marx21 Ausgabe Nummer 49 / 03-2017

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marx21 03/2017 | Herbst 2017 | 4,50 eUrO | marx21.de

Dieselgate Ausstieg aus dem Autowahn Pflegestreik Warum ver.di mehr tun muss

Venezuela Was die rechte Opposition und die Chavisten eint

1968

magazin für internatiOnalen sOzialismUs

Ein SDS-Veteran erinnert sich

Klimaschutz

Was die Gewerkschaften falsch machen

Queer in Ägypten

Warum die Regierung sexuelle Vielfalt brutal unterdrückt

Frankreich

König Macron und der neue Robespierre

Griechenland Wie die Linke mit dem Verrat von Syriza umgeht

195906 4

e g der AfD: Wirksam Nach dem Wahlerfol n Nazis in Nadelstreife e di n ge ge en gi te Stra

204501

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Österreich 4,70 eUrO schWeiZ 7,50 chF

100 Jahre Oktoberrevolution Wir können gewinnen


BERLIN Unter dem Motto »Welcome united!« oder auch »We’ll come united« demonstrieren am 16. September 10.000 Menschen gegen die Verschärfungen des Asylrechts, Abschiebungen und Rassismus in Berlin. Sie ziehen vom Bundesinnenministerium bis zum Oranienplatz in Kreuzberg. Ganz vorne weg: Geflüchtete, die aus ganz Deutschland angereist sind. Die Sprecherin des Bündnisses Newroz Duman erklärt: »Nahezu alle etablierten Parteien wollen das Asylrecht abbauen. Wer uns Kriegsflüchtlingen den Familiennachzug verwehrt, wer uns im Mittelmeer ertrinken lässt und Internierungslager in der libyschen Wüste bauen will, wer uns eiskalt nach Afghanistan abschiebt, der muss mit unserem Widerstand rechnen.« Auch von Abschiebung betroffene Schülerinnen und Schüler sind auf der Demonstration und machen auf ihre bedrohliche Situation aufmerksam. »Schluss mit den Abschiebung« ist auf vielen Plakaten zu lesen. Eine weitere Forderung der Protestierenden: »Das Sterben im Mittelmeer muss aufhören - Für sichere Fluchtwege, Bewegungsfreiheit und ein Europa des Willkommens!«. © Ekvidi / CC BY-NC / flickr.com


EDITORIAL | HERBST 2017

IN EIGENER SACHE

Liebe Leserinnen und Leser,

W

ir werden sie jagen!« Mit diesen Worten machte Alexander Gauland, wenige Minuten nachdem die erste Wahlprognose über den Bildschirm flimmerte, klar, auf was sich die Republik einstellen kann. Nach einem Wahlkampf, in dem sich Politikerinnen und Journalisten gleichermaßen die Themen von der AfD diktieren ließen, kam ihr Erfolg wenig überraschend. Aber wie in einem Horrorfilm ist man dann doch erschreckt, wenn das Monster schließlich um die Ecke kommt. Der Rechtsruck ist Ausdruck einer tiefen Legitimationskrise des politischen Systems. Das politische Zentrum bröckelt. DIE LINKE konnte ihr Ergebnis halten, insgesamt aber anscheinend kaum von der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung profitieren. Doch der Eindruck täuscht, wie ein genauerer Blick verrät. In unserem Titelthema ab Seite 16 analysieren wir den Wahlausgang und zeigen, mit welcher Strategie DIE LINKE der Gefahr von rechts begegnen und gleichzeitig die neue Bundesregierung unter Druck setzen kann. Beispiel gefällig? 299 Wahlkreise gibt es bei der Bundestagswahl – in 298 erreichte die AfD jeweils mehr als 5 Prozent. Die einzige Ausnahme: Münster. Hier erzielte stattdessen die lokale LINKE das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Wie es dazu kam, schildert uns ihr Direktkandidat Hannes Draeger ab Seite 26. Lange haben wir gezögert, das Thema AfD auf das Cover zu nehmen - immerhin der fünfte Titel zum Kampf gegen rechts in nur zweieinhalb Jahren. Aber man kann sich eben nicht aussuchen, wo der Schuh drückt. Eigentlich hatten wir jedoch ganz andere Pläne: Denn vor genau einhundert Jahren befreiten sich die russischen Arbeiterinnen und Soldaten von den Ketten des Zarismus und schufen, wenn auch nur für kurze Zeit, die

fortschrittlichste und freieste Gesellschaft der Menschheitsgeschichte. Ihr Kampf gegen Krieg und kapitalistische Ausbeutung ist bis heute Inspiration für Generationen von Revolutionärinnen und Sozialisten. Jetzt mögt ihr euch fragen: Die Oktoberrevolution abfeiern? Ernsthaft? Tun das nicht nur Ewiggestrige, Entrückte und Stalinfans? In unserem Schwerpunkt geben wir Antworten und erklären, was wir heute noch von den Bolschewiki und den Ereignissen von 1917 lernen können. Los geht’s auf Seite 52. Und auch das angedachte Cover war zu schick für den Papierkorb. Deshalb ist es nun auf die Rückseite unseres Magazins gewandert. Darüber hinaus widmen wir uns in dieser Ausgabe den Arbeitskämpfen in der Pflege sowie dem Klima- und Umweltschutz. Auf den ersten Blick haben beide Themen nicht viel gemeinsam, doch die unrühmliche Rolle der Gewerkschaftsführungen verbindet sie. Ab Seite 49 erklärt unser Autor, warum ver.di mehr tun muss, um den Pflegenotstand effektiv zu bekämpfen. Auf Seite 14 kommentieren wir die katastrophale Haltung der Gewerkschaften zum Braunkohleabbau. Aus der Redaktion gibt es erfreuliche Nachrichten: Erstmalig haben wir Unterstützung von einem Schülerpraktikanten – und sind hellauf begeistert. Statt selber Urlaub zu machen, schrieb Hannes Maerker in seinen Sommerferien einen Artikel über den Kampf gegen Massentourismus in Spanien. Ihr findet den Text auf Seite 31. Auch das Fotofeature zur »Welcome united«-Demo hat er beigesteuert und die Fotostory auf Seite 8. Und damit nicht genug: Hannes hat auch die Seiten 54 bis 57 und 60 bis 63 gelayoutet. Wie er zu uns gefunden hat und was seine weiteren Pläne sind, lest ihr in unserer Rubrik Betriebsversammlung auf Seite 6. Eure Redaktion

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Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 68 23 14 90 marx21 03/2017

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inhalt

MARX21 #49 | Herbst 2017

Titelthema: Strategien gegen die AfD Wahlauswertung Der Kampf gegen rechts in Zeiten wachsender Polarisierung

17

Nazis in Nadelstreifen Wirksame Strategien gegen die AfD

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Praxis Warum die AfD in Münster ihr schlechtestes Ergebnis bekam

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1968 Ein SDS-Veteran erinnert sich

Schwerpunkt: 100 Jahre Oktoberrevolution Roter Oktober Das größte Ereignis der Menschheitsgeschichte

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Was war die Oktoberrevolution? Von der Revolution zur Machtübernahme

54

Frauenrechte Was die Revolution den Frauen brachte und was danach geschah

58

Große Hoffnung, tiefer Fall Warum Stalin die Revolution verraten konnte

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Die Bolschewiki Der Mythos des Leninismus

64

Alexandra Kollontai Die Revolution ist weiblich 68 Der neue sowjetische Film Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« bringt die Revolution ins Kino

70

Inland Charité-Streik Die Avantgarde im Arbeitskampf 09

marx21.de

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Dieselgate Ausstieg aus dem Autowahn

10

Klimaschutz Was die Gewerkschaften falsch machen

14

Abschiebungen nach Afghanistan Eine perfide Taktik

15

Pflegestreik Warum ver.di mehr tun muss

50

10

Dieselgate Ausstieg aus dem Autowahn


64

Die Bolschewiki Der Mythos des Leninismus

Internationales Argentinien 600 Beschäftigte gegen 62,8 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz 08

70

Der neue sowjetische Film Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« bringt die Revolution ins Kino

Katalonien Die Menschen kämpfen für ihre Unabhängigkeit

30

Spanien Warum der Protest gegen die Tourismusindustrie zunimmt

31

Queer in Ägypten Warum die Regierung sexuelle Vielfalt brutal unterdrückt

32

Venezuela Was die rechte Opposition und die Chavisten eint 35 Frankreich König Macron und der neue Robespierre 38 Griechenland Wie die Linke mit dem Verrat von Syriza umgeht

42

Geschichte 1968 Ein SDS-Veteran erinnert sich

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Black Lives Matter Ein neues Standardwerk zur Bewegung ist da

78

Theorie Linker Populismus Ein unanständiges Angebot? 79

35

Venezuela Was die rechte Opposition und die Chavisten eint

08

Argentinien 600 Beschäftigte gegen 62,8 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz

Stalinismus-Kritik Munition für einen neuen Sozialismus

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Kultur Album des Monats Ode an die Organisierung

76

Roman Ein vergessenes Meisterwerk über die Zeit nach der Oktoberrevolution

77

Rubriken

32

Queer in Ägypten Warum die Regierung sexuelle Vielfalt brutal unterdrückt

Fotofeature Editorial Impressum Betriebsversammlung Briefe an die Redaktion Unsere Meinung Weltweiter Widerstand Review Preview

02 03 06 06 07 14 30 74 80

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IMpressum | Herbst 2017

marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 11. Jahrgang, Heft 49 Nr. 3, Herbst 2017 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Print & Online Yaak Pabst (leitender Redakteur/V.i.S.d.P.), Martin Haller (stellv.), Tilmann von Berlepsch, Matthias Danyeli, Hofmann, Jan Maas, Hannes Maerker (Praktikant), Peter Stolz Lektorat Clara Dirksen, David Paenson, Boris Marlow, Christoph Timann, Ilonka Wilk, Irmgard Wurdack Übersetzungen David Paenson, Einde O‘Callaghan Layout Yaak Pabst, Hannes Maerker

Hannes Maerker, PraktikANT

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ls Hannes den Aufruf unserer Redaktion nach Verstärkung sah, fühlte er sich sofort angesprochen. Nach einem Telefonat war die Sache klar: In den Sommerferien arbeitet der Abiturient an dieser Ausgabe mit. Für Politik interessiert er sich seit Langem, diskutierte immer viel mit Freunden.

Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat (Koordinierungskreis marx21) Stefan Bornost, Christine Buchholz, Hannes Draeger, Michael Ferschke, Werner Halbauer, Martin Haller, Ewald Heimann, Christoph Hoffmeier, Daniel Kerekes, Ronda Kipka, Jary Koch, Rhonda Koch, Julia Meier, Volkhard Mosler, Yaak Pabst, Frank Renken, Fanni Stolz, Oskar Stolz, Heinz Willemsen, Luigi Wolf Aboservice-Team Phil Butland, Stefan Hanczuch, Renate Heitman, Klaus Henning, Rita Renken, Alper Sirin Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint viermal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 68 23 14 90 Fax: 030 – 68 22 97 35 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint Anfang Dezember 2017 (Redaktionsschluss: 06.11.)

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Der Aufstieg der AfD gab dann den Ausschlag, selbst aktiv zu werden: »Man muss die Leute aufklären, was diese Hetzer wirklich wollen, und ihrem Rechtspopulismus echte Alternativen entgegenstellen«, betont Hannes. Deshalb trat er Anfang des Jahres in DIE LINKE ein und wirbt seitdem in seinem brandenburgischen Wohnort für linke Positionen. Es ist Hannes wichtig, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. »Alle jammern über die ›unpolitische Jugend‹, aber wie und wo sollen sich Jugendliche denn politisieren, wenn es nicht einmal an allen Schulen in Deutschland Politikunterricht gibt? Denn es braucht Informationen, um einen eigenen Standpunkt zu entwickeln«, findet er. In der marx21-Redaktion gefällt Hannes besonders, dass er am gesamten Prozess der Hefterstellung beteiligt ist, von der Themendebatte bis zum Layout. Einen Artikel von ihm findet ihr auf Seite 31. Was auch immer die Zukunft bringt, in einem ist sich Hannes sicher: Nach dem Abitur nächstes Jahr zieht er zum Studieren zurück nach Berlin – und wird dann in unserer Redaktion dauerhaft daran mitarbeiten, die Welt verständlicher zu machen, um sie zu verändern.

Das Nächste Mal: Klaus Henning


Briefe an die Redaktion | Herbst 2017

Briefe an die Redaktion

nicht jedoch, wenn man von vornherein für den spanischen erzreaktionären Staat und die Unterdrückung dieser Kampagne argumentiert. Von Freiräumen zu fabulieren und gleichzeitig einer Bewegung, die für Demokratie und soziale Rechte kämpft, Egoismus vorzuwerfen, obwohl sie Inspiration für andere soziale Kämpfe in Spanien und international ist, zeugt nicht gerade davon, dass man sich tiefergehende Gedanken über den revolutionären Weg zum Sozialismus macht. Frank Mackimmie, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Gefangener der Geschichte« von Chris Harman (Heft 2/2017) Zum Artikel »Spanien: Soll Katalonien unabhängig werden?« von David Karvala (marx21.de, 20.09.2017) Kataloniens Unabhängigkeit: Ein interessantes Projekt mit (leider) egoistischen Zügen. Wenn eine reiche Region ein föderales System verlässt, ist das immer irgendwie egozentrisch. Allerdings könnte ein Erfolg in Katalonien auch zu einem weltweiten Vorbild für separatistische Bewegungen werden und Nachahmer in der ganzen Welt finden. Was mag die Zukunft bringen? Das Auseinanderfallen und letztlich ein Ende der Nationalstaaten? Stadtstaaten? Kommunen? Syndikalismus? Eine spannende Situation, die Utopisten und Reformern möglicherweise Freiräume zur Gestaltung schafft. Jack Le Paraiyar, auf unserer Facebook-Seite Die Ignoranz mancher Linker ist wirklich unendlich groß. Spanien ist kein föderales System, sondern der Staat ist in großen Teilen immer noch der gleiche wie unter dem faschistischen Franquismus. Das zeigen solche Gewaltorgane wie die Audiencia Nacional, der Sondergerichtshof, von dem aus die linke Opposition im Baskenland unterdrückt wird, oder die Guardia Civil, eine paramilitärische Polizei mit dem Rutenbündel und einem Schwert als Emblem. Die Guardia Civil war auch das Repressionsorgan des franquistischen Staates gegen jegliche oppositionelle Bewegung. Wer sich gegen das Recht auf Selbstbestimmung unterdrückter Nationen stellt, der gesellt sich an die Seite der herrschenden Klasse und der rechten Partido Popular unter Manuel Rajoy, einer Partei, die von ex-Faschisten gegründet wurde und immer noch die franquistische Ära glorifiziert. Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung wird momentan von linken Kräften dominiert. Der Weg über diese Kampagne kann zu einer weiteren Radikalisierung der Massen beitragen,

In dem genannten Artikel wurden einige Textpassagen durch Anführungszeichen als Zitate kenntlich gemacht. Es wäre von Vorteil, wenn die entsprechenden Quellen – auch jene, auf die sich Harman bezieht – angegeben würden. Ansonsten ist es erfreulich, dass der Artikel über die übliche, rein ideengeschichtliche Betrachtungsweise hinausgeht. Harald Büsing, per E-Mail

Zum Artikel »G20 Protest: Was sie nicht erzählen« von der marx21-Redaktion (marx21.de, 12.07.2017) Wer so verharmlosend über die Gewaltausbrüche von Krawallbrüdern schreibt, macht sich unglaubwürdig und scheint diese Gewalt zu unterstützen. Erhard Arendt, auf unserer Facebook-Seite Wir dürfen uns nicht in die Defensive drängen und in eine »Gewalttäterdebatte« verwickeln lassen. Der schwarze Block ist nicht rot, aber wir haben denselben Feind. Die Gewalt ging vom Staat aus und sie hatte uns alle und die Zerschlagung unserer keimenden Bewegung zum Ziel. Für die Antwort der Anarcho-Chaoten ist der bürgerliche Gewaltapparat verantwortlich, der diese Gewalt wollte. Pedro Granata, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »G20: Friedliche Proteste, gewaltige Wirkung« von Georg Frankl (marx21.de, 30.06.2017) Die Kritik von Georg Frankl an militanten Aktionsformen, die zum Teil auch von Yaak Pabst in seinen acht Thesen zum G20Protest wiederholt wurde, ist richtig und schon fast so banal, dass man sich wundert, dass sie immer wieder neu diskutiert werden muss: Militante Vorgehensweisen wie in Hamburg, aber auch auf vielen anderen Demonstrationen gesehen, lehnt die überwiegenden Mehrheit der Öffentlichkeit ab. Die dadurch produzierten Bilder überlagern jeglichen anderen Protest und auch die dokumentierte Repression des Staats.

Dominierte in der breiten Öffentlichkeit bis zu den Ausschreitungen noch das Bild eines völlig übertriebenen Polizeieinsatzes und massiven Grundrechtsverletzungen zur Durchsetzung des ungeliebten G20Gipfels, drehte sich das Narrativ danach um 180 Grad: Der Protest wurde massiv angefeindet und die Polizisten wurden zu großen Helden, an denen keine Kritik mehr geübt werden durfte. Nach der Politik der G20 fragt erst recht niemand mehr. Es ist offensichtlich: Militante Aktionen nützen uns nicht, sie schaden massiv. Wenn das aber, wie von Frankl und Pabst völlig richtig ausgeführt wurde, so ist: Warum soll es dann falsch sein, sich hiervon zu distanzieren? Wieso sollte man eine Spaltung befürchten, wenn Leute abgespalten werden, die unserer Sache schaden? Wieso sollte man die Bewegung nicht in »gute« und »böse« Aktivisten spalten lassen, wenn die »bösen« objektiv das Geschäft von Merkel, Scholz und dem Springer-Verlag betreiben? Weil viele Organisationen genau die jetzt dominierenden Bilder fürchteten, spalteten sie sich vom großen Demobündnis ab und protestierten schon am Sonntag vor dem G20-Gipfel, auch mit fünfstelliger Teilnehmerzahl. Für breite, wirkmächtige Bündnisse sind diese Zehntausende deutlich relevanter als ein paar hundert militanter Autonomer, die unbedingt ohnmächtigen Straßenkampf spielen wollen. Aber wenn wir keine klare Trennlinie zwischen uns und schwarzvermummten Steinewerfern ziehen, wird es schwieriger, diese Menschen zu erreichen und für uns (zurück)zugewinnen. Das ist kein uns von den Mächtigen hingehaltenes Stöckchen, über das wir springen sollen, sondern ein für die gesamte Linke reales Problem, das wir unseretwegen lösen müssen. André Paschke, Hamburg

Zur Petition »Keine Zusammenarbeit mit der AfD« vom Bündnis Aufstehen gegen Rassismus Appelle an die Unionsparteien, aus denen die AfD hervorgegangen ist: Das klingt ja vielversprechend. Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass rechte Politikerinnen und Politiker die Normalisierung von noch rechteren Politikerinnen und Politikern aufhalten werden? Wie wäre stattdessen eine Forderung nach einem Sozialprogramm und einem Ende der Abschiebungen in den links regierten Bundesländern? Oskar Huber, auf unserer Facebook-Seite

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

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© Alle Bilder: Enfoque Rojo

FOTOSTORY | Argentinien

ARGENTINIEN | 600 Beschäftigte gegen 62,8 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz: Aus Protest gegen Massenentlassungen besetzten Arbeiterinnen und Arbeiter ein Werk des Lebensmittelkonzerns Pepsico in der Nähe der Hauptstadt Buenos Aires. Unten

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links: Erbarmungslos rückt die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas vor. Doch der Widerstand ist stärker, die Fabrik wird nicht geräumt. Mitte: Nicht nur vor dem Werkstor errichten die Beschäftigten Barrikaden, sondern auch auf Autobahnen. Unten rechts:

Aus Solidarität mit den Protesten demonstrieren in Buenos Aires 30.000 Menschen. Auf die Straße treibt sie auch der Unmut gegen den neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri. Seit dessen Amtseinführung im Jahr 2015 gab es mehr als 200.000 Entlassungen.


© Alle Bilder: Peter Stolz

FOTOSTORY | Berlin

Berlin | »Mehr von uns ist besser für alle!« heißt es auf der Demonstration der Beschäftigten bei der Berliner Uniklinik Charité. Mit kreativen Mitteln versuchen sich die Kämpfenden Gehör zu verschaffen, weil die 2016 erkämpften Forderungen bis heute nicht umgesetzt und die Situation auf den

Krankenstationen sich weiter verschlechterte. Grund genug um die Arbeit erneut nieder zu legen und gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Unten links: Der Streik findet zwischen den alten und den neuen Charité Campi statt. Mitte: In der ersten Streikwo-

che kommt es immer wieder zu spontanen Demos auf dem Campus in Mitte. Unten rechts: Eine Aktivistin bringt es auf den Punkt: »Wir sorgen für ihren Schlaf! Sie! Für unsere Alpträume«. Mit Azubis, Studierenden und erfahrenen Pflegerinnen und Pflegern ergibt der Streik eine bunte und starke Mischung.

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INLAND | DIESELGATE

VON Winfried Wolf

Was sind die Ursachen fĂźr den Dieselgate-Skandal? Sind Benzinautos klimafreundlicher und E-Autos die LĂśsung? Welche linke Alternativen zum Individualverkehr gibt es? Wir beantworten die wichtigsten Fragen

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ieselgate« ist nur der Auslöser für eine umfassende Krise der Autogesellschaft. Hinter dem Skandal steht zunächst ein objektiv beobachtbarer Prozess: die Konkurrenz innerhalb der internationalen Autoindustrie, insbesondere die zwischen den europäischen und den US-Autokonzernen. Ohne Zweifel ist die systematische Manipulation der Motorsoftware bei Dieselmotoren ein Verbrechen, weil dies zum Tod von vielen tausend Menschen beiträgt. Damit ist auch die Strafe in Höhe von umgerechnet 20 Milliarden Euro, die allein in den USA der VW-Konzern zu zahlen hat, gerechtfertigt. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass die US-Behörden bei einem vergleichbaren Verbrechen mit derselben Härte gegen US-Autokonzerne vorgegangen wären. VW, BMW und Daimler befanden sich seit einem Jahrzehnt in der Weltautobranche auf einem Siegeszug. Sie erhielten nun im Gefolge der Dieselmanipulation einen deutlichen Dämpfer. Dies kommt der Konkurrenz in Nordamerika, Japan und Südkorea zugute. Wobei sich alle vor allem auf dem chinesischen Markt die Entscheidungsschlacht liefern.

gar nicht um Diesel-Pkw allein. Der Präsident des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Matthias Wissmann, hat sogar auf eine Weise recht, wenn er – hier zitiert nach der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 11. September – poltert: »Die Feinde des Automobils schießen jetzt den Diesel an, die werden sich in Zukunft den Benziner vornehmen und übermorgen vermutlich das E-Auto.« Es gibt tatsächlich keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Benzin- und Diesel-Pkw. Im übrigen wird nicht thematisiert, dass rund 95 Prozent aller Lkw mit Diesel betrieben werden, was ja ebenfalls mit gewaltigen Mengen an Stickoxid-Emissionen und damit mit Tausenden Menschen pro Jahr, die durch NOx-Schadstoffe getötet werden, verbunden ist. Dass Diesel-Lkw generell wesentlich bessere Einrichtungen für Emissionsreduktionen haben, mag ja auf neue Lkw zutreffen. Aber kaum auf die Lkw-Flotte als Ganzes. Generell ist eine Gesellschaft, in der das Auto in der Mobilität der Menschen dominiert, mit verheerenden Folgen für Mensch, Natur, Umwelt, Städte und Klima verbunden. Nehmen wir nur die Tatsache, dass Jahr für Jahr in der EU mehr als 35.000 Menschen im Straßenverkehr getötet werden. Weltweit sind es mehr als eine Million Straßenverkehrstote pro Jahr. Das heißt, in einem Jahrzehnt wird in der EU die Bevölkerung einer Großstadt vernichtet. Und in derselben Dekade wird auf der Welt die Bevölkerung einer 10-Millionen-Mega-City ausgelöscht. Das sind ja keine »unvermeidbaren Opfer der Mobilität«. Eine Mobilität, die auf umweltverträglicheren Verkehrsformen basiert, würde mehr als 90 Prozent dieser Verkehrstoten vermeiden.

EU-weit sterben jedes Jahr 35.000 Menschen im Straßenverkehr

Mit »Dieselgate« könnten sich die Gewichte in der Weltbranche Automobilindustrie wieder etwas verschieben – zugunsten der anderen westlichen Konkurrenten, eventuell sogar zugunsten neuer Autohersteller aus China. Denn die deutschen Autohersteller machten ihre Offensive in den letzten 15 Jahren vor allem mit den Diesel-Pkw. Hier gibt es jetzt den Einbruch. Der Anteil von Diesel-Pkw am gesamten Absatz lag vor zwei Jahrzehnten in der EU bei rund 15 Prozent. Er liegt heute bei mehr als 40 Prozent. Dieser Anteil stieg nicht zufällig parallel mit dem großangelegten, weltweit betriebenen Betrug über die Abgaswerte. Seit gut einem halben Jahr sinkt der Absatz von Diesel-Pkw zumindest auf dem deutschen Markt erheblich – um 15 bis 20 Prozent. Wenn sich die Diskussion zu dieser Technologie vertieft, dann könnten sich diese Einbrüche noch verstärken. Wenn man Diesel-Pkw wirklich entsprechend den geltenden EU-Normen (Euro 6) »sauber« – also mit einem deutlich reduzierten NOx-Giftausstoß – haben will, dann müssen diese Pkw mit teurer Zusatztechnik und mit großen Tanks für den künstlichen Harnstoff (»Adblue«) versehen sein. Das – und andere Faktoren – könnte den Diesel-Pkw zu einem Auslaufmodell werden lassen. Doch es geht ja

© Gaby Schneider / Waiblinger Kreiszeitung

INLAND | DIESELGATE

Winfried Wolf ist Chefredakteur des Magazins »Lunapark21« und Autor. Im Juli 2017 erschien sein neues Buch »Abgrundtief + bodenlos. Stuttgart21 und sein absehbares Scheitern«.

Im Übrigen gibt es ja auch bei Benzin-Pkw – wie bei allen Pkw – den systematischen Betrug: Vor zwei Jahrzehnten wichen die Angaben des Kraftstoffverbrauchs, egal ob bei Diesel- oder bei Benzin-Pkw – noch um »nur« 10 bis 15 Prozent von den realen Werten ab. Inzwischen liegt die Differenz bei rund 40 Prozent. Was ja auch heißt, dass der Ausstoß so gut wie aller Schadstoffe um 40 Prozent über den offiziell behaupteten Werten (und damit oft auch über den gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerten) liegt. Womit wir beim Elektro-Pkw wären. Ja, der VDAChef hat recht – auch diese sind grundsätzlich zu kritisieren. Die meisten Systemnachteile des konventionellen Pkw-Verkehrs gelten auch für Elektro-Pkw. Der Flächenverbrauch ist auch hier gut vier Mal höher als bei öffentlichen Verkehrsmitteln (Tram, Busse, Sammeltaxen, Bahn). Die Emission von Schadstoffen im Allgemeinen und von klimaschädlichen

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INLAND | DIESELGATE © Ward / CC BY-NC / flickr.om

62,6 Millionen Kraftfahrzeuge bildeten zum 1. Januar 2017 den Gesamtfahrzeugbestand in Deutschland - über eine Million Fahrzeuge mehr im Vergleich zum Vorjahresstichtag

Stoffen im Besonderen ist – über den Lebenszyklus eines Autos hinweg gesehen und angesichts der Tatsache, dass der Strom zu mehr als zwei Dritteln aus Kohle und Atomenergie kommt - mit jener von konventionellen Pkw vergleichbar. Dies haben mehr als ein Dutzend Untersuchungen von Umweltinstituten, die auch vom Umweltbundesamt bestätigt wurden, bewiesen. Vor allem bleibt jedoch die krasse Ineffizienz des Pkw- und Lkw-Verkehrs. Generell gilt: Je mehr sich das Auto durchsetzt, desto ineffizienter wird der Verkehr. Würde man alle Pkw in Los Angeles – der Stadt mit der höchsten Pkw-Dichte (1100 Pkw auf 1000 Einwohner) und der höchsten Highwaydichte – durch schicke Tesla-Elektro-Autos ersetzen, so bliebe es doch bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit des Autoverkehrs, die geringer ist als die eines – meinetwegen sportlichen – Fahrradfahrers, also von weniger als 15 km/h. Der Dauerstau bliebe derselbe – trotz Existenz von acht- und mehrspurigen Highways. Im Übrigen bleibt es auf absehbare Zeit dabei, dass die Reichweite aller verfügbaren Elektro-Pkw so gering ist, dass diese Pkw in erster Linie als Stadtautos und generell im Nahverkehr genutzt werden. Und so sieht auch die Bilanz in Norwegen aus, dem Land, das aktuell Elektro-Pkw am meisten fördert: Mehr als zwei Drittel der Elektro-Pkw sind Zweitund Drittwagen. Die Erstwagen bleiben Benziner, Diesel- und verstärkt auch Hybrid-Pkw, solche mit Elektromotoren für den Nahbereich und Benzinmotoren für die mittleren und längeren Strecken. Da-

mit führt der Boom von Elektro-Pkw dazu, dass die Pkw-Dichte sich nochmals erhöht. Aber was sind die Alternativen? Eine alternative Verkehrsorganisation besteht im Wesentlichen aus fünf Elementen: Erstens muss der motorisierte Verkehr drastisch reduziert werden, indem die Länge der Wege im Personenverkehr reduziert wird. Das erfordert eine systematische neue »Strukturpolitik der kurzen Wege«. Allein der Freizeitverkehr macht heute 50 Prozent aller Pkw-Kilometer aus – er ist im Wesentlichen das Resultat von Autostädten und damit zerstörter Urbanität. Städte mit massiv reduziertem Autoverkehr bedeuten, dass Urbanität und Erholungswert zurückgewonnen werden. Zweitens müssen die nichtmotorisierten Verkehrsarten massiv gefördert werden. Heute werden 30 Prozent aller Wege in den Städten zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt. Dieser Anteil kann deutlich erhöht werden. Das belegen bereits heute einzelne Städte wie Amsterdam, Njimwegen und Münster. Drittens muss der öffentliche Verkehr optimiert und die Preise massiv gesenkt werden; optimal sind Modelle mit Nulltarif. Dabei sollten vor allem oberirdisch geführte und schienengebundene Verkehrsmittel (S-Bahnen und vor allem Straßenbahnen) im Zentrum stehen. Zürich mit seinem hervorragenden Tram-Netz kann als beispielgebend für einen beinahe optimalen ÖPNV angesehen werden. »Wo wir fahren lebt Zürich« – so lautete lange Zeit der richtungsweisende Wahlspruch der Züricher Tram. Viertens muss die Eisenbahn zu einer Flächen-

Je mehr Autos, desto ineffizienter der Verkehr

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bahn und zu einer Bürgerbahn ausgebaut werden. Die Konzentration auf Hochgeschwindigkeitszüge ist ein Irrweg; wichtig ist ein integriertes Netz, in dem die maximale Geschwindigkeit 200 km/h nicht übersteigen sollte. Es gilt der Grundsatz des Integralen Taktfahrplans, optimal als Halbstundentakt: Das Netz besteht aus dichten Verkehrsknoten, in denen in der Regel die Züge jeweils kurz vor der vollen und kurz vor der halben Stunde ankommen und kurz nach der vollen Stunde bzw. kurz nach der halben Stunde abfahren – genauso, wie dies in der Schweiz seit mehr als einem Jahrzehnt mit großem Erfolg praktiziert wird. Fünftens ist der Güterverkehr massiv zu reduzieren (auf weniger als ein Drittel des aktuellen). Der verbleibende Rest ist zu 75 oder mehr Prozent auf Schienen (Eisenbahn und Güter-Tram) zu verlagern. Der überwiegende Teil des aktuellen Güterverkehrs findet vor allem deshalb statt, weil weltweit alle Transportarten massiv subventioniert werden, sodass Transportkosten real kaum eine Rolle spielen. So entstanden irrational arbeitsteilige, weltweite Fertigungen. Ein solcher Abbau des Güterverkehrs wird regionale Wirtschaften und kleinere Wirtschaftseinheiten fördern und auf diese Weise hunderttausende Arbeitsplätze schaffen. Doch die Industrie wehrt sich gegen einen solchen Umbau. Ihr erstes Totschlagargument: Die Autoarbeitsplätze. Hier hilft eine Einordnung: Weltweit gibt es derzeit rund zehn Millionen Autojobs. Rund eine Milliarde Menschen auf der Welt sind Kleinproduzenten in der Landwirtschaft, die im Rahmen des Siegeszugs der »modernen Zivilisation« und der Globalisierung ihre Jobs verlieren. Allein diese Relation besagt bereits viel. Sodann befinden sich diese Autojobs in ganz wenigen Ländern. In der überwältigenden Mehrheit der Staaten spielen Jobs in der Autobranche keine größere oder gar keine Rolle. Selbst in der EU als Ganzes machen die rund zwei Millionen Autoindustrie-Arbeitsplätze nur einen Bruchteil der rund 150 Millionen Lohnabhängigen-Jobs aus. Bereits in den letzten 25 Jahren gab es einen drastischen Abbau von Autoarbeitsplätzen in Italien, Frankreich, Großbritannien und Spanien. Das hat hierzulande keinen geschert. Auch bleibt die Zahl der Autojobs seit fast einem halben Jahrhundert konstant – weltweit und in der BRD. Während in anderen Sektoren die Arbeitsplätze massiv zunahmen – z.B. im Umweltbereich. Die Autobranche ist derjenige Industriezweig mit Massenfertigung, der sich am besten für eine weitgehende (bis zu 90 Prozent) Automatisierung eignet. Es wird hier zumindest in Westeuropa in Zukunft einen drastischen Jobabbau geben. Nicht zuletzt werden Arbeitsplätze absurd unterschiedlich bewertet. Autojobs gelten als verteidi-

gungswert. Andere Arbeitsplätze bilden angeblich ein Sparpotential. Wir haben in Deutschland rund 50 Prozent mehr Arbeitsplätze in Schulen und Kindergärten als in der Autoherstellung – 1,2 Millionen. Und das sind noch deutlich zu wenige: Laut GEW bräuchten wir 50 Prozent mehr solche Stellen, um wenigstens das Niveau der skandinavischen Länder zu erreichen. Im Bereich Eisenbahn und Bahntechnik wurden in den vergangenen 25 Jahren in Europa mehr als eine Million Jobs abgebaut. Selbst im Tourismus in Deutschland arbeiten mehr Menschen als in der Autobranche. Was im Übrigen ebenfalls massiv Devisen einbringt und volkswirtschaftlich – insoweit es um ausländische Touristen in Deutschland geht – wie Export wirkt. Selbst wenn wir nur über den sogenannten produktiven Sektor, die Industrie, reden, so arbeiten im Maschinenbau in Deutschland 25 Prozent mehr Menschen als in der Autoindustrie. Das zweite Gegenargument lautet: Ein Umstieg sei »zu teuer«. Klar ist jedoch: Der öffentliche Verkehr ist auch heute wesentlich »preiswerter«, er belastet die gesamte Volkswirtschaft wesentlich weniger als der Autoverkehr. Dieser ist mit extrem hohen »externen Kosten« verbunden – Kosten, die auch heute bereits real auftauchen: bei den Kranken- und Rentenkassen (wegen gesundheitlicher Schäden, Frühverrentungen) oder in den städtischen Haushalten (für Straßenbau- und -erhalt, für Parkhäuser und Stellplätze). Das aktuelle Defizit der öffentlichen Verkehrsmittel würde sich auch bei reduzierten Tarifen schnell in eine positive Bilanz verwandeln, wenn der ÖPNV im motorisierten Verkehr das Hauptverkehrsmittel werden würde. Generell gilt: Das Geld, das die Gesellschaft im Rahmen der Autogesellschaft ausgibt, ist Geld für eine kapitalintensive Produktion: Viel Geld wird verwandt, um viel Kapital zu binden und relativ wenige Menschen zu beschäftigen. Die skizzierte alternative Transportorganisation würde ebenfalls ausschließlich Geld einsetzen, das (bislang) für Mobilität und Transport ausgegeben wird. Doch dieses Geld würde jetzt für deutlich mehr arbeitsintensivere Investitionen ausgegeben. Man würde für dasselbe Geld deutlich weniger totes Kapital bewegen und Millionen Menschen mehr beschäftigen können. Wobei zugleich die Arbeitszeiten reduziert werden müssten. Der Ausstieg aus dem Autowahn ist aus Sicht der Menschen, der Natur, der Umwelt, des Klimas und der Gesamtwirtschaft, der Volkswirtschaft, ein win-win-Projekt. ■

© wikimedia

INLAND | DIESELGATE

Tram in Zürich: Die Schweizer Metropole gilt als beispielgebend für einen beinahe optimalen öffentlichen Personennahverkehr

Weiterlesen Winfried Wolf Verkehr – Umwelt – Klima. Die Globalisierung des Tempowahns. Promedia Wien 2007 Hardcover 36,90 Euro, Taschenbuch antiquarisch

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UNSERE MEINUNG | Kampf um den Braunkohleabbau

Kampf um den Braunkohleabbau

Bärendienst für den Klimaschutz Von Jürgen Ehlers

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ug und Trug beherrschen die Diskussion um die Erderwärmung. Während die Zahl der verheerenden Naturkatastrophen weltweit zunimmt, werden immer wieder mühsam ausgehandelte Klimaziele aufgegeben oder umgangen. Auch in Deutschland versucht die Industrie stets aufs Neue, ihre Profitinteressen als Sorge um die Arbeitsplätze ihrer Beschäftigten zu verkaufen, wenn es um Umweltschutzauflagen geht. Der skandalöse Umgang mit dem Abgasbetrug bei Dieselfahrzeugen ist nur eins von vielen Beispielen. Die Gewerkschaften haben sich in Umweltfragen zu oft auf die Seite der Problemverursacher geschlagen und sich damit einen Bärendienst erwiesen. In den Augen aller, die schon seit Jahrzehnten vor den Folgen eines drohenden Klimawandels warnten und als weltfremde Fortschrittsgegner gebrandmarkt worden sind, genauso wie in denen der heutigen Umweltaktivistinnen und -aktivisten sind die Gewerkschaften Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Auch die Auseinandersetzung um die Braunkohleverstromung ist davon geprägt. Dabei wäre es gerade dort vergleichsweise einfach, zu beweisen, dass Umweltschutz und Arbeitsplatzsicherheit keine Gegensätze sind, wenn man die Profitlogik durchbricht.

Folgeschäden des Tagebaus bezahlt werden sollten. Die Geschäftsstrategie des finanzschwachen tschechischen Konzerns beruht darauf, alte Kohlekraftwerke günstig zu kaufen und darauf zu spekulieren, dass diese länger als geplant am Netz bleiben, oder Subventionen bei Stilllegung fließen. Energiekonzernen wie RWE und Vattenfall hatte der damalige SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel 1,6 Milliarden Euro für die Stilllegung von Kohlekraftwerken zugesichert.

Gewerkschaften müssen Teil des Widerstandes werden

So verkaufte zum Beispiel der schwedische Staatskonzern Vattenfall seine Braunkohlekraftwerke in Ostdeutschland an einen Investor aus Tschechien, da diese wegen der großen Überkapazitäten auf dem Strommarkt kaum noch mit Gewinn zu betreiben sind. Die IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) begrüßte die Übernahme, weil »die lange Zeit der Unsicherheit über die Zukunft der Lausitzer Braunkohle« damit vorbei sei. Sie erwartet vom neuen Eigentümer, dass er die 8000 Arbeitsplätze sichert. Doch nur einen Monat später löste der neue Eigentümer die Rücklagen in Höhe von 130 Millionen Euro auf, mit denen eigentlich die

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Mit Blick auf die Energiewende fordert Michael Vassiliadis, Chef der IG BCE, zwar ganz richtig, »wir benötigen einen Strukturwandel, der intelligent gemanagt ist«, wettert dann aber ganz falsch gegen den staatlich subventionierten Ausbau von erneuerbaren Energien. Das Problem ist nicht die staatliche Förderung der Entwicklung neuer, schadstoffarmer Techniken zur Stromproduktion, sondern deren Finanzierung und Verwertung. Natürlich ist die Umlage für erneuerbare Energien zu kritisieren, weil damit Menschen mit geringem Einkommen höher belastet werden, und Vassiliadis Forderung nach einer Steuerfinanzierung richtig. Aber die Finanzierung ist nur ein Problem, noch gravierender sind die Eigentumsverhältnisse. Die Energieversorgung gehört nicht in die Hand von profitorientierten privaten Investoren, sondern als Teil der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand. Dann müssten auch die Kumpel in den Braunkohlerevieren keine Existenzangst haben, denn durch eine öffentlich geplante Energiewende würden viele neue Arbeitsplätze entstehen. Die Gewerkschaft muss deswegen zum Bündnispartner des wachsenden Widerstands gegen die Braunkohleverstromung werden.

Jürgen Ehlers ist aktiv in der Arbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft der LINKEN in Hessen.


© Klaus Stuttmann

STUTTMANN

UNSERE MEINUNG | Abschiebungen

Abschiebungen nach Afghanistan

Eine perfide Taktik VON Christine Buchholz

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itten im Wahlkampf wurden vom Düsseldorfer Flughafen aus acht Afghanen nach Kabul abgeschoben. Es war die erste Sammelabschiebung seit Monaten. Nach einem verheerenden Anschlag in Kabul und massivem öffentlichen Druck hatte die Bundesregierung Abschiebungen nach Afghanistan einschränken müssen. Doch trotz der anhaltenden Kritik will die Regierung an ihrem Plan festhalten, insgesamt 12.000 Menschen in das Kriegsgebiet Afghanistan abzuschieben. Um das zu rechtfertigen, setzen die Innenminister der Länder Bayern (Joachim Herrmann), Nordrhein-Westfalen (Herbert Reul) und des Bundes (Thomas de Maizière) auf eine perfide Taktik: Sie behaupten, die Männer seien verurteilte Straftäter und direkt aus der Strafhaft zum

Flughafen Düsseldorf gebracht worden. Dazu sind zwei Dinge zu sagen. Erstens gelten für Straftäter unabhängig von der Nationalität dieselben Regeln. Wer verurteilt wird, sitzt seine Strafe im Gefängnis

Das Motiv ist Rassismus

ab. Eine zweite Strafe wie Abschiebung ist nicht vorgesehen. Zweitens täuschen die Minister die Öffentlichkeit darüber, dass von den Tausenden, die noch von Abschiebung bedroht sind, die übergroße Mehrheit sehr gut integrierte Menschen sind. Allein in Offenbach haben 70 Schülerinnen und Schüler Ausweisungsbe-

scheide nach Afghanistan bekommen. Hier werden Existenzen zerstört. Das Motiv dabei ist Rassismus, nicht die Sorge um Sicherheit. Dieses Vorgehen ist selbst kriminell. Reul, Herrmann und de Maizière bedienen nicht nur den Rassismus – sie schüren ihn damit auch. Das Original ist die AfD. Sie allein profitiert von diesen Sammelabschiebungen. Das einzige, was dagegen hilft, ist öffentlicher Druck. In Offenbach gingen aus Solidarität 500 Mitschülerinnen und Mitschüler der Betroffenen auf die Straße. Das macht Mut und zeigt den Weg voran. Christine Buchholz ist verteidigungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.

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Kampf gegen Rechts

TITELTHEMA

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Weckruf für Widerstand Fünf Thesen zum Wahlausgang

Nazis in Nadelstreifen Wirksame Strategien gegen die AfD

Praxis Wie die AfD in Münster ihr schlechtestes Ergebnis kassierte


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Thesenpapier

Weckruf für Widerstand Die Bundestagswahl endete mit einem politischen Erdbeben. Der Schock über den Wahlerfolg der AfD ist groß. Wie soll sich DIE LINKE nun aufstellen? Fünf Thesen von DEM Netzwerk MARX21

1.

Das Ergebnis der Bundestagswahl drückt eine Krise des politischen Systems aus. Das historisch gewachsene politische Zentrum aus CDU und SPD verliert. Die AfD gewinnt mit einer klaren Anti-Establishment-Haltung und dem Anknüpfen an rassistischen Ressentiments. Es ist passiert: Die AfD zieht mit 94 Abgeordneten in den Bundestag ein. Der Abgang von Frauke Petry am Tag nach der Wahl zeigt zugleich an, wer in Fraktion und Partei den Ton angibt: der gestärkte neofaschistische Flügel um Alexander Gauland und Björn Höcke. Nach Trump und Le Pen nun also Gauland – in Deutschland läuft ein ähnlicher politischer Prozess ab wie in vielen anderen Ländern: das politische Zentrum erodiert. Der Jubel von Angela Merkel über ihren »Wahlsieg« ist angesichts des schlechtesten Ergebnisses von CDU/CSU seit 1949 eine Farce. Jahrzehnte sozialer Verwüstungen durch neoliberale Politik und bürgerliche Regierungen, die ihre Politik für die Reichen und Konzerne als alternativlos darstellten, haben bei Millionen eine tiefe Ablehnung gegen »die da oben« hervorgerufen – gegen die Parteien, die Konzernpresse, die Eliten. Hinzu kommen die Widersprüche des »Merkel-Booms«. Von dem enormen Reichtumswachstum kommt bei großen Teilen der Bevölkerung nichts an, 40 Prozent verdienen sogar weniger als im Jahr 2000. Angesichts

dieser Erfahrungen ist die Anti-Establishment-Stimmung berechtigt. Sie muss nicht automatisch rechts sein, sondern könnte auch nach links gewendet werden, in einen gemeinsamen Kampf für ein besseres Leben für alle. Elemente davon haben wir in den inspirierenden Wahlkampagnen von Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie Sanders in den USA gesehen.

Bei der Bundestagswahl ist das Gegenteil passiert: Die Stimmung richtet sich nicht gegen oben, sondern gegen unten, gegen diejenigen, die schwächer sind. 85 Prozent der AfD-Wähler geben an, sie hätten die Partei gewählt, »weil sie damit ihren Protest ausdrücken können«. 60 Prozent sagen, sie wählen die AfD, weil diese »gegen alle anderen Parteien« sei. Offensichtlich haben große Teile der AfD-Wählerschaft ihre Stimmabgabe als die größtmögliche Kampfansage an den verhassten Status Quo gesehen. Gleichzeitig meinen 55 Prozent der AfD-Wählerschaft, dass sich die Partei nicht genug von rechtsextremen Positionen distanziert. Trotzdem sind diese Proteststimmen alles andere als politisch unbestimmt. Das zeigt ein Blick auf die Gründe von AfD-Wählern und -Wählerinnen. Sie sagen, die »Menschen fühlen sich nicht mehr sicher« (99 Prozent), der Einfluss des Islam solle verringert (99 Prozent) und der Zuzug von Flüchtlingen begrenzt werden (96 Prozent). Zudem sorgen sie sich um den Verlust der deutschen Kultur (95 Prozent) und befürchten eine Ver-

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Thesenpapier

änderung des Lebens in Deutschland (94 Prozent). Die AfD hat erfolgreich bestehende Wut und Ängste in Richtung Rassismus und Law-&-Order-Politik gelenkt. Die AfD-Wähler und -Wählerinnen sind also weder nur ein bisschen wütend – und mit mehr sozialer Gerechtigkeit von ihren mittlerweile verfestigten rassistischen und autoritären Positionen zu lösen – noch sind sie in ihrer überwältigenden Mehrheit Fans davon, eine faschistische Diktatur zu errichten. Die soziale Misere ist der Nährboden, auf dem die Wut gedeiht und die AfD wächst. Eine Perspektive für eine solidarische Überwindung dieser Misere und des Widerstands gegen die Angriffe auf Lohnabhängige und die sozialen Sicherungssysteme aufzubauen ist nun eine wichtige Aufgabe. Die Wurzel aber, mit der sich die AfD in diesem Nährboden verankert, ist der Rassismus – insbesondere gegen Muslime. Er muss gesondert bekämpft werden, durch gute Argumente und gemeinsame Kämpfe. Für DIE LINKE sollte das Wahlergebnis ein Weckruf sein. Sie darf die radikale Systemopposition nicht der AfD überlassen, sondern muss erkennbar sein als antikapitalistische Kraft. Das ist ihr tatsächlich in Ansätzen gelungen: Die scharfe Kampfansage gegen Banken, Konzerne und ihre Parteien und die Bewegungsorientierung, ausgedrückt zum Beispiel durch die Kampagne für bessere Pflege, hat zu den starken Ergebnisse der LINKEN im Westen beigetragen. Doch das hat den Einbruch um 6,1 Prozentpunkte im Osten mit massiven Stimmverlusten an die AfD nicht verhindern können. Der Ansatz, Verantwortung in Landesregierungen zu übernehmen, hat angesichts der geringen Gestaltungsspielräume und einer rechten SPD als Partnerin offensichtlich nicht die erhoffte Attraktivität entfaltet. DIE LINKE konnte sich nicht so stark von »den anderen« absetzen, als dass sie dem Abwatschen der »Etablierten« entgangen wäre. Die Zustimmung der LINKEN in Sachsen zur Schuldenbremse und in Thüringen, Brandenburg und Berlin zur Autobahnprivatisierung konterkarierte die antikapitalistische Profilierung der Partei.

2.

Es ist kein Naturgesetz, dass eine massenhafte Abkehr vom politischen System nach rechts führt. Die Chance steigt aber massiv, wenn die Bürgerlichen - Parteien, vor allem aber auch die Medien - versuchen, die kleinbürgerliche Rechte dadurch zu bekämpfen, dass sie deren Agenda übernehmen. Das AfD-Ergebnis ist logische Kon-

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sequenz eines Wahlkampfs, in dem sie mit aller Gewalt die Themen Geflüchtete, Islam, Terror und Innere Sicherheit ins Zentrum rückten. Das geradezu grotesk verlaufene TV-Duell zwischen Martin Schulz und Angela Merkel verdeutlichte, dass die AfD viele Wahlhelfer außerhalb ihrer eigenen Reihen hatte. Mit großer Hartnäckigkeit lenkten

Radikale Opposition nicht der AfD überlassen die Moderatoren die gesamte Veranstaltung auf Zuwanderung, Muslime und Terror, während Themen wie Pflege, Bildung und die vom Merkel-Boom Abgehängten komplett ausgeblendet wurden. Zuvor hatte man schon den Eindruck, dass die Redaktion der »Bild« personalidentisch mit dem AfD-Vorstand ist, diverse Vorderseiten waren von AfD-Wahlplakaten nicht zu unterscheiden. Alle Parteien mit Ausnahme der LINKEN schwenkten auf diese Themensetzung ein oder hielten sich wie im Falle der Grünen bedeckt. Die FDP stellte neben dem altbekannten Sammelsurium von Arbeitgeberpositionen die Aufrüstung von Polizei und Militär ins Zentrum und bediente sich in der Flüchtlingsfrage bei der AfD. So forderte die Lindner-Partei, abgelehnte Asylbewerber schneller abzuschieben, die Grenzen mit »modernsten Überwachungsmitteln« abzuschotten und zu schließen, wenn viele Menschen auf einmal flüchten. Die CDU führte einen klassischen »Law & Order«Wahlkampf unter völliger Ausblendung der sozialen Themen und betonte die vielen »Errungenschaften« der Partei bei der Schleifung des Asylrechts. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte die SPD: Martin Schulz war Anfang August der Erste, der mit aller Gewalt die Flüchtlingsfrage als Bedrohungsszenario wieder in den Wahlkampf holte. Kein Wunder, dass mit 44 Prozent fast jeder Zweite sagte, Einwanderung sei das wichtigste politische Problem im Land – noch vor sozialer Gerechtigkeit und zusammen mit dem Thema Innere Sicherheit in der gleichen Größenordnung wie die Summe der sozialen und wirtschaftlichen Themen. Genützt hat es nur der AfD. Bezeichnend das Ergebnis in Bayern: Hier hat die


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CSU Merkel durchgehend in der Flüchtlingsfrage von rechts angegriffen – immer mit dem erklärten Anspruch, die AfD klein zu halten. Stattdessen holte die AfD hier mit 12,4 Prozent ihr stärkstes Ergebnis im Westen. In Deutschland wiederholt sich jetzt, was in Frankreich und Österreich in Bezug auf den Front National und die FPÖ seit Jahren zu beobachten ist: Bürgerlichen Parteien bis zur Sozialdemokratie und die Medien versuchen, Rechtsaußenparteien das Wasser abzugraben, indem sie deren Agenda übernehmen. Doch letztlich stärkt das nur die rechten Parteien. So kann die AfD-Führung mit Fug und Recht behaupten, dass sie als kleine Partei und aus der Opposition heraus die gesamte Agenda des Wahlkampfs gesetzt hat. Das ist durchaus ein Triumph für die Partei.

3.

Das gute Abschneiden der AfD ist auch dem niedrigen Niveau von sozialen Kämpfen geschuldet. Die Diskussion über eine Strategie gegen den rechten Vormarsch sollte die Frage der Kampffähigkeit der Gewerkschaften nicht aussparen. Der Silberstreif am Horizont einer insgesamt unerquicklichen öffentlichen Debatte im Wahlkampf war die Intervention eines jungen Pflegers in der Sendung »Wahlarena«, der Merkel scharf für die menschenunwürdigen Zustände in den Krankenhäusern angriff. Kurz darauf folgten Protestaktionen an diversen Krankenhäusern. Plötzlich drehte sich für zwei kurze Tage die gesamte Dynamik: Der eigentliche gesellschaftliche Frontverlauf zwischen den Plünderern der öffentlichen Daseinsvorsorge in den Regierungen und Konzernzentralen und der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, ob biodeutsch, muslimisch oder geflüchtet, wurde wieder deutlich. Die großen Parteien überboten sich in Versprechungen, den Pflegenotstand zu beheben. Was wäre wohl gewesen, wenn die Gewerkschaftsführungen, allen voran die stark von der Ausblutung des öffentlichen Sektors betroffene ver.di, statt der praktizierten Stillhaltepolitik eine massive Mobilisierung ihrer Mitglieder für bessere Pflege, Bildung und öffentliche Infrastruktur veranlasst hätte? Doch sie haben es nicht, im Gegenteil: Aktivistinnen aus den Krankenhäusern und protestwillige Gewerkschaftssekretäre berichteten übereinstimmend von enormen Widerständen im Apparat, selbst bei der Vorbereitung dieser kleineren Streik- und Protestaktionen. Das verweist auf ein tieferliegendes Problem: Das beste Gegengift gegen die AfD wäre der gemein-

same Kampf der Vielen für ihre politischen und sozialen Rechte. Dadurch würden Ohnmachtsgefühle überwunden, Bande zwischen diesen Menschen geknüpft und der Blick auf den eigentlichen Gegner geschärft. Dem Rassismus der AfD stünde die reale Solidaritätserfahrung gegenüber, die Wirkmächtigkeit der Spaltungsideologie würde auf Barrieren treffen. Doch ein solcher Kampf findet in Deutschland nicht im ausreichenden Maße statt und dafür tragen die Gewerkschaftsführungen eine wesentliche Verantwortung. Gleich dreimal haben sie sich in letzten 15 Jahren ins eigene Bein geschossen und die eigene Kampfposition verschlechtert: Die Nichtunterstützung der Anti-Hartz-Bewegung 2003 (»Montagsdemos«) legte den Grundstein für ein Jahrzehnt Lohnstagnation und teilweisen Lohnabbau, indem die Angst vor dem Hartz-bedingten Absturz die Belegschaften erpressbar machte. Die Akzeptanz des Leiharbeits- und Werkvertragswesens führte zur Spaltung der Belegschaften in Kernbelegschaften und Prekäre, die von Betriebsräten und auch den Gewerkschaften oft im Stich gelassen werden. Es folgte schließlich nach dem Kriseneinbruch von 2008 die Einbindung in den großen Krisenkorporatismus aus Staat, Unternehmen und Gewerkschaften, der unter anderem die Kosten der Krise voll auf die öffentliche Daseinsvorsorge abwälzte. Insgesamt ist die Entwicklung der Gewerkschaften vor allem von zwei Problemen geprägt. Da ist zum einen die starke Einbindung in die Ideologie der Standortkonkurrenz – also die Hoffnung, dass durch die Stärkung des deutschen Kapitals im internationalen Wettbewerb auch etwas für die Arbeiterinnen und Arbeiter abfällt. Diese Ansicht ist im Wesentlichen in der Exportindustrie verbreitet. Zum anderen herrscht eine strategische Hilflosigkeit im Umgang mit der Misere, welche die Gewerkschaften selbst mitverursacht oder hingenommen haben (stark spürbar im öffentlichen Dienst in den Sektoren Bildung und Pflege). Hier muss DIE LINKE ran, wenn sie nachhaltig etwas gegen die Rechtsverschiebung tun will. In den vergangenen Jahren hat sich eine Schicht von betrieblichen Aktiven und linken Sekretären auf unterer Ebene gebildet, die für eine andere, konfliktorientierte Gewerkschaftspolitik eintreten. DIE LINKE kann ein wichtiger Katalysator sein, um diese in einer neuen gewerkschaftlichen Strömung zu bündeln, die in der Lage ist, in die innergewerkschaftlichen Debatten einzugreifen und die Orientierung der Gewerkschaften zu prägen. Die Gewerkschaften

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Thesenpapier

haben als Großorganisationen auch eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, sowohl im ökonomischen Kampf als auch in politischen Auseinandersetzungen wie dem Kampf gegen Rassismus. In diesen Fragen können sie mehr Druck von links gut gebrauchen.

4.

Wer über den Erfolg der AfD redet, darf nicht über anderthalb Jahrzehnte antimuslimischen Rassismus schweigen. Jede Strategie gegen die AfD, die nicht den Kampf gegen Rassismus einschließt, wird scheitern. Neben der Anti-Establishment-Haltung war der größte Wahlkampfschlager der AfD die Dämonisierung von Muslimas, Muslimen und Geflüchteten als vermeintliche Terroristen und Frauenfeinde. Das »Feindbild Islam« wurde nicht erst in diesem Wahlkampf erfunden und auch nicht von der AfD. Vor Gauland war schon Sarrazin. Die Kampagne gegen Muslime läuft mit Unterbrechungen seit dem 11. September 2001. Islamfeindlichkeit ist mittlerweile die dominierende Form des Rassismus in Deutschland. Die AfD und die rechte Szene können darauf setzen, dass sowohl Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien als auch ein Großteil der Medien das Feindbild »Islam« weiter aufbauen, indem sie die Religion gezielt mit negativen Schlagworten wie Terrorismus, Frauenunterdrückung, Homophobie oder Antisemitismus in Zusammenhang bringen. Die Auswirkungen sind verheerend, mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat mittlerweile Angst vor Muslimen. DIE LINKE würde einen großen Fehler begehen, wenn sie sich aus Opportunismus gegenüber rassistischen Ressentiments ihrer eigenen Wählerinnen und Wähler vor dieser Frage wegducken würde. Rassismus spaltet und lähmt den Kampf, den wir bräuchten, um der AfD das Wasser abzugraben. Deshalb ist das Projekt soziale Gerechtigkeit, die es ohne außerparlamentarische soziale Kämpfe nicht geben wird, untrennbar mit dem Kampf gegen Rassismus verbunden. In der LINKEN ist dies bekanntermaßen umstritten. Sahra Wagenknecht deutete an, dass die Partei es sich in der Flüchtlingsfrage »zu leicht gemacht« habe, ließ aber offen, was sie genau damit meinte. Die Beantwortung der sozialen Fragen kann es nicht sein. DIE LINKE hat im Wahlkampf rauf und runter argumentiert, dass es in diesem reichen Land genug Ressourcen gibt, um allen, auch den Geflüchteten, gute Lebenschancen zu eröffnen – sie müs-

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sen nur umverteilt werden. Aus dem Wahlergebnis lässt sich die These, dass DIE LINKE sich durch ein starkes antirassistisches Profil isoliert, nicht belegen. In Berlin-Neukölln und Münster beispielsweise haben das Profil gegen die AfD und die Verteidigung von Muslimen eine wichtige Rolle gespielt, hier er-

Wir brauchen Schulungen im Kampf gegen Rassismus zielte die Linkspartei mit 18,3 Prozent und 10,1 Prozent ihre bislang besten Ergebnisse in den jeweiligen Wahlkreisen. Es ist gut möglich, dass durch die klare Kante gegen Rassismus diffuse Protestwähler verprellt wurden – gleichzeitig konnte DIE LINKE aber in viel stärkeren Maße Nichtwähler und ehemalige SPD- und Grünen-Wählerinnen gewinnen, die sich angesichts opportunistischer Anpassungstendenzen ihrer Parteien gegenüber dem Rassismus eine andere Ansage gewünscht haben. Der Verlust von mehr als 400.000 LINKEN-Wählerinnen und -Wählern an die AfD zeigt aber auch, dass wir unsere Mitglieder im Kampf gegen Rassismus schulen müssen, zum Beispiel durch das Bildungsmodul »Stammtischkämpferausbildung« des Bündnisses Aufstehen gegen Rassismus, um so gegen rassistische Vorurteile besser bestehen zu können. Zur Klassensolidarität gehört auch die Solidarität mit unterdrückten Minderheiten wie Geflüchteten und Muslimen, ebenso wie der Kampf gegen alle Formen sexistischer Unterdrückung.

5.

Im Wahlergebnis der LINKEN stehen teils beträchtliche Zugewinne im Westen hohe Verluste im Osten gegenüber. Doch wir benötigen jetzt keine spaltende Ost-West-Debatte, sondern eine nüchterne Auseinandersetzung darüber, welche politische Ausrichtung für DIE LINKE richtig ist. Die Wahlergebnisse verschiedener Kreisverbände geben hier wichtige Hinweise. Der Preis für die höchste Steigerung in einem Wahlkreis im Westen geht nach – Hamburg-Altona. Ausgerechnet Hamburg! Was hat DIE LINKE hier erdulden müssen, als die gesamte Konzernpresse sie wegen ihrer Unterstützung der G20-Proteste unter


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Feuer nahm. Doch letztendlich hat die Orientierung auf den Protest gegen die Zumutungen des Kapitalismus die Partei gestärkt, weil dies genau die Art profilierter systemkritischer Opposition ist, die sich viele wünschen. DIE LINKE kam in Hamburg auf starke 12,2 Prozent, in mehreren Stadtteilen des Bezirks Altona wurde sie stärkste Partei. Doch Hamburg war kein Einzelfall: ein antikapitalistisches Profil, klare Positionen in der sozialen Fragen, ein hohes Profil gegen den rechten Vormarsch und eine gute Arbeit vor Ort führten an vielen Orten zu guten Wahlergebnissen. Ein weiteres erkennbares Element für eine starke LINKE ist die Orientierung auf eine aktive Mitgliederschaft, die zusammen mit den sozialen Bewegungen politische Aktivität vor Ort entfaltet. Hinter dem starken Ergebnis in Nürnberg-Nord mit 11,7 Prozent stehen einhundert Neueintritte. Viele von ihnen organisierten eine Wahlkampfveranstaltung mit, zu der 3.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen. Hinzu kommt ein aktives Verhältnis zu den Konflikten in der Stadt, zum Beispiel der drohenden Abschiebung afghanischer Schüler, die erheblichen Widerstand hervorrief Im Westbezirk Berlin-Neukölln erhielt die LINKE 18,3 Prozent der Zweitstimmen, ein Plus von 4,1 Prozent – im armen Neuköllner Norden sogar 30 Prozent. Dieser Erfolg ist zu einem der politischen Ausrichtung des Bezirksverbandes geschuldet, der sehr aktiv gegen rechts war, aber auch soziale Proteste intensiv begleitet hat. Zum anderen ist er auch eine Bestätigung dafür, dass aktiver Parteiaufbau wirkt. Seit dem Jahr 2007 hat sich die Mitgliederzahl von 223 auf fast 500 mehr als verdoppelt. So entsteht eine positive Dynamik: Mit mehr aktiven Mitgliedern kann DIE LINKE eine bessere politische Präsenz vor Ort aufbauen und besser in die gesellschaftlichen Konflikte eingreifen, die bessere Präsenz bringt wiederum neue Mitglieder. Aufschlussreich ist auch der Blick nach Münster: Hier war DIE LINKE an diversen großen Proteste gegen die AfD beteiligt. Das Resultat: Münster ist die einzige Gemeinde in Deutschland, in der das Ergebnis der AfD unter fünf Prozent liegt. Gleichzeitig konnte DIE LINKE ihre Stimmenzahl um zwei Drittel steigern. Natürlich ist eine westdeutsche Universitätsstadt nicht mit einem ostdeutschen Flächenkreis zu vergleichen. Doch wir sollten die Unterschiede in der Herangehensweise zum erfolgreichen Aufbau der LINKEN auch nicht größer machen als sie sind. Auch im Osten gibt es viele junge

Menschen, die aufgeschreckt durch Trump und den AfD-Schock bereit sind, DIE LINKE als antikapitalistische Kraft gegen den rechten Vormarsch aufzubauen. Sie sind die Zukunft der Partei im Osten und brauchen ein entsprechendes Angebot vor Ort, welches sich nicht in einer Passivität ausstrahlenden Orientierung auf das Agieren linker Landtagsfraktionen oder linker Minister und Senatoren erschöpfen darf. Gerade im Osten muss die Partei an die Front des antirassistischen und antifaschistischen Kampfs kommen und ihre beträchtlichen Ressourcen voll in den Dienst des Kampfes gegen die AfD stellen. DIE LINKE in Leipzig macht es vor. Sie war von Beginn an Teil des Dauerprotestes gegen den Pegida-Ableger Legida und wurde dadurch für viele attraktiv. Lohn der Arbeit war der Gewinn eines Direktmandats und ein halbwegs stabiles Ergebnis verglichen mit dem Absturz im übrigen Sachsen. Antikapitalistisches Profil, klarer Fokus auf den Kampf gegen die AfD und deren Rassismus, Tuchfühlung zu den konfliktwilligen Kernen in den Gewerkschaften, umgesetzt durch eine aktive und aktivierende Mitgliederpartei: Das sind die Elemente für eine LINKE, die den jetzigen Herausforderungen gerecht wird. Die AfD hat mit ihren rassistischen Parolen nicht nur hunderttausende Stimmen von der LINKEN gewinnen können, sie hat auch einen höheren Anteil an Arbeiterinnen und Arbeitern für ihren rassistisch umgeleiteten Anti-Merkel-Protest gewinnen können. DIE LINKE ist zurzeit nicht stark genug, Klassenkämpfe im größeren Ausmaß zu initiieren, die auch den abstiegsgefährdeten kleinbürgerlichen Wählerschichten Hoffnung und eine Perspektive des Fortschritts eröffnen könnten. Aber sie muss versuchen, das weitere Vordringen des rassistisch gewendeten Protests in das Arbeitnehmermilieu, vor allem in die Schichten prekär Beschäftigter und arbeitsloser Menschen zu stoppen. Dafür muss sie selbst zu einer antikapitalistischen, sozialistischen Kraft werden, welche die sozialen Kämpfe aufgreift und politisch bündelt und sich zugleich den Kampf gegen Neofaschismus und Rassismus auf die Fahnen schreibt. Ein erste Gelegenheit für die Umsetzung dieser Politik, ist die Weiterfährung der Kampagne für bessere Pflege an der Seite der Beschäftigten und ein kraftvoller Protest gegen die AfD bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages am 22. Oktober und beim AfD-Parteitag in Hannover am 2./3. Dezember. ■

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© Illustration: Eduard Garcia / egarcigu.com

Was tun gegen die AfD? Die AfD ist die drittstärkste Fraktion im Bundestag. Ein Schock für viele. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zu dieser Partei und diskutieren wirksame Strategien gegen die Nazis in Nadelstreifen von LUCIA SCHNELL Ist die AfD wirklich so gefährlich?

Lucia Schnell ist Sprecherin der LINKEN in Berlin-Neukölln.

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Ja. »Spiegel Online«-Kolumnist Jan Fleischhauer meint, die Gefahr, die von der AfD ausgeht, werde übertrieben. Wie bei den Grünen würden die »radikalen« Elemente in der Partei irgendwann gezähmt. Eine solche Sichtweise ignoriert, dass gegenwärtig eher das Gegenteil der Fall ist und der neofaschistische Flügel in der AfD dabei ist, sich durchzusetzen. Der nationalkonservative Flügel der AfD ist geschwächt. Seine Führungsfigur Frauke Petry hat Fraktion und Partei verlassen. Sie kapituliert damit bereits vor den Vorstandswahlen auf dem Parteitag am 2./3. Dezember in Hannover vor der Stärke des neofaschistischen-Flügels. Dieser wiederum stellt die Mehrheit in der Bundestagsfraktion. Die »braune Eminenz« Alexander Gauland hält die Tore für rassistische und faschistische Kräfte offen. Die Partei ist so zum Kristallisationspunkt einer rechten, offen rassistischen Szene geworden. Es gab bereits mas-

senhafte Übertritte aus der rechten Partei Die Freiheit zur AfD, auch ehemalige Mitglieder der NPD können nach Recherchen des ARD-Magazins »Monitor« problemlos in der Partei wirken. Es ist brandgefährlich, die AfD als bürgerlich-konservative Opposition zu verharmlosen. Die Gefahr einer neuen faschistischen Massenpartei ist seit dem Wahlerfolg größer geworden. Ist es richtig, in Bezug auf die AfD von Faschisten zu sprechen? Ja. Doch da ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus politischer Selbstmord wäre, versuchen Faschistinnen und Faschisten seit dem Zweiten Weltkrieg, aus der Naziecke herauszukommen, indem sie sich ein nationalkonservatives Mäntelchen umhängen. Statt auf den Hitlerfaschismus beziehen sie sich auf einen seiner ideologischen Vorläufer und Wegbereiter, die »Konservative Revolution«.


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Das macht sie nicht weniger gefährlich. Im Kampf um die Macht verfolgt der Naziflügel in der AfD eine vergleichbare Strategie wie damals die NSDAP. Die Parlamente sind ein Element darin, aber nicht das zentrale. Parallel versucht er, Macht auf der Straße aufzubauen. Björn Höcke hat deutlich gemacht, was für eine Partei er will: eine »fundamentaloppositionelle Bewegungspartei«. Höcke war auch der erste AfD-Politiker, der erfolgreiche Straßenproteste organisierte. Die AfD bezeichnete er als »letzte friedliche Chance für unser Vaterland« – eine unverhohlene Androhung von Gewalt, sollte sie nicht auf parlamentarischem Weg an die Macht gelangen. Gestützt wird dieser Flügel von Alexander Gauland, der betont, die »Politik bis aufs Messer bekämpfen« zu wollen. Ist es richtig, die AfD im Bundestag zu isolieren? Ja. Die AfD ist eine Gefahr für die Demokratie, auch wenn sie sich als demokratische Partei tarnt. Es wäre naiv, sich täuschen zu lassen. NS-Propagandist Joseph Goebbels schrieb 1928 offen: »Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. (...) Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren.« Außerparlamentarische Proteste und parlamentarische Abgrenzung können den Spaltkeil zwischen Nationalkonservative und Neofaschisten in der AfD treiben und die inneren Widersprüche in der Partei verstärken. Insofern ist es richtig, keine AfD-Kandidatinnen oder -Kandidaten im Bundestag in Ämter zu wählen und keinerlei Initiativen oder Anträge der Partei zu unterstützen, gleich welchen Inhalts. Denn wenn die Nationalkonservativen die parlamentarischen Ämter ausüben dürfen, können sie weiter ihre Feigenblatt-Funktion für die Neofaschisten erfüllen. Damit ginge das Versteckspiel der AfD auf. Hilft der AfD die Ausgrenzung nicht eher? Nein. In Schleswig-Holstein wird der »Schweriner Weg«, die Abgrenzung der anderen Parteien, die jahrelang gegenüber der NPD-Fraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern geübt wurde, auf die AfD-Fraktion im Landtag angewandt. Zudem gab es zahlreiche außerparlamentarische Aktivitäten bis weit in die Gewerkschaften und von der Kampagne »Aufstehen gegen Rassismus« gegen die AfD im Landtags- und im Bundestagswahlkampf. Die Ausgrenzung hat der AfD nicht geholfen: Die Partei hat in Schleswig-Holstein mit 8,2 Prozent das zweitschlechteste Ergebnis in einem Bundesland bei der Bundestagswahl geholt.

Kann sich die AfD durch die Ausgrenzung nicht als Opfer darstellen? Nein. Für die harte Anhängerschaft der AfD mag die Ausgrenzung ihre Selbstwahrnehmung als Opfer bestätigen, für ein weiteres Ausgreifen in die Bevölkerung ist die öffentliche Ächtung aber ein großes Problem. In dem internen Strategiepapier der AfD »Manifest 2017« wird beschrieben, wie wirkungsvoll die vielfältigen Proteste und Aktionen gegen die AfD sind: Sie führten zu Frustration bei aktiven Parteimitgliedern. Außerdem trügen Störaktionen »in der Öffentlichkeit, vor allem in der Mittelschicht und bei Interessengruppen zum Eindruck bei, dass die AfD ein Stigma trägt und man sich nicht mit ihr zeigen sollte«. Außerdem ist die AfD ist kein Opfer, sondern ermuntert rechte Gewalttaten. Es ist kein Zufall, dass auch AfD-Mitglieder zum Unterstützer-Umfeld der rechten Terrorzelle in der Bundeswehr um Franco A. gehören. Es wäre naiv, zu glauben, wenn man »fair« mit der AfD umgehen würde, dass diese ihrerseits »fair« würde. Sie kündigt das Gegenteil offen an: Der AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier, der bei der rechten, gewalttätigen German Defence League aktiv war, 2016 der Pressesprecher von Petry war und nun der von Alice Weidel ist, rief im Jahr 2015 in Erfurt vor 4000 AfD-Anhängern: »Ich sage diesen linken Gesinnungsterroristen, diesem Parteienfilz ganz klar: Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk und nur für das Volk gemacht.« Auch die »gemäßigten« Vertreterinnen und Vertreter des nationalkonservativen Flügels wie Weidel und Beatrix von Storch sind völkisch und rassistisch. Weidel hetzt gegen Geflüchtete und Muslime, von Storch forderte den Schießbefehl gegen Geflüchtete an der Grenze und hetzt gegen Muslime und Juden. Ist es richtig, der AfD das Rederecht zu verweigern? Ja. Bei neofaschistischen Parteien und Organisationen wie der NPD haben Linke in der Vergangenheit zu Recht gefordert, sie nicht auf Podien oder in Talkshows einzuladen und ihre Auftritte und Reden durch massenhaften zivilen Ungehorsam, Versammlungen, Infostände und Blockaden zu verhindern. Im Unterschied zur NPD tritt die AfD noch nicht offen als faschistische Organisation auf. Wenn die AfD Veranstaltungen oder Parteitage durchführt, sollten diese trotzdem mindestens von breitem Protest begleitet werden. Aber es ist richtig, auch weiter zu gehen: Der Katholikentag hatte 2016 beschlossen, keine Vertreter der AfD auf Podien sprechen zu lassen. Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, begründete den Schritt damit, dass sich die AfD »mit ihren Äußerungen (…) aus dem demokratischen Konsens verabschiedet« habe. Diese Entscheidung ist begrü-

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ßenswert. Denn aus der Geschichte zu lernen heißt: Wehret den Anfängen! Die damaligen Nazis haben sich über die Demokraten lustig gemacht, die ihnen aus falsch verstandener Toleranz Räume und Plätze überließen. Noch einmal Goebbels, diesmal aus einer Rede von 1935: »Wenn unsere Gegner sagen: Ja, wir haben euch doch früher die […] Freiheit der Meinung zugebilligt – –, ja, ihr uns, das ist doch kein Beweis, dass wir das euch auch tun sollen! […] Dass ihr das uns gegeben habt, – das ist ja ein Beweis dafür, wie dumm ihr seid!« Können Nazis ungestört marschieren oder Veranstaltungen durchführen, verbreiten sie Angst und Schrecken, steigern ihr Selbstbewusstsein und können neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter gewinnen – ihre Gegner und Opfer dagegen werden demoralisiert. Deswegen ist es wichtig, den Feinden jeglicher Demokratie keine demokratischen Rechte zu gewähren, weder Rederecht noch Versammlungsrecht.

Ja. Der weitere Aufstieg der Neofaschisten kann durch Konfrontation verhindert werden: auf der Straße und in den Parlamenten. Hunderttausende Menschen sind geschockt über den Wahlsieg der AfD. Die Linke muss versuchen, dieses Potenzial auf die Straße zu mobilisieren, um ein weiteres Erstarken der rassistischen Rechten in Deutschland zu verhindern. Dafür sind breite und zugleich entschlossene Bündnisse nötig, unter Beteiligung von SPD, Grünen, Gewerkschaften sowie muslimischen, jüdischen und christlichen Verbänden und anderen gesellschaftspolitischen und kulturellen Gruppen. Es gibt zwei wichtige Voraussetzungen, um rassistische Kundgebungen und Aufmärsche erfolgreich zu

Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit

Hilft es, die AfD vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen? Nein. Der Staat wird den Aufstieg der Rechten nicht verhindern. Nicht erst seit dem Auffliegen der Naziterrorgruppe NSU ist klar, dass der Verfassungsschutz durch die V-Leute selbst rechte Strukturen finanziert. Die Sicherheitsbehörden verharmlosen systematisch rechte Gewalt und Rassismus im Alltag. Derzeit sind 372 Menschen, die per Haftbefehl wegen rechtsmotivierter Straftaten gesucht werden, auf freiem Fuß. Bei den Delikten gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte, vor allem Brandstiftung, zeigt sich die schlechte Aufklärungsquote besonders deutlich. Eine Recherche der Wochenzeitung »Die Zeit« ergab, dass bei 222 untersuchten Angriffen gegen Unterkünfte nur in vier Fällen ein Urteil gesprochen wurde. Dahinter steckt kein Personalproblem. Denn die Staatsorgane sind wesentlich intensiver mit der Verfolgung von Antifaschistinnen und Antifaschisten beschäftigt als mit dem Kampf gegen Nazis. Als im Jahr 2011 in Dresden Tausende erfolgreich den bis dato größten Naziaufmarsch Europas blockierten, stürmte maskierte Polizei in Kampfmontur das Pressezentrum des Blockadebündnisses. Die Staatsanwaltschaft leitete an diesem Tag 351 Verfahren gegen Blockierende ein. Auch die Erfahrung der Weimarer Republik zeigt: Die Sozialdemokratie hat vor 1933 auf einen »staatsgläubigen« Antifaschismus gesetzt. Sie vertraute auf Justiz, Polizei und Armee zur Verhinderung der Nazidiktatur und ist damit gescheitert. All das zeigt: Der Staatsapparat ist kein verlässlicher Bündnispartner im Kampf gegen Nazis. Ist es überhaupt möglich, die AfD und den Rassismus zurückzudrängen?

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verhindern: Erstens massenhafte Aufklärung über deren menschenfeindliche Ziele und zweitens breite Mobilisierungen und Blockaden. So konnten beispielsweise in Dresden noch in den Jahren 2010 bis 2013 die größten Naziaufmärsche Europas empfindlich geschwächt und schließlich sogar verhindert werden. Vergangene Versuche, rechts von der Union eine Partei mit Masseneinfluss aufzubauen, sind vor allem durch Massenmobilisierungen vereitelt worden. Dies gilt beispielsweise für die NPD, die Republikaner, die DVU, die Schill-Partei in Hamburg und die diversen, vor allem in Westdeutschland starken Pro-Parteien. Auch als Pegida 2015 versuchte, sich über Dresden hinaus auszubreiten, hat die antirassistische Gegenbewegung das verhindert. In München, Stuttgart, Leipzig und anderen Städten demonstrierten mehrfach Tausende gegen die entsprechenden Pegida-Ableger und blockierten deren Demonstrationswege. Ist ein Bündnis gegen die AfD mit den Abschiebeparteien SPD und Grüne nicht heuchlerisch? Nein. Erstens ist es möglich und nötig, in der Zusammenarbeit gegen die AfD trotzdem beispielsweise Abschiebungen zu kritisieren. Zweitens erfordert der Charakter faschistischer Parteien als Massenorganisationen eine entsprechende Gegenwehr in politischer Breite. Zum einen ist die Breite und Entschlossenheit einer antifaschistischen Bewegung eine Voraussetzung dafür, den harten Kern der AfD von seinem weichen Umfeld zu trennen. Breite bedeutet aber nicht Beliebigkeit. Es geht in erster Linie darum, die Organisationen der Arbeiterbewegung gemein-


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sam auf die Straße zu bekommen. Gegen ihr Grundprinzip der Solidarität und gegen ihre Organisationen und Errungenschaften richten sich faschistische Organisationen in erster Linie. Zum anderen ist die politische Breite eine Voraussetzung dafür, die nötige Masse auf die Straße zu bekommen. Kleingruppen reichen nicht. Auch hier hilft ein Blick in die Geschichte: Die Kommunistische Partei Deutschlands der späten 1920er und frühen 1930er Jahre weigerte sich, gemeinsam mit der SPD gegen die immer stärker werdenden Nazis zu kämpfen. Doch gerade das Ende der Weimarer Republik zeigt, wie notwendig ein gemeinsamer Kampf aller Antifaschisten schon gegen die aufkommende rechte Gefahr ist. Aber bindet sich die LINKE im Bündnis mit SPD und Grünen nicht die Hände und verwässert ihre politischen Inhalte? Nein. Im gemeinsamen Kampf gegen die AfD ist es wichtig, die Kritik am institutionellen Rassismus und an den etablierten Parteien zu formulieren. Denn Union, SPD und auch Teile der Grünen haben daran mitgewirkt, das Recht auf Asyl auszuhebeln. Damit tragen sie eine Mitverantwortung für die humanitäre Katastrophe an den EU-Außengrenzen und im Mittelmeer. Der AfD spielt diese Politik in die Hände, da sie dazu beiträgt, Geflüchtete sowie Migrantinnen und Migranten als Gefahr darzustellen. Richtig ist auch, dass der Rassismus der sogenannten Mitte

den Aufstieg der AfD erst möglich gemacht hat. Es war Thilo Sarrazin (SPD), der den antimuslimischen Rassismus, mit dem nun die AfD punktet, salonfähig machte. Zudem muss DIE LINKE ein klare Oppositionspolitik betreiben und die Auseinandersetzung mit CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen führen, die mit ihrer Verschärfung der Asylpolitik, aber auch mit ihrem Neoliberalismus die Entsolidarisierung der Gesellschaft und die Verunsicherung von breiten Bevölkerungsschichten maßgeblich verstärkt haben. DIE LINKE kann zurzeit nicht verhindern, dass die AfD im Kleinbürgertum mit rassistischen Parolen Anhängerinnen und Anhänger gewinnt. Aber sie kann selbst in der Arbeiterklasse weiter Fuß fassen: Als antikapitalistische Protest- und Kampfpartei, die soziale Kämpfe, beispielsweise Mieter- und Umweltproteste, und Streiks – ob bei Amazon oder im Krankenhaus – befeuert und so den abgehängten Menschen Hoffnung auf Veränderung gibt. Erfahrbare Klassensolidarität ist eine wichtige, zentrale Voraussetzung, um ein weiteres Eindringen der AfD in die Arbeiterklasse zu verhindern. So kann DIE LINKE dazu beitragen, den weiteren Aufstieg der AfD zu stoppen und sie wieder gesellschaftlich zu isolieren. Die Kritik an der Politik etablierter Parteien sollte sie aber nicht daran hindern, punktuell und auch längerfristig in der drängenden Frage, den Faschismus zurückzudrängen, zusammenzuarbeiten. »Aufstehen gegen Rassismus« und andere ähnliche Bündnisse sind dafür geeignete Plattformen. ■

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DIE LINKE Münster in Aktion: Der Kampf gegen die AfD war ein elementarer Bestandteil des Wahlkampfs

Wo die AfD unter fünf Prozent blieb Überall überwanden Gauland und Konsorten die Fünfprozenthürde – nur nicht im westfälischen Münster. Dort gelang es einer aufmerksamen Zivilgesellschaft und einer rebellischen LINKEN, sie mit Massenprotesten zurückzudrängen Von HAnnes Draeger

Hannes Draeger ist aktiv in der LINKEN Münster

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as starke Abschneiden der AfD bei der Wahl hat einen Schock ausgelöst. Zum ersten Mal seit den 1950er-Jahren ziehen überzeugte Rassistinnen und Rassisten sowie Nazi-Strategen ins Parlament ein. Ausgestattet mit Steuermillionen und Personal hat die AfD nun noch mehr Möglichkeiten, Muslime und Geflüchtete zu Sündenböcken des sozialen Elends zu erklären. Doch die Polarisierung geht in beide Richtungen. In der Tendenz hat DIE LINKE dort stärker dazugewonnen, wo sie sich wahrnehmbar als Alternative zum Establishment präsentierte. So auch in Müns-

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ter. DIE LINKE setzte auf Straßenwahlkampf und eine scharfe Abgrenzung von jenen Parteien, die den Sozialstaat zu Grunde gerichtet haben. Aus Sicht der Mitglieder verfehlten die linken Bundeswahlplakate den Zeitgeist der Polarisierung: »Zu brav« und »zu wenig Attacke« hörte man oft, weshalb sich der Kreisverband dazu entschloss, eigene Plakate zu drucken: Insgesamt wurden 3000 Wahlplakate in der Stadt aufgehängt mit einer Mischung aus klaren sozialen Forderungen (»Millionäre zur Kasse«) und scharfen Attacken gegen Rechts (»Flüchtlinge willkommen, Nazis raus«). Die Plakate kamen gut an: »Wenigstens eine Partei, die Inhalte transportiert«, so ein Kommentar


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Die Proteste trennten den AfD-Kern vom Rest der Bevölkerung

am Infostand. Das LINKE-Büro verwandelte sich in der Schlussphase des Wahlkampfs zur Anlaufstelle für Menschen, die unzufrieden mit dem Status Quo sind. Im Verlauf des Wahlkampfs stießen häufig auch jüngere Leute zur LINKEN. Zumeist aus Sorge vor dem drohenden Rechtsruck, aber auch Waffenexporte und der Atomkonflikt mit Nordkorea wurden als Gründe genannt. Vorstand und Wahlkampfleitung betonten die Wichtigkeit der Selbstaktivität: Insgesamt kämpften über 50 Genossinnen und Genossen bis zum Schluss für ein starkes Ergebnis. Highlight war die Eroberung des Bahnhofplatzes einen Tag vor der Wahl – mit ei-

nem über zehn Stunden besetzten Infostand und Live-Musik. Die Mühe hat sich gelohnt: DIE LINKE hat 10,14 Prozent bei den Zweitstimmen erzielt und damit gut 8000 Stimmen dazugewonnen – eine Steigerung um 70 Prozent. Doch das alleine erklärt das schwache Abschneiden der AfD in Münster nicht. Alles begann vor fast zwei Jahren. Die AfD wurde stärker, das gesellschaftliche Klima auch in Münster rauer. Die AfD wollte einen Coup landen, indem sie ihre Bundesvorsitzende Frauke Petry in die Stadt holte. Doch daraus wurde nichts: Ein altes Bündnis namens »Keinen Meter den Nazis« wurde reaktiviert – ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Grünen, Sozialdemokratie, LINKEN, Kirchen und der radikalen Linken. Nach einer Woche Gegenmobilisierung mit Flugblättern und in den sozialen Netzwerken sowie Versteckspielen und Raumabsagen auf Seiten der AfD musste Petry frustriert abreisen, kurz bevor die Veranstaltung stattfinden sollte. Ihr Fazit gegenüber dem Lokalradio: »Der linke Mob hat gesiegt.« Lange Gesichter bei der AfD, Partystimmung im Parteibüro der LINKEN. Breite Bündnisse gegen Rechts aufzubauen ist leichter gesagt als getan, und die Bedingungen sind von Ort zu Ort unterschiedlich. Auch in Münster – wo die Bedingungen in einer Universitätsstadt und mit einem großen links-alternativen Milieu einfacher sind – waren Hürden vorhanden.

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Als Frauke Petry im Februar in Münster sprechen wollte, zeigten tausende Menschen ihr und der AfD die rote Karte – einer der größten Massenproteste der Stadtgeschichte

Auf linker Seite waren es Vorbehalte, Bündnisse mit der SPD und ihren Milieus einzugehen: War es doch die SPD, die beispielsweise die Asylgesetzgebung auf Bundesebene verschärfte. Auf der anderen Seite gab es Vorurteile gegenüber der radikalen Linken, ein Bündnis mit ihnen könnte bürgerliche AfD-Gegnerinnen und -Gegner verprellen. DIE LINKE konnte in Münster Brücken bauen, jedoch unter der Maßgabe, dass die Proteste gegen die AfD – egal unter welchen Bedingungen – an Ort und Stelle des AfD-Geschehens stattfinden müssten. Dabei war es nicht notwendig, formal alle Vorstände aller Organisationen an einem Tisch zu haben. Wichtig war aber, dass die verschiedenen Milieus abgedeckt waren. Und das Wichtigste: durch die Praxis und gemeinsame Erfahrungen das Bündnis zu erweitern. Die Verhinderung des Petry-Auftritts im Januar 2016 war der Startschuss einer zivilgesellschaftlichen Gegenmobilisierung, die bis heute anhält. Genau ein Jahr später sollte es zu einem Wiedersehen mit Frauke Petry in Münster kommen. Die Protest-Niederlage wollten die lokalen AfD-Funktionäre nicht auf sich sitzen lassen. »Wir haben noch eine Rechnung mit Münster offen«, ließ AfD-Stadtratsmitglied Martin Schiller in der Presse verlauten. Also lud die AfD Frauke Petry im Februar 2017 erneut nach Münster ein. Zur Sicherheit mietete die AfD das Rathaus an, im Wissen, dass die konservative Stadtverwaltung so schnell keine Raumabsage in Betracht ziehen würde. Eine AfD-Veranstaltung im Rathaus des Westfälischen Friedens empfanden viele als besondere Provokation. Künstlerinnen und Künstler schrieben antirassistische Plakatwettbewerbe aus. DIE LINKE druckte tausende Sticker und lud zum Schildermalen im Büro ein. In Gottesdiensten betete man gegen den Hass der AfD. Selbst die SPD veröffentlichte ein Mobilisierungsvideo gegen den Besuch von Frauke Petry. Mit dieser Dynamik hatte die AfD nicht gerechnet: Verzweifelt versuchte sie ein Gewalthorrorszenario an die Wand zu malen, das die Lokalpresse unkritisch übernahm. Am Ende demonstrierten den-

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noch 10.000 Menschen vollkommen friedlich gegen den Neujahrsempfang der AfD und feierten auf dem Prinzipalmarkt ein antifaschistisches Familienfest. AfD-Mitglieder beschwerten sich anschließend kleinlaut über »Spießrutenläufe« über den Prinzipalmarkt. In den darauffolgenden Monaten versuchte die AfD immer wieder, bekannte Gesichter nach Münster zu holen. Insgesamt vier Mal in zwölf Monaten besuchten AfD-Parteiprominente die Stadt – meist ohne Erfolg. Als eine Veranstaltung mit dem rechtsradikalen NRW-Spitzenkandidaten Martin Renner aufgrund von Gegenprotesten und Raumabsagen ausfallen musste, resignierte ein lokaler AfD-Sprecher: »Wir sind schon so daran gewöhnt, dass wir uns gar nicht mehr richtig aufregen können.« Dauerstress für die AfD auch kurz vor der Landtagswahl: Nachdem die AfD angekündigt hatte, ihren Wahlkampfabschluss in einer Schule in einem Außenbezirk in Münster durchzuführen, schaltete DIE LINKE um und verband den Wahlkampfendspurt mit einer Mobilisierung gegen rechts. Ein Lokaljournalist, der offensichtlich in der Nähe der Schule wohnte, schrieb einige Tage vorher in den »Westfäli-

Die Verhinderung des PetryAuftritts war der Startschuss schen Nachrichten«: »Es ist Sonntagnachmittag, als ein Lautsprecherwagen der Linken durchs Gievenbecker Auenviertel fährt und für den kommenden Samstag für Demonstrationen mobil macht. Wer hier noch nicht mitbekommen hat, dass am 13. Mai die AfD im Stein-Gymnasium ihren Wahlkampfabschluss für den Landtagswahlkampf in NordrheinWestfalen mit einer Rede von Bundessprecherin Frauke Petry abhalten will, weiß es jetzt.« Der Wahlkampfabschluss war ein Flop: Während die Polizei außerhalb der Schule den Gegenprotest auf Abstand hielt, protestierten in der Schule rund 500 Schülerinnen, Schüler und Lehrerkräfte lautstark gegen 100 AfD-Anhängerinnen und -Anhänger. Eine Woche vor der Bundestagswahl kam es dann zu einem schwerwiegenden Zwischenfall. Kunstaktivistinnen und Kunstaktivisten aus dem Umfeld der Kampagne »Keine Stimme der AfD« schütteten Asche vor einem Infostand der AfD aus. Die Asche stammte aus einer abgebrannten Flüchtlingsunterkunft in Münster. Die friedliche Aktion stand unter dem Motto »Die einen zündeln mit Wor-


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ten, die anderen mit Brandsätzen«. Das war für zwei – als Security getarnte – Schläger der AfD schon zu viel. Sie setzen Pfefferspray ein und verletzten mehrere AfD-Gegnerinnen und -gegner. Während die Polizei gegen die Opfer ermittelte, solidarisierte sich DIE LINKE mit den Betroffenen. Sie warnte öffentlich vor AfD-Schlägerbanden im Wahlkampf und bezeichnete den lokalen AfD-Bundestagskandidaten als »Hasskandidaten«. Dieses Beispiel zeigt, welche Gefahr von der AfD ausgeht. Der faschistische Flügel um Björn Höcke will aus der AfD eine Straßen- und Kampfpartei machen. Die AfD soll in die Lage versetzt werden, öffentliche Räume zu erobern und die politische Opposition einzuschüchtern. Die bürgerliche Maske der AfD ist längst gefallen: Zum Vorschein kommen rechte Strategien, die sich von denen der NPD kaum noch unterscheiden. In Münster ist es gelungen, die AfD klein zu halten. Durch die Proteste herrschte ein Klima in der Stadt, das den harten AfD-Kern vom Rest der Bevölkerung isolierte. Das war nur möglich, weil es einer antirassistischen Gegenbewegung gelungen ist, in entscheidenden Momenten einzugreifen und der AfD nicht die Hoheit zu überlassen. Grundlage dafür war, dass ein lokales Anti-Nazi-Bündnis viele Gruppen vereint und zugleich inhaltliche Klarheit darü-

ber herrscht, dass man Nazis und Rassismus am Ort des Geschehens mit Protesten konfrontieren muss. DIE LINKE konnte darin gerade deshalb eine vorwärtstreibende Rolle spielen, weil sie vor Ort Räume geschaffen hat für aktivistische Politik: Auf wöchentlichen »Aktiventreffen« diskutieren die Genossinnen und Genossen aktuelle politische Fragen und beraten die nächsten Schritte fernab von Satzungs- und Geschäftsordnungsdebatten. Zumeist hat DIE LINKE die Aktionen auch mit Aufklärungsveranstaltungen begleitet. So diskutierten beispielsweise Janine Wissler (DIE LINKE) und Andreas Kemper (Soziologe und AfD-Kenner) vor 130 Leuten über Ursachen und Gegenstrategien zum Aufstieg der AfD. DIE LINKE kann darin wichtige inhaltliche Impulse setzen: So stellte sie in Münster gängige rot-grüne Erklärungsmuster des Rassismus vom Kopf auf die Füße: Rassismus entsteht nicht spontan aus der Bevölkerung, sondern wird von den Herrschenden geschürt, um von sozialen Problemen abzulenken. Solange die wirtschaftlich Mächtigen ein Interesse daran haben, die Menschen zu spalten, um von ihren eigenen Untaten abzulenken, wird es Phänomene wie die AfD geben. Deshalb ist der Kampf gegen Rechts eng mit dem Kampf für eine andere Wirtschaftsordnung verbunden. ■

Die bundesweiten Wahlplakate der LINKEN stießen bei vielen Aktiven nicht gerade auf Begeisterung. Die Reaktion in Münster: eigene Plakate mit zugespitzten Forderungen

Weiterlesen

■ www.marx21. de/muensterwie-wir-die-afdgestoppt-haben ■ www.marx21. de/kampf-gegenafd-gruendeerfolg-muenster https://www. youtube.com/

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Internationales | weltweiter widerstand

© Bru Aguiló / Fotomovimiento

Katalonien

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Tausende Menschen schützten das Hauptquartier der linken Partei CUP in Barcelona erfolgreich vor der Landespolizei Guardia Civil. Insgesamt gingen Hunderttausende auf die Straße, als die Guardia Civil auf Anordnung der rechten Regierung von Mariano Rajoy am 20. September Mitglieder der katalanischen Regionalregierung festnahm und Millionen von Wahlzetteln beschlagnahmte. Das harte Vorgehen gegen das geplante Unabhängigkeitsreferendum verschärft die anhaltende Krise des spanischen Staates. Mehr auf marx21.de


Internationales | weltweiter widerstand

SPANIEN

Wem gehört die Stadt? In Spanien stellen sich immer mehr Menschen gegen den Tourismus, weil sie immer weniger davon haben

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Von Hannes Maerker

nser Barceloneta steht nicht zum Verkauf« steht groß auf den gelben T-Shirts der Demonstrierenden: Sie haben sich zu einer Menschenkette am Strand von »Barceloneta«, einem Arbeiterviertel Barcelonas getroffen. Nach dem Motto: Ihr nehmt uns die Wohnungen, wir euch den Strand, blockieren sie gemeinsam den Zugang zum Meer für die Urlaubsgäste. Schuld an dieser Situation ist die spanische Regierung, denn seit Jahren folgt sie den Interessen des Gastgewerbes und fördert den Massentourismus. Jahr für Jahr verbucht das Land neue Besucherrekorde, allein im letzten Jahr nahmen die Besucherzahlen um 10,3 Prozent zu. Mit 75,6 Millionen pro Jahr Besuchern ist Spanien das am meisten bereiste Ferienland Europas, ein neuer Rekord. Verdrängung der Einheimischen ist bei diesen Touristenmassen vorprogrammiert: »Ciutat per qui l’habita« (»Die Stadt denen, die drin wohnen«), eine Bewegung gegen den Massentourismus auf Mallorca, kritisiert, dass es nur noch schwer möglich ist, Wohnungen zu finden, da viele über Portale wie »Airbnb« vermietet werden, zu Preisen, die für Normalverdienende nicht zu stemmen sind. Doch trotz dieser alarmierenden Zustände lehnt die spanische Zentralregierung Vorschläge wie eine Begrenzung der Touristenzahlen vehement ab. Als linke Regionalregierungen eine extra Touristenabgabe einführen wollten, um zusätzliches Geld für die Bewältigung der Mehrausgaben durch Touristen zu haben, reagierte die Zentralregierung nervös. Der Justizminister, Rafael Catalá, meint, es sei als »würde man sich selber in den Fuß schießen«. Hauptargument der Regierung ist, dass die Tourismusindustrie der »Jobmotor des Landes« sei. Doch diese »Jobs« sind häufig nicht mehr als saisonale Aushilfsstellen: Jobs, mit Minilöhnen zwischen 500 und 1000 Euro, von denen die Arbeitgeber einen Teil meist schwarz bezahlen,

um Sozialabgaben zu sparen. Für diese Art der prekären Beschäftigung gibt es in Spanien eine treffende Beschreibung: »Müllverträge«. Das Traurige: Mehr als 90 Prozent aller neuen Arbeitsverhältnisse in Spanien sind solche Müllverträge, denn sie sind für viele Arbeitslose der einzige Weg, um sich vorübergehend ein paar Euro zu verdienen. Die Arbeitslosenquote liegt auf den Balearen bei 11,1 und in Spanien bei 17,7 Prozent. Zudem sind die Verdienstmöglichkeiten dort besonders gering. Auf den Balearen bekommen Arbeiterinnen und Arbeiter deutlich weniger als im Landesvergleich. Doch nicht nur die Region, sondern auch der Sektor Tourismus zählt zu den absoluten Niedriglohnfeldern. Das heißt, in einem der touristisch stärksten Gebiete des Landes verdienen die Arbeiterinnen und Arbeiter am wenigsten, während sie mit die höchsten Lebenshaltungskosten des Landes haben. Wirklich profitieren nur die Hotel- und Immobilienbesitzer, denn sie können immer mehr Geld von ihren Besuchern verlangen. Spätestens hier zeigt sich das wahre Gesicht des spanischen Tourismus: Ohne hätte die Rezeptionistin keinen Job, mit hat sie keine Wohnung. Worüber die Regierung schweigt: Die Urlaubsgebiete sind gleichzeitig Wohngebiet für Einheimische, die dort arbeiten. Die, die dafür sorgen, dass die Touristinnen und Touristen einen schönen Urlaub haben, während diese dafür sorgen, dass die ganze Nacht Lärm auf den Straßen ist. »Sauftourismus« ist das richtige Wort für das, was dort, gerade in Palma, stattfindet. Urlauberinnen und Urlauber, die splitternackt und sturzbetrunken auf den Straßen randalieren. Zustände also, die man der Krankenschwester, die von ihrer Nachtschicht nach Hause kommt, nicht zumuten kann. Der Bürgermeister von Palma de Mallorca, kritisierte diese Zustände, aber die Politik hat dieses Tourismuswachstum gefördert. ■ Hannes Maerker ist Redakteur von marx21.

KENIA Seit Juni streikte das Pflegepersonal der öffentlichen Krankenhäuser in Kenia. Sie wollten den Rat der Gouverneure dazu drängen, das 2016 unterschriebene Tarifabkommen endlich umzusetzen. Dieser begründete seinen Vertragsbruch mit Geldmangel. Die Reaktionen auf den Streik waren unterschiedlich: Einige Krankenhäuser setzten selbstständig Lohnerhöhungen durch, andere gingen juristisch gegen den Streik vor. Mitte August vereinbarten die Tarifparteien, dass das Pflegepersonal während der Streikzeit zumindest einen Teil ihres Lohnes erhält.

CHINA Mehrere Zehntausend Menschen haben im August in Hong Kong gegen die Verurteilung von drei führenden Aktivisten der sogenannten Regenschirm-Bewegung demonstriert, die seit 2014 für politische Reformen kämpft. Sie werfen dem Gericht vor, dass die Haftstrafen politisch motiviert seien. »Es ist nicht kriminell, gegen Totalitarismus zu kämpfen«, stand auf den Transparenten, mit denen sie durch die Straßen der Stadt zogen. Bei den Protesten der Regenschirm-Bewegung hatten hunderttausende Menschen mehr Demokratie und freie Wahlen in Hongkong gefordert.

Kolumbien

Streikrecht durchgesetzt In Kolumbien befinden sich seit Ende Juli 20.000 Bergarbeiter im unbefristeten Streik. Sie wollen, dass die Regierung dem multinationalen Konzern Gran Colombia Gold die Lizenzen zum Goldabbau entzieht. Die Regierung reagierte brutal auf den Protest. Die Polizei erschoss drei Menschen, Hunderte wurden durch ihr gewalttätiges Vorgehen verletzt. Zuletzt löste die Polizei eine Messe in Gedenken an die Toten mit 3000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern unter Einsatz von Tränengas auf. Doch der Protest ist fest verankert. Über 95 Prozent der Bevölkerung unterstützen den Streik.

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INTERNATIONALES | Ägypten

»Der Grad der Brutalität ist beispiellos« Die Situation für LGBTIQ-Menschen in Ägypten hat sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Wir sprachen mit dem Menschenrechtsaktivisten Scott Long über ihre Lage und die Möglichkeiten für globale Solidarität Interview: Kate Davison und Irmgard Wurdack

Scott, du hast von 2012 bis 2016 in Kairo gelebt. Wie ist dort die Situation für LGBTIQ-Menschen?

Scott Long

Wir wissen von etwa 250 Menschen, die aktuell in Ägypten wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Genderidentität eingesperrt sind. Unmittelbar nach dem Putsch von Abdel al-Fattah as-Sisi im Juli 2013 fing die neue Regierung damit an, insbesondere Trans-Frauen und schwule Männer zu verhaften. Die Verbindungen zwischen sexueller Unterdrückung und anderen Unterdrückungsformen sind in Ägypten sehr eng. Wie äußert sich das? Die Regierung greift hart gegen Revolutionäre und andersdenkende Jugendliche durch, besonders gegen Männer, die nicht mit den staatlichen Vorstellungen von Männlichkeit konformgehen. Sie geht aber auch hart gegen Straßenkünstler, kleine Händler und Cafés im Zentrum von Kairo vor. Die Unterdrückung von LGBTIQ-Menschen ist Teil eines großen Komplexes von repressiven Strategien, die das Sisi-Regime einsetzt. Seit dem Jahr 2014 hat sich die Funktion der Verhaftungen jedoch gewandelt. Als die Muslimbruderschaft anfing, Sisi der »Weichheit« gegenüber sexuellen Minderheiten zu beschuldigen, verstärkte dieser seine rechte Flanke, indem er noch härter gegen LGBTIQ-Menschen vorging.

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Scott Long ist Aktivist für internationale Menschenrechte mit Schwerpunkt auf die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen, Transgendern und queeren Menschen. Seit über 25 Jahren setzt er sich in zahlreichen Ländern für Genderrechte und die Freiheit sexueller Orientierung ein. Er war Gründer des LGBTIQ-Programms bei Human Rights Watch und Autor des politischen Blogs »A Paper Bird«. Seit 2001 engagiert er sich in Ägypten.

In deinen Artikeln und Interviews bezeichnest du Sisis Militärputsch als Konterrevolution. Ist Ägypten unter dem Sisi-Regime noch schlimmer als unter Mubarak? Ja, ich denke schon. Die Regierung argumentiert heute, Mubarak habe zu viel Freiraum für die Zivilgesellschaft gelassen. Das jetzige Regime ist höchst unberechenbar. Der Grad der Brutalität ist beispiellos in der jüngeren Geschichte Ägyptens. Seine Basis hat das Regime wie schon unter Mubarak im Militär. Das Militär ist jedoch nicht nur Sisis Hauptstütze, sondern in vielerlei Hinsicht seine einzige Stütze. Gleichzeitig ist es ein instabiles Regime – eine gefährliche Kombination. Wie würdest du die drei Regimes – Mubarak, Mursi und Sisi – bewerten, was LGBTIQ-Sexualität und Genderrechte angeht? Die Haltung des Mubarak-Regimes gegenüber LGBTIQ-Menschen war im Kern eine instrumentelle. Die sexuelle Orientierung war bis um die Jahrtausendwende kein größeres Thema. Zwischen 2001 und 2004 kam es dann zu einer Verhaftungswelle, die von einer unglaublichen Verunglimpfung homosexueller Menschen in der Presse begleitet wurde. Es gab Gerüchte, Mubaraks Sohn und wahrscheinlicher Nachfolger Gamal sei schwul. Das Regime wollte daraufhin zeigen, dass es


INTERNATIONALES | Ägypten

setzung einer bestimmten Moral. Mursi hatte andere Prioritäten als die Verfolgung sexueller Minderheiten. Es ging ihm um die Eroberung der ökonomischen und politischen Ressourcen des Staats für seine Wählerbasis. Die Unterdrückung von LGBTIQ-Menschen war kein Kernelement von Mursis Politik. In gewisser Weise war daher die Zeit unter der Muslimbruderschaft sogar die freieste Periode für LGBTIQ-Menschen in Ägypten.

Streetart in Kairo: Nicht nur politische Dissidenten, sondern auch sexuelle Minderheiten werden in Ägypten massiv verfolgt

Was geschah nach dem Putsch Sisis? Sisi ist zum früheren Muster unter Mubarak zurückgekehrt, aber er geht noch weiter. Die Regierung geht gezielt mit Razzien gegen LGBTIQ-Menschen vor. Das ist der konsequente Versuch, moralische Empörung für Staatszwecke auszunutzen. Und das passiert nicht nur gegen Schwule. Das Sisi-Regime ist auch reaktionärer als das Mubarak-Regime, was seine Vorstellungen über die Rolle der Frauen angeht. Viele Linke argumentieren, dass wenn es um die Rechte von LGBTIQ-Menschen und Frauen geht, säkulare Regierungen besser sind als Regierungen, die sich auf Religion stützen. Was meinst du dazu?

Die Zeit unter den Muslimbrüdern war die freieste Periode alles andere als »schwulenfreundlich« sei. In den Jahren vor der Revolution wurde jedoch zunehmend deutlich, dass das Mubarak-Regime müde wurde. Die tagtägliche Überwachung der Moral wurde weniger streng. Die Aufmerksamkeit der Polizei konzentrierte sich vermehrt auf politische Dissidenten. LGBTIQ-Menschen konnten sich hingegen erstmals öffentliche Räume aneignen. Besonders in Kairo und Alexandria entstanden Cafés und Bars, in denen sie sich treffen konnten. Es gab in Kairo gegen Ende des letzten Jahrzehnts mehr Sichtbarkeit von

dem, was man als »alternative« Identitäten bezeichnen könnte. Und nach dem Sturz Mubaraks? Die zwölfmonatige Episode der Regierung der Muslimbruderschaft unter Mursi war zu kurz, um zu verallgemeinern, was längerfristig passiert wäre. Es war ein Jahr, geprägt von der absoluten Unfähigkeit der Regierung. Sie hatte keine klaren ideologischen Vorstellungen, kein soziales oder ökonomisches Programm und auch kein Programm im Sinne der Durch-

Das Sisi-Regime präsentiert sich gern als säkular, genau wie damals das Regime unter Mubarak. In Wirklichkeit haben aber beide die Religion für ihre Zwecke instrumentalisiert. Mubarak hatte überhaupt kein Problem damit, sich zwischen 2001 und 2004 auf religiöse Rechtfertigungen für die Verhaftungen von LGBTIQ-Menschen zu berufen. Aber diese religiösen Rechtfertigungen sind nur ein Teil dieser reaktionären Ideologie – einer Mischung aus Nationalismus und Nationalmoral, verbunden mit einer Berufung auf die Religion. Ein großer Teil dessen, was heute als »religiöser Fundamentalismus« bezeichnet wird, ist eigentlich eine Art Entfesselung von ideologischen und politischen Kräften innerhalb des Islam, die man seit Generationen nicht gesehen hat und die einige der traditionellen institutionellen Pfeiler des Glaubens erschüttert haben. Die meisten sogenannten Fundamentalismen sind nicht in der islamischen Theologie oder Praxis verwurzelt.

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Wenn das Sisi-Regime eine so enge und unberechenbare militärische Basis hat, wie kann es sich halten? Das Regime stützt sich auf die Militärhilfe aus dem Ausland. Das sind insbesondere die 1,3 Milliarden Dollar, die es jährlich von den USA bekommt. Deutschland ist neben den USA eine der größten Waffenquellen für das Sisi-Regime. Europa ist ein wichtiger Lieferant von Überwachungsanlagen. Diese Anlagen stützen das Regime unmittelbar, indem sie seine Fähigkeit stärken, das eigene Volk zu überwachen, zu kontrollieren, einzusperren oder auch zu töten. Die Sisi-Regierung hat explizit erklärt, dass auch LGBTIQMenschen und die »sexuelle Perversität« Ziele der Internetüberwachung sind. Wenn man Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten in Ägypten fragt, was der Westen in Ägypten machen sollte, antworten sie: Stoppt die Militärhilfe!

waren. Die Ägypterinnen und Ägypter sahen die Schwäche der eigenen Regierung und ihre Unfähigkeit, für ihr Wohl zu sorgen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Also begannen sie damit, sich Ideologien zuzuwenden, die ihnen dabei halfen, zu reagieren und Widerstand zu leisten. Damit verbunden ist auch die Tatsache, dass die USA in einem Land nach dem anderen den Kampf gegen die Linke geführt und befördert haben. In Ägypten wurde

wegungen. Der IS ist Teil des Ergebnisses der Gesamtintervention der USA. Wie können Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland eine internationale Perspektive zu den Kämpfen um Menschenrechte einnehmen, ohne militärische oder neoliberale Interventionen zu unterstützen? Es ist absolut entscheidend, dass es hier in Deutschland und anderswo eine

Stoppt die Militärhilfe!

Die Vorstellung, dass der Westen irgendeine Art von Freiheit für LGBTIQ-Menschen oder für Frauen im Nahen Osten oder sonst irgendwo bringen wird, ist totaler Quatsch. Das zeigt schon ein kurzer Blick auf die Ursachen der aktuellen Entwicklungen: Die Beliebtheit islamistischer Bewegungen etwa ist in der ganzen Region erst seit dem Jahr 1973 zu beobachten. Das ist der Beginn der Ölkrise, die zu einer gewaltigen Verschiebung der Macht innerhalb der Region geführt hat – in Richtung der Länder, die Erdöl haben, und weg von den Ländern ohne Erdöl. Gleichzeitig markiert das Jahr den einsetzenden Siegeszug des Neoliberalismus. Ganz plötzlich wurde Ägypten finanziell von den benachbarten Feudalmonarchien abhängig, von denen viele streng religiös

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Kann der Westen auch irgendeine hilfreiche Rolle im Leben der LGBTIQ-Menschen und der Frauen im Nahen Osten spielen? Wandgemälde an einem Haus in Kairo: Früher prangte die Aufschrift »Cops are gay« über dem Bild zwei sich küssender Polizisten. Heute steht dort »Homophobia ist not Revolutionary«

in den 1970er Jahren unter Sadat damit begonnen, Linke zu verfolgen, nachdem er von Breschnew zu Nixon übergelaufen war. Die ägyptische Linke hat zwar bis heute überlebt, sie ist aber effektiv daran gehindert worden, Menschen zu mobilisieren, sich zu organisieren und intellektuellen Einfluss zu gewinnen. Das Gleiche gilt für zahlreiche andere Länder in der Region. Die Konsequenz all dessen sind Phänomene wie der »Islamische Staat«. Auffällig ist auch die Tatsache, dass er seine Wurzeln in zwei der gebildetsten Ländern des Nahen Ostens hat – in Syrien und im Irak. Das wurde nur möglich, durch die Vernichtung der Linken und die Zerstörung intellektueller Be-

LGBTIQ-Öffentlichkeit gibt, die aufmerksam und kritisch gegenüber der gesamten Außenpolitik ist, und nicht nur in LGBTIQ-Fragen. Fragt nicht bloß: Was hat meine Regierung in der letzten Zeit über Uganda oder Namibia oder Ägypten gesagt? Fragt stattdessen: Wie unterstützt meine Regierung die Regierungen dieser Länder? Was ist das finanzielle, ökonomische und militärische Verhältnis zu diesen Regierungen? Ägyptische Aktivistinnen und Aktivisten in der Menschenrechts- und der LGBTIQ-Bewegung fordern ein Ende der militärischen Unterstützung aus dem Ausland. Jeder Aktivismus, der diese Forderung nicht berücksichtigt, geht in die falsche Richtung. ■


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INTERNATIONALES | Venezuela

Sozialismus gescheitert? Achtzehn Jahre nach der Wahl des Sozialisten Hugo Chávez zum Präsidenten von Venezuela ist wenig geblieben von den Verheißungen der »Bolivarischen Revolution«. Im Namen des Sozialismus herrschen Bestechung und Repression. Wie konnte es dazu kommen? Eine Spurensuche Von Mike Gonzalez ÜBERSETZUNG: David Paenson

V

enezuela steckt in einer sich beschleunigenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise. Die Inflation nähert sich der Marke von 800 Prozent und steigt weiter. Um die Grundbedürfnisse zu decken, sind acht Mindestlöhne erforderlich. Die öffentlichen Dienstleistungen kollabieren, in Krankenhäusern fehlen Geräte und Medikamente, Arzneimittel sind kaum erhältlich und die Infrastruktur bricht zusammen infolge ausbleibender öffentlicher Investitionen. Dennoch fanden bisher 600 Milliarden US-Dollar den Weg ins Ausland, um in Banken in aller Welt gebunkert zu werden. Die Armutsquote, die bis 2012 laut UN-Angaben bereits von 60 auf 20 Prozent reduziert worden war, hat mittlerweile fast das alte Niveau erreicht. Der Durchschnittsvenezolaner soll wegen Nahrungsmittelknappheit rund acht Kilo an Gewicht verloren haben. In letzter Zeit füllen sich die Regale wieder etwas, aber die Preise sind unerschwinglich. Für dreißig Eier wird der Lohn einer ganzen Woche fällig. Wie konnte es dazu kommen?

Hugo Chávez’ Verkündung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela verbreitete seinerzeit großen Optimismus. Er war ein Sozialist unseres Jahrhunderts, der mit den jungen antikapitalistischen Bewegungen in Tuchfüllung stand und Originalität und Kreativität ausstrahlte. Die im Jahr 1999 von einer gewählten Konstituante geschriebene »Bolivarische Verfassung« verkündete eine neue Republik auf Grundlage einer »partizipatorischen Demokratie«, in der das Volk das handelnde Subjekt sein sollte.

Eine Revolution im Rückwärtsgang

Der Erdölreichtum sollte genutzt werden, um den Lebensstandard der Mehrheit zu heben, anstatt die Taschen der Reichen zu füllen; die Rechte der indigenen Bevölkerung würden anerkannt und respektiert; die Umwelt würde geschützt; die Öleinnahmen sollten die Abhängigkeit vom Weltmarkt beenden und neue Wege der sozialen Produktion finanzieren. All dies sollte von einem neuartigen Staat verwaltet werden, der die korrupte Klientelpolitik der vergangenen vierzig Jahre in die Mülltonne der Geschichte treten würde.

Mike Gonzales ist emeritierter Professor für LateinamerikaStudien an der Universität Glasgow und Autor von »Che Guevara and the Cuban Revolution« (2004) und »Hugo Chávez: Socialist for the TwentyFirst Century« (2014).

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Im Zuge der Bolivarischen Revolution konnte die Landbevölkerung Lesen und Schreiben lernen

Mit diesen Versprechungen gewann Chavez 2006 erneut mit 62 Prozent der Stimmen die Wahl zum Präsidenten. Doch die Sprache des Sozialismus zu benutzen, reicht nicht aus. Sie lässt sich zu leicht missbrauchen, um seine wahren Absichten zu verfälschen oder zu vertuschen. Was echten Sozialismus kennzeichnet, sind Taten, die Schaffung einer echten Demokratie, die Umverteilung des Reichtums, ein energischer Kampf gegen Rassismus, Sexismus und jede Form von Unterdrückung – und im 21. Jahrhundert auch die Selbstverpflichtung, die Zerstörung unseres Planeten im Namen des Profits zu stoppen. Alles andere ist bloß Rhetorik. Der Fall der Berliner Mauer 1989 warf schon einmal ein grelles Licht auf die Widersprüche solcher Gesellschaften: Zentralverwaltung statt Demokratie von unten, systematische Unterdrückung von Minderheiten und Nationen, zutiefst reaktionäre Einstellungen zum Geschlechterverhältnis, gnadenlose Konkurrenz mit dem westlichen Kapitalismus auf Kosten des Planeten. Und das alles im Namen des Sozialismus. Ähnlich wie nun in Venezuela. Elf Jahre nach Chávez’ Wiederwahl 2006 ist alles anders geworden, als er es versprochen hatte. Als ein rechter Abgeordneter im spanischen Parlament neulich das Wort »Venezuela« quer durch den Sitzungssaal in Richtung linker Abgeordneter schrie, war das eine Anklage. Er bezog sich auf die täglichen Medienbilder von langen Schlangen vor Supermärkten, auf die Straßen voller Tränengas, auf die steigende Zahl von Todesopfern im Zuge der Straßenkämpfe. Es ist das Venezuela Nicolas Maduros, der nach Chávez’ Tod in Folge eines unaufgeklärten Krebsleidens im Jahr 2013 die Präsidentschaft übernahm und seitdem im Dauerkrisenmodus regiert. Als sich die Krise im Dezember 2015 vertiefte, gewann die rechte Opposition 63 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen. Dies war nicht das Ergebnis einer massiven Verschiebung nach rechts, sondern der hohen Wahlenthaltung von desillusionierten Chávistas. Sie sandten eine klare Botschaft: Es musste etwas gegen die verheerende Krise getan werden. Die rechten Abgeordneten gehören alle zur Bourgeoisie, keiner von ihnen kennt den alltäglichen Kampf der Mehrheit der Bevölkerung. Sie hatten weder Programm noch Strategie zur Bewältigung der Krise. Ihre einzige Sorge war es, die Macht zurückzugewinnen, und so gaben sie maskierten Todesschützen und Paramilitärs grünes Licht.

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Nach der Wahl stattete sich Maduro mit Sondervollmachten gegen den »Wirtschaftskrieg«, wie er ihn bezeichnete, aus. Es stimmt, dass die Kapitalflucht enorme Ausmaße angenommen hatte und dass die Handelsbourgeoisie die Krise ausnutzte, Waren hortete und Preise willkürlich erhöhte. Auch, dass die US-Regierung bei jeder Gelegenheit das Land aktiv sabotierte und immer noch sabotiert, hat einen wahren Kern. Aber die chavistische Regierung schien selbst gelähmt und ohne Strategie. Das Ministerium für faire Preise, geführt von einem jungen Familienmitglied des Präsidenten, unternahm nichts, um der Lage Herr zu werden. Um die Grundversorgung der Bevölkerung zu sichern und der Inflation Herr zu werden, wurden die sogenannten »Taschen von Bedarfsgütern zu fairen Preisen« (Claps) eingeführt. Nach einiger Zeit verteilte die Staatspartei, die Vereinigte Sozialistische Partei

Der Sozialismus war bloß Rhetorik (PSUV) sie jedoch nur noch an ihre Anhängerinnen und Anhänger. Wenn sie Menschen darüber hinaus überhaupt erreichten, dann nur zu überteuerten Preisen. Die Aktion steigerte nur die Korruption in einer bereits von Korruption zerfressenen Verwaltung. 400 Milliarden Dollar waren nach Auskunft des ehemaligen Wirtschaftsministers Jorge Giordani während des Jahrzehnts zuvor aus der Staatskasse »verschwunden«. Ein Bild, das sich vermutlich in allen Ämtern wiederholt. Jene, die vom »Wirtschaftskrieg« gegen die Mehrheit der Venezolanerinnen und Venezolaner profitierten, standen auf beiden Seiten der politischen Trennlinie. In demselben Ausmaß, wie die Gewalt auf den Straßen zunahm, nahm auch die staatliche Repression zu. Es ist unklar, wie viele der Toten und Verletzten sie zu verantworten hat. Eine sozialistische Regierung hätte die Unternehmen, die Investitionen abbauen, enteignen, korrupte Beamte verhaften und vor allem gegen die Währungsspekulation konsequent vorgehen müssen. Das Zocken mit Devisen verschlingt Unsummen und dient einem System zur maßlosen Bereicherung der chavistischen herrschenden Klasse. Aber das Maduro-Regime reagierte anders auf die Krise. Zunächst kam es zu einer Militarisierung der Regierung. Die Hälfte aller Kabinettsmitglieder gehören dem Militär an, gleiches gilt für die meisten Staatsgouverneure.


INTERNATIONALES | Venezuela

Die »Panzer-Frau« wurde zur Ikone der »Mutter aller Märsche« in im Mai 2017 in Caracas

Die Schlangen vor den Lebensmittelläden in Mercal zeigen den Mangel, den Korruption und Misswirtschaft verursachen

© Alle Bilder: wikimedia

Dazu kommt ein neuer, der Regierung nicht rechenschaftspflichtiger Militärkonzern, mit direktem Sitz im Verteidigungsministerium. Er wickelt nunmehr den Handel mit den massiven Öl-, Gas- und anderen Bodenschätzen des Landes ab. Letzteres ist eine Folge des Maßnahmenkatalogs der Maduro-Regierung, nämlich der ungebremsten Versteigerung dieser Ressourcen an das multinationale Kapital. Das ist nichts anderes als eine Demontage der »Bolivarischen Revolution«. Die Rechten und die Chavistas kämpfen nicht um diese Revolution, sondern sie sind in einem Machtkampf um die Kontrolle über die Profite aus dem Wiedereintritt des Landes in den globalen kapitalistischen Markt verwickelt. Momentan ist die Verfassunggebende Versammlung damit beschäftigt, die »Bolivarische Verfassung« neu zu schreiben. Im Gegensatz zu 1999 hat diesmal keine offene demokratische Debatte über die Vorschläge stattgefunden. Sie wurden nicht einmal veröffentlicht. Die Delegierten wurden handverlesen, um die von der Regierung eingebrachten Veränderungen zu beklatschen, welche es auch immer sein mögen. Langsam sickert durch, dass das erste Opfer die partizipative Demokratie sein wird, das zweite das Recht auf Abwahl von Beamten, und das dritte und wohl schmerzlichste wird die Verpflichtung sein, die na-

tionalen Ressourcen zu Gunsten der Mehrheit zu verwalten. Wenn dies eintritt, wird die Macht zunehmend in den Händen einer kleinen herrschenden Clique und ihrer Gefolgsleute konzentriert und die PSUV wird weiterhin als Karriereleiter für jene dienen, die sich ihr persönliches Fortkommen mit Schweigen erkaufen. Die neuen Bergbauprojekte in der Tiefebene von Orinoco werden die gesamte Region vergiften und verwüsten. 150 multinationale Konzerne werden davon enorm profitieren. Profitieren wird auch die neue herrschende Klasse Venezuelas, die neben der chavistischen Bürokratie fortan wahrscheinlich altbekannte Gesichter der Opposition umfassen wird. Und all das im Namen des Sozialismus.

Chavez spricht zu seinen Soldaten. Die Hälfte von Maduros Kabinettsmitgliedern sind Militärs

In der Bevölkerung breitet sich Wut, aber auch Angst und Enttäuschung aus. Im Augenblick ist der »kritische Chavismus« mehr Hoffnung als Realität. Aber die kollektive Erinnerung hält die Hoffnungen und Versprechungen der »Bolivarischen Revolution« wach und lernt hoffentlich zu verstehen, wie und warum sie von innen und von außen korrumpiert und untergraben werden konnte. Die internationale Linke kann zu diesem Neuaufbau beitragen. Dafür muss sie zunächst die heutigen Entwicklungen in Venezuela ehrlich und nüchtern betrachten. ■

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König Macron und der neue Robespierre Massenstreiks und Hunderttausende auf den Straßen: Frankreich erwartet einen heißen Herbst. Und auch die Linke formiert sich neu – mit großer Dynamik, aber auch mit alten Schwächen. Ein Bericht aus Paris

John Mullen ist Aktivist aus Paris und Mitglied der antikapitalistischen Gruppe Ensemble. Außerdem engagiert er sich in einer Ortsgruppe von La France Insoumise.

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Von John Mullen Übersetzung: Einde O’Callaghan

as politische Jahr in Frankreich beginnt mit einem Knall: Kaum im Amt, startet der neue Präsident, Emmanuel Macron, einen Generalangriff auf Arbeitnehmerrechte und Gewerkschaften. Offensichtlich plant der ehemalige Investmentbanker in die Fußstapfen Margaret Thatchers zu treten und zahlreiche soziale Errungenschaften vergangener Jahrzehnte mit einem Schlag zunichte zu machen. Doch die französische Arbeiterklasse will sich keineswegs kampflos geschlagen geben. Und mit La France Insoumise (LFI) steht Macron eine neue Bewegung gegenüber, die das Potenzial hat, die französische Politik von links aufzumischen.

Jung, modern und weder links noch rechts  das ist das Image, mit dem Emmanuel Macron im Mai dieses Jahres überraschend die Präsidentschaftswahl gewann. Dabei profitierte er von der tiefen Krise der traditionellen parlamentarischen Parteien – der Linken wie der Rechten. Wie »modern« Macron tatsächlich ist, zeigt sich jedoch, wenn er etwa öffentlich bedauert, dass Frankreich keinen König mehr hat, und behauptet, dass es eine Persönlichkeit brauche, die die Menschen bewundern können. Was das »weder rechts noch links« betrifft: Als Ministerpräsidenten wählte Macron Edouard Philippe, der seit 2002 Mit-


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glied der traditionellen Rechten ist und eine »Revolution wie unter Margaret Thatcher« fordert. Gleich zwölf Minister aus seiner Regierung wurden zur Sommerakademie des französischen Unternehmerverbands (MEDEF) eingeladen. Ein linker Abgeordneter bemerkte treffend: »Das ist nicht wirklich eine Regierung, eher der Vorstand eines Unternehmens.« Den Kern von Macrons Programm bilden Steuersenkungen für die Reichen und neue Gesetze, die die Kraft der organisierten Arbeiterschaft in allen Bereichen des Arbeitslebens einschränken sollen. Sein neues Arbeitsgesetz, das er ohne Debatte durch das Parlament drücken will, besteht aus 36 »Reformen«: Die Befugnisse der Arbeitsschutzausschüsse sollen erheblich eingeschränkt, die Zahl der Gewerkschaftsdelegierten pro Firma reduziert und die Anzahl der bezahlten Freistunden für die Gewerkschaftsarbeit drastisch zusammengestrichen werden. Abfindungen bei Kündigungen sollen gedeckelt werden. Die Chefs von kleineren Unternehmen würden den Plänen zufolge wesentlich mehr Freiheiten bekommen, die landesweiten Mindeststandards für Arbeitszeiten und Überstundenzuschläge zu ignorieren. Schließlich sollen die Einschränkungen bei betriebsbedingten Kündigungen für multinationale Konzerne faktisch abgeschafft werden. Außerdem will Macron massive Kürzungen im öffentlichen Dienst durchdrücken: Erst vor kurzem wurden bereits 150.000 von der Regierung subventionierte befristete Stellen in den Schulen und im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen abgeschafft – eine Maßnahme, die einige Schulen so hart traf, dass die Leitungen sich nach den Ferien weigerten, die Schulen wieder zu öffnen. Doch Macron zeigt sich unbeeindruckt: »Ich bin voll entschlossen und werde nicht wegen der Faulenzer, Zyniker und Extremisten zurückweichen.«

Nötig ist massenhafter Widerstand  in den Betrieben und auf den Straßen. Und die Chancen stehen gut: Im September riefen die linkeren Gewerkschaften (CGT, FSU und Sud) erstmals zu zwei Aktionstagen auf. Obwohl die Landesführung des drittgrößten Gewerkschaftsverbands, Force Ouvrière (FO), sich dem Aufruf nicht anschloss, folgten ihm zahlreiche örtliche und regionale FO-Verbände. Die Aktionstage waren beeindruckend: Massenstreiks und große Demonstrationen fanden in mehr als hundert Städten überall in Frankreich statt. Am 21. September blockierten Arbeiterinnen und Arbeiter den Hafen von Le Havre. Kurz darauf gingen die Schülerinnen und Schüler der Oberschulen auf die Straße. Es folgten die LKW-Fahrer mit Blockaden der Autobahnen. Weitere Streiks im öffentlichen Dienst sind geplant. Alle diese Aktionen beweisen, dass die französische Arbeiterklasse nach wie vor ein hohes Niveau an politischem Klassenbewusstsein hat. Denn die Bewegung richtet sich nicht gegen unmittelbare Lohnkürzungen oder Arbeitsplatzabbau, sondern gegen Gesetzesänderungen, die den Bossen mehr Waffen zur Verfügung stellen sollen.

Doch Macron und seine Regierung sind nicht so stark, wie die große parlamentarische Mehrheit sie aussehen lässt. Seine »Bewegung«, La Republique en Marche, die sich aus rechten Mitgliedern der Sozialistischen Partei (PS) und traditionellen Konservativen zusammensetzt, ist keineswegs stabil. Viele verwirrte Kleinunternehmer sind mit ihr ins Parlament gewählt geworden, eine große Anzahl der Abgeordneten ist völlig unerfahren und ihr Mangel an Kompetenz ist offensichtlich. Außerdem gaben nur 19 Prozent der Wahlberechtigten Macron in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl ihre Stimme. Seither sind seine Beliebtheitswerte im Keller. Aber natürlich reicht Unzufriedenheit allein nicht aus, um Regierungen erfolgreich zurückzudrängen.

Und auch der politische Widerstand wächst. Der Zusammenbruch des PS bei der Parlamentswahl bietet eine große Chance für die Entstehung einer neuen kämpferischen linken Alternative. Nachdem der PS 90 Prozent seiner Mandate verlor und von 295 auf 29 Abgeordnete abstürzte, verließ ihr Präsidentschaftskandidat Benoit Hamon die Partei und gründete eine eigene Kleinstpartei, die jedoch kaum Chancen auf Erfolg hat. Das Zentrum des politischen Widerstande gegen Macron bilden stattdessen Jean-Luc Mélenchon und die Bewegung La France Insoumise (LFI), die angetreten ist, den PS durch eine »echte linke Partei« zu ersetzen. Viele Kommentatoren betonen die Neuartigkeit dieser Bewegung. Dabei hat sie sehr starke Ähnlichkeiten mit der Corbyn-Bewegung in Großbritannien. Grundlage des Aufstiegs der LFI ist wie beim Phänomen Jeremy Corbyn eine dynamische, linksreformistische Bewegung, die eine große Anzahl vor allem junger Menschen anzieht. Anders als in Groß-

© Jeanne Menjoulet / CC BY / flickr.com

Macron und seine Regierung sind nicht so stark

Protest gegen Präsident Macrons Reformpaket Ende September im Zentrum von Paris

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© Samuel Hervy / flickr.com

INTERNATIONALES | Frankreich

Einhunderttausend Menschen folgten dem Aufruf von Jean-Luc Mélenchon und La France Insoumise und gingen am 23. September in Paris auf die Straße

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Mélenchon ist kein Marxist

britannien war in Frankreich aber der linke Flügel der traditionellen sozialdemokratischen Partei nicht stark genug, um die Parteiführung zu übernehmen. Ein weiterer Unterschied ist, dass die neoliberale Dampfwalze, mit der die Errungenschaften der Arbeiterklasse platt gemacht werden sollen, in Frankreich seit etwa 30 Jahren von deren kollektivem Widerstand gebremst wird. Gleichzeitig ist in Frankreich schon immer eine bestimmte Form des linken Patriotismus stark verbreitet, die alles andere als unproblematisch ist. Zudem gibt es auch unter Linken große Verwirrung – und das ist noch ein sehr freundlicher Ausdruck – über die angebliche Gefahr, die vom Islam ausgehe. All diese Faktoren und Widersprüche wirken auf La France Insoumise ein. Gleichzeitig betrachten 58 Prozent der französischen Bevölkerung sie als die Hauptopposition gegen Macron. Ihre 17 neugewählten Abgeordneten haben bewiesen, dass sie es verstehen, auch im Sommerloch die Aufmerksamkeit der Presse auf den Widerstand zu lenken. Als Macron eine Kürzung beim Wohngeld für Studierende ankündigte und sich ein Parlamentarier darüber lustig machte, dass »diese jungen Leute über mickrige fünf Euro jammern«, brachten die Abgeordneten der LFI zur Debatte eine Einkaufstüte mit ins Parlament, mit den Sachen, die man für fünf Euro in einem Discounter kaufen kann. Auch so kann parlamentarische Politik aussehen. Die Folge: Das politische Establishment hat Angst. Christophe Barbier, ein

führender Fernsehkommentator, sprach vor kurzem von der Gefahr, die von »Mélenchon und seinen Handlangern« ausgehe. Die rechte Zeitschrift Le Point veröffentlichte eine Titelseite mit der Schlagzeile »Politische Gewalt von Robespierre bis Mélenchon«. Gleichzeitig erklärte der Radiomoderator Eric Brunet, dass die 19 Prozent, die bei der Präsidentschaftswahl für Mélenchon stimmten, »alles Trottel« seien. All der Hetze zum Trotz ziehen die lokalen Gruppen von La France Insoumise momentan sehr viele neue Aktive an. Die örtlichen Treffen sind dynamisch und brechen mit den verstaubten Traditionen der radikalen Linken in Frankreich – einschließlich meiner eigenen Organisation. Im Dezember wird es eine große Gründerkonferenz geben. Zur Sommerschule der LFI in Marseille kamen bereits Ende August 3000 Aktivistinnen und Aktivisten zusammen. Dort gaben sie die Orientierung aus, lokale Basiskämpfe für bezahlbaren Wohnraum und öffentliche Dienstleistungen zu unterstützen und denjenigen die Hand auszustrecken, die das Interesse an Politik verloren haben. Das Verhältnis zu den anderen linken Organisationen ist jedoch alles andere als einfach. Dies zeigte sich zuletzt beim Aufruf der LFI zu einer landesweiten Demonstration gegen Macrons Politik am 23. September. Zwar war die Demo mit 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein Riesenerfolg – Mé-


lenchons Rede, in der er zur Fortsetzung der Streiks und einer Revolte der Jugend aufrief, kam live und in voller Länge auf allen Nachrichtenkanälen. Allerdings folgten weder die Kommunistische Partei noch die anderen Gruppierungen der radikalen Linken dem Aufruf. Ein führendes Mitglied der Neuen Antikapitalistischen Partei, Olivier Besancenot, ging sogar so weit, die Demonstration zu verurteilen, weil seine Gruppe nicht in die Beratung über das Datum einbezogen worden war. Schließlich verteilten sie ein Flugblatt auf der Demo, in dem sie, anstatt selbst zu mobilisieren, Mélenchon an den Pranger stellten. Der Grund, warum die LFI eigenständig die Initiative ergriff – und eigentlich auch der Grund, warum es sie überhaupt gibt –, sind die schlechten Erfahrungen bei den Versuchen, als linker Block mit der Kommunistischen Partei und anderen linken Gruppierungen zusammen zu arbeiten. Die Kommunistische Partei hat zwar nur zwölf Abgeordnete in der Nationalversammlung, stellt aber 1600 Stadt-, Kommunal- und Bezirksräte. Auf lokaler Ebene setzt sie auf »pragmatische« Bündnisse mit der Sozialistischen Partei. Sie ist sehr stolz auf ihre beschränkten Erfolge im kommunalpolitischen Kampf gegen Kürzungen und spricht der LFI das Potenzial ab, den Widerstand zu organisieren. Dahinter steckt mit Sicherheit auch die Sorge, über kurz oder lang als sichtbare linksreformistische Kampagnenpartei durch sie ersetzt zu werden. Mindestens genauso fragwürdig ist die Haltung großer Teile der revolutionären Linken. Selbstverständlich werden Revolutionärinnen und Revolutionäre immer unzählige berechtigte Kritikpunkte gegenüber reformistischen Führern haben, egal wie radikal diese auch sein mögen. Und selbstverständlich ist Mélenchon kein Marxist – er glaubt etwa, dass der französische Staat mit der richtigen Führung eine fortschrittliche Rolle in der internationalen Politik spielen könne. Aber ein besorgniserregend großer Teil der revolutionären Linken in Frankreich scheint ihre einzige Aufgabe darin zu sehen, diese Differenzen ständig aufzuzählen und neue hinzu zu erfinden. Einige antikapitalistische Linke beteiligen sich sogar an den zahlreichen Verleumdungskampagnen gegen Mélenchon, in denen er als Größenwahnsinniger gebrandmarkt wird. Tatsächlich war er jedoch nahezu der einzige Kandidat, der Widerspruch dagegen erhob, als die Menschenmengen während des Wahlkampfes seinen Namen skandierten. Eine Wurzel dieses Sektierertums der radikalen Linken in Frankreich liegt in der altbewährten Behauptung einflussreicher Teile des französischen Trotzkismus, der linke Reformismus könne im heutigen Kapitalismus nicht mehr bestehen. Offensichtlich führt eine solche Analyse zu Schwierigkeiten im Umgang mit ebendiesem linken Reformismus, wenn er

dann doch die historische Bühne betritt. Sicherlich gibt es zahlreiche Fallen, in die die revolutionäre Linke im Umgang mit neuen linksreformistischen Bewegungen treten kann, aber es ist ziemlich offensichtlich, dass heute in Frankreich das Sektierertum die größte davon ist. Glücklicherweise gibt es auch revolutionäre Linke, die versuchen, ihre Ideen in die Bewegung einzubringen und dabei zu helfen, La France Insoumise aufzubauen. Aber es könnten mehr sein, denn es steht außer Frage, dass die revolutionäre Stimme weiterhin dringend gebraucht wird. Dies umso mehr, weil die faschistische Gefahr des Front National (FN) keineswegs gebannt ist. Marine Le Pen erhielt in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 10,6 Millionen Stimmen, vier Millionen mehr als beim bisherigen Rekordergebnis der FN. Und obwohl Le Pen im Laufe des Sommers kaum in den Nachrichten vorkam, ist der FN heute stärker denn je. Auch seine interne Krise  ein Vize, Florian Philipott, der innerhalb des FN für eine gewisse »Modernisierung« stand, ist aufgrund von strategischen Auseinandersetzungen aus der Partei ausgetreten – wird den FN kaum schwächen. Infolge der zahllosen islamfeindlichen Kampagnen, teilweise auch von Leuten, die sich als links betrachten, bekommen der FN immer neue Nahrung für seine Hetze. Letztes Jahr war es die moralische Empörung über den sogenannten Burkini. Dieses Jahr wird ein ehemaliger Schulleiter für ein Buch über seinen »Kreuzzug gegen den islamischen Fundamentalismus« an seiner alten Oberschule in den Medien gefeiert. Wie in Frankreich leider zu erwarten, bleiben die Reaktionen von Antirassistinnen und Antirassisten überschaubar. Und La France Insoumise ist in dieser Hinsicht keineswegs besser als die übrige Linke – vielleicht sogar noch schlimmer.

© Carlos Latuff

INTERNATIONALES | Frankreich

Marine Le Pen, Vorsitzende der Front National: Hinter ihrer bürgerlichkonservativen Fassade lauert die Fratze des Faschismus

Im Moment scheint alles möglich. Die entscheidenden Fragen sind, ob es gelingt, die weitverbreitete Wut gegen Macron in eine Bewegung zu überführen, die stark genug ist, den Generalangriff abzuwehren, und ob es La France Insoumise schafft, eine politische Massenbewegung gegen Sozialabbau aufzubauen und sie langfristig zu stabilisieren. Doch egal, wie schnell die Situation sich weiterentwickelt, der Aufbau des Widerstands, gemeinsam mit den vielen neuen Aktiven, sowie die Aufrechterhaltung von Räumen, in denen sich marxistische Ideen verbreiten können, werden die wichtigsten Aufgaben jeder antikapitalistischen Aktivität bleiben. ■

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© aesthetics of crisis / CC BY-NC-SA / Künstler: INO / flickr.com

INTERNATIONALES | Griechenland

»Wir wollen eine Alternative links von Syriza anbieten« Kein anderes europäisches Land traf Krise so hart wie Griechenland. Und nirgends ist der Widerstand größer. Panos Garganas berichtet über die Pläne der Troika, den Kampf gegen Rassismus und erklärt nebenbei, warum man die griechische Linke keinesfalls abschreiben sollte INTERVIEW: Klaus Henning In Deutschland ist es still geworden um die Krise in Griechenland. Wie ist die aktuelle Lage?

Panos Garganas

Die Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF verlangt von Griechenland in den nächsten Jahren einen Haushaltsüberschuss von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und danach einen dauerhaften Überschuss von zwei Prozent. Dieser soll verwendet werden, um die immensen Schulden zurückzuzahlen. Kann das gelingen? Ich glaube nicht, dass die griechischen Schulden jemals »tragbar« sein werden, selbst wenn diese Überschüsse erreicht würden. Aber allein der Versuch, einen Haushaltsüberschuss in dieser Höhe zu erzielen, wird verheerende Folgen für die Arbeiterklasse haben.

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Panos Garganas lebt in Athen. Er ist Mitglied der SEK (Sozialisitische Arbeiterpartei) und des antikapitalistischen Bündnisses Antarsya sowie Herausgeber der »Ergatiki Allilegii« (Arbeitersolidarität).

Welche? In den letzten sieben Jahren gab es bereits 23 Rentenkürzungen  weitere werden folgen. Auch die Nettolöhne sinken immer weiter, nicht zuletzt wegen der vielen Steuererhöhungen. Gerade erst wurde eine weitere Steuerreform verabschiedet, die vor allem Geringverdiener trifft. Bis jetzt galt eine Einkommensgrenze von 1000 Euro im Monat. Diejenigen, die weniger verdienten, mussten keine Einkommensteuer zahlen. Diese Grenze wird nun auf 700 Euro gesenkt. Hinzu kommen massive Kürzungen im öffentlichen Dienst. Seit sieben Jahren werden die Sozialausgaben und die Ausgaben für Schulen und Krankenhäuser gekürzt. Aufgrund der Vereinbarungen mit der Troika gibt es keinerlei Aussicht darauf, dass diese Ausgaben in absehbarer Zeit wieder angehoben werden.


INTERNATIONALES | Griechenland

schaft eine Verringerung der Arbeitslosigkeit eintreten würde. Hierfür gibt es jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Der öffentliche Sektor darf nicht einstellen, denn Teil der Vereinbarung ist, dass für fünf Beschäftigte, die in Rente gehen, nur eine Stelle neu besetzt werden darf. Die Vereinbarungen sehen außerdem massive Privatisierungen vor. Die meisten öffentlichen Unternehmen wurden bereits verkauft, doch es gibt noch Unternehmen in Staatshand. Diese sollen nun auch privatisiert werden. Was bedeuten die Privatisierungen für die Beschäftigten? Jede Privatisierung bedeutet eine Reduzierung von Arbeitskräften. Der einzige Sektor, der momentan wächst, ist die Tourismusbranche, weil Griechenland so billig geworden ist. Der Tourismus entwickelt sich gut, die Arbeitsbedingungen in

Die Stimmung geht zurzeit nicht nach rechts Ästhetik der Krise: Street-Art in Athen

In Deutschland schreiben die Zeitungen, die wirtschaftliche Lage in Griechenland stabilisiere sich. Das ist vollkommen verlogen. Für wen stabilisiert sich denn die Lage? Sie hat sich für die Banker stabilisiert, die bessere Chancen haben, dass ihre Forderungen bedient werden. Aber selbst das ist unklar. Das einzig Sichere ist momentan, dass die Arbeitnehmer den Preis zahlen. Der Niedergang, den Griechenland nach dem ersten Rettungspaket erlebt hat, ist beispiellos. Es hat seither ein Viertel seiner Wirtschaftsleistung verloren. Die Arbeitslosigkeit ist auf 30 Prozent gestiegen. Sind die Löhne nicht irgendwann so niedrig, dass wieder mehr Menschen beschäftigt werden müssten? Alle hofften, dass mit dem Ende der Rettungspakete und einer Erholung der Wirt-

dieser Branche sind allerdings miserabel: kurze Arbeitsverhältnisse, keine Tarifverträge, hohe saisonale Schwankungen, niedrige Löhne und häufig nicht einmal Arbeitsverträge. Diktiert die Troika immer noch unmittelbar die griechische Politik? Die Vereinbarung, die Syriza mit der Troika getroffen hat, sieht alle sechs Monate eine Überprüfung vor. Im Herbst werden die Repräsentanten der Troika wieder nach Griechenland kommen, um eine neue Vereinbarung mit der Regierung zu treffen. Der Schwerpunkt wird dieses Mal eine Reform der Arbeitsbeziehungen sein. Es gibt noch keine konkreten Maßnahmen, aber was wir hören ist, dass es vor allem die Gewerkschaften treffen wird. Ihnen soll es erschwert werden, zu streiken. Sie müssen dann zum

Beispiel Vollversammlungen organisieren und nur, wenn mehr als die Hälfte der Beschäftigten zustimmt, können sie zu einem Streik aufrufen. Was denken die Menschen heute über Syriza? Syriza liegt in den Umfragen bei unter 20 Prozent, die konservative Nea Dimokratia (ND) bei knapp 30 Prozent. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Stimmung nach rechts geht. Syriza hat die Hälfte ihrer Stimmen verloren, die Rechten haben jedoch an absoluten Stimmen nicht hinzugewonnen. Menschen, die Hoffnungen in Syriza hatten, warten ab oder suchen nach linken Alternativen. Einige schauen auf die Kommunistische Partei (KKE), einige auf Laiki Enotita (deutsch: Volkseinheit), eine linke Abspaltung von Syriza, einige auf Antarsya  das antikapitalistische Wahlbündnis, dem auch meine Organisation, die SEK, angehört. Es herrscht große Enttäuschung, aber die Menschen werden nicht passiv oder gehen nach rechts, sie sind weiterhin aktiv. Kann die extreme Rechte weiter von der Krise profitieren? Nein. Und das liegt an der Stärke der Bewegungen gegen Rassismus und Faschismus. Ein Beispiel dafür war ihre Hetzkampagne gegen den Schulbesuch von Geflüchteten. Unter öffentlichem Druck hatte sich die Regierung entschieden, geflüchteten Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Allerdings sollten sie nicht in normale Klassen kommen, sondern von den anderen Kindern getrennt am Nachmittag unterrichtet werden. Die Nazis nutzten diese Schwäche und versuchten in einigen Städten, die Schulen nachmittags zu blockieren. An einer Schule griffen sie eine Versammlung von Lehrkräften an. Unter den Angreifern war auch ein Abgeordneter der Goldenen Morgenröte. Am nächsten Tag gab es eine Gegendemonstration, organisiert von der örtlichen Lehrergewerkschaft. Sie war ein großer Erfolg und motivierte Menschen an anderen Orten, das Gleiche zu tun. Das war eine klare Kampfansage an die Nazis. Die rassistische Kampagne wurde zurückgeschlagen und die geflüchteten Kinder kamen in den Regelunterricht.

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INTERNATIONALES | Griechenland

Was ist aus dem Prozess gegen die Führer der Goldenen Morgenröte wegen des Mordes an dem Antifaschisten Pavlos Fissas geworden?

Gibt es viel rechte Gewalt gegen Geflüchtete und Migranten? Ja, aber auch großen Widerstand. Ein Beispiel dafür waren die Angriffe auf zugewanderte Landarbeiter, insbesondere aus Pakistan, in Aspropyrgos, einem Vorort von Athen. Die Nazibanden operierten, wenn es dunkel wurde. Sie versteckten sich hinter Büschen an unbeleuchteten Straßen und überfielen die Arbeiter, die von den Feldern nach Hause kamen. Etwa 15 Menschen wurden durch Angriffe von Nazis verletzt. Daraufhin organisierte die pakistanische Gemeinde eine Demonstration im Dorf. Das Anti-Nazi-Bündnis KEERFA unterstützte sie. Wir organisierten eine antifaschistische Demonstration genau dort, wo die Angriffe stattgefunden hatten. Die Mobilisierung war gewaltig. Doch die Polizei stand auf der Seite der Faschisten. Wir konnten zwar durch das Dorf demonstrieren und die Landarbeiter konnten sich der Demonstration anschließen, aber als die Demo das Dorf verließ, griff die Polizei uns an. Mehrere Leute wurden verletzt. Wie habt ihr reagiert?

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die Gewerkschaften einen erfolgreichen Generalstreik organisiert. Danach kam es im Juni, als 10.000 bis 15.000 befristet Beschäftigte bei der Müllentsorgung entlassen werden sollten, zu einem weiteren großen Arbeitskampf. Doch je höher man in der Gewerkschaftsbürokratie

Die Syriza-Regierung führt die Kürzungspolitik weiter kam, desto größer wurde der Widerstand dagegen, sich für die Interessen von befristet Beschäftigten und Leiharbeitskräften einzusetzen. Es war die Aktivität an der Basis, die die Gewerkschaftsführung dazu zwang, zum Streik aufzurufen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter besetzten die Mülldeponien. Für zehn Tage fuhr nicht ein einziges Müllfahrzeug hinaus. Es gab riesige Streikversammlungen. Nicht nur befristet Beschäftigte haben sich beteiligt, sondern auch die Festangestellten. Schließlich musste die Regierung die Entlassungen zurücknehmen. Es war ein voller Erfolg, trotz der Versuche, die Bewegung zu spalten.

© aesthetics of crisis / CC BY-NC-SA / flickr.com

Zuerst versuchten die Nazis, sich auf ihre parlamentarische Immunität zu berufen. Dann versuchten sie, die Vorwürfe gegen sie als Lügen darzustellen. Sie behaupteten, dies sei ein politisches Verfahren gegen die Rechte und gegen den griechischen Nationalismus. Aber es wurden hunderte Zeugen angehört und die Beweislast wird immer erdrückender. Jede Aussage hat weitere Belege hervorgebracht, dass die Führung der Goldenen Morgenröte Angriffe und Morde zentral geplant und ausgeführt hat. Der Prozess hat aufgedeckt, dass sie systematisch örtliche Banden aufgebaut hat, um Migranten, Geflüchtete, Gewerkschafter und Linke zu terrorisieren. Die Gerichtsverhandlungen werden noch einige Monate weitergehen. Doch es läuft nicht gut für die Nazis. Kommentatoren erwarten, dass die Angeklagten am Ende verurteilt werden.

Am nächsten Tag haben wir eine Pressekonferenz direkt vor der Polizeiwache organisiert. Danach gab es eine zweite antifaschistische Demonstration. Letztlich war der Druck so groß, dass die Regierung gezwungen war, die Polizei zu veranlassen, die Nazibanden zu verhaften.

Gibt es solche erfolgreichen Streiks öfter?

Street-Art im Athener Stadtteil Exarchia: Ein obdachloser Weihnachtsmann als Sinnbild für die humanitäre Krise in Griechenland

Danach endeten die Angriffe. Es ist ein großer Erfolg der Bewegung, dass trotz der sozialen Krise der Antifaschismus und Antirassismus in der Bevölkerung so stark sind. Wie steht es um die sozialen Kämpfe und den Widerstand in den Betrieben? Gibt es Erfolge? Und welche Rolle spielen die Gewerkschaften? Als im Zuge der zweiten Überprüfung der Troika im Mai ein neues Sparpaket vom Parlament verabschiedet wurde, haben

Ja, im Juli fanden auch Streiks von Hotelbeschäftigten und in Restaurants statt. Im gleichen Monat streikten auch die Beschäftigten im Einzelhandel gegen die Erweiterung der Ladenöffnungszeiten. In einer Fabrik für Plastiktüten am Stadtrand von Athen kämpften die Beschäftigten erfolgreich für bessere Arbeitsbedingungen. In den Krankenhäusern gab es eine ganze Welle von Arbeitskämpfen für mehr Personal, die in Thessaloniki begann und dann mehrere Städte erfasste. Das sind alles nur einzelne Beispiele von Widerstand, aber in der letzten Zeit hatten wir viele davon. Wie erklärst du dir das? Es gibt einen hohen Grad an Aktivismus in der griechischen Arbeiterklasse und dieser Faktor ist sehr entscheidend. Als Syriza in die Regierung ging, dachten viele, dies sei das Ende der Opposition ge-


INTERNATIONALES | Griechenland

Das ist nur die subjektive Lage der Linken. Die objektiven Möglichkeiten sind nicht schlecht. Vor kurzem hat eine große Zeitung, die Syriza nahesteht, eine interessante Wahlumfrage durchgeführt. Sie befragten die Leute nicht nur, wen sie wählen würden, sondern sie fragten: Welche Partei würden Sie mit achtzigprozentiger Sicherheit wählen und welche Partei mit fünfzigprozentiger Sicherheit? Somit gaben sie den Befragten eine Chance zu artikulieren, wohin sie tendieren. Wenn man sich die Ergebnisse für die radikale Linke  KKE, Laiki Enotita, »Kurs der Freiheit« und Antarsya  anschaut, dann kommt sie zusammen auf knapp 25 Prozent. Das bedeutet ein Viertel der Wählerinnen und Wähler kann sich vorstellen, Parteien links von Syriza zu wählen. Das ist ein Indikator dafür, dass ein großer Teil der Bevölkerung mit Syriza gebrochen hat, sich jedoch weiterhin als links versteht, nun seinen Blick auf die radikale Linke richtet und schaut, was dort passiert.

gen die Austeritätspolitik. Immerhin gab es nun eine Regierung der Linken. Doch sie irrten sich, denn die Kürzungspolitik wurde in verschärfter Form weitergeführt. Das beständig hohe Niveau an Arbeitskämpfen ist auch der Grund, warum nun die Arbeitsbeziehungen reformiert und das Streikrecht eingeschränkt werden soll. Die Regierung sieht, dass die Gewerkschaften geschwächt werden müssen, um die Vereinbarungen mit den Gläubigern umzusetzen. Kam die Rechtswende von Syriza überraschend? Nicht so sehr, wie oft behauptet wird. Die Führung der Partei besteht aus Leuten, die ihre politischen Wurzeln in Synaspismos haben. Das war der rechteste Teil dessen, was man als breitere Linke bezeichnen kann.

Bis zum Beginn des Regierungseintritts hat Syriza neue Mitglieder gewonnen. Zwar nicht in dem Maße, wie sie Stimmen bei Wahlen gewann  innerhalb kürzester Zeit stiegen damals die Wahlergebnisse von drei auf fast 30 Prozent , aber sie konnte ihre Mitgliederzahl etwa verdoppeln. Heute hat Syriza fast die Hälfte der Stimmen und sehr viele Mitglieder verloren. Einige bildeten die neue Partei Laiki Enotita oder gingen in die Partei der ehemaligen linken Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou, »Kurs der Freiheit«. Also konnte die radikale Linke vom Niedergang von Syriza profitieren? Wie setzt sie sich heute zusammen? Die größte Organisation der radikalen Linken ist nach wie vor die Kommunistische Partei. Sie ist zwar sehr gut organisiert, allerdings auch ziemlich sektiererisch. Deswegen hat sie, trotz der Chancen durch die Krise von Syriza kaum neue Leute anziehen können. Laiki Enotita hingegen ist leider sehr geprägt von einem Gefühl der Enttäuschung. Ihre Führung war ein wichtiger Teil von Syriza. Sie hatte zunächst die Hoffnung, die Partei kontrollieren zu können. Deswegen haben sie sich erst sehr spät dazu entschieden, sich abzuspalten. Als sie es im

© European Council President / CC BY-NC-ND / flickr.com

Wie steht die Partei heute da?

Keine Chance. Ministerpräsident Alexis Tsipras (l.) im Gespräch mit dem Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Rande eines EU-Sondergipfels. In den Verhandlungen mit der EU konnte sich die Syriza-Regierung nicht durchsetzen

Sommer 2015 schließlich taten, ging ein Drittel des Zentralkomitees von Syriza in die neue Partei und sie hofften, viele Parteimitglieder und Wählerinnen und Wähler mitziehen zu können. Doch das trat nicht ein. Bei der Parlamentswahl bekam Laiki Enotita weniger als drei Prozent und verpasste damit den Einzug. Das war die zweite große Enttäuschung. So ist die Partei bis heute von einer tiefen Demoralisierung geprägt. Das klingt nicht nach Aufbruchsstimmung. Welche Potenziale siehst du für die Opposition links von Syriza?

Was ist deine Vorstellung, wie die griechische Linke den Widerstand aufbauen und ausbauen kann? Ich plädiere dafür, dass es gemeinsame Aktivitäten der gesamten Linken geben muss, um eine Alternative links von Syriza anzubieten. Das bedeutet, dass wir gemeinsam die Streiks und die antirassistischen und antifaschistischen Bewegungen aufbauen müssen. Während wir das tun, können wir über ein alternatives Programm diskutieren. Meine Organisation, die SEK, unterstützt das Bündnis Antarsya, das nicht nur mit den Vereinbarungen der Gläubiger brechen will, sondern auch mit dem Kapitalismus. Darüber hinaus setzen wir uns dafür ein, mit der KKE und Laiki Enotita eine offene Debatte darüber zu führen, was für ein Programm den Bewegungen nützlich sein kann. Wir müssen zu einer Einheit der Linken kommen, um eine Alternative für die vielen Menschen anzubieten, die nun auf uns schauen. Diese Leute wurden von Syriza verraten und enttäuscht, aber sie wollen weitergehen. Wir müssen gemeinsam versuchen, diesen Wunsch wahr werden zu lassen. ■

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GEschichte | 50 Jahre 1968

Es geht um die Revolution »Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren«. Das Transparent mit diesem Slogan ist eines der Symbole der 68er-Bewegung. Anlässlich des 50. Jahrestages der Aktion damit erinnert der ehemalige SDSAktivist Volkhard Mosler an das Hauptziel von damals: Den Sturz des Kapitalismus

Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21 und war 1968 Mitglied im Vorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in Frankfurt am Main.

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fen propagierte. Die Auseinandersetzung um 1968 ist deswegen auch eine politische Auseinandersetzung um die Legitimität von Rebellion und Revolution. Dieser Deutungskampf begleitet den 50. Jahrestag von 1968.

Ich mag das Bild als Symbol der ersten Phase der Bewegung, nämlich der Phase des Kampfes um Mitbestimmung und gegen reaktionäre Professoren aus der Nazizeit. Doch ging es uns damals um viel mehr. Wir wollten den Kapitalismus durch revolutionäre Aktion stürzen. Rudi Dutschke war vor allem deshalb so verhasst, weil er vor Massenversammlungen von Studierenden und Jugendlichen die Notwendigkeit und Legitimität revolutionärer Umwälzung of-

Wenn ich heute den Vorsitzenden der AfD, Jörg Meuthen, höre, der dem »versifften links-rot-grünen 68er Deutschland« den Kampf ansagt, fühle ich mich an die damalige Zeit erinnert. Denn diese konservativ-reaktionäre oder auch konterrevolutionäre Lesart von 1968 war im Frühjahr 1968, auf dem Höhepunkt der Revolte, die bestimmende. Es war die Zeit, als der Berliner Senat unter Führung rechter Sozialdemokraten, die Universitätsleitungen, die Polizei und die Springer-Presse zusammen die Berliner Bevölkerung gegen die stärker werdende Bewegung aufhetzten: »Jagt die Krawall-Radikalen zum Tempel hinaus« (Berliner Morgenpost), »die Geduld der Stadt ist am Ende« (Regierender Bürgermeister von Berlin) und »Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen« (B.Z.) sind nur die Spitze des Eisberges. In der so erzeugten Pogrom-Stimmung kam es zum Mordversuch an Rudi Dutschke, dem damals populärsten Sprecher der Rebellion, nur fünf Mo-

nter den Talaren – Muff von 1000 Jahren« – das stand auf dem Transparent, das die Studenten und AStA-Vorsitzenden Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer am 9. November 1967 in der Universität Hamburg bei der Rektoratsübergabe in der Öffentlichkeit enthüllten. Ein Foto von diesem Ereignis wurde seitdem vielfach abgedruckt. Der Text des Transparents wird heute als eine der Kernparolen der 68er-Bewegung interpretiert. Ich habe das Hamburger Transparent erst viel später wahrgenommen. Die Aktion war zu diesem Zeitpunkt eine unter vielen, keineswegs so wichtig, wie sie in den Medien dargestellt wird. Ein guter Spruch, eine gute Aktion, aber keine Aktion von größerer Bedeutung.


© wikimedia

GEschichte | 50 Jahre 1968

Springer fordert die »Ergreifung« der Rädelsführer

nate nach der Transparentaktion vom 9. November 1967, am Karfreitag 1968. Ich hatte als einer von fünf Frankfurter Delegierten an der SDS-Delegiertenkonferenz im September 1967 teilgenommen. Auf der Versammlung wurde eine Kampagne »Enteignet Springer« beschlossen. Ich war skeptisch bis ablehnend. Die Kampagne wurde ein halbes Jahr später wieder beerdigt, weil sie nicht abgehoben hatte. Aber durch das Attentat auf Dutschke einige Monate später erwies sie sich als ungeplante Vorbereitung der bundesweiten Springer-Blockade nach dem Attentat, den mehrtägigen Behinderungen und Verhinderungen der Auslieferung der BILD-Zeitung, die an der Spitze der Hetzkampagne gegen Dutschke gestanden hatte. Nach dem Attentat waren wir schockiert. Parallelen zur Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts 1919 waren nicht zu übersehen. Meuthen und die AfD hätten sich 1968 in guter Gesellschaft gewusst. So wie der Attentäter von Rudi Dutschke, der NPD-Sympathisant Josef Bachmann, sich damals in guter Gesellschaft der Springer-Presse wähnen konnte, die kurz vor Bachmanns Attentat die Bevölkerung zur »Ergreifung« der Rädelsführer aufgerufen hatte. Bachmann auch Ausschnitte aus der

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GEschichte | 50 Jahre 1968

© wikimedia

Deutschen National-Zeitung bei sich, darunter die Titelzeile »Stoppt den roten Rudi jetzt« und Zeitungsfotos von Dutschke.

Rudi Dutschke war der wohl populärste Sprecher der 68-Rebellion und einer der prägenden Aktivisten der deutschen Studentenbewegung

Mit den Jahren verblasste die konservativ-reaktionäre Wut auf die roten 68er. Meuthens heutigem Kampfaufruf haftet daher etwas Anachronistisches an. An die Stelle der Wut trat als vorherrschende Lesart eine liberal-bürgerliche. Sie lebt von den zahlreichen 68ern, wirklichen und eingebildeten, die sich von ihren »Jugendsünden« distanzieren, aber den lockeren Lebensstil, ein Nebenprodukt der Rebellion, nicht missen wollen. Der reuig heimgekehrte verlorene Sohn war schon immer eine Lieblingsgestalt der herrschenden Eliten und so sind die in den Grünen und der Sozialdemokratie vernünftig gewordenen früheren Rebellinnen und Rebellen mit Minister- und Staatssekretärsposten oder auch als Gewerkschaftsführer reichlich entlohnt worden. Die meisten haben den Weg akademischer Karrieren gewählt und sind so zu Amt und Würde gekommen. Andere verkaufen ihre reuige Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft als Zeitzeugen ihrer eigenen Irrtümer und sind heute als Ankläger gegen revolutionäre Ideen gern gesehen und gut honoriert, wie Götz Aly, Peter Horvath und Wolfgang Kraushaar. Ihre Klageschriften reichen vom Vorwurf des Antisemitismus, des Antiamerikanismus, des Nationalismus und der Nähe zur Tradition des deutschen Faschismus bis hin zur Stasihörigkeit. Die 68er-Bewegung in Deutschland hat viele ideologische Schwächen gehabt, die ihren Zerfall beschleunigten. Aber die hier aufgezählten Untugenden gehören nicht dazu. Auch der Vorwurf gegen Dutschke und andere, sie seien die geistigen Väter der RAF gewesen, sind nicht gerechtfertigt. Für mich ist klar: Die Angriffe auf die 68er-Bewegung haben eine andere Ursache. Die Gründe, die zur Rebellion geführt hatten, der Kampf gegen die Gefahr einer Rückkehr des Faschismus, eingeleitet durch Notstandsgesetz und Entdemokratisierungsprozesse des bürgerlichen Staates, imperialistische Kriege und Aufrüstung, Armut und Unterdrückung der Dritten Welt, bestehen nicht nur weiter, die Widersprüche haben sich verschärft. Neue Widersprüche wie die sich abzeichnende Klimakatastrophe, Aufbau neuer atomarer Drohpotentiale und neue Rüstungswettläufe, Dauerkriege in Mittleren Osten und Teilen Afrikas sind untrügliche Anzeichen für eine bedrohliche Zuspitzung des zentralen Widerspruchs von Produktivkräften und ka-

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pitalistischen Produktionsverhältnissen. Jene, die heute die 68er-Bewegung angreifen, wollen die Legitimität revolutionärer Kapitalismuskritik heute beschädigen. Darum wird es Zeit, dass all jene 68er sich zu Wort melden, die die Notwendigkeit der Beerdigung des Kapitalismus mittels revolutionärer und internationaler Klassenkämpfe weiter verfolgen. All jene, die der liberalen Verharmlosung der 68er-Bewegung in eine Demokratiebewegung wider Willen widersprechen. Einer von denen, die das tun, ist Karl Dietrich Wolff, 1967/8 SDS-Bundesvorsitzender.

Die 68erBewegung hatte viele Schwächen Ich habe »KD«, so nannten wir ihn, wohl weil das Karl Dietrich allzu altbacken klang, auf der Delegiertenkonferenz 1967 mit gewählt, zusammen mit seinem jüngeren Bruder Frank als zweitem Bundesvorsitzenden. Ich erinnere mich, dass KD – er hatte damals schon Kontakte zu den Black Panthers – mich damit beauftragte, einen Deserteur der USArmee, einen »GI« zu betreuen, von denen damals viele mit Unterstützung des SDS nach Schweden gebracht wurden. In einem Interview aus dem kürzlich erschienenen Buch »Das Jahr der Revolte, Frankfurt 1968« von Claus Jürgen Göpfert und Bernd Messinger spricht Wolff der Partei der Grünen ab, die legitimen Erben der 68er-Bewegung zu sein. Sie seien schon in »gewisser Weise« Erben der 68er geworden. Doch dieses politische Erbe hält er für unverdient: »Der eine erbt was, der andere wird enterbt.« Er hält sie für eine »bürgerliche Entartung der alten revolutionären Ideale«, so zitieren ihn Göpfert und Messinger. Er sei damals ebenfalls gefragt worden, ob er für die Grünen als Landtagsabgeordneter kandidieren wolle. »Habt ihr einen Knall?« habe er geantwortet. Er hält am Ziel des Umsturzes der kapitalistischen Verhältnisse fest, die wir uns auf die Fahnen geheftet hatten. Und er setzt darauf, »dass es eine neue Bewegung zum Umsturz der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse» geben könnte. Alle paar Jahrzehnte sei es so weit. »Die nächste Revolte wird kommen.« Recht hat er. Sorgen wir dafür, dass es diesmal besser ausgeht. Auch indem wir aus den realen Schwächen der 68er-Bewegung lernen. Aber das ist ein Kapitel oder eher Buch für sich. ■


BETRIEB UND GEWERKSCHAFT | Krankenhaus

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BETRIEB UND GEWERKSCHAFT | Krankenhaus

Wenn ver.di wollen würde

© facebook.com/pflegestreiksaar

Die Pflegestreiks für mehr Personal kurz vor der Bundestagswahl haben gewaltige Schlagkraft bewiesen. Doch es wäre wesentlich mehr drin gewesen, wenn die kampfbereite Basis nicht ständig ausgebremst würde Von HEINZ WILLEMSEN

Heinz Willemsen ist Mitarbeitervertreter in einem diakonischen Sozialkonzern. Er ist Mitglied von ver.di und der LINKEN.

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ast den gesamten Wahlkampf dominierten die Themen der AfD. Doch dann brachte ein 21-jähriger Auszubildender Angela Merkel in der ARD-Wahlarena mit seinen Fragen zum Pflegenotstand gehörig ins Schwitzen. Eine Woche später streikte das Personal in acht Krankenhäusern im ganzen Land. Kurz vor der Wahl war damit auf einmal das Thema Personalnot im der Pflege ganz vorne auf der politischen Agenda. Zumindest kurzzeitig wurden die Debatten um Flüchtlinge, Terror und Islam verdrängt und die Anliegen der streikenden Pflegekräfte auf die Tagesordnung gesetzt: die katastrophale Personalsituation in den Kliniken und der wachsende Widerstand dagegen. Ein gut funktionierendes Gesundheitssystem steht bei den meisten Menschen ganz oben auf der Prioritätenliste. Und nach wie vor teilt die große Mehrheit der Bevölkerung die Meinung, dass wenn es um Gesundheit geht, Markt und Profitstreben privater Konzerne dort nichts zu suchen haben. Woran es allerdings mangelt, ist eine Handlungsmöglichkeit, die diesen Grundkonsens in politische Aktion bringt. Mit dem Beschluss der Gewerkschaft ver.di im Wahljahr 2017 eine bundesweite Bewegung für mehr Personal und Entlastung im Krankenhaus zu starten, ist diese Handlungsoption in greifbare Nähe gerückt. Und die Voraussetzungen sind gut: Die aktuelle Lage auf dem Arbeitsmarkt – Stichwort Fachkräftemangel – stärkt das Selbstbewusstsein der Beschäftigten, insbesondere in der Pflege. Gerade viele junge Beschäftigte merken, dass sie sich nicht alles bieten lassen müssen. Die Beschäftigten an der Berliner Charité hatten es vorgemacht. Nach einer jahrelangen

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Auseinandersetzung für mehr Personal kam es dort 2015 zu einem elftägigen Streik, in dessen Folge ein Haustarifvertrag zum Thema Entlastung beschlossen wurde, der eine Personalaufstockung in der Pflege vorsah. Mit dem Erfolg an der Charité regten sich überall in der Republik ver.di-Betriebsgruppen, die dem Berliner Beispiel folgen wollen, um mit betrieblichen Kämpfen letztlich eine gesetzliche Mindestpersonalbemessung zu erzwingen. Dabei können die Krankenhausbeschäftigten auf ein historisches Vorbild zurückblicken: den Konflikt um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in den 1950er Jahren. Eine sechzehn-wöchige Streikbewegung in SchleswigHolstein hatte damals die Bundesregierung so unter Druck gesetzt, dass sie schließlich auch für Arbeiterinnen und Arbeiter die Lohnfortzahlung gesetzlich regelte. Die Pflegestreikbewegung 2017 machte zunächst Station im Saarland. Der Landesfachbereich von ver. di hatte beschlossen eine Bewegung für einen Tarifvertrag »Entlastung« für alle 21 Krankenhäuser des Bundeslands zu starten. Unmittelbar vor der Landtagswahl im März sollte die Landespolitik maximal unter Druck gesetzt werden. Kein Wahlkämpfer würde sich öffentlich gegen eine gute Gesundheitsver-


BETRIEB UND GEWERKSCHAFT | Krankenhaus

sorgung und Pflege mit ausreichend Personal stellen. Die Strategie ging auf und erwies sich als ungeheuer mobilisierend. Die Streikdrohung, der sich sogar katholische Krankenhäuser anschlossen, mischte kurz vor der Wahl die Landespolitik auf. Ohne sie wäre es wohl kaum möglich geworden, dass eine CDU-Landesregierung eine Bundesratsinitiative für mehr Personal im Krankenhaus einbringt. Allerdings war der von den Berlinerinnen und Saarländern eingeschlagene Weg, auf betrieblicher Ebene für mehr Personal zu kämpfen, in ver.di lange Zeit alles andere als unumstritten. Viele innerhalb der Gewerkschaft fürchteten, dass der Organisationsgrad in den Krankenhäusern viel zu niedrig für einen solchen Konflikt sei. Eine Mehrheit setzte stattdessen auf außerbetriebliche Kampagnen und Lobbypolitik bei der Großen Koalition für eine gesetzliche Personalregelung. »Unsere Freunde von der SPD in der Regierung werden das schon richten«, so die Annahme. Aber außer etwas Symbolpolitik haben die Gespräche in den Vorzimmern der Bundesregierung nichts gebracht. Dagegen konnten die Streikenden an der Charité mit handfesten Erfolgen aufwarten. Und kein Klinkenputzen bei den Parteien hat so viel mediale Aufmerksamkeit für die Anliegen der Pflegenden erzeugt, wie die Tarifbewegung im Saarland. Schließlich hatten auch die Skeptiker innerhalb von ver.di nachgegeben. Was die Charité und das Saarland vorgemacht hatten, sollte nun in einer bundesweiten Tarifbewegung »Entlastung« im Vorfeld der Bundestagswahl fortgesetzt werden. Zwanzig Krankenhäuser im ganzen Land sollten gleichzeitig streiken. Zudem sollten an mindestens 80 weiteren Häusern, den sogenannten Druckbetrieben, die Streikenden mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie dem »Händedesinfektionstag« unterstützt werden. Dabei geht es darum aufzuzeigen, wieviel Personal auf den Stationen fehlt, indem einen Tag lang alle Vorschriften zur Desinfektion eingehalten werden. Das Kalkül ist, dass die Arbeitgeber ihre Belegschaften nicht öffentlich auffordern können, bei der Händedesinfektion zu schlampen, damit die Arbeit geschafft werden kann.

vorbereitet, wissen kaum wohin die Reise geht und können den Belegschaften vor Ort keine Orientierung geben. Nun gibt es an diesem Kompromiss durchaus einiges zu kritisieren. Aber es wäre schon ein Erfolg gewesen, wenn er denn wenigsten konsequent umgesetzt worden wäre. Doch die Auswahl der Streikhäuser zog sich quälend lange hin, während die Bundestagswahl immer näher rückte. Statt eine Koalition der Willigen zu formen und die streikstarken Häuser mit aktiven Betriebsgruppen, in den Konflikt zu schicken, wurde die Auswahl nach undurchschaubaren und bürokratischen Proporz-Kriterien getroffen. Viele aktive Betriebsgruppen blieben frustriert außen vor. Belegschaften wie bei den Vivantes-Kliniken in Berlin, die sich schon länger auf diese Auseinandersetzung vorbereitet hatten, wurden hingehalten und schließlich nicht unter die Streikbetriebe aufgenommen. Das Zurückweisen von konfliktfähigen und -willigen Betriebsgruppen ist umso unverständlicher, als dass es letztlich nicht einmal gelang, die 20 Krankenhäuser zusammenzubekommen. Am Ende wurden nur 16 Kliniken ausgewählt, von denen wiederum nur die Hälfte am 19. September auch tatsächlich streikte. Auch die Bilanz der Aktionen in den Druckbetrieben fällt gemischt aus. Dort, wo die ver.di Sekretärinnen und Sekretäre sich aktiv für das Gelingen der Aktionen einsetzten, waren sie durchaus erfolgreich und erzielten gute mediale Resonanz. Doch das war leider keineswegs überall der Fall.

Auch katholische Kliniken wollten streiken

Von Anfang an war das Paket aus 20 Streik- und 80 Druckbetrieben ein Kompromiss zwischen widerstreitenden Interessen innerhalb der Gewerkschaft. Auf der einen Seite stehen starke Betriebsgruppen, die nach vorne drängen und lokale Sekretäre, die ihre Krankenhäuser erfolgreich auf die Auseinandersetzung einstimmen. Andererseits sind aber viele Sekretäre auch überhaupt nicht auf den Konflikt

Trotz der geringen Zahl von Streikhäusern war die Wirkung groß. Der Streik hat gezeigt, welches Potential in einer koordinierten Arbeitskampfaktion der Krankenhäuser für mehr Personal steckt. Hätte ver. di ihre Ankündigungen wahrgemacht, wäre jedoch noch wesentlich mehr drin gewesen. Aber noch immer scheint die Gewerkschaft sich zu scheuen, den Konflikt zuzuspitzen und so die Politik wirklich zum Handeln zu zwingen. Dass es anders nicht geht, ist angesichts der Tragweite der Forderungen zwar offensichtlich, aber die Bande zwischen Gewerkschaftsführung und SPD sind wohl immer noch zu eng und die Konfliktscheu der ver.di-Spitze zu groß, als dass sie sich auf eine ernsthafte Konfrontation einlassen würde. Seit der Bundestagswahl ist die Perspektive, dass mit etwas Druck die »Freunde von der SPD« helfen eine Personalbemessung durchzusetzen, endgültig Geschichte. Ver.di muss jetzt endlich die Betriebsgruppen ranlassen, die längst nach vorne drängen. Streik ist der Schlüssel zum Erfolg. ■

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100 Jahre Oktoberrevolution

SCHWERPUNKT

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Was war die Oktoberrevolution? Von der Revolution zur Machtübernahme

Der Kampf um Frauenrechte Was die Oktoberrevolution den Frauen brachte und was danach geschah

Große Hoffnung, tiefer Fall Warum Stalin die Revolution verraten konnte

Die Bolschewiki Lenins Parteitheorie und die Rolle der Organisation

Alexandra Kollontai Wie Frauen die Revolution beinflussten

Der neue sowjetische Film Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« bringt die Revolution ins Kino


Schwerpunkt | 100 Jahre Oktoberrevolution

Wir können gewinnen Der Kapitalismus kann gestürzt werden. Darum bietet die Oktoberrevolution auch nach 100 Jahren noch Anlass zur Hoffnung

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von JAN MAAS

ie Oktoberrevolution abfeiern? Ernsthaft? Tun das nicht nur Ewiggestrige, Entrückte und Stalin-Fans? Es stimmt: Auf den ersten Blick hat die Welt von vor 100 Jahren mit der Welt von heute wenig bis gar nichts zu tun. Und unter Stalins Regime starben – auch wenn die genauen Zahlen umstritten sind – Millionen an vermeidbaren Hungerkatastrophen, in den Arbeitslagern und Gefängnissen. Dennoch: Die Oktoberrevolution ist und bleibt das größte Ereignis der Menschheitsgeschichte.

on. Zweitens die Vernichtung der russischen Arbeiterklasse durch den Bürgerkrieg, angeheizt von den Herrschenden weltweit. Diese Umstände leiteten den Verfall der Revolution ein. Sie werden sich so nicht wiederholen. Heute haben sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht nur auf den ganzen Erdball ausgedehnt, sondern sie haben sich nahezu sämtliche Aspekte menschlichen Daseins untergeordnet. Bildung, Gesundheit, Wasser – fast alles ist zur Ware geworden. Gleichzeitig droht der Kapitalismus den Planeten zu zerstören. Das ist einerseits beängstigend, andererseits bedeutet es aber auch, dass eine weltweite Arbeiterklasse entstanden ist, die rund um den Globus unter ähnlichen Bedingungen lebt und arbeitet.

Das größte Ereignis der Geschichte der Menschheit

Nicht, weil sie zu paradiesischen Verhältnissen führte, sondern weil sie lehrt, dass die Unterdrückten gewinnen und ihr Leben in die eigene Hand nehmen können. Arbeiterinnen und Soldaten, zum größten Teil kaum des Lesens mächtig und unter unwürdigen Bedingungen lebend, zwangen einen Polizeistaat in die Knie, der noch kurz zuvor Tausende von ihnen niedermetzeln ließ, wenn sie zu protestieren wagten, und der im Ersten Weltkrieg Hunderttausende in den sicheren Tod an der Front schickte. Was dann folgte, war trotz aller Beschränkungen die umfassendste Befreiung der Menschheit bis dahin: Die Arbeiterklasse übernahm die Kontrolle der Fabriken, die Bauernschaft teilte den Grundbesitz auf. Frauen erhielten das Recht auf Scheidung und Abtreibung, homosexuelle Handlungen standen nicht länger unter Strafe. Die Liste fortschrittlicher Maßnahmen ließe sich noch fortführen. Entscheidend ist: Die meisten dieser Freiheiten genießt der größte Teil der Menschheit heute nicht. Dass dieser einmalige Aufbruch in den Stalinismus mündete, dafür sind in erster Linie einmalige historische Umstände verantwortlich: Erstens die Isolation Russlands nach dem Scheitern der Aufstände im übrigen Europa, vor allem der deutschen Revoluti-

JAN MAAS ist Redakteur von marx21 und Verfasser eines ausführlichen Artikels über den Aufstieg Stalins im Theoriemagazin theorie21.

Dass auch unter diesen Bedingungen Revolutionen noch auf der Tagesordnung stehen, hat zuletzt der arabische Frühling gezeigt. Es waren die Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter in den riesigen Baumwollspinnereien und -webereien Ägyptens, die Mubaraks Regime 2011 schließlich zu Fall brachten. Der arabische Frühling hat auch in Erinnerung gerufen, dass Revolutionen nicht von Parteien oder Geheimbünden gemacht werden, sondern spontan aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft entstehen. Ob solche Revolutionen erfolgreich sind oder nicht, das hängt allerdings schon davon ab, welche Kräfte und Organisationen in die Klassenkämpfe eingreifen. Ohne die Bolschewiki beispielsweise hätte es 1917 zwar die Februarrevolution – den Sturz des Zaren –, aber nicht die Oktoberrevolution – den Sturz des Kapitalismus –, gegeben. Und das ist die zweite Lehre aus dem Roten Oktober: sich zu organisieren, noch bevor sich die Widersprüche in der Gesellschaft zuspitzen. ■

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Schwerpunkt | 100 Jahre Oktoberrevolution

Die Oktoberrevolution wird oft verteufelt: Putsch einer Minderheit und erster Schritt auf dem Weg in die Diktatur, so die häufigsten Vorwürfe. Tatsächlich handelte es sich um einen demokratischen Akt von Stefan ZieFle 54 |

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Schwerpunkt | 100 Jahre Oktoberrevolution

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n der Nacht zum 26. Oktober 1917 übernahm der neu gewählte Allrussische Kongress der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte die Regierungsgewalt in Russland. Zum ersten Mal in der Geschichte herrschten nun die Werktätigen selbst in einem Land. Die neue Regierung der Bolschewiki begann sofort, die Forderungen der Revolution umzusetzen: Sie verstaatlichte den Großgrundbesitz von Adel und Kirche und übertrug die Verteilung des Landes den lokalen Sowjets. Sie begann sofort mit Friedensverhandlungen, die schließlich im Separatfrieden mit dem Deutschen Reich mündeten. Sie eröffnete allen Minderheiten des Landes die Möglichkeit, sich vom russischen Staat abzutrennen. Sie beseitigte die Vorrechte der russisch-orthodoxen Kirche und schuf Religionsfreiheit. Das bedingungslose Recht auf Scheidung und Abtreibung wurde eingeführt, das Verbot von Homosexualität aufgehoben. Alle diskriminierenden Regelungen gegen Juden wurden beseitigt. Für eine kurze Zeit wurde Russland zur fortschrittlichsten Gesellschaft der Welt. Die Herrschenden aller Länder begegneten dieser neuen Regierung in Russland von Anfang an mit Hass. Die Propagandakampagne gegen die Revolution hält bis heute an. Zentraler Vorwurf ist, dass die Oktoberrevolution in Wirklichkeit ein Putsch gewesen sei. So schreibt beispielsweise der »Spiegel«, sie sei »kaum wahrgenommen vom Gros der Einwohner Petrograds, durchgezogen von kaum mehr als ein paar tausend Aufständischen (mehr brauchte es nicht, um die rückhaltlose Regierung zu stürzen).« Es ist richtig, dass am 25. Oktober keine Massenproteste auf der Straße und keine Massenstreiks stattfanden. Beides hatte es bereits im Mai und Juni gegeben, jeweils mit der Forderung an die Sowjets, die Macht zu übernehmen. Aber diese, zu jenem Zeitpunkt von rechten Menschewiki und Sozialrevolutionären dominiert, weigerten sich und unterstützten stattdessen eine bürgerliche Regierung. Die Proteste liefen ins Leere, weil die Mehrheit der Bevölkerung außerhalb der Hauptstadt Petrograd noch den Versprechen der rechten Flügel der sozialistischen Parteien glaubten. Diese Illusionen lösten sich bis zum Oktober auf.

Bevölkerung und der Armee keine Unterstützung mehr hatte. Die Mehrheit der Bäuerinnen und Bauern, die wiederum rund 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten, hatte sich von den Land- und Dorfkomitees aufwärts bis in die Bauernsektion des Allrussischen Sowjetkongress für eine Aufteilung des Großgrundbesitzes ausgesprochen. Dies war eine Überlebensfrage für viele arme Kleinbauern. Die Regierung weigerte sich nicht nur, irgendwelche Schritte in diese Richtung zu unternehmen, sondern unterstützte die Großgrundbesitzer im Kampf gegen die Bauern. Die Armee hatte seit Frühjahr 1915 nur noch Niederlagen und Rückzüge erlebt. Jede Offensive endete Glossar im Desaster. Die Soldaten wollLENIN Wladimir Iljitsch Uljanow, beten nicht mehr kannt geworden unter dem kämpfen, zuPseudonym Lenin, war eines der mal ihnen immer frühesten Mitglieder der Sozialdeutlicher wurdemokratischen Partei Russlands. Er trat 1903 vehement für deren de, dass sie ihr Spaltung ein, um sicherzustellen, Leben für die Indass eine Partei existierte, die sich teressen der Kapitalisten opferten. Die nicht von bürgerlicher Ideologie Regierung hingegen versuchte mit allen würde lähmen lassen. Insofern gilt er zu Recht als Begründer des Mitteln, den Krieg bis zum Sieg fortzuBolschewismus. setzen. Kerenski Nahrungsmittelspekulation füllte die Alexander Kerenski war RechtsTaschen einiger Kapitalisten, verschärfanwalt, der sich einen Namen te aber den Hunger in den Arbeiterals Verteidiger von angeklagten Revolutionären gemacht hatvierteln. Gleichzeitig sabotierten einige te. Nach der Februarrevolution Fabrikbesitzer absichtlich die Produktiwurde er zunächst Justizminison, um Entlassungen und Aussperrunter, dann Kriegsminister. In dieser gen rechtfertigen zu können. Das KapiFunktion organisierte er die sogenannte Kerenski-Offensive, die im tal war entschlossen, so die Revolution Juli kolossal scheiterte. Danach zu schwächen, schließlich die Regierung wurde er Ministerpräsident. zu stürzen und durch eine MilitärdiktaKORNILOW tur zu ersetzen. Ende August scheiterte Lawr Kornilow wurde im Februein entsprechender Versuch des Oberar 1917 zum Garnisonskommankommandierenden des Heeres, General deur von Petrograd ernannt, um die Revolution niederzuschlagen. Lawr Kornilow, am Widerstand auf der Im Juli wurde er OberkommanStraße. deur der russischen Armee. Ende Die Regierung weigerte sich, gegen August scheiterte ein Putschverdas Kapital vorzugehen. Sie hoffte, den such unter seiner Führung. Leo Trotzki sagte, wenn dieser gelunDruck von oben als Mittel gegen die Argen wäre, wäre das Wort für Fabeiterinnen und Arbeiter, Soldaten und schismus ein russisches geworBäuerinnen und Bauern nutzen zu könden und kein italienisches. nen. Sie löste keines der brennenden Kongress der Sowjets Probleme der Bevölkerung, verzögerSowjet ist das russische Wort für Rat. Die Bezeichnung wurde erstte alle revolutionären Maßnahmen, bemals in der Revolution von 1905 kämpfte jegliche Initiative von unten. geprägt, als Arbeiterkomitees Mitte Oktober war die Beliebtheit des Machtfunktionen ausübten. Der Ministerpräsidenten Alexander Kerenski Allrussische Kongress war die Versammlung der Vertreter der Beund aller, die ihn in den Sowjets unterzirks- und Armeesowjets. Der ersstützten, auf dem Nullpunkt angelangt. te Rätekongress trat im Juni 1917 Die Frage, die sich den Menschen stellte, zusammen, der zweite, mit deutwar: Wie und wann dieses Regime ersetlich veränderten Mehrheitsverhältnissen, am 25. Oktober. zen, so dass der Konterrevolution vom

Die fortschrittlichste Gesellschaft der Welt

In der Nacht zum 25. Oktober besetzten dann Militäreinheiten unter dem Kommando des militärischen Revolutionskomitees Telegrafenämter, Bahnhöfe, Ministerien und andere wichtige Punkte der russischen Hauptstadt Petrograd. Sie stießen praktisch auf keine Gegenwehr. Alle Kritiker der Oktoberrevolution gestehen zu, dass die Regierung in der

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FebRUAR Februarrevolution. Massenbewegung stürzt den Zaren. Bildung von Sowjets

März Die Sowjets mit rechtssozialdemokratischer Mehrheit (Menschewiki) überträgt die Regierungsgewalt einer bürgerlich APRIL -adligen Koalition Lenin kehrt aus dem Exil zurück und tritt für seine »Aprilthesen« ein. Zentrale Forderung: Alle Macht den Räten und nieder mit der bürgerlichen Regierung

DER WEG ZUR REVOLUTION Juli »Julitage«: Massenproteste bewaffneter Arbeiter und Soldaten in Petrograd

August Ende August scheitert ein Putsch von General Lawr Kornilow mit Unterstützung des Generalstabs und von Offiziersverbänden

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Typ Kornilow keine Chance eines Gegenschlages gegeben würde. Das militärische Revolutionskomitee von Petrograd berief für den 18. Oktober eine Garnisonsberatung ein, zu der alle in der Stadt und ihrer Umgebung stationierten Regimenter Vertreter entsenden sollten. Eine namentliche Abstimmung ergab eine überwältigende Mehrheit für den Aufstand. Dies waren nicht die Instrumente eines Putsches, bei dem eine Verschwörung von Offizieren insgeheim einen Aufstand plant, sondern hier fand eine offene und öffentliche Debatte demokratischer Organe der Masse der Soldaten statt. Die Soldaten selbst waren in ständigem Austausch mit den Arbeiterinnen und Arbeitern, über wechselseitige Delegationen, die Bezirkssowjets und gemeinsame Versammlungen. In den Fabriken waren die Mehrheitsverhältnisse bereits seit Monaten klar. Eine Neuwahl der Delegierten zum Petrograder Sowjet hatte schon im September eine deutliche bolschewistische Mehrheit ergeben. Es gab schlicht keine Notwendigkeit, den Aufstand im Oktober durch Massendemonstrationen und Streiks zu begleiten. Die Masse der Arbeiter und Soldaten war sich ihrer Stärke bewusst, Gegenkräfte waren marginal, und so reichte eine begrenzte militärische Operation, unterstützt von der großen Mehrheit, die Regierung abzusetzen. Die Macht lag danach, wie es die Bolschewiki seit dem April gefordert hatten, in der Hand des am Abend des 25. Oktober zusammengetretenen 2. Allrussischen Kongresses der Arbeiter-, Bauern- und Soldatensowjets. Dieser repräsentierte rund 90 Prozent der Bevölkerung und wählte eine neue Regierung, in der die Bolschewiki die Mehrheit stellten, an der aber auch linke Sozialrevolutionäre beteiligt waren. Kritiker, die in der Oktoberrevolution einen Putsch sehen, verweisen auf die »Konstituierende Versammlung«, die im Januar 1918 eröffnet und nach nur 13 Stunden bereits wieder aufgelöst wurde. Erstens zeige das Wahlergebnis, dass die Bolschewiki in der Minderheit im Lande gewesen waren, und zweitens beweise die Auflösung der Versammlung den undemokratischen Charakter der Bolschewiki. Die Bolschewiki erhielten rund ein Viertel der Stimmen, dabei die klare Mehrheit in den Städten und der Armee. Über die Hälfte der Stimmen erhielten die Sozialrevolutionäre, dabei die überwältigende Mehrheit auf dem Land. Diese Partei hat sich aber gespalten. Die linke Spaltung ging im Sowjet eine Koalitionsregierung mit den Bolschewiki ein und unterstützte die Sowjetdemokratie. Da die Spaltung erst nach Aufstellung der Wahllisten erfolgte und die links-rechtsSpaltung auch eine oben-unten-Spaltung in der Partei war, gehörten die meisten Abgeordneten in der Konstituierenden Versammlung dem rechten Flügel an, während die meisten Wähler den linken Flü-


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gel unterstützten. Die Zusammensetzung der Versammlung repräsentierte rein formaldemokratisch weniger die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse als die Sowjets. Außerdem sahen viele Wahlberechtigte keinen Sinn mehr in dieser Versammlung, da die Sowjets nun in ihren Augen die Aufgaben erledigten. Von 160 Millionen Einwohnern beteiligten sich nur knapp 42 Millionen an der Wahl zur Konstituierenden Versammlung, mit einem deutlichen Übergewicht bei den privilegierten Klassen. Vor allem aber war die Einberufung der Konstituierende Versammlung der nächste Versuch, die Umsetzung der Forderungen der Revolution zu verzögern. Schon in den acht Monaten von März bis Oktober diente sie als Begründung für die Verschiebung jeder Entscheidung in Bezug auf Landverteilung oder Staatsreform, denn der Konstituierenden Versammlung sollte nicht vorgegriffen werden. Die Provisorische Regierung zögerte den Termin der Wahl ständig hinaus, letztlich sollte sie erst nach Ende des Kriegs stattfinden, an dem sich die Bürgerlichen um jeden Preis bis zum Sieg beteiligen wollten. Erst der 2. Allrussische Arbeiter- und Soldatenrat, also nach der Oktoberrevolution, setzte einen Wahltermin an, der auch eingehalten wurde. Als sich herausstellte, dass die Zusammensetzung der Versammlung aufgrund der Kandidatenauswahl bei der Partei der Sozialrevolutionäre deutlich rechts von den im engen Kontakt mit den Massen stehenden lokalen und Bezirkssowjets stand, entschied die Koalitionsregierung aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären, die Versammlung aufzulösen. Sie wollten verhindern, dass diese zu einem Sammelpunkt für die Kräfte der Konterrevolution werden würde.

September Die Radikalisierung durch den Kornilow-Putsch bringt den Bolschewiki die Mehrheit im Petrograder und Moskauer Sowjet. Sie nutzen sie zur Vorbereitung der Oktoberrevolution Trotzki: Der Kampf innerhalb der Sowjets Oktober Am Vorabend des 2. Sowjetkongresses stürzt das militärische Revolutionskomitee des Petrograder Sowjets die provisorische Regierung, so dass der 2. Sowjetkongress die Macht übernehmen kann. Das Signal für den Sturm auf das Winterpalais gab der Kreuzer Aurora

DER ROTER ROTE OKTOBER OKTOBER

Oktober Am 26. Oktober 1917 wurde das Dekret über den Frieden erlassen. Sofortige Verhandlungen über einen »gerechten Frieden« wurden von Russland angeboten. Russische und deutsche Soldaten feiern das Ende des Krieges an der Ostfront (1918)

Viele heutige Kommentatoren sehen darin einen schweren Fehler, oder gar den Beweis für den undemokratischen Charakter der Bolschewiki. Sie stellen es so dar, als habe es die Alternative gegeben zwischen Sowjetdiktatur oder bürgerlich-parlamentarischer Demokratie. Doch diese Alternative gab es damals nicht. Stattdessen lag die Entscheidung zwischen der Herrschaft der Räte oder einer Militärdiktatur. Überall dort, wo die Rechtssozialisten im folgenden Jahr im Bündnis mit den Parteien der Kapitalisten die Kontrolle erlangten, wurden sie schließlich von den Kräften der Konterrevolution verjagt oder ermordet. Dass die Russische Revolution schließlich scheiterte, lag nicht der Machtübernahme. ■

Februar 1918 Deutsche Offensive an der gesamten Front beginnt, um die Kapitulation zu erzwingen. Unter dem Schutz der vorrückenden deutschen Armee sammeln sich konterrevolutionäre Verbände. Ab Mai beginnt der Bürgerkrieg

Stefan Ziefle ist Historiker und Stadtverordneter der LINKEN im hessischen Wächtersbach. © Alle Bilder: wikimedia

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Frauen erkämpfen Freiheiten... Armut und Bürgerkrieg zum Trotz stellten die ersten Jahre der russischen Revolution einen beispiellosen Fortschritt für Frauen dar Von Oskar Stolz

Neue Ehe

■ Bis zum Jahr 1917 war das Leben insbesondere von arbeitenden Frauen von Unterdrückung und Beschwerlichkeiten geprägt. Während der Schwangerschaft hatten sie mit großen Widrigkeiten zu kämpfen. Sie mussten bis kurz vor der Geburt arbeiten und wurden in Kliniken – sofern sie überhaupt Zugang dazu hatten – schlechter behandelt. Das Volkskommissariat für staatliche Fürsorge unter Alexandra Kollontai (siehe S. 68) führte 1918 einen Mutterschaftsschutz von acht Wochen vor und nach der Geburt ein und eröffnete kostenlose Entbindungskliniken. Die Ärztinnen und Ärzte wurden vom Staat bezahlt, um die Klassenmedizin abzuschaffen. Außerdem professionalisierte er die Ausbildung der Pflege.

■ Die damalige Ehe unterstützte die geschlechtliche Arbeitsteilung und die Rolle der Frau hinter dem Herd. Um dies zu bekämpfen, bestimmte der Rat der Volkskommissare noch 1917 den rechtlichen Status von Mann und Frau in einer Ehe als gleichwertig. Der Mann verlor somit seine rechtliche Verfügungsgewalt über die Frau. Die Regierung stellte die Ehe auf zivilen statt religiösen Boden und schaffte den Status des unehelichen Kinds ab. Frauen konnten ihren eigenen Nachnamen behalten. Die neue Ehe war jederzeit einseitig auflösbar. Hierzu mussten die Betreffenden lediglich eine formlose Erklärung gegenüber der entsprechenden Behörde einreichen.

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Mutterschutz

Volksküchen und Wäschereien

Recht auf Abtreibung ■ So wichtig die Reformen des Mutterschutzes waren, so essenziell war die Einführung des Rechts auf Abtreibung. Jahrhundertelang waren Frauen gezwungen gewesen, lebensgefährliche Methoden anzuwenden, um ungewollte Schwangerschaften zu beenden. Sie tranken Blei, schlugen auf ihre Bäuche ein und beteten zu bösen Geistern, um eine drohende Geburt abzuwenden. 1920 erließ der Rat der Volkskommissare eine Verordnung, welche die Bestrafung von Abtreibungen aufhob – er war weltweit die erste Regierung, die das tat. Jede Frau erhielt das Recht auf eine ärztlich eingeleitete und überwachte Abtreibung.

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OsKar Stolz ist Mitglied der LINKEN und Autor des Artikels »Eine marxistische Theorie der Frauenunterdrückung« im Journal theorie21, Nr. 1/2015.

■ Da sich der Rat der Volkskommissare über die Funktion der Familie und die Last der Reproduktionsarbeit bewusst war, strebte er an, kollektive Strategien dafür zu finden. So veranlasste die Regierung, Stillräume in Fabriken einzurichten, organisierte Beratungsstellen und Frauenhäuser und führte Kinderkrippen ein. Sie reformierte die Kinderheime und führte den gemeinsamen Schulunterricht von Jungen und Mädchen ein. Neue Wohnformen wurden etabliert und kollektive Wäschereien eingeführt. Im Jahr 1919 ernährten Volksküchen 90 Prozent der Menschen in Petrograd und 60 Prozent in Moskau.


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... und verlieren sie wieder Zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution kettete die stalinistische Führung die Frauen wieder an Kind und Küche VON Lena Gromka

Neuer Mutterkult

■ Im Jahr 1921 begann mit der Neuen Ökonomischen Politik ein politischer Rückzug, nicht nur in Bezug auf die Frauenfrage (siehe S. 60). Insbesondere Volksküchen, Familienhäuser und Kinderkrippen waren von der Kürzung der kommunalen Ausgaben betroffen. Die Versorgung der Familie wurde zunehmend wieder Privatsache, was für Frauen bedeutete, erneut unter das Joch der Hausarbeit gezwängt zu werden. 1936 schrieb die stalinistische Führung die Reaktivierung der traditionellen Familie endgültig fest, da sie nun wieder Aufgaben erfüllen sollte, die der Staat nicht mehr übernahm: Er schaffte Volksküchen ab und hörte auf, kommunale Wäschereien zu finanzieren.

■ Das Bild vom »Mutterland des Sozialismus« in Zusammenhang mit der Ideologie des »Sozialismus in einem Land« (siehe S. 60) machten das Thema Mutterschaft zu einem zentralen Thema der stalinistischen Propaganda. Die Regierung belohnte Geburten mit Bargeld und führte Orden diverser Rangordnungen für Mütter mit überdurchschnittlich vielen Kindern ein. Alleinstehende und Paare mit wenigen Kindern mussten hingegen zusätzliche Steuern entrichten. © wikimedia

Hausarbeit kehrt zurück

Doppelbelastung ■ Im Zuge des ersten Fünfjahresplans von 1928/29 setzte die Regierung Frauen insbesondere in Bereichen härtester Arbeit mit geringsten Ausbildungsvoraussetzungen ein. Die Zahl der berufstätigen Frauen verfünffachte sich bis 1940. Die einseitige Orientierung auf die Schwerindustrie und die gleichzeitige Vernachlässigung der Ausgaben in kommunalen Bereichen verschärfte die Doppelbelastung der Frauen, die nun sowohl einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten, als auch für die Hauswirtschaft der Familie zuständig waren. Unter solchen Bedingungen ist der hohe Anteil arbeitender Frauen kein Zeichen für ihre Befreiung.

Lena Gromka ist Aktivistin in Berlin und lohnarbeitet als Psychologin.

Gesellschaftlicher Rückschritt ■ Die stalinistische Führung nahm Schritt für Schritt die politischen Errungenschaften aus der Revolutionszeit wieder zurück. So stellte sie 1934 Homosexualität wieder unter Strafe und bestrafte sie mit Zuchthaus. Es gab staatliche Kampagnen gegen Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern und gegen Ehebruch. Auch die Möglichkeit zur legalen Abtreibung beendete die Regierung und stellte Abtreibungen 1936 wieder unter Strafe. Ab 1843 wurden Mädchen und Jungen wieder getrennt unterrichtet. Im Juli 1944 machte sie Scheidungen nur noch über Gerichtsverfahren möglich und verband sie mit empfindlichen Geldstrafen und Eintragungen in Personalpapiere. Zudem hob sie die gesetzliche Gleichheit zwischen ehelichen und unehelichen Kindern auf.

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Warum Stalin die Revolution verraten konnte Nach 20 Jahren hatte Stalin die Errungenschaften der Oktoberrevolution in ihr Gegenteil verkehrt. Wie konnte aus der siegreichen Revolution eine Diktatur erwachsen? Ein genauer Blick auf die Ereignisse nach der Revolution bringt uns der Antwort näher JAN MAAS Jan Maas ist Redakteur von marx21 und Verfasser eines ausführlichen Artikels über den Aufstieg Stalins im Theoriemagazin theorie21.

Von Jan MAAS

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wanzig Jahre nach dem »Roten Oktober«: In den Fabriken herrschen Direktoren über die entrechtete Arbeiterklasse, auf dem Land arbeitet die Bauernschaft auf Staatsgütern oder in Zwangskollektiven. Die Rätedemokratie ist tot und seit 1936 auch formal abgeschafft. Das Land versinkt in Angst, weil die Geheimpolizei des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) Jagd auf vermeintliche und tatsächliche Oppositionelle macht und während des Großen Terrors tausende Kommunistinnen und Kommunisten vor Gericht stellt und hinrichten lässt. Dieses Schreckensregime, das für immer mit dem Namen des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Josef Stalin verbunden sein wird, muss auch lange nach dem verdienten Untergang seiner Nachfolger 1989-91 als Totschlagargument gegen die Idee herhalten, den Kapitalismus zu überwinden. Wer dieses Ziel angesichts der unerträglichen Zustände im 21. Jahrhunderts weiter verfolgen will, muss darum die Frage beantworten können, ob der Sturz des Kapitalismus unweigerlich in eine solche Diktatur münden muss. In einer Diskussion unter Genossen im Exil Ende der 30er Jahre antwortete der von Stalin verfolgte russisch-belgische Revolutionär Victor Serge auf die Bemerkung, der Keim allen Stalinismus steckte von Anfang an im Bolschewismus: »Ich habe keinen Einwand. Nur, dass der Bolschewismus auch viele andere Keime enthielt.« Wenn wir Serge folgen, lautet die eigentliche Frage: Wie kam es dazu, dass der Keim des Stalinismus aufging, während die anderen Keime verkümmerten? Die Antwort darauf ist

vielschichtig. Sie liegt in der Isolation der Revolution, den Verwerfungen, die der Bürgerkrieg 1918-20 auslöste und darin, wie die Kommunistische Partei darauf reagierte. In dem Maße, in dem erstens der Bürgerkrieg die Arbeiterklasse dezimierte, zweitens die Macht von den demokratischen Organen der Arbeiterklasse auf die Partei überging und sich drittens die Partei selbst veränderte, verschob sich die Macht in Richtung Bürokratie, die sich schließlich verselbstständigte.

Das rote Russland blieb allein

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1918 waren die Bolschewiki trotz siegreicher Revolution überzeugt, dass in Russland allein niemals eine sozialistische Gesellschaft geschaffen werden könne. In einer Rede auf dem VII. Parteitag sagte Lenin: »Wenn man an die Dinge den welthistorischen Maßstab anlegt, so kann auch nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, dass der Endsieg unserer Revolution eine hoffnungslose Sache wäre, wenn sie allein bliebe, wenn es in den anderen Ländern keine revolutionäre Bewegung gäbe.« Doch die Hoffnung, dass sich die Revolution in andere Länder ausbreitet, schien absolut begründet. Der britische Premierminister David Lloyd George fasste die Lage 1919 so zusammen: »Die ganze bestehende soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung wird von der Masse der Bevölkerung von einem Ende Europas zum anderen in Frage gestellt.« Nur mündeten die Aufstände nirgends in eine weitere erfolgreiche sozialistische Revolution. Das Scheitern der Revolution in Deutschland war ein besonders schwerer Schlag. Stattdessen folgte eine internationale militärische Intervention. Anfang 1918 begannen Gene-


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waren Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Opposition innerhalb und außerhalb der Partei hatte es schon von Beginn an gegeben. Aber auch die Parteispitze selbst diskutierte. Wladimir Lenin gehörte zu den klarsten Analytikern der prekären Verhältnisse und zu den heftigsten Kritikern der Bürokratisierungstendenzen. Doch 1922 erkrankte er mitten in diesen Debatten und fiel bis zu seinem Tod 1924 praktisch komplett aus. Nun führte eine Troika aus dem Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale Grigori Sinow-

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räle des Zaren einen Bürgerkrieg. 14 Staaten unterstützten sie mit Truppen und Waffen. Der »Rat der Volkskommissare« gründete die Rote Armee und die politische Polizei Tscheka und wehrte sich mit großer Härte, wenn auch weniger brutal als seine Gegner. Auf deren Konto gehen auch antisemitische Pogrome mit 150.000 Toten. Die Landbevölkerung rebellierte gegen die Beschlagnahmung von Getreide durch die Rote Armee, aber die Rückkehr zum Zarenregime fürchtete sie mehr. Daher gewannen die Bolschewiki nach zwei Jahren den Bürgerkrieg. Der Preis dafür war jedoch hoch: Die Industrieproduktion war 1921 auf 12 bis 16 Prozent des Vorkriegsstands eingebrochen und die 1917 siegreiche Beziehung zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft zerrüttet. Die Regierung ließ im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik (russisch: NEP) in begrenztem Maße kapitalistische Warenproduktion und Handel wieder zu Diese Maßnahme war zwar lediglich als Übergangslösung angelegt, aber sie entfernte Russland zwangsläufig wieder von den Errungenschaften der Oktoberrevolution. Im Laufe der 1920er-Jahre verbesserte sich die Versorgung mit Konsumgütern und Nahrungsmitteln etwas. Doch der Schwarzmarkt blühte und die Schwerindustrie blieb am Boden. Die NEP förderte in den Städten Kleinunternehmer und private Händler, die Nepleute, und auf dem Land reiche Bauern, die Kulaken. 1925 befanden sich zwei Drittel der Getreideanbauflächen im Besitz von 12 Prozent der Bauern. Von diesen war die Regierung in großem Maße abhängig. Eine andere Folge des Bürgerkriegs war der Niedergang der Arbeiterdemokratie, des Rückgrats der Oktoberrevolution. Zum einen sorgten die Isolation und der Bürgerkrieg ab 1918 für einen Niedergang der Industrieproduktion. Zum anderen schlossen sich die kämpferischsten Teile der Arbeiterklasse als erste der Roten Armee an, um ihre Revolution zu verteidigen. Die Folge war, dass es kaum noch arbeitende Fabriken gab, geschweige denn Sowjets (russisch: Räte) ihn ihnen.

Die Partei selbst veränderte sich

Im Kriegskommunismus übernahm die Parteiorganisation der Bolschewiki die Verwaltung und trat an die Stelle der Sowjets. Aber die Partei selbst veränderte sich. Sie verlor die Hälfte der Mitgliedschaft von vor Oktober 1917 durch den Krieg. Neue Mitglieder waren vor allem Bauern. Es traten Überzeugte in die Partei ein, aber auch Opportunisten. Die ersten Säuberungswellen erfolgten, um Karrieristen loszuwerden. Zwischen 1920 und 1922 stieg die Zahl der Parteiangestellten von 150 auf 15.000. Die Veränderungen in der Partei und die Politik der Führung

jew, dem stellvertretenden Regierungschef Lew Kamenew und dem frisch ernannten Generalsekretär Stalin die Partei. Das Amt des Generalsekretärs war 1922 geschaffen worden, um die Bürokratisierung der Partei unter Kontrolle zu bekommen. Amtsinhaber Stalin war zwar ein alter Bolschewik, hatte jedoch nie eine herausragende Rolle gespielt und war den meisten Menschen im Land unbekannt. 1923 begann eine Phase harter Fraktionskämpfe mit der »Erklärung der 46«. Darin forderten führende Kommunisten, das Land zu industrialisieren und die Mittel dazu durch eine höhere Belastung der Nepleute und Kulaken zu gewinnen. Außerdem kritisierten sie, dass die demokratische Kultur in der Partei verfalle und dass bürokratische Maßnahmen die Oberhand gewännen. Nachdem sich nichts änderte, verfasste der damalige Kriegskommissar Leo Trotzki einen offenen Brief in diesem Sinne. Darauf reagierte die Troika mit der Anklage, die Opposition stelle die Einheit der Partei Lenins und den gesamten »Leninismus« in Frage. Stalin begann zudem, seine Kontrolle über den Parteiapparat zu nutzen, um die politische Position der Troika durchzusetzen: Abstimmungen wurden manipuliert, bekannte Oppositionelle auf unwichtige oder weit entfernt liegende Posten versetzt. Nach Lenins Tod

Oben: Marsch einer Infanterie-Division der Weißen Armee im März 1920 Unten: Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee erhängen revolutionöre Arbeiter im Gouvernement Jekaterinoslaw im April 1918

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Der Bürgerkrieg und die Folgen Parteimitgliedschaft Kommunistische Partei Russland (in Tausend)

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Die Kommunistischen Partei verlor durch den Krieg die Hälfte ihrer Mitgliedschaft. Viele überzeugte Kommunistinnen und Kommunisten fielen ihm als erste zum Opfer. Neue Mitglieder waren vor allem Bauern, darunter auch zahlreiche Opportunisten

Niedergang der Industrieproduktion (in Prozent des Vorkriegsstands) In nur drei Jahren ging die industrielle Produktion um etwa zwei Drittel zurück

Größe der Arbeiterklasse in Russland (in Millionen) Durch Krieg, Landflucht und Desindustrialisierung schrumpfte die russische Arbeiterklasse innerhalb von fünf Jahren um etwa vier Fünftel

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verdoppelte die Troika mit einer »Lenin-Aufgebot« genannten Werbekampagne die Mitgliedschaft der Partei nahezu und sicherte so ihre Position. Die Parteiführung kämpfte, aber sie war schwach. Die Isolation der Revolution hielt an, die Industrieproduktion lahmte nach wie vor und die arme Bauernschaft weigerte sich, über den Eigenbedarf hinaus anzubauen. Die Kulaken dagegen lieferten zwar bevorzugt an private Händler, aber sie lieferten. Die Abhängigkeit von den Nepleuten bestand fort. Die Parteifunktionäre unter Stalin bemühten sich um Stabilität. Die Opposition, die in dieser Lage Kulaken und Nepleute ins Visier nehmen wollte, störte die Führung. Dabei hatte die Opposition nur die Verteidigung der Errungenschaften der Oktoberrevolution im Sinn: ohne Industrie keine Arbeiterklasse, keine Räte und keine sozialistische Demokratie. Außerdem hätte die arme Bauernschaft nur dann mehr produzieren können, wenn sie im Gegenzug günstige Industrieprodukte und Zugang zu Landmaschinen bekommen hätte. Doch die Arbeiterklasse war müde und klein. 1922 lebten 78 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Die Parteibürokratie entfernte sich unterdessen von den Errungenschaften der Oktoberrevolution, weil sie begann, ihrer gesellschaftlichen Funktion gemäße Interessen zu verfolgen: Die Stabilisierung der Volkswirtschaft, die sie verwaltete. Dazu passte die Proklamation des »Sozialismus in einem Lande«, der 1925 in völligem Gegensatz zur bisherigen Politik der Bolschewiki ausgerufen wurde. Der Wirtschaftsexperte der Regierung, Nikolai Bucharin, behauptete dazu, die NEP ermögliche den Aufbau des Sozialismus »im Schneckentempo«. Doch die Wirtschaftsprobleme blieben. Ende 1927 gingen Stalin und Bucharin mit einer Säuberungswelle gegen die Opposition vor, die in der gelähmten Arbeiterklasse kaum Rückhalt fand. Dann schwenkte Stalin 1928 auf Industrialisierung und Kollektivierung um – nur ohne Demokratisierung. Er machte Bucharin seine alte, an die Kulaken gerichtete Parole »Bereichert Euch!« zum Vorwurf. Ohne Schwerindustrie konnte die Sowjetunion ihre wirtschaftlichen Probleme nicht lösen, sie war außerdem kaum verteidigungsfähig.

genügend Lebensmittel produzieren, um mittels Exporte Devisen für die Industrialisierung zu beschaffen. Die Führung zögerte, schwankte und hoffte, durch bloße Propagierung der Kollektivierung ausreichende Fortschritte zu machen. Aber der Anteil der Bauernschaft, der sich freiwillig den Kollektiven anschloss, blieb so niedrig wie zuvor. Ab 1929 erzwang die Parteiführung die Kollektivierung und den Aufbau der Schwerindustrie mit Gewalt. Da die Maschinen für die kollektive Landwirtschaft noch fehlten und der Export Priorität hatte, führten schwere Dürren 1931-33 zu einer Hungersnot mit Millionen Toten. Die Parteibürokratie schuf auf der einen Seite neue Produktionsmittel und bestimmte auf der anderen Seite über die Arbeitskraft von Arbeiterklasse und Bauernschaft. Von einer Schicht innerhalb dieser Klassen war sie zu einer eigenen Klasse mit eigenen – den Interessen der Arbeiterklasse und Bauernschaft direkt entgegengesetzten – Interessen geworden. So verboten neue Arbeitsgesetze beispielsweise Streiks und beschränkten die Freizügigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter immer drastischer. 1931 erläuterte Stalin das Ziel seiner Wirtschaftspolitik so: »Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen.« Serge schrieb wenige Jahre später, die Auswirkungen des ersten Fünfjahresplans erinnerten ihn stark an die »Seiten des Kapital […], auf denen Marx den unerbittlichen Mechanismus der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation beschreibt.« Unter den Fahnen der Revolution und mit den Namen von Marx und Lenin auf den Lippen beseitigte die Parteibürokratie unter Stalin die Errungenschaften der Oktoberrevolution. Ab 1934 ermordete sie in einer weiteren Säuberungswelle auch viele ihrer Aktiven, um sich ungehindert in die Tradition der Revolution stellen zu können. Zum Schluss ließ Stalin seine Handlanger beseitigen. NKWD-Chef Nikolai Jeschow, verantwortlich für den »Großen Terror« der Jahre 1936-38, wurde 1940 erschossen. Stalin wurde, wie Trotzki es ausdrückte, zum »Totengräber der Revolution«. Aber er konnte nur deshalb dazu werden, weil die Arbeiterklasse am Boden lag und ihr Bündnis mit der Bauernschaft zerbrochen war. Der Aufstieg des Stalinismus war keine notwendige Folge des Versuchs, den Kapitalismus zu stürzen, sondern vor allem das Resultat der Isolation des geschwächten Russlands und des blutigen Widerstands des internationalen Kapitals gegen die Revolution, deren Übergreifen in andere Länder es fürchtete. ■

Die Bürokratie erhob sich über die Arbeiterklasse

Stalin begriff, dass die Parteiführung zu Unrecht erwartet hatte, dass die gewünschte stabile Volkswirtschaft sich durch die NEP entwickeln würde. Nun handelte die Bürokratie selbst. Im ersten Fünfjahresplan 1928-32 kam ihre Absicht zum Ausdruck, die Schwerindustrie von oben selbst zu schaffen. Die Kollektivierung der Landwirtschaft sollte einerseits Arbeitskräfte dafür freisetzen und andererseits

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Prinzipienfest, aber flexibel In der bürgerlichen Geschichtsschreibung gilt Lenin als geistiger Vater der monolithischen Partei stalinistischen Typs. Doch dieses Bild hat mit seinen Gedanken und seiner Praxis in der Organisationsfrage herzlich wenig zu tun

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Von Stefan Bornost

urz nach dem Tod des russischen Revolutionärs Wladimir Lenin 1924 hielt der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Josef Stalin eine Reihe von Vorlesungen an der Swerdlow-Universität in Moskau. Sie erschienen später unter dem Titel »Grundlagen des Leninismus« und schufen einen mächtigen Mythos: dass es mit dem »Leninismus« eine reine Lehre des großen Revolutionsführers gäbe, die zu befolgen für alle Kommunistinnen und Kommunisten der sichere Weg zum Erfolg sei. Essenzieller Bestandteil: Die leninistische Partei. Nur gibt es in Wirklichkeit gar kein einheitliches Parteikonzept von Lenin. Er entwickelte seine Ideen anhand des Klassenkampfes weiter und brach dabei auch mit alten Vorstellungen. Schon bei Marx und Engels spielte die Frage der Partei eine große Rolle – schließlich beteiligten sich beide neben ihren theoretischen Studien auch füh-

rend an der Gründung der Ersten Internationalen und begleiteten auch die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie in der Frühphase ab 1870. In ihren Vorstellungen schwangen Optimismus und Fortschrittsgläubigkeit mit. Marx und Engels gingen davon aus, dass der Klassenwiderspruch Arbeiterinnen und Arbeiter zum Kampf gegen das Kapital nötigt. In diesem Kampf gewinnen sie dann Einsichten in die Natur des kapitalistischen Staats und die Notwendigkeit des Sozialismus. Diese Reifung spiegelt sich dann in der steigenden Qualität der Arbeiterorganisationen wieder, die in dem Maße besser, also kampffähiger und inhaltlich klarer werden, wie die Klasse sich ihrer Lage, aber auch ihrer potenziellen Macht bewusster wird. Marx und Engels sahen und kritisierten, dass sich im Rahmen der breit aufgestellten revolutionären Sozialdemokratie auch Individuen und Strömungen sammelten, die eher auf Akzeptanz durch und Versöhnung mit den Herrschenden schielten. Dennoch

Stefan Bornost ist Redakteur von theorie21.

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sein müsse. Allerdings war unter den Bedingungen des russischen Polizeistaats der Aufbau einer breiten Sammlungspartei der gesamten Arbeiterklasse nach dem Vorbild der westlichen Sozialdemokratie völlig ausgeschlossen. Der Staat hätte so eine Organisation mit Agenten unterwandert und sie binnen kurzem von innen heraus zerstört. In dieser Situation entstand innerhalb der russischen revolutionären Sozialdemokratie ein Mittelweg zwischen der Geheimbündelei der Narodniki und den breiten sozialdemokratischen Massenparteien des Westens, den Lenin in seiner bekannten Broschüre »Was tun?« aus dem Jahre 1902 theoretisch formulierte.

Oben: Demonstration von Arbeiterinnen und Arbeitern des PutilowWerks in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg, während der Februarrevolution Unten: Moskau im Oktober 1917: Wladimir Iljitsch Lenin wendet sich auf dem Roten Platz nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil zu den Massen

war ihre Grundannahme, dass eine wachsende Arbeiterbewegung solche Strömungen an den Rand drücken würde. In der sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnden russischen Sozialdemokratie sah man die Dinge anders. Der Grund dafür war nicht, wie es später die stalinistische Mythenbildung darstellte, dass der geniale Lenin ein neues revolutionäres Parteikonzept aus dem Hut zauberte und jesusgleich immer mehr Jünger dazu bekehrte. Vielmehr war die Entwicklung der Bolschewiki in Theorie und Praxis ein sich langsam und in Brüchen vortastender Lernprozess, der in den besonderen Bedingungen Russlands und seiner Arbeiterbewegung wurzelte. Der Zar beherrschte Russland als brutaler Diktator. Arbeiterparteien, Gewerkschaften, Streiks – alles verboten. Aber Russland hatte auch eine Tradition des Widerstands gegen die Zarendiktatur. Führend hierbei waren die als verschwörerischer Geheimbund organisierten »Narodniki« (Volksfreunde), die wahlweise als Erzieher und Lehrer »zum Volk gingen« oder als russische RAF Terroranschläge auf zaristische Würdenträger verübten. Die russischen Revolutionäre bewunderten zwar den Mut der Narodniki, lehnten aber deren Methoden ab. Sie folgten dem Kernsatz des Marxismus, wonach die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst

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Politisch sollte die revolutionäre Organisation auf die gesamte Arbeiterklasse ausgerichtet sein: Hilfe zur Selbsthilfe leisten, Kämpfe unterstützen und aufbauen, den Kampf behindernde Barrieren wie die Spaltungen nach Geschlecht, Religion, Hautfarbe, Nationalität einreißen und theoretische Arbeit in der Klasse leisten. Organisatorisch aber sollte die Partei allerdings nicht alle Teile der Klasse umfassen, sondern nur die politisch bewusstesten und fortschrittlichsten Arbeiterinnen und Arbeiter – was Lenin die »Avantgarde«, also Vorhut nannte. Aus diesem Gedanken machte Stalin später ein eisernes Gesetz, andere brandmarkten ihn als elitäres Parteikonzept. Allerdings waren es die praktischen Notwendigkeiten, die damals eine politische Vorsortierung der Mitgliedschaft sinnvoll machten. Ein Beispiel: Antisemitismus war ein Russland ein großes Problem – vor allem in der zaristischen Bürokratie und im Militär, aber er wirkte auch bis in die Arbeiterschaft hinein und spaltete sie. Eine revolutionäre Organisation, welche die Klasse im Kampf vereinen wollte, musste einen scharfen Kampf dagegen führen. Der wäre schlecht möglich gewesen mit einer Mitgliedschaft, die selbst antisemitische Vorurteile hat. Lenin schrieb daher, dass Arbeiter, wenn sie für höhere Löhne streiken, einfach Gewerkschafter seien. Erst wenn sie aus Protest gegen Angriffe auf Juden streiken, seien sie Sozialisten. Das war nicht nur ein deutlicher Bruch mit den Auffassungen von Marx und Engels, sondern auch mit anderen, sogenannten ökonomistischen Strömungen in der russischen Sozialdemokratie, welche die Arbeit der Revolutionäre auf soziale Forderungen beschränken wollten. Nach der von Lenin 1902 vertretenen Theorie bildet sich sozialistisches Bewusstsein in der Klasse nicht automatisch, sondern ist Produkt des bewussten Einwirkens einer organisierten revolutionären Minderheit auf die Mehrheit. In Lenins Zuspitzung klingt das so: »Das politische Klassenbewusstsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden.« Im weiteren Verlauf seiner Polemik benennt Lenin, wer das Bewusstsein von außen bringt: »Die Lehre


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des Sozialismus ist aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz ausgearbeitet worden sind.« Diese Gegenüberstellung von bewusstseinsgehemmten Arbeitern und erleuchteter Intelligenz ist falsch. Vielmehr entdeckte die Arbeiterklasse wesentliche Bausteine des Sozialismus im Kampf. Intellektuelle arbeiteten sie theoretisch auf. So folgerte Marx anhand der Pariser Kommune 1871, dass die Arbeiterklasse den bestehenden Staat nicht übernehmen kann, sondern zerschlagen muss. Lenin wollte unbedingt eine feste, klar umrissene, politisch klare Organisation haben und hat dafür in »Was tun?« allerhand Argumente angeführt: richtige, wie die Notwendigkeit der Zusammenführung fortschrittlicher Arbeiterinnen und Arbeiter, um aufgrund klarer Prinzipien um die Mehrheit zu kämpfen. Und falsche, wie die Gegenüberstellung des vermeintlich nur gewerkschaftlichen Arbeiterbewusstseins gegen die fortschrittliche Intelligenz. Allerdings überlebte diese falsche Auffassung die nächste große Erschütterung nicht – die russische Revolution von 1905. Wieder lernte Lenin selbst anhand des Klassenkampfs. Im Januar 1905 ermordeten zaristische Soldaten mehr als 1000 Menschen vor dem Winterpalast in Sankt Petersburg. Es folgte eine gigantische Erhebung in ganz Russland, die erst 1907 vollständig niedergeschlagen wurde. Der Prozess radikalisierte ganz neue Schichten, die Lenin unbedingt in seiner Organisation sammeln wollte. Dem entgegen stand der durchgreifende Erfolg seiner Vorstellungen von 1902. Nach diversen Konflikten und Spaltungen hatten Lenin und seine Leute unter dem Namen Bolschewiki tatsächlich eine sehr harte, zuverlässige und straff organisierte Truppe um sich gesammelt, die auch erste bescheidene Erfolge im Organisationsaufbau hatte. Es stellte sich aber heraus, dass diese Truppe unflexibel im Umgang mit der neuen Situation war. Viele der leitenden Revolutionäre fürchteten den Zustrom von »Unerfahrenen«, die nicht genügend theoretisch ausgebildet seien. Um diese Haltung zu brechen, machte Lenin 1905 eine Kehrtwende: »Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Revolution den Arbeitermassen in Russland den Sozialdemokratismus beibringen wird (…). In einem solchen Augenblick drängt die Arbeiterklasse instinktiv zur offenen revolutionären Aktion (…) Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch (...)« – wobei sozialdemokratisch bei Lenin gleichbedeutend mit revolutionär ist. Nun wird auch bei Lenin das revolutionäre Bewusstsein nicht mehr von außen herangetragen, sondern entsteht spontan und mit solcher Wucht, dass die Bolschewiki aufpassen müssen, damit der Zug der Bewegung nicht an ihnen vorbeirauscht und sie keine Bindung zu den neu radikalisierten Arbeiterinnen und Arbeitern fin-

den. Böswillige könnten behaupten, dass ein Theoretiker, der einmal dies behauptet und drei Jahre später das Gegenteil, ein Problem mit der Kohärenz seiner Gedanken hat. In Wirklichkeit zeigt diese Episode nur, dass Lenin fähig war, auf eine veränderte Lage auch zu reagieren, denn, wie er selbst sagte: »Die Wahrheit ist immer konkret.« Eine Beschränkung auf die altgedienten Parteimitglieder hätte die Bolschewiki von der großen Bewegung abgeschnitten und dadurch das Ziel des Aufbaus einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse untergraben. Also forderte Lenin: »Öffnet die Tore der Partei«, ohne allerdings die programmatischen Grundsätze und Prinzipien über Bord zu werfen. Der Verlauf der Revolution machte zudem neu radikalisierten Schichten bestimmte Dinge klar, weil sie of-

Die Wahrheit ist immer konkret

fensichtlich waren: Die Brutalität und Unreformierbarkeit des Zarenregimes, die ängstliche Haltung der Bürgerlichen, die die Revolte mehr fürchteten als den Zaren, aber auch die potenzielle eigene Macht. Nach Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen über Mitgliedschaftskriterien und Fragen des Parteiaufbaus machten die Bolschewiki im Verlauf des Jahres 1905 enorme Fortschritte; vor allem, nachdem Lenin im November aus dem Exil zurückkehren konnte. Zu diesem Zeitpunkt zählten sie 8400 Mitglieder. Im April 1906 waren es 13.000 Mitglieder und 1907, als die Revolution endgültig niedergeschlagen wurde, waren die Bolschewiki mit 46.000 Mitgliedern der stärkste Flügel der russischen Sozialdemokratie. Es folgten dann wieder diverse Rückschläge. Dennoch verfügten die Bolschewiki bei Ausbruch der Revolution 1917 über eine in der Arbeiterklasse verankerte und handlungsfähige Partei. Und was ist nun eine leninistische Partei? Die beiden Sprünge in der Organisationstheorie 1902 und im Verlaufe der Revolution 1905 lassen sich formelhaft als »Fest in den Prinzipien, flexibel in der Taktik« zusammenfassen. Die Umstände mögen sich seitdem geändert haben. Trotzdem ist jeder, der sich heute mit den Fragen des Aufbaus von Organisationen zum Kampf gegen den Kapitalismus befasst, gut beraten, sich mit den grundsätzlichen Ideen Lenins zum Parteiaufbau auseinanderzusetzen – aber nicht mit der stalinistischen Karikatur namens »Leninismus«. ■

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Die Revolution ist weiblich Nach der Oktoberrevolution war Alexandra Kollontai die erste Ministerin der Welt. Gemeinsam mit vielen anderen Frauen trieb sie den Kampf um Befreiung voran VON Katrin Schierbach

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ohin geht das Geld der Menschen? Zu den Schulen, den Krankenhäusern, zum Wohnungsbau, zum Mutterschutz und zur Versorgung von Kindern? Nichts davon geschieht. Das Geld der Menschen finanziert blutige Auseinandersetzungen. Die Bänker, die Fabrikbesitzer, die Geldsäcke der Landbesitzer sind für den Krieg verantwortlich. Sie alle gehören zu einer Bande von Dieben. Und die Menschen sterben. Sammelt Euch unter dem roten Banner der Bolschewistischen Partei!« Diese Worte richtete Alexandra Kollontai im Frühjahr 1917 an eine Massenversammlung. Die Revolutionärin war eine der beliebtesten und mitreißendsten Rednerinnen der Bolschewiki. Nach der Oktoberrevolution wurde sie 1917 Volkskommissarin, also Ministerin, für staatliche Fürsorge, Jahre und Jahrzehnte, bevor in westlichen Industrienationen Frauen in Regierungen Ämter ausübten. Von 1920 bis 1922 leitete sie die Frauenabteilung der Bolschewiki Zhenodtel und arbeitete später als Diplomatin in Norwegen und Schweden. Geboren im Jahr 1872 in eine adeligen Familie, trat Alexandra Kollontai 1896 der damals verbotenen Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Eine ihrer Lehrerinnen gab ihr erste marxistische Texte, und ihre folgenden Begegnungen mit Arbeiterinnen beeindruckten sie sehr. Sie beschloss, sich gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu engagieren. Dabei konzentrierte sie sich auf die Arbeit unter Frauen, überzeugt davon, dass ohne deren politische und gewerkschaftliche Widerstände eine andere, gerechte Gesellschaft nicht möglich werde. Schon in ihrer 1909 erschienenen Broschüre »Die soziale Basis der Frauenfrage« schreibt sie: »Frauen können nur in einer Welt wirklich frei sein, die sozial und produktiv anders organisiert ist. Dies meint

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Katrin Schierbach ist Mitglied der LINKEN in Berlin und Co-Autorin von »Marxismus und Frauenbefreiung« (Edition Aurora 1999).


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nicht, dass parzielle Verbesserungen im Leben von Frauen in der modernen Gesellschaft nicht möglich sind. (...) Im Gegenteil, jede gewonnene Auseinandersetzung der Arbeiterklasse bedeutet einen Schritt, der die Menschheit zum Königreich der Freiheit und der sozialen Gleichheit führt – jedes Recht, dass eine Frau gewinnt, bringt uns dem Ziel der Emanzipation näher.« Die Gesetzgebungen nach der Oktoberrevolution gelten als weltweit am fortschrittlichsten in den damaligen Industriegesellschaften (siehe Seite 58). Kollontai war mit diesen Gesetzen jedoch noch nicht zufrieden, arbeitete an Verbesserungen und kritisierte: »In der Scheidungsfrage sind wir etwa auf dem gleichen Niveau mit Nordamerika, wohingegen wir in der Frage der außerehelichen Kinder noch nicht einmal den Stand Norwegens erreicht haben.« In ihrem Ministerium schaffte sie alle Hierarchien ab, es fanden regelmäßig Zusammenkünfte und Diskussionen aller dort Beschäftigten statt. Louise Bryant, US-amerikanische Sozialistin, Journalistin und Augenzeugin vieler Monate nach der russischen Revolution schreibt: »Dort sollten alle Vorschläge, egal ob von der Putzfrau oder den leitenden Beamten, diskutiert werden.« 1918 riefen Kollontai, Inessa Armand, Konkordia Samoileva und Klaudia Nikolaeva die erste Gesamtrussische Frauenkonferenz ins Leben. In ganz Russland versammelten die Mitarbeiterinnen der Frauenabteilung Arbeiterinnen und Bäuerinnen, diskutierten und wählten Delegierte. Etwas mehr als tausend kamen zusammen. Bei aller Freude über die Revolution kritisierten Delegierte deutlich, dass Vorhaben der Regierung nicht voll umgesetzt wurden. Samoileva berichtete: »Arbeiterinnen erlitten Enttäuschungen und beschuldigten die Sowjetregierung, ihre Versprechen nach Brot und Land nicht zu halten.« Dies lag an der schlechten Versorgungslage nach dem Krieg. Parallel zu den Versuchen, die doppelte Belastung von Frauen zu beseitigen, entwickelte Kollontai Vorlesungen zur Volksbildung. Sie sind unter dem Titel »Die Situation der Frau in der geschichtlichen Entwicklung« aus dem Jahr 1921 zusammengefasst. Gemeinsam mit hunderten Mitstreiterinnen in der Frauenabteilung versuchte sie, mithilfe dieser Vorlesungen die Alphabetisierung und die Politisierung von Frauen in ganz Russland voranzubringen. Die Aktivistinnen erhofften sich, dass die Frauen dadurch stärker in das politische Geschehen eingreifen würden. Und das taten sie. Die gewerkschaftliche Organisierung von Frauen stieg. Die politische Beteiligung stieg. Mehr und mehr Frauen lasen und schrieben Artikel. Sie forderten politische Rechte und Arbeitsrechte ein und setzten diese auch durch. Die Scheidungsraten stiegen. Viele Frauen wandten sich auch

an das Zhenotdel, um Beziehungsfragen zu klären. Einige Beispiele hat Kollontai in dem Band »Wege der Liebe« veröffentlicht. Es gelang mit dieser gemeinsamen Arbeit, tausende junge Frauen für die Bolschewiki zu gewinnen. Ein Beispiel für solch einen Werdegang von Politisierung und Unterstützung ist A. E. Rodinova, eine Straßenbahnfahrerin aus Petrograd. Sie beschreibt,

Eine junge Straßenbahnfahrerin versteckte 42 Gewehre wie sie sich durch ihre Arbeit und ihre Erfahrungen im Krieg und in der Revolution radikalisierte. Wie viele Kinder aus der Arbeiterklasse arbeitete sie bereits als junges Mädchen. 1914 wurde sie Straßenbahnfahrerin. Sie konnte nicht rechnen. Ihre Route passierte die Putilow-Werke, in der viele sozialdemokratische Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt waren. Diese halfen ihr beim Einsammeln und Berechnen der Fahrpreise. Sie lernte auch, dass sie sich gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen erfolgreich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen wehren konnte. Als nach der Februarrevolution 1917 die Bolschewiki und Genossinnen um Alexandra Kollontai entschieden, die Zeitung Rabotnitsa (Die Arbeiterin) wieder herauszugeben, war Rodinova bereits so radikalisiert und mutig, dass sie drei Tagesgehälter ihres geringen Einkommens spendete, um die ersten Ausgaben mitzufinanzieren. Im Sommer desselben Jahres schloss Rodinova sich den Bolschewiki an. Vor der Oktoberrevolution, als die Provisorische Regierung zu einer Entwaffnung der Arbeiterinnen und Arbeiter aufrief, versteckte sie 42 Gewehre und andere Waffen in ihrem Straßenbahn-Depot. Während der Oktoberrevolution war sie dann dafür verantwortlich, dass Straßenbahnen mit Maschinengewehren zum Winterpalais fuhren, dass die Straßenbahnen während der Erhebung die Aufständischen transportieren konnten. Alte Rollenbilder waren in der Revolution allerdings nicht komplett überwunden – so gab es nach wie vor Vorurteile gegenüber Frauen und sie trugen bei allen Erleichterungen immer noch eine Doppelbelastung durch Erwerbs- und Familienarbeit. Es gab wenige Frauen an der Spitze der neuen Regierung. Viele Tätigkeiten von Frauen in der neuen Gesellschaft waren die klassischen »Frauenaufgaben« wie Erste Hilfe und Verpflegung. Und dennoch rissen die russischen Frauen in der Revolution viele gesellschaftliche Stereotype nieder. Alexandra Kollontai bleibt eine ihrer herausragenden Stimmen. ■

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Von Robert Blättermann

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Ohne ihn sind Filme, wie wir sie heute kennen, undenkbar: Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« schrieb Filmgeschichte

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m Frühjahr 1924 stand ein junger Mann in einem Moskauer Gaswerk. Sergej Eisenstein, Assistent des berühmten Theaterregisseurs Wsewolod Meyerhold, wollte dort das Stück »Gasmasken« zur Aufführung bringen. Darin entscheidet sich ein Arbeiterkollektiv, unter Einsatz ihres Lebens ihre Fabrik zu retten. Kunst und Arbeitsleben sollten miteinander verschmelzen – das war zumindest die Idee. Doch die Wirklichkeit des Gaswerks wirkte auf Eisenstein ungeheuer beeindruckend. Mickrig dagegen war seine Theaterbühne. Sie schien der Idee des Stücks im Weg zu stehen. Eisenstein stoppte die Inszenierung. Er besorgte sich die notwendige Ausrüstung und begann in derselben Fabrik und mit denselben Schauspielern mit den Dreharbeiten zu »Streik«, seinem ersten Film. Doch es war sein zweiter Film, der nur wenige Monate später im Jahr 1925 veröffentlicht wurde, der die Geschichte verändern sollte: »Panzerkreuzer Potemkin«. Potemkin ist ein besonderer Film. Ein Film, der eine ästhetische Revolution auslöste, welche die Bildsprache nachhaltig veränderte. Ein Film, der in Teilen der USA als »Blaupause für Meuterei« verboten war, dessen Kopien in Frankreich verbrannt wurden, der in Großbritannien bis 1954 illegal war und den indonesische Matrosen 1933 zum Anlass für einen Aufstand nahmen. Ein Film, dessen Aufführung in Berlin durch eine Demonstration erzwungen wurde, und von dem Bertolt Brecht berichtete, dass neben ihm »selbst die Ausbeuter ergriffen wurden von jener Bewegung der Zustimmung angesichts der Tat revolutionärer Matrosen«. Wie konnte ein Film eine solche Wirkung entfalten?

4500 Meter Filmmaterial, schnitt dieses auf etwa 1400 Meter zurecht und klebte noch am Tag der Uraufführung mit seiner Spucke die letzten Szenen aneinander. Angelehnt an die wahren Begebenheiten des Revolutionsjahres 1905 rebellieren im Film die Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin, weil sie nur verdorbenes Essen bekommen. Sie übernehmen die Kontrolle über das Schiff, wobei ihr Wortführer erschossen wird. Daraufhin wird dieser an der Küste Odessas aufgebahrt. Tausende Menschen ziehen zu seinem Sarg, um ihre Solidarität zu bekunden und die Matrosen mit Lebensmitteln zu versorgen. Doch die Truppen des Zaren marschieren im Hafen ein und metzeln die Bevölkerung nieder. Die Mannschaft des Panzerkreuzers feuert auf den Sitz des Generalstabs und der Terror hört zunächst auf. Am nächsten Tag erscheint ein zaristisches Geschwader, um die Potemkin zu vernichten. Doch auch auf den anderen Schiffen meutern und verbrüdern sich die Matrosen. An den Masten flattern die roten Fahnen der Revolution.

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Schock und Sensation sind Eisensteins Mittel

Der Film sollte anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der ersten Russischen Revolution des Jahres 1905 erscheinen und die revolutionäre Bewegung an verschiedenen Orten abbilden. Doch Eisenstein entschloss sich während der Dreharbeiten, den Matrosenaufstand in Odessa ins Zentrum zu stellen. Er wollte an einem Ereignis das Typische der gesamten Revolutionsbewegung fassen. Er filmte

Eisenstein inszeniert im ganzen Film ein bildgewaltiges und symbolisches Aufeinandertreffen der Klassen. Die bekannte »Treppenszene von Odessa« im 4. Akt ist ein einprägsames Beispiel dafür, wie ästhetische und politische Inszenierung sich verschränken. Allen voran beeindruckt sie durch die Bildmontage. Unter Einfluss Meyerholds entwickelte Eisenstein am Theater das Konzept der Montage der Attraktionen. Durch die geballte Aneinanderreihung von sensationellen Darbietungen und Schockelementen sollten sich die Zuschauer von überkommenen Darstellungsgewohnheiten lösen. Er übertrug dieses Konzept auf den Film, indem er Schnitttechniken benutzte, die die Sinne und das assoziative Denken der Zuschauer stimulieren sollten. In der Treppenszene verdichtet Eisenstein die Bewegung der Bilder derart, dass es auf den Betrachter wirkt, als würde die Handlung immer stärker beschleunigt, obwohl der eigentliche Vorgang zeitlich gedehnt wird. In der knapp sieben Minu-

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ten langen Sequenz schwankt die Dauer der Einstellungen zwischen 0,2 und 5 Sekunden, wobei kurzen Einstellungen vorherrschen.

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Sergei Michailowitsch Eisenstein gilt, obwohl unter schwierigen Umständen tätig, theoretisch wie handwerklich als einer der größten Regisseure und Visionäre der Filmgeschichte

ROBERT BLÄTTERMANN hat Literaturwissenschaft studiert und ist in der LINKEN in Berlin-Neukölln aktiv.

Zunächst herrscht im Hafen von Odessa ein Fest der Verbrüderung und Verschwesterung. Weite Teile der Bevölkerung, dargestellt durch die Typen »Student«, »Behinderter«, »Mutter«, »Lehrerin«, »Kind« und »Begüterter«, unterstützen den Aufstand der Matrosen und stehen symbolisch für gesellschaftliche Gruppen, die die Rebellion befürworten. Sie teilen ihre materiellen Güter, lachen und feiern die Solidarität. Das Wort »Plötzlich« erscheint im Bild. Panik und Chaos brechen aus. Die Menschen fliehen und rennen die riesige Steintreppe am Hafen hinunter. Dann sieht man Soldaten. Menschen brechen auf der Treppe zusammen, bleiben liegen und werden überrannt. Das Chaos ihrer Bewegung geht über in den Rhythmus der gleichmäßig marschie-

Eisenstein revolutionierte die Bildmontage renden Truppen, dargestellt durch Großaufnahmen ihrer Stiefel und Gewehre. Immer wieder wechselnd zeigen totale und halbtotale Einstellungen die Masse und Nahaufnahmen die Reaktionen Einzelner in der Menschenmenge. Die Kamerastandpunkte wechseln hin und her und bei den Totalen fährt die Kamera häufig parallel zum aufgenommenen Objekt und fängt dieses im Bildmittelpunkt ein. Die Steigerung des Bildtempos wird unterstützt durch eine stetig ansteigende Melodie, welche durch Trommelschläge die Gewehrsalven imitiert. Innerhalb dieser Spannungskurve kommt es zum ersten Höhepunkt. Ein Junge wird von Gewehrsalven getroffen und stürzt. Wieder folgen Bilder des Chaos, den maschinenhaft mordenden Körpern der Soldaten gegenübergestellt. Dann wird die Steigerung des Tempos unterbrochen. Anklagend und stark, mit dem Körper ihres toten Kindes im Arm, steigt die Mutter langsam aufwärts den Soldaten

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entgegen. Ungerührt schießen sie. Am Boden versuchen mehr Soldaten, den Flüchtenden den Weg abzuschneiden. Eine weitere Mutter mit Kinderwagen kommt auf der Treppe ins Bild. Sie wird getroffen. Ihre Hand gleitet symbolisch von ihrer Gürtelschnalle und der Wagen mit ihrem Baby rollt schutzlos hinab. Mit dem hinabrollenden Kinderwagen intensiviert sich der Rhythmus weiter. Nahaufnahmen des weinenden Babys im Wagen, Bilder mordender Soldaten und blutender Gesichter lösen sich ab. Nach einer anscheinend endlosen Fahrt sieht man den Wagen umstürzen und in den Sturz hinein schneidet Eisenstein drei Großaufnahmen eines Kosaken, der im Blutrausch mit seinem Säbel dreimal zuschlägt. In jeder Sekunde wächst beim Betrachten die Anteilnahme mit der Bevölkerung und die Wut über die blinde Gewalt der Staatsmacht. Eine Antwort wird ersehnt. Dann dreht sich langsam das Geschützrohr des Panzerkreuzers – in starkem Kontrast zu den schnellen Massakerszenen – und das Schiff schießt zurück. Der Sitz des Generalstabs im Theater von Odessa wird getroffen. Rauch steigt auf. Zum Schluss der Szene sieht man die dynamische Montagesequenz von drei steinernen Löwen, einem schlafenden, einem erwachenden und einem brüllenden. Das »schlafende« Volk ist »aufgewacht« und begehrt gegen die Gräueltaten auf. Der Film strebte nicht eine exakte historische Darstellung an, sondern ist als revolutionäres Lehrstück mit emotionaler Überzeugungskraft angelegt. Dafür revolutionierte Eisenstein die Bildmontage und schuf den Film als solchen neu. Anders als die fließenden, kaum wahrnehmbaren Schnitte des Erzählkinos sind die Bilderwechsel deutlich wahrnehmbar. Nicht unbewusst, sondern aktiv sollten Zuschauerinnen und Zuschauer an der Geschichte teilnehmen und diese bewerten. Eisenstein bezeichnete die Montage als »das stärkste Kompositionsmittel für die künstlerische Realisierung eines Sujets«. Sie war für ihn ein Werkzeug, um die gezeigte Wirklichkeit zu vertiefen, denn ihre Dynamik speist sich aus der Gleichzeitigkeit von Entwicklung und Bewertung durch das Publikum. Eisenstein inszeniert parteiisch, indem er das Publikum seine marxistische Interpretation der Ereignisse wahrnehmen lässt. Kontraste der Gefühle, Bewegungen, Blickwinkel, Farben, Mengen sind die Grundelemente seiner Montage: »Werden zwei beliebige Stücke aneinander gefügt, so vereinigen sie sich unweigerlich zu einer neuen Vorstellung, die aus dieser Gegenüberstellung als neue Qualität hervorgeht.« Die beiden Bildstücke A und B müssen dabei so aus denselben Wesenszügen des zu entwickelnden Themas entspringen, dass ihre Gegenüberstellung – und nicht etwa ein bloßes Aneinanderfügen – in der Wahrnehmung und im Gefühl des Zuschauers ein verallgemeinertes Bild des Themas auslöst. Das Ringen der Widersprüche in Form und Inhalt des Films, die in


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Die überwältigende Wirkung seiner Komposition verdankt der Film einer Darstellung, die sich in ihren Formen an den Entwicklungsbedingungen der menschlichen Geschichte orientierte und diese selbst zu ihrem Gegenstand machte. Dazu Eisenstein: »Man könnte sagen, dass sich uns hier das Organische des Potemkin […] offenbart, denn der Sprung, der den Aufbau eines jeden Kompositionsgliedes und die Gesamtkomposition des Films charakterisiert, bedeutet die Durchdringung des Aufbaus der Komposition mit dem wichtigsten inhaltlich-thematischen Element – dem revolutionären Ausbruch, der ja einer der Sprünge ist, in denen sich die unaufhörlich vorwärtsschreitende bewusste gesellschaftliche Entwicklung vollzieht.« Die Kunst der Russischen Revolution erzählt uns vom Potenzial der kreativen geistigen Produktivkräfte, das sich eruptiv entfaltete, als die Massen die Bühne der Geschichte betraten. In den wenigen Jahren des gesellschaftlichen Aufbruchs machten Malerei, Musik, Theater und Film ästhetische Sprünge, welche die Kunst der Welt nachhaltig prägten. Die Kunst der Revolution erzählt von der Befreiung unserer Klasse. Deshalb erzählt sie gleichzeitig von ihrer eigenen Befreiung. Die historischen Erfahrungen sind in den Kunstwerken gespeichert, deren Wirkung bis in unsere Gegenwart reicht und die immer wieder zur Aneignung einladen.

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jeder Szene und jedem der fünf Filmakte stufenweise in eine neue Qualität übergehen, stellt eine Übertragung der marxistischen Geschichtsphilosophie dar. Marx verstand die Wirklichkeit als die »Einheit des Verschiedenen«. Die Gesellschaft ist bei ihm die Einheit von Gegensätzen. Es sind ihre Widersprüchliche, die zu Bewegung und zu gesellschaftlichen Veränderungen führen – was auch mit dem Begriff der Dialektik beschrieben wird. Eine Abfolge von Veränderungen in der Quantität bringen eine neue Qualität hervor. So auch in der Treppenszene. Über die Treppenstufen von Odessa stürmt die Handlung des Films schwindelerregend abwärts, bis sie in die langsame Aufwärtsbewegung der Mutter umschlägt. Sie wird erschossen und plötzlich macht die Darstellungsmethode einen Sprung, indem der rollende Kinderwagen das bildliche Hinabrollen der Menge ins Faktische übersetzt. Die Bewegung wird wieder gesteigert, bis schließlich die drei Bilder des aufspringenden Löwen poetisch das neuerliche Aufbäumen der Klasse einleiten und der Panzerkreuzer zurückschießt. Die große Gegenbewegung hat damit begonnen. Jeder Teil des Films enthält einen solchen dialektischen Bruch. Dazu sagt Eisenstein: »Ich möchte betonen, dass dieser nicht als ein Stilisierungsmittel eingeführt wird, sondern dem Moment einer dialektischen Zuspitzung von Widersprüchen entspricht, die für unsere Epoche und jede ihrer einzelnen Situationen charakteristisch ist.«

Szenen aus dem ersten Höhepunkt des Films: Soldaten schießen den Protest nieder. Eine Mutter mit Kinderwagen wird getroffen, sinkt zu Boden und der Wagen samt Kind rollt die Treppe hinunter

Deshalb hat fast 100 Jahre später »Panzerkreuzer Potemkin« nur wenig von seiner Wirkungskraft verloren, auch wenn der soziale Kontext heute ein anderer ist. Im Blockbusterkino eines Steven Spielberg oder George Lucas finden wir die Folgen von Eisensteins Montageelementen. Sie agitieren weiterhin die Sinne des Zuschauers – freilich völlig enthoben ihrer Entstehungsgeschichte und ihres dialektischen Potenzials. Dennoch geht einiges, was wir im modernen Film heute bestaunen, auf die Russische Revolution und jenen Film zurück, der Filmgeschichte schrieb, indem er menschliche Geschichte inszenierte. ■

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Š Wikimedia / Tsarist police document

Review


REVIEW | BUCH

Munition gegen den Stalinismus Der Niedergang der Russischen Revolution ließ ein Regime entstehen, das den Kommunismus in sein Gegenteil verkehrte – und von Beginn an von Linken kritisiert wurde. Ein neuer Sammelband zeichnet die fast hundertjährige Debatte über den Charakter des Stalinismus nach Von Jan Maas

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ittlerweile liegen die Montagsdemonstrationen, die das SEDRegime in der DDR erschütterten und schließlich stürzten, 28 Jahre zurück. Ganz offensichtlich ist der Stalinismus als Herrschaftssystem – vielleicht abgesehen von Nordkorea – inzwischen Geschichte. Doch er ist immer noch präsent: als Schreckensbild, das die Herrschenden von allen zeichnen, die den Kapitalismus herausfordern wollen, aber auch als Bestandteil der linken Bewegung, die sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung hat eine lange Tradition. Der Verfall der Russischen Revolution und der Aufstieg der Partei- und Staatsbürokratie zur Macht waren von Anfang an Gegenstand von Diskussionen und Analysen innerhalb der kommunistischen Parteien selbst. Wie war das zu verstehen, was sich da in der Sowjetunion und bald auch in verschiedenen Teilen der Kommunistischen Internationale im Namen des Sozialismus abspielte? Und wie sollte die Bewegung darauf reagieren? Der marxistische Historiker Christoph Jünke hat zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution einen Sammelband herausgegeben, der Auszüge aus den Werken von 15 Autoren vorstellt, die den Stalinismus aus marxistischen Blickwinkeln untersuchten. Die Zeitspanne

reicht von 1928 bis 1982, die Autoren stammen unter anderem aus der Sowjetunion, der Volksrepublik Polen, beiden Teilen Deutschlands und aus verschiedenen westeuropäischen Staaten. Es liegt in der Natur einer solchen Auswahl, dass eine ganze Reihe von Autoren nicht vertreten ist. Tony Cliff fehlt zum Beispiel, ebenso Karl Korsch und andere. Trotzdem ist die Auswahl gelungen. Sie beleuchtet verschiedene Aspekte des Stalinismus und führt eine große Bandbreite an mehr oder minder überzeugenden Erklärungsversuchen vor. Leider reicht der Platz an dieser Stelle nicht einmal, um alle Autoren und Texte vorzustellen, geschweige denn sie zu bewerten. Zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheint in diesem Sammelband etwa ein Auszug aus Victor Serges Werk »Von Lenin zu Stalin« von 1936. Anders als der Titel vermuten lässt, zieht der in der Sowjetunion verfolgte Revolutionär keine direkte Verbindung zwischen den beiden, sondern sagt im Gegenteil: »Alles verändert sich.« Er zitiert aus Protestbriefen hungernder Arbeiter, Berichten über den Widerstand von Bäuerinnen gegen die Zwangskollektivierung und internen Protokollen der Opposition gegen Stalin. Leo Trotzki, Stalins wohl bekanntester Gegenspieler, wehr-

te sich im selben Jahr noch mit Händen und Füßen dagegen, die Bürokratie als Klasse zu bezeichnen. »Das Proletariat hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen«, schrieb er. Dreißig Jahre später gingen Jacek Kurón und Karol Modzelewski aus Polen einen Schritt weiter. Sehr deutlich bezeichneten sie im Jahr 1964 den Stalinismus als Klassenherrschaft: »In unserem System gibt es keine individuellen Kapitalisten. Die Fabriken, die Hütten- und Bergwerke sind zusammen mit ihrer gesamten Produktion Eigentum des Staates. Da sich jedoch der Staat in den Händen der Monopolbürokratie befindet, die der alleinige Disponent der Produktionsmittel und der alleinige Ausbeuter der Arbeiterklasse ist, verwandelt sich die Gesamtheit der Produktionsund Unterhaltsmittel in zentralisiertes ›Staatskapital‹.« Zur Wiederbelebung der Debatte über Wurzeln und Charakter des Stalinismus kann Jünkes Sammlung einen Beitrag leisten. Nötig ist die Debatte auf jeden Fall, wenn die Linke das nötige Selbstbewusstsein aufbringen will, weiter für das Ziel des Sozialismus zu kämpfen. ■

★ ★★ BUCH | Christoph Jünke (Hrsg.)| Marxistische Stalinismus-Kritik im 20. Jahrhundert | Neuer ISP-Verlag Köln 2017 | 616 Seiten | 24,80 Euro

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REVIEW | Album des Monats

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rgendwann im Frühjahr 2017 war ich auf einem Hip-Hop-Konzert in Berlin. Auf dem Heimweg traf ich durch Zufall den Rapper Megaloh. Wir kamen ins Gespräch und redeten über besagtes Konzert. Unsere Unterhaltung vertiefte sich im Laufe der gemeinsamen S-Bahnfahrt und Megaloh plauderte nebenbei aus dem Nähkästchen: Ein neues Album solle bald erscheinen, ein Black-Power-Album. Es ist zwar traurig, aber nicht überraschend, dass Megaloh sich daraufhin sofort in einer Verteidigungshaltung sah und mir erklärte, warum Black Power nicht das schwarze Pendant zur rassistischen White-Power-Bewegung ist. In einem Land, in dem ein Schwarzer einem Weißen erklären muss, dass Black Power kein Gegenrassismus ist, ist das nun erscheinende Album leider bitter nötig. Jetzt ist es offiziell: Megaloh, Musa und Ghanaian Stallion sind zusammen BSMG und veröffentlichen ihr erstes Album »Platz an der Sonne«. Dabei hat der Name der Gruppe mehrere Bedeutungen. Mal heißt er Black Superman Gang, mal heißt er Brüder schaffen mehr gemeinsam. Mit letzterer Bedeutung beginnt das Album. Der Track »B.S.M.G.« ist eine Ode an die Organisierung und gleichzeitig eine Einführung in das durch und durch politische Album. Mit Zeilen wie »Sie maximieren die Grenzen, die uns trennen sollen« sprechen die Musiker Rassismus in der Klassengesellschaft an. Außerdem scheint in Zeilen wie »Ein R vor der Evolution« ihr Bewusstsein der Lösungen durch, die es braucht, um sich von den Ressentiments zu befreien. Das ist auch der Grund, warum das Album so gut ist. Das Rezept: Beschreibung der rassistischen Verhältnisse, Zusammenhänge der Klassengesellschaft und Emanzipation durch Kämpfe ergeben »Platz an der Sonne«. In diesen Tönen geht das Album weiter und ich bin erstaunt, wie gut das funktioniert,

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BMSG | Platz an der Sonne

ALBUM DES MONATS Das schwarze Selbstbewusstsein hat ein neues Album. Unser Autor erklärt, warum und weshalb der Tonträger so subversiv ist Von Peter Stolz

★ ★★ BMSG | Platz an der Sonne | Nesola Universal Music | 2017

ohne mit dem Zeigefinger zu schwingen. Es geht um Entwurzelung, ihre afrikanische Heimat, und das Gefühl, als Schwarzer in Deutschland aufzuwachsen. Wenn man dann knapp drei Viertel des Albums gehört hat, stößt man auf den Track »N-Wort«, mit einem einleitenden Zitat von Harald Schmidt. Dieser fühlt sich frei das N-Wort zu benutzen und macht sich über »die kleinen…« lustig. Als das

Publikum daraufhin klatscht und lacht, fühlt man nichts als Scham und Übelkeit. Ein weiterer Track, der im Ohr bleibt, ist »Geschichtsunterricht« mit Chima Ede und Amewu. Letzterer wurde übrigens einmal in einem Interview von hiphop. de gefragt, ob er meine, dass es noch Rassismus in Deutschland gebe. Ein weiterer Grund, der das durchweg schwarze Album nur umso dringlicher macht. Besagter Track ist eine

radikale Kritik am Eurozentrismus und Postkolonialismus. Die vier Rapper schaffen es auf diesem Stück, ohne populistisch zu sein, klipp und klar zu machen, dass die Geschichte der Menschheit nicht weiß war. Sie verweisen auf Kämpfe ihrer Brüder und Schwestern, die nicht dafür gekämpft haben, dass die Schädel ihrer Vorfahren in deutschen Museen ausgestellt werden und auch nicht dafür, dass Hollywood die Geschichte mit Weißen besetzt. Doch wie erwähnt bleiben die Künstler nicht in einer Schockstarre über die aktuellen Verhältnisse, sondern sie bieten Lösungen oder wie im Falle »Lang lebe Afrika« eine internationalistische und selbstbewusste Hymne. Sie hört sich ein Stück weit auf eine positive Weise selbstgerecht an. Und man ist direkt froh, mit dem inneren Ohr sozusagen tausende Fans aller Hautfarben »Lang lebe Afrika« mitsingen zu hören. Musikalisch klappt der Rückgriff auf die afrikanischen Wurzeln ziemlich gut. Der Beatproduzent der Gruppe, Ghanaian Stallion, schafft es, traditionelle afrikanische Melodien und Instrumente mit modernen Hip-Hop-Beats zu mixen. Dazu muss man allerdings sagen, dass das momentan sehr in Mode ist. Er hat das Rad nicht neu erfunden, aber er hat dem Rad einen Reifen mit Profil und Felgen verpasst. Das Album ist in seiner Form einzigartig und notwendig. Endlich gibt es einen emanzipatorischen Tonträger im doch oft sehr konservativen Rapkosmos. Es geht um Kämpfe, die »mit allen notwendigen Mitteln« geführt werden müssen, um den Kolonialismus des Westens, um Selbstermächtigung und um Afrika. Diese Lieder könnten viele junge, orientierungslose Deutsche mit afrikanischer Abstammung abholen und sie politisieren. Fernab von den Vorurteilen, unter denen sie und ihre Vorfahren Jahrhunderte leiden mussten. ■


REVIEW | BUCH

Mittendrin im Bürgerkrieg In den 1930er Jahren veröffentlichte der sowjetische Schriftsteller Artjom Wesjoly einen Roman über die Zeit nach der Revolution. Das Buch wurde bald verboten, sein Autor ermordet. Nun ist eine deutsche Übersetzung erschienen Von Jan Maas

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assend zum Jahrestag der Oktoberrevolution hat der Aufbau Verlag Artjom Wesjolys Roman »Russland, in Blut gewaschen« unter dem Titel »Blut und Feuer« neu aufgelegt. Die verfügbare Literatur über die russische Revolution und den Bürgerkrieg ist damit um ein gutes und wichtiges Stück reicher geworden. Wesjoly fügt ihr neue Blickwinkel hinzu und erzählt in einer beispiellosen, furiosen Art und Weise. »Blut und Feuer« hat das Zeug zum Klassiker. Der Autor – eigentlich Nikolai Kotschkurow – kam 1899 als Sohn eines Lastenträgers zur Welt. Im März 1917 schloss er sich den Bolschewiki an. Nach dem Beginn des Bürgerkriegs 1918 meldete er sich zur Roten Armee. Ab 1920 arbeitete er als Journalist auf einem Agitationszug. In Anlehnung an Maxim Gorki (Maxim der Bittere) wählte er das Pseudonym Artjom Newesjoly (Artjom der Unfröhliche), das er bald in Wesjoly (der Fröhliche) änderte, um den Unterscheid zum alten Russland zu betonen. Parallel zu seiner Arbeit als Journalist verfasste Wesjoly Erzählungen und schrieb an einem Roman, in dem er seine Erlebnisse im Bürgerkrieg verarbeitete. Er wirkte in der Literatengruppe »Perewal« mit, deren Theoretiker Alexander Woronski (»Die Kunst, die Welt zu sehen«) war. Die stalinistische Wende 1928/1929 beendete auch die kurzzeitige Blüte

der Kunst. 1937 wurde Woronski als »Trotzkist« erschossen. Kurz darauf wurde auch Wesjoly verhaftet, gefoltert und im folgenden Jahr ermordet. Der Roman, an dem Wesjoly mehr als 15 Jahre lang arbeitete, erschien zwischen 1932 und 1936 in mehreren zensierten Fassungen. Nach Wesjolys Hinrichtung war das Buch zwanzig Jahre lang aus der Öffentlichkeit verschwunden. Erst 1958 erschien es erneut in einer zensierten Version. Die vorliegende Übersetzung folgt der Ausgabe von 1936, der letzten zu Wesjolys Lebzeiten erschienenen, und ergänzt sie um Gestrichenes, da Wesjoly vor seiner Verhaftung seinem Bruder sein Archiv übergeben konnte. Die Hauptfigur des Romans heißt Maxim Kushel. Zunächst Soldat, kehrt er im Laufe des Jahres 1917 zurück in sein Dorf, als in der zaristischen Armee ganze Einheiten meutern, Züge besetzen und einfach nach Hause fahren. Er schließt sich dann der Roten Armee an und gerät zwischen die Fronten von Roten und konterrevolutionären Weißen, aber auch in Kämpfe mit den Grünen, marodierenden Kosakenarmeen, die sich den Bolschewiki nicht beugen wollen, aber den Generälen erst recht nicht. Wesjolys Roman hat viele Stärken. Eine ist der Reichtum an überzeugenden Figuren. Es sind genug, um die widerstreitenden Interessen zu verdeutlichen, aber nicht so viele, dass

der Überblick verloren geht. Außerdem verzichtet er völlig auf holzschnittartige »Gute« und »Böse«. Eine weitere Stärke ist die Liebe zum Detail. Das Leben auf dem Dorf, die Verwüstung des Bürgerkriegs, die ganze Rückständigkeit Russlands, aber auch die tumultartige Demokratie der Räte erscheinen lebendig wie in einem Film. Und schließlich ist da die – meisterhaft übersetzte – Sprache. Die Dialoge sind dem Volk vom Maul abgeschaut, die Prosa virtuos montiert und erfindungsreich. So hat noch kaum jemand aus dem Bürgerkrieg erzählt. Weder Michail Scholochow in »Der stille Don« noch Michail Bulgakow in »Die weiße Garde« und erst recht nicht Nikolai Ostrowski in »Wie der Stahl gehärtet wurde«. Dem Buch hätte eine Kürzung gut getan. Einige Szenen ähneln sich. Aber mit dieser Vorgeschichte ist es auch so unbedingt lesenswert. ■

★ ★★ BUCH | Artjom Wesjoly | Blut und Feuer | Aufbau Verlag | Berlin 2017 | 640 Seiten | 28 Euro

marx21 03/2017

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REVIEW | BUCH

Aus Enttäuschung wird Wut Black Lives Matter ist die größte antirassistische Bewegung in den USA seit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Ein neues Buch analysiert die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung, die trügerische Hoffnung in Präsident Obama und die aktuellen Proteste Von Jules El-Khatib

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★ ★★ BUCH | Keeanga-Yamahtta Taylor | Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation| Münster 2017 | Unrast Verlag | 296 Seiten | 19,80 Euro

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ährend schwarze USAmerikanerinnen und -Amerikaner bis in die 1960er Jahre per Gesetz diskriminiert wurden, blieb auch nach den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung eine gesellschaftliche Ausgrenzung bestehen. Zwar bildeten sich infolge der offiziellen Gleichstellung eine Elite sowie eine kleine obere Mittelschicht unter den schwarzen Amerikanerinnen und Amerikanern heraus, die sich ein gutes Leben leisten konnten. Aber diese Entwicklung veränderte nichts an der schlechten wirtschaftlichen Lage und der Diskriminierung, unter der ein Großteil der schwarzen Bevölkerung immer noch leben musste. Mit der Herausbildung einer schwarzen Oberschicht ging auch die Wahl von schwarzen Abgeordneten in die Parlamente einher. Keeanga-Yamahtta Taylor beschreibt in ihrem Buch die Hoffnungen, die die schwarze Bevölkerung in ihre politischen Vertreterinnen und Vertreter setzte, sowie deren herbe Enttäuschung. Denn nachdem schwarze Politikerinnen und Politiker sich zu Beginn der 1970er Jahre relativ links positionierten, wurden sie mit der Zeit immer mehr zu einem Teil des politischen Establishments und entfernten sich von den Forderungen der Mehrheit der schwarzen Bevölkerung. »Der Konflikt zwischen dem schwarzen politischen Establishment und gewöhn-

lichen Afroamerikanern verschärfte sich jedoch nicht nur aufgrund politischer Umstände, sondern auch aufgrund einer zunehmenden Verachtung für Schwarze, die in Armut lebten«, erklärt Taylor. Dieser Trend setzte sich auch unter Präsident Barack Obama fort, dem Taylor ein ganzes Kapitel widmet. Obama wurde begeistert von einem Großteil der Schwarzen gewählt. Sie verbanden mit seiner Präsidentschaft die Hoffnung, Rassismus zu überwinden und ihre Lebenssituation zu verbessern. Doch innerhalb weniger Jahre wich die Begeisterung Resignation und Frust, weil sich an der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung nichts änderte, wie Taylor faktenreich belegt. »Der Mord an Travyon Martin war ein Wendepunkt. Wie der Mord an Emmett Till beinahe 57 Jahre zuvor, zerstörte Martins Tod die Illusion einer Gesellschaft, in der ›Rasse‹ angeblich keine Rolle mehr spielte.« Nachdem der Mörder des Jugendlichen im Jahr 2013 vom Gericht freigesprochen wurde, entstand zunächst im Internet die Bewegung #blacklivesmatter. Daraus folgten Hunderte Demonstrationen in den gesamten USA. Taylor sieht in Black Lives Matter eine Bewegung, die sich gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit richtet, aber eng verknüpft ist mit der Desillusionierung über Obama. Black Lives Matter lässt sich nicht bändigen von

etablierten Politikerinnen und Politikern und eingesessenen Bürgerrechtsorganisationen. Es ist eine Bewegung, die sich nicht zufrieden geben will mit dem Status quo. Am Ende ihres Buchs wirft Taylor die Frage auf, wie Rassismus und soziale Ungerechtigkeit bekämpft werden können. Sie skizziert einen Weg, den die verarmte weiße Bevölkerung gemeinsam mit schwarzen und lateinamerikanischen Arbeiterinnen und Arbeitern gehen muss: den gleichzeitigen Kampf gegen Rassismus und Ausbeutung. »Unsere Aufgabe besteht darin, den Kampf gegen den Terror der Polizei mit einem Kampf für eine Gesellschaft zu verbinden, in der die Polizei nicht mehr gebraucht wird, um Ungleichheit zu verteidigen und Proteste gegen sie niederzuschlagen.« Taylor ist es mit dem Buch gelungen, die Geschichte des Rassismus und des schwarzen Widerstands in den USA nachzuzeichnen. Sie liefert dabei nicht nur einen wichtigen historischen Überblick, sondern auch einen Ausblick, wie Black Lives Matter erfolgreich mit anderen Kämpfen verbunden werden kann. ■


REVIEW | BUCH Des Monats

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elche sozialen Gruppen können die Gesellschaft verändern und welche Rolle können Linke dabei spielen? Diese zwei Fragen bilden den rote Faden des Essays »Ein unanständiges Angebot?« der Kasseler Stadtverordneten der LINKEN Violetta Bock und des Sozialwissenschaftlers Thomas E. Goes. Die beiden liefern einen Rundumschlag und äußern sich zu Debatten über eine neue Klassenpolitik (sie soll feministisch, antirassistisch und internationalistisch sein), zum Rechtspopulismus der AfD (ein Teil von deren Wählerinnen und Wählern könne von linker Politik überzeugt werden) und zum Potenzial des Linkspopulismus. Die Situation in Deutschland sei durch zunehmende Legitimationsprobleme der Eliten geprägt, schreiben Bock und Goes. Diese seien begründet im (potenziellen) sozialen Abstieg breiter Bevölkerungsschichten und in der von ökonomischer Unsicherheit geprägten Lebensrealität vieler Menschen. Noch gäbe es zwar keine Wirtschaftskrise wie in Südeuropa, doch lasse sich von einer »schleichenden Legitimationskrise« sprechen. Diese eröffne Räume für Populismus von rechts und links. Bislang habe vor allem die AfD diese Räume genutzt. Das wollen die Autorin und der Autor ändern. Populismus verstehen sie als eine Mobilisierungsstrategie, die Widersprüche zwischen »Volk und Elite« verdeutliche. Sie argumentieren durchaus überzeugend, dass es möglich sei, einen antirassistischen Volksbegriff zu prägen, der sich auf alle unterdrückten und lohnabhängigen Einwohnerinnen und Einwohner eines Landes bezieht. Dafür deuten sie »Volk« im Gegensatz zur Rechten als Volksklassen, die sich aus der Arbeiterklasse, anderen lohnabhängigen Schichten des öffentlichen und privaten Sektors, Selbstständigen, Kleinstgewerbetreibenden

Thomas E. Goes/ Violetta Bock | Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte

BUCH DES MONATS Die Debatte um linken Populismus geht weiter. In einem neuen Essay versuchen sich Thomas Goes und Violetta Bock an der Verbindung von Theorie und Praxis Von Rebecca Offermann

★ ★★ BUCH | Thomas E. Goes/ Violetta Bock | Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte | PapyRossa Verlag | Köln 2017 | 133 Seiten | 12,90 Euro

und Erwerbslosen zusammensetzen, unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus. Auf diese Weise liefern Bock und Goes eine lesenswerte Analyse der Unterschiede von rechtem und linkem Populismus. Die meist widersprüchlichen Arten, wie Lohnabhängige Krisenerfahrungen verarbeiten, bilden die Basis für ihre Überlegungen zum linkspopulistischen Potenzial in Deutschland. Darunter ver-

stehen sie die Möglichkeit, die gesellschaftliche Polarisierung für linke Politik zu nutzen. Doch der Linkspopulismus, der ihnen vorschwebt, muss erst noch erfunden werden. Daher fragen sie kritisch, was von der spanischen Linkspartei Podemos, von Hugo Chávez, Bernie Sanders und Sahra Wagenknecht gelernt werden kann. Eine große Stärke des Essays ist, dass er nicht bei der Analyse stehenbleibt. Bock und Goes stellen sieben

Handlungsaufforderungen zur Debatte. Sie wollen eine parlamentarische und außerparlamentarische Linke in Deutschland schaffen, die sich direkt an Kämpfen von Unterdrückten beteiligt und mithilfe populistischer Mobilisierungsstrategien auch den Teil der Bevölkerung erreicht, der nicht politisch organisiert oder nur sporadisch aktiv ist. Ihre Vision ist ein Sozialismus von unten, der selbst von den Volksklassen erkämpft wird – und nicht stellvertretend von einer Partei oder Führungsfigur. Die politische Praxis, die sie für linke Basisaktive vorschlagen, orientiert sich stark am betrieblichen und am CommunityOrganizing. Für Bock und Goes bedeutet linker Populismus eine Dreifaltigkeit aus politischen Organisationen, lokale Zentren der Gegenmacht, der Solidarität und des Austauschs und einer »Politik der einigenden Fronten« (Linke sollen trotz unterschiedlicher Ansichten zusammen gegen gemeinsame Gegner kämpfen). Als Öffentlichkeitsstrategie bedeute Populismus mithilfe von Symbolen, Slogans und Kampagnen ein »Wir« zu erschaffen, das ein klares gemeinsames Feindbild hat: die Elite aus Staat und Kapital. Eine Schwäche des Essays ist derweil die Auseinandersetzung mit dem, was Bock und Goes »rebellisches Regieren« nennen, also dem Verhältnis der Linken zur parlamentarischen Macht. Sie erwähnen zwar das Scheitern linker Regierungen (etwa in Chile in den 1970ern oder aktuell in Griechenland), aber unterschätzen die strukturelle Abhängigkeit des Staats vom Kapital, welche die Spielräume linker Regierungen einschränkt. So sind bisher Übergänge von einem Gesellschaftssystem ins andere nicht auf parlamentarischem Weg zustande gekommen. Nichtsdestotrotz haben Bock und Goes einen sehr lesenswerten Beitrag dazu veröffentlicht, wie linke Politik funktionieren könnte.■ marx21 03/2017

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Preview


PREVIEW | PROTEST BEIM KLIMAGIPFEL

Kohlegruben mit Protest fluten Anfang November finden der diesjährige Weltklimagipfel in Bonn statt (6.17.11. 2017). Das Bündnis Ende Gelände ruft in den Tagen vor dem Gipfel zu Protesten auf. Ein Pflichttermin für Linke VoM Bündnis ENDE GELÄNDE

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chickes Ambiente, wohltemperierte Konferenzsäle. Schön weit weg von da, wo es stinkt, qualmt und raucht – den Schloten, Kohlegruben und Fracking-Bohrungen. Und noch weiter entfernt von den Leidtragenden des Klimawandels. So fanden Klimagipfel bisher statt. Doch diesmal wird alles anders. Wenn Tausende Delegierte aus der ganzen Welt im November zum UN-Klimagipfel (COP 23) in Bonn zusammenkommen, fressen sich nur 50 Kilometer entfernt die gigantischen Kohlebagger weiter in die Erde. In Deutschland findet die Weltklimakonferenz statt – zugleich sind wir Weltmeister im Braunkohle verbrennen. Die Präsidentschaft der Konferenz haben die Fidschi-Inseln inne, deren Küste langsam im Meer versinkt. Hier, in den Kraftwerken des Rheinischen Reviers wird das Klima verheizt. Währenddessen müssen auf den Fidschis, Tuvalu und Kiribati Menschen ihr Zuhause verlassen.

lerin auf internationalem Parkett von Klimaschutz redet – zuhause lässt sie die Kohlekraftwerke weiterlaufen. Während selbst weichgespülte Klimaziele den Lobbyinteressen geopfert werden, wird die historische ungleich größere Verantwortung des globalen Nordens für den Klimawandel einfach geleugnet. Aber nicht mit uns! Wenn in Bonn der Klimagipfel startet, tragen wir den Kampf gegen den fossilen Wahnsinn und für Klimagerechtigkeit dorthin, wo das Klima wirklich verhandelt wird: in Europas größte Kohletagebaue. Da, wo Politik untätig bleibt, nehmen wir den Kohleausstieg selbst in die Hand. Mit über tausend Menschen gehen wir in die Grube, setzen uns vor die Bagger und stoppen die Klimakiller. Vom Wetter reden, wenn es um´s Klima geht? Wir lassen uns beim Kampf gegen die Klimazerstörung von ein bisschen Jahreszeit nicht abhalten. Schon die riesigen Proteste gegen Castor-Transporte im Wendland haben gezeigt: Wir können auch November!Mit Ende Gelände haben in den letzten zwei Jahren tausende Menschen aus ganz Europa Widerstand gegen die Kohle geleistet. Während der Weltklimakonferenz in Bonn schreiten wir mit Menschen aus der ganzen Welt zur Tat – mit Bäuerinenn aus dem globalen Süden oder Gipfel-Delegierten aller Länder, mit Climate Warriors aus dem Pazifik oder Mitgliedern von Umweltverbänden – und auch mit dir wollen wir in die Grube. Gemeinsam sagen wir: Für Kohlekraftwerke und Klimazerstörung ist hier ENDE GELÄNDE! Statt um CO2 zu feilschen, kämpfen wir für ein Klima der Gerechtigkeit – vom 3. bis 5. November 2017 im Rheinland. ■

Klimaverhandlungen im Schneckentempo

Auf dem Klimagipfel in Bonn kann die Welt erkennen, wer für den Klimawandel verantwortlich ist, wer profitiert und wer leidet. In der Kohlegrube können die Menschen die Zerstörung sehen. Hier wird so deutlich wie nie, was zu tun ist: Kohle, Uran, Öl und Gas blockieren, damit sie im Boden bleiben – hier und überall. Die globale Erwärmung erfordert Handeln im Turbogang. Doch die Klimaverhandlungen sind im Schneckentempo unterwegs – gebremst von Großkonzernen und kapitalistischer Profitlogik. Deutschland ist da kaum besser als die USA: So viel die Bundeskanz-

INFO

Die Proteste finden vom 3. bis 5. November 2017 in Bonn / Rheinland statt. Mehr Informationen zu den geplanten Aktionen, der Anreise und Mobilisierungsmaterial gibt es unter folgendem Link: www.ende-gelaende. org/de

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PREVIEW | Aufstehen gegen Rassismus

Nach der Bundestagswahl: Jetzt erst recht! Der Schock über den Einzug der AfD in den Bundestag sitzt tief. Jetzt gilt es die Sorgen von Millionen Menschen aufzugreifen und ihre Wut gegen die Nazis und Hetzer auf die Straße zu tragen

Nora Berneis ist aktiv im Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« und der LINKEN in Berlin-Neukölln.

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Von NORA BERNEIS

rstmals seit Jahrzehnten sitzt wieder eine organisierte Gruppe Neonazis im Bundestag. Unser Ziel, den Einzug der AfD zu verhindern, haben wir nicht erreicht. Dennoch war unsere Arbeit wichtig: An vielen Orten sind neue Strukturen und Bündnisse der Solidarität entstanden – Menschen sind im Angesicht der rechten Hetze zusammengerückt und dem Rassismus, Antifeminismus und Hass gemeinsam und entschlossen entgegengetreten. Eine Million Flugblätter, hunderttausende Aufkleber und Plakate wurden in den letzten Monaten und Wochen von Aufstehen gegen Rassismus in der ganzen Bundesrepublik verteilt und verklebt. Im Schnitt fand jeden Tag irgendwo ein Stammtischkämpferinnen- und Stammtischkämpfer-Seminar statt. All die tausenden ausgebildeten Aktiven werden noch lange nach der Wahl Mut und Schlagfertigkeit gegen Rassismus beweisen und Menschen motivieren, es ihnen gleich zu tun. Wir haben eine breite bundesweite Bewegung gegen die AfD mit aufgebaut, die sich ihr auch in Zukunft konsequent entgegenstellen wird. Nun sind wir mit einer beängstigenden Situation konfrontiert: 94 Nazis und rassistische Hetzer sitzen im Bundestag. Wir werden also die nächsten Jahre alles daransetzen, dass die AfD den Bundestag wieder verlässt und ihre politische Bedeutung einbüßt. Wir werden nicht zulassen, dass sie und ihr Rassismus zur Normalität werden. Deshalb ziehen eine rote Linie: Keine Zusammenarbeit mit der AfD! Weder in den Parlamenten, noch im öffentlichen Raum, müssen wir Verständnis für Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Nazi-Positionen aufbringen. Im Gegenteil müssen wir das, was wir an gesellschaftlichem Zusammenhalt, demokratischer Mitbestimmung und sozialstaatlichen Errungenschaften noch

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haben, vor denen schützen, die es uns nehmen wollen. Und das geht nur durch konsequente Ausgrenzung der AfD. Die Demokratie zu verteidigen bedeutet jetzt, Rassismus und Nazi-Positionen konsequent zu widersprechen und sich auf keine Zusammenarbeit mit der AfD einzulassen. Darum haben wir eine Petition an die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP und LINKE gestartet, für die wir nun Unterschriften sammeln, um Druck auf die Parlamentarierinnen und Parlamentarier auszuüben. Mit über 35 Gruppen vom Bündnis Aufstehen gegen Rassismus in der ganzen Bundesrepublik wollen wir den Widerstand gegen die AfD weiter aufbauen: Wir werden neue Gruppen gründen, mehr Stammtischkämpferinnen und Stammtischkämpfer ausbilden und neue Aktivenkonferenzen organisieren. Wir werden weiter protestieren, Flugblätter verteilen und Aufklärungsarbeit gegen die AfD machen. Wir werden die Abgeordneten und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter genau im Auge behalten: Wir werden weiterhin über ihre rassistischen, geschichtsrevisionistischen und menschenverachtenden Positionen aufklären und über ihre Überschneidungen mit der Neo-Nazi-Szene berichten. Wir werden bei der Konstituierung des Bundestages in Berlin protestieren und weiterhin fordern: Bundestag Nazifrei! Am 2. und 3. Dezember will die AfD ihren nächsten Bundesparteitag in Hannover abhalten. Zu erwarten ist ein weiterer Rechtsruck, zugunsten von Höcke und dem erstarkten Nazi-Flügel, der die AfD-Fraktion dominiert. Wir werden aus dem ganzen Land anreisen und lautstark gegen die AfD protestieren. Am selben Wochenende soll es in Hannover zudem ein bundesweites Bündnistreffen geben, um Absprachen zu treffen, wie wir der AfD über die nächsten vier Jahre hinweg die Show vermasseln. ■



marx21 03/2017 | Herbst 2017 | 4,50 eUrO | marx21.de

magazin fĂźr internatiOnalen sOzialismUs

Dieselgate Ausstieg aus demAutowahn AfD im Bundestag Strategien gegen die rechte Gefahr

Pflegestreik Warum ver.di mehr tun muss Venezuela Was die rechte Opposition und die Chavisten eint

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50 Jahre 1968 Wie die Revolte begann

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Ă–sterreich 4,70 eUrO schWeiZ 7,50 chF

Griechenland Wie die Linke mit dem Verrat von Syriza umgeht


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