). Jafaris Buch ist kürzlich auch in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen und kann unter www.bpb.de für eine Bereitstellungspauschale von 4,50 Euro bestellt werden.

SCHWERPUNKT Arabische Revolution

Die Demokratiebewegung im Iran steht aus den genannten Gründen vor großen Herausforderungen. Allerdings ist das iranische Regime mit noch viel größeren Problemen konfrontiert. Durch die gewaltsame Niederschlagung friedlicher Proteste hat es viel an Legitimität verloren und viele Menschen wurden radikalisiert. Das Regime hat die Macht des Militärs ausgeweitet, gleichzeitig aber den Kreis der Mächtigen verkleinert. Viele Unternehmen stehen vor dem Zusammenbruch, dementsprechend wird die Arbeitslosigkeit auf einem sehr hohen Niveau bleiben. Zwar verschafft der steigende Ölpreis der Regierung einen größeren Spielraum, die grundlegenden Probleme der Wirtschaft werden aber dadurch nicht behoben. Es wird deshalb etwas länger dauern als in Ägypten und Tunesien, bis es zu Veränderungen im Iran kommt, aber sie sind unausweichlich. ←

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1 1 0 2 S S U M ' S I X R A KONGRESS: M Liebe Leserin, lieber Leser, wir möchten dich herzlich zum »Marx is' Muss«-Kongress vom 2. bis 5. Juni nach Berlin einladen. Ideen um die Welt zu verändern – unter diesem Motto steht der Kongress in diesem Jahr. Dich erwarten vier Tage Debatte über Politik, Bewegung und Widerstandskultur. In über 50 Veranstaltungen werden Themen von der Revolution in Ägypten über den Aufschwung des Rechtspopulismus in Europa bis zur Frage, welches Programm die Linke braucht, diskutiert. Komm zu »Marx is' muss 2011«, diskutiere mit, stelle Fragen und finde mit anderen gemeinsam Antworten.

SEMINARE

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er Kongress beginnt mit einem Seminartag zur marxistischen Theorie. Dort wird es fünf parallel stattfindende Themenblöcke geben. Jeder dieser Blöcke besteht aus zwei Teilen (10-13 Uhr und 15-18 Uhr), die durch ein Überblicksreferat eingeleitet werden sollen. Anschließend wird auf Grundlage eines zuvor verschickten Einführungstextes diskutiert. Bitte frühzeitig zum Seminartag anmelden, damit Vorbereitungsmaterialien zugeschickt werden können.

Krisentheorie Staatstheorie Teil 1: Woher kommen die Profite? Teil 2: Wie entstehen Krisen?

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BEFREIUNG Teil 1: Die Unterdrückung der Frau Teil 2: Kapitalismus und menschliche Beziehungen

Teil 1: Der Staat Teil 2: Staat und Klassenkompromiss im modernen Kapitalismus

Klassentheorie

Revolution

Teil 1: Arbeiterklasse bei Marx.

Teil 1 : Die permanente Revolution

Teil 2: Klassenbewusstsein und Klassenkämpfe heute

Teil 2: Perspektiven für die Revolution in Nordafrika

Ein Kongress organisiert von 54 54


N E I D O P / S P O H S K WOR

Hier eine Auswahl, einen vollständigen Überblick zu den einzelnen Diskussionsveranstaltungen gibt es auf www.marx21.de.

DIE THEMENBLÖCKE Grundlagen des Marxismus Arbeiterbewegung im 21. Jahrhundert Perspektiven für die Umweltbewegung Marxismus und Geschlechterverhältnisse Programmdebatte in der LINKEN Brennpunkt Nahost Der Kampf gegen Rechts Hochschulen und Widerstand Internationales Rosa Luxemburgs Beitrag zum Marxismus Kultur Der Ostblock – Mythos und Wirklichkeit Imperialismus und Antiimperialismus

Bewegung durch Blockaden

Programmdebatte der LINKEN

Polarisierung in Europa

DIE kommunistische Idee

Tadzio Müller [Climate Justice Action Network], Christoph Ellinghaus [Aktionsnetzwerk gegen Rechtsextremismus in Jena] und Nicole Gohlke [MdB Die Linke] sprechen über Bewegungen durch Blockaden – Potentiale und Grenzen des zivilen Ungehorsams nach den erfolgreichen Blockaden in Dresden und im Wendland.

Mit dem ehemaligen Vorsitzenden der LINKEN Oskar Lafontaine möchten wir darüber diskutieren, welches Programm die Linkspartei braucht.

Alex Callinicos [Autor »Die revolutionären Ideen von Karl Marx«], G. M. Tamás [Philosoph und Vorsitzender der ungarischen Partei Grüne Linke] und Christine Buchholz [MdB DIE LINKE] diskutieren auf dem Podium zu Polarisierung in Europa über rechtsextreme und mitte-rechts Parteien in Europa und darüber, ob es einen europäischen Rechtsruck gibt.

Wie aktuell ist die kommunistische Idee? Darüber diskutiert der linke Kulturphilosoph Slavoj Žižek mit dem ehemaligen »SPEX«-Chefredakteur und Schriftsteller Dietmar Dath, der hessischen Fraktionsvorsitzenden der Linken Janine Wissler und Alex Callinicos [Autor »Die revolutionären Ideen von Karl Marx«]. Moderiert von Christina Kaindl [Leitende Redakteurin der Zeitschrift »Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis«]. In Kooperation mit der RosaLuxemburg-Stiftung.

WIE STREIKEN? Bernd Riexinger [Geschäftsführer ver.di Stuttgart/Sprecher der LINKEN Baden-Württemberg] und Heiner Dribbusch [Hans-Böckler-Stiftung] diskutieren am Beispiel der Erfahrungen von ver.di Stuttgart darüber, ob wir durch demokratische Streikformen zum Erfolg kommen können.

DIE ARABISCHE REVOLUTION Werner Ruf [Prof. em. Politikwissenschaft, Kassel] spricht mit Hossam Al-Hamalawy [Blogger aus Ägypten] (angefr.) und Mona Dohle [Kairo] über die Revolte im Arabischen Raum.

MEDIENPARTNER

PROGRAMM MARX IS MUSS 2011

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ie Themenblöcke bestehen aus jeweils mehreren Workshops, in denen die ReferentInnen ein etwa halbstündiges Einleitungsreferat halten, auf dessen Grundlage dann diskutiert werden kann. Außerdem wird es ein Vielzahl von Podien mit mehreren Referentinnen und Referenten geben.

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e h isc t I s t die kommunis ? l l ue t ak h I dee noc Beim Kongress »Marx is’ muss« werden Janine Wissler, Fraktionsvorsitzende der hessischen LINKEN, und der slowenische Kulturphilosoph Slavoj Žižek über Alternativen zum Kapitalismus diskutieren. Wir veröffentlichen Teile ihrer Reden vorab VON Slavoj Žižek

derts, als die Linke ihrer Aufgabe der Gründung der Diktatur des Proletariats usw. bewusst war und bloß geduldig die Gelegenheit dazu abzuwarten brauchte. Heute kennen wir unsere Aufgabe nicht, dennoch müssen wir sofort handeln, weil die Folgen eines Nichthandelns katastrophal sein könnten. Wir werden das Risiko eingehen müssen, uns unter gänzlich ungeeigneten Bedingungen in die Schlucht des Neuen zu begeben, wir werden Aspekte des Neuen wiedererfinden müssen, bloß um das Gute im Alten (Bildung, Gesundheitswesen usw.) zu erhalten. Die Zeitschrift, in der Gramsci seine Schriften in den frühen 1920er Jahren veröffentlichte, hieß L’Ordine nuovo (Die neue Ordnung) – eine Überschrift, die später von der extremen Rechten vereinnahmt wurde. In dieser späteren Vereinnahmung sollten wir die »Richtigkeit« von Gramscis Wortwahl erkennen und den Begriff nicht als etwas auffassen, das im Widerspruch zum rebellierenden Freiheitswillen der authentischen Linken steht. Vielmehr sollten wir ihn wieder aufgreifen als Messlatte für das steinige Problem, jene neue Ordnung zu bestimmen, die jede erfolgreiche Revolution

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ie wohl prägnanteste Charakterisierung der Epoche, die mit dem Ersten Weltkrieg anbrach, wird dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zugeschrieben: »Die alte Welt stirbt, und die neue Welt erkämpft sich ihren Platz: die Zeit der Monster ist gekommen.« Waren Faschismus und Stalinismus nicht die Zwillingsmonster des zwanzigsten Jahrhunderts? Der eine die Ausgeburt des verzweifelten Überlebenskampfes der alten Welt, der andere der fehlgeleitete Versuch, eine neue zu errichten. Und was sollen wir von den Monstern halten, die wir heute gebären, angetrieben durch techno-gnostische Träume von einer biogenetisch kontrollierten Gesellschaft? Aus diesem Paradox sollten wir alle notwendigen Konsequenzen ziehen, dass es vielleicht gar keinen direkten Übergang zum Neuen gibt, zumindest nicht, wie wir uns ihn vorgestellt haben, und dass Monster das unausweichliche Ergebnis jeden Versuchs sind, diese Übergang zu erzwingen. Unsere Lage ist somit genau das Gegenteil der sehr klassischen Zwickmühle des 20. Jahrhun-

PREISE

Slavoj Žižek ist ein aus Slowenien stammender Kulturphilosoph. Er bezeichnet sich selbst als »altmodischen Marxisten«.

Berufstätige: 40 Euro [bei Anmeldung bis 1. Mai, danach: 45 Euro] Geringverdiener / Studierende: 20 Euro [statt 25 Euro] Hartz-IV-Empfänger / Jugendliche unter 16 Jahren: 15 Euro [statt 20 Euro]

TICKETS 56 56

zu etablieren haben wird. Kurz gefasst, unsere Zeit können wir am treffendsten mit den Worten charakterisieren, die Stalin auf die Atombombe verwendete: Sie ist nichts für schwache Nerven. Der Kommunismus ist nicht die Bezeichnung für eine Lösung, sondern die eines Problems: die vielfältigen Probleme des Gefüges in all seinen Dimensionen – des natürlichen Gefüges als Lebenssubstanz, die Probleme des biogenetischen Gefüges, die Probleme unseres kulturellen Gefüges (»intellektuelle Eigentumsrechte«) und schließlich, aber nicht minder wichtig, die unmittelbaren Probleme des Gefüges als universellem Raum für die Menschheit, aus dem keiner ausgeschlossen werden sollte. Was auch immer die Lösung sein wird, sie wird dieses Problem jedenfalls lösen müssen.

Tickets kannst du unter www.marx21.de ganz einfach online buchen, oder du schickst eine E-Mail an mim@marx21.de. Telefonisch kannst du unter 030/ 89 56 25 11 Kontakt zu marx21 aufnehmen.


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u Beginn des Jahres löste die Parteivorsitzende der LINKEN Gesine Lötzsch mit einem Artikel über „Wege zum Kommunismus“ eine hitzige Debatte aus. Der Text wurde von Teilen der Presse als willkommener Anlass genommen, die gesamte LINKE in eine stalinistische und antidemokratische Ecke zu rücken. Auch innerhalb der Partei wurde der Artikel heftig diskutiert: Muss der Begriff „Kommunismus“ aus dem Wörterbuch getilgt werden oder ist die Idee, die dahinter steht, auch heute noch aktuell? Karl Marx definierte den Kommunismus als Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen, als Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung. Aber diese Idee wurde wie alle großen Utopien der Menschheitsgeschichte missbraucht. Im Namen des Kommunismus wurden die Verbrechen des Stalinismus und in der DDR gerechtfertigt. Doch das darf kein Grund sein, die Ideen von Karl Marx, Rosa Luxemburg und anderen denen zu überlassen, die sie ins Gegenteil verkehrt haben. Im Gegenteil: Wir sollten anknüpfen an Luxemburgs Konzept eines Sozialismus von unten, der die Selbstaktivität und Selbstemanzipation der Menschen in den Vordergrund stellt. Sozialismus und Freiheit

ORT

schließen einander nicht aus, sondern bedingen einander. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, in dem die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen und nicht das Profitstreben. Echte Demokratie und Freiheit bedeuten auch demokratische Entscheidungen über die Wirtschaft. Wir wollen die Eigentumsverhältnisse ändern, weil heute in Deutschland zehn Prozent der Bevölkerung über zwei Drittel des Vermögens verfügen. Jedes sechste Kind lebt hierzulande in Armut und acht Millionen Menschen arbeiten zu Niedriglöhnen. Zugleich ist die Zahl der Vermögensmillionäre auf Rekordniveau gestiegen. Vier Energiekonzerne bestimmen die Politik der Bundesregierung und machen das Lebensumfeld von hunderttausenden Menschen zu einer radioaktiven Müllkippe. Auch deshalb wollen wir mehr Gemeineigentum und damit mehr öffentliche und demokratische Kontrolle über die Wirtschaft. Nach der tiefen Krise des Kapitalismus, nach dem Crash an den Börsen und nach milliardenschweren Rettungspaketen ist es nicht nur unser Recht, sondern geradezu unsere Pflicht über Alternativen zum Kapitalismus nachzudenken. Millionen Hungertote, Kriege, Umweltzerstörung, Massenarmut und Erwerbslosigkeit machen die Suche nach einer anderen Wirtschafts- und

Gesellschaftsordnung nicht nur legitim, sondern unbedingt notwendig. Hunderttausende sterben weltweit, weil an den internationalen Börsen auf steigende Lebensmittelpreise gewettet wird. Die einen spekulieren, die anderen verhungern. Zynischer und menschenverachtender kann eine Ökonomie kaum funktionieren. Wer dieses System nicht verändern will, der handelt verantwortungslos. Nach einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung glauben 90 Prozent der Deutschen nicht, dass der Kapitalismus die drängenden sozialen und ökologischen Probleme lösen kann. Drei Viertel der Ostdeutschen und die Hälfte der Westdeutschen halten den Sozialismus für eine gute Idee. Das sind weit mehr als die Wähler der LINKEN. Deshalb sollten wir uns nicht verbieten lassen, auch weiterhin über Alternativen zum Kapitalismus zu diskutieren.

JANINE WISSLER ist Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Hessischen Landtag und Unterstützerin des Netzwerks marx21.

Alte Feuerwache e.V., Axel-Springer-Str. 40/41, 10969 Berlin-Kreuzberg Verkehrsanbindung: U6: Kochstraße / U2: Spittelmarkt / U8: Moritzplatz /Bus: M29, 248 Beginn: Donnerstag, 02. Juni 2011 um 10 Uhr , Ende: Sonntag, 05. Juni 2011 um 14 Uhr

SONSTIGES

Kostenlose Übernachtung und Kinderbetreung werden organisiert. Für die Übernachtung bringe bitte Isomatte und Schlafsack mit, da dort keine Betten vorhanden sind.

PROGRAMM MARX IS MUSS 2011

VON JANINE WISSLER

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NEUES AUS DER s der LINDie Rubrik »Neues au beit der KEN« lebt von der Mitar Redaktion marx21-Leser. Die – aber das kann nicht überall sein schon. Magazin und seine Leser e wolAuf dieser Doppelseit nte Aktilen wir über interessa der LINn onen und Kampagne annende KEN berichten sowie sp Wenn Termine ankündigen. n habt, ihr etwas beizutrage an ail E-M eine schickt Re Die redaktion@marx21.de. Recht auf daktion behält sich das r. Auswahl und Kürzung vo

FOTOFEATURE

Die LINKE-Vorsitzenden Klaus Ernst und Gesine Lötzsch sprachen am 20. Berlin bei einer Kundgeb März in ung gegen die Luftangriff e auf Libyen. Wie hier bet sich Mitglieder der LIN eiligten KEN bundesweit an Pro testen gegen den Krieg

Abschalten und dichtmachen!

Die Proteste gegen Atomkraft wachsen seit der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima stetig an. In hunderten deutschen Städten, an den AKW-Standorten und in der Nähe der Zwischenlager für radioaktiven Müll versammelten sich in den vergangenen Wochen Tausende zu Mahnwachen gegen den Atomwahnsinn. Am Zwischenlager Nord in Lubmin ist der LINKEN gemeinsam mit lokalen Bündnispartnern etwas gelungen, was niemand für möglich hielt: Außerhalb des Wendlands, und dann auch noch in Mecklenburg-Vorpommern, mehrere tausend Teilnehmer zu einer CastorBlockade zusammenzubringen. Im Protest gegen das Zwischenla58

ger Nord arbeiten die regionale Protestbewegung, die Partei DIE LINKE und ihre Fraktionen im Schweriner Landtag und im Greifswalder Stadtparlament eng zusammen. DIE LINKE ist somit Teil des Anti-Atom-Bündnisses-Nord und gibt dem Protest eine Stimme im Parlament. Parteimitglieder rufen zu Demonstrationen und Mahnwachen auf und beteiligen sich tatkräftig an den Blockaden der CastorTransporte nach Lubmin. Die nächste große Protestaktion wird am 25. April, dem Tschernobyl-Gedenktag, unter dem Motto »Sonne, Strand und See – Atomkraft nee!« stattfinden. Lisa Hofmann

Gut gekämpft, aber verloren Nach den guten Ergebnissen in Sachsen-Anhalt und Hamburg gelang es der LINKEN in Rheinland-Pfalz und BadenWürttemberg nicht, in die Landtage einzuziehen. An mangelndem Einsatz lag es nicht: In beiden Ländern kämpfte die Partei um jede Stimme. Der Wahlkampf in Rheinland-Pfalz mit seinem ebenso idyllischen wie vergleichsweise wohlhabenden Rheintal und dem dünnbesiedelten Westen stellte für die Genossen vor Ort eine große Herausforderung dar. Um SPD-Ministerpräsident Kurt Beck endlich eine spürbare Opposition von links entgegenzusetzen, wird hier viel Kraft und Energie gebraucht. Wo man im Rheinland das politische Interesse noch suchen und wecken muss, fanden in Baden-Württemberg fast an jedem Wochenende große Demos statt, ob gegen Atomkraft oder Stuttgart 21. Die Stimmung war sehr kämpferisch, der politische Gegner wurde scharf aufs Korn genommen. Aktive von Linksjugend ['solid] waren mit einer großen Mappus-Figur im Land unterwegs, die man buchstäblich aus dem Landtag kicken durfte. Natalie Dreibus


NEWS

marx21 sprach mit dem Landtagsabgeordneten Hermann Schaus (DIE LINKE) über die Tarifauseinandersetzungen und den Kampf gegen die Schuldenbremse in Hessen

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m öffentlichen Dienst gab es Tarifauseinandersetzungen, wie habt ihr euch daran beteiligt? Wir haben an den Warnstreiks teilgenommen und eine aktuelle Stunde im Landtag beantragt. Zudem haben wir die Rückkehr Hessens in die Tarifgemeinschaft der Länder verlangt, damit auf diesem Wege die Tarifautonomie nicht weiter untergraben werden kann. Das alles kam gut bei den streikenden Kolleginnen und Kollegen an.

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er hessische ver.di-Chef Jürgen Bothner hat Hausverbot im Landtag. Wie kam es dazu? Ver.di Hessen war sehr engagiert in der Kampagne gegen die Schuldenbremse. 15 Aktivisten der Gewerkschaft haben als Besuchergruppe an einer Plenarsitzung teilgenommen. Während der Sitzung stimmten sie plötzlich ein Protestlied gegen die Schuldenbremse an und entrollten ein Transparent von der Besuchertribüne. Nach zwei bis drei Minuten wurden die Protestierer vom Ordnungsdienst des Landtages von der Tribüne geleitet und ihre Personalien aufgenommen. Die Sitzung des Landtages ging danach weiter und wurde erst später für eine Stunde unterbro-

chen. Der Landtagspräsident erteilte allen Beteiligten, unter ihnen Jürgen Bothner, ein unbefristetes Hausverbot.

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ie ging es für die ver.di-Leute weiter? Gegen elf Kolleginnen und Kollegen wurde Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs und Nötigung eines Gesetzgebungsorgans erstattet und die ver.di-Aktivisten haben Einladungen zu Vernehmungen erhalten.

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ie geht die Linksfraktion mit der Sache um? Wir sind solidarisch mit den Aktivisten. Trotz mehrfacher Aufforderung lehnen wir es ab, uns von der Aktion zu distanzieren. Im Landtag gibt es eine Auseinandersetzung über die Frage der Hausverbote, denn dadurch ist ein ungestörter Zugang zu Abgeordneten- und Fraktionsbüros nicht mehr möglich. Die anderen Fraktionen nehmen in ihrem Elfenbeinturm Landtag nicht mehr die Realität der Bevölkerung wahr, schotten sich ab und reagieren völlig überzogen. Wir haben deshalb einen Gesetzesentwurf eingebracht, die Bannmeile um den Landtag abzuschaffen.

Auf den Sturm vorbereiten Während einzelne Hochschulgruppen von Die Linke.SDS sich an den Anti-AKW-Demos beteiligen oder in Wahlkämpfen aktiv sind, laufen auf Bundesebene die Vorbereitungen für das geplante hochschulpolitische Analyse- und Qualifizierungssemester (HAQ) auf Hochtouren. Doppelte Abiturjahrgänge, die Aussetzung der Wehrpflicht und die generelle Situation an den Hochschulen schaffen ein enormes Protestpotential. Hierzu werden mehrere Regionalkonferenzen sowie die Veranstaltungsreihe »Masterzugang für Alle« organisiert und die Vernetzung mit Bündnispartnerinnen vorangetrieben. Im Mai wird ein neues Mitgliedermagazin erscheinen und der Bundeskongress sowie ein Frauen- und Männerforum sind in Vorbereitung. Jens Liedtke

Am 26. Februar kamen in Mannheim über 200 Betriebs- und Personalräte zusammen, um gemeinsam mit Klaus Ernst, Oskar Lafontaine und zahlreichen Landtagskandidaten der baden-württembergischen und rheinland-pfälzischen LINKEN zu diskutieren. Bei mehreren Podiumsveranstaltungen kamen unter anderem Themen wie »Kampf für höhere Löhne und gute Arbeit« oder »prekäre Beschäftigung« zur Sprache. Vor allem die Beiträge der betrieblichen Gäste ließen die Debatte nie langweilig werden. Zudem ermöglichten sie spannende Einblicke in die Lebenswirklichkeit und betrieblichen Auseinandersetzungen von aktiven Gewerkschaftern. Der Vortrag von Lafontaine über »Wege aus der Krise« gab zum Abschluss der Konferenz einen guten Einblick in das Wirtschaftsdemokratiekonzept der LINKEN. Natalie DReibus

Gegen Rente mit 67 In den vergangenen Wochen hat die IG BAU eine Unterschriftensammlung gegen die Rente mit 67 durchgeführt. Die unter dem Motto »Stopp der Rente mit 67 und eine bessere Absicherung bei Erwerbsminderung« gesammelten 100.000 Unterschriften wurden am 21. Februar dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales übergeben. Unter dem Empfängern befand sich auch Ulla Lötzer, gewerkschaftspolitische Sprecherin der Linksfraktion. Sie unterstützt die Forderung der Gewerkschaft. Andreas Steppuhn, Sprecher der IG BAU, brachte die Empörung der Arbeitnehmer auf den Punkt: »Wer sich für das Wohl der Allgemeinheit kaputt geschuftet hat und vorzeitig aus dem Beruf ausscheiden muss, hat ein Recht auf eine vernünftige Absicherung.« Natalie DReibus

LiMA wächst weiter InMit mehr als 1200 Teilnehmenden konnte die 8. Linke Medienakademie (LiMA) Anfang März in Berlin erneut einen Teilnehmerrekord verzeichnen. Die LiMA verbindet Weiterbildung, Debatten und Networking. Im Bereich der Weiterbildung boten die Referentinnen und Referenten 700 Stunden Workshops rund ums Medienmachen an. Die 9. LiMA wird vom 21. bis 25. März 2012 in Berlin stattfinden. Jan Maas

NEUES AUS DER LINKEN

Hausverbot fürs Singen

Betriebsräte in Mannheim

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© Bruno Girin / flickr.com

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in Stadtteil wird »aufgewertet«, die Mieten steigen und die ursprünglichen Bewohner verlassen das Viertel. Gentrifizierung hat viele Gesichter, doch das Ergebnis ist immer das selbe: Verdrängung. Ein Gespräch mit dem Journalisten Christoph Twickel, der diesen Prozess seit Jahren kritisch begleitet

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u hast ein Buch mit dem schönen Titel »Gentrifidingsbums oder eine Stadt für Alle« geschrieben. Was bedeutet eigentlich Gentrifizierung? Gentrifizierung beschreibt einen sozialen Umstrukturierungsprozess in einer Stadt oder einem Stadtviertel. Die Kurzform: Die Armen gehen, die Reichen kommen. Jede Stadt kennt solche Prozesse: Der Prenzlauer Berg in Berlin, die Dresdner Neustadt oder die jetzige Auseinandersetzung um Stuttgart21 sind nur einige Beispiele. Gentrifizierung hat sehr verschiedene Gesichter und läuft nicht in jedem Stadtviertel nach dem selben Muster ab. Das Ergebnis ist jedoch überall gleich: Verdrängung. Gentrifizierung ist eine Maschinerie, die die Teilhabe an der Stadt über Geld und Herkunft regelt. Sie macht aus einem Milieu der vielen ein Produkt für wenige. In Mumbai, Delhi, Seoul oder Tijuana, wo Baufirmen, Investoren und

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Christoph Twickel

Christoph Twickel hat als Journalist die Hamburger »Recht auf Stadt«-Bewegung begleitet. Als Mitinitiator und Sprecher von »Not In Our Name, Marke Hamburg« ist er zu einer ihrer Protagonisten geworden.


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er gewinnt und wer verliert bei diesem Konzept von Stadt? Gewinner sind die Immobilienfirmen und Grundbesitzer, Verlierer sind alle die, die mit dem gestiegenen Preisniveau nicht mithalten können: Zuerst verschwinden die proletarischen und subproletarischen Bewohner, die Rentner und Migranten mit kleinem Einkommen. Dann trifft es die sogenannten Pioniere, die die Viertel hip gemacht haben: Studenten, Künstler, Bohemiens. Und am Ende können auch viele von den kleinen Shops und Kneipen nicht mehr mithalten. Die Armen ziehen in die Sozialgroßsiedlungen am Stadtrand, die »Pioniere« weichen in das nächst günstige Viertel aus. Ich drücke das in meinem Buch so aus: Gentrifizierung ist das politisch beförderte Recht des Stärkeren, angewandt auf den Stadtraum. Am Ende haben wir gut ausgestattete, für die WorkLife-Balance optimierte Gegenden für das obere Viertel der Bevölkerung – und die sozial und kulturell abgehängten Ecken für das untere Viertel. Auch die Hartz-IVReformen treiben die Gentrifizierung voran: Das Ehepaar, das nach dem Auszug der Kinder in der günstigen, großen, unsanierten Wohnung auf St. Pauli wohnt und ALG II erhält, bekommt eine »Kostensenkungsaufforderung«, weil nach den Bemessungskriterien die Wohnung zu groß geworden ist. Die Kostensenkung besteht dann meist darin, dass sich die Betroffenen eine Wohnung in den ärmeren Stadtteilen außerhalb suchen müssen.

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eit wann gibt es Gentrifizierung? In gewisser Weise gibt es dieses Phänomen der Verdrängung, seit es Stadt gibt. Immobiliengeschäfte stehen seit Beginn der kapitalistischen Urbanisierung auf

der Tagesordnung der Stadtentwicklung. Die heutige Gentrifizierung hängt jedoch mit dem Strukturwandel seit den sechziger Jahren zusammen. Die alte industrielle Stadt, in der die Viertel um die Fabrik herum gebaut waren, in der das Proletariat und der Fabrikherr, die Angestellten und die Ingenieure im Umfeld der städtischen Fabrik wohnten, wird allmählich abgelöst durch Metropolen, die die globale, zerstreute Produktion managen. Die alten Stadtkerne werden zum Zielobjekt einer urbanen »Business Class«. Der Boom der Finanzmärkte seit Mitte der achtziger Jahre hat zu einer Transformation im Prozess der Verstädterung geführt. Stadtent-

Gentrifizierung ist eine Maschinerie, die die Teilhabe an der Stadt über Geld und Herkunft regelt

wicklung findet nun im weltumspannenden Maßstab statt. US-Immobilienfonds engagieren sich im asiatischen Raum, chinesische Banken setzen auf Hypothekenanleihen in den USA. Gigantische Infrastruktur- und Städtebauprojekte in China oder in den arabischen Ölstaaten eröffnen neue Geschäftsfelder für das Finanzkapital. In den trockensten Regionen Südspaniens wachsen Geisterstädte mit Zehntausenden von Apartments inklusive Swimmingpool und Golfanlagen. Luxuriöse Hotelresorts, Apartmentanlagen, Businessdistrikte und Landmarkprojekte neben Millionenslums ohne fließendes Wasser und Strom gehören zum Bild der neuen Megacitys. Die schuldenfinanzierte Urbanisierung ist zu einem globalen Business geworden. Ihre Konsequenzen sind sozial und ökologisch desaströs und widersprechen jeder stadtplanerischen Vernunft. Im globalen Süden und den Län-

dern des ehemaligen Ostblocks befördert sie massenhafte Enteignung, Verelendung und Prekarisierung der Bevölkerungsmehrheit auf der einen sowie luxuriöse Abschottung der global mobilen Businessclass und der lokalen Oligarchie auf der anderen Seite.

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u selbst lebst in Hamburg. Dort ließ der Senat die sogenannte Hafencity bauen: ein neues Büro-, Einkaufs-, und Wohnviertel in Toplage. Nach seinen Angaben leben etwa 1500 Menschen in dem neu entstandenen Quartier, rund 6000 arbeiten dort und die Zahl derer, die in den Stadtteil strömen, nimmt täglich zu. Der Senat meint: »Das Projekt ist eine programmierte Erfolgsstory«. Stimmst du zu? Aus Sicht der neoliberalen Stadtentwickler im Senat ist es unumgänglich, dieses Projekt als erfolgreich anzupreisen. Es ist eines der größten innerstädtischen Stadtentwicklungsprojekte Europas. Nicht erst, aber besonders nach der Finanzkrise ist die Hafencity vom angestrebten »Profit Center« zum Subventionsfall geworden. Im Kaufvertrag von 2005 hatte die Stadt dem Investorenkonsortium eine »Anmietungsoption« garantiert, falls sich keine Mieter für seine Objekte finden. Das greift jetzt: Die Stadt Hamburg muss zirka vierzig Prozent der neu gebauten Bürofläche selbst anmieten. Und natürlich auch zu saftigen Preisen: Die Mietgarantie wird die Steuerzahler jährlich über zwei Millionen Euro zusätzlich kosten.

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ber die Stadtentwickler behaupten, dass eine Stadt nur überleben kann, wenn sie sich im globalen Wettbewerb mit anderen Standorten behauptet. Berlin konkurriert mit Frankfurt, Hamburg, Paris, New York und Tokio. Den Standortwettbewerb der »Global Citys« gewinnt, wer besonders günstige Bedingungen für Investoren und Unternehmen schafft. Diese bringen Arbeitsplätze und neue Steuereinnahmen für die Stadt, so das Credo. Haben sie Recht? Das Motto »The winner takes it all« kann nicht die Lösung sein. Natürlich zieht eine »Boomtown« eine Menge Menschen an. Aber vom globalen Standortwettbewerb der Städte profitieren nur wenige. Die neu geschaffenen Jobs in der Dienstleistungsökonomie sind häufig prekäre Arbeitsplätze. Für die Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, werden die Städte immer

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Lokalpolitiker aus den Slums mit Bulldozern und Prügelgarden neues Bauland machen, mag mit Händen zu fassen sein, dass Verdrängung ein Prozess von oben ist. Aber auch bei uns, wo die Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse schleichend vor sich gehen, ist Gentrifizierung Klassenkampf von oben. Weil sie politisch gewollt und befördert wird. Politiker setzen ja darauf, dass sich Besserverdienende in den Innenstädten ansiedeln – und dass die Empfänger von sozialen Transferleistungen möglichst verschwinden oder fern bleiben. Gentrifizierung ist sozusagen ein Indikator für erfolgreiches Agieren im Konkurrenzkampf der Metropolen.

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© concheirodemontard / flickr.com

Unbewohnte Häuser und Wohnblöcke: Experten schätzen, dass beispielsweise in Spanien mittlerweile 1,5 Millionen Wohnungen keinen Käufer finden

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ber mal ehrlich: Wer will schon im Ghetto wohnen? Niemand will Heroinspritzen auf dem Kinderspielplatz, heruntergekommene Wohnungen und schlechte Infrastruktur. Was ist denn die Alternative zur »Stadtteilveredelung« von oben? Naja, erstmal muss man klarstellen, dass Stadtteilveredelung eben nur eine Seite von Gentrifizierung ist. Die klassisch gentrifizierten Viertel mit ihren sanierten Gründerzeithäusern, den Bioläden und Boutiquen mögen das Ideal von »Aufwertung« und »Belebung« sein. Die Realität der Stadtveredelung von oben aber ist oftmals: Globale Franchise-Gastronomie, Malls, Megastores und andere »Frequenzbringer«, die Straßen und Plätze in Shoppingzonen verwandeln. Auch die Ballung von sozialen Problemen an den Rändern der Städte ist eine Folge von Gentrifizierung. Die Form von Aufwertung löst halt nicht die sozialen Problem, sondern verdrängt sie. Umgekehrt ist es ja auch kein Geheimnis: Heroinspritzen auf dem Kinderspielplatz bekommt man durch vernünftige

Drogenarbeit weg, nicht durch irgendwelche Mittelschichtsbürger, die den Stadtteil »durchmischen« sollen. Der Mangel an günstigen, aber guten Wohnungen muss über sozialen Wohnungsbau oder Wohnungsbauförderung behoben werden. Dass das heute nicht mehr gehen soll, muss man mir erstmal beweisen. Zwischen 1949 und 1973 hat man in Deutschland rund zwölfeinhalb Millionen neue Wohnungen gebaut – dank der in den Fünfzigern erlassenen Wohnungsbaugesetze waren etwa die Hälfte davon Sozialwohnungen. Sprich: Es geht um den Bau günstiger, ökologischer und lebenswerter Wohnungen, es geht um die Ausstattung der Großsiedlungen und Schlafstädte mit Infrastrukturen, mit Einrichtungen, aus denen sich lokale Ökonomien und soziale Plattformen entwickeln können. Es geht um die Rückeroberung des öffentlichen Raums, um die Verwandlung von exklusiven Lagen in Orte verdichteter Unterschiedlichkeit, die allen Teilen der städtischen Gesellschaft selbstverständlich zugänglich sind.

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ie kann denn sichergestellt werden, dass Niedrig- und Normalverdiener sich die Miete leisten können? Welchen Einfluss hat der Staat denn überhaupt auf die Bedingungen für Immobilieninvestitionen? Der Staat beeinflusst auf diversen Feldern den Immobilienmarkt. Es gibt Dutzende von Stellschrauben, an denen auf kommunaler, landes- oder bundespolitischer Ebene gedreht werden könnte, um Gentrifizierung einzudämmen. Die Städte und Gemeinden sind ja selbst Immobilienbesitzer und Grundeigentümer. Das könnte und sollte man dazu nutzen, mäßigend auf den Immobilienmarkt einzuwirken. Beispielsweise durch städtische Wohnungsbaugesellschaften, die günstiger bauen und vermieten – heute sind die ja in vielen Städten privatisiert oder sollen als Cash Cow dienen. Man hat ja ohne Not – oder besser gesagt: in voller Absicht – bestimmte Instrumente geopfert, die es ermöglichen, günstigen Wohnraum oder Gewerberaum in den Innenstädten zu schaffen und zu erhalten. Wann immer ich mit Wohnungsbaugenossenschaften spreche, erklären die mir, dass sie händeringend nach bezahlbaren Grundstücken suchen und zusehen müssen, wie Grundstücke zum Höchstgebot verscherbelt werden. Bezahlbare Grundstücke, güns-

tige Wohnungsbaukredite, Mietpreisbindungen und ein Mietenspiegel, der tatsächlich die Mieten begrenzt und nicht der Mietensteigerung dient: Das sind alles Instrumente, die auch Mietervereinigungen seit Jahren fordern.

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as Jahr 2011 ist ein Superwahljahr: Insgesamt sechs Landtags- und vier Kommunalwahlen finden statt. Was erwartest du von linker Stadt- und Landespolitik? Muss DIE LINKE regieren, um der Gentrifizierung etwas entgegensetzen zu können? Ich habe keine Heilserwartung gegenüber politischen Parteien, auch nicht gegenüber der LINKEN. Ich bin ein Freund der Stadtentwicklung von unten: In dem Maße, in dem soziale Bewegungen in den Städten stärker werden, werden auch politische Forderungen durchsetzbarer. Wenn DIE LINKE dabei helfen kann – nur zu. Hier in Hamburg hat sie in manchen Bezirken sehr ordentlich inhaltlich gearbeitet und lokale Kämpfe durch Infrastruktur, Logistik oder beispielsweise mit parlamentarischen Anfragen unterstützt. In anderen Bezirken hat man dann wieder den Eindruck, dass Hartz IV die einzige soziale Frage ist, die DIE LINKE interessiert – da gibt es einfach wenig Vernetzung zwischen Recht-auf-Stadt-Initiativen und Linkspolitikern. Die Fragen stellte Yaak Pabst ★ ★★

Weiterlesen

Christoph Twickel: Gentrifidingsbums oder Eine Stadt für alle (Edition Nautilus 2010).

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unbewohnbarer. Die Arbeitswege werden länger, weil der Wohnraum in der Stadt nicht mehr bezahlbar ist. Im größeren Maßstab gibt es ganze Regionen, die vom Standortwettbewerb abgehängt sind und sich zu Einöden entwickeln. Das Beispiel Hafencity in Hamburg zeigt eine andere Seite der Standortkonkurrenz. Denn die Städte bleiben meistens auf ihren Kosten sitzen. Die »unternehmerische Stadt« ist zwar überaus kapitalfreundlich, agiert aber keineswegs wie ein Unternehmen. Während Privatunternehmer in Insolvenz gehen, wenn sie sich verspekulieren, lässt die Stadt das Gemeinwesen bürgen, wenn ihre Zukunftsinvestitionen fehlschlagen. Das heißt, das »Unternehmen Stadt« ist im Grunde eine aus Steuermitteln finanzierte Absicherungsinstanz für privatwirtschaftliche Risiken. So ist es keinesfalls ein Widerspruch, dass eine Stadt wie Hamburg mit kommunalen Mitteln knausert, wenn es darum geht, Schlaglöcher zu beseitigen oder den Betrieb von Museen oder sozialen Einrichtungen aufrechtzuerhalten. Ganz im Gegenteil: Die Rücksichtslosigkeit, mit der städtische Politik das Gemeinwesen für solche Landmarkprojekte wie die Hafencity in Haftung nimmt, wird zur vertrauensbildenden Maßnahme für den Standort.

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t d a t S e r e S n U are W ist keine Die gute Nachricht: Gentrifizierung kann gestoppt werden. Der Staat hat viele MĂśglichkeiten, in den Wohnungsmarkt einzugreifen, um profitgierigen Immobilienspekulanten und Hausbesitzern Grenzen zu setzen. Die schlechte: Meist macht die Politik das Gegenteil Von Matthias Bernt

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Immobilieninvestitionen sind in der Regel extrem langfristige Geschäfte, die sich nur über lange Zeiträume rechnen. Für Kapitalanleger sind sie nur dann attraktiv, wenn sie die entstehenden Kosten abfedern oder reduzieren können. Um Investitionen anzuregen, fördert der Staat deshalb Immobilieninvestitionen auf vielfältige Art und Weise: So gibt er Zuschüsse zu den Baukosten, gewährt zinsverbilligte Kredite und eröffnet die Möglichkeit, Verluste von der Steuer abzuschreiben. Diese öffentliche Unterstützung für private Renditeoptimierung ist mal an Gegenleistungen gekoppelt, mal auch nicht. Ein gutes Beispiel für eine Förderpolitik ohne Gegenleistung sind die »Absetzungen für Aufwendungen (AfA)«, mit denen es Hauseigentümern in den 1990er Jahren ermöglicht wurde, einen erheblichen Teil der Kosten für die Sanierung ihrer Immobilie als »Steuerersparnis« zu finanzieren – zum Nulltarif. Ohne diese Förderung hätte kaum eine Sanierung in Prenzlauer Berg stattgefunden. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen der soziale Wohnungsbau oder die »behutsame Stadterneuerung«. Hier wurde die Investitionsbereitschaft der Hauseigentümer zwar mindestens ebenso großzügig mit öffentlichen Mitteln versüßt – aber dort wenigstens unter der Auflage von Miet- und Belegungsbindungen, die für einen längeren Zeitraum dafür sorgten, dass die Wohnungen bezahlbar blieben. Ein zweiter Bereich, in dem der Staat die Bedingungen für Immobilieninvestitionen beeinflusst, ist die Festlegung von Spielräumen für Mietsteigerungen. Der Umfang von Mietsteigerungen ist in vielen europäischen Städten gesetzlich begrenzt und diese Begrenzungen sind dafür entscheidend, ob es zur Gentrifizierung kommt oder nicht. Denn von der Miethöhe her entscheidet sich einerseits, wel-

che Rückflüsse ein Investor auf seine Investition erwirtschaften kann und wie attraktiv damit für ihn diese Investition ist. Ohne entsprechende Mietsteigerungsmöglichkeiten kommt eine Sanierung gar nicht zustande. Die Miethöhe ist andererseits das entscheidende Kriterium, das darüber bestimmt, ob eine bestimmte Wohnung von Haushalten mit einem bestimmten Einkommen bezahlt werden kann. Ob Niedrigverdiener es sich leisten können, auch nach der Sanierung in ihrer Wohnung zu bleiben, oder ob sie Platz für Besserverdienende machen müssen, ist deshalb nicht nur eine Frage von Angebot und Nachfrage, sondern auch eine Frage der Existenz oder Nichtexistenz entsprechender Gesetze.

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Matthias Bernt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung im brandenburgischen Erkner.

Immobilieninvestitionen finden so gut wie nie auf dem »freien Markt« statt. Die Politik gibt die Rahmenbedingungen vor Ein dritter Bereich, in dem der Staat die Sicherheit von Investitionen verbessern kann, ist die Produktion von Lagen. Gemeint sind damit das Wohnumfeld oder auch das Image eines Gebiets. Typische Instrumente der »Attraktivitätssteigerung« sind Infrastrukturverbesserungen (zum Beispiel Verbesserung des Verkehrsanschlusses), Umfeldmaßnahmen (wie die Umwandlung einer Brache in eine Grünfläche, Verkehrsberuhigung), Imagekampagnen oder die Installation von kulturellen »Highlights« (wie Museen oder Galerien). Durch solche umfangreichen Vorleistungen kann er dazu beitragen, ein Gebiet »attraktiv« zu machen. Der zweischneidige Erfolg ist oft eine Verbesserung der lokalen Wohnverhältnisse zum Preis eines erhöhten Drucks auf niedrige Mietpreise. Unterschiedliche Bewertungen des Wohnumfelds finden sich schließlich auch im Berliner Mietspiegel mit einfacher, mittlerer und guter Wohnlage. Zusammengefasst kann man also sagen, dass Gentrifizierung stark von staatlicher Politik abhängt oder beeinflusst wird. Politische Entscheidungen stehen dabei immer im Spannungsfeld zwischen Investitionsförderung und Mieterschutz. Wohin das Pendel ausschlägt, ist damit auch von dem jeweiligen gesellschaftlichen Klima und den in ihm herrschenden Kräfteverhältnissen abhängig. ←

★ ★★ Dieser Artikel erschien erstmalig in der Zeitschrift MieterEcho Nr. 324 (Oktober 2007). Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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ersucht man den Zusammenhang von Politik und Gentrifizierung zu beschreiben, muss man sich zunächst klarmachen, welchen Einfluss staatliche Regulative auf die Investitionskalküle von Hausbesitzern und Immobilienentwicklern haben. Denn in der Praxis finden Immobilieninvestitionen so gut wie nie auf einem »freien Markt« statt. Im Gegenteil hat sich in allen Industrieländern ein umfangreicher und oft nur schwer zu durchschauender Komplex von Gesetzen und Regelungen entwickelt, mit dem der Staat in den Wohnungsmarkt eingreift und ohne den dieser gar nicht funktionieren würde. Politische Eingriffe gestalten die grundlegenden Rahmenbedingungen, welche die Möglichkeiten, die Dynamiken und die räumlichen und zeitlichen Muster von Gentrifizierung prägen. Zentral sind dabei folgende drei Bereiche, in denen die Vorbedingungen für Gentrifizierung politisch verhandelt werden: die Immobilienfinanzierung, die Mieterhöhungsmöglichkeiten sowie die Schaffung von bevorzugten Wohnlagen.

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Serie: Was will marx21? Mit der Serie »Was will marx21« möchten dlawir die politischen Grun ks gen des marx21-Netzwer n wir: vorstellen. Diesmal frage erk Warum gibt es das Netzw überhaupt?

Noch lange nicht frei Schlecht bezahlt, unterschätzt und zu Sexobjekten degradiert – trotz aller gesellschaftlichen Fortschritte sind Frauen noch immer nicht gleichberechtigt. Woher kommt das? Teil 6 der Serie m 8. März dieses Jahres wurde zum hundertsten Mal der internationale Frauentag begangen. Seit ihren Ursprüngen hat die Frauenbewegung beachtliche Fortschritte erkämpft – beispielsweise das Wahlrecht, das Recht auf Scheidung oder die formale Gleichstellung in verschiedenen Lebensbereichen. Die Mehrheit der Frauen ist mittlerweile erwerbstätig und somit finanziell weniger abhängig von einem männlichen Partner als noch vor einigen Jahrzehnten. Doch Frauen sind noch immer weit von der völligen Gleichberechtigung entfernt: Im Durchschnitt verdienen sie deutlich weniger als Männer. In den Vorstandsetagen der großen Unternehmen sind sie kaum vertreten. Sie leisten massenhaft unbezahlte Hausarbeit und werden in der Werbe- und Pornoindustrie zu Sexobjekten degradiert. Man könnte meinen, dass Frauenunterdrückung schon immer existiert. Die Geschichtsbücher sind voll von Heldentaten von Männern. Von den Römern über das Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert haben Frauen anscheinend kaum eine Rolle gespielt. Über Jahrtausende wurden sie in den meisten Gesellschaften ignoriert und benachteiligt. Doch die längste Zeit der Menschheitsgeschichte war dies nicht so. Erst mit der Herausbildung von Klassengesellschaften kommt es zur Frauenunter-

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drückung. So bestätigen auch neuere Forschungen, dass in den klassenlosen Jäger- und Sammlergemeinschaften Frauen gleichberechtigt waren. Den überwiegenden Teil ihrer fast 200.000 Jahre währenden Geschichte lebten die Menschen in diesen Gesellschaften als Nomaden in Kleingruppen von wenigen Dutzend. Dort gab es zwar eine biologisch bedingte Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern, die in ihrem Ausmaß je nach regionalen Bedingungen variierte. Doch führte dies nicht zur Ungleichbehandlung der Frau. Ihre Gebärfähigkeit hinderte Frauen nicht daran, mitunter den größten Teil zur Versorgung der Stammesgemeinschaften beizutragen. Die weiblichen Gottheiten dieser frühen Gesellschaften sind Zeugnis für die wichtige Rolle, die Frauen spielten. Die klassenlosen Gesellschaften basierten auf Mangel. Dementsprechend gab es keine materielle Basis für feste Familienstrukturen, Privateigentum oder gar einen Staat. Die Erziehung der Kinder eines Stammes war ebenso gemeinschaftlich organisiert wie die Produktion, die Erzeugnisse wurden geteilt. Es konnte noch kein über die unmittelbar zum Überleben notwendigen Bedürfnisse hinausgehendes Mehrprodukt erwirtschaftet werden. Das änderte sich erst mit der Entwicklung des Ackerbaus während der neolithischen Revolution vor etwa


bestimmte Anzahl von Kindern haben. Die Notwendigkeit, die Kinder während der Sammel- und Jagdtätigkeit zu tragen, führte dazu, dass Frauen immer nur ein kleines Kind auf einmal großziehen konnten. Diese Situation änderte sich mit dem Sesshaftwerden grundsätzlich. Kinder wurden als Arbeitskräfte für das Land benötigt, denn die Menge der vorhandenen Nahrung hing von der Zahl der Arbeitskräfte ab. Je mehr Kinder geboren wurden, desto sicherer war die Zukunft der Stammesmitglieder. Die zentrale Rolle des Mannes in der Produktion bestimmte seit dieser Zeit, über die verschiedenen Klassengesellschaften hinweg, seine dominante Position im Staat und in der Familie. Auch in den Familien der herrschenden Klassen spielten deren weibliche Mitglieder meistens eine untergeordnete Rolle – sie wurden häufig als das Besitztum der männlichen Herrscher betrachtet. In eigenständigen Bauern- und Handwerkerhaushalten war das Bild meist ähnlich: Ein Mann (der Patriarch) kontrollierte den wechselseitigen Bezug zwischen Haushalt und Außenwelt, und seine Frau galt ebenso als seine Untergebene wie die Kinder und die Diener. Somit befanden sich in den vorkapitalistischen

WAS WILL MARX21

10.000 Jahren. Damit konnte ein Überschuss erzeugt werden, der über den täglichen Bedarf der Sippe hinausreichte. Das Mehrprodukt wurde zunehmend von einer kleinen Minderheit verwaltet und kontrolliert, während die Mehrheit der Gemeinschaft es erwirtschaftete. Arbeitsteilung wurde zur Quelle der Ungleichheit. Es war möglich geworden, den gesellschaftlichen Wohlstand zu vergrößern, wenn eine Gruppe von Menschen die Ressourcen in ihren Händen konzentrierte und andere unter ihrer Leitung arbeiten ließ. Diese Menschen, meist Priester oder Stammesfürsten, waren befreit von der harten körperlichen Arbeit und konnten nun neue Technologien und Kulturen entwickeln. Sie sprachen sich ein Recht auf eine privilegierte Stellung zu, in Zeiten des Mangels waren sie beispielsweise die Einzigen, denen ausreichend Nahrung zur Verfügung stand. Ein ideologischer und juristischer Überbau in Form von ersten religiösen und staatlichen Institutionen sicherte ihre Herrschaft ab. Der Beginn der Ausbeutung einer Klasse durch eine andere schuf auch die Grundlage für die Unterdrückung von Frauen. Ackerbau unter Zuhilfenahme von schweren Pflügen und Zugtieren und Viehzucht warfen das größte Mehrprodukt ab. Diese produktiven Bereiche befanden sich traditionell in der Hand der Männer und wurden nun aufgewertet. Die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau bekamen eine völlig neue Bedeutung. Wenn eine Gesellschaft zum Beispiel von der einfachen Gartenwirtschaft, die Frauen trotz Schwangerschaft betreiben konnten, zum Ackerbau mit schweren Pflügen oder zur Viehzucht überging, wurden Frauen tendenziell aus den zentralen produktiven Rollen verdrängt. Der Großteil des Mehrprodukts geriet unter die Kontrolle der Männer, oder genauer gesagt: einer Minderheit der Männer an der Spitze der neu entstandenen Hierarchie. Gleichzeitig verstärkte sich die reproduktive Rolle der Frau. Die egalitären Urgesellschaften unterschieden sich von den ersten Klassengesellschaften in einem grundlegenden Punkt: Bis dahin gab es keine Trennung von Produktion und Reproduktion. Produktion bedeutet die Arbeit der Menschen an Rohmaterialien, die von der Natur bereitgestellt werden. Reproduktion meint die Arbeit, die notwendig ist, um die Arbeitskraft herzustellen und aufrechtzuerhalten: also die Kinderbetreuung, -versorgung und -erziehung sowie die Haus- und Familienarbeit. Während in den Urgesellschaften beide Tätigkeiten gesellschaftlich organisiert wurden, wurde in den Klassengesellschaften die Reproduktion zunehmend in den privaten Bereich der Familie verlagert. Die Familie als Ort der Reproduktion der Sippe wurde zu einem wichtigen Pfeiler des Gesellschaftssystems. Während der Jahrtausende, in denen die Menschen als Jäger und Sammler lebten, waren sie Nomaden. Dementsprechend konnten sie nur eine

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Klassengesellschaften Frauen aller Klassen unter der Herrschaft der Männer. Aber sie standen nicht unter der Herrschaft aller Männer. Denn auch viele Männer waren unterdrückt. Die männlichen Sklaven der Antike oder die männlichen Knechte des patriarchalen Haushalts oder auch die unfreien Bauern im Mittelalter hatten nicht mehr Freiheit als die Frauen. Die damit verbundene Arbeitsteilung in der Familie, dass Frauen schwerpunktmäßig für die privat organisierten reproduktiven Tätigkeiten im Haushalt zuständig sind und der Mann für die Produktion, prägt bis heute das Bild der Geschlechter.

Prozent bei gleicher Qualifikation und gleicher Tätigkeit. Wenn Frauen schlechter bezahlt werden als Männer, ist das häufig Ausdruck sexistischer Vorurteile der Chefs. Nicht wenige sind der Meinung, Frauen seien im Haushalt besser aufgehoben als im Berufsleben. Aber ebenso steckt oft knallharte ökonomische Berechnung dahinter: Die Arbeitskraft von Frauen, die Kinder bekommen könnten, ist für einen Unternehmer weniger Wert als die Arbeitskraft von Männern. Frauen können mehrere Jahre ausfallen, wenn sie Kinder bekommen und in Mutterschutz und Elternzeit gehen. Dadurch müssen sie von Anfang an einen »Risikoabschlag« von ihrem Gehalt in Kauf nehmen – eine Art Versicherung, für den Fall, dass sie schwanger werden. Des Weiteren ist es den Arbeitgebern zum Vorteil, wenn sie bei Lohnverhandlungen Männer und Frauen gegeneinander ausspielen können. Diese schlechtere Bezahlung von Frauen ist nicht nur ungerecht, sondern wirkt sich erheblich auf das Privat- und Familienleben aus. Denn sie führt dazu, dass Frauen durchschnittlich weniger Lohnarbeit und mehr Haus- und Erziehungsarbeit leisten. In einer Familie ist es ökonomisch rational, dass der Besserverdienende seine Arbeit behält und der Schlechterverdienende sie für Kinder und Haushalt unterbricht oder aufgibt. Daher kommt die geschlechtliche Arbeitsteilung in vielen Familien: Männer sind häufig in Vollzeit erwerbstätig, Frauen übernehmen die Hausarbeit und Kindererziehung, ohne dafür bezahlt zu werden. Die schlechtere Bezahlung von Frauen kommt den Unternehmern zugute. Für die meisten Männer wirkt sie sich jedoch negativ aus. Ihr Chef kann ihnen beispielsweise drohen, sie durch Frauen zu ersetzen. In heterosexuellen Partnerschaften hat die schlechtere Bezahlung der Frauen Einfluss auf das gemeinsame Einkommen. Auch für die fehlenden oder zu teuren Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder oder die Altenpflege gilt: Von diesen Belastungen im Bereich der privaten Reproduktionsarbeiten profitiert nicht der männliche Partner, sondern es wird der Druck auf die gesamte Familie erhöht. Wer hingegen reich ist, kann sich oder seinen Verwandten einen Platz in einem guten Pflegeheim finanzieren, kann sich private Babysitter, Reinigungskräfte oder Nachhilfelehrer leisten. Was hier zum Ausdruck kommt, sind keine Geschlechter-, sondern Klassenkonflikte. Profiteur ist letztendlich immer das Kapital, das durch die Privatisierung der Reproduktionstätigkeiten und die niedrigeren Löhne der Frauen massiv finanziell entlastet wird. ←

Die schlechtere Bezahlung von Frauen kommt den Unternehmern zugute. Für die meisten Männer wirkt sie sich jedoch negativ aus

★ ★★ WEITERLESEN Christine Behrens, Michael Ferschke, Katrin Schierbach: Marxismus und Frauenbefreiung (Edition Aurora 1999).

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Die Familie hat sich im Lauf von Tausenden von Jahren vielfach verändert, von einer erweiterten Familie, in der mehrere Generationen unter einem Dach lebten und alles, was sie brauchten, selbst produzierten, bis zur heutigen Kleinfamilie, die mittlerweile keine Produktionseinheit mehr ist. In der Anfangsphase des Industriekapitalismus ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schien die traditionelle Familie ein Auslaufmodell zu werden: Mit der beginnenden Industrialisierung strömten Männer, Frauen und Kinder in die Städte, um in den Fabriken ein Auskommen zu finden. Dabei wurden die alten Familienstrukturen zerrissen. Karl Marx und Friedrich Engels bezeichneten diese Entwicklung im »Kommunistischen Manifest« als »erzwungene Familienlosigkeit der Proletarier«. Alle verfügbaren Arbeitskräfte sprichwörtlich in die Fabriken hineinzusaugen war zwar unmittelbar sehr profitabel, untergrub aber zugleich die Grundlagen der weiteren Produktion und Profite der Kapitalistenklasse. Denn die Reproduktion der Arbeiterklasse war durch schlechte Gesundheitsversorgung sowie niedrige Geburtenraten bei gleichzeitig hohen Krankheits- und Sterblichkeitsraten gefährdet. Der damalige Kapitalismus verfügte nicht über die notwendigen Mittel und Technologien für eine vergesellschaftete Reproduktion, also für Kinderhorte, für die Altenpflege, für kommunale Volksküchen oder Wäschereien. Es entstand die Arbeiterkleinfamilie, die sowohl die alltägliche Reproduktion der Arbeitskraft gewährleistete als auch Verantwortung für Erziehung und Versorgung der nächsten Generation sowie der Alten und Kranken übernahm. Bis heute ist der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater kapitalistischer Aneignung auf der einen und privatisierter Reproduktion auf der anderen Seite eine wesentliche Triebfeder der Frauenunterdrückung. Eine der wichtigsten Auswirkungen ist, dass Frauen für Lohnarbeit deutlich schlechter bezahlt werden als Männer. In Deutschland beträgt diese »Lohnlücke« durchschnittlich 23


Neue Gesichter Anfang März fand die Unterstützerversammlung des marx21-Netzwerks statt

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napp 60 Unterstützerinnen und Unterstützer von marx21 kamen am 4. und 5. März in Frankfurt zusammen, um gemeinsam eine Bilanz der Aktivitäten des Netzwerks im vergangenen Jahr zu ziehen und Perspektiven für die kommenden zwölf Monate zu diskutieren. Unter den Teilnehmern waren auch einige neue Gesichter. Insbesondere in Nordrhein-Westfalen und Berlin hat das marx21-Netzwerk in jüngster Zeit neue Unterstützer gewinnen können. Die Generaldebatte stand selbstverständlich unter dem Eindruck der Revolutionen in

Nordafrika. Ein Teilnehmer argumentierte: »Die Revolten beleben die Idee, dass Bewegung von unten reale Veränderung bewirken kann. Das stärkt unsere Argumente in der Debatte über die strategische Ausrichtung der LINKEN.« Die gegenwärtige Verfassung der LINKEN wurde von den Anwesenden als schwierig, aber keineswegs hoffnungslos eingeschätzt: »Lafontaines Abgang in Kombination mit der ungewohnten Rolle als kleine Kraft in einer breiteren Opposition hat dazu geführt, dass die Flügelkämpfe in der Partei wiederbelebt wurden.« Der Partei

TOP TEN Febr./März 2011

Insgesamt waren 11.788 Besucher im März (18.104 im Februar) auf marx21.de 635 Abonnenten erhalten den Online-Newsletter (+15)

(992) (805) (697) (695) (550)

★ ★★ Die Resolution der Unterstützerversammlung steht online unter: www.tinyurl.com/m21resolution2011

ONLINE ANGEKLICKT marx21.de besser nutzen:

marx21 bei Facebook ★  plus 55 Fans in den letzten drei Monaten (884 Fans insgesamt) ★  105 Pinnwandeinträge, Kommentare und Verwendungen von »Gefällt mir« in den letzten vier Wochen ★  2447 Besucher auf der Seite in den letzten vier Wochen

(3945) (1560) (1186) (1180) (1202)

sen – aber ein Anfang ist gemacht. Die Unterstützerversammlung war gleichzeitig der Startschuss für die Mobilisierung zum diesjährigen »Marx is’ muss«-Kongress, der Anfang Juni in Berlin stattfinden wird.

würde es weder nutzen, sich SPD und Grünen anzubiedern, noch sie zum »Hauptgegner« zu erklären. Vielmehr müsse sie eine eigenständige und bündnisfähige Kampagnenarbeit zu ihren Kernthemen wie Frieden und soziale Gerechtigkeit entwickeln. Über zwei Themen gab es längere Diskussionen, um eine gemeinsame Position des Netzwerks zu entwickeln: über Gewerkschafts- und sozialistische Frauenpolitik. Anlass zu letzter Diskussion war die Programmdebatte der LINKEN. Positionen zu den Themen wurden noch nicht beschlos-

Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de 1. Interview mit Luc Jochimsen: Meinung, Macht und Medien 2. Kongress-Seite: Marx is’ muss 3. Dossier: Revolte in Nordafrika 4. Sozialer Widerstand: »Die europäischen Machthaber stehen unter Druck« 5. marx21.de - aktuelles Magazin 6. Islamophobie: Wie man Unschuldige zu Terroristen erklärt 7. Artikelreihe von Elmar Altvater: Marx neu entdecken 8. Gaddafi - Des Westens liebster Feind 9. Ägypten: Muslimbrüder, Blogger, Nasseristen 10. Filmbesprechung: »We Want Sex«

Was macht marx21?

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Ziel: 1000


Weltgeist Stalin In der Kommunismus-Debatte melden sich Theoretiker zu Wort, die der sowjetischen Politik »historische Notwendigkeit« bescheinigen. Das grenzt an Geschichtsblindheit

Von Arno Klönne

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Arno Klönne ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21.

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eutige Sozialisten oder Kommunisten müssten »zu erklären versuchen, wie es dazu kommen konnte, dass eine tief humanistische Idee zu einer Wirklichkeit verkam, die in die Geschichte der Barbarei gehört«, schrieb der Historiker Kurt Pätzold kürzlich in einem Beitrag für die Tageszeitung junge Welt. Gemeint war der Staatsterrorismus in der UdSSR zu Zeiten Stalins. Daraufhin klagte in demselben Blatt der Philosoph Hans Heinz Holz, Hegel-Experte und Kommunist, Kurt Pätzold des »moralisierenden Geschwätzes« an. Zwar seien den »harten Maßnahmen« des stalinistischen Regimes »auch Unschuldige« zum Opfer gefallen, aber zu bedenken seien historische Notwendigkeiten des »härtesten Klassenkampfes«, einer »Konsolidierung der Macht«, einer »rigiden Durchführung der Neuordnung«. Holz berief sich zitierend auf Hegel: »Eine welthistorisch (...) große Gestalt muss manch unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege.« Ist also der »Weltgeist« in der Gestalt von Stalin tätig geworden? Als dessen geschichtliche Leistungen stellt Holz in diesem und in einem weiteren Beitrag heraus: »Ungeheure Erfolge beim Aufbau des Sozialismus in einem ökono­misch, technisch und bil-

dungsmäßig wenig entwickelten Land.« Auch die »Minimalisierung der Kriminalität« sei Stalin zu verdanken, ebenso »Arbeitsplätze und Auskommen für alle« – und eben dadurch die Fähigkeit, den Angriff der deutschen Faschisten zurückzuschlagen. Bei revolutionären Umwälzungen sei »strenge politische Kontrolle« erforderlich, meint Holz. »Fraktionelle Kämpfe in kommunistischen Parteien« müssten, wenn sich die »Machtfrage« stelle, nach folgendem Prinzip erledigt werden: »Revisionismus wird zur Konterrevolution«, »notfalls eliminieren«. Argumentative Hilfe erhielt Holz von dem italienischen Philosophen Domenico Losurdo. Auch der verwies darauf, dass Stalins »zweite Revolution« die Voraussetzung für den Sieg über Hitlerdeutschland geschaffen habe. Im Übrigen hätten sich doch auch die westlichen, kapitalistischen Staaten durchweg barbarischer Mittel bei der Durchsetzung ihrer Interessen bedient. Die Linke habe keinen Grund zur »Selbstgeißelung«. Zwar erwähnt Holz im Hinblick auf die Ära Stalins »Unrechtshandlungen, Verbrechen und Fehlentwicklungen«. Doch geht er davon aus, dass dennoch die »Formationsänderung«, wie er es nennt, in dieser Zeit die Sowjetunion und die dortige Kommunistische Partei in die richtige Richtung gebracht habe.


»Marx, Lenin, Stalin« reiht er unterscheidungslos ein in die »Aufklärungstradition«, den »fortgeschrittensten Stand der Vernunft«.

lich, wie es die Literatur der KPdSU darstellt. Nicht wegen, sondern trotz der Stalinpolitik gelang es, die Aggressoren zurückzutreiben.

Sollen wir also, in den Kategorien der römisch-katholischen Kirche ausgedrückt, Stalin zwar nicht heilig (denn da waren ja einige Ausrutscher), aber doch selig sprechen? Betrachten wir die Geschichte von ihrem Ende her: Die Sowjetunion, der erste Staat mit dem Anspruch, sich auf dem Weg zum Kommunismus zu befinden, ist an ihren inneren Schwächen gescheitert, an systemischen. Die »realsozialistischen« Staaten in Europa, die unter Regie der Sowjetunion standen, haben ziemlich glatt ihren gesellschaftlichen Charakter gewechselt, die DDR ließ sich widerstandslos vom westdeutschen Kapitalismus vereinnahmen. Von den kommunistischen Parteien all dieser Länder ist wenig übrig geblieben. Von einem Versuch derselben, sich dem Untergang des »Realsozialismus« energisch entgegenzustellen, kann keine Rede sein. Eine derart einschneidende Veränderung der gesellschaftsgeschichtlichen Landkarte auf einen »Verrat« des sowjetischen Staatsführers und einiger seiner Gefolgsleute zurückzuführen, hieße auf alle historisch-materialistischen Erkenntnismöglichkeiten zu verzichten. Hat Ende der 1980er Jahre eine »Konterrevolution« gesiegt? Der Begriff erfasst die historische Realität keineswegs. Zweifellos waren die führenden westlichen Staaten seit jeher darauf aus, das sowjetische System und überhaupt den »Realsozialismus« zu beseitigen, mit welchen Mitteln auch immer. Aber die gesamte gesellschaftspolitische Konstruktion der Sowjetunion, mitsamt der Kommunistischen Partei, war längst vorher morsch, von Verfallserscheinungen gekennzeichnet. Geschichtsblind wäre es, da nicht nach strukturbestimmenden historischen Wirkungen der Politik unter Stalin zu fragen. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 hat Chruschtschow dies unterlassen, aus nahe liegenden Gründen: Er und seine Mitfunktionäre waren Geschöpfe der Stalin-Ära. In dieser Zeit war die Schicht der Funktionsträger in Staat und Partei zu einer Kaste geworden, in der offene Diskussion und demokratische Willensbildung verdrängt waren. »Marxismus-Leninismus« war verwandelt in eine Karikatur wissenschaftlich-politischen Denkens, »Säuberungen« und Schauprozesse hatten dem kommunistischen Selbstbewusstsein das Rückgrat gebrochen, große Teile des personellen Potenzials der Partei waren »liquidiert« oder in Lager verbannt. Angst und Opportunismus gehörten zum Alltag der Funktionäre. Bei der Masse der Bevölkerung hatten Zwangskollektivierung, ethnische Deportationen und »Arbeitslager« riesige soziale und psychische Verwüstungen angerichtet. Die Abwehrkraft der »Sowjetmenschen« gegenüber dem hitlerdeutschen Angriff war keineswegs so ungebrochen und selbstverständ-

Waren die gesellschaftsgeschicht1ichen Weichenstellungen in der Ära Stalins tatsächlich »alternativlos«, »historisch notwendig«, um »Rückständigkeit« zu überwinden? Und hatte die mit dem »Führer« Stalin verbundene Entwicklung nichts zu tun mit dem Untergang des sowjetischen Systems einige Jahrzehnte später? Das sind Fragen, denen Karl Marx und Friedrich Engels, Rosa Luxemburg und Lenin nicht ausgewichen wären. In großer Zahl sind Kommunisten innerlich daran zerbrochen, dass sie Kritik an den Fehlwegen der Stalin-Ära nicht entwickeln mochten oder nicht offen äußern konnten, weil sie die weltpolitische Stabilität der Sowjetunion nicht gefährdet sehen wollten – eine tragische Situation, die erst mit dem Ende des »Ost-

blocks« nicht mehr bestand. Aber zur historischen Farce wird nun jeder Versuch, Stalin selig zu sprechen. Folgern lässt sich aus alledem: »Sozialismus oder Barbarei« heißt eben auch, dass es keine »Weltgeist«Garantie für das Gelingen einer Alternative zum Kapitalismus gibt. Dann bleibts bei der Barbarei. Also müssen Sozialisten über Risiken des Scheiterns, über Bedingungen des Gelingens nachdenken und sich austauschen, mit dem Blick auf die eigenen Konzepte, Handlungen und Strukturen, nicht nur auf die Operationen ihrer Gegner. Personalisierung hilft nicht weiter bei der Analyse der Geschichte, aber die historischen Akteure sind Personen, im Zusammenhang von Gruppen, Organisationen und Klassen. Stalin war nicht ein Teufel, der alles verdarb. Aber er war in einer bestimmten Ära der Mann, der despotisch eine Partei lenkte, die sich kommunistisch nannte. In ihr wirkten zwar auch Kommunisten, aber die Partei war nicht mehr kommunistisch. So viel Genauigkeit im Umgang mit Begriffen muss sein. Sonst könnte man ja die »Heilige Inquisition« als Truppe zur Realisierung der Bergpredigt bezeichnen. ←

KOLUMNE

Stalin war der Mann, der despotisch eine Partei lenkte, die sich kommunistisch nannte

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Ägypten Am 13. Februar demonstrierten mehrere tausend Öl- und Gasarbeiter vor dem Ölministerium in Nasr City, einem Stadtteil der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Sie forderten höhere Löhne und volle Organisationsrechte für ihre Gewerkschaft. Außerdem verlangten sie, die Arbeiter wieder einzustellen, die entlassen worden waren, weil sie sich für die Gewerkschaft eingesetzt hatten. Ein Demonstrant hält ein Plakat hoch, auf dem zu lesen ist: »Petrojets Arbeiter rufen um Hilfe«. Petrojet ist einer der größten Dienstleister in der petrochemischen Industrie Ägyptens. Weitere Forderungen der Demonstranten waren ein Amtsenthebungsverfahren gegen den korrupten Ölminister Sameh Fahmy und eine Ende der Erdgasexporte nach Israel.

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Ein neuer Beginn

Der Gouverneur von Wisconsin will die Rechte der Gewerkschaften massiv einschränken – und erreicht das Gegenteil: Der kleine US-Bundesstaat erlebt die größte Protestbewegung seit Jahrzehnten Von Loren Balhorn

ie politische Landschaft der USA ist nicht mehr dieselbe wie noch vor zwei Monaten. Schuld daran ist der kleine Bundesstaat Wisconsin, der normalerweise nur in den Schlagzeilen landet, weil ein erfolgreiches Footballteam dort herkommt. Wisconsin leidet wie viele Bundesstaaten unter den Folgen der Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2007 verdoppelt, viele Kommunen haben finanzielle Schwierigkeiten. Doch die größten Probleme bereitet nicht die Finanzkrise, sondern die knallharte neoliberale Politik des neuen Gouverneurs, Scott Walker. Der Republikaner Walker wurde Ende 2010 gewählt, weil Millionen enttäuschte Obama-Unterstützer nicht zur Wahl gingen. Er versprach, die Wirtschaft anzukurbeln – und schenkte den großen Unternehmen über 200 Millionen Dollar in Form von Steuererleichterungen. Damit riss er ein riesiges Loch in den Haushalt. Als Walker im Februar versuchte, den Haushalt für das Jahr 2012 verabschieden zu lassen, diente ihm das Finanzloch als Rechtfertigung dafür, massive Kürzungen im öffentlichen Dienst durchzuführen. Zugleich wollte er die Rechte der Gewerkschaften soweit einschränken, dass sie sich in diesem Bereich de facto nicht mehr betätigen könnten. Da die Republikaner die absolute Mehrheit im Senat von Wisconsin haben, sprach alles dafür, dass das Gesetz schnell durchgewunken würde. Das, was dann passierte, hatte wohl niemand erwartet. Binnen kürzester Zeit gingen Massen auf die Straße. Eine solch kraftvollen Arbeitskampf hatten die USA seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Die außergewöhnliche Schärfe von Walkers Angriffen ermöglichte eine weit in die Mitte der Gesellschaft ausgreifende Mobilisierung: In jeder Stadt fanden Demonstrationen statt, häufig die größten, die die Ortschaften in ihrer Geschichte erlebt hat-

ten. Die Abgeordneten der Demokraten flohen in den Nachbarstaat Illinois, um im Senat die Abstimmung über den Haushalt zu verhindern. Zugleich besetzten Studierende und Gewerkschafter wochenlang den Regierungssitz.. Auf dem Höhepunkt der Bewegung demonstrierten 200.000 Menschen in der Landeshauptstadt Madison, was in etwa deren Einwohnerzahl entspricht. Wie sich die Auseinandersetzung in Wisconsin weiterentwickeln wird, ist unklar. Mittlerweile wurde das Gesetz zwar verabschiedet, doch wird das wahrscheinlich juristisch keinen Bestand haben. Die Demokraten und die Gewerkschaften plädieren dafür, die Demonstrationen zu beenden und orientieren auf eine Abwahl Walkers – obwohl das frühestens 2012 möglich wäre. Eine relevante Minderheit der Bewegung will weiterkämpfen, einige Bezirksverbände der Gewerkschaften diskutieren sogar über einen Generalstreik. Doch ohne Unterstützung der Landesebene wird es kaum möglich sein, ihn durchzuführen. Wie auch immer es ausgeht: Wisconsin zeigt, dass die US-amerikanische Arbeiterbewegung noch lange nicht tot ist. Auch in anderen Staaten planen die Regierungen Betätigungsverbote für Gewerkschaften. Doch der Aufstand in Wisconsin hat den Amerikanern gezeigt, wie man sich dagegen wehren kann. Der »Druck von links« auf die Demokraten, der seit dem Beginn von Obamas Amtszeit fehlt, ist endlich wieder da. Das Potenzial für die Bildung einer neuen Linken ist immens, wie eine Freundin aus Wisconsin mir kürzlich am Telefon sagte: »Seit Wisconsin ist alles anders. Es ist der Anfang eines Neubeginns.« ★ ★★ Loren Balhorn ist in Wisconsin aufgewachsen. Derzeit studiert er in Berlin und ist Mitglied von Die Linke.SDS.

8NEWS 8 OMAN Die Arbeiter der staatlichen Ölindustrie von Oman sind Mitte März für höhere Löhne in den Streik getreten. Die Arbeitsniederlegung der Beschäftigten bei Petroleum Development Oman war der erste Streik bei einer nationalen Ölgesellschaft in den Ländern des Persischen Golfs seit dem Beginn der arabischen Revolution.

8 ITALIEn Am 12. März haben Streikende des öffentlichen Diensts Schulen, Universitäten und den öffentlichen Nahverkehr Italiens lahmgelegt. Ihre Hauptforderung war die Einhaltung von Flächentarifverträgen. Außerdem verlangten sie, die Reichen zu besteuern anstatt im öffentlichen Dienst zu kürzen.

8 KENIA Kenias größter Energiekonzern KPLC wurde Mitte März bestreikt. 6000 Arbeiter legten ihre Werkzeuge nieder, um gegen den zunehmenden Einsatz von Billiglohnarbeitern zu protestieren. Laut Tarifvertrag müssen diese nach einer gewissen Zeit den gleichen Lohn wie alle andern Beschäftigten bekommen. KPLC hält sich jedoch nicht daran.

USA

Besucherrekord Rekordbeteiligung beim Left Forum, das am 20. und 21. März in New York stattfand: 5000 Menschen kamen zum größten linken Kongress auf dem nordamerikanischen Kontinent zusammen. 108 Seiten umfasste das Programm, kaum ein Thema, das bei den 130 Veranstaltungen und Podien nicht besprochen wurde. Sehr wichtig zum Ideenaustausch und für organisatorische Absprachen war das Left Forum für linke Gewerkschafter. Dutzende waren aus allen Teilen der USA an die Ostküste gekommen, um gemeinsam mit mehr als 100 Kollegen aus dem Großraum New York das Vorgehen gegen die Kürzungsprogramme zu beraten, die in den einzelnen Staaten erwartet werden.

WELTWEITER WIDERSTAND

USA

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tände s s u A n n finde Die e b e i r t send Be u 70 Prozent. s aufblitzen u a t t s a z e er: In f um bis ung des Land m n m e o g S n n u angene en Lohnerhöh Arbeiterbeweg g r e v China im eiter erkämpf ht der neuen c rb statt, A lle lässt die Ma e Streikw Von Florian Butollo

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Florian Butollo ist Politologe und forscht über die chinesische Krisenpolitik. Kürzlich hat er im Perlflussdelta die Umbrüche in den chinesischen Arbeitsverhältnissen untersucht.

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an Zhiqing und Xiao Xiao waren sich der Tragweite ihrer Handlung sicher nicht bewusst, als sie Mitte Mai vergangenen Jahres den roten Knopf drückten. Jenen roten Knopf, der die Fließbänder im Getriebewerk von Honda in der südchinesischen Fünfmillionenstadt Foshan stoppen ließ. Die beiden wussten noch nicht, dass sie damit die bedeutendste Streikwelle der letzten Jahre lostreten würden. Sie waren sich vermutlich ebenso wenig darüber im Klaren, dass Honda aufgrund ihres Ausstandes täglich einen Verlust von 26 Millionen Euro machen würde. Bestimmt hatten sie auch nicht damit gerechnet, dass Renmin Ribao, die offizielle Tageszeitung der regierenden Kommunistischen Partei, bald ausführlich über ihren Streik berichten würde und dass Arbeiter im ganzen Land aufmerksam die Ereignisse in Foshan verfolgen würden. Binnen weniger Wochen nach Beginn ihres Arbeitskampfes stand die Produktion in vermutlich Hun-

derten von Unternehmen still. Allein in der benachbarten Provinzhauptstadt Guangzhou fanden im Sommer 2010 mehr als 60 Streiks statt. Nach inoffizieller Aussage eines Vertreters des staatlichen Gewerkschaftsbunds (ACGB) soll es bis zu eintausend Ausstände in ganz China gegeben haben. Zhiqing und Xiao hatten ihre spontane Aktion im Vorfeld mit einigen Kollegen abgesprochen, Anlass war ein Trick der Geschäftsführung. Wie in vielen anderen Städten der Region hatte zu dieser Zeit die Lokalregierung von Foshan die Mindestlöhne kräftig erhöht. Die Erhöhung hätte auch an die Beschäftigten von Honda weitergegeben werden müssen. Doch die Geschäftsleitung versuchte, die Arbeiter hinters Licht zu führen. Sie erhöhte die Basislöhne, kürzte jedoch Überstundenzuschläge und andere Bonuszahlungen, sodass der Lohn nahezu unverändert blieb. Dieser Trick brachte das Fass zum überlaufen.


Die Arbeitsbedingungen bei Honda in Foshan, einem firmeneigenen Zulieferbetrieb von des Automobilherstellers, sind wie bei anderen Autozulieferern der Region schlecht. Die Belegschaft setzt sich aus Wanderarbeitern zusammen: junge Arbeiter aus dem chinesischen Hinterland, die in Hoffnung auf ein modernes Leben und zur Unterstützung ihrer Familien bei Industriebetrieben in den Küstenprovinzen anheuern. Zwischen 180 und 200 Euro bringt ein Arbeiter bei Honda am Ende des Monats nach Hause – ein Lohn, mit dem sich selbst in China keine Existenz aufbauen lässt. Mindestens das Doppelte wäre notwendig. Für die so genannte zweite Generation der Wanderarbeiter ist der Traum vom urbanen Leben ein Ansporn mehr Geld zu fordern. Ihre Eltern hatten sich in den 1990er Jahren noch mit den unwürdigsten Bedingungen abgefunden, um der ländlichen Armut zu entrinnen. Doch junge Arbeiter wie Zhiqing und Xiao sind nicht mehr bereit, das zu akzeptieren. Sie wollen nicht zurück in ihre verschlafenen Heimatorte, wo städtischer Lebensstil und die Verlockungen des Massenkonsums noch weit weg sind. Da derzeit der Nachschub an Arbeitskräften aus der Provinz nicht mit dem schnellen Wirtschaftswachstum mithält, sind die Voraussetzungen gut, für bessere Bedingungen zu streiten – denn die Arbeiter haben gegebenenfalls die Möglichkeit, sich nach einem Job in einem anderen Unternehmen umzusehen. Noch magerer als die Gehälter der Wanderarbeiter bei Honda sind die der Auszubildenden. Sie verdienten vor dem Streik zwischen 100 und 130 Euro im Monat, und das, obwohl sich ihre Arbeit kaum von jener der regulären Beschäftigten unterscheidet. Der Lerneffekt bei der Arbeit ist gleich null. Die Azubis berichten häufig über monotone und langweilige Tätigkeiten. Für die Unternehmen stellen sie jedoch einen großen Kostenvorteil dar. Denn für Auszubildende gelten Arbeitsrechte wie Mindestlohn und Kündigungsschutz nicht. Bei Honda in Foshan sind saisonabhängig zwischen 30 und 70 Prozent der Beschäftigten Azubis. Diese Ausbeutung im großen Stil ist in der Region keine Seltenheit. Auch andere Unternehmen setzen Azubis als Billigarbeitskräfte ein. Doch das Management von Honda musste einen hohen Preis für diese Strategie zahlen. Denn der Zusammenhalt der Azubis, die sich zum Teil noch aus der Schule kannten und Virtuosen der modernen Kommunikationstechniken sind, war ein Grund für die Dynamik und die Ausdauer des Streiks in Foshan. Ein weiterer Grund waren die Bedingungen, unter denen die Arbeiter bei Honda tätig sind. Alle Beschäftigten unterliegen einem hohen Arbeitsdruck und der Disziplin der Just-in-time-Produktion. Wenige Sekunden müssen oft für die Anbringung einzelner

Teile reichen. Wer zu langsam ist, hält das Band auf und schadet allen. Digitale Zeitmesser zeigen an, in wieweit das Soll erfüllt wird und berechnen automatisch, wie viele Überstunden geschoben werden müssen. Dieser Wettlauf gegen die Uhr hat sich in den Monaten vor dem Streik zunehmend verschärft. Sogar im Krisenjahr 2009 wuchs der Umsatz bei Honda aufgrund des staatlichen Konjunkturpakets um 42 Prozent. Die Kapazitäten reichen kaum mehr, um die steigende Nachfrage des chinesischen Marktes zu befriedigen. Honda hat bereits den Bau neuer Werke angekündigt, doch momentan müssen die alten Kapazitäten reichen – unter Aufopferung der meist jugendlichen Arbeitskräfte. Während das Justin-time-System einerseits dazu geeignet ist, die Effizienz der Produktion maximal zu steigern, war es andererseits dafür verantwortlich, dass der Streik eine ungeheure Wirkung entfaltete. Nur zwei Arbeiter konnten die Produktion stilllegen. Anfangs beteiligten sich nur etwa 50 der rund 2000 Arbeiter aktiv an der Aktion. Schon bald führte dies zu Produktionsausfällen im Honda-Hauptwerk in Guangzhou, da die fehlenden Getriebeteile aus Foshan nicht geliefert wurden. Der über zwei Wochen andauernde Streik bei Honda in Foshan machte landesweit Schlagzeilen. Schon vorher hatte ganz China die schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne in der Region diskutiert. In der ersten Hälfte des Jahres hatten sich zwölf Arbeiter des Elektronikherstellers Foxconn, der unter anderen den iPod für Apple herstellt, das Leben genommen. Premierminister Wen Jiabao sprach sich damals für eine bessere Behandlung der Wanderarbeiter aus. Die Mindestlöhne wurden deutlich erhöht, um mehr Arbeiter in die Städte zu locken. Diese öffentliche Diskussion gab den streikenden Arbeitern nun Rückenwind. Die Arbeitskämpfe breiteten sich in Windeseile in der Region aus. Vor allem die Zulieferer von Autoherstellern wie Honda und Toyota wurden bestreikt. Im Stadtbezirk Guangzhou-Nansha befanden sich binnen weniger Wochen acht von vierzehn Toyota-Zulieferern im Ausstand. Doch auch Unternehmen anderer Branchen, etwa eine Carlsberg-Brauerei, Werke des Elektronikherstellers Flextronics sowie Möbelund Textilfabriken wurden bestreikt. Schließlich folgten Arbeiter aus anderen Regionen dem Beispiel aus dem Süden: In Beijing, Shanghai, Chongqing und vielen anderen Städten Nord- und Zentralchinas wurde gestreikt, wenn auch nicht mit derselben Heftigkeit wie in der Provinz Guangdong. Es handelte sich bei der Streikbewegung um den wohl größten Aufstand der chinesischen Arbeiter der letz-

INTERNATIONALES

Eine 19-jährige Arbeiterin führte den Streik in Foshan an

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„Es gibt hier nichts zu sehen“. Bild des Künstlers Nick Arcidy über die Internetzensur durch Chinas Staatspräsident Hu Jintao

ten Jahre. Bemerkenswert ist aber nicht nur dessen Dimension, sondern auch dessen Offensivität. In der Vergangenheit waren Proteste der Wanderarbeiter meistens defensiv und auf die einzelne Fabrik beschränkt gewesen. Davon unterschied sich die jüngste Streikwelle in vielerlei Hinsicht. Zum einen setzten die Arbeiter gewaltige Lohnsteigerungen durch. Bei Honda in Foshan waren es durchschnittlich etwa 60 Euro, was einer Lohnerhöhung von 30 bis 50 Prozent entspricht. Bei einem Toyota-Zulieferer in Guangzhou lag die Steigerung sogar bei knapp 90 Euro, ein Lohnzuwachs von fast 70 Prozent. In vergangenen Kämpfen der Wanderarbeiter waren offensive Lohnforderungen die absolute Ausnahme ge-

Nick Arcidy

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wesen. Sie hatten sich meist gegen die Nichtauszahlung von Löhnen gerichtet. Als Kampfmittel wählten die Arbeiter in der Vergangenheit meist die Blockade von öffentlichen Plätzen. Nun führten sie die Kämpfe in den Betrieben. Früher appellierten sie an die Regierung. Nun konfrontierten sie direkt die Betriebsführungen mit ihren Forderungen. Der Streik bei Honda in Foshan ähnelte einer kämpferischen Tarifrunde in Deutschland: Ausstände der Beschäftigten wurden von Verhandlungen mit dem Management unterbrochen. Erst nach einer fortwährenden Eskalation musste sich die Unternehmensleitung dem Druck der Arbeiter beugen. So etwas hatte es in China noch nie gegeben, schließlich gibt es weder unabhängige Interessenvertretungen noch das Recht auf Kollektivverhandlungen. Die Arbeiter nahmen sich diese Rechte und setzten eine qualitative Anhebung des Lohnniveaus durch. Eine weitere Besonderheit der Streikbewegung des letzten Sommers war, dass sie sich besonders schnell über Betriebsgrenzen hinweg ausweitete. Bei einem Honda-Zulieferer in der Stadt Zhongshan forderten die Beschäftigten beispielsweise genau denselben Nominallohn, den ihre Kollegen in Foshan zuvor durchgesetzt hatten. Die Streikenden inspirierten sich gegenseitig zu höheren Forderungen und setzten Beispiele für erfolgreiche Kämpfe. Die Basis für diese Verallgemeinerung der Lohnforderungen war der allgemeine Unmut über die schlechte Bezahlung. Die Forderung nach höherem Lohn konnte einfacher verallgemeinert werden als die Empörungen über spezielle Missstände in einzelnen Fabriken, die bei vereinzelten, »zellulären« Kämpfen der Wanderarbeiter im Vordergrund gestanden hatten. Im Windschatten der Lohnforderungen wurden aber auch weitere Beschwerden artikuliert. Bei Honda etwa erstellten die Arbeiter einen Katalog von 108 Forderungen an das Management. Schließlich zeichneten sich die Streiks durch ein hohes Maß an Eigeninitiative der Arbeiter aus. Sämtliche Arbeitskämpfe waren an den Organen der Staatsgewerkschaft vorbei organisiert worden. Bei Honda und anderen Betrieben kam es zur Wahl von basisdemokratischen Streikkomitees, da sich die staatliche Betriebsgewerkschaft entweder als nutzlos oder als schädlich erwiesen hatte. In einigen Fällen gehörte die Forderung nach einer demokratischen Interessenvertretung, das heißt nach der Neuwahl der Betriebsgewerkschaften, zu den Kernforderungen des Streiks. Die alten Hierarchien der autoritären


betrieblichen Arbeitsbeziehungen wurden mehr und mehr in Frage gestellt. Eine 19-jährige Arbeiterin war eine der wichtigsten Führungspersönlichkeiten des Streiks in Foshan. Um nicht vollkommen die Kontrolle über die Bewegung zu verlieren, unterstützten schließlich Teile der Gewerkschaften die Streiks. Dies trug wiederum dazu bei, dass das Management der betroffenen Betriebe weiter in die Defensive geriet und zähneknirschend Lohnerhöhungen zustimmen musste, gegen die es sich lange mit allen Mitteln gewehrt hatte. In der Dynamik der Streikwelle kündigte sich erstmals an, was der gespaltenen und atomisierten chinesischen Arbeitsgesellschaft jahrelang gefehlt hatte: eine kollektiv handelnde Klasse, die gemeinsame Forderungen über Betriebsund Branchengrenzen hinweg formuliert – und die gemeinsam für Verbesserungen der Bedingungen kämpfen kann. Doch obwohl die Streikwelle dieses Potenzial aufzeigt, existieren noch erhebliche Hindernisse für die Entstehung einer schlagkräftigen chinesischen Arbeiterbewegung. So existiert beispielsweise keine unabhängige Gewerkschaft. Die staatliche ACGB versucht zwar in beschränktem Ausmaß als Interessenvertretung der Arbeiter in der Privatwirtschaft zu fungieren. Zugleich ist sie aber von der Regierung abhängig und dient ihr als Instrument zur »Harmonisierung« der Arbeitsverhältnisse. Letzten Endes ist die Position des ACGB abhängig von den wirtschaftlichen Prioritäten der Regierung. Eine unkontrollierte Ausweitung von Streiks wird von dieser nach wie vor als Bedrohung angesehen, auch wenn sie die Kämpfe derzeit weder gewaltsam unterdrücken will noch kann. Eine bedeutende Herausforderung für die Entstehung einer politischen Arbeiterbewegung besteht außerdem in der Heterogenität der chinesischen Wirtschaft. In den unterschiedlichen Branchen und Regionen herrschen äußerst verschiedene ökonomische Verhältnisse vor. Die Vermittlung der Interessen der Beschäftigten zu gemeinsamen Kampfforderungen wird nicht von heute auf morgen geschehen. Auch wenn die jüngste Streikbewegung weiter ausgegriffen hat als jemals eine vor ihr, so ist sie doch an großen Teilen des Landes und an wichtigen Branchen wie der Textil- oder Elektronikindustrie vorbeigegangen.

Ob es trotz dieser Unterschiede zur weiteren Formulierung und Durchsetzung gemeinsamer Interessen kommt, hängt auch davon ab, in wieweit es der Regierung gelingt, die kommenden Kämpfe ökonomisch und politisch zu integrieren und sie dadurch zu befrieden. In dieser Hinsicht befinden sich die Herrschenden in China in einer Zwickmühle. Einerseits ist klar, dass eine Fortsetzung des einseitig exportorientierten Wachstums nicht möglich ist. Es ist wirtschaftlich kaum aufrechtzuerhalten und führt zu zunehmenden sozialen Verwerfungen. Andererseits ist eine Alternative dazu, etwa in Form einer stärkeren Binnennachfrage, derzeit nicht in Sicht. Wenn die Regierung sich gegen die Interessen der Exportunternehmen stellt, indem sie den Ansprüchen der Wanderarbeiter freien Lauf lässt, läuft sie Gefahr, sich genau jenes Standbein wegzuziehen, auf dem der spektakuläre Aufstieg der Wirtschaft basiert. Daher schreckt die Regierung in letzter Instanz vor einem Konflikt mit jenen Unternehmen zurück, deren Geschäftsmodell nur durch die Ausbeutung billiger Wanderarbeit funktionieren kann. Hierbei handelt es sich nicht nur um die berüchtigten Sweatshops der Spielzeug- und Bekleidungsindustrie, sondern auch um Hightechunternehmen wie Foxconn, die modernste Technik und Billigarbeit kombinieren. Der Konflikt um die Transformation des Wachstumsmodells spitzt sich derzeit zu: Ein Gesetzentwurf der Provinzregierung von Guangdong, der den Beschäftigten das Recht auf regelmäßige Tarifverhandlungen gewähren sollte, wurde im Januar zurückgezogen – nachdem die Unternehmer dagegen Sturm gelaufen waren. Die von der Regierung angestrebte »Harmonisierung« der Arbeitsbeziehungen durch Zugeständnisse an die Arbeiter könnte somit zu einem Brandbeschleuniger für weitere Arbeitskämpfe werden. Die öffentliche Diskussion um die schlechten Bedingungen für die Wanderarbeiter beflügelt deren Forderungen. Die Regierung schwankt aber zwischen der Umsetzung drastischer Reformen und dem Druck der Exportunternehmen. Die neue chinesische Arbeiterbewegung, so sporadisch und unpolitisch sie derzeit auch sein mag, könnte ihr bald über den Kopf wachsen. ←

←Siehe auch Buchbesprechung auf Seite 96→

INTERNATIONALES

Die chinesische Regierung schreckt vor einem Konflikt mit jenen Unternehmen zurück, die von der Ausbeutung billiger Wanderarbeit profitieren

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78 Š Bundeswehr-Fotos / flickr.com


»Es ist auch ein Propagandakrieg« Die afghanische Oppositionelle Malalai Joya kämpft seit Jahren gegen die Besetzung ihres Landes. Ein Gespräch über westliche Heuchelei, Erwartungen an die deutsche Linke – und einen Schuh für Obama

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arum setzt die NATO den Krieg in Afghanistan fort, obwohl sich herausgestellt hat, dass sie die ursprünglich propagierten Ziele nicht erreichen wird? Die NATO agiert in Afghanistan aufgrund ihrer eigenen geostrategischen und politisch-ökonomischen Interessen. Daher ist mit einem Abzug oder gar dem Ende der Einflussnahme in naher Zukunft nicht zu rechnen. Sie wollen einen leichten Zugang zu Öl und anderen Bodenschätzen der zentralasiatischen Republiken und die Transportwege durch Afghanistan kont-

Malalai Joya

Malalai Joya ist die jüngste Parlamentarierin Afghanistans. Aufgrund ihrer Kritik an der Besatzung, dem KarzaiRegime und den Warlords muss sie mittlerweile im Untergrund leben.

rollieren. China verfolgt seine eigenen Interessen in Afghanistan, Iran, Russland – alle Nachbarstaaten wirken in Afghanistan mit. Wir befinden uns im geostrategischen Herzen Asiens und sind umzingelt von Feinden. Wissen Sie, wenn die USA ehrlich mit der afghanischen Bevölkerung umgehen würden und uns selbstständig und unabhängig entscheiden ließen, wäre dieser Krieg schnell zu Ende. Aber die USA zwingen uns, ihre Vorhaben umzusetzen, mit denen sie die Demokratie und die Menschenrechte verhöhnen. Das ist für mich

und die afghanische Bevölkerung eine Politik der Kriegsverbrechen. Sie töten Zivilisten, sie benutzen weißen Phosphor, Streubomben, Urangeschosse, die langfristige Folgen für die Gesundheit auch von jungen Menschen haben, und sie bombardieren unsere Hochzeitsfeiern. In den vergangenen neun Jahren sind sogar die Taliban direkt oder indirekt unterstützt worden. Mittlerweile sind Beweise dafür veröffentlicht worden, dass in Gebieten Waffen und Nahrungsmittel abgeworfen wurden, in denen die Taliban die Macht innehaben. Wenn die NATO-Truppen wirklich aus edlen Gründen wie Sicherheit oder Demokratie in Afghanistan wären, würden sie dann solche Personen oder die Warlords unterstützen? Aufgrund dieser Erfahrungen bin ich auch der Meinung, dass die Regierungen der NATO-Staaten ihre Truppen und Steuergelder verheizen. Wenn man Afghanen fragt, was sie von den deutschen Truppen halten, fragen sie zurück: »Gibt es hier deutsche Soldaten?« Man kann keinen Unterschied zwischen deutschen oder USSoldaten wahrnehmen.

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ie sieht der Widerstand aus? Es gibt unterschiedliche Formen des Widerstands, über die die Medien nie berichten. Es gibt den reaktionären Widerstand der Taliban. Die Presse macht aus dieser Mücke in der Regel einen Elefanten. Darüber hinaus existiert ein Widerstand der Jugend, der afghanischen Bevölkerung und der demokratischen Parteien. Sie befinden sich zum Teil im Untergrund, aber agieren dennoch gegen die Besatzung, gegen die Warlords und auch gegen die Führung der Taliban. Dieser Widerstand wird

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nde Januar hat die Mehrheit des deutschen Bundestags für die einjährige Verlängerung des Bundeswehrmandats in Afghanistan gestimmt. Wie fällt Ihre Bilanz nach bald zehn Jahren Krieg und Besetzung aus? Die Ergebnisse dieses Kriegs sind Massaker, Blutvergießen, Tragödien und Leid. Die Geschichte hat bereits gezeigt, dass niemand Demokratie durch Besetzung bringen kann. Unglücklicherweise ist mein Land im Namen der Frauenund Menschenrechte und der Demokratie nach dem 11. September besetzt worden. Die Taliban wurden zwar durch Warlords ersetzt, aber sie unterscheiden sich weder praktisch noch ideologisch wesentlich voneinander. Die vergangenen neun Jahre zeigen, dass die USA nur die Köpfe ausgetauscht haben. Die einfachen Menschen fragen sich heute, wie es möglich sein kann, die Macht der Taliban binnen zwei Tagen zu brechen, sie aber trotz riesiger Kriegsmaschinerie in neun Jahren nicht zu besiegen. Es ist klar, dass die USA und die NATO dies gar nicht beabsichtigen.

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totgeschwiegen. Die afghanischen Bewegungen und Parteien organisieren Kundgebungen und Demonstrationen. Die Menschen treffen sich in der Öffentlichkeit, um gemeinsam die Bilder der Warlords mit Schmutz zu bewerfen. Und obwohl ich Waffen ablehne, da sie dazu beigetragen haben, unser Land zu zerstören, muss ich aus persönlicher Erfahrung sagen, dass die Waffen meiner Bodyguards mich nun schützen. So geht es vielen im Land. Wenn die NATO das Land weiter besetzt hält, wird ihr, wie anderen zuvor, auch militärisch Widerstand entgegengebracht und ihr eine militärische Lektion erteilt werden. Man sollte aber nicht die Augen davor verschließen, dass viele Menschen kriegsmüde sind. Einige Generationen haben nie etwas anderes erlebt. Sie wollen, dass der Krieg ein Ende hat.

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ie NATO hat im November ihre neue Strategie beschlossen. Sie will sukzessive afghanische Polizei- und Militär-

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einheiten ausbilden und bewaffnen. Befürchten Sie, dass es in absehbarer Zeit zu einem offenen Bürgerkrieg kommen wird? Ich denke, es gibt viele Ähnlichkeiten mit dem Vietnamkrieg. Auch diesen sogenannten gerechten Krieg konnten die USA nicht gewinnen – ebenso wenig wie sie den Krieg in Afghanistan werden gewinnen können. Daher suchen sie nach einer anderen Lösung. Sie wollten den Vietnamkrieg vietnamisieren. Und dasselbe tun sie heute. Sie afghanisieren den Krieg in Afghanistan: Die neue afghanische Polizei und die Armee werden als Kanonenfutter in den Krieg geschickt, damit nicht mehr so viele Soldaten aus dem Westen ihr Leben verlieren. Gleichzeitig entwickeln die USA die militärische und die Geheimdienstinfrastruktur im Land. Sie bauen beispielsweise Militärstützpunkte, von denen aus sie weiter in der Region operieren können. Auch die US-Botschaft in Kabul gleicht eher einer

»Stadt in einer Stadt«, wie Noam Chomsky sagte, als einer diplomatischen Vertretung. Dasselbe gilt übrigens auch für die US-Botschaft in Bagdad. Ein weiteres Problem beim Aufbau der afghanischen Polizei – bei uns wird sie die Dollar-Polizei genannt – ist, dass viele arbeitslose Menschen, die bislang keiner Miliz oder bewaffneten Gruppe angehört haben, infolge ihrer Armut keine Alternative zum Dienst an der Waffe sehen. Die afghanische Armee untersteht außerdem einem Mann, der zu den alten Warlords zählt. Aber das Problem ist nicht die Armee, ihre Finanzierung oder der ein oder andere Warlord. Wenn die USA es wollen, werden sie mit ihnen umspringen wie mit Saddam. Falls sie nicht gehorchen, werden sie fallen gelassen. Ich möchte betonen, dass sich für uns die Politik der USA nach dem Regierungswechsel nicht geändert hat. Obama wird von uns »die große Enttäuschung« genannt. Er hat noch mehr Truppen ge-


schickt, den Konflikt angeheizt und den Krieg ausgeweitet. Er hat die Kriege im Irak und in Afghanistan fortgeführt und Kriege nach Pakistan und in den Jemen gebracht. Er unterstützt das kriminelle Regime in Israel und das, was es in Gaza getan hat und weiterhin tut. In einigen Punkten ist die Politik Obamas für uns noch gefährlicher als die Politik seines Vorgängers George Bush. Deswegen hat Obama in Afghanistan den Spitznamen »wildgewordener gefährlicher Bush« bekommen. Einige bezeichnen ihn auch schlicht als einen Kriegstreiber. Ich hoffe und ich bin mir sicher, dass jemand Schuhe auf Obama werfen wird, wie vor einigen Jahren jemand in Bagdad einen Schuh auf George Bush geworfen hat, falls die jetzige Regierung ihre Politik nicht ändert. Und ich hoffe, dass dieser Schuh aus Afghanistan kommt.

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as denken Sie über die Entscheidung des deutschen Bundestags, den Kriegseinsatz der Bundeswehr um ein Jahr zu verlängern? Ich habe an der Sitzung im Bundestag als Besucherin teilgenommen und gesehen, dass die meisten deutschen Abgeordneten den Krieg befürworten. Die Entscheidung hat mir einmal mehr die Doppelmoral der Kriegstreiber unter den westlichen Politikern und Regierungen deutlich gemacht. Auf der einen Seite verkünden sie, dass sie ihre Truppen ab 2011 oder 2014 zurückziehen wollen, und auf der anderen Seite schickt die NATO weitere 1400 Soldaten nach Afghanistan. Leider wird über die-

se Heuchelei kaum in den westlichen Medien berichtet. Es ist so, als ob man den Menschen die ganze Zeit einhämmert, ein weißer Gegenstand sei schwarz, schwarz, schwarz, bis sie irgendwann unsicher werden und zu glauben beginnen, dass er wirklich schwarz ist. Dieser Krieg wird nicht nur militärisch geführt. Es ist auch ein Propagandakrieg. Jemand sollte die Politiker und die Pressevertreter in Deutschland einmal fragen, welches Ziel in Afghanistan im nächsten Jahr oder in den folgenden vier Jahren erreicht werden soll, das nicht bereits in den letzten neun Jahren hätte realisiert werden können. Diese neun Kriegsjahre haben nichts bewirkt, außer dass die Situation für uns noch gefährlicher geworden ist. Die Politik der NATO ist gescheitert. Sie war von Beginn an doppelzüngig. Warum belässt die deutsche Regierung zum Beispiel den Gouverneur von Kundus im Amt, obwohl er ein Verbrecher ist? Es scheint, dass auch sie nicht ehrlich ist – weder zu der afghanischen noch zur deutschen Bevölkerung oder ihren Truppen.

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elche Afghanistanpolitik sollte die Bundesregierung Deutschlands verfolgen? Was kann die Linke tun? Ich sehe große Unterschiede zwischen den Regierungen, den Politikern, den demokratischen Kräften und der Friedensbewegung. Die ehrlichen Politiker und Aktivisten dürfen nicht verstummen. Das Schweigen der guten Menschen ist schon immer schlimmer gewesen als die Taten der schlechten. Die Deutschen müssen

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as könnten die ersten Schritte zum Frieden in Afghanistan sein? Zuerst einmal müssen die Kriegsverbrecher, die Herren dieser Kriege, vor ein Gericht gestellt werden. Für diese Forderung setzen viele Afghanen ihr Leben aufs Spiel. Und natürlich müssen Besetzung und Krieg beendet werden. Ohne ein Ende der Besetzung werden in Afghanistan die Menschenrechte nicht eingehalten werden können. Frieden wird niemals durch Krieg geschaffen. Die Fragen stellte Christian Stache ★ ★★ HINTERGRUND Dieses Interview ist erstmalig in leicht geänderter Form in der Monatszeitschrift analyse & kritik (Nr. 558, Februar 2011) erschienen.

MARX NEU ENTDECKEN

»Es gibt viele Ähnlichkeiten mit dem Vietnamkrieg«

die Doppelmoral, die falsche Politik ihrer Regierung entlarven. Sie müssen die Warlords und Kriegstreiber unter den Deutschen bloßstellen und ihre Stimme gegen die Kriegspolitik erheben. Natürlich wollen wir auch Schulen oder Krankenhäuser bauen. Aber die Besatzung, wenn überhaupt, erschöpft sich nicht darin. Wir wollen unsere Freiheit. Ohne unsere Freiheit haben wir nichts. Die Geschichte hat meines Erachtens nach gezeigt, dass eine Nation sich nur selbst befreien kann. Gerade weil die Interessen an Afghanistan so ausgeprägt sind, benötigen wir auch internationale Solidarität, um diesen langen, schmutzigen und niederträchtigen Krieg durchzustehen. Wir brauchen Unterstützung in der Bildungsarbeit – eine Kernvoraussetzung für Emanzipation. Die linken Intellektuellen und Parteien benötigen wir dafür besonders, weil sie säkulare Analysen und Ziele haben. Sie müssen die demokratischen, linken und intellektuellen Kräfte in Afghanistan unterstützen. Sie können zudem viel in Deutschland tun. Unterstützen Sie die Friedens- und Antikriegsbewegung in der Bundesrepublik, verschaffen Sie Ihrer Stimme Gehör, bekämpfen Sie die Kriegspolitik Ihrer Regierung. Sprechen Sie mit den Vertretern der demokratischen Parteien Afghanistans, laden Sie sie nach Deutschland ein und diskutieren Sie mit ihnen. Sie haben so viele Möglichkeiten, etwas gegen diese verheerende Besetzung und den Krieg zu unternehmen.

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Elmar Altvater

Marx

neu Entdecken Warum sich mit Marx beschäftigen? Wir folgen keiner Mode, die von jenseits des Atlantiks kommt, weil an USUniversitäten, anders als hierzulande, immer noch Marx gelehrt wird und nicht die letzten Traditionen der Marxforschung und kritischen Theorie ausgemerzt werden. Nein, es geht um die Befähigung zur Kritik der Gesellschaft, zur theoretisch reflektierten politischen Praxis. Der französische Sozialwissen-

schaftler Pierre Bourdieu hat einmal die globalisierungskritische Bewegung als eine große Kampagne der »ökonomischen Alphabetisierung« bezeichnet. Tatsächlich ist es schwer, die Krisen des Kapitalismus, die Entwicklung auf den globalen Arbeitsmärkten, die Auseinandersetzungen über die Energieversorgung, die Handelskonflikte oder den militärischen Zugriff auf ganze Weltregionen ohne die »Kritik der politischen

Ökonomie« – das ist der Untertitel des Marx’schen »Kapitals« – zu verstehen und politisch relevante Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Es gab und es gibt gute Gründe, sich in kritischer Auseinandersetzung geeignete Begriffe zu erarbeiten, um sinnvoll politisch eingreifen zu können. In diesem Sinne hat marx21 zusammen mit Elmar Altvater die Serie »Marx neu entdecken« erarbeitet.

Das Einfache, das schwer zu machen ist Von Elmar Altvater s war, als ob alle auf das K-Stichwort von Gesine Lötzsch gewartet hätten. Kaum hatte sie in der jungen Welt vom 3. Januar 2011 die »Wege zum Kommunismus« zur Diskussion gestellt, wurden die Abwehrreflexe mobilisiert – bis hin zur Forderung, DIE LINKE, deren Vorsitzende Lötzsch ist, nicht nur durch den Verfassungsschutz zu beobachten (was ja schon passiert), sondern gleich zu verbieten. Auch die weniger Klugen aus der politischen Klasse haben ja mitbekommen, dass eine große Minderheit der Deutschen den Kapitalismus nicht für der historischen Weisheit letzten und besten Ratsschluss hält. Sie können sich Alternativen zum gegenwärtigen gesellschaftlichen System vorstellen. Doch dies als Meinung intelligent zu begründen und nicht nur bei einer Befragung anonymisiert zu äußern, lässt sämtliche Motten in der Kiste schwirren.

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So war es immer, seitdem »ein Gespenst in Europa« umgeht – »das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet« (MEW 4: 461). »Der Sozialismus«, das schreiben Karl Marx und Friedrich Engels im »Kommunistischen Manifest« aus dem Jahre 1848 weiter, »war, auf dem Kontinent wenigstens, ›salonfähig‹; der Kommunismus war das gerade Gegenteil« (MEW 4: 580). Dennoch bekannten sie sich als Kommunisten. Sie waren »von allem Anfang an der Meinung…, daß die Emanzipation der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein muß, [und daher – EA] konnte kein Zweifel darüber bestehen, welchen der beiden Namen wir wählen mußten. Ja noch mehr, auch seitdem ist es uns nie in den Sinn gekommen, uns von ihm loszusagen« (MEW Bd. 4: 580). Denn, so erläutern sie in der »Deutschen

Dave Killingback

Nachtrag zur Serie


Ideologie« aus den Jahren 1845 bis 1847, die »kommunistische Gesellschaft« sei die »einzige, worin die originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist, ist sie bedingt eben durch den Zusammenhang der Individuen, ein Zusammenhang, der teils in den ökonomischen Voraussetzungen besteht, teils in der notwendigen Solidarität der freien Entwicklung Aller, und endlich in der universellen Betätigungsweise der Individuen auf der Basis der vorhandenen Produktivkräfte« (MEW 3: 424-425). Das war im Vormärz, während der Restauration, vor Ausbruch der Revolution von 1848 geschrieben. Sich zum Kommunismus zu bekennen, war ein stolzes und mutiges Wort, und die, die es aussprachen, gingen auf volles Risiko.

Es gibt keine Klassen, die sich feindlich gegenüberstehen… Der Kommunismus kennt nicht die Disziplin, die durch den kapitalistischen Produktionsprozess erzwungen wird…« (Gespräch im Neuen Deutschland, 5./6. Februar 2011). Man könnte mit der »Deutschen Ideologie« von Marx und Engels vorsichtig einwenden, der Kommunismus sei kein Ideal, das als Maßstab an die wirkliche Welt und deren Geschichte angelegt werden müsse (MEW 3, insbes.: 70-77). Auch für Rosa Luxemburg, so Gesine Lötzsch in ihrem Vortrag über »Wege zum Kommunismus«, ist der Sozialismus (oder Kommunismus) »kein fertiges Ideal, kein genial entworfener Bauplan, sondern etwas, das aus den realen Kämpfen wachsen würde«. Marx und Engels nennen den »Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung. Übrigens setzt die Masse von bloßen Arbeitern – massenhafte von Kapital oder von irgendeiner bornierten Befriedigung abgeschnittne Arbeiterkraft – und darum auch der nicht mehr temporäre Verlust dieser Arbeit selbst als einer gesicherten Lebensquelle durch die Konkurrenz den Weltmarkt voraus. Das Proletariat kann also nur weltgeschichtlich existieren, wie der Kommunismus, seine Aktion, nur als ‚weltgeschichtliche‘ Existenz überhaupt vorhanden sein kann; weltgeschichtliche Existenz der Individuen, d.h. Existenz der Individuen, die unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft ist« (MEW 3: 35-36). Der Kapitalismus stellt mit seiner Akkumulationsdynamik den Weltmarkt her, und daher hat auch eine Alternative globale Reichweite. Es war wohl ein Irrtum, daraus zu schließen, dass die »Wege zum Kommunismus« uniformiert, vereinheitlicht (durch eine Kommunistische Internationale mit einem Zentrum in Moskau) sein müssten. In der ökumenischen Welt heißt es, dass viele Wege nach Rom führen. In der Welt der Alternativen gilt dies auch: Viele Wege führen zum Kommunismus, und dieser hat viele Gesichter. Die große politische Aufgabe besteht darin, dass diese vielen Gesichter menschliche Antlitze sind und bleiben. Die wirkliche Bewegung kann nicht erfunden werden, sie ist keine Kopfgeburt, sondern Resultat praktischer Auseinandersetzungen konkreter Individuen unter konkreten historischen Bedingungen. Daher heißt es vom Kommunismus in Bertolt Brechts Gedicht »Lob des Kommunismus«:

Aber, so wird mancher fragen, ist nicht der Kommunismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts hoffnungslos durch seine Geschichte im 20. Jahrhundert kompromittiert? Werden nicht im »Schwarzbuch des Kommunismus« aus dem Jahr 1997 Millionen Opfer des »roten Holocaust« aufgezählt? Sofern es sich dabei um Opfer von Verbrechen handelt oder wenn sie vermeidbar gewesen wären, ist eine gewaltige historische Verantwortung zu tragen und abzuarbeiten. Doch die notwendige Kritik und Verurteilung stalinistischer Verbrechen kann nicht darin bestehen, sich mit dem Kapitalismus, wie wir ihn kennen, zu arrangieren und Alternativen zur real existierenden kapitalistischen Gesellschaft gar nichts erst ins Auge zu fassen. Im Vergleich zu den antikommunistischen Stalinismus-Kritikern, die so dem Kapitalismus einen Liebesdienst erweisen wollten, waren Adorno oder Horkheimer, die Begründer der »Frankfurter Schule«, nach den Erfahrungen des nationalsozialistischen Holocaust weiter. Sie haben mit Nachdruck die kapitalistischen Verhältnisse für den Faschismus und dessen ungeheure Verbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verantwortlich gemacht. Wer über den Kapitalismus nicht reden wolle, solle vom Faschismus schweigen, schrieben sie. Das heißt: Wer die nationalsozialistischen, die faschistischen Verbrechen verurteilt, muss sich mit dem Kapitalismus auseinandersetzen. Muss also der Kapitalismus nicht genauso ernsthaft bekämpft werden wie die stalinistischen Auswüchse des »real existierenden Sozialismus«? Haben nicht Millionen ihr Herzblut gegeben für »eine Gesellschaft ohne Hierarchien, Obrigkeit und Untertanen, ohne Lohnsklaverei und Ohnmacht«, wie der ungarische Philosoph G. M. Tamás resümiert: »Und das ist die kommunistische Gesellschaft… Im Kommunismus ist der Mensch in Harmonie mit sich und der Natur…

Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht. Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen.

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Vielleicht ist es sogar möglich, diejenigen mitzunehmen, die das Nachdenken über Wege zum Kommunismus verbieten wollen

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Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm. Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen nennen ihn schmutzig. Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit. Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen. Aber wir wissen: Er ist das Ende der Verbrechen. Er ist keine Tollheit. Er ist nicht das Chaos Sondern die Ordnung. Er ist das Einfache Das schwer zu machen ist. Warum die Anstrengung der gesellschaftlichen Veränderung, von der gewiss ist, dass sie mühsam ist und lange dauert? Warum soll man den zermürbenden Streit mit dem Zeitgeist und seinen Verfechtern auf sich nehmen, warum eventuell in Konflikt mit der Staatsgewalt geraten? Dafür, dass dies geschieht, sprechen nicht nur normative Erwägungen über die zukünftige Gesellschaft, heiße sie sozialistisch oder kommunistisch oder auch anders, sondern in der kritischen Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft gewonnene Argumente. Denn diese Gesellschaft bietet nicht allen Menschen und zu allen Zeiten die Möglichkeit des guten Lebens in Frieden mit anderen Menschen und mit der Natur. Die Utopie des guten Lebens bleibt daher ein erstrebenswertes Ziel. Die schonungslose Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, die Marx als Kritik der politischen Ökonomie betrieben hat, kann aufzeigen, warum und wie die Utopie möglich und daher kein idealistisches Nirwana, sondern konkret, und warum die Realisierung der konkreten Utopie durch gesellschaftsverändernde Praxis notwendig ist. Die Analyse zeigt, dass der moderne Kapitalismus nicht nachhaltig ist, dass er in den Krisen und Kriegen (selbst)zerstörerisch wirkt und allenfalls einer Minderheit von Menschen ein gutes Leben ermöglicht. Breite Massen der sieben Milliarden Menschen sind zu einem miserablen Leben gezwungen. Es gibt kein gutes Leben im Schlechten und kein richtiges Leben im Falschen. Der Kapitalismus hat in finanzmarktgetriebenen, neoliberalen Zeiten bitter wahr gemacht, was der österreichisch-ungarische Historiker Karl Polanyi vor mehr als einem halben Jahrhundert im Rückblick auf 200 Jahre kapitalistischer Entwicklung seit der industriellen Revolution als »Entbettung des Marktes aus der Gesellschaft« beschrieben hatte. Die Konsequenz der Unterordnung der sozialen Systeme unter den Markt bedeutet deren Zerstörung. Gleiches geschieht auch der Natur. Mit höchster Markteffizienz werden rücksichtslos Menschen und die Natur ausgebeu-

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tet. Übrig bleiben ein »schwarzes Loch« geplünderter Ressourcen, gefüllt mit den Abfällen der »imperialen« Produktions- und Lebensweise, und verzweifelte Massen auf der Suche nach einem besseren Leben. Es ist offensichtlich: Die »Kugelfläche« des Planeten Erde ist begrenzt. So sagt es Immanuel Kant und begründet mit dieser Erkenntnis den »kategorischen Imperativ«. Da es nicht möglich ist, sie über die Maßen auszudehnen oder es den europäischen Siedlern zu Beginn der Neuzeit gleichzutun und statt neuer Kontinente einen neuen Planeten zu entdecken und zu besiedeln, müssen Markt und Kapitalismus gebändigt und an die strengen Grenzen der Natur des Planeten Erde angepasst werden. Das ist nicht leicht. Denn sogar mit der Selbstzerstörung des Planeten lässt sich viel Geld verdienen und gegen das Profitprinzip kommt man mit guten Argumenten allein nicht an. Dazu bedarf es des sozialen Widerstands, vieler Bewegungen, »welche den jetzigen Zustand aufheben« können – und müssen, da an den von Ökologen in den letzten Jahren identifizierten »tipping points« die Ökosysteme der Erde »kippen« können. Das könnte man mit bitterer Ironie als eine »Revolution«, als so etwas wie den »dialektischen Umschlag von Quantität in Qualität« bezeichnen. Diese für die Menschen katastrophale Revolution im Verlauf der natürlichen Evolution müsste sozusagen »konter-revolutionär« gestoppt werden, um die menschliche Existenz, vielleicht das »nackte Leben« zu retten und die Grundlage von gesellschaftlichem Fortschritt und individueller Entfaltung in der Geschichte zu erhalten. Paradoxerweise sind gerade die kommunistischen Dialektiker aufgerufen, die Dialektik der natürlichen tipping points zu stoppen, die infolge der ungebremsten kapitalistischen Dynamik immer näher rücken. Es muss noch gelernt werden, dass die soziale Revolution in der Natur stattfindet und dass die Revolution heute gerade darin besteht, die Gesetze der Natur zu beachten und sie nicht von den Kräften des rücksichtslosen Kapitalismus umwerfen zu lassen. Wie kann dies gelingen? Ein »Masterplan«, so auch Gesine Lötzsch in der zitierten Rede, hilft nicht nur nicht weiter, er führt in die Irre. Denn das wäre nichts anderes als die Anwendung einer »top-down«-Philosophie, die in der internationalen Arbeiterbewegung so viel Unheil angerichtet hat: Das Zentralkomitee oder eine Avantgarde beschließen über Weg und Ziel – und alle anderen, die »breiten« Massen folgen. Mit »Avantgarden«, so erneut G.M. Tamás,


Aber nichts zu machen und die Verhältnisse so zu belassen, wie sie sind, wäre unverantwortlich, weil dies ins Verderben führt. Wir stehen also im Jahr 2011 vor einem ähnlichen Problem wie Marx und Engels Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Grenzen der kapitalistischen Entwicklung sind heute jedoch deutlicher und dramatischer als je zuvor. Die Zukunft gehört genossenschaftlichen Formen des solidarischen Wirtschaftens, einer Renaissance von kollektiven, gemeinwirtschaftlichen, privaten und staatlichen Eigentumsformen, einer strikten Kontrolle der Finanzwirtschaft in Verbindung mit dem Übergang zu erneuerbaren Energieträgern und einer nachhaltigen Nutzung der Natur. Das sind Wegmarken zum Kommunismus oder zu einer anderen Alternative, gleichgültig, wie sie benannt wird. Der Weg selbst muss geebnet werden, durch Parteien, durch soziale Bewegungen, durch spontane Aktivitäten. Auf dem Weg werden sich viele Abweichungen und Änderungen ergeben. Darum werden Auseinandersetzungen geführt. Vielleicht ist es sogar möglich, diejenigen mitzunehmen, die heute das Nachdenken über Wege zum Kommunismus am liebsten verbieten würden. Denn zurückgelassen im fossilen Kapitalismus werden sie wenige Chancen haben, in Energie- und Klimakrise das Leben so fortzusetzen, wie sie es aus der Zeit der kapitalistischen Ölbonanza gewohnt waren. Die Zeitenwende, vor der wir stehen, ist nicht theoretisch abgeleitet, sondern Folge der Produktions- und Lebensweise in den vergangenen mehr als 200 Jahren seit der industriellen Revolution. ←

★ ★★ WEITERLESEN Die Zitate im Text stammen aus: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, 43 Bde., Berlin 1956–1990 (abgekürzt: MEW). Bertolt Brechts Gedicht „Lob des Kommunismus“, vertont von Hans Eisler und gesungen von Ernst Busch, gibt es online: http://tinyurl.com/ m21brecht.

★ ★★ Elmar Altvater ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er arbeitet im wissenschaftlichen Beirat von attac und ist Mitglied von DIE LINKE.

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»meine ich nicht die, die wir in der Geschichte bisher hatten. Nicht leiten, nicht führen, sondern verführen, das Andere vorleben.« Die Alternative zum real existierenden und so zerstörerischen Kapitalismus wird also nicht erdacht und zum Prinzip gemacht, dem alle folgen sollten, sondern in kritischer Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Realität entwickelt, praktisch erprobt und aktiv und kreativ verbessert. Das konkret utopische Ziel bleibt: Die »positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen…« (MEW, Ergänzungsband, 1. Teil: 536). Der Widerstreit zwischen den Menschen kann nur durch die solidarische Gestaltung von Leben und Arbeit aufgelöst werden, durch die Fortentwicklung aller Ansätze in die Richtung der solidarischen Wirtschaft. Dafür gibt es Beispiele überall in der Welt, von denen nicht gesagt werden kann, sie verkörperten bereits den Kommunismus, die aber dennoch Auswege aus Arbeitslosigkeit und Armut und in nicht wenigen Fällen aus nicht selbst verschuldetem Elend weisen. Der Widerstreit zwischen Mensch und Natur kann nur aufgelöst werden, wenn rigide Regeln der Nachhaltigkeit respektiert werden, wenn Anstrengungen unternommen werden, das Energiesystem auf erneuerbare, solare Energien umzustellen und die Systeme der (industriellen) Energiewandlung und des Energieverbrauchs dem anzupassen. Das alles ist, anders als Bertolt Brecht verspricht, nicht einfach zu machen, sondern sehr schwer zu realisieren.

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Er war Studentenaktivist, Aufklärer und Drogenexperte. Ein Nachruf auf den Sozialwissenschaftler Günter Amendt Von Volkhard Mosler Günter Amendt (in heller Jacke) führt 1968 eine Demonstration in Frankfurt am Main an. Am Vortag war Rudi Dutschke angeschossen worden

or wenigen Wochen, Ende Februar, sprach Günter Amendt bei der LINKEN in Frankfurt am Main zum Thema »Der Krieg gegen Drogen – wer gewinnt, wer verliert?«. Zu Beginn unserer Veranstaltung stellte ich ihn als alten Freund aus der Zeit der Studentenrevolte vor. Wir projizierten ein Foto von einer Demonstration an die Wand, die am Karfreitag 1968 in Frankfurt stattgefunden hatte. Es zeigte Günter, wie er diese Demonstration anführte. Am Tag zuvor hatte es in Berlin das Attentat auf Rudi Dutschke gegeben. Die Demonstration bildete den Auftakt zur sogenannten Springerblockade, dem Versuch, die Auslieferung der Bild zu verhindern. Die Zeitung hatte in den Wochen zuvor eine massive Hetzkampagne gegen Dutschke und die Studentenbewegung entfesselt. Bevor Günter mit seinem Vortrag begann, machte er eine Bemerkung: Dieses Foto sei ihn damals teuer zu stehen gekommen. Denn die Druckerei habe ihn vor einem Zivilgericht auf Schadensersatz in Höhe von 70.000 D-Mark verklagt. Der Prozess habe ihn nur deshalb nicht finanziell ruiniert, weil die aufzubringende Summe dann durch einen Spendenaufruf zusammengekommen war. Günter Amendt wurde zu Kriegsbeginn 1939 geboren und gehörte daher 1968 im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zu den »Älteren«. Seinen ersten großen politischen Kampf hatte er schon Ende

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der 1950er Jahre geführt. Damals verweigerte er den Kriegsdienst, nicht aus Gewissens-, sondern aus politischen Gründen. Er bezeichnete sich selbst als Schüler Adornos, bei dem er in Frankfurt Soziologie studierte. Von 1964 bis 1966 war Günter zu einem Studienaufenthalt im kalifornischen Berkeley. Von dort nahm 1964 die internationale Studentenrevolte ihren Ausgang, der deutsche SDS blickte neidvoll und gebannt auf die USA. Als die Bewegung in den Jahren 1968/69 schließlich auch die Bundesrepublik erreichte, wurde Günter Mitglied im Bundesvorstand des SDS. Bei einer Reihe von Aktionen und Demonstrationen stand er buchstäblich in der ersten Reihe. Die Schüsse auf Rudi Dutschke waren Ausdruck einer Pogromstimmung, die das bürgerliche Lager damals über die Medien gegen den SDS entfachte. Wegen einer Aktion bei der Frankfurter Buchmesse wurden Günter sowie Hans-Jürgen Krahl und Karl Dietrich Wolff wegen Aufruhrs, Landfriedensbruchs und Rädelsführerschaft zu Gefängnisstrafen von je einem Jahr und neun Monaten ohne Bewährung verurteilt. Der Gerichtsvorsitzende erklärte, dass der Strafzumessung ein »generalpräventiver Charakter« zukomme, sie sollte einem »Überhandnehmen der Anarchie in der Bundesrepublik Deutschland entgegenwirken«. Da einem Revisionsantrag stattgegeben wurde, mussten die Verurteilten die Strafe nicht unmittelbar

© Erika Sulzer-Kleinemeier

In der ersten Reihe


antreten. Gegen K. D. Wolff liefen damals 15 weitere Strafverfahren. Erst eine im Jahr 1971 von der Regierung Willy Brandt erlassene allgemeine Amnestie, die etwa 5000 Strafverfahren gegen Aktivisten der 68erRevolte abdeckte, bewahrte die drei »Rädelsführer« der Buchmessenaktion vor dem Gefängnis. Die Amnestie deckte jedoch nicht die zivilrechtlichen Klagen der Druckerei und des Springer-Verlags ab. Ursprünglich gab es hier vier Beklagte: Neben Günter Amendt waren dies Hans-Jürgen Krahl, der Bundesvorstand des SDS und der Frankfurter Lokalverband des Studentenverbands. Die ersten drei »entzogen« sich jedoch der Klage: Krahl starb – wie Günter Amendt vierzig Jahre später – bei einem Autounfall und der SDS wurde aufgelöst. So blieb der Gesamtschaden, entstanden durch Einnahmeausfälle der Druckerei am Karfreitag und am Ostersamstag, zunächst an Günter hängen. Er schrieb damals einen bitteren Brief an den Bundesvorsitzenden der Jusos. Der Jugendverband der SPD hatte 1968 die Springerblockade mit unterstützt, stellte dann aber dem Solidaritätsfonds für Günter nur eine lächerliche Summe von 500 DM zur Verfügung.

talisierte. Zudem fand ein Paradigmenwechsel auf diesem Felde statt. In den 1980er und 1990er Jahren war Sexualität zunehmend angstbesetzt: AIDS, männliche Gewalt und sexueller Missbrauch von Kindern waren die beherrschenden Themen. Ein Buch wie Günters »Sex-Front« hätte 1990 keine Verkaufschancen mehr gehabt. Günter widmete sich später der Drogenpolitik. Zugleich blieb er sich als Adorno-Schüler treu, bis hin zu seiner geschliffenen Rhetorik und Diktion. Seine Aufsätze und Schriften zur Drogenpolitik sind nicht weniger als eine Anklage gegen bürgerliche Moralvorstellungen, gegen die Doppelmoral konservativer Politiker und Ideologen. Schon vor zehn Jahren erklärte er den »War on Drugs« der westlichen Staaten für verloren. Seine These war, dass der verantwortliche Umgang mit Drogen und nicht das Verbot und die Verfolgung (Prohibition) im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse seien, auch des Bürgertums. Aber er zeigte auch auf, warum der Krieg gegen Drogen durchaus auch im Interesse imperialistischer Machtpolitik liegt. In seinen Büchern und Aufsätzen machte er dies am Beispiel Afghanistan deutlich. Waffen- und Drogenhandel sind nicht selten miteinander wirtschaftlich verknüpft, und so hat der Kampf gegen Drogen oft eine verschwiegene Agenda, wie der Krieg in Kolumbien oder Afghanistan nur allzu deutlich zeigen. Als ich Günter Ende Dezember anrief und fragte, ob er bereit sei, bei unserer Veranstaltung zu referieren, da erzählte er mir, dass er vor drei Jahren bei einer drogenpolitischen Konferenz der Stadt Frankfurt gesprochen habe. Damals habe ein Mitglied der Jungen Union die relativ liberale Drogenpolitik der Stadt angegriffen. »Ich habe ihn gefragt«, berichtete Günter, »wieso sich die Junge Union für die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg ausgesprochen habe. Was das denn damit zu tun habe, wollte der JUSprecher wissen. Ich fragte ihn, ob er denn nicht wisse, dass aus Afghanistan inzwischen 90 Prozent der Weltopiumproduktion stamme und dass die westlichen Truppen dies durchaus duldeten.« Gesellschaftliche Zusammenhänge aufzuzeigen, das zeichnete Günter Amendt aus. Am 12. März ist er bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. ←

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Volkhard Mosler ist Sprecher des Kreisverbands der LINKEN in Frankfurt am Main. Im Jahr 1968 war er Mitglied im Frankfurter Vorstand des SDS.

KULTUR

»Sex-Front« wurde mehr als eine halbe Million mal verkauft

Schon 1967 hatte Günter eine wichtige Rolle beim Aufbau des SDS-Ablegers an den Schulen gespielt, dem »Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler« (AUSS). Dabei war die Rebellion gegen die tabuisierte Jugendsexualität ein »bewegendes« Thema. Günter beschloss, ein alternatives Aufklärungsbuch zu schreiben: »Sex-Front« wurde zu einem Bestseller mit einer verkauften Auflage von über 500.000 Exemplaren. Das Buch war so begehrt, weil es einerseits witzig und in der damaligen Jugendsprache geschrieben war und anderseits indirekt eine scharfe Kritik an den bürgerlichen Moralvorstellungen formulierte. Politisch orientierte sich Günter an den Ideen von Wilhelm Reich und seiner Sex-Pol-Bewegung der 1930er-Jahre. Nach Reich ist eine gelungene, freie Sexualität eine zentrale Voraussetzung für eine sozialistische Revolution und die Entwicklung von Klassenbewusstsein. Für einen kurzen Moment, in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren, schien sich das zu bestätigen. Doch Günter musste erleben, wie der Kapitalismus die damalige Sexrevolte absorbierte und instrumen-

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Fernrohr in den Abgrund Sie ist Deutschlands erfolgreichste und zugleich meistgehasste Zeitung. Vor über 30 Jahren hat sich Günter Wallraff in die Redaktion der Bild-Zeitung eingeschlichen – und hinterher ein Buch darüber geschrieben

★ ★★ Sarah Nagel studiert Politik Ostasiens. Sie ist Redakteurin von Critica, der Zeitung des Studierendenverbandes Die Linke.SDS.

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Von Sarah Nagel

ch glaub, es hackt.« Judith Holofernes ist eine Freundin der klaren Worte. Die Sängerin der Band Wir sind Helden hatte Post von der Werbeagentur Jung von Matt erhalten. Die machte ihr das Angebot, sich an einer Werbekampagne für die Bild-Zeitung zu beteiligen. Holofernes lehnte dankend ab – und veröffentlichte ihre bissige Antwort auf der Bandhomepage. Die Seite war zeitweise überlastet, brach zusammen. Von den Fans gab es viel Zuspruch. Kaum ein Medium in Deutschland ist so erfolgreich und wird zugleich von vielen so verabscheut wie die Bild-Zeitung. Gerade Linke haben immer wieder auf die dubiosen Methoden von Deutschlands auflagenstärkstem Blatt hingewiesen. Doch kein Kritiker war jemals so nah dran wie der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff. Unter dem Namen Hans Esser arbeitete Wallraff 1977 drei Monate lang undercover als Redakteur bei der Bild-Zeitung in Hannover. Anschließend schrieb er ein Buch darüber. »Der Aufmacher« wurde zum Bestseller. Und der Springer-Verlag, der die Bild herausgibt, überzog Wallraff mit Klagen. Kein Wunder: Denn das, was Wallraff zu berichten hatte, war wenig schmeichelhaft. Zum Beispiel, wie Sachverhalte in den Redaktionen unter großem Konkurrenzdruck verdreht, verkürzt oder frei erfunden werden – so lange, bis der Chef »eine Geschichte sieht«, die in die Bild passt. Laut Wallraff lässt sich in den meisten Fällen gut herunterbrechen, was in die Bild-Zeitung gehört: Bild-Politik, meint er, sei CDUPolitik. Allerdings stehen die Zeitungsmacher dabei vor einer Herausforderung: »Das Blatt muss rechte Politik auch an SPD-Wähler, an Arbeiter und Angestellte bringen, und der direkte Weg (…) ist beschwerlich. Politik muss indirekter gemacht werden, über Emotionen und Vorurteile: Aufputschen gegen Minderheiten, Schüren von Hass und Angst – am besten anhand unpolitisch scheinender Objekte (Triebtäter, Gastarbeiter): Das erzeugt die Stimmung, die sich zum kollektiven Schrei nach Todesstrafe, Rübe ab, Draufschlagen verdichtet.«

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Soziale Themen kommen in der Zeitung kaum vor. Wallraff alias Esser schlägt etwa in der Redaktion vor, eine Reportage über einen Vormittag im Arbeitsamt zu veröffentlichen. Das wird mit der Begründung abgelehnt, das Thema sei zu deprimierend. Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung werden in den Artikeln der Bild häufig nicht hergestellt oder so verdeckt, dass am Ende des Artikels die »Richtigen« gut dastehen – im Zweifelsfall der Fabrikant und nicht der Arbeiter, der Vermieter und nicht der Mieter. Die Frührentnerin Margarete Nickel wurde in einem Krankenhaus zum Krüppel operiert. Bild macht daraus: »Das Schicksal hat es wirklich nicht gut mit ihr gemeint.« Ähnlich der Text über einen Mann, der seine Arbeit verloren hat, zum Trinker wird und schließlich Selbstmord begeht. Dem Starkstromelektriker aus Hannover hat laut Bild »das Schicksal übel mitgespielt«. In einer Analyse, die vom Springer-Verlag in Auftrag gegeben wurde und die Wallraff an mehreren Stellen des Buchs zitiert, steht zum Beispiel: »Bild ist auch ein Mittel gegen Langeweile, hilft über das Unvermögen hinweg, mit der Welt, die einen umgibt, etwas Vernünftiges anzufangen.« Die Macher der Bild haben also durchaus eine politische Agenda. Sie versuchen, die Welt ihrer Leserinnen und Leser zu sortieren und bestimmte Zusammenhänge herzustellen. Gedruckt wird häufig nicht, was für die Leser relevant ist, sondern das, was sie für relevant halten sollten. Bevor über reale Probleme der Leser berichtet wird, erscheinen eher Schlagzeilen wie diese: »Feldwebel von Wesen aus dem All entführt?«. Bild schwöre immer wieder Gewalten herauf, gegen die niemand ankommen könne, etwa Wesen aus dem All, erklärt Wallraff. »Wer von derartig übermächtigen Wesen heimgesucht wird, dessen diesseitige Probleme sind nicht mehr der Rede wert.« Wie aber kommt die Bild zu dem Ruf, eine Zeitung für die »kleinen Leute« zu sein? Wallraff attestiert den Journalisten durchaus ein Gespür dafür, wann eine Geschichte nicht mehr in großem Stil an die Le-


Da ist zum Beispiel der Höhlenforscher aus dem Harz, über den Esser einen Artikel schreibt, obwohl es den Forscher gar nicht gibt. Da ist das »höchste Haus Hannovers«, in dem angeblich das Wasser aus der Badewanne schwappt, was nicht der Wirklichkeit entspricht. Oder das Unwetter auf Mallorca, das die zurückkehrenden Touristen am Flughafen nicht bestätigen können, weil es nie stattgefunden hat. Der Artikel dazu erscheint trotzdem.

★ ★★ DAS BUCH

»Der Aufmacher« hat seit seinem Erscheinen viele Linke geprägt. Zwar können die mittlerweile teils etwas altbacken wirkende Sprache und Wallraffs spürbare moralische Entrüstung zwischendurch etwas stören, ebenso die eine oder andere Wiederholung. Dennoch ist das Buch auch jetzt noch ein lohnender und vor allem einmaliger Blick hinter die Kulissen der Bild-Zeitung, der hilft, die Mechanismen in ihrem Inneren besser zu verstehen. Denn auch mehr als 30 Jahre nach Veröffentlichung von Wallraffs Buch ist Bild noch dieselbe. Mit den Worten von Judith Holofernes: »…ein bösartiges Wesen, das Deutschland nicht beschreibt, sondern macht. Mit einer Agenda.«←

Günter Wallraff: Der Aufmacher. Der Mann, der bei Bild Hans Esser war (Kiepenheuer & Witsch 1977).

KLASSIKER DES MONATS

ser verkäuflich ist. So schrieb er beispielsweise einen Bericht über die Verleihung der Konrad-AdenauerPreise im Schloss Herrenhausen, der letztendlich nur klein im Blatt erschien. Denn: »Szenen wie diese reizen zum Klassenhass, geben dem kleinbürgerlichen oder unbewusst-proletarischen Bild-Leser die Chance, Interessen zu entdecken, über Zusammenhänge zwischen den herrschaftlichen Äußerungen und den ‘volksempfindenden’ Inhalten nachzudenken oder wenigstens Diskrepanzen zu fühlen.« Daneben hilft etwa die Kolumne »Bild kämpft für Sie« dabei, das Image der Kleine-Leute-Zeitung zu wahren, auch wenn es wenig um echte Hilfe für die Leser geht. Günter Wallraff beschreibt beispielsweise eine Bild-Aktion für mehr Ausbildungsplätze in Hannover und Umgebung, die für mehrere dankbare Leserbeiträge sorgte. Dass es manche der angeblich durch Bild geschaffenen Ausbildungsplätze schon vorher gab, einige der angemeldeten Betriebe keine Ausbildungsgenehmigung hatten oder Plätze für nicht existierende Berufe angeboten wurden, spielte am Ende keine Rolle, denn die Schlagzeilen passten. Statt Hilfe bekommen die Bild-Leser häufig etwas anderes geboten, das die Wir-sind-Helden-Sängerin Holofernes in ihrer öffentlichen Absage ein »stark vergrößerndes Fernrohr in den Abgrund« nennt. Wallraff beschäftigt sich neben der Agenda von Bild auch damit, wie die Texte und Bilder zustande kommen. Er beschreibt eine Situation, in der Festangestellte und freie Journalisten darum kämpfen, ihre Beiträge zur Veröffentlichung zu bringen. Entscheidend ist letztendlich, was der Chef dazu sagt. Wird eine Geschichte verlangt und stellt sie sich im Nachhinein doch als weniger spektakulär heraus als geplant, wird sie häufig trotzdem gedruckt.

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Homens da Luta: »A luta é alegria« Von Yaak Pabst

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Yaak Pabst ist Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.

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ls die portugiesische TV-Comedy-Truppe Homens da Luta ihren Song »A luta é alegria« veröffentlichte, wollte sie eigentlich die Nelkenrevolution parodieren. Doch was als Spaßguerilla begann, wurde die Hymne der Protestbewegung gegen die Regierung. Jetzt vertritt die Rebellencombo Portugal beim Eurovision Song Contest.

Marsch seit dem Ende der Diktatur im Jahr 1974«. Die Zeitungen schreiben vom »Aufschrei der verlorenen Generation«. Der Widerstand bringt die Politik ins Wanken. Weil die konservative Oppositionspartei ihre Zustimmung zum »Sparpaket« verweigert, tritt am 23. März der Premierminister José Socrates zurück. Die Regierung ist gestürzt.

Portugal im Frühjahr 2011. Der Staat versinkt in einem Schuldenberg von 135 Milliarden Euro, immer mehr Fabriken, Büros und kleine Läden müssen schließen, elf Prozent der Bevölkerung sind ohne Arbeit. Die Wirtschaftskrise ist allgegenwärtig. Die Menschen haben Angst – wer seinen Job verliert, der steht vor dem Nichts. Besonders hart trifft die Krise die Jugend. 300.000 Portugiesen unter 35 Jahren sind ohne Job, das ist knapp die Hälfte aller Arbeitslosen. Im Jahr 2010 stieg die Arbeitslosigkeit innerhalb dieser Altersgruppe um 46 Prozent. Doch diese Statistik zeigt nur einen Teil der Misere. Viele Jugendliche, die Arbeit haben, sind in prekären, also befristeten und schlecht bezahlten Jobs beschäftigt. Laut einer Studie der EU-Kommission arbeiten 53 Prozent aller portugiesischen Arbeitnehmer zwischen 15 und 24 Jahren mit zeitlich begrenzten Verträgen. Der sozialdemokratischen Regierung ist das egal. Sie will die Bevölkerung für die Krise zahlen lassen und friert die Renten ein, kürzt die Löhne und streicht die Stipendien für Studierende. Gleichzeitig erhöht sie die Preise für den öffentlichen Nahverkehr und die Mehrwertsteuer. Die staatliche Eisenbahn, die Post und die Fluggesellschaft werden zur Privatisierung freigegeben. Doch als die Regierung das vierte »Sparpaket« in Folge schnüren will, explodiert die Wut. Etwa drei Monate nach dem letzten Generalstreik demonstrieren am 12. März in Lissabon 200.000 Menschen. In der Hafenstadt Porto füllen 80.000 Menschen die Straße. Vor allem die Jugend geht auf die Straße. Auf den Plakaten steht: »Wir zahlen nicht für eure Krise!« oder »Auf zum Klassenkampf!« Ein Teilnehmer meint: »Auch hier haben wir Gaddafis und Mubaraks. Was fehlt, ist nur die Revolution.« Die Demonstrationen verändern das gesellschaftliche Klima. In Portugal ist die Rede vom »größten

Das die Protestbewegung noch an einem ganz anderen Ort Aufsehen erregt, hätte niemand erwartet. Schauplatz ist die Fernsehshow, in der der portugiesische Beitrag für den Eurovision Song Contest (ESC) gekürt werden soll. Unter den zwölf Finalisten befindet sich auch die TV-Comedy-Truppe »Homens da Luta«. Das bedeutet übersetzt »Menschen des Kampfes«. Als sie die Bühne betritt, um ihr Lied »A luta é alegria« (»Kampf ist Freude«) zu spielen, werden Millionen Fernsehzuschauer Zeuge, wie sich die Demonstrationen gegen die Regierung auf der Bühne fortsetzen. Im Rampenlicht der Kameras stehen ein Bauarbeiter, eine Lehrerin, ein Soldat, eine Bäuerin, ein Liedermacher und ein Aktivist mit Megaphon. Alle haben eine rote Nelke deutlich sichtbar an ihrer Berufskleidung stecken – eine Anspielung auf die widerständige Geschichte Portugals: In die Gewehrläufe aufständischer Militärs gesteckte Nelken waren das Zeichen der Bewegung, die im Jahr 1974 die autoritäre rechte Diktatur stürzte. Daher wird sie als »Revolução dos Cravos« (Nelkenrevolution) bezeichnet. Die Bandmitglieder halten Plakate hoch, auf denen »Kampf« und »Freude« steht. Sie recken die Fäuste in die Luft, der Sänger agitiert die Zuschauer über ein Megaphon. Por vezes dás contigo desanimado / Por vezes dás contigo a desconfiar / Por vezes dás contigo sobressaltado / Por vezes dás contigo a desesperar (Manchmal fühlst du dich ohne Mut / Manchmal fühlst du dich misstrauisch / Manchmal fühlst du dich aufgeregt / Manchmal fühlst du dich verzweifelt) De noite ou de dia, a luta é alegria / E o povo avança é na rua a gritar (Ob Tag oder Nacht, der Kampf macht Freude / Das Volk kommt voran, ist auf der Straße und schreit)


De pouco vale o cinto sempre apertado / De pouco vale andar a lamuriar / De pouco vale um ar sempre carregado / De pouco vale a raiva para te ajudar (Gürtel enger schnallen bringt nichts / Jammern auch wenig / Ein besorgter Blick ist nichts wert / Die Wut wird dir nicht helfen) E traz o pão e traz o queijo e traz o vinho / E vem o velho e vem o novo e o menino (Bring das Brot, den Käse und den Wein / Und es kommt Alt, Jung und das Kind) Vem celebrar esta situação e vamos cantar contra a reacção (Lasst uns in dieser Situation feiern und gegen die Reaktion singen) Não falta quem te avise «toma cuidado» / Não falta quem te queira mandar calar / Não falta quem te deixe ressabiado / Não falta quem te venda o próprio ar (Manche werden dich warnen / Manche wollen, dass Du den Mund hältst / Viele werden Dich ärgern / Andere werden Dir sogar Luft verkaufen wollen) A luta continua (Der Kampf geht weiter) Das Lied beginnt klassisch. Bass, Gitarre, Schlagzeug, Akkordeon machen klar: Hier kommt Volksmusik. Wer portugiesischen Fado erwartet, wird enttäuscht. Es wird musikalisch marschiert. Der Schlagzeuger wirbelt mit der Snare-Drum, gesungen wird im Chor. Die Gruppe macht Musik zum Mitklatschen und Feiern. Im Hintergrund summt noch eine Querflöte die eingängige Melodie heiter mit.

»Wir sind Leute, die nicht mögen, wie es gerade um Portugal und Europa steht und wir werden in Düsseldorf sein, um genau das zu zeigen«, sagt Leadsänger Nuno Duarte alias Jel im Interview mit der Fansite Oikotimes. Er ergänzt: »Dieser Song ist eine Waffe«, die seine Band nutzen will, um »für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen, damit alle in Europa besser leben können«. Der Jury für den Vorentscheid des ESC passt das überhaupt nicht. Sie wählen das Lied der Protestkombo nur auf Platz zehn. Doch die Zuschauer sehen das anders. Beim Televoting rufen so viele Menschen an, dass zum Schluss trotzdem die »kämpfenden Menschen« gewinnen und nun Portugal offiziell beim ESC vertreten dürfen. Es ist nicht das erste Mal, dass politische Musik aus Portugal beim ESC läuft. Der Wettbewerbsbeitrag des Jahres 1974 »E Depois do Adeus« von Paulo de Carvalho trug zusammen mit Zeca Afonsos Lied »Grândola, Vila Morena« direkt zur Revolution bei. Die Ausstrahlung dieser beiden Songs im portugiesischen Rundfunk diente den oppositionellen Truppen als Signal zum Aufstand. Auch in den Folgejahren setzte sich Portugal in seinen Grand-Prix-Beiträgen musikalisch mit der Diktatur und ihrer Überwindung auseinander. Doch noch nie forderte ein Song im ESC so explizit zur Gegenwehr auf. Die letzte Zeile singen die sechs Musiker a capella: »Lasst uns in dieser Situation feiern und gegen die Reaktion singen – Der Kampf geht weiter!« – weltweit, in Portugal und definitiv am 14. Mai in Düsseldorf beim Finale des Eurovision Song Contest. Kämpfen wie in Portugal – Televoten! ←

GESCHICHTE HINTER DEM SONG

© Homens da Luta

Dass aus Spaß Ernst wird, liegt auch an der Comedytruppe selbst. Sie nimmt zwar den verblichenen portugiesischen Revolutionsmythos auf die Schippe. Doch trotz der lustigen Aufmachung transportiert sie konkrete und aktuelle politische Botschaften. Sie

wendet sich offen gegen die Sozialkürzungen der Regierung und tritt bei den Demonstrationen gegen die Auswirkungen der Krise auf. In TV-Interviews nehmen die Musiker kein Blatt vor den Mund. Sie sprechen über den Sozialabbau, die korrupten Politiker, über Demokratie und warum es richtig ist, auf die Straße zu gehen.

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Š Dennis Conrad

Review


Ausstellung

Phantasie an die Macht – Politik im Künstlerplakat | Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg

Vom Klassenkampf zur Einkaufstasche Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt politische Plakate der letzten 60 Jahre – und nährt Zweifel an den bestehenden Verhältnissen Von David Jeikowski ie wieder Krieg« steht dort in unterstrichener Schreibschrift. Dazwischen eine Frau, die ihren rechten Arm mahnend hochreißt, die linke Hand auf Höhe ihres Herzens. Der Gesichtsausdruck ist kämpferisch, fast schon abgekämpft, die Haare bilden spitze, kurze Striche, die gegen den Wind zu bestehen versuchen. Dieses berühmte Plakat von Käthe Kollwitz kennt wohl fast jeder Kriegsgegner in Deutschland. Es bildet den optischen Aufmacher der Ausstellung »Phantasie an die Macht – Politik im Künstlerplakat«, die das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe gegenwärtig zeigt. Die Ausstellungsbeschreibung verspricht eine ganze Menge: Mit »über 180 Arbeiten von rund 90 international renommierten Künstlern« eröffne die Sammlung »dem Betrachter einen neuen und umfassenden Blick auf die Protest- und Oppositionsbewegungen der letzten 60 Jahre.« Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf einen Aufruf des französischen Künstlers Pierre Soulages zur Unterstützung der 68er-Aufstände in Paris. Doch schon vorm Betreten des Museums kommt einem ein anonymer Wandspruch aus der selben Zeit in den Sinn: »Solange es keinen freien Eintritt zu Museen wie dem Louvre gibt, bleibt die Kultur eine bürgerliche Kultur.«

Der Weg zum Museum führt durch den Seitenausgang des Hauptbahnhofes vorbei an hektischen Pendlern, Obdachlosen, Drogendealern und Junkies. Schließlich im Museum angekommen lässt sich, nach Zahlung des Eintritts, in pennerfreier Atmosphäre bestaunen, wie Unterdrückte seit jeher für ihre Rechte kämpften. Gleich das zweite Bild zeigt eine barbusige Frau, die, ähnlich wie in Auguste Delacroix’ »Die Freiheit führt das Volk an«, mit der Fahne in der Hand an der Spitze der Bewegung zum Kampf führt. Doch diesmal ist es nicht die französische, sondern eine rote Fahne und »sie führt das Volk zum Sturm auf die Kirche Sacré-Coeur, die damals mitten in das Pariser Arbeiterviertel Montmartre hineingebaut und als Symbol der staatlichen Repression gesehen wurde«, wie ein Schild daneben erklärt. Doch dann verliert man schnell den Überblick: Es geht um Krieg und Frieden (Picassos Friedenstaube), Atomare Bedrohung (»Atomkrieg Nein«), Menschenrechte, Amnesty International, Kartoffelfäule, die Grünen (Joseph Beuys’ Spielzeugsoldat, der auf einen Knetgummihasen schießt), Apartheid in Südafrika (Keith Harings »Free South Africa«), Vietnamkrieg, Frauen, Schwule, Obama, Aids und ganz aktuell Fukushima.

Manche Plakate konfrontieren und politisieren, wie beispielsweise »Umfunktionierungen« von Wolf Vostell, das eine Überblendung der berühmten Erschießung eines Vietcongs zu einem Urlaubsfoto zeigt. Bei manchen sucht man das Politische vergeblich, so bei Roy Lichtensteins »The Oval Office«. Insgesamt scheint die versprochene thematische Struktur (Revolution und Frieden, Freiheit, Gleiche Rechte, Globalisierung und Umwelt) schnell aufgegeben und man ist alleine gelassen mit einer Fülle von berühmten Künstlern und Bildern, die eine ganz eigene Ordnung offenbaren: Je tiefer man in die Ausstellung geht, desto unpolitischer wird sie. Was mit El Lissitzkys »Schlagt die Weißen mit dem roten Keil« beginnt, endet bei Barbara Krugers Einkaufstasche mit dem Aufdruck »I shop, therefore I am« (»Ich shoppe, also bin ich«) und einem bösen Mädchengesicht, über dem »Fuckin’ Politics« steht. Zum Teil scheint weniger der politische Inhalt, als viel mehr die Berühmtheit des Künstlers im Vordergrund zu stehen. Am Ende hat der Besucher eine Menge gesehen und an der Richtigkeit der herrschenden Verhältnisse gezweifelt. An dem Anspruch, einen »neuen und umfassenden Blick auf die Protest- und Oppositionsbewegungen der letzten 60 Jahre« bekommen zu haben, allerdings auch.

★ ★★

AUSSTELLUNG | Phantasie an die Macht – Politik im Künstlerplakat | Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg | Noch bis zum 13. Juni 2011 | Dienstag bis Sonntag 11-18 Uhr, Donnerstag 11-21 Uhr | Eintritt: 8 Euro, ermäßigt 5 Euro

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as Fernsehbild zeigt Tim McIlrath. Er sitzt auf einer Kinderschaukel, zupft die Seiten seiner Akustikgitarre und singt. Unterbrochen wird die Kameraeinstellung von Bildern, die das Gesungene illustrieren. Es geht um die Geschichte eines US-Soldaten, der schwer traumatisiert aus dem Irak zurückgekehrt ist. Er war im berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib. Auch die Ereignisse in der Stadt Haditha hat er miterlebt: Dort richteten amerikanische Soldaten ein Massaker an der einheimischen Bevölkerung an. Mit dem Video zu ihrem Song »Hero of War« hat sich Rise Against vor zwei Jahren nicht nur Freunde gemacht. Doch die vierköpfige Punk/ Hardcore-Band um Sänger McIlrath hat gezeigt, dass sich linkes Liedgut und kommerzieller Erfolg nicht automatisch ausschließen müssen. Obwohl Rise Against damals zu den schärfsten Kritikern der BushRegierung zählten und von konservativer Seite massiv angefeindet wurden, spielten die Radiosender permanent ihren Antikriegssong. Das zugehörige Album »Appeal to Reason« landete auf Platz drei der US-amerikanischen Billboard-Charts. Nun ist der Nachfolger »Endgame« erschienen. Musikalisch macht er da weiter, wo die Band aus Chicago mit »Appeal to Reason« aufgehört hat. Insgesamt sind die Stücke vielleicht ein bisschen sperriger und weniger eingängig. Auch die obligatorische Ballade gibt es diesmal nicht. Doch der Sound von Rise Against bleibt unverkennbar, die Refrains sitzen, McIlraths Stimme ist sehr präsent. Auch inhaltlich werden die Kontinuitäten zum Vorgängeralbum deutlich, etwa durch den Song »Survivor Guilt«. Er knüpft an »Hero of War« an und ist aus der Perspektive eines Soldaten geschrieben, der für seine Heimat gefallen ist. Vor treibenden Gitarren erklingt der anklagende Refrain: »Kämpfte deinen Kampf / kaufte deine Lüge / und im Gegenzug verlor ich

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Rise Against | Endgame

CD DES MONATS Linke Texte und trotzdem kommerziell erfolgreich? Dass das funktioniert, zeigen Rise Against mit ihrem neuen Album Von Marcel Bois

★ ★★ CD | Rise Against | Endgame Geffen (Universal ) | 2011

mein Leben / welchem Zweck diente dies?« (»fought your fight / bought your lie / and in return I lost my life / what purpose does this serve?«) Die Kriege in aller Welt sind nur ein Thema, das Rise Against umtreibt. Seit ihrer Gründung vor über zehn Jahren engagieren sich die Bandmitglieder politisch. Sie unterstützen Amnesty International und die Tierrechtsorganisation Peta. Im Booklet der CD empfehlen sie die Lektüre von Naomi Kleins

kapitalismuskritischem Buch »Die Schock-Strategie«. Erst kürzlich spielte Sänger McIlrath bei einem Solidaritätskonzert für die streikenden Gewerkschafter in Wisconsin. Auch an einer Boykottkampagne gegen den Bundesstaat Arizona beteiligt sich Rise Against. Seit die republikanische Gouverneurin im vergangenen Jahr ein rassistisches Einwanderungsgesetz verabschiedet hat, weigern sich zahlreiche Künstler, dort aufzutreten.

So vielfältig wie die Aktivitäten der Bandmitglieder fällt auch das Album »Endgame« aus. Als erste Single wird »Help Is On The Way« erscheinen, ein Lied über New Orleans im fünften Jahr nach Hurrikan Katrina. »Ich wollte ein Bild von dem entwerfen, was dort unten vorgefallen ist, und davon, wie es dort heute aussieht«, erinnert sich McIlrath, der alle Texte von Rise Against schreibt. »Der Titel des Songs lässt zwar in erster Linie hoffen, aber es geht auch um herbe Enttäuschungen: um Hilfe zum Beispiel, die eigentlich unterwegs gewesen sein sollte, dann aber doch niemals ankam.« Ein anderes Lied thematisiert die weit verbreitete Schwulenfeindlichkeit in den USA. Schon häufiger hat die Band E-Mails von jungen homosexuellen Fans erhalten, die davon berichteten, in der Schule oder im Freundeskreis gemobbt zu werden. Als im September vergangenen Jahres eine Selbstmordwelle die USA erschütterte, bei der sich mehrere homosexuelle Teenager binnen kürzester Zeit das Leben nahmen, bezog Rise Against klar Stellung gegen Homophobie und schrieb »Make It Stop (September’s Children)«. Der Song beginnt mit einem Teenager-Chor, gegen Ende zählt ein Sprecher im Hintergrund die Namen einiger der Jugendlichen auf, die sich umgebracht haben. »Make It Stop« ist kein betroffenes, nachdenkliches Lied, sondern laut und wütend. »Endgame« wurde Mitte März in Deutschland veröffentlicht. Gleich in der ersten Woche stürmte es auf Platz eins der Albumcharts. Vor einigen Jahren auf den kommerziellen Erfolg von Rise Against angesprochen, erwiderte Gitarrist Zach Blair: »Natürlich gibt es Bands, die nicht so groß werden wollen, die ganz bewusst nicht auf diese kommerzielle Schiene gehen. Aber bei einer Band wie uns, die eine Message und was zu sagen hat, ist es schön so viele Menschen wie möglich zu erreichen.« Die Wahrscheinlichkeit, dass das auch in Zukunft gelingt, ist nicht so gering.


BUCH

Gabriel Kuhn | Straight Edge

Klare Kante Punk und Drogen gehören zusammen. So lautet das Klischee. Doch in den achtziger Jahren ist innerhalb der Szene eine Bewegung entstanden, die bewusst auf alle Rauschmittel verzichtet. Ein neues Buch stellt sie vor Von David Schumann er den Begriff »Punk« hört, denkt meist an eins: extrem gestylte Jugendliche mit buntgefärbten Irokesenschnitten, die vor Bahnhöfen sitzend exzessiv Alkohol und Drogen konsumieren. Dass Punk und vor allem Hardcore – eine seiner extremeren musikalischen Spielarten – viel tiefgründiger sein können, ist den meisten nicht bewusst. Anfang der 1980er Jahre bildeten Hardcorebands wie Minor Threat, DYS, 7 Seconds und SSD die Speerspitze der sogenannten Straight-Edge-Bewegung – benannt nach dem gleichnamigen Minor-Threat-Song – in dem es unter anderem hieß: »I’m a person just like you, but I've got better things to do than sit around and fuck my head« (»Ich bin ein Mensch wie du, aber ich habe Besseres zu tun, als den ganzen Tag rumzusitzen und mir die Birne zuzudröhnen«). Die Band propagierte den Verzicht von Alkohol und Drogen jeglicher Art. Anfangs eigentlich als persönliche Entscheidung konzipiert, wuchs Straight Edge bis Mitte der 1980er Jahre schnell zu einer Jugendbewegung innerhalb des Punk und Hardcore an und war dort nicht mehr wegzudenken. Die Protagonisten der Bewegung hatten zwar die un-

terschiedlichsten Motive für ihren bewussten Verzicht auf Rauschmittel – was sie aber alle vereinte, war der Wunsch nach einem so weit wie möglich selbstbestimmten Leben. Was, so der Tenor der Straight Edger, soll rebellisch daran sein, sich jedes Wochenende volllaufen zu lassen? Wäre es nicht viel sinnvoller und auch viel mehr Punk, seine Energien konstruktiver zu nutzen und sich dem passiv machenden und damit im Endeffekt den Status quo aufrecht-erhaltenden Rausch zu entziehen? Vor dem Hintergrund des ohnehin schon rebellischen, jegliche gesellschaftlichen Konventionen in Frage stellenden Punkrock war es nur eine Frage der Zeit, bis die Straight-EdgeBewegung auch konkrete politische Themen für sich entdeckte. Davon handelt auch das unlängst erschienene Buch von Gabriel Kuhn, seines Zeichens langjähriger Protagonist der Szene. Der Autor stellt darin die drogenfreie Punkbewegung vor, von ihren Anfängen in den frühen 1980er Jahren über ihre zweite große Welle Anfang/Mitte der 1990er Jahre bis hin zu aktuellen Tendenzen. Kuhn legt in der zweiten Hälfte des Buchs einen Schwerpunkt auf die verschiedenen politischen Strö-

mungen innerhalb der Szene, die ein sehr breites Spektrum abdecken: vom linksradikalen Aktivismus über eine eher ethisch geprägte Ausrichtung auf Veganismus, also den Verzicht auf jegliche Tierprodukte, um deren Ausbeutung entgegenzuwirken, bis hin zu einem semireligiösen konservativen Puritanismus, der sich in seiner moralisierenden Logik teilweise stark der religiösen Rechten annäherte. Leider werden dem von europäischen Straight-Edge-Bands wie Manliftingbanner und Feeding The Fire ins Leben gerufenen kommunistisch geprägten Zweig der Bewegung und dessen generellem Klassenverständnis nur vier Seiten eingeräumt. Aufgrund des sehr begrenzten Platzes von nur 70 Seiten – das Buch erschien im Rahmen der »Unrast transparent«-Reihe – kann auf jedes dieser Phänomene nur oberflächlich eingegangen werden. Neueinsteiger bekommen dennoch eine durchaus kompakte, kurzweilige und kompetente Zusammenfassung der letzten 30 Jahre der internationalen Straight-EdgeBewegung präsentiert – für diejenigen, die sich für Punkrock und alle seine Auswüchse interessieren, mit Sicherheit ein interessanter Lesestoff.

★ ★★ BUCH | Gabriel Kuhn | Straight Edge – Geschichte und Politik einer Bewegung | Unrast | Münster 2010 | 71 Seiten | 7,80 Euro

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Pun Ngai, Ching Kwan Lee u.a. | Aufbruch der zweiten Generation.

Eine Klasse für sich Die chinesische Arbeiterschaft wächst täglich. Doch kann unter der Parteidiktatur auch eine schlagkräftige Arbeiterbewegung entstehen? Ein neuer Sammelband liefert Einblicke Von Florian Butollo

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★ ★★ BUCH | Pun Ngai, Ching Kwan Lee u.a. | Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China | Assoziation A | Berlin und Hamburg 2010 | 294 Seiten | 18,00 Euro

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hina ist in den letzten Jahren zum wichtigsten Knotenpunkt der Produktion von Elektronikartikeln, Bekleidung und vielen anderen Waren aufgestiegen. Die niedrigen Löhne dort werden immer wieder als Argument dafür angeführt, dass auch in Deutschland die Löhne sinken müssten. Die Entwicklungsperspektiven der chinesischen Arbeiterklasse zu verstehen, ist daher auch hierzulande von außerordentlicher politischer Wichtigkeit: Wie sieht es mit der Gegenkraft von unten aus? Kann auch unter der Bedingung der Parteidiktatur eine schlagkräftige Arbeiterbewegung entstehen? Der im Spätsommer 2010 erschienene Sammelband »Aufbruch der zweiten Generation« beantwortet diese Frage zwar nicht endgültig, liefert aber beste Voraussetzungen dafür. Denn um die politische Zukunft der chinesischen Arbeiterklasse zu diskutieren, muss man zunächst ihre Besonderheiten verstehen. Verschiedene soziologische und ethnologische Texte meist chinesischer oder chinesischstämmiger Wissenschaftler liefern wichtige Beiträge zur Untersuchung der neuen Klassensubjekte in verschiedenen Regionen Chinas – beispielsweise der Bau- und Automobilarbeiter, aber auch der Sexarbeiterinnen. Damit entsteht, wie

die Herausgeber schreiben, »ein Lichtfächer, der verschiedene Aspekte, Brüche und Potenziale der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse beleuchtet«. Die Darstellung heterogener Klassenlagen, verschiedener Systeme der Arbeitsorganisation und -kontrolle sowie unterschiedlicher Bewusstseinslagen der Beschäftigten macht das Kardinalproblem der chinesischen Arbeiterpolitik verständlich: Es bestehen riesige Unterschiede – beispielsweise zwischen den Beschäftigten der Staatsbetriebe, die während der 1990er Jahre Privilegien wie lebenslange Beschäftigung und betriebliche Sozialleistungen aufgeben mussten, und Wanderarbeitern aus den ländlichen Provinzen, die für einen Hungerlohn in den Weltmarktfabriken der Sonderwirtschaftszonen schuften. Und dies ist nur einer der inneren Unterschiede, die bislang die Vereinheitlichung der Kämpfe in China verhinderten. Während die Studien verschiedener Beschäftigtengruppen die unterschiedlichen Klassenlagen verständlich machen, geht es im zweiten Teil des Buches um »Prozesse der Klassenzusammensetzung«, also um die Frage, in wieweit es zu einer Verallgemeinerung der Auseinandersetzungen kommen kann. Ein Beitrag schildert die

Zunahme kollektiver Kämpfe in den letzten Jahren und die Herausgeber selbst steuern einen Artikel über die jüngste Streikwelle im Sommer 2010 bei. Dieser hervorragend recherchierte Text liefert eine Fülle wertvoller Details und lässt erahnen, dass wir wohl tatsächlich am Beginn eines »Aufbruchs« stehen, der die häufigen, aber oft isolierten Kämpfe der vergangenen Jahre in den Schatten stellt. Die Frage, ob und in welchem Ausmaß dies der Fall sein wird, bleibt in diesem Band letztendlich unbeantwortet. Eine genauere theoretische Diskussion der fördernden und bremsenden Faktoren für eine kämpferische Arbeiterbewegung wäre wünschenswert gewesen. Andererseits ist dies aber auch nicht in erster Linie eine Sache der theoretischen Diskussion. Vielmehr ist es ein Frage der Praxis der chinesischen Arbeiterkämpfe, aus denen neue Formen der Interessenvermittlung und womöglich auch der politischen Organisation hervorgehen können. Als Einstieg und Anregung, diesen Prozess mitzuverfolgen, ist der Sammelband jedenfalls sehr geeignet und sicherlich das Beste, was derzeit in deutscher Sprache dazu verfügbar ist.


Stéphane Hessel | Empört Euch!

BUCH DES MONATS Ein kleines Büchlein stürmt an die Spitzen der europäischen Bestsellerlisten. Der französische Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel hat mit »Empört euch!« den AntiSarrazin geschrieben Von Daniel Anton

★ ★★ BUCH | Stéphane Hessel | Empört Euch! | Ullstein | Berlin 2010 | 32 Seiten, 3,99 Euro

lichung von Energieversorgung und Großbanken war es das erklärte Ziel, eine Gesellschaft zu erkämpfen, in der das Gemeinwohl über den Interessen des Großkapitals zu stehen hatte. Angesichts der Finanzkrise hat für Hessel diese Idee nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Die Empörung war der Grundstein für den Kampf des französischen Widerstandes gegen die Nazis und müsse nun der Grundstein für den Kampf gegen den Finanzkapitalismus sein. Auch wenn sein Buch sehr kurz ausgefallen ist, lässt Hessel es sich nicht nehmen, die Geschichte der Empörung zu analysieren. Für ihn persönlich beginnt sie bei den Nazis und ihren Kollaborateuren, setzt sich fort in den Verbrechen des Stalinismus und in der Ungerechtigkeit der französischen Kolonialpolitik. Er stellt zwar klar, dass die Feindbilder in der Zeit des Finanzkapitalismus nicht mehr so einfach wie damals auszumachen seien. Doch fordert er nach wie vor, gemeinsam gegen dessen Widersprüche und Ungerechtigkeiten aufzustehen. Das entspricht seiner

Auffassung von Geschichte, an deren Ende »der Mensch seine vollständige Freiheit erlangt hat und damit der demokratische Staat in seiner idealen Form entstanden ist.« Trotz der Komplexität der heutigen Situation gibt es für Hessel zwei essenzielle Aufgaben, um eine gerechtere Gesellschaft zu erreichen: Die Kluft zwischen Arm und Reich muss geschlossen werden und die Menschenrechte müssen durchgesetzt werden. Der Kampf gegen Umweltzerstörung, die Diktatur des Kapitals und die Unterdrückung von Minderheiten ist für ihn eine uneingeschränkte Pflicht. Als Exempel für wachsende Ungerechtigkeit schlechthin begreift Hessel die Situation der Palästinenser im Gazastreifen, der er ein eigenes Kapitel widmet. Dabei ist er nicht, wie ihm oft vorgehalten wird, parteiisch oder tendenziös, sondern beklagt sowohl die Politik der israelischen Regierung als auch der Hamas. Das Aufbegehren der palästinensischen Bevölkerung entspringt für ihn aus der puren Verzweiflung. Natürlich ist »Empört euch!« keine fundierte Gesellschaftsanalyse. Diesen Anspruch hat sich Hessel aber auch gar nicht gestellt. Vielmehr gleicht sein Buch einem Aufschrei über die dunkelsten Auswüchse des entfesselten Kapitalismus. Hessel macht keine revolutionären Ansagen und doch argumentiert er für eine Bewegung, eine gemeinsame Empörung von unten. Sein Buch ist sozusagen der französische Anti-Sarrazin: Er formuliert eine messerscharfe, zuweilen angenehm polemische Wut, die nicht nach Sündenböcken sucht, sondern die Ursache für soziale Ungleichheit, Krieg und Umweltzerstörung klar benennt: den Kapitalismus. Übrigens: Hessel hat nachgelegt. In Frankreich ist bereits sein nächstes Buch »Engagezvous!« (»Engagiert euch!«) erschienen. Dort diskutiert er mit einem französischen Öko-Aktivisten, wie die Umweltzerstörung zu stoppen ist.

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in 93-jähriger Franzose trifft mit einem 24-seitigen Essay den Nerv vieler Europäer. »Empört Euch!« erklimmt die Spitzen der Verkaufslisten. Allein in seiner Heimat hat sich das kleine Büchlein über eine Million mal verkauft. Im Gegensatz zum deutschen Bestsellerautoren Thilo Sarrazin braucht Stéphane Hessel dazu weder einen dicken Wälzer noch rassistische Thesen, sondern er schlägt sich auf die Seite der Unterdrückten und greift offensiv die herrschenden Verhältnisse an. Die Empörung ist dabei nicht nur ein verbaler Ausdruck von Unzufriedenheit, sondern manifestiert sich in konkreter Tat. Das beweist schon Hessels Biographie: Geboren in Berlin als Sohn des polnischjüdischen Schriftstellers Franz Hessel und der deutschen Helen Grund, hat Stéphane vieles mit- und überlebt. Die Familie zieht 1924 nach Paris, nach dem Einmarsch der Nazis schließt sich Hessel der Résistance an. Im Jahr 1944 wird er von der Gestapo gefasst und deportiert. Nur durch die Annahme der Identität eines bereits verstorbenen Mithäftlings kann er sich der Ermordung entziehen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird er Frankreichs Vertreter bei den Vereinten Nationen und unterzeichnet 1948 die Charta der Menschenrechte. Darüber hinaus setzt er sich für die Entrechteten der »Dritten Welt«, für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein. 1962 gründet er die »Vereinigung für die Ausbildung von afrikanischen und madagassischen Arbeitnehmern« und kämpft für die Rechte von Migranten in Frankreich. In »Empört euch!« prangert Hessel die Ungerechtigkeiten des Finanzkapitalismus an und ruft zu deren Überwindung auf. Als Beispiel und Basis seiner Argumentation zieht er das nach Kriegsende veröffentlichte Programm des Nationalen Widerstandsrates heran. Die Erneuerung, die sich die Résistance vorstellte, war dabei umfassend und radikal. Neben konkreten Maßnahmen wie der Verstaat-

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Peter Linebaugh, Marcus Rediker |Die vielköpfige Hydra

Eine verborgene Geschichte Ein viel diskutiertes Buch zweier US-amerikanischer Historiker eröffnet einen neuen Blick auf den Aufstieg des atlantischen Kapitalismus – und auf die Klassenkonflikte in der Frühen Neuzeit Von Philipp Kufferath

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★ ★★ BUCH | Peter Linebaugh, Marcus Rediker | Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks | Assoziation A | Berlin/Hamburg 2008 | 427 Seiten | 28,00 Euro

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ie Enteignung der Bauern, der Bau von Schiffen und Lagerhäusern, die Erschließung der Ozeane, die Versklavung der afrikanischen Bevölkerung und die gewaltsame Inbesitznahme des amerikanischen Kontinents – all diese recht unterschiedlichen Phänomene kennzeichnen den Aufstieg des globalen Kapitalismus. Das von europäischen Seemächten etablierte atlantische Handelsdreieck zwischen Europa, afrikanischer Westküste und den Kolonien Amerikas setzte gigantische Ströme von Menschen, Waren und Kapital in Bewegung. Zahlreiche Aspekte dieser blutigen Geschichte wurden bereits eindrücklich beschrieben. Der Blickwinkel der USamerikanischen Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker ist jedoch ein radikal anderer. Sie begreifen Sklaven und Hausangestellte, Holzhauer und Wasserträger, Seeleute und Piraten nicht bloß als unterdrückte Figuren im Spiel dieser Mächte, sondern als das eigentliche Subjekt der Geschichte: als transnationales, multiethnisches Proletariat. Der Titel ihres Buches – »Die vielköpfige Hydra« – deutet bereits an, dass dieses Proletariat zwar über keine gemeinsame Identität, kein »Klassenbewusstsein« verfügte, aber trotz – oder gerade wegen – dieser Differenzen als »bunt-

scheckiger Haufen« wirkungsmächtig auftreten konnte. Schon in den zeitgenössischen Quellen stößt man auf die Analogien aus der griechischen Mythologie. Während der Kapitalismus mit der Figur des mächtigen Herakles in Verbindung gebracht wurde, verglichen die Chronisten der Frühen Neuzeit den Widerstand von Sklaven, Bauern oder Seefahrern mit der neunköpfigen Hydra. Bei diesem schlangenartigen Geschöpf agieren die Häupter zwar unabhängig voneinander, als Gesamtwesen ist es aber dafür ein umso gefährlicherer Gegner. Wird ihm ein Kopf abgeschlagen, wachsen zwei neue nach. Dieses eindrückliche Bild verwenden die beiden Historiker, um ihre Thesen zu illustrieren. Sie folgen dem Credo aus Bertolt Brechts Gedicht: »Fragen eines lesendes Arbeiters«, demnach eben nicht Entdecker, Könige oder Unternehmer die Träger der Geschichte sind, sondern die arbeitende Bevölkerung. Linebaugh und Rediker beschreiben den Widerstand des globalen Proletariats im frühen Kapitalismus. Zudem lösen sie sich von einem auch in der marxistischen Geschichtswissenschaft dominierenden Vorgehen, organisierte (männliche) Arbeiterbewegungen im nationalen Rahmen zu untersuchen.

Indem sie den Fokus auf die internationale Vielfalt der arbeitenden Bevölkerung und deren unkoordinierten spontanen Widerstand gegen Enteignung, Unterdrückung, Versklavung und Ausbeutung legen, entwickeln sie einen innovativen Ansatz. Von der Wissenschaft mussten die beiden Historiker auch Kritik an ihrer losen Verknüpfung von Ereignissen und Akteuren und ihrer prononcierten Auslegung von Quellen einstecken. Doch dieses Problem lässt sich gar nicht vermeiden. Denn während die Herrschenden eine Vielzahl von Quellen hinterlassen haben und über Jahrhunderte ihre Deutungen durchsetzen konnten, sind die Zeugnisse der unterdrückten Gruppen wesentlich spärlicher gesät. Die einzelnen Spuren müssen mühsam zusammengetragen und durch mündlich überliefertes Wissen über Aufstände und Traditionen ergänzt werden. Die Studie beruht auf über zwanzigjähriger Recherche. Sie erhellt nicht nur die transatlantische Entwicklung zwischen 1600 und 1800, sondern bietet zudem Ideen und Instrumente für eine aktuelle globale Arbeitsgeschichte. Eine Frage vermag dieser Ansatz freilich nicht zu lösen: Wie wird aus der Vielfalt und Spontaneität der Proteste eine gemeinsame Gegenwehr mit Perspektive?


Im Superwahljahr 2011 sind die Hamburgerinnen und Hamburger als erste an die Urnen gegangen. Sie haben der SPD und ihrem Spitzenkandidaten Olaf Scholz einen phänomenalen Erfolg beschert. Künftig wird die Sozialdemokratie die Hansestadt alleine regieren. Weshalb mit Scholz ausgerechnet der Architekt der »Agenda 2010« zum neuen Hoffnungsträger der SPD werden konnte und was von seiner Regierungszeit zu erwarten ist, analysieren Joachim Bischoff und Bernhard Müller in der Zeitschrift Sozialismus (3/2011). Seit dem Ende der Blockkonfrontation 1989/90 hat sich die Rolle der Bundeswehr grundsätzlich geändert. Aus einer Verteidigungsarmee ist eine Eingreiftruppe geworden, aus einer Wehrpflichtigeneine Freiwilligenarmee. In der aktuellen Ausgabe der Prokla (Nr. 162, März 2011) zeichnen verschiedene Autoren unter der Leitfrage »Nie wieder Krieg?« diese Entwicklung nach und diskutieren Strategiefragen der Antikriegsbewegung. In der Zeitschrift für Arbeitswissenschaft (1/2011), die von der gewerkschaftsfreundlichen Gesellschaft für Arbeitswissenschaft herausgegeben wird, findet sich ein Artikel des Ökonomen Thomas Weiß über »Arbeitsproduktivität, nicht nur eine zentrale arbeitsökonomische und makroökonomische Kategorie«. Dort analysiert er die langfristige Entwicklung der Löhne und des Wirtschaftswachstums in der Bundesrepublik, in Japan und den

USA. Sein Fazit lautet: »Der politische Druck auf Löhne, Lohnkosten und Lohnnebenkosten als sogenannte Problemgrößen ist weder empirisch noch theoretisch zu begründen.«

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In Diskussionen über Alternativen zum Kapitalismus wird gelegentlich die These geäußert, dass Beschäftigte mit höheren Löhnen nicht revolutionär sein können. Eine altbekannte Auffassung: Schon vor knapp 100 Jahren wurde innerhalb der marxistischen Linken die Ansicht vertreten, dass eine Art »Arbeiteraristokratie« existiere. Demnach würden Arbeiter mit einem überdurchschnittlich hohen Lohn ihre revolutionären Ziele aufgeben. In dem englischsprachigen Journal Historical Materialism (18. Jahrgang, Heft 4) widerlegt Charles Post diese Theorie auf zwei Ebenen: Zunächst zeigt er die ökonomischen Schwächen des Ansatzes auf. So habe kein Vertreter der These bislang schlüssig erklären können, weshalb es eigentlich zu den höheren Löhnen kommt. Anschließend macht Post deutlich, dass sich aus der ökonomischen Lage von Beschäftigten nicht ihr Bewusstsein ablesen lässt. Denn oft hätten gerade die besser bezahlten Arbeiter eine führende Rolle in Streikauseinandersetzungen übernommen.

von Win Windisch und Marcel Bois

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Zeitschriften und Magazinen

Weblinks: Linksnet: www.linksnet.de Prokla: www.prokla.de Sozialismus: www.sozialismus.de Zeitschrift für Arbeitswissenschaft: www.zfa-online.de Historical Materialism: www.historicalmaterialism.org SoZ: www.sozonline.de

Auch in diesem Frühjahr gingen die Jecken wieder auf die Straße. Das nahm die SoZ – Sozialistische Zeitung (Nr. 3, März 2011) zum Anlass, einen Artikel über den Kölschen Karneval während der Nazizeit zu veröffentlichen. Larissa Pfeiffer-Rüssmann zeigt dort auf, dass es sich bei der lange verbreiteten »Behauptung, der rheinische Frohsinn sei gegen die Nazipropaganda immun gewesen,« um einen Mythos handelt. Zwar habe es einige widerständige Karnevalisten wie den Büttenredner Karl Küpper gegeben. Doch insgesamt habe der Präsident der Prinzengarde dafür gesorgt, dass sich der Kölner Karneval der NS-Politik unterwarf.

REVIEW

er Umbruch in Nordafrika ist das Thema, das die linke Presselandschaft in diesem Frühjahr am meisten beschäftigt. Die Kolleginnen und Kollegen verschiedener Zeitschriften haben den arabischen Revolutionen Artikel und Schwerpunkte gewidmet. Eine umfassende Auswahl findet sich auf der Themenseite »Arabische Welt im Umbruch« des Internetportals linksnet.de.

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Š Capelight Pictures (2)

Preview


FILM

Four Lions | Regie: Christopher Morris

Die heitere Seite des Terrorismus Eine Komödie über eine Gruppe Selbstmordattentäter kommt ins Kino. Die CSU würde den Film am liebsten verbieten lassen Von Phil Butland hristopher Morris hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten viele Feinde gemacht. Das Spektrum reicht von Politikern, die sich an seiner Kampagne gegen die fiktive Droge »Cake« beteiligt haben, bis hin zu Medienforschern, die er für ihre Hysterie in Bezug auf Pädophilie verspottet hat. Nun hat der britische Satiriker seinen ersten Film gedreht und einen neuen Gegner hinzugewonnen: Die CSU möchte verhindern, dass »Four Lions« in Bayern gezeigt wird, denn der Held dieser Satire ist ein islamistischer Selbstmordattentäter. Der CSU- Bundestagsabgeordnete Stephan Mayer begründet seine Ablehnung damit, dass die in Europa lebenden Islamisten den Film als Provokation sehen und sich rächen könnten. Aber »Four Lions« ist eher eine Provokation gegen Staat und Politik als gegen Islamisten. Die Möchtegern-Selbstmordattentäter werden zwar als arrogant und dumm dargestellt, aber die Polizei ebenso. Die Angst der Union rührt vermutlich weniger daher, dass diese muslimischen Jungs lächerlich aussehen, sondern dass sie menschlich erscheinen. Es gleicht tatsächlich einem Kulturschock, einen Film zu sehen, dessen Hauptdarsteller aus der Arbeiterklasse stammen, regionale Dialekte sprechen und dann auch noch Muslime

sind. Dass sie keinem der gängigen Stereotype folgen, macht es noch ungewöhnlicher. Der Hauptdarsteller Omar arbeitet beispielsweise gemeinsam mit anderen Engländern als Wachmann. Trotz ihrer Vorliebe für Selbstmordattentate kommen sie auch noch sympathisch rüber. Der einzige wirkliche Fiesling ist Barry – ein weißer, britischer Konvertit. Der Film wirft jedoch die berechtigte Frage auf, ob eine Komödie die geeignete Form ist, um ein ernstes Thema wie Terrorismus zu behandeln. Darauf gibt es meines Erachtens zweifellos nur eine Antwort: Warum nicht? Nur durch das Brechen von Tabus ist es möglich, ernsthafte Diskussionen zu führen. Solange ein Thema als »zu ernst« oder »zu kontrovers« für eine Komödie angesehen wird, schränkt es die Debatte ein. So werden Feindbilder aufgebaut, über die man nicht reden darf. Daran schließt sich jedoch eine andere Frage an: Gelingt es einer Komödie, ein schwieriges Thema vernünftig umzusetzen? Hier kommen wir zu einer der Schwächen von Morris’ Werk. Er zieht einfach alles ins Lächerliche. »Four Lions« ist damit zwar immer noch besser als diverse Heile-Welt-Filme, die einem vorgaukeln sollen, dass es keine Probleme gäbe. Doch anders als beispielsweise das Selbstmordattentäter-

Drama »Paradise Now« eröffnet Morris’ Film kaum die Gelegenheit, über die Motivationen der Hauptfiguren nachzudenken. Seine Suizidbomber sind einfach Irregeleitete. Aber vielleicht ist es auch unfair, »Four Lions« für etwas zu verurteilen, was nicht Ziel des Filmemachers ist. Morris geht es nicht um tiefgründige Motivationen, sondern darum, uns zum Lachen zu bringen. Und hier setzt – trotz meines größten Respekts für den Film und seinen Regisseur – meine Kritik an: Manchmal sind die Witze einfach nicht lustig genug. Der Film ist wie eine Sitcom konzipiert. Morris sagt, sein Vorbild sei »Dad’s Army«, eine komödiantische Fernsehserie über die British Home Guard, eine Heimwehr, die während des Zweiten Weltkriegs aktiv war. Das Ergebnis ist, dass die Szenen in »Four Lions« aneinandergereiht wirken. Manche sind lustig, andere nicht. Aber dem Film fehlt eine gewisse Struktur. Einige ernste Szenen gibt es auch. Wenn sie gegen die sanfte Komik einer vorherigen Sequenz gestellt sind, dann wirkt der Humor des Films vielleicht am besten. Das Lachen bleibt einem im Hals stecken. Das unterscheidet diesen provokanten Film dann eben doch von der gewöhnlichen Situationskomödie.

★ ★★ FILM | Four Lions | Regie: Christopher Morris | Großbritannien 2010 | 97 Minuten | Kinostart: 14. April 2011

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»Streiks liefern Geschichten voll großer Heldentaten, Humor und Tragik« Im Sommer erscheint China Miévilles neuer Fantasyroman »Der Krake« auf Deutsch. Ein Gespräch über Tintenfischkulte und Fantasiewesen im Arbeitskampf

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hina, dein neues Buch »Der Krake« dreht sich um eine Religionsgemeinschaft, die einen riesigen Tintenfisch anbetet. Hattest du Bedenken, über Religionen zu schreiben? Nein, wieso? Nichts ist so abwegig, dass nicht irgendwer es irgendwo anbetet. Die Vorstellung eines Tintenfischkults ist auch nicht neu, am wenigstens in der Fantasy- und Horrorliteratur. Ich bin Atheist, aber mir geht dieser selbstgerechte Atheismus auf die Nerven, der Religion einfach als intellektuelle Fehlleistung behandelt. Wenn man heutzutage über Religion schreibt, kommt man nicht umhin, die Debatten über den Islam zu berücksichtigen. Aber ich wollte das nicht in den Vordergrund des Buchs stellen, denn dann hätte ich einige eher plumpe Analogien riskiert. Ich betone nachdrücklich, dass die Tintenfischanbeter nicht mit den Anhängern irgendeiner Religion gleichzusetzen sind. Es geht genauso um diese melodramatische Gattung von Kulten wie um wirkliche Religionen in der echten Welt. Ich hoffe, dass meine Darstellung von Religion trotz all ihrer ironischen Anspielungen nicht als Spott rüberkommt.

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u wirst oft als typisch Londoner Schriftsteller bezeichnet. Wird dein neues Buch diesen Ruf verstärken? Die Inspiration zu dem Buch ist nicht in erster Linie London, sondern eher die Tatsache, dass es im Londoner Museum für

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China Miéville

Naturgeschichte tatsächlich einen riesigen Tintenfisch gibt. Ich bin Teil der Londoner Fantasy-Tradition. Die meisten, wenn auch nicht alle Romane über London zielen darauf ab, dass es keine gewöhnliche oder alltägliche Stadt ist. »Der Krake« stellt die seltsame Stadt ins Zentrum, die »Fantasmagorie«. Daher bin ich der Meinung, dass es sehr viel weniger eine Geschichte über London ist als zum Beispiel mein Buch »König Ratte«.

I China Miéville ist ein englischer Fantasyautor. Er gehört zu einer losen Gruppe von Autoren, den sogenannten New Weird (Neue Sonderbare), die versuchen, die Fantasyliteratur von ihren eher konservativen Inhalten wegzuentwickeln. Für seine Werke hat er zahlreiche Preise gewonnen. Zuletzt ist von ihm auf Deutsch »Die Stadt und die Stadt« (Bastei Lübbe 2010) erschienen.

n »Der Krake« gibt es einen Streik von Fantasiewesen. Schleichen sich immer politische Themen in deine Bücher ein? Ich scheue mich nicht, Politik in meine Werke einzuflechten. Da ich selbst ein politischer Mensch bin, wäre es lächerlich, wenn ich versuchen würde, sie rauszuhalten. Aber es geht um mehr als nur darum, dass dies meine politischen Themen und Ansichten sind und dass ich ein Interesse daran habe, über Aspekte davon nachzudenken. Streiks sind oft interessante und aufregende Ereignisse. Sie liefern Geschichten voll großer Heldentaten, Humor und Tragik. Die Idee für meinen Streik stammte aus Disneys Fantasia und dem verhexten Besen, der außer Kontrolle gerät. Es geht um eine Form von betrieblichem Widerstand, der sich seltsam weiterentwickelt. Im Fantasy-Genre geht es darum, sich anzusehen, was passiert, wenn man lächerliche Vorstellungen nicht als absurd abtut, sondern ihnen folgt.


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Nr. 20 | April/Mai 2011 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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