marx21 Ausgabe Nummer 48 / 02-2017

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BERLIN Steigende Aktienkurse und zweistellige Wachstumsrate: Der Rüstungskonzern Rheinmetall hatte allen Grund zu feiern. Die Gegendemonstranten der Hauptversammlung in Berlin, machten dem Konzern jedoch einen Strich durch die Rechnung. Das Unternehmen plant eine Panzerfabrik in der Türkei, um von dort die Konfliktherde der Region zu beliefern. Deutsche Exportkontrollen sollen so umgangen werden. Das sahen die Organisationen »Campact«, »Aktion Aufschrei« und »Legt den Leo an die Kette« als Grund um zur Gegenkundgebung aufzurufen. Auch DIE LINKE war mit dabei. Ein Flashmob vor der Versammlung machte zusätzlich auf die Problematik aufmerksam. Dort lagen mehrere Demonstrierende minutenlang vor einem Panzer und machten klar: Kein Panzer für Erdogan! © Jakob Huber / Campact / flickr.com / CC BY-NC


EDITORIAL | SOMMER 2017

Liebe Leserinnen und Leser,

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m Vorfeld des G20-Gipfels in Hamburg vergeht kaum ein Tag ohne Warnungen von Politik und Polizei vor einer Eskalation der Gewalt. Die Botschaft kommt einer Drohung gleich: Wer es wagt seine Stimme gegen die Herrschenden dieser Welt zu erheben, begibt sich in Gefahr. Doch trotz aller Einschüchterungsversuche werden Zigtausende Anfang Juli in der Hansemetropole die größten Gipfelproteste auf die Beine stellen, die Europa in den letzten zehn Jahren gesehen hat. In unserem Titelthema erfährst du, warum die G20 alles andere als ein geeignetes Forum zur Lösung globaler Probleme sind und wie eine Alternative zu ihrer mörderischen Politik aussieht. Naomi Klein erklärt, warum der Klimakollaps nur verhindert werden kann, wenn wir die Macht des Kapitals angreifen. Darüber hinaus befassen wir uns mit dem Verhältnis der Linken zu Gewalt. Und wir stellen die Frage, ob nationale Abschottung eine Alternative zu den sozialen Verwerfungen der Globalisierung ist. Los geht’s ab Seite 20. Wenn sich die illustre Runde von Kriegstreibern, Autokraten, Rassisten und neoliberalen Eliten in Hamburg versammelt, werden sich alle Augen auf einen Mann richten: Donald Trump hat in seinen ersten Monaten im Amt die schlimmsten Befürchtungen wahr werden lassen. In einem Schwerpunkt ab Seite 52 befassen wir uns mit den Entwicklungen in den USA. Im Vergleich zu den USA scheinen die politischen Verhältnisse in Deutschland noch relativ stabil. Doch auch hierzulande bricht sich die Frustration nach Jahrzehnten neoliberaler Politik Bahn in einem brandgefährlichen Aufstieg der Rechten. In unseren sieben Thesen für eine linke Klassenpolitik geben wir Antworten, wie DIE LINKE darauf reagieren sollte und warum sie dabei ausgerechnet von waschechten Sozialdemokraten etwas lernen kann. Derweil gibt es im Kampf gegen die AfD wenige Mona-

te vor der Bundestagswahl erste Erfolge. Die Proteste gegen ihren Parteitag in Köln waren die größten seit Bestehen der AfD. Und was noch wichtiger ist: Wir erleben momentan eine dezentrale Gegenbewegung, die in zahlreichen Städten und Regionen erfolgreich gegen Veranstaltungen, Kundgebungen und Infostände der Rassisten vorgeht. Wie die AfD nach ihrem Parteitag dasteht, worum es im Konflikt zwischen dem Petry- und dem Höcke-Flügel tatsächlich geht und wie wir die Widersprüche innerhalb der Partei nutzen können, erfährst du in einem Schwerpunkt ab Seite 38. Zudem durchleuchten wir die Wurzeln der Neofaschisten in der AfD und räumen mit dem Irrtum auf, dass sie in der »Konservative Revolution« zu finden sind. In unserer marx21-Redaktion hat sich mal wieder das Personalkarussell weitergedreht. Während David Jeikowski für einige Monate den Fernen Osten unsicher macht, bereichert Matthias Danyeli unser Team. Erstmal zwar nur als Praktikant, nach seinem großartigen Artikel über die Hintergründe des Nazi-Skandals bei der Bundeswehr, werden wir ihn aber nicht ohne Weiteres ziehen lassen. Den Artikel findest du auf Seite 16. Wie Matthias dazu kam, sein Praktikum bei uns zu machen, erfährst du in unserer Betriebsversammlung auf Seite 6. Nach den Gipfelprotesten ist vor der Bundestagswahl. Für DIE LINKE wird es also ein heißer Sommer. Neben dem eigenen Wahlkampf wollen wir das Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« weiter aufbauen, um der AfD möglichst breiten Widerstand entgegenzusetzen. Das nächste marx21-Magazin kommt erst im Anschluss an die Wahl. Aufgrund der langen Sommerpause planen wir aber bereits eine Extra-Broschüre zum Wahlkampf. Mehr dazu in den nächsten Wochen auf marx21.de.

IN EIGENER SACHE

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Viel Spaß beim Lesen wünscht Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse

Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 68 23 14 90 marx21 02/2017

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inhalt

MARX21 #48 | SOMMER 2017

Titelthema: G20 – ihr System zerstört die Welt? G20 Alternativen zu ihrem System

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Naomi Klein Warum nur Antikapitalisten das Klima retten können

24

Die Linke und Gewalt Militanz und Radikalität im Kapitalismus

27

»Pulse of Europe« Warum die EU alles andere als ein Bollwerk gegen die Rechten ist

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Protektionismus Warum Linke gegen Freihandel sind

32

24

Naomi Klein Warum nur Antikapitalisten das Klima retten können

Inland

marx21.de

Nazis in der Bundeswehr Von der Wehrmachtstradition zur Terrorzelle

10

»Konservative Revolution« Die Wurzeln des Höcke-Flügels in der AfD

14

»Kein Nazi in den Bundestag« Wie wir die Widersprüche in der AfD nutzen können

17

Recht auf Hetze? Warum die AfD blockiert gehört

37

Lügenpresse!? Wie Eigentumsverhältnisse die Medien prägen

60

Fluchtgeschichten Ein kurzes Interview über eine lange Flucht

63

»Flüchtlingskrise« Katja Kipping wird konkret, wo andere diskutieren

80

Vergewaltigung Denkanstöße zu einem Tabuthema

83

Schwerpunkt: DIE LINKE vor der Bundestagswahl Klassenpolitik Sieben Thesen von marx21

38

Linke in die Regierung? Die »Dos and Don’ts« für Sozialisten

42

Häuserwahlkampf Über die Rückkehr einer bewährten Organisationsmethode

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Schwerpunkt: USA unter Trump

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Anti-Trump-Bewegungen Nancy Fraser über die Einheit linker Kämpfe

52

Nazis in den USA Wer sie sind, was sie wollen und wie sie vorgehen

54

The Donald Die Grenzen des Feldherren

58

30

»Pulse of Europe« Warum die EU alles andere als ein Bollwerk gegen die Rechten ist


42

»MARX IS MUSS 2017« Das Programm: Der gesamte Kongress auf einen Blick

Internationales

36

Trump und Berlusconi Was wir aus den Fehlern der italienischen Linken lernen können

Generalstreik in Brasilien Die brasilianische Linke im Aufbruch

45

Türkei Erdogan, der Kemalismus und die Linke

46

Afghanistan Eine linke Aktivistin über ein Land nach 16 Jahren Krieg

49

Faschismus vs. Neoliberalismus? Die französische Linke und die Logik des »kleineren Übels« 36 Lager gegen Geflüchtete Bilder vom Rande der »Festung Europa«

08

Buchempfehlunge Die Türkei jenseits von Klischees«

82

Geschichte Martin Luther Der Reformator und der Klassenkampf

68

Russische Revolution Doppelherrschaft: Die Dynamik von Räten und Parlament

73

Theorie

10

Nazis in der Bundeswehr Von der Wehrmachtstradition zur Terrorzelle

Debatte Ist Flucht Klassenkampf?

64

Ökologie Marx wird als ökologischer Denker rehabilitiert

81

Kultur

64

Debatte Ist Flucht Klassenkampf?

Kendrick Lamar Nichts ist mehr »Alright«

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Graphic Novel Ein Untergrund-Krankenhaus im syrischen Krieg

79

Trickfilm Die Oktoberrevolution (re-)animiert

85

Rubriken

76

Kendrick Lamar Nichts ist mehr »Alright«

Fotofeature 02 Editorial 03 Impressum 06 Betriebsversammlung 06 Briefe an die Redaktion 07 Fotostory 08 Unsere Meinung 36 Weltweiter Widerstand 44 Review 78 Preview 84

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IMpressum | SOMMER 2017

marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 11. Jahrgang, Heft 48 Nr. 2, Sommer 2017 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Print & Online Yaak Pabst (leitender Redakteur/V.i.S.d.P.), Martin Haller (stellv.), Tilmann von Berlepsch, Matthias Danyeli (Praktikant), Lisa Hofmann, Jan Kallen, Jan Maas, Peter Stolz Lektorat Clara Dirksen, David Paenson, Boris Marlow, Ilonka Wilk, Irmgard Wurdack Übersetzungen David Paenson, Rosemarie Nünning, Martin Haller, Einde O‘Callahagan Layout Yaak Pabst, Carsten Schmidt Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat (Koordinierungskreis marx21) Stefan Bornost, Christine Buchholz, Hannes Draeger, Michael Ferschke, Werner Halbauer, Martin Haller, Ewald Heimann, Christoph Hoffmeier, Daniel Kerekes, Ronda Kipka, Jary Koch, Rhonda Koch, Julia Meier, Volkhard Mosler, Yaak Pabst, Frank Renken, Fanni Stolz, Oskar Stolz, Heinz Willemsen, Luigi Wolf Aboservice-Team Phil Butland, Stefan Hanczuch, Renate Heitman, Klaus Henning, Rita Renken, Alper Sirin Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint viermal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 68 23 14 90 Fax: 030 – 68 22 97 35 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die Herbst-Ausgabe von marx21 erscheint im Oktober 2017 (Redaktionsschluss: 11.09.)

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Matthias Danyeli, Praktikant

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m bayrisch-schwäbischen Neu-Ulm hat der junge Matthias bei einem Grillfest ein Aha-Erlebnis. Die Verwandtschaft spricht auf einmal enthusiastisch über Politik. Aus der Freude am Grillen entwickelt sich schnell eine Grundsatzdebatte: Warum hungern eigentlich so viele Menschen auf der Welt, während wir es uns in unserem Garten gutgehen lassen können? Es kristallisieren sich verschiedene Pole heraus: humanistisch-marxistische Positionen à la Che Guevara ergänzen, aber streiten sich auch mit christlich-ökosozialen Ansichten der Befreiungstheologie. Der Anti-Nazi-Protest am 1. Mai 2009 gegen einen bundesweit organisierten Aufmarsch von Faschisten in Ulm ermutigt Matthias zur Aktivität. Die ersten Treffen mit lokalen Politgruppen wie gremienfixierten Jusos, maoistischen Dogmatikern und israelfanatischen Antideutschen erscheinen ihm allerdings nicht überzeugend. Nachdem Matthias zum Jurastudium nach Berlin gezogen ist, findet er auf dem »Fest der Linken« schnell zum SDS. Durch die Erfahrung der wochenlangen Besetzung des Instituts für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität lernt er unterschiedlichste linke Aktivistinnen und Aktivisten kennen. Dabei interessiert er sich besonders für ihre Praxis der Vernetzung und strategischen Planung von Aktionen. Nach intensiven Leseferien entschließt er sich, Unterstützer von marx21 zu werden. Matthias will seinen Beitrag dazu leisten, Bewegungen zu gemeinsamen Kämpfen zu vernetzen. In der Redaktion hat er sofort richtig losgelegt und für dieses Magazin einen Artikel über den Nazi-Skandal bei der Bundeswehr (S.14) und einen zu den Streiks in Brasilien (S. 45) beigesteuert.

Das Nächste Mal: Jan Kallen


Briefe an die Redaktion | SOMMER 2017

Briefe an die Redaktion

kaler Gewalt eine roh gezimmerte Theorie umzusetzen, die sich doktrinär auf das Werk von Marx und Engels stützte? Bello Buzz, auf unserer Facebook-Seite

Zum Interview »Wir unterschätzen unsere Macht« mit Raul Zelik (marx21.de, 13.04.2017) Sehr lesenswertes Interview... Meines Erachtens eine absolut richtige Einschätzung. Mich würde allerdings auch mal interessieren, was die Befürworter einer Regierungsbeteiligung dem zu entgegnen hätten. Michael Kleine, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Wie Marine Le Pen so stark werden konnte« von John Mullen (marx21.de, 24.04.2017) Die Schwäche der linken Kräfte ist, dass sie es versäumt haben, die Interessen der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt und sich auf diesem Nenner geeint zur Wahl zu stellen. Macron wäre dann bestenfalls Dritter geworden und damit nicht in der Stichwahl gekommen. Jetzt schlucken die fortschrittlichen Kräfte sogar die neoliberale Kröte, um die Faschisten zu verhindern. Das hätten sie durch das Aufstellen eines gemeinsamen Kandidaten verhindern können. Oliver Knopp, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Putins Russland und der Mythos des ›Patriotischen Konsens‹« von Ilya Budraitskis (marx21.de, 03.04.2017) Zu diesem Putin-bashing-NawalnyWahlwerbungs-Artikel hätte ich, nachdem sich meine Verwunderung darüber, so einen Schwachsinn auf marx21 zu lesen, gelegt hat, gerne einen Kommentar gesendet. Ich bin aber nicht bei Facebook, weil ich nicht doof bin. Adalbert Olma, Mönchengladbach

Zum Artikel »MalcolmX: Die Ikone der BlackPower-Bewegung« von Antony Hamilton (marx21.de, 20.02.2015) Danke für den ausführlichen Artikel über Malcolm X, der zeigt, wie schmerzlich solche Menschen heute vermisst werden. M. Warner

Zum Artikel »Lenins Thesen schlugen ein wie eine Bombe« von Alan Gibson (marx21.de, 20.04.2017) Es ist meines Erachtens müßig, darüber zu spekulieren, was gewesen wäre, wenn…? Es wäre vielmehr zu klären, ob es richtig war, einen sozialistischen Staat mit Planwirtschaft einzurichten oder nicht? Hätte nicht zuvor die marxistische Theorie weiterentwickelt werden müssen, statt eilig eine Schwäche der Bourgeoisie auszunützen, um mit radi-

Zum Artikel »Warum der Kemalismus der türkischen Linken schadet« von Ali Cem Deniz (marx21.de, 11.04.2017) Gibt es eine politische Strömung, die der türkischen Linken nicht geschadet hat? Sogar die türkischen Linken haben sich selbst geschadet, indem sie in unendliche Splitterparteien aufgegangen und sich innerhalb ihrer ideologischen Machtkämpfe blutigst bekämpft haben – im wahrsten Sinne des Wortes: Der PKK-Führer Abdullah Öcalan hat in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche linke Rivalen ermorden lassen. Lara Can, auf unserer Facebook-Seite

Zur Stellungnahme »Wie Sahra Wagenknecht es besser machen kann« (Heft 1/2017) Ich war über diesen Artikel verwundert. Und zwar nicht nur wegen der grenzwertigen Bildunterschrift »Keine Aktion ohne Fraktion«, zu der ich in der Realität seit Erscheinen des Magazins eine Entsprechung auszumachen suche. Ehrlich gesagt interessiert es mich nicht die Bohne, wie »Wagenknecht es besser machen kann«. Wir machen hier keine Familienaufstellung der Wagenknechts, wir wollen politische Veränderung mit unserer Partei. Mir geht es um DIE LINKE. Ich verstehe nicht, warum das Schicksal Wagenknechts und der LINKEN hier synonym gesetzt werden. Wagenknecht tut sich hervor mit reaktionären Thesen. Außerdem finde ich nicht, dass wir uns dumm stellen sollten. Wir wissen, dass Wagenknecht es nicht besser machen wird. Es wäre nicht schlecht, das auch mal zu sagen. Ihre Aussagen und ihr wiederholtes Missverstandenwerden sind kein Ausrutscher, kein Fehler, kein Zufall, sondern Absicht. Wie im Artikel richtig steht, versucht sie, Teile der Arbeiterklasse zu gewinnen, die für rechte Argumente empfänglich sind. Aber nicht nur das: Viel näher ist sie mit ihrer Argumentation dem Kleinbürgertum und dem Mittelstand. Versucht sie, diese Gruppen mit linken Argumenten zu überzeugen? Nein. Sie versucht, sich mit rechten Argumenten anzu-

biedern. Sie will dem deutschen Kapital einen erfolgversprechenderen Weg aufzeigen, als das die aktuelle Regierung zu tun scheint. Ich finde nicht, dass eine realitätsferne Hoffnung auf Besserung einer revolutionären Linken gut zu Gesicht steht. Sahras Argumente werden sicher gehört und befürwortet – von Leuten, die Dinge sagen wie: »Warum habt ihr nicht mehr solcher Leute in der Partei«. Und dann: »Aber ich wähl trotzdem AfD«. Ich glaube nicht, dass eine solche Strategie linke Wähler bringt – aber DIE LINKE konnte ja im Osten auch sehr lange mit rechten Stimmen Erfolge erzielen, indem sie sich als Kämpferin für die benachteiligten Ostdeutschen gerierte. Dass uns diese Vorgehensweise jetzt dank der AfD auf die Füße gefallen ist, sollte eine Lehre sein, sie nicht zu wiederholen. Sahra Wagenknecht ist populär – aber ist sie es, weil sie besonders links oder klassenkämpferisch erscheint? Oder ist sie es, weil ihre Argumente einer zunehmenden Beliebigkeit unterliegen? Worin liegt überhaupt der Grund dafür, dass der linke Flügel in der LINKEN seine Hoffnungen auf Wagenknecht setzen soll? Mir fällt kein einziger ein. Unsere strategischen Überlegungen sollten der LINKEN gelten, nicht einer bürokratischen Galionsfigur sozialdemokratischer Realpolitik. Dass Sahra Wagenknecht am Ende R2G im Weg stehen wird, kann ich ebenfalls nicht erkennen. Ich erwarte eher ein Umfallen mit doppelter Schwerkraft. Paul Grasse, Berlin

Zum Artikel »Keine Stimme für Le Pen – Widerstand jetzt!« von Volkhard Mosler (marx21.de, 06.05.2017) Das erinnert mich sehr gut an 1933, als die Kommunisten sich geweigert haben sich mit der SPD gegen die braune Bedrohung zu stellen und diese dann lieber als »Sozialfaschisten« betitelt haben. Ich persönlich finde Macrons Wirtschaftsprogramm auch scheiße, aber so zu tun, als wäre er auch nur annähernd so schlimm wie eine Faschistin ist vollkommen verantwortungslos. Da scheinen wohl ein paar Sozialromantikern die Rechte von Minderheiten genau so egal zu sein, wie Le Pen. Ach, nur zur Erinnerung: Hollande war auch mal ein Hoffnungsträger der Linken, wer sagt überhaupt, dass dieser schlechte Linkspopulisten-Abklatsch Mélenchon besser wäre?! Nicolai Frederic Jacobs, auf unserer Facebook-Seite

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

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© Jonas Höschl

FOTOSTORY | GRIECHENLAND

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den Flüchtlinge zuvor zerstört haben, um nach Mazedonien zu gelangen. »Lasst uns friedlich protestieren« und »Für Frieden – gegen Gewalt« steht auf den Plakaten der Geflüchteten während einer Sitzblockade im Camp. »Wo ist euer Willkommensgruß« fragt ein demonstrierender Flüchtling in Anspielung auf die viel gepriesene »Willkommenskultur«. Ein Kind, gezeichnet von der Flucht, spielt auf einer Blockflöte.

© Jonas Höschl

Stacheldrahtzaun. Oben rechts: »Ich bin kein Tier« steht auf dem selbstgemalten Plakat eines Jungen im Camp von Idomeni. Unten (von links nach rechts bis Seite 19): Reizgasbomben der Polizei explodieren neben einem Flüchtenden, der versucht die Grenzanlage zu überwinden. Meterhoch und mit Nato-Draht bestückt bildet der Zaun ein nahezu unüberwindbares Hindernis. Hochgerüstete Polizisten bewachen einen Zaunabschnitt,

© Jonas Höschl

© Jonas Höschl

Griechenland | Rauchbomben, Tränengas, verzweifelte Menschen und bewaffnete Grenzbeamte: Diese Dystopie ist Wirklichkeit. Die direkten Auswirkungen von Krieg und Terror finden einen Schauplatz am Rande Europas. Vor einem Jahr wurde die griechische Kleinstadt Idomeni an der mazedonischen Grenze zum Sinnbild für das unmenschliche europäische Grenzregime. Oben links: Das Stofftier eines Kindes hängt in einem


© Julian Buijzen / CC BY-NC-ND / flickr.com

© Fotomovimiento / AntonioLitov / CC BY-NC-ND / flickr.com

© Fotomovimiento / RoberAstorgano / CC BY-NC-ND / flickr.com

© Fotomovimiento / RoberAstorgano / CC BY-NC-ND / flickr.com

FOTOSTORY | GRIECHENLAND

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INLAND | BUNDESWEHR-SKANDAL

»Der Staatsbürger in Uniform hat ausgedient« Der Nazi-Skandal in der Bundeswehr um den Offizier Franco A. ist kein Einzelfall, sondern Folge der strukturellen Durchsetzung des deutschen Militärs mit rechter Ideologie Von Matthias Danyeli

MATTHIAS DANYELI ist Redakteur von marx21.

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it Franco A. und seinen zwei mutmaßlichen Mitstreitern sind drei Neonazis aufgeflogen, die als Offiziere in der Bundeswehr tätig waren. Sowohl ihre Nazi-Gesinnung, als auch der Plan von Franco A., einen Terroranschlag als vermeintlicher Geflüchteter zu vollziehen, ist nun an die Öffentlichkeit gelangt. Ein rechtes Terrornetzwerk innerhalb der Bundeswehr markiert ohne Zweifel eine neue Qualität faschistischer Umtriebe innerhalb der Truppe. Doch rechtsextreme Vorfälle sind in der Bundeswehr bei Weitem kein Einzelfall. In den letzten Jahrzehnten waren tausende Neonazis in der Bundeswehr aktiv. Nach einer Statistik des Bundesverteidigungsministeriums gab es von 1998 bis 2013 bei der Bundeswehr 2087 Vorfälle mit rechtsextremistischem Hintergrund. Darin seien 2085 Personen verwickelt gewesen — vom einfachen Soldat bis zum Offizier. Die meldepflichtigen Verdachtsfälle sind heute, mit zwischenzeitlichen Hochphasen um die Jahrtausendwende, trotz Verringerung der Truppenstärke seit 1992 von 445.000 auf 177.000 Soldaten auf demselben Niveau wie damals. Das Zeigen des Hit-

lergrußes, »Sieg-Heil«-Rufe — unter anderem sogar als Begrüßung von Vorgesetzten — bis hin zum Singen von Nazi-Liedern sind keine Seltenheit in deutschen Kasernen.

Tausende Neonazis waren in der Bundeswehr aktiv

Die gemeldeten Verdachtsfälle sind dabei nur die Spitze des Eisberges. Die Internetseite Bento zitiert Dominik Brück, der von 2004 bis 2013 bei der Bundeswehr arbeitete. Für seine Masterarbeit mit dem Thema »Innere Führung bei der Bundeswehr« interviewte er Bundeswehr-Offiziere. Sein Fazit: Eine Mehrheit habe »eine äußerst konservative Einstellung« und könne sich »mit nationalistischem Gedankengut identifizieren«, insbesondere auch in ihrer Geschichtsauffassung. »Der Blitzkrieg gegen Polen im Zweiten Weltkrieg wurde von vielen meiner Kollegen als große soldatische Leistung gewürdigt. (…) Die Befragten sehen sich als Teil einer Elite, als Helden, die in den Kampf ziehen und im Notfall ihr Leben opfern würden. (…) Immer wieder sprach man von Ehre, Treue zum Vaterland und Stärke – ganz in der Wehrmachtstradition«, so Dominik Brück. Auch ein anderer Insider bestätigt dies. Christian Weißgerber war als junger Mann ein aktiver Neo-


INLAND | BUNDESWEHR-SKANDAL © Bundeswehr Wir. Dienen. Deutschland. CC BY-ND / flickr.com

nazi. Bei der Bundeswehr konnte er seine Ansichten lange ungehindert verbreiten. Über die aktuellen Vorfälle sagt er der ARD-Tagesschau: »Die Bundeswehr konnte schon lange wissen, dass viele ihrer Soldaten entweder Sympathien für nationale und rassistische Politiken hegen oder das sogar offen vertreten haben«. Und in der Tat: Unter nahezu allen Verteidigungsministern der letzten Regierungen gab es mindestens einen handfesten Nazi-Skandal in der Truppe. Die Reaktionen der Verantwortlichen unterscheiden sich kaum: Sobald der »Skandal« nicht mehr als »Einzelfall« kleingeredet werden kann, versuchen sie die Flucht nach vorne und versprechen »umfassende Aufklärung« und »ernsthafte Konsequenzen«: Tatverdächtige werden unehrenhaft entlassen, Offiziere strafversetzt und Maßnahmenkataloge beschlossen, um »Fremdenhass« und »rechtsradikalen Umtrieben« Einhalt zu gebieten. Als 1997 der Spiegel enthüllt, dass der einst wegen Rädelsführerschaft in einer »terroristischen Vereinigung« zu 13 Jahren Haft verurteilte und als Rechtsterrorist und Neonazi bekannte Manfred Roeder einen Vortrag an der Führungsakademie der Bundeswehr halten durfte – zwecks »Offizierweiterbildung« und auf Einladung des Chefs des Akademiestabes – erklärte der zuständige Verteidigungsminister Völker Rühe: »Nirgendwo wird härter gegen Rechtsextremisten vorgegangen als in der Bundeswehr.« Die

Neonazi-Netzwerke hat das freilich nicht gestoppt. Auch jetzt inszeniert sich die aktuelle Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als große »Reformatorin«, die den braunen Sumpf endgültig trocken legen will. Doch das Wirken rechtsradikaler Netzwerke in der Bundeswehr ist eng mit der Politik des Militarismus und der Aufrüstung verbunden, die von der Verteidigungsministerin selbst mit aller Macht vorangetrieben wird. So hat Ministerin von der Leyen im letzten Jahr die so genannte »Agenda Rüstung« vorgelegt. Diese sieht rund 1600 Einzelmaßnahmen für die Beschaffung oder Modernisierung von Waffen und anderen militärischen Gütern im Umfang von mindestens 130 Milliarden Euro vor. Zwischen 1999 und 2014 ist der Militärhaushalt um rund ein Drittel gewachsen. Seit die Große Koalition an der Macht ist, wurde dieser Prozess beschleunigt. Im letzten Jahr beschloss die Bundesregierung den größten Militärhaushalt seit dem Zweiten Weltkrieg. Ziel ist die Bundeswehr zu einer weltweit einsatzfähigen Armee zu entwickeln. Innerhalb der Bundeswehr brachte diese Ausrichtung jedoch auch die Wiederbelebung der »alten« Wehrmachttradition mit sich und schafft somit einen fruchtbaren Boden für neonazistische Strukturen. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 wurde die Weichenstellung der Neuausrichtung der Bundeswehr so begründet: Deutschland

Ein Soldat der Bundeswehr in Afghanistan. Durch das Rotationsprinzip sind auch schon zahlreich Nazis an der Front eingesetzt worden. So hat im August 2012 ein in Masar-i-Scharif stationierter Zeitsoldat ein afghanisches Kind genötigt, den »Hitlergruß« zu zeigen. Umgekehrt festigen sich Feindbilder wie der antimuslimische Rassismus im Krieg

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INLAND | BUNDESWEHR-SKANDAL

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sei eine »kontinentale Mittelmacht« mit »weltweiten Interessen«. Sie reichten von der »Aufrechterhaltung des freien Welthandels« bis zum »ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen«. Welche Konsequenzen dies für die Binnenstruktur und Ausbildung der Soldaten haben sollte, erklärte ein Jahr zuvor der Generalmajor Johann Adolf Graf von Kielmannsegg in der vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Zeitschrift »Truppenpraxis«: »Auf

Oben: Am 18. Dezember 1939 hat die deutsche Besatzungstruppe im kleinpolnischen Bochnia 56 polnischen Geiseln hingerichtet. Die Wehrmacht war ebenso an Kriegsverbrechen wie dem Völkermord an den Polen beteiligt wie die SS und andere Einheiten. Unten: Wehrmachtsoffiziere auf dem Reichsparteitag in Nürnberg beim »Tag der Wehrmacht«.

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die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr hin ist also alles auszurichten, Ausbildung, Ausrüstung und Struktur. Ethos, Erziehung, Sinnvermittlung und Motivation müssen sie mit einschließen«. In dieselbe Richtung zielte Generalleutnant HansOtto Budde als er, vor seinem Amtsantritt als Inspekteur des Heeres, sich in der Zeitung die Welt im Jahr 2004 für einen neuen – oder besser den alten – Soldatentypus aussprach: »Der Staatsbürger in Uniform hat ausgedient […] Wir brauchen den archaischen Kämpfer, und den, der den High-Tech-Krieg führen kann.« Spätestens seit den 1990er-Jahren, herrscht weitgehender Konsens darüber, dass die Wehrmacht nicht als traditionsstiftend für die Bundeswehr angesehen werden darf. Der ehemalige CDU-Minister Volker Rühe hielt dies 1995 fest: »Die Wehrmacht war als Organisation des ›Dritten Reichs‹ in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen.« Ein Blick auf die Geschichte der Bundeswehr zeigt jedoch sehr eindrücklich, welche Kontinuitäten zwischen Wehrmacht und Bundeswehr bestehen. So hieß die Bundeswehr bei ihrer Gründung im Jahr 1955 noch »neue Wehrmacht«. Den offiziellen Namen »Bundeswehr« bekam sie erst 1956. Doch in

der neuen Bundeswehr gaben nach wie vor die alten Nazis den Ton an. Die bis 1957 ernannten 44 Generäle und Admirale kamen allesamt aus Hitlers alter Wehrmacht, überwiegend aus dem Generalstab des Heeres. Im Jahr 1959 befanden sich im Offizierskorps unter 14.900 Berufssoldaten 12.360 ehemalige Wehrmachtsoffiziere, 300 stammten aus dem Führerkorps der SS. In ihrem Artikel »Von Hitlers Wehrmacht in die Bundeswehr« schreibt die Welt: »Der militärische Aufstieg eines Wehrmachtsoffiziers im Nachkriegsdeutschland war kein Einzelfall. Praktisch die gesamte Bundeswehrelite hatte ihre Wurzeln in der Wehrmacht.« Der Historiker Wolfram Wette schrieb in einer Studie mit dem Titel »Militarismus in Deutschland: Geschichte einer kriegerischen Kultur«, dass »diese personelle Kontinuität für das Innenleben der Bundeswehr eine schwere Belastung darstellte« und »es lange Zeit im Offizierskorps der Bundeswehr der Bonner Republik die zwar nicht durchgängige, aber doch vorherrschende Tendenz gab, sich an den Traditionen vor 1945 zu orientieren«. Schon im Vorfeld der Gründung der Bundeswehr hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer die Gründung einer Geheimarmee aus ehemaligen SS- und Wehrmachtsleuten zumindest geduldet, indem er sie lediglich »begleiten und beobachten« ließ, nicht jedoch schärfer gegen sie vorging. Der Hauptorganisator der Schattenarmee Albert Schnez wurde später Bundeswehr-Heeresinspektor und auch viele andere Mitglieder der Truppe gingen nach deren Gründung in die Bundeswehr, so etwa der spätere NatoOberbefehlshaber Hans Speidel. Der »Vater der Bundeswehr« Ulrich de Maiziere war selbst im Generalstab von Hitler, auch wenn ihm viele im Nachhinein eine oppositionelle Geisteshaltung zuschreiben wollten. Das ohnehin schon sehr dürftige Papier zur neuen Ausrichtungsideologie der Bundeswehr unter dem Begriff der »Inneren Führung« wurde von vielen Offizieren bis in die 1960er Jahre heftig kritisiert, weil es die Effektivität der Streitkräfte schmälere. Diese sogenannten Traditionalisten bildeten innerhalb des Militärs sogar über viele Jahre hinweg die Mehrheit. Erst unter Helmut Schmidt wurde eine klare Absage an die Tradition der Wehrmacht verkündet. Dennoch änderte sich außer der Entlassung einiger Generäle strukturell und personell so gut wie nichts. Als Antwort auf die Bildung von Nazi-Terrorzellen in der Bundeswehr wird nun wie schon zuvor bei den zahlreichen Nazi-Skandalen auf die Kontrolle durch die Geheimdienste verwiesen, insbesondere den Militärischen Abschirmdienst (MAD). Ein Blick auf dessen eigene Geschichte zeigt jedoch, dass der MAD – wie auch die anderen Geheimdienste in der


INLAND | BUNDESWEHR-SKANDAL

BRD – mindestens ebenso starke Nazi-Kontinuität aufweisen, wie die Bundeswehr. Und auch der MAD hat eine Vergangenheit voll von Nazi-Skandalen. So wurde 2012 enthüllt, dass der MAD den späteren NSU-Mörder Uwe Mundlos seit 1994 wegen rechtsextremer Vorfälle in der Bundeswehr beobachtete. Im Jahr 1995 versuchte der MAD sogar Mundlos anzuwerben, dieser meinte jedoch, er »könne sich nicht vorstellen, mit den zuständigen Behör-

den Umgang des Staates mit Naziumtrieben in den eigenen Reihen. Spätestens die NSU-Morde haben deutlich gezeigt: Die Geheimdienste sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Für Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die sich zum Ziel gesetzt hat die Bundeswehr zur weltweit einsetzbaren Interventionsarmee umzubauen, kommt die öffentliche Debatte um Franco A.

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Die Geheimdienste sind Teil des Problems

den zu kooperieren.« Zwischen 1997 und 2003 sammelte der MAD mit dem Verfassungsschutz im Rahmen der »Operation Rennsteig« Informationen über die thüringische Neonazi-Szene, aus der später der NSU hervorging. Im Jahr 1998 folgte der Eklat um die Vorträge des Neonazis Manfred Roeder an der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr »zur Übersiedlung der Russlanddeutschen in den Raum Königsberg«. Der damalige MAD-Chef Rudolf von Hoegen meinte zu dem Vorfall lediglich, er habe Jahresbroschüren u.a. auch an die Führungsakademie verteilt. »Aber ich kann keinen zwingen, sie zu lesen.« Dass ausgerechnet der MAD den Kampf gegen rechts in der Bundeswehr führen soll, ist bezeichnend für

höchst ungelegen. So ist es auch kein Wunder, dass sie mit einem Maßnahmenpaket vorprescht, das die künftige Bildung von Terrornetzwerken durch Nazis verhindern soll. Doch wie schon bei ihren Vorgängern ist davon auszugehen, dass die Untersuchungen lediglich Bauernopfer zutage fördern werden, nicht jedoch eine ernsthafte Grundlage für den Kampf gegen Nazis in der Bundeswehr darstellen. Der Autor Detlef Bald kommt in seinem Buch »Die Bundeswehr: eine kritische Geschichte von 19552005« zu folgendem Schluss: »Angesichts einer Militärpolitik, die den Kämpferkult mit seinen antiquierten und antipluralistischen Elementen propagierte sowie eine stabilisierende Homogenität herzustellen versuchte, entstanden innerhalb der Armee Tendenzen eines rechten militärischen Milieus.« Die Naziumtriebe in der Bundeswehr sind also kein Einzelfall, sondern direkte Folge der Traditionslinien und Strukturen der Armee. Wer die rechten Strukturen bekämpfen will, darf sich nicht damit begnügen, Kasernen umzubenennen oder Soldatenspinde zu durchsuchen. Die Bundeswehr ist strukturell rechts und ebensowenig reformierbar wie die deutschen Geheimdienste. Daher ist die einzige konsequente Forderung, die Bundeswehr abzurüsten und letztlich ganz abzuschaffen. Die militärischen und rüstungsproduzierenden Strukturen müssen zu zivilen Berufsfeldern umgebaut werden. Nicht nur aus antimilitaristischen Gründen ist es richtig, wenn DIE LINKE in ihrem Parteiprogramm schreibt: »DIE LINKE setzt sich für eine schrittweise Abrüstung der Bundeswehr ein, die kriegsführungsfähigsten Teile sollen zuerst abgerüstet werden. Die Abrüstung ist zu begleiten durch Konversionsprogramme für die Beschäftigten in der Rüstungsproduktion, für die Soldatinnen und Soldaten und für die Liegenschaften der Bundeswehr. DIE LINKE verfolgt langfristig das Ziel eines Deutschlands, eines Europas ohne Armeen, einer Welt ohne Kriege.« ■

Oben: 1998 kandidierte Manfred Roeder, der bereits als 16-Jähriger in die Wehrmacht eingetreten war, auf dem Ticket der NPD in Stralsund für den Bundestag. Der verurteilte Rechtsterrorist hielt 1995 an der Führungsakademie der Bundeswehr einen Vortrag zewcks »Offizierweiterbildung«. Unten: Manfred Roeder zeigt den Hitlergruß. Die von ihm gegründeten »Deutschen Aktionsgruppen« verübten zu Beginn der achtziger Jahre mehrere Brand- und Sprengstoffanschläge auf eine Schule, die den Namen des berühmten jüdischen Pädagogen Janusz Korczak trug, ein Landratsamt und einige Flüchtlingswohnheime.

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INLAND | Konservative Revolution

»Die Kader, die Hitler heranzog, hatten Stil« Von der »Konservativen Revolution« zur Neuen Rechten: Die Wurzeln der Neofaschisten in der AfD Von Vincent Streichhahn Vincent Streichhahn ist Mitglied der LINKEN und aktiv im SDS in Halle.

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ür viele ist klar: Die AfD stellt eine Gefahr dar. Doch sammeln sich in der Partei tatsächlich auch Neonazis? Der Journalist Toralf Staud sieht das nicht so. In seinem Artikel »Höcke ist kein Nazi«, erschienen 2015 in der »Zeit«, schreibt er: »Vieles, was der Thüringer AfDFraktionschef Björn Höcke sagt, klingt absonderlich. Doch wer ihn in die NaziEcke stellt, hat ihn nicht verstanden – sondern hilft ihm nur. (…) Höcke und viele Protagonisten von AfD oder Pegida beziehen sich nicht auf den Nationalsozialismus, sondern auf dessen Vorläufer – auf die sogenannten Jungkonservativen und die Konservative Revolution.«

versuchte. Gegen die Glaubwürdigkeit dieses Abgrenzungsversuch sprechen die inhaltlichen und personellen Kontinuitäten. Im November 1995 fragte ihn »Die Wochenzeitung«: »Bewundern Sie heute Hitler immer noch wie in Ihren Jugendzeiten?«, worauf er antwortete: »Was heißt bewundern? Er hat immerhin eine richtige Führung geschaffen. Die Kader, die er heranzog, hatten Stil.« Auf die Frage, was ihm der Faschismus bedeute, sagte Mohler: »Faschismus ist für mich, wenn enttäuschte Liberale und enttäuschte Sozialisten sich zu etwas Neuem zusammenfinden. Daraus entsteht, was man konservative Revolution nennt.« Nach dem Zweiten Weltkrieg war Mohler Redenschreiber für Franz Josef Strauß (CSU) und später ideologischer Kopf der faschistischen Republikaner unter Franz Schönhuber. Doch nicht nur Mohler selbst, auch die führenden Protagonisten der von ihm konstruierten Konservativen Revolution selbst standen dem Faschismus nahe. Viele Personen der sogenannten Konservativen Revolution, wie Ernst Jünger, Edgar Julius Jung, Jörg Lanz von Liebenfels, Wilhelm Stapel, Theodor Fritsch, August Winnig, Willibald Hentschel oder Carl Schmitt, bekannten sich zumindest in einer Phase ihres Wirkens offen zu rassistischem und antisemitischem Gedankengut und förderten dieses auch. Der Arbeiterbewegung und dem parlamentarischen System der Weimarer Republik standen sie in schroffer Feindschaft gegenüber.

Die konservative Revolution ist ein Nazi-Mythos

Höckes Äußerungen seien freilich antidemokratisch und stünden im Widerspruch zu den Werten des Grundgesetzes, jedoch werde diese moderne Form des Rechtsextremismus als Neue Rechte bezeichnet und sei nicht identisch mit dem Neonazismus. Stimmt das tatsächlich? Der Historiker Volker Weiss bezweifelt diese Sichtweise. Er schreibt: »Die Konservative Revolution als solche gab es gar nicht. Sie ist eine Konstruktion, die der Schweizer Autor Armin Mohler direkt nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen hat, um gewissermaßen den Theoriekanon der deutschen Rechten wiederzubeleben, unter Umgehung – zumindest vorgeblicher Umgehung – des Nationalsozialismus«. Der Begriff stammt genau genommen aus der Dissertation Mohlers, der die Konservative Revolution in den 1950er Jahren in der Rückschau als eigenständige politische Strömung zu konstruieren und gleichzeitig vom Nationalsozialismus abzugrenzen

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Gregor Kritidis schreibt in seinem Aufsatz »Das geistige Erbe der Konservativen – Zum Begriff der Konservativen Revolution« von 2002: »In ihrer Vor-


INLAND | Konservative Revolution

Die AfD gibt sich bürgerlich-konservativ. Doch die Partei ist zum Sammelpunkt von Nazis geworden. Sie greifen zu einem alten Muster: Das Bündnis mit Nationalkonservativen soll ihnen aus der Schmuddelecke heraushelfen

rung und Überschneidung völkisch-nationaler Anschauungen mit dem Antisemitismus gekommen. Doch erst nach dem vorläufigen Ende der deutschen Weltherrschaftspläne mit der Niederlage von 1918 verschmolzen völkischer Nationalismus und Antisemitismus zu jener Weltanschauung, an die Hitler und seine faschistische Bewegung dann nahtlos anknüpfen konnten. Das Dilemma des völkischen Nationalismus nach 1945 ist hinreichend bekannt: Der Massenmord an den europäischen Juden und der verlorene Zweite Weltkrieg machten und machen es Faschisten bis heute schwer, sich offen in die Tradition des historischen Faschismus zu stellen. Einerseits wollen sie zwar ihre Wurzeln nicht kappen, andererseits können sie in der isolierten Nazi-Ecke nicht wachsen. Also tarnen sie sich und geben sich einen modernen Anstrich.

stellung galt es, im Namen der Nation den bestehenden Staat zu vernichten. Ihnen schwebte ein Gesellschaftsmodell vor, das hierarchisch gegliedert sein sollte. (…) Fluchtpunkt aller Herrschaftsvorstellungen bildete ein starker, autoritärer Staat, in dem ein charismatischer Führer an der Spitze stehen und qua Akklamation die Nation repräsentieren und führen sollte. Über die divergierenden Einzelinteressen hinweg sollte das 'Volk' dynamisch zu einer Einheit zusammengeschweißt werden.« Die Ideengeber der Konservativen Revolution stehen klar in der Tradition des deutschen völkischen Nationalismus. Diesen kennzeichnete ein aggressiver, imperialistischer Herrschaftsanspruch nach außen und die Vorstellung eines biologisch und kulturell homogenen Volkskörpers nach innen. Er richtete sich – vor dem Ersten Weltkrieg – gegen Chinesen, Slawen, Afrikaner, aber auch gegen Engländer und Franzosen. Er gipfelte in der von Kaiser Wilhelm II. 1907 in einer Rede gebrauchten Formel: »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.« Schon in den 1880er Jahren war es zu einer kurzen Berüh-

Die Konstruktion der Konservativen Revolution erfüllte die Funktion, eine existierende völkische Theorielinie in die BRD zu retten, ohne sich auf den Nationalsozialismus zu beziehen. Ein offenes Bekenntnis zur antisemitischen Nazitradition war bisher immer gleichbedeutend mit politischer Isolation. Der heutige Rückgriff von Höcke und Co. auf die Konservative Revolution ist eine taktische Möglichkeit, faschistische Ideen zu rehabilitieren, ohne eine direkte Traditionslinie zu Hitler herzustellen. Dieses Versteckspiel faschistischer Parteigründer hat in der Vergangenheit durchaus funktioniert: Immer wieder ging die Öffentlichkeit der Mimikry der Nazis auf den Leim. Im Jahr 1985 spalteten sich die Republikaner. Gründer Franz Handlos und ein Kreis ehemaliger enttäuschter CSU-Mitglieder zogen sich zurück. Franz Schönhuber, der sich schon 1981 in seinem Buch »Ich war dabei« öffentlich zu seiner SS-Vergangenheit bekannt hatte, übernahm mithilfe ehemaliger NPD-Mitgliedern und mit tatkräftiger Unterstützung des Erfinders der Konservativen Revolution Armin Mohler die Führung der Partei und bestimmte fortan deren Kurs. Er distanzierte sich zwar von den »Ewiggestrigen« der NPD, arbeitete aber in seiner Partei weiter mit gestandenen Nazikadern aus der NPD zusammen. Die Parallelen zur Entwicklung der AfD sind nicht zu übersehen. Die Spaltungen von Deutscher Reichspartei (1949), NPD (1967), Republikanern (1985) und AfD (Essener Parteitag, 2015) folgten einem einheitlichen Muster: Nazis suchten zunächst das Bündnis mit »seriösen« politischen Kräften aus dem nationalkonservativen Lager, um aus der Schmuddelecke herauszu-

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kommen. In den beiden letzten Fällen nutzten sie Rechtsabspaltungen der Union, um sich das Schild des respektablen Nationalkonservativismus umhängen zu können. Die Diskussion der Schriften von Vertretern der Konservativen Revolution wurde in der BRD maßgeblich von der Freundschaft Mohlers mit der trei-

Die Netzwerke werden nicht einmal mehr geleugnet »Ich bin ein Faschist«: Armin Mohler im Jahr 2000

benden Kraft der französischen Neuen Rechten, Alain de Benoist, beeinflusst. Nach den Recherchen von Weiss war Mohler Privatsekretär von Ernst Jünger, der wiederum als Schlüsselfigur im »heroischen Nationalismus« zu dem konstruierten Kanon Mohlers zählte. Von diesen Leuten hat Mohler viel gelernt und gab sein Wissen als persönlicher Lehrer an Karlheinz Weißmann und Götz Kubitschek weiter. Bereits 2000 hielt Kubitschek gemeinsam mit Weißmann die Laudatio zum 80. Geburtstag von Mohler. 2003 waren sie Mitunterzeichner der Todesanzeige von »Freunden und Schülern« Mohlers, und Kubitschek hielt an dessen Grab eine der Trauerreden. Weißmann gründete Anfang der 2000er Jahre mit Kubitschek zusammen das Institut für Staatspolitik (IfS) auf dem Rittergut Schnellroda im Saalekreis. Das IfS ist ein bundesweites Schulungszentrum für die Kader der Neuen Rechten. Über das IfS werden zahlreiche Kongresse und Konferenzen organisiert. Das IfS, der Verlag Antaios und die Zeitschrift Sezession machen das Netzwerk um Kubitschek zu einem

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Zentrum der Neuen Rechten. Und hier schließt sich der Kreis zur AfD und Björn Höcke. Kubitschek ist langjähriger Weggefährte Höckes und anderer Führungsfiguren des neofaschistischen Flügels in der AfD. Laut der Autorin Melanie Amann (Autorin von »Angst für Deutschland, die Wahrheit über die AfD: Wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert«) fungierte Kubitschek als Ideengeber der sogenannten Erfurter Resolution und formulierte auch deren ersten Entwurf. Die »Erfurter Resolution« war die inhaltliche Plattform, auf deren Grundlage sich die von Björn Höcke und André Poggenburg geführte AfD-Strömung Der Flügel sammelte. Poggenburg stand Kubitscheks AfD-Parteieintritt positiv gegenüber und kritisierte die Entscheidung des damaligen Bundesvorstands um Bernd Lucke, ihn nicht aufzunehmen. Poggenburg bekundete: »Ich kenne ihn persönlich und weiß nicht, was man ihm vorwirft. Die Entscheidung in Berlin hat bei uns und in Nachbar-Landesverbänden für großen Unmut gesorgt«. Poggenburg und Kubitschek kamen im Juni 2015 in Schnellroda zusammen, wo auch Thüringens AfDFraktionsvorsitzender Björn Höcke regelmäßig als Vortragender zu Gast ist. Unter anderen hielt Höcke hier im November 2015 seine biologistisch-rassistische »Afrikaner-Rede« über »Reproduktionsraten«, »Ausbreitungstyp« und »Platzhaltertyp«, zu der ihm Poggenburg, der unter den Zuhörern weilte, stehend applaudierte. Mittlerweile bemühen sich Björn Höcke und Götz Kubitschek nicht mehr, diese Verbindung zu verschleiern. Björn Höcke sagt, er ziehe »geistiges Manna« aus den Werken, die in Schnellroda entstehen, und er duzt Götz Kubitschek in seiner Rede, spricht von ihrem »engen Kontakt«. Nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Jahr 2016 wurde Kubitschek, Gast bei der »Wahlparty« der AfD Sachsen-Anhalt in Magdeburg, mit den Worten zitiert: »Ich kann ihnen versichern, dass diese Praktiker, die jetzt mit 27 Mann hier im Landtag in Sachsen-Anhalt vertreten sind, und mit großen Fraktionen auch in RheinlandPfalz und Württemberg, sehr, sehr gerne den einen oder anderen Begriff, das eine oder andere Thema, die eine oder andere aufbereitete Expertise aus unseren Projekten übernehmen und politisch umsetzen werden.« Im Juni 2016 war Kubitschek zudem mit seiner Ehefrau zu Gast auf dem Kyffhäusertreffen des Flügels um Höcke und Poggenburg in Thüringen. Diese Beispiele stehen exemplarisch für die engen Verbindungen der AfD und der Neuen Rechten. Die Partei ist mittlerweile zu einem Sammelbecken von Nazikadern geworden. Und diese treiben darin das alte Spiel: Den Versuch des Aufbaus einer neuen faschistischen Partei unter dem Deckmantel des Nationalkonservatismus. ■


INLAND | DIE AFD Vor DEr BUNDESTAGSWAHL

Björn Höcke und Stephan Brandner bei einem AfD-Aufmarsch in Erfurt. Brandner wurde auf Platz eins der AfD-Landesliste zur Bundestagswahl gewählt und hat damit gute Chancen im Herbst in den Bundestag einzuziehen

»Kein Nazi in den Bundestag« Die AfD ist auf ihrem Parteitag in Köln weiter nach rechts gerückt. Der Durchmarsch der Neofaschisten setzt sich fort, doch eine erneute Eskalation der Flügelkämpfe ist keineswegs ausgeschlossen. Hier kann der Widerstand ansetzen Von Nora Berneis und Martin Haller

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iele bürgerliche Kommentatoren sehen keine ernsthaften politischen Unterschiede zwischen Frauke Petry und dem Flügel um Björn Höcke. Sie interpretieren den Konflikt als rein »machttaktisch«: Petry gehe es eigentlich nur um die Führung der Partei, die inhaltlichen Differenzen seien nebensächlich. Diese Sichtweise hat durchaus einen wahren Kern: Sowohl Petry als auch Höcke sind stramme Rassisten und vertreten einen völkischen Nationalismus. Auch wenn Petry mittlerweile vorsichtigere Töne anschlägt, hat sie in der Vergangenheit den Begriff des »Völkischen« verteidigt und damit auch nichts anderes gemeint als ihre parteiinternen Konkurrenten. Insofern ist es auch irreführend, in Bezug auf die Höcke-Anhänger vom »völkisch-nationalistischen Flügel« zu sprechen. Völkisch und nationalistisch ist mittlerweile fast die gesamte AfD. Doch rein machttaktisch ist der Konflikt zwischen den Flügeln dennoch nicht. Der Irrtum liegt darin, die Unterschiede nur im Programmatischen zu suchen, nicht aber in der politischen

Strategie. Petry selbst hat in ihrem »Zukunftsantrag« von einer Strategieentscheidung gesprochen, die sie anstrebe. Die AfD solle sich für den »realpolitischen Weg einer bürgerlichen Volkspartei« entscheiden und gegen eine »Fundamentalopposition«. Letztere ziele darauf, ihre »eigentliche Wirkung als gesellschaftliche Bewegung durch Druck auf die anderen Parteien« ausüben. Die realpolitische Strategie baue hingegen auf »perspektivische Bereitschaft zur Koalitionsfähigkeit«. Aus Sicht Petrys liegt der Unterschied also in erster Linie im Weg und nicht im Ziel. Ihre Gegenspieler Alexander Gauland und Jörg Meuthen widersprachen dieser Darstellung vehement. Es gebe keinen »fundamentaloppositionellen« und keinen »realpolitischen« Flügel – alles nur »trügerische Wahrnehmung«.

Faschisten erkennt man an ihrer Strategie

Martin Haller ist Redakteur von marx21.

Nora Berneis ist aktiv im Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« und der LINKEN in Berlin-Neukölln.

Der Grund dafür, dass viele Kommentatoren Gauland und Meuthen in ihrer Einschätzung folgen, ist schlicht, dass sie den Unterschied zwischen Rechtspopulismus und Faschismus nicht kennen.

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INLAND | DIE AFD Vor DEr BUNDESTAGSWAHL

Straßenproteste organisierte. Petry hat Höcke in ihrem Antrag auf Parteiausschluss in eine Traditionslinie mit Hitler gestellt. Damit hat sie recht. Höcke und seine Parteiströmung sind Teil der neofaschistischen »Neuen Rechten«, die sich zwar nach außen vom Nationalsozialismus abgrenzt, aber dennoch die gleiche politische Stoßrichtung hat.

© Wikimedia / Bundesarchiv_Bild_119-0779

Das liegt vor allem am weit verbreiteten Irrtum, der Faschismus habe eine ihm eigene Ideologie. Doch völkischer Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus, Männlichkeitspathos und Mütterideologie – all das gab es bereits vor dem Nationalsozialismus. Das wesentliche Merkmal des Faschismus ist nicht die Ideologie, sondern seine politische Strategie der Machteroberung durch eine Massenbewegung mit entsprechenden Organisationen, die zwar mit dem bürgerlichen Staatsapparat kooperieren, aber zugleich auch bereit und in der Lage sind, unabhängig Macht auszuüben. Parlamente sind für Faschisten beim Kampf um die Macht zwar ein Element, aber nicht das entscheidende. Hitlers NSDAP hatte gegen Ende der Weimarer Republik hohe Wahlergebnisse, aber vor allem

SA-Uniformierte in der Weimarer Republik versammeln sich auf der Straße. Die Macht der Nazis bildeten vor allem 400.000 SA-Straßenkämpfer

hatte sie 400.000 in der SA organisierte Anhänger, die in der Lage waren, das Programm des Faschismus gegen seine Gegner durchzuprügeln. Wenn man den historischen Vergleich ziehen will, steht Petry in der Tradition der »Deutschnationalen Volkspartei«, einer antirepublikanischen, rassistischen, völkischen und monarchistischen Partei, die aber im Rahmen der Weimarer Verfassung agierte. Höcke will dagegen, wie Petry ganz richtig beschreibt, eine Bewegungspartei aufbauen. Er war auch der erste AfD-Politiker, der erfolgreiche

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Falsch wäre es hingegen, Petry zu glauben, sie hätte ein grundsätzliches Problem mit Höckes mehr oder weniger offenen völkischen und antisemitischen Parolen. Dass sie keine Scheu vor gezielten Provokationen und unverhohlener Hetze hat, hat Petry mehrfach bewiesen. Der wahre Grund, warum sie Höcke aus der AfD werfen will, ist nicht ihre Ablehnung seiner inhaltlichen Positionen. Ihr Problem ist, dass Höckes politische »Alleingänge«, mit denen er den Schulterschluss zur Neonazi-Szene sucht und findet, um diese für die AfD und damit auch für seine künftige Machtbasis zu gewinnen, die Gesamtpartei leichter angreifbar machen. Die »realpolitische Strategie« wird torpediert, indem bürgerliche Wählerinnen und Wähler sowie potenzielle künftige Koalitionspartner verschreckt werden. Die Neofaschisten um Höcke profitieren davon, dass die AfD nach wie vor eine Sammlungsbewegung verschiedener rechter Strömungen ist. Das hilft ihnen, ihr Versteckspiel aufrecht zu erhalten und nicht in die politische Isolation zurückzufallen, aus der sie sich mithilfe der AfD erst befreien konnten. Das ist der Grund, warum sie eine Spaltung der AfD vor der Bundestagswahl unbedingt verhindern wollen. Sie wollen die Einheit der Partei bewahren und gleichzeitig möglichst uneingeschränkten Bewegungsspielraum für die weitere Öffnung gegenüber der außerparlamentarischen extremen Rechten und der Zusammenarbeit mit Pegida und der »Identitären Bewegung«. Höcke ist die Galionsfigur des faschistischen Flügels. Er setzt sich über Parteibeschlüsse hinweg und prescht nach vorne, womit er den Spielraum des Sagund Machbaren für die Neofaschisten in der AfD immer mehr erweitert. Alexander Gauland, der schon in der »Stahlhelmfraktion« der hessischen CDU ein Bindeglied zwischen nationalkonservativen Kräften und faschistischen Kreisen wie dem Witikobund war, hat auch in der AfD die Rolle des Mittlers. Einerseits hält er stets seine schützende Hand über Höcke, andererseits taktiert er geschickt, um die Einheit der Partei nicht zu gefährden. Auf dem Kölner Parteitag hob er nach Meuthens scharfem Angriff auf Petry in seiner Rede deren Bedeutung für die Partei hervor: »Wir brauchen Sie in der Partei und für den Wahlkampf.« Doch im Hintergrund hatte der Strippenzieher Gauland bereits daran gearbeitet, die neue Frontfrau der AfD zu küren. Gemeinsam mit dem 76-jährigen


INLAND | DIE AFD Vor DEr BUNDESTAGSWAHL

bei denen Zehntausende die gesamte Innenstadt belagerten, haben genau wie in Münster und vielen anderen Städten gezeigt, wie es geht: Direkte massenhafte Konfrontation und bunter breiter Protest sind das richtige Mittel, um dem Aufstieg der rassistischen und zunehmend faschistischen AfD entgegenzutreten. In zahlreichen Städten und Regionen formiert sich bereits eine dezentrale Gegenbewegung. In Schleswig-Holstein gab es im Wahlkampf

Gauland soll die 38-jährige Alice Weidel die AfD in den Bundestagswahlkampf führen. Bereits im Vorfeld soll Gauland vor Vertretern des neofaschistischen Flügels, darunter auch Höcke und sein Verbündeter André Poggenburg, für Weidel geworben haben. Für Gauland und die Neofaschisten ist sie die perfekte Kandidatin, um nach außen den Schein des Pluralismus zu wahren. Die promovierte Volkswirtin ist jung, lesbisch und dient als ideales Feigenblatt für die Frauenfeindlichkeit und Homophobie der AfD. Doch um in der AfD zu punkten, reicht eine scharfe Kritik am Euro und der Bankenrettung längst nicht mehr aus und das weiß Weidel. Seit einigen Monaten übt sie sich daher in immer unverhohlenerer Hetze gegen muslimische und zugewanderte Menschen.

Beatrix von Storch spricht vor einem leeren Marktplatz in Osnabrück. Der Grund: Zur angekündigten Gegendemo zum AfD-Wahlkampftauftritt sind etwa 2000 Menschen erschienen und umzingelten den Marktplatz. Lautstark begleiteten sie die AfDVeranstaltung auf dem Marktplatz

© SDS Köln Facebook

Auch in dem Wahlprogramm, das die Delegierten in Köln beschlossen haben, setzt die AfD auf die altbewährten Themen Rassismus und Islamfeindlichkeit. So fordert die Partei unter anderem eine jährliche Mindestquote für Abschiebungen und stellt sich gegen jeglichen Familiennachzug für Geflüchtete. »Kriminelle Migranten« sollen ausgebürgert werden. Bekräftigt wird auch der Anti-Islam-Kurs durch die Aussage, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. In Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik bleibt die Ausrichtung widersprüchlich, wobei sich die »national-soziale« Orientierung des neofaschistischen Flügels gegenüber dem ursprünglichen neoliberalen Kurs weiter durchsetzt. Nicht zuletzt, dass die AfD eine Beschränkung der Leiharbeit und eine konsequent paritätische Kranken- und Pflegeversicherung fordert sowie für die Beibehaltung des Mindestlohns eintritt, zeigt den Einfluss der Gruppe um Gauland und Höcke, die die AfD in klassisch rechtsradikaler Manier zu einer Partei der »kleinen Leute« machen wollen. In Thüringen rief Höcke für den 1. Mai zu einer Demonstration auf. Das Motto: »Sozial ohne rot zu werden«. Etwa 1.200 Anhänger marschierten durch Erfurt und skandierten »Höcke, Höcke«. Auf der Abschlusskundgebung betrieb dieser Kapitalismuskritik und wetterte gegen »neoliberale Heuschrecken«. Nach dem Parteitag lässt sich sicher sagen: Die Faschisierung der AfD schreitet voran. Hier kann der Widerstand gegen die AfD in den nächsten Wochen und Monaten ansetzen. Auf den Landeslisten der AfD für die Bundestagswahl finden sich zahlreiche Kandidatinnen und Kandidaten mit mehr oder weniger klaren Verbindungslinien zur alten Neonazi-Szene, der »Neuen Rechten« und »Identitären Bewegung«. Es gilt, diese Verbindungen aufzudecken, die Nazis zu entlarven und offen als solche anzugreifen. »Kein Nazi in den Bundestag« könnte in vielen Wahlkreisen der Slogan lauten, unter dem sich der antifaschistische Widerstand formiert. Die Proteste rund um den Parteitag in Köln,

Massenhafter Straßenwiderstand wirkt

gegen jede Veranstaltung und nahezu jeden Infostand der Rassisten Proteste. In Osnabrück stand Beatrix von Storch auf einer AfD-Bühne fast ohne Publikum. Über 2000 Gegendemonstranten umzingelten die Kundgebung und zeigten ihr, was sie von ihrer Hetze halten. Auf diese Bewegung gilt es, aufzubauen. Ein wesentliches Ziel sollte zudem sein, Zugewanderte, Muslimas und Muslime, als Hauptbetroffene der Hetze der AfD, stärker in den antirassistischen Widerstand einzubinden. Die immer wieder aufflammenden Konflikte in der AfD sind ein Erfolg des bisherigen Protests. In einem internen Strategiepapier mit dem Titel »Manifest 2017« beschreibt die AfD, wie wirkungsvoll die vielfältigen Proteste gegen die Partei sind: Sie führten zu Frustration bei aktiven Parteimitgliedern. Außerdem trügen Störaktionen »in der Öffentlichkeit, vor allem in der Mittelschicht und bei Interessengruppen zum Eindruck bei, dass die AfD ein Stigma trägt und man sich nicht mit ihr zeigen sollte.« Mit einer breiten Kampagne, die in der Lage ist, Gegenproteste zu organisieren, wo immer die AfD mit Kundgebungen, Veranstaltungen oder Infoständen präsent ist, können wir ihr nicht nur den Wahlkampf verderben, sondern auch ihre inneren Widersprüche verstärken. Das Stigma haben sie sich redlich verdient. ■

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© Eduard Garcia / egarcigu.com

TITELTHEMA

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G20 Alternativen zum G20-Wahnsinn

Interview mit Naomi Klein Was der Staat aus den NSU-Verbrechen gelernt hat

Widerstand gegen Wilders Warum die niederländische Linke einen Kurswechsel braucht

Marine Le Pen's Front National Im Herzen schlummert der Faschismus

Trump und die extreme Rechte Warum die »Alt-Right« die Republikaner zerstören will

»Kampf der Kulturen« Wie die Trump-Bande den Rassenkrieg heraufbeschwört

Trump und Berlusconi Was sich aus den Fehlern der italienischen Linken lernen lässt


TITELTHEMA | G20 – Ihr System zerstört die Welt

G20: Ihr System zerstört die Welt Die Politik der G20-Staaten hinterlässt eine Welt in Trümmern. Wenn die Linke dem etwas entgegensetzen möchte, braucht es neue Alternativen. Ein Plädoyer für mehr Antikapitalismus Von der marx21-Redaktion

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anzlerin Merkel verteidigte das G20Gipfel-Treffen mit den Worten, es würde »ein geeignetes Forum zur Diskussion und Lösung globaler Probleme« darstellen. Das Gegenteil ist der Fall. Seit die G20-Gipfel im Jahr 2008 aus dem Kreis der G7Staaten ins Leben gerufen wurden, hat sich die globale politische Lage weiter verschärft. Kriege und bewaffnete Konflikte wie in Syrien, der Ukraine, in Kurdistan oder im Irak scheinen kein Ende zu nehmen. 1,8 Billionen Euro werden jährlich für Rüstung und Krieg ausgegeben. Weltweit sind es laut UNHCR mehr als 65 Millionen Menschen die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung auf der Flucht sind. Nicht mitgezählt werden dabei jene, die aufgrund ökologischer Krisen, Armut, Ausbeutung und Chancenlosigkeit gezwungen sind, zu migrieren. Doch die Herrschenden aller Länder reagieren mit Mauern und schärferen Asylgesetzen. Auf der Suche nach Sicherheit ertrinken tausende Menschen im Mittelmeer, das zur tödlichsten Grenze der Welt geworden ist.

te der Weltbevölkerung ernähren könnte, verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren, 37.000 Menschen verhungern jeden Tag und fast eine Milliarde sind permanent unterernährt. Die soziale Spaltung hat dramatische Ausmaße erreicht. Wie aktuelle Berechnungen der NGO Oxfam zeigen, besitzen 62 Individuen derzeit so viel Reichtum, wie die ärmere Hälfte der Menschheit und der Reichtum dieser 62 Superreichen ist seit 2010 um 44 Prozent gewachsen. Diese Spaltung gibt es nicht nur im globalen Maßstab, sie durchzieht alle Gesellschaften, auch die deutsche. Millionen Menschen müssen sich mit Niedriglöhnen durchschlagen, haben keinerlei Aussicht auf eine existenzsichernde Rente, müssen um die wenigen bezahlbaren Wohnungen konkurrieren. Anstatt diese Probleme anzugehen, verschärfen die Herrschenden mit Freihandelsabkommen wie EPA, CETA, TISA oder TTIP die Situation weiter.

Die soziale Spaltung hat dramatische Ausmaße angenommen

Rassismus und offener Hass nehmen in vielen Ländern der Welt zu – auch in Deutschland, dass inzwischen Geflüchtete sogar in Kriegsgebiete wie Afghanistan abschiebt. Während die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos das Doppel-

Doch selbst wenn ökonomische und geostrategische Krisen von den G20-Staaten in Schach gehalten werden könnten, ist die Zukunft des Planeten selbst in Gefahr. Die aktuelle Klimapolitik, kann die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nicht aufhalten. Die Umweltzerstörung produziert jährlich immer drastischere Verwüstungen und entwurzelt, ebenso wie die genannten kriegerischen Auseinandersetzungen, ein immer größeres Heer von

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TITELTHEMA | G20 – Ihr System zerstört die Welt

diger wird. Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeit durch Maschinen, aber sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurück und macht den anderen Teil zur Maschine.«

Geflüchteten, die ihr gesamtes Hab und Gut hinter sich lassen – in der Hoffnung, anderswo eine bessere Zukunft zu finden, die ihnen jedoch meist verwehrt bleibt. Dennoch passte die Bundesregierung ihren Klimaschutzplan den Interessen der Braunkohle-Industrie an. Im Weißen Haus sitzt mit Donald Trump sogar ein Präsident, der den Klimawandel für eine

© matt the monkey /CC BY-NC / flickr.com

Demokratie blüht auf, wenn Menschen aktiv sind

Anti-G20-Proteste gespiegelt in den Augen eines Polizeipferds

Lüge hält. Laut einer Studie der Organisation Climate Transparency tun die G20 nur einen Bruchteil dessen, was notwendig wäre, um die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen. All das zeigt: Die G20-Gipfel sind ein großes Spektakel, bei dem sich die Herrschenden als »Retter der Welt« inszenieren wollen, die drängende Probleme der Welt lösen sie nicht. Im Gegenteil: Ihr System zerstört die Welt. Die Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg werden der Welt zeigen, dass auch viele Menschen in Deutschland sich eine ganz andere Politik wünschen. Aber was ist die Alternative? Im Hintergrund jeder Diskussion um Alternativen steht eine andere, grundsätzliche Frage. Wogegen kämpfen wir? Sind es eine Reihe institutioneller und politischer Veränderungen, die nötig sind, um die dringendsten Probleme in den Griff zu bekommen? Oder ist es ein seit langem bestehendes ökonomisches System? Wir meinen: Wer das System verstehen will, sollte zu Karl Marx zurückkehren. Er erklärte vor 150 Jahren, warum der Kapitalismus immer mehr Reichtum schafft und ihn gleichzeitig immer mehr Menschen vorenthält: »Je mehr der Arbeiter produziert, er um so weniger zu konsumieren hat, dass, je mehr Werte er schafft, er um so wertloser, und so unwür-

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Diesen Kapitalismus gibt es heute weltweit. Unter ihm leiden junge Textilarbeiterinnen in Indonesien oder Mittelamerika, die für einen Euro am Tag teure Designerkleidung nähen, die sie niemals tragen können. Oder Menschen in Indien, die ihr Land an die Agrar-Industrie verlieren und ihre gesamte Ernte an sie abgeben müssen, oder Opel-Arbeiter in Bochum, die entlassen werden, weil weltweit »zu viele« Autos hergestellt werden. Der Grund ist, dass im Kapitalismus nicht für Menschen, sondern für Profit produziert wird. Kapitalisten investieren nicht dort, wo etwas gebraucht wird, sondern dort, wo sie Profit erwarten. Dafür müssen sie Kapital anhäufen. Die Konkurrenz zwingt das Kapital, ausschließlich Profitmaximierung zu betreiben. Deshalb wird der Reichtum nie für die Menschen eingesetzt. Die G20-Staaten stehen für diesen globalen Kapitalismus. In ihnen ist die Wirtschaftsmacht der Welt konzentriert. Die G20-Staaten sind für 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Welt und 80 Prozent des Welthandels verantwortlich. Von den 200 größten Konzernen der Welt kommen 171 aus den USA, Deutschland, Japan, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada. Im Zentrum der Politik aller G20-Staaten steht ihr Interesse im Wettlauf um Rohstoffe, Absatzmärkte und Einflusssphären ihren Nationalökonomien und den mit ihnen verwobenen Konzernen, Vorteile zu verschaffen. Für Linke sollte klar sein, dass die Politik der G20-Staaten deswegen voller Widersprüche steckt. Der Wettstreit dieser Staaten findet Ausdruck in Handelskriegen, aber auch in direkten militärischen Konfrontationen. Karl Marx nannte die Herrschenden der kapitalistischen Staaten »eine Bande verfeindeter Brüder«. Verfeindet, weil die Herrschenden in ökonomischer und militärischer


TITELTHEMA | G20 – Ihr System zerstört die Welt

Konkurrenz um die Aufteilung der Welt stehen. Brüder deshalb, weil sie punktuelle Bündnisse schmieden, um ihre Interessen durchzusetzen, und doch alle zusammenstehen, wenn ihr System von unten bedroht wird. Die G20 sind ein Zusammenschluss, um das Überleben einer Weltordnung abzusichern, die die Ursache für Flucht, Kriege, Ausbeutung und Umweltzerstörung ist. Wenn die Linke die Politik der Herrschenden herausfordern will, muss sie antikapitalistischer werden. Denn wenn wir nur die dringendsten Probleme lösen wollen, ist eine Gesellschaft ohne Kapitalismus notwendig. Die Wirtschaft muss demokratisch kontrolliert werden. Das würde den blinden Wettbewerb beenden und es den Menschen ermöglichen, gemeinsam die drastischen Schritte einzuleiten, die zur Bekämpfung von Armut, Arbeitslosigkeit, Krieg und Umweltkatastrophen notwendig sind. Um eine andere Welt zu schaffen, brauchen wir eine demokratische Wirtschaft ohne Konkurrenz und Profit.

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Eine solche Alternative kann verwirklicht werden, durch die Schaffung einer anderen Art von Macht, die auf der Selbstorganisation der arbeitenden Bevölkerung und anderen armen Menschen fußt und sich aus ihren Kämpfen gegen das Kapital entwickelt. Eine Gesellschaft welche durch die Mehrheit der Menschen selber, »von unten«, durch Massenstreiks bis hin zur Revolution – mit dem Ziel der Durchsetzung auf globaler Ebene – erkämpft wird. Demokratie blüht auf, wenn Menschen sich organisieren und aktiv sind. Die großen revolutionären Bewegungen in der Geschichte des Kapitalismus bieten einige Ausblicke auf diese Macht – angefangen mit den Kämpfen der Pariser Kommune 1871, den Arbeiter- und Soldatenräten der russischen Oktoberrevolution von 1917 bis hin zu den Arbeitershoras der iranischen Revolution von 1978–79 oder dem Prozess der Selbstorganisierung, welche die Bewegungen in Bolivien während der Aufstände 2003 und 2005 an den Tag legte. Wir sind noch weit davon entfernt, den Kapitalismus zu stürzen, auch nur in einem einzigen Land. Aber der weltweite Widerstand gegen den ungebremsten Markt bleibt nicht dabei stehen, die Idee von einer Alternative zum Kapitalismus wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Er trägt auch dazu bei, die Voraussetzungen zu schaffen, damit diese Alternative gewinnen kann. Eine zeitgemäße Linke muss diese Perspektive ausdrücken und in ihre Praxis integrieren. Das bedeutet zum einen mehr Antikapitalismus zu wagen und zum anderen Motor für gesellschaftliche Kämpfe zu sein. Wenn die Mächtigen dieser Welt sich mit dem G20-Gipfel wiedereinmal als »Heilsbringer« inszenieren, rufen wir ihnen zu: Grenzenlose Solidarität statt G20. ■

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TITELTHEMA | G20 – Ihr System zerstört die Welt

»Um den Klimawandel zu bekämpfen, müssen wir den Kapitalismus bekämpfen« Beim G20-Gipfel werden sich die Herrschenden auch als Kämpfer für den Klimaschutz inszenieren. Dabei ist ihr System der Hauptgrund für den drohenden Klimakollaps, meint Naomi Klein INTERVIEW Agnès Rousseaux und Sophie Chapelle Wir gehen anscheinend direkt auf eine Klimakatastrophe zu. Wir wissen, was geschehen wird, wenn wir nichts dagegen tun, aber es wird kaum etwas unternommen. Warum ist das so? Naomi Klein: Es ist nicht so, dass gar nichts getan wird – aber wir tun genau das Falsche. Wir haben ein Wirtschaftssystem, das Erfolg und Fortschritt als endlose wirtschaftliche Expansion begreift. Jede Expansion wird als gut erachtet. Unser Schadstoffausstoß steigt sehr viel schneller als in den 1990er Jahren. Im vergangenen Jahrzehnt hatten wir sehr hohe Ölpreise, weshalb es große wirtschaftliche Anreize für Konzerne, die Energie aus fossilen Energiequellen herstellen, gab, in noch mehr Schadstoffe emittierende Bereiche vorzustoßen, wie die Ausbeutung von Ölsanden oder Fracking. Wir haben auch ein System, das es multinationalen Konzernen erlaubt, ihre Produkte auf billigste Weise zu erzeugen: mit schlecht bezahlten Arbeitskräften und billiger Energie, was zur deregulierten Verbrennung von Kohle geführt hat. Deshalb hat sich das Problem noch deutlich verschärft. Du sagst, die transnationalen Konzerne wie ExxonMobil, BP und Shell haben dem Planeten den Krieg erklärt … 24 |

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ÜBERSETZUNG Rosemarie Nünning

Naomi Klein

Naomi Klein ist eine kanadische Journalistin, Autorin von diversen Büchern (u.a. »No Logo«, 2000 und »Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima«), Globalisierungskritikerin und Aktivistin.

Das Geschäftsmodell dieser Konzerne besteht darin, neue Reserven fossiler Energiequellen zu finden, was das genaue Gegenteil von dem ist, was wir brauchen, um etwas gegen den Klimawandel zu tun. Laut einer Studie der Initiative Carbon Tracker von vor drei Jahren hat die Industrie für fossile Energieträger fünfmal mehr Kohlenstoff in ihren nachgewiesenen Reserven, als mit dem Ziel vereinbar ist, die Erderwärmung auf weniger als zwei Grad Celsius zu begrenzen – das jedenfalls wurde auf der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Jahr 2009 vereinbart, und schon dieses Ziel bedeutet für viele Gemeinden große Gefahr. Aber es gibt uns eine Größenordnung für den Kohlenstoffausstoß. Wir wissen, wie viel Kohlenstoff verbrannt werden kann, um nach wie vor eine 50-prozentige oder sogar höhere Chance zu haben, dieses Ziel zu erreichen, und diese Konzerne haben fünfmal mehr Kohlenstoff in ihren Reserven. Das ist auch die Erklärung dafür, dass diese Konzerne so aktiv gegen die Verbreitung der Erkenntnisse echter Klimawissenschaft kämpfen, warum sie Politiker und Organisationen finanzieren, die den Klimawandel leugnen, und weshalb sie jeden ernsthaften Versuch bekämpfen, gegen den Klimawandel vorzugehen, sei es in Form von Verbrauchssteuern auf Kohlenstoffemissionen oder die Unterstützung von erneuerbaren Energien.


TITELTHEMA | G20 – Ihr System zerstört die Welt

© Mark Rain / CC BY / flickr.com

Umweltzerstörung und globale Erwärmung werden zu immer massiveren Bedrohungen

Warum bleibt das straflos? Fossile Energieträger verarbeitende Konzerne, insbesondere Ölkonzerne, sind die mächtigsten Unternehmen der Welt. Kriege wurden von unseren Regierungen geführt, um ihre Interessen zu schützen. Fossile Energiequellen kommen natürlicherweise konzentriert in bestimmten Regionen vor. Förderung, Transport und Verarbeitung sind sehr teuer. Es ist also kein Wunder, dass sie Gegenstand der Konzentration von Reichtum und Macht mit einer sehr kleinen Zahl von Spielern auf dem Gebiet sind. Diese Art der Machtkonzentration lädt geradezu zur politischen Korruption der legalen wie der illegalen Art ein. Deshalb bleibt das straflos.

Wie könnte der Dialog mit den Beschäftigten dieser die Umwelt vergiftenden Konzerne aussehen? Kann es ein Bündnis mit ihnen geben? Wir brauchen eine Antwort auf den Klimawandel, die auf Gerechtigkeit basiert. Das muss zunächst der Politik eingeschrieben werden: Wir müssen definieren, wie ein gerechter Übergang aussieht, und wir müssen dafür kämpfen. Konkret heißt das, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihren Job in diesen Industrien verlieren würden, umgeschult werden und eine andere Arbeit bekommen. Es würde mehr Arbeitsplätze im Sektor erneuerbarer Energien geben, weil erneuerbare Energien, Energieeffizienz, alternative Technologien für den öffentlichen

Transport und so weiter sechs- bis achtmal mehr Arbeitsplätze als die Abbauindustrie schaffen. In den vergangenen Jahren wurden riesige Summen in die Abbauindustrie investiert, was ein großer Antrieb für das Fracking von Gas und für Bohrungen im Meer war. Gleichzeitig sind die Regierungen weniger bereit, in den Energiewandel zu investieren. Überall in Europa haben Regierungen ihre Subventionen für erneuerbare Energien gesenkt. Wenn es nur Arbeitsplätze in der Abbauindustrie gibt, verteidigen die Gewerkschaften natürlich diese Jobs. In deinem Buch schreibst du, die Proteste hätten bisher gezeigt, dass Nein sagen nicht genug ist, dass wir ein umfassendes Verständnis davon brauchen, was an die Stelle dieses Systems treten könnte. Wer wird diese Vision entwerfen? Dazu benötigen wir einen demokratischen Prozess. Ich glaube nicht, dass es eine Vision gibt, die in Frankreich funktioniert, oder auch nur in einem Teil Frankreichs, und dass dieselbe Vision auch in Kanada oder Indien funktioniert. Wir müssen Beispiele schaffen, die auf jeder Ebene funktionieren, sei es in der Stadt, in der Region oder landesweit, indem Leute zusammenkommen und definieren, was ein gerechter Übergang für sie bedeutet. Entscheidend wird sein, diese Gespräche, diesen Austausch in Gang zu bringen, denn ich bin immer wieder verblüfft darüber, wie wenig wir die Verbindung zum Beispiel zwischen einem Kampf für erschwinglichen öffentlichen Verkehr und Klimawandel ziehen. Oder es gibt einen Streik von Eisenbahnarbeitern gegen Privatisierung, aber sie reden niemals über den Klimawandel. Der große Fehler ist also, dass wir nicht zusammenkommen und die Macht dieser Argumente benutzen, um dem Druck der Sparpolitik etwas entgegenzusetzen. Was können wir von internationalen Verhandlungen erwarten? Wir müssen realistisch bleiben: Sie werden die Welt nicht retten, es wird kein Abkommen geben, das dem entspricht, was Wissenschaftler uns als notwendig vorschlagen. Die Wissenschaftler sagen uns, dass wir den Schadstoffausstoß um 8 bis 10 Prozent im Jahr senken müssen, ab sofort. Unsere Regierungen sprechen über marx21 02/2017

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eine Senkung des Schadstoffausstoßes um 2 bis 3 Prozent ab dem nächsten Jahrzehnt. Das ist überhaupt nicht vertretbar. Es ist ein großer Fehler, immer wieder so zu tun, als müssten wir unsere Politiker nur vom Richtigen überzeugen, und plötzlich würden sie innerhalb weniger Monate zu völlig anderen Menschen. Das ist das Rezept für große Enttäuschungen. Was würdest du Leuten sagen, die in ihrem Alltagsleben etwas tun wollen, um etwas zu verändern? Wir wissen, was wir im Alltag tun können, um unseren Kohlendioxid-Fußabdruck zu senken. Viele tun das bereits. Und wir sollten das auch tun, weil es uns vernünftiger und gesünder macht, und wir unser Handeln und unsere Überzeugungen in Übereinstimmung bringen. Ich glaube aber auch, dass sich viele entmutigt fühlen, weil sie zwar individuell etwas verändern, sich aber strukturell nichts ändert. Denkst du, dass die Abkehr von der Politik des Wirtschaftswachstums eine Lösung ist? Als diagnostisches Mittel ist das hilfreich: Wir brauchen die Abkehr von einem Wirtschaftssystem, das Wachstum als einzigen Maßstab für Erfolg und Fortschritt ansieht. Insgesamt brauchen wir ein Wirtschaftssystem, das den Verbrauch unserer Ressourcen mindert, insbesondere den Verbrauch fossiler Energiequellen. Aber sich die Abkehr vom Wachstum als Ziel auf die Fahnen zu schreiben, ist ein Fehler. Nur weil Wachstum Kern des Problems ist, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass Abkehr vom Wachstum die Lösung bedeutet. Wenn das Problem darin liegt, Erfolg an Wachstum zu messen, dann besteht die Lösung darin, einen anderen Maßstab für Erfolg zu entwickeln, würde ich sagen. Es kommt immer auf die Umstände an, aber den Begriff der Wachstumsentschleunigung zu benutzen, insbesondere wenn Leute unter erbarmungslosem Spardruck leiden müssen, ist keine besonders kluge Kommunikationsstrategie. Gibt es vielleicht technische Lösungen gegen den Klimawandel, oder ist alles politisch?

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Das ist eine Kombination: Bei erneuerbaren Energien geht es um Technik. Es hat hervorragende Entwicklungen bei all diesen Technologien gegeben. Bei agroökologischer Landwirtschaft handelt es sich nicht nur um die Rückkehr zu traditionellen Landwirtschaftsmethoden, sondern um überliefertes Wissen verbunden mit moderner Technologie. Aber wir müssen auch begreifen, dass wir unseren Konsum reduzieren und weniger Ressourcen verbrauchen müssen. Sich also allein auf die Technologie zu konzentrieren, vermittelt den falschen Eindruck, dass wir außer der Verwendung anderer Energiequellen nichts ändern müssten. Wir brauchen jedoch auch eine Strategie, die Nachfrage zu senken, damit wir weniger Energie verbrauchen. Deshalb ist es gefährlich, nur die Technik im Blick zu haben. Das gilt umso mehr für andere technische Heilmittel wie Geoengineering, die eher was von ScienceFiction haben: diese Vorstellung, dass wir irgendwie das Sonnenlicht dimmen könnten, sodass der Planet sich nicht weiter erwärmt. Das ist nur ein weiterer Ausdruck ebendieses anmaßenden Weltbilds, das uns dieses Problem überhaupt erst beschert hat. Gibt es also keine Möglichkeit, gegen den Klimawandel zu kämpfen, ohne auch gegen den Kapitalismus zu kämpfen? Nein, ich glaube nicht. Das haben wir schon eine ganze Weile versucht. Aber es gibt immer noch eine starke Strömung in der grünen Bewegung, die meint, sie könne weiterkommen, ohne die Machthaber zu verärgern. Das ist offen gestanden eine sehr schlechte Strategie. Wenn der Kapitalismus, abgesehen vom Klimawandel, für die Mehrheit der Menschen funktionieren würde, bräuchten wir tatsächlich eine Strategie, die das kapitalistische System schützt. Falls es das überhaupt gibt, was ich nicht glaube. Aber so sind die Verhältnisse nicht. Inzwischen ist die Einsicht weit verbreitet, dass dieses Wirtschaftssystem selbst nach eigenen Maßstäben scheitert. Diese Erkenntnis ist sogar viel weiter verbreitet, als ich es je zuvor erlebt habe. Es gibt eine breite Debatte über die große Ungleichheit, die der Neoliberalismus geschaffen hat. Die Menschen begreifen,

dass eine Politik, die für mehr Effizienz sorgen sollte, am Ende weniger Effizienz brachte. Wir brauchen also umso dringender ein anderes Wirtschaftsmodell. Und wenn die Bewegung für Klimagerechtigkeit beweist, dass ihre Antwort auf den Klimawandel auch die beste Möglichkeit ist, ein gerechteres Wirtschaftssystem zu schaffen, in dem es mehr und bessere Arbeitsplätze gibt, mehr soziale Gleichheit, mehr und bessere soziale Dienste, alternative öffentliche Verkehrsmittel, all diese Dinge, die das alltägliche Leben verbessern, dann werden die Menschen auch bereit sein, dafür zu kämpfen. Das Problem ist, dass wir Feinde haben: die Konzerne, die die fossilen Energiequellen ausbeuten und bis zum Letzten gehen, um ihre Interessen zu schützen. Sie meinen es ernst, sie kämpfen mit kreativen, mit schmutzigen Mitteln, sie werden alles tun, um zu gewinnen. Und auf der anderen Seite steht diese Art lauer Mitte, die nicht wirklich kämpft, weil sie sich nicht sicher ist, was dabei herauskommen wird. Aber wenn es möglich ist, ein Programm für Wirtschaftsgerechtigkeit mit Umweltschutz zu verbinden, dann können wir eine Bewegung von Menschen schaffen, die für die Zukunft kämpfen, weil es unmittelbar von Nutzen für sie sein wird. Bist du optimistisch? Ich finde nicht, dass das eine Frage von Optimismus oder Pessimismus ist. Wir alle fühlen uns pessimistisch. Wer dir sagt, sie oder er sei sicher, dass wir gewinnen werden, lügt oder ist verrückt. Aber verzweifelt aufzugeben, wäre derzeit moralisch verwerflich. Zu viele Menschenleben stehen auf dem Spiel. Wenn wir also einen möglichen Ausweg erkennen, dann stehen wir in der moralischen Pflicht, dafür zu kämpfen, dass sich unsere Chancen verbessern. Ich verwende dafür nicht die Sprache des Optimismus, sondern ich spreche von moralischer Pflicht. Die Dringlichkeit der Klimakrise, die Tatsache, dass sie uns zeigt, dass wir keine Zeit mehr zu verlieren haben, dass wir diesen Kampf nicht verlieren dürfen, dass es fünf vor zwölf ist, kann als Beschleuniger wirken, Schlachten zu gewinnen, die wir schon seit vielen, vielen Jahren schlagen. ■


© Philippe Leroyer / CC BY-NC-ND / flickr.com

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Proteste gegen den G8-Gipfel in Heilligendam im Juni 2007

Friedliche Proteste, gewaltige Wirkung Vor dem G20-Gipfel in Hamburg schüren viele Medien die Angst vor Gewalt bei den Protesten. Dass Kapitalismus alltäglich Gewalt bedeutet, verschweigen sie lieber

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m Vorfeld des Hamburger G20-Gipfels im Juli prophezeit die Polizei schon die »schlimmsten Krawalle aller Zeiten«. Und nicht nur die Springerpresse stimmt ein, auch der »Spiegel« kündigt »Extremisten aus ganz Europa«, »Straßenschlachten« und »Häuserkampf« an. Seit dem WTO-Treffen 1999 in Seattle kam es anlässlich solcher Gipfel immer wieder zu teilweise heftigen Ausschreitungen. Für die Medien ein gefundenes Fressen: »Wollt ihr Tote, ihr Chaoten?« schrie die »Bild« im Juni 2007 von ihrer Titelseite, als am Rande der Großdemonstration gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm die Polizei mit dem »Schwarzen Block« zusammenstieß. Die ausführliche Berichterstattung über Szenen, die meist nur Randerscheinungen bei Großprotesten

Wer Kriege führt, steht selbst im moralischen Abseits

Georg Frankl ist aktiv in der LINKEN BerlinNeukölln.

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darstellen, lenkt von der alltäglichen Gewalt ab: Die Nachrichten sind voll von Krieg, Bürgerkrieg, Verfolgung, Aufständen, Terroranschlägen und Amokläufen. Der Global Peace Index hat zwischen 2010 und 2014 eine 3,5-fache Erhöhung der Anzahl an Todesopfern in Konflikten weltweit, von 49.000 auf 180.000, gemessen. Aber nicht nur diese brutale physische Gewalt nimmt zu. Auch im Jobcenter, in der Ausländerbehörde, in der Familie, am Arbeitsplatz, in Schule oder Hochschule machen Menschen täglich die verletzende Erfahrung, den an sie gestellten Anforderungen nicht gerecht werden zu können. Das Gefühl, Zwängen und Willkür chancenlos ausgeliefert oder vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein, kann ebenso krank und aggressiv machen wie physische Gewalterfahrungen. Allein in Deutschland hat die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund seelischer Störungen zwischen 2001 und 2015 um 160 Prozent auf 87 Millionen zugenommen. Die seit der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers 2008 gärende kapitalistische Krise verschärft diese gesellschaftlichen Verhältnisse weiter. Die Rivalität zwischen Staaten spitzt sich zu, ebenso wie die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und der Druck am Arbeitsplatz. Regierungen bauen den Sozialstaat immer weiter ab und spielen verschiedene Gruppen von Anspruchsberechtigten gegeneinander aus. In besonders stark betroffenen Ländern wie Griechenland sind die Suizidrate und die Zahl psychischer Erkrankungen in den vergangenen zehn Jahren rasant angestiegen. Laut einer Studie des griechischen Gesundheitsinstituts Esdy fühlen sich insbesondere Personen krank, die Rechnungen nicht begleichen oder Schulden nicht abbezahlen können. Die Ursache dieser verschiedenen Formen von Gewalt liegt in den herrschenden Eigentums- und Machtverhältnissen: Eine verschwindend kleine Minderheit schwimmt in unermesslichem Reichtum, während die große Mehrheit zusehends verelendet. Der Kapitalismus beruht im Kern darauf, dass Menschen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Meist kommt dieser stumme Zwang ohne zusätzliche Gewalt aus. Doch wenn immer mehr Menschen die Ungerechtigkeit dieser Verhältnisse in Frage stellen, schützen die Herrschenden ihr Eigentum und ihre Macht mit Gewalt. Gerade erst hat der Bundestag die Strafen für Widerstandshandlungen gegen Polizisten drakonisch verschärft. Unsere Gegner führen uns täglich vor, zu welchen Schandtaten sie bereit und in der Lage sind. Wer Flüchtlinge in Kriegsgebiete abschiebt und zu-

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Beim G8-Gipfel in Genua im Juli 2001 kam es zu riesigen friedlichen und militanten Demonstration sowie massiver Polizeigewalt. Während den Demonstrationen erschoss die italienische Polizei den Aktivisten Carlo Guilliani (zweites Bild von unten)


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schaut, wie tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, der wird zum einen von keinem moralisch sauberen Widerstand beeindruckt sein und hat zum anderen kein Recht, das Einhalten von moralischen Regeln einzufordern, gegen die er selbst verstößt. Zumal die Polizei an Gewaltfreiheit häufig kein Interesse zu haben scheint. Immer wieder schleust die Staatsgewalt selbst so genannte Agents Provocateurs in Proteste ein, die zu Gewalttaten anstacheln. Für unsere Bewegung stellt es ein Problem dar, dass die übertriebene Militanz mancher gewaltbereiter Gruppierungen als willkommene Vorlage für die moralische Verurteilung von linkem Widerstand insgesamt aufgegriffen wird. Fotos von vermummten Steineschmeißern mögen auf manche faszinierend wirken, der Großteil der Bevölkerung empfindet solche Brutalität aber wohl eher als abstoßend. In weniger radikalen Gruppierungen wachsen in Reaktion auf solche Bilder Druck und Bedürfnis, sich zu distanzieren und den grundsätzlichen Verzicht auf Gewalt als Mittel des Widerstandes einzufordern. Fliegende Steine drücken zumeist nichts als Wut und Ohnmacht aus. Es ist ein schwerer Irrtum, diese Form des Protestes mit Macht oder Gegenmacht zu verwechseln. Aber wenn sich unsere Bewegung für Steinwürfe verantwortlich machen lässt oder gar beansprucht, sie in Zukunft zu verhindern, besteht die einzig sichere Konsequenz im Verzicht auf Massendemonstrationen und breite Bündnisse. Und genau das ist das Ziel der Herrschenden und vieler Kommentatoren in den Massenmedien: die Bewegung zu spalten und zu zerstören. Über die Stöckchen, die sie uns hinhalten, darf die Protestbewegung daher nicht springen. Wir kritisieren die Dummheit der Steinewerfer, aber wir distanzieren uns nicht von ihnen. Ihre Ohnmacht ist auch unsere Ohnmacht. Sie stehen uns trotz ihrer falschen und schädlichen Taktik näher als die verantwortlichen Politiker, die diese Gewaltausbrüche anprangern. Es liegt an uns, einen wirklichen Ausweg aus der Unmenschlichkeit der herrschenden Verhältnisse aufzuzeigen. Manche Linke neigen dazu, Radikalität mit Militanz zu verwechseln. Radikalität bedeutet jedoch, die Probleme an der Wurzel zu bekämpfen. Die Wurzel von Krieg und Krise ist aber nicht die Polizei – ganz abgesehen davon, dass autonome Grüppchen auch überhaupt keine Chancen haben, einen militärischen Kampf gegen die Polizei zu gewinnen. Die Macht zu wirklicher Veränderung liegt bei denen, die täglich aufs Neue den gigantischen Wohlstand unserer Gesellschaft erarbeiten: Fließbandarbeiterinnen, Pflegekräfte, LKW-Fahrer, Bauarbeiter, Ingenieurinnen, Erzieherinnen. Welche gigantische

Macht über unsere Gesellschaft haben beispielsweise die Beschäftigten in Elektrizitätswerken oder bei der Telekom? Dass Arbeiterinnen und Arbeiter diese Macht einsetzen, steht gerade nicht an, aber es kommt darauf an, erste Schritte in die richtige Richtung zu unternehmen. Die Linke kann in Hamburg

Radikalität und Militanz sind nicht das Gleiche politische Erfolge erzielen: Für den Machterhalt der Herrschenden ist die scheinbare Alternativlosigkeit von hoher Wichtigkeit, denn mit diesem Argument können sie der Bevölkerung immer neue Bürden und Kürzungen auferlegen. Der Kern ihrer Politik lautet: Es reicht eben nicht für alle. Der Gürtel muss enger geschnallt, die Flüchtlinge ferngehalten werden, und nur die Besten können im Wettbewerb bestehen und haben Chancen auf Wohlstand. Dem gilt es seitens der Linken entgegenzusetzen: Doch, es reicht für alle! Die Menschheit produziert mehr Nahrung, als sie essen kann, und mehr Autos, als sie kaufen kann. Die Produktivkräfte sind gigantisch, und wenn wir sie unter unsere demokratische Kontrolle bringen, wird fast alles möglich. Das werden die Herrschenden nicht zulassen, ohne sich zu wehren – und sie schrecken nicht vor dem Einsatz von bewaffneter Gewalt zurück. Die brutale Unterdrückung der Proteste gegen Stuttgart21 etwa hat gezeigt, zu welchen Maßnahmen die Regierung bereit ist, wenn demokratische Massen ihre Pläne zu durchkreuzen drohen. Der Einsatz von Gewalt als Mittel des Widerstandes ist nur dann sinnvoll, wenn die ungeheure Mehrheit ihre Interessen gegen die Minderheit der Herrschenden durchzusetzen versucht. In Hamburg steht das nicht auf der Tagesordnung. Aber auch friedliche Massenproteste können eine gewaltige Wirkung entfalten. Sie können die realistische Hoffnung auf Veränderung verbreiten und Menschen zu Selbstaktivität und zum Mitmachen verleiten. Die radikale Linke hat die Aufgabe, für diese Strategie zu werben – sowohl bei denjenigen, die Hoffnungen in die Regierung setzen, als auch bei denen, die Illusionen in die Wirkung militanter Gewalt anhängen. Noch hat die Krise der Repräsentation Deutschland aber nicht in gleichem Maße erreicht wie andere Länder. Doch der Aufstieg der AfD zeigt, wie fragil die Lage auch in der Bundesrepublik ist, und wie schnell sich der Wind drehen kann. In Hamburg können wir gemeinsam Einfluss auf die Windrichtung nehmen. ■

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TITELTHEMA | G20 – Ihr System zerstört die Welt

Ist die EU eine fortschrittliche Alternative? Viele Menschen möchten dem stärker werdenden Rassismus und Nationalismus etwas entgegensetzen. Doch die Politik der EU hat dem Aufstieg der Rechten mit den Boden bereitet. Wer ein soziales und demokratisches Europa will, sollte diese EU nicht verteidigen Von Ronda Kipka

Ronda Kipka ist Mitglied des Bundesvorstands von Die Linke.SDS.

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ie Europäische Union lässt Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken, führt Kriege in aller Welt und erzwingt milliardenschwere Kürzungsprogramme. Trotzdem sehen viele, die die EU dafür kritisieren, in ihr auch eine fortschrittliche Kraft, eine Alternative zum Nationalismus der Mitgliedstaaten. Seit mehreren Wochen demonstrieren im Rahmen der »Pulse of Europe«-Kundgebungen Tausende für ein »Europa der Menschenwürde und der Toleranz«. Auch der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wirbt im beginnenden Wahlkampf für das europäische Bündnis als Alternative zu Nationalismus und warnt vor überzogener Kritik an der EU. »Mit mir gibt es kein Europa-Bashing«, sagt Schulz. In dieselbe Richtung argumentiert der ehemalige Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag, Gregor Gysi. Er meint: »Ich möchte nicht, dass die EU kaputtgeht. Sie verhindert Kriege zwischen den Mitgliedsländern.« Die Linke macht einen großen Fehler, wenn sie die EU-Kritik der Rechten überlässt. Die EU ist kein internationalistisches Projekt. Sie war von Beginn an ein Kartell imperialistischer Staaten, denen es darum ging, die europäische Wirtschaft und die europäischen Konzerne im globalen Wettbewerb kon-

kurrenzfähig zu machen. Die EU und »Brüssel« sind identisch mit der Umstrukturierung des europäischen Kapitalismus auf dem Rücken der Lohnabhängigen. Die Tatsache, dass der Währungsunion keine Wirtschafts- und Finanzunion folgte, wird häufig als Konstruktionsfehler der Gemeinschaftswährung bezeichnet. Tatsächlich war es aber von Anfang an beabsichtigt, die Nationalstaaten untereinander in Konkurrenz bezüglich ihrer Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu setzen. Durch den gemeinsamen Binnenmarkt und Währungsraum können Unternehmen innerhalb der Eurozone ohne Einschränkungen operieren. Die einzelnen Staaten stehen hingegen in einem scharfen Standortwettbewerb miteinander und sind gezwungen, die Unternehmenssteuern und Lohnkosten zu senken, den Arbeitsmarkt zu deregulieren und den Sozialstaat abzubauen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Unter diesem Druck konnten die Verschlechterungen für die Bevölkerung wesentlich leichter durchgesetzt werden.

Es regiert das Diktat der Austerität

Praktisch bedeutet das einen Rückbau sozialer Sicherungssysteme, exzessive Privatisierungspolitik, Lohn- und Sozialdumping, Steuerwettbewerb, Angriffe auf kollektive Tarifverhandlungen und ge-


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Ein »sozialeres« Europa ist im Rahmen der imperialistischen EU und ihrer Institutionen unter den anhaltenden Krisenbedingungen unmöglich. Dabei ist es nicht nur der undemokratische Charakter der EUInstitutionen, der dies verhindert, sondern auch der undemokratische Charakter ihrer Auftraggeber, das heißt der führenden Nationalstaaten und ihrer jeweiligen Regierungen. Alle nationalen Regierungen in Europa haben sich der Austerität verschrieben. Die Grundlage der Sparprogramme, Privatisierungen, Massenentlassungen sowie des Sozialabbaus wurde zuerst von den Nationalstaaten und ihren Parlamenten beschlossen, bevor sie dann als »Diktate« der Troika oder der EU-Kommission verhängt werden konnten. Die neoliberale Politik der EU bereitete so den Boden für den Aufstieg der radikalen Rechten und mit ihr des Rassismus und Nationalismus in Europa. Es ist kein Zufall, dass gerade in den von Massenentlassungen geprägten ehemaligen Industrieregionen die Rechten ab den 1980ern Jahren stark wurden und sie dort bis heute einige ihrer Hochburgen haben: In Nordfrankreich, Nordengland oder Norditalien. Das gilt auch für Deutschland. Die AfD holte beispielsweise in den vormaligen Industriestädten Mannheim, Pforzheim und Bitterfeld sogar Direktmandate bei den Landtagswahlen. Aber der Aufstieg der Rechten ist kein Automatismus. Er resultiert unter anderem aus deren AntiEU- und Anti-Euro-Position. Wenn die Linke dieses Szenario vermeiden will, braucht sie eine internationalistische Alternative, die auf Selbstbestimmung, Brüderlichkeit, sozialen Rechten sowie der Verteidigung anständiger Arbeitsbedingungen und öffentlichen Eigentums beruht. Um eine linke Kritik an der EU scharf vom rechten Nationalismus abzugrenzen, bedarf es eines entschiedenen Kampfes gegen Rassismus und jede Form von Chauvinismus. Nur ein geeintes und entschlossenes Vorgehen gegen rechts kann den rassistischen und reaktionären Kräften von UKIP, Front National, FPÖ und AfD den Wind

© »Early Harvest« Künstler: Goin / 2015 / twitter.com

werkschaftliche Organisierung, ein Zusammenschrumpfen öffentlicher Beschäftigung sowie Massenentlassungen im öffentlichen Sektor. Innerhalb der EU sind es die wirtschaftlich stärksten Staaten, allen voran die Bundesrepublik, die den Kurs vorgeben und ihre Interessen gegen die kleineren nationalen Kapitale und gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen. Viele Beschäftigte merken das und brachten ihre Ablehnung der EU in Referenden wie in Großbritannien (2016), Griechenland (2015), Irland (2001 und 2008), den Niederlanden (2005), Frankreich (2005), Schweden (2003) und Dänemark (1992) zum Ausdruck.

aus den Segeln nehmen und die berechtigte Wut auf die unsoziale und undemokratische EU in linke Bahnen lenken. Die Linke tut also gut daran, nicht nur im Wahlkampf ihre Solidarität mit den Kämpfen in den Krisenländern sichtbar zu machen, zum Beispiel indem sie Rednerinnen und Redner aus anderen Ländern zu ihren Veranstaltungen einlädt. Anti-EU-Slogans wie »Kein Sozialabbau für den Euro«, »Nein zur EU der Bosse. Deutsche und Zugewanderte gemeinsam für höhere Löhne« oder »Menschen vor Profite – Nein zu dieser EU«, die auf den Klassenkonflikt zuspitzen und propagandistisch an den Frontlinien der bestehenden Auseinandersetzungen ansetzen, können dabei helfen. Wir sollten nicht die EU und den Euro verteidigen, sondern die erkämpften Sozialstandards und die demokratischen Rechte. Die Idee eines solidarischen Europas ohne Grenzen wird nicht über das Projekt EU und ihre gemeinsame Währung erreicht, sondern durch die gemeinsamen Kämpfe der Lohnabhängigen für ihre Interessen. ■

»Early Harvest« Streetart des Künstlers Goin in der britischen Stadt Bristol. Auf dem Bild sind die europäische Zentralbank, die EU und der internationale Währungsfond als todbringende Sensenmänner dargestellt

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TITELTHEMA | G20 – Ihr System zerstört die Welt

Zwei Facetten der kapitalistischen Ausbeutung Angesichts der sozialen Verwerfungen durch die Globalisierung werden auch in der Linken Rufe nach nationaler Abschottung laut. Doch bereits Karl Marx wusste, dass dies ein Irrweg ist Von Volkhard Mosler

Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

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pätestens nachdem Donald Trump das neue amerikanisch-asiatische Freihandelsabkommen TTP für nichtig erklärt und sich zum angeblichen Freund der amerikanischen Arbeiterklasse ausgerufen hat, ist auch in Deutschland die Diskussion über Freihandel oder Schutzzölle, Globalisierung oder Protektionismus, also die nationale Abschottung der Märkte, ausgebrochen. Die »Süddeutsche Zeitung« befürchtet, dass Trumps Drohung, den Import von Autos mit 35 Prozent Schutzzöllen zu belegen, das Ende der Ära der Globalisierung einläuten könnte. Vom weltweiten Freihandel profitieren vor allem die klassischen Exportländer wie Deutschland, China und Japan. Im Jahr 2016 stand Deutschland mit knapp 300 Milliarden Dollar Exportüberschuss wieder an der Spitze.

Doch auch hierzulande wächst die Kritik an »der Globalisierung«, der wachsenden internationalen Verflechtung der Weltwirtschaft. Der Begriff steht für Lohndumping, für skrupellosen Umgang mit der Umwelt, für ungleiche Handelsverträge der reichen Industrieländer des Nordens mit dem globalen Süden und für wachsende soziale Ungleichheit innerhalb der Staaten. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) verkündete im Vorfeld der Proteste gegen das »Globalisierer-Treffen« G20 in Hamburg die Parole für eine alternative, faire Globalisierung: eine Globalisierung mit »verbindlichen Regeln im Arbeits-, Umwelt-, Verbraucher- und Klimaschutz, sowie demokratischer Mitsprache und offenen Debatten.« Aber die »Globalisierung mit menschlichem Antlitz« ist eine Illusion. Seit über 20 Jahren

Marx sah den Freihandel positiv


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streiten Gewerkschaften in der EU gegen Arbeitnehmer-Entsenderegeln, nach denen tarifliche und gesetzliche Mindeststandards durch Beschäftigung von schlechter bezahlten Arbeitskräften aus Ostund Südosteuropa unterhöhlt werden. Trotzdem waren 2016 fast eine halbe Million »entsendete Beschäftigte« in Deutschland tätig, die im Durchschnitt 50 Prozent weniger verdienten als die ansässigen Beschäftigten. Die Lohnabhängigen wissen sehr wohl, dass solche Praktiken von den Unternehmern benutzt werden, um die Arbeiterklasse zu erpressen und höhere Profite zu machen. Es erstaunt deshalb nicht, dass protektionistische Forderungen in den Zeiten der anhaltenden Stagnationskrise Zulauf haben. Sie kommen hauptsächlich von rechten Politikerinnen und Politikern wie Le Pen in Frankreich oder der AfD in Deutschland. Aber auch innerhalb der Linken mehren sich Forderungen nach einem »Arbeiterprotektionismus«. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die ausländische Konkurrenz an der Senkung der Löhne und der Vernichtung von Arbeitsplätzen schuld sei. Deshalb fordern einige den Schutz der nationalen oder regionalen (im Rahmen der EU) Märkte, die Schließung der Grenzen für Geflüchtete oder billigen chinesischen Stahl und die Abschaffung der freien Arbeitsplatzwahl innerhalb der EU. Wie sollen sich Sozialistinnen und Sozialisten gegenüber solchen Forderungen verhalten? Diese Frage stellt sich nicht zum ersten Mal.

tionale industrielle Entwicklung voranzutreiben. Andernfalls drohte – wie das Beispiel Irlands zeigte – eine dauerhafte Verdammung zu einem rein agrarischen Zulieferer für das Industrieland England. Rosa Luxemburg griff später diesen Gedanken auf: »Ohne den Zollschutz«, schrieb sie, »wäre das Aufkommen der Großindustrie in den einzelnen Ländern kaum möglich gewesen.« Dieser fortschrittliche Aspekt der Schutzzollpolitik hätte sich aber überholt, sobald alle Länder auf einem annähernd gleichen Niveau der industriellen

Schutzzölle beschleunigten die Weltwirtschaftskrise 45.000 Handelsschiffe sind auf den Weltmeeren unterwegs und transportieren fast sieben Milliarden Tonnen Güter pro Jahr

Im 19. Jahrhundert war die englische Bourgeoisie lange die einzige konsequente Verfechterin des Freihandels und globaler Märkte. Als das am weitesten fortgeschrittene Industrieland besaß England das Weltmonopol auf Industrieprodukte und wollte seinen Status beibehalten. Die USA und Frankreich hingegen erhoben hohe Importzölle, damit sich ihre eigenen nationalen Industrien entwickeln konnten. Die verschiedenen deutschen Staaten bildeten 1834 eine Zollunion, um einen Binnenmarkt zu schaffen, der hinter moderaten Zollmauern nach außen eine langsame Industrialisierung des Landes ermöglichte. Karl Marx analysierte, dass der Freihandel das schnellste Wachstum der Produktivkräfte ermöglichte. Dies bewertete er durchaus positiv, da sich dadurch auch die Arbeiterklasse entwickelte, welche unter den Erfahrungen von Ausbeutung, Unterdrückung und Verelendung durch Krisen zum Totengräber des Kapitalismus bestellt sei. Freihandel sei zwar »Freiheit des Kapitals«, er beschleunige aber die soziale Revolution. Schutzzölle hielt er nur ausnahmsweise für Agrarstaaten für sinnvoll, die damit die englische Übermacht zeitweise abwehren könnten, um ihre na-

Entwicklung waren. Zölle standen nun nicht mehr im Dienst einer aufstrebenden kapitalistischen Produktion gegen eine reifere, sondern wurden zum »Kampfmittel einer nationalen Kapitalistengruppe gegen eine andere«. Nach einer Epoche des allgemeinen Freihandels in den 1860er und frühen 1870er Jahren bereitete die dann einsetzende tiefe Wirtschaftskrise (1873) und die anschließende lange Depression »die Stimmung für den Schutzzoll«. Der Übergang zur Kolonialpoli-

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tik und zur imperialistischen Konkurrenz bedeutete laut Marx, dass »der Freihandel, die Politik der ›offenen Tür‹, zur spezifischen Form der Schutzlosigkeit nichtkapitalistischer Länder gegenüber dem internationalen Kapital (…) geworden ist, zum Vorstadium ihrer partiellen oder vollständigen Okkupation als Kolonien oder Interessensphären.« So entpuppte sich der angeblich friedensstiftende, völkerverbindende Freihandel als ein Instrument imperialistischer Eroberungspolitik. Engels fasst die von ihm und Marx entwickelte Position zum Protektionismus 1888 so zusammen: »Die Frage über Freihandel und Zollschutz bewegt sich gänzlich innerhalb der Grenzen des heutigen Systems der kapitalistischen Produktion und hat deshalb kein direktes Interesse für Sozialisten, die die Beseitigung dieses Systems verlangen. Sie interessiert sie aber indirekt so weit, als sie dem jetzigen Produktionssystem eine möglichst freie Entfaltung und möglichst rasche Ausdehnung wünschen müssen.« An eine Zähmung des Kapitalismus, an eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz, glaubten Marx und Engels keinen Moment. Deshalb wandte sich Marx erst recht gegen die Protektionisten, die sich schon damals als Arbeiterfreunde ausgaben. Die Anhänger des Protektionismus versprächen etwas, was sie weder halten wollten noch könnten. Das nationale Kapital sei genauso wenig ein Verbündeter der Arbeiterklasse wie das ausländische. Die Logik der nationalen Abschottung der Märkte sei für Arbeiter folgende: »Wenn ihr schon ausgepresst werdet, so lasst euch lieber von euren Landsleuten als von Fremden auspressen.« Dass der Zollprotektionismus auch vom Standpunkt der kapitalistischen Entwicklung aus irrational ist, zeigte sich, als 1878 unter Kanzler Bismarck der Reichstag Schutzzölle für zahlreiche Agrar- und Industrieprodukte erhob. Diese führten zur Verteuerung von Lebensmitteln für die Arbeiterklasse sowie von Rohstoffen. Beides erhöhte die Produktionskosten der Kapitalisten und führte dazu, dass mit Steuermitteln alte Industrien und Gewerbe am Leben erhalten wurden. Gewinner waren vor allem die Großgrundbesitzer und Industrielle, die für den heimischen Markt und nicht für den Export produzierten. Die Sozialdemokratie stimmte im Reichstag konsequent gegen Schutzzölle. In der Weltwirtschaftskrise von 1929 wiederholte sich die Erfahrung von 1878. Wie damals bereitete die Krise den Boden für Schutzzollforderungen. Dieses Mal waren es die USA, die mit dem Smoot-Haw-

ley Tariff Act 1930 für über 20.000 Produkte die Zölle auf Rekordniveau anhoben. Damit lösten sie eine internationale Kettenreaktion aus, die innerhalb eines Jahres zum Zusammenbruch des bisherigen Welthandelssystems führte und die Wirtschaftskrise beträchtlich beschleunigte. Der russische Marxist Nikolai Bucharin wies unter dem Eindruck der Kapitulation der Sozialdemokratie vor der Kriegstreiberei des Ersten Weltkriegs auf einen weiteren wichtigen Aspekt des »Arbeiterprotektionismus« hin: »die Politik des Schutzes der »nationalen Industrie«, der »nationalen Arbeit« vor ausländischer Konkurrenz. Bucharin zeigte, wie die Zollpolitik im Zeitalter des Imperialismus ihren defensiven Charakter verlor. Sie wurde stattdessen zu einer wichtigen Angriffswaffe für die Eroberung von Weltmärkten durch die nationalen Monopole und Kartelle. In der Arbeiterbewegung entwickelte sich eine Strömung, die das Bündnis mit Kapital und Staat im eigenen Land an die Stelle der internationalen Klassensolidarität setzte. Bereits im Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte der rechte Flügel der Sozialdemokratie sich für Einwanderungsbeschränkungen gegen Arbeiterinnen und Arbeiter aus Niedriglohnländern ausgesprochen und scheute dabei auch die Zusammenarbeit mit den bestehenden bürgerlichen Regierungen nicht. Zugleich unterstützte der »arbeiterprotektionistische« Flügel der Sozialdemokratie die Kolonialpolitik »ihrer« jeweiligen Regierungen. Bucharin sah in dieser Form des Arbeiterprotektionismus ein Bindeglied zum Sozialpatriotismus, der in der Idee des Vaterlands, dem die Arbeiterklasse dienen müsse, zum Ausdruck kommt. Insofern war der Arbeiterprotektionismus in der Form der gesetzlichen Einwanderungsbeschränkung immer schon eine Brücke zur Vaterlandsverteidigung im Krieg gegen andere kapitalistische Staaten. Im Zeichen der anhaltenden Stagnation des Weltkapitalismus in Folge der Finanzkrise von 2008 erhalten Ideen eines Arbeiterprotektionismus wieder Zulauf.

Ein Desaster für die ganze Menschheit

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Zugleich versuchen multinationale Konzerne aller entwickelten kapitalistischen Länder, den Abschluss neuer Formen von Handelsabkommen, wie TTIP und Ceta durchzusetzen. Unter dem Vorwand offener Märkte sollen mit diesen Abkommen nationale Standards des Arbeiter-, Konsumenten- und Umweltschutzes unterlaufen sowie öffentliche Aufgaben wie Bildung, Verkehr und Gesundheit privatisiert werden. Zusätzlich werden die Handlungs-


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möglichkeiten nationaler Parlamente damit stark eingeschränkt. Hier zeigt sich die zerstörerische Form der Globalisierung: Sie zielt darauf ab, die Profite der Wenigen auf Kosten der arbeitenden Klasse international zu steigern. Die Ablehnung des »Arbeiterprotektionismus« sollte immer einhergehen mit einer ebenso klaren Positionierung gegen diese Formen der zerstörerischen Globalisierung. Linke sollten außerdem das Recht der halbabhängigen Entwicklungsländer des globalen Südens verteidigen, sich durch Schutzzölle gegen die ungleiche Konkurrenz der imperialistischen Länder und Blöcke zu wehren. Hier gilt immer noch das Argument von Marx und Engels, die Schutzzölle als vorübergehende Maßnahme der nationalen Entwicklung verteidigt haben. Auch die EU ist als Block mittlerer und kleinerer imperialistischer Mächte an solchen Knebelverträgen mit der großen Zahl vorwiegend agrarischer Staaten in Afrika und Asien beteiligt. Letztere sollen ihre Märkte vollständig öffnen, sogar für Agrarprodukte, erhalten aber keinen freien Zugang zum EU-Markt. So gilt immer noch die Kritik von Marx und Engels am Freihandel: »Alle destruktiven Erscheinungen, welche die freie Konkurrenz in dem Innern eines Landes zeitigt, wiederholen sich in noch riesigerem Umfange auf dem Weltmarkt.« Der vom Freihandel beherrschte Weltmarkt führe unweigerlich zur Bereicherung der Monopole und der entwickelten Industriestaaten auf Kosten der armen, agrarischen Länder und zu Konflikten unter den reichen Ländern um die Vorherrschaft. Wer das abstreite, habe den Kapitalismus nicht verstanden: »Wenn die Freihändler nicht begreifen können, wie ein Land sich auf Kosten des anderen bereichern kann, so brauchen wir uns darüber nicht zu wundern, dass dieselben Herren noch weniger begreifen wollen, wie innerhalb eines Landes eine Klasse sich auf Kosten einer anderen bereichern kann.«

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NEUERSCHEINUNG IM JUNI 2017

Der Freihandel der multinationalen Konzerne ist ein Desaster für die gesamte Menschheit und insbesondere für die Menschen in den Entwicklungsländern. Der Protektionismus ist jedoch kein Mittel, das die Konzentration des Kapitals oder das Anwachsen von Ungleichheit verringern kann. Protektionismus und Freihandel sind in Wirklichkeit nur zwei Facetten der kapitalistischen Ausbeutung. Weder die eine noch die andere Form kann der Menschheit einen Ausweg bieten. Die destruktiven Erscheinungsformen des Kapitalismus werden durch seine weltweite Ausbreitung erst recht wirksam. Nur die Abschaffung von Profit und Konkurrenz, das heißt von kapitalistischer Marktwirtschaft, und die Ersetzung durch ein System der Planung und Gestaltung durch die Produzierenden selbst, durch internationalen Sozialismus, kann zu einer »fairen« Globalisierung führen. ■

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UNSERE MEINUNG | Wahlen in Frankreich

Wahlen in Frankreich

Neue Linke gesucht! Von Julia Root

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ls klar war, dass die Stichwahl um das französische Präsidentenamt zwischen der Faschistin Marine Le Pen und Emmanuel Macron entschieden würde, gab der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon die Parole aus: »Keine Stimme für Le Pen – Widerstand jetzt!«. Seine Weigerung, zur Wahl Macrons aufzurufen, brachte ihm viel Kritik ein. Doch sie war die richtige Taktik angesichts der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise in Frankreich. Jetzt kann Mélenchon eine Bewegung des Widerstands und damit eine wirkungsvolle Alternative zu Le Pen aufbauen.

Eine Wahlempfehlung für Macron von Mélenchon hätte diesen politisch gegenüber dem zukünftigen Präsidenten entwaffnet und zudem seine Basis in der Gesellschaft von ihm entfremdet. Sein Aufruf zum Widerstand ist die Grundlage, diese Menschen für den Kampf gegen Macrons Sozialabbau und die Solidarität aller Unterdrückten zu gewinnen. Diese Bewegung aufzubauen, ist jetzt entscheidend. Der Ex-Banker und Arbeitsminister Macron hat angekündigt, die Macht der Gewerkschaften zu schwächen, die 35-Stunden-Woche aufzuweichen, eine Art französisches Hartz-IV-System einzuführen und massive Privatisierungen durchzusetzen.

Mélenchon kann jetzt den Widerstand aufbauen

Etwa 4,2 Millionen Menschen – so viele wie noch nie, gerade junge Leute und Menschen aus der Arbeiterklasse – gaben zwar ihren Stimmzettel ab, stimmten allerdings für keinen der beiden Kandidaten (»Vote blanc«) oder beschädigten ihren Stimmzettel so stark, dass er nicht in die Wertung einging (»Vote nul«). Weitere sind gar nicht erst zur Wahl gegangen. Presseartikel aus den Arbeitervierteln und deindustrialisierten Kleinstädten Frankreichs berichten von Menschen aller Weltanschauungen, Hautfarben und Herkunft, denen Mélenchons Kampagne »La France Insoumise« (Das widerständige Frankreich) im ersten Wahlgang die Hoffnung vermittelt hat, dass es eine Alternative zum Sozialabbau des Präsidenten Sarkozy (2007-12) und zum permanenten Ausnahmezustand des Präsidenten Hollande (2012-17) gibt.

Da Macron für ein »Weiter so, aber schlimmer« steht, brachten viele der von den traditionellen Parteien Enttäuschten es selbst im Angesicht von Le Pen im zweiten Wahlgang nicht über sich, ihn zu wählen. Ihnen vorzuwerfen, sie hätten Le Pens Sieg in Kauf genommen, trifft den Punkt nicht. Der Löwenanteil der zusätzlichen Stimmen für Le Pen kam aus einer anderen Ecke: Knapp ein Drittel der bürgerlichen Wählerschaft des in der ersten Runde drittplatzierten Konservativen Francois Fillon haben im zweiten Wahlgang Le Pen gewählt. Die Auflösung der bürgerlichen Mitte nach rechts ist erschreckend weit fortgeschritten.

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Dass »La France Insoumise« einen unabhängigen Gegenpol bildet, ist umso notwendiger, als sich die traditionelle Linke mit Macron arrangiert zu haben scheint. Die Gewerkschaft CFDT, die dem »Parti Socialiste« (PS, vergleichbar mit der deutschen SPD), nahesteht, hat nicht mit aufgerufen, am 1. Mai gegen Le Pen zu demonstrieren. Sie hielt wohl den Wahlaufruf des PS für Macron für ausreichend. Der Kandidat des PS, Benoît Hamon, landete im ersten Wahlgang unter ferner liefen. Die Anbiederung an die Alternativlosigkeit erreicht kaum noch jemanden. Bereits zwischen den Wahlgängen gab es große Demonstrationen. Am Tag nach Macrons Wahl gingen Tausende gegen den angekündigten Sozialabbau auf die Straße. Wer es in Deutschland damit ernst meint, die faschistische Gefahr zu bekämpfen, die von Le Pen und dem Front National ausgeht, sollte jetzt bei aller berechtigten Kritik an einzelnen Positionen nicht auf Mélenchon herumhacken, sondern Solidarität mit den Protesten gegen Macron aufbauen. Noch wirkungsvoller wäre allerdings eine Linke, die sich endlich Merkel und Schäuble und ihrem Spardiktat über Europa entgegenstellt. ■

Julia Root ist Mitglied der LINKEN


© Klaus Stuttmann

STUTTMANN

UNSERE MEINUNG | Kampf gegen Rechts

Kampf gegen Rechts

Kein Recht auf Hetze VON Marion Wegscheider

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ie AfD ist besorgt. Das ist nichts Neues, »Sorgen« sind das rechte Propagandamittel der Wahl. Im Namen der Sorge lässt sich gut Stimmung machen gegen alles, was angeblich Grundwerte, wie die kostbare Meinungsfreiheit, bedroht. Diese sieht die AfD gefährdet, da der »linksgrün-versiffte Mob« immer häufiger verhindert, dass das aufrecht-hellblaue Besorgtbürgertum ungestört Politik machen kann. Zuletzt zum Kölner AfDBundesparteitag. Die Hotelkette Maritim hat nun die Partei aus ihren Häusern ausgeschlossen, jedoch nicht aufgrund ihrer Inhalten, sondern da man sich um die Sicherheit der Hotelmitarbeiter sorge. Soll sagen: Linke gefährden unsere Sicherheit, weil sie die demokratische Meinungsfreiheit nicht achten. Das ist eine krasse Umkehrung

des Prinzips der Meinungsfreiheit. Dieses besagt, dass Meinungsäußerung frei von staatlicher Repression erfolgen soll – nicht, dass die Zivilbevölkerung nicht einschreiten darf, wenn von geäußerten

Blockaden gegen die AfD sind legitim Meinungen einer bestimmten Gruppierung eine Gefahr für das gesellschaftliche Zusammenleben ausgeht. Rassismus ist keine Meinung und Hetze gegen Menschen, wie sie die AfD betreibt, nicht durch Meinungsfreiheit gedeckt. Der alte Schlachtruf »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit« bringt das auf den Punkt. Massenproteste gegen die menschen-

feindlichen Überzeugungen der AfD sind zutiefst demokratisch, denn Demokratie heißt nicht einmal alle paar Jahre an die Urne gehen und sich den Rest der Zeit mit dem »demokratisch gewollten« Ergebnis abfinden. Demokratie heißt, sich stetig und aktiv für seine Überzeugungen einzusetzen – privat, online, auf der Straße, im Betrieb. Eine solidarische Gesellschaft lässt sich nicht per Dekret schaffen oder durch staatliche Organisations- oder Meinungsverbote erzwingen. Sie kann nur entstehen, wenn wir alle unsere Rechte nachdrücklich einfordern und kollektiv ausüben. Und dazu gehört das Recht auf Widerstand gegen Hetze. Marion Wegscheider arbeitet als Übersetzerin. Sie ist aktiv bei der LINKEN in Essen. Sie schreibt regelmäßig für das Portal »Die Freiheitsliebe«.

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Inland | DIE LINKE VOR DER BUNDESTAGSWAHL 2017

Thesenpapier

Klassenpolitik: Eine Partei als Volkstribun

Klassenpolitik ist in der Linken wieder in aller Munde. Doch was darunter verstanden wird, ist höchst umstritten. Sieben Thesen von marx21

1.

von Lisa Hofmann und Michael Ferschke

Die Linke entdeckt die Arbeiterklasse wieder und das ist gut so. Denn sie ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die den Kapitalismus stürzen kann.

Das Vordringen rechter Parteien in die Arbeiterklasse hat in der Linken zu einem Revival des Klassenbegriffs geführt. Bücher wie »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon und »Die Abstiegsgesellschaft« von Oliver Nachtwey haben die Debatte bereichert und aufgezeigt, dass der Klassencharakter unserer Gesellschaft wieder ein zentrales Thema der Linken werden muss. Beide Autoren kritisieren den neoliberalen Mainstream und thematisieren die Existenz von sozialen Verwerfungen, die sie auf einen Widerspruch zwischen den Klassen zurückführen. Sie versuchen zu erklären, wie es rechten Parteien gelingt, in ehemalige Bastionen der Arbeiterbewegung vorzustoßen. Nachtwey beschreibt, wie die zunehmende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und die nicht eingelösten sozialdemokratischen Aufstiegsversprechen zu einer permanenten Abstiegsbedrohung werden, die für den Aufstieg der AfD mitverantwortlich ist. Eribon führt dieses Phänomen, bezogen auf Frankreich und den Front National, auch darauf zurück, dass sich Teile der französischen Arbeiterklasse von der Linken nicht mehr vertreten fühlen. Die Rechten haben das genutzt, indem sie die Verunsicherung der Menschen in nationalistischen und rassistischen kollektiven Identitäten, wie dem Konstrukt einer Volksgemeinschaft, aufzuheben versuchen. Es ist ein großer Fortschritt, dass die Fragen

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nach Arbeiterklasse und Klassenpolitik wieder Teil des Diskurses der Linken sind. Denn das Proletariat ist nach wie vor die einzige gesellschaftliche Kraft, die den Kapitalismus stürzen und eine freie Gesellschaft erkämpfen kann. Durch ihre Stellung im Produktionsprozess und ihr Potenzial, sich zu organisieren, können Arbeiterinnen und Arbeiter kollektive Macht entfalten und die Räder des Systems stoppen. Daher muss die Arbeiterklasse der zentrale Bezugspunkt jeder antikapitalistischen Politik sein.

2.

Die Linke muss ihre Analyse der Arbeiterklasse erneuern. Das Bild von weißen Männern im Blaumann war schon immer ein Klischee.

Der neoliberale Umbau der Gesellschaft hat dazu geführt, dass sich die Menschen zunehmend als vereinzelte Individuen wahrnehmen, die für ihr Schicksal selbst verantwortlich sind. Durch den Rückgang von Klassenkämpfen seit Mitte der 1970er Jahre verschwand die Arbeiterklasse der entwickelten Industrienationen anscheinend als Kollektiv und als politischer Akteur. Das hat dazu geführt, dass Teile der Linken in den Abgesang auf die Arbeiterklasse eingestimmt haben und sie nicht mehr als zentralen Bezugspunkt für sozialistische Politik betrachten. Zugleich sind heute in der Bundesrepublik so viele Menschen wie nie zuvor lohnabhängig beschäftigt. Häufig herrscht ein falsches Bild vor, wer zur Arbeiterklasse gehört. Das Proletariat ist kein soziales Milieu, sondern besteht aus all den Menschen, die gezwungen sind, ihre

Mehr Lohnabhängige als je zuvor


Inland | DIE LINKE VOR DER BUNDESTAGSWAHL 2017

Arbeitskraft zu verkaufen, um ihr Überleben zu sichern. Das Bild einer Arbeiterklasse, bestehend aus weißen Männern im Blaumann, war schon immer ein Klischee. Schon zu Marx’ Zeiten war das Proletariat zu großen Teilen weiblich und zugewandert. Das gilt heute umso mehr. Hinzu kommt, dass im modernen Kapitalismus die Bedeutung der Reproduktionsarbeit und des Dienstleistungssektors zugenommen haben. In den sogenannten Care-Berufen arbeiten mittlerweile mehr Menschen als in der Automobilindustrie. Der Kapitalismus führt zum Aufstieg neuer Wirtschaftssektoren und zu einer ständigen Neuorganisation der Produktionsabläufe. Dadurch ist auch die Arbeiterklasse einem stetigen Wandel ausgesetzt. Wer beim Thema Klassenpolitik ein homogenes Industrieproletariat vor Augen hat, kommt daher zwangsläufig zu falschen Schlüssen.

Alexandra Wischnewski in ihrem Debattenbeitrag »Vorwärts: Wir brauchen eine Politik für morgen« treffend formuliert. Sie argumentieren, dass es darum gehen muss, die Arbeiterklasse zu einen, also Spaltungen entlang von Ethnie und Geschlecht zu überwinden. Da die moderne Arbeiterklasse – gerade in den prekären Bereichen – zu großen Teilen weiblich und von Zugewanderten geprägt ist, sei der Kampf gegen Unterdrückung zentral, um die Arbeiterklasse zu erreichen, und Klassenpolitik nicht auf weiße Männer zu beschränken. Die Aufgabe einer sozialistischen Partei ist es, die Klasse zu einen, sie sichtbar zu machen und mit antikapitalistischer Zuspitzung und der Zusammenführung von Kämpfen die vorwärtstreibende Kraft zu sein. Dafür gibt es zahlreiche konkrete Anknüpfungspunkte: So kämpfen die Beschäftigten in Krankenhäusern und Kitas bei Streiks nicht nur um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, sondern auch für eine Aufwertung weiblich geprägter Berufe und damit gegen Geschlechterungerechtigkeit. Es muss der LINKEN darum gehen, solche Verbindungen zu ziehen.

Soziale und politische Fragen verbinden

3.

Klassenpolitik bedeutet nicht ökonomische Kämpfe über Kämpfe gegen Unterdrückung zu stellen.

Eribon wird oft fälschlicherweise unterstellt, er meine, die Linke habe über ihr vermeintliches Faible für Geschlechterfragen, Ökologie und Antirassismus die Arbeiterklasse aus den Augen verloren. Als Lehre daraus solle sich die Linke viel stärker auf soziale Fragen konzentrieren, um so die Arbeiterklasse zu gewinnen. In diesem Geiste machen die beiden Bundestagsabgeordneten der LINKEN, Dieter Dehm und Wolfgang Gehrcke, in ihrem Essay »Ohne RotRot gelingt kein Rosa-Rot-Grün« einen scharfen Widerspruch zwischen Brot-und-Butter-Themen der Arbeiterklasse und Kämpfen gegen Unterdrückung auf. Rassismus, Sexismus und andere Unterdrückungsformen sind jedoch eine direkte Folge des Kapitalismus und der Klassengesellschaft, in der wir leben. Der Kampf dagegen ist genauso Teil des Klassenkampfs wie der Kampf um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen. Für Lenin bedeutete Klassenpolitik daher, soziale Fragen mit politischen zu verbinden. Er wandte sich gegen das Nur-Gewerkschaftertum und warb für eine Partei als Volkstribun der Unterdrückten: Sozialistisch sei das Bewusstsein der Arbeiter erst, wenn diese sich mit den unterdrückten jüdischen Studenten solidarisierten. Wie Lenins Anspruch in der heutigen Situation umgesetzt werden kann, haben Kerstin Wolter und

4.

Ausgerechnet die Kampagnen einiger waschechter Sozialdemokraten geben wichtige Hinweise darauf, wie eine linke Klassenpolitik aussehen

könnte.

Was wir brauchen, ist eine positive Vision von links, die der tiefsitzenden Ablehnung von neoliberaler Politik eine Alternative entgegensetzt und die Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung gegenüber den herrschenden Eliten vertritt. Die Linke muss als radikale Opposition gegen Kapital, Rassismus und den herrschenden Politikbetrieb erkennbar werden. Ironischerweise können wir hierbei viel vom Auftreten und Duktus linker Sozialdemokraten, wie dem US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders, dem französischen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon und dem Vorsitzenden der britischen Labour Party Jeremy Corbyn, lernen. Sie artikulieren die große Unzufriedenheit mit dem Status quo von links und begeistern damit Millionen. Ihre politischen Grundsätze sind weniger radikal, als manchmal unterstellt wird, aber sie verleihen der Stimmung der Proteste und sozialen Bewegungen der letzten Jahre Ausdruck. Darüber hinaus gelingt es ihnen, Verbindungen zu Arbeitskämpfen

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Thesenpapier

herzustellen und die wachsende Bewegung gegen den Klimawandel aufzugreifen. Bei Sanders bildete der gemeinsame Kampf von Arbeiterinnen und Arbeitern für einen Mindestlohn, von Schwarzen gegen die Polizeigewalt, von illegalen Einwanderern für Papiere und von Indigenen gegen Ölpipelines eine Grundlage seiner politischen Revolution. Auch der Aufstieg Mélenchons wäre ohne die Streikbewegung gegen die Arbeitsmarktreform, die Platzbesetzungen von »Nuit Debout« und die Proteste in den abgehängten Vorstädten gegen Rassismus und Polizeigewalt nicht möglich gewesen. Natürlich haben die Kampagnen von Sanders, Corbyn und Mélenchon auch ihre Beschränkungen. Letztlich handelt es sich bei ihnen um Wahlkampagnen und damit um eine Form von Stellvertreterpolitik. Sie verbinden das jedoch mit einem Aufruf, selbst aktiv zu werden, und orientieren auf reale Kämpfe und Bewegungen. Alle drei eint, dass sie nicht bloß linke Sozialdemokraten sind, sondern klassenkämpferische Sozialdemokraten. Sie sagen, dass es eine Gruppe von Leuten gibt, die vom Status quo profitieren, und dass wir es mit ihnen aufnehmen müssen, wenn wir kollektive Lösungen erreichen wollen. Sie alle haben eine einfache, attraktive Botschaft für die Menschen: Es gibt eine Alternative zum neoliberalen Kapitalismus, zu Rassismus und Sexismus und gemeinsam können wir sie erkämpfen.

5.

Doch falsch verstandener Linkspopulismus birgt Gefahren und führt weg von emanzipatorischer Klassenpolitik.

Es ist die Aufgabe der Linken, die Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung gegenüber den herrschenden Eliten zu vertreten. Das bedeutet jedoch nicht, die eigenen Inhalte zu relativieren. Dass die Gefahr eines solchen falsch verstandenen Linkspopulismus real ist, zeigt nicht zuletzt das Agieren von Sahra Wagenknecht in der Geflüchtetenfrage und ihr Eintreten für Obergrenzen. Wenn die Linke ihre Positionen aufweicht, weil sie glaubt, einer vermeintlichen gesellschaftlichen Stimmung nachrennen zu müssen, betreibt sie das Gegenteil von linker Klassenpolitik. Die bekanntesten Vertreter der Debatte über einen linken Populismus sind die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe und ihr 2014 verstorbener Mann, der Philosoph Ernesto Laclau. Ihre Theorie gründet auf einer Kritik an jener Auslegung des Marxismus, wonach die Ökonomie stets die Gesellschaft determiniert. Doch sie gehen noch weiter und stellen grundsätzlich die Existenz von Klassen infra-

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ge: Jede Art von Identität sei nur temporär. Nach dieser Logik sind der Kampf gegen ökonomische Ausbeutung und jener gegen politische Unterdrückung nicht miteinander verbunden. Die Linke müsse sich daher von der alten Klassenpolitik verabschieden und stattdessen klassenübergreifende Bündnisse eingehen, fordern Mouffe und Laclau. Die Arbeiterklasse spiele keine zentrale Rolle mehr und Klassenkampf sei nur einer von vielen gesellschaftlichen Widersprüchen. »Es gibt sicherlich kein Proletariat mehr«, sagte Chantal Mouffe 2014 in einem Interview mit der »taz«. In der Praxis führt so eine Orientierung jedoch zu einer Aufweichung klassenpolitischer Forderungen der Linken, in der Hoffnung, somit weitere Bevölkerungsschichten zu erreichen, selbst wenn diese zum Teil gegensätzliche Interessen zur Arbeiterklasse haben. Eine solche Herangehensweise ist wenig geeignet, eine Bewegung mit klaren Zielen aufzubauen, die in der Lage ist, massenhaft Menschen zu mobilisieren und soziale Rechte zu erkämpfen. Das Ganze mündet in Unbestimmtheit und der Verschleierung von Klassenwidersprüchen.

6.

Der größte denkbare Fehler der LINKEN wäre es, ihre programmatischen Grundsätze für eine Beteiligung an der Regierung zu opfern.

Den wesentlichen Grund für den Niedergang des Klassenbewusstseins in der französischen Arbeiterschaft sieht Eribon – und das geht in der Debatte oft unter – nicht in einer Hinwendung der Linken zu Themen jenseits der sozialen Frage, sondern in ihrem Verrat der Klasseninteressen in Regierungsverantwortung. Die Sozialistische Partei Frankreichs hat, genau wie die SPD in Deutschland, längst eine neoliberale Wende vollzogen. Auch die Kommunistische Partei Frankreichs hat sich durch ihre Beteiligung an der Regierung unter François Mitterand in den 1980er Jahren in den Augen vieler diskreditiert, als sie deren späteren scharfen neoliberalen Kurs lange mittrug. Diese Dynamik durch eine Politik des vermeintlich kleineren Übels zeigt sich in jeder Regierungsbeteiligung von linken Parteien in Europa in den letzten Jahrzehnten – von der Kommunistischen Partei in Frankreich über die Rifondazione Comunista in Italien bis hin zu Syriza in Griechenland. Trotz anderslautender Rhetorik und großen Versprechungen im Wahlkampf verhielten sich diese Parteien an der Regierung nicht anders als die klassischen reformistischen Arbeiterparteien der Sozialdemokratie: Sie stützten überall die Kürzungspo-


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litik der herrschenden Klasse und machten sich zum Mitverwalter der kapitalistischen Misere. Das Resultat war ein dramatischer Verlust an politischer Glaubwürdigkeit und der Fähigkeit, Widerstand zu organisieren – der Tod für jede linke Klassenpolitik. Angesichts der Hegemoniekrise der Herrschenden und des Aufstiegs der Rechten wäre der größte Fehler, den DIE LINKE begehen kann, sich selbst zum Verwalter des neoliberalen Status quo zu machen und eine Regierung mit SPD und Grünen einzugehen. Keine der beiden Parteien ist für einen grundlegenden Politikwechsel zu haben. Mit einer Regierungsbeteiligung würde DIE LINKE die Rechten weiter stärken und zugleich ihren eigenständigen politischen Nutzen verlieren. Statt auf ein mögliches Linksbündnis zu hoffen, muss DIE LINKE sich dafür einsetzen, gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen. Dazu muss ihr Profil schärfer und kämpferischer werden.

Forderungen nützlich ist.« Wenn die Partei diesen Anspruch einlösen will, muss sie dort handlungsfähig werden, wo sich gesellschaftliche Konflikte zuspitzen, wo Bewegung entsteht, und darf sich nicht im parlamentarischen Alltag verzetteln. DIE LINKE muss sich öffnen für Aktive aus antirassistischen oder antineoliberalen Protestinitiativen und insbesondere für kämpferische Betriebsaktivistinnen. Emanzipatorische Klassenpolitik muss sich auch in der Binnenstruktur der Partei widerspiegeln. Die Partei muss zu einem Vernetzungs- und Lernraum werden. Sie muss für diejenigen ein Kraftzentrum darstellen, die für eine andere Gesellschaft jenseits des Kapitalismus eintreten wollen. Oder wie es die Sozialistin Rosa Luxemburg einst formulierte: »Die moderne proletarische Klasse führt ihren Kampf nicht nach irgendeinem fertigen Schema. Mitten im Kampf lernen wir, wie wir kämpfen müssen.« Der Praxistest für eine linke Klassenpolitik besteht darin, konkret zu zeigen, wie die verschiedenen Kämpfe der Arbeiterklasse zusammengeführt werden können, und welchen Beitrag die Partei zur Neuformierung in Gewerkschaften und Betrieben leisten kann. Dazu muss sie eine Verankerung in den Betrieben und einen alternativen Pol zur Sozialdemokratie in den Gewerkschaften aufbauen. Eine gute Gelegenheit bietet sich noch vor der Bundestagswahl mit der in zahlreichen Krankenhäusern anstehenden Pflegestreikbewegung für mehr Personal. Hier muss DIE LINKE präsent sein und den Beschäftigten konkrete Unterstützung anbieten. Genauso, wie das soziale Profil der LINKEN geschärft und mit echten Auseinandersetzungen verbunden werden muss, sollte der Widerstand gegen Rassismus auf den Kampf gegen die AfD zugespitzt werden. Es gibt bereits in zahlreichen Städten und Regionen lokale Gegenbewegungen gegen die AfD, oft im Rahmen der Kampagne »Aufstehen gegen Rassismus«. Darauf gilt es aufzubauen und DIE LINKE zur Triebfeder des antirassistischen Widerstands zu machen und damit auch in Betriebe und Gewerkschaften auszugreifen. DIE LINKE muss Menschen dazu ermutigen, selbst aktiv zu werden in einem Lagerwahlkampf von unten gegen oben, der aus mehr besteht als daraus, alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen, nämlich selbst für die gemeinsamen Klasseninteressen und eine bessere Welt zu kämpfen. ■

Die Partei als Lernraum entwicklen

7.

Wenn DIE LINKE Partei der Arbeiterklasse sein will, muss sie einen konkreten Mehrwert für deren Kämpfe schaffen. Das gelingt nicht durch Stellvertretertum im Parlament, sondern durch Aufbau und Organisation von Widerstand. Das Kernproblem der LINKEN ist nicht ein falsches Programm, sondern strategische Hilflosigkeit in der Umsetzung desselben. Das hat nämlich bisher weder in Regierungsverantwortung noch mittels Proklamierens des Programms in der Opposition funktioniert. Hinter den Forderungen der LINKEN müssen reale gesellschaftliche Kräfte gebündelt werden. Im Strategiepapier der Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger »Revolution für Gerechtigkeit und Demokratie« von 2016 formulieren sie Grundlagen einer solchen Klassenpolitik. Dort heißt es: »DIE LINKE will die politischen Verhältnisse nach links verschieben und die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft verändern, zu Gunsten von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Bürgerinitiativen, Selbsthilfeorganisationen usw. Sie geht dabei grundsätzlich von einem emanzipatorischen Verständnis aus, das auf die Selbstorganisation, Bewegung und Tätigkeit der Menschen selbst setzt. Die Partei DIE LINKE sieht sich so nicht als Stellvertreterpartei, sondern als Organisation, die den Menschen in ihren Kämpfen und Auseinandersetzungen für soziale, demokratische, ökologische Rechte und

Weiterlesen Dieter Dehm/ Wolfgang Gehrcke: »Ohne Rot-Rot gelingt kein Rosa-RotGrün« tinyurl.com/ dehm-gehrcke Kerstin Wolter/ Alexandra Wischnewski: »Vorwärts: Wir brauchen eine Politik für morgen« tinyurl.com/wolter-wischnewski Katja Kipping/ Bernd Riexinger: »Revolution für Gerechtigkeit und Demokratie« tinyurl.com/ kipping-riexinger

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Inland | DIE LINKE VOR DER BUNDESTAGSWAHL 2017

Wer regiert, verliert Wenn linke Parteien sich an Regierungen beteiligen, verändern sie eher sich selbst als die Politik. Und am Ende verlieren sie. Beispiele gefällig? Italien Anfang der 2000er Jahre spielt der Partito della Rifondazione Comunista (PRC) eine wichtige Rolle in verschiedenen sozialen Bewegungen, unter anderem gegen den Krieg im Irak und gegen den rechten Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Bei der Wahl 2006 gewinnt der PRC als Teil des Mitte-Links-Bündnisses L’Unione. An der Regierung trägt er nicht nur die von ihm bisher abgelehnten Haushaltskürzungen mit, sondern auch Militäreinsätze im Libanon und in Afghanistan. Zwei Jahre später kehrt Berlusconi an die Regierung zurück, und der PRC fliegt aus dem Parlament.

Frankreich Bei der Parlamentswahl 1997 erhält die französische Kommunistische Partei (PCF) im Gefolge von Massenstreiks im öffentlichen Dienst 9,9 Prozent. Sie tritt in die vom Sozialdemokraten Lionel Jospin geführte rot-rot-grüne Koalition ein. Dieser Regierung gelingen zwar einige Reformmaßnahmen, wie die Einführung der 35-Stunden-Woche, aber sie nimmt auch die bisher umfangreichsten Privatisierungen im Land vor, und Frankreich beteiligt sich 1999 am Nato-Krieg gegen Serbien. Bei der Wahl 2002 stürzt der PCF auf 4,8 Prozent.

Island Vor dem Hintergrund von Massenprotesten nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2009 erhält die LinksGrüne Bewegung (LGB) 21,7 Prozent der Stimmen und tritt in die Regierung ein. Zwar läuft die Bankenrettung in Island anders ab als in anderen Ländern, aber die Regierung steuert ansonsten einen neoliberalen Kurs. Obwohl die LGB immer gegen die Mitgliedschaft Islands in Nato und EU gekämpft hatte, stellt die Regierung mit ihrer Beteiligung einen Antrag auf Aufnahme in die EU. Bei der Wahl 2013 bricht die LGB auf 10,9 Prozent ein.

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Norwegen 2001 verliert die regierende sozialdemokratische Arbeiterpartei aufgrund von Privatisierungen und Sozialabbau ein Drittel ihrer Wähler. Ex-Ministerpräsident Jens Stoltenberg verspricht einen Kurswechsel, bildet ein Wahlbündnis mit der grünen Zentrumspartei und der Sozialistischen Linkspartei und gewinnt die Wahl 2005. Die Linkspartei bekommt 8,8 Prozent. Der Kurswechsel bleibt jedoch aus; vielmehr nehmen Arbeitsbelastung und Ungleichheit zu. 2009 bekommt die Linkspartei noch 6,2 Prozent, 2013 hat sie ihr Ergebnis von 2005 mit 4,1 Prozent halbiert. Seither regieren die Konservativen, Stoltenberg wird 2014 Nato-Generalsekretär.

Dänemark Die Sozialistische Volkspartei (SF) wird 2007 mit 13 Prozent viertstärkste Kraft, verdreifacht in den folgenden Jahren ihre Mitgliederzahl und orientiert auf eine Koalition mit den Sozialdemokraten. 2011 verliert die Partei Stimmen und fällt auf 9,2 Prozent, bildet aber trotzdem mit Sozialdemokraten und der linksliberalen Venstre-Partei eine Minderheitsregierung. 2014 gerät die SF in eine Krise, weil die Regierung Anteile des teils staatlichen Energieversorgers Dong Energy an die US-Bank Goldman Sachs verkauft. Ministerinnen und Minister treten zurück, die Koalition zerbricht. Bei der Neuwahl im Folgejahr stürzt die SF auf 4,2 Prozent. ■


Inland | DIE LINKE VOR DER BUNDESTAGSWAHL 2017

Wer kämpft, gewinnt Doch es gibt auch viele Beispiele für fortschrittliche Reformen. Dafür sind Massenbewegungen aber entscheidender als die Parteien an der Regierung

Frauenwahlrecht Die Forderung nach dem Wahlrecht für Frauen geht auf die Französische Revolution 1789 zurück. Im Verlauf des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts kommen nur eine Handvoll Städte, Kolonien und Staaten weltweit dieser Forderung nach. Den Durchbruch bringt erst die revolutionäre Welle Ende des Ersten Weltkriegs. Nach der Februarrevolution 1917 erhalten die Frauen in Russland das Wahlrecht. In Deutschland erklärt der Rat der Volksbeauftragten – die revolutionäre Regierung – Frauen am 12. November 1918 für wahlberechtigt.

8-Stunden-Tag Auch der 8-Stunden-Tag ist in Deutschland auf die Novemberrevolution zurückzuführen. Die internationale Arbeiterbewegung kämpft seit Mitte des 19. Jahrhunderts dafür. Im Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918 erkennen die Vertreter des deutschen Kapitals aus Angst vor der Vergesellschaftung die Gewerkschaften als Verhandlungspartner an und sichern unter anderem den Achtstundentag zu. Am 23. November erlässt der Rat der Volksbeauftragten die entsprechende Arbeitszeitverordnung.

Lohnfortzahlung Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für bis zu sechs Wochen geht auf einen Streik der IG Metall

1956/57 in Schleswig-Holstein zurück. Bis dahin erhalten Arbeiterinnen und Arbeiter in den ersten drei Krankheitstagen keinen Lohn; ab dem vierten Tag zahlt die Krankenkasse den halben Lohn. Angestellte erhalten dagegen ab dem ersten Tag das volle Gehalt. Die Gewerkschaft fordert Gleichstellung, die Bosse lehnen ab. 34.000 Arbeiterinnen und Arbeiter streiken daraufhin 114 Tage lang mit Unterstützung aus dem ganzen Bundesgebiet und gewinnen schließlich den längsten Arbeitskampf seit 1905.

Abtreibung Bis in die1970er Jahre hinein ist in vielen Ländern Europas ein Schwangerschaftsabbruch verboten. In den Niederlanden entstehen auf Druck der Frauenbewegung ab den 1960er Jahren Abtreibungskliniken, in denen auch viele Frauen aus Deutschland Hilfe bekommen. Obwohl illegal, wird diese Praxis in den 1970er Jahren toleriert. 1981 folgt nach jahrelangem Kampf der Frauenbewegung ein Gesetz, das einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Lebensfähigkeit des Kindes außerhalb des Mutterleibes zulässt. Voraussetzung ist ein Beratungsgespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt. Das Gesetz tritt 1984 in Kraft.

Bürgerrechte Rosa Parks löst 1955 mit ihrer Weigerung, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen aufzugeben, den 13 Monate andauernden Busboykott von Montgomery aus. Das Oberste Gericht der USA erklärt Rassentrennung in Bussen daraufhin für verfassungswidrig. Mit Freedom Rides weisen Aktive ab 1961 darauf hin, dass sie de facto jedoch weiter besteht. Ab 1962 wird das Verbot tatsächlich durchgesetzt. Nachdem 1963 250.000 Menschen in Washington für gleiche Rechte demonstrieren, erlässt die Regierung 1964 das Bürgerrechtsgesetz, das jede Rassentrennung für illegal erklärt. ■

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Internationales | weltweiter widerstand

© Jano Charbel

UKRAINE

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440 MinenarbeiterInnen blieben am 4. Mai in den Kryvyi Rih Iron-Ore Combine (KZRK) Minen unter der Erde. Sie legten dort ihre Arbeit nieder und halten seither unterirdische Versammlungen. Die Löhne wurden seit 2014 nicht erhöht, obwohl allein 2015 die Steigerung des Preisniveaus in der Ukraine bei 50 % lag. Die KRZK-Leitung drohte mit der Schließung einer der Minen sowie damit, lediglich in nicht-streikenden Minen Löhne zu erhöhen. Die Gewerkschaft Industrial affiliate Independent Trade Union of Miners of Ukraine (NPGU) ruft ihre Mitglieder dazu auf, die Streikenden vor staatlichen und bewaffneten privaten Akteuren zu schützen.


Internationales | weltweiter widerstand

BRASILIEN

40 Millionen im Streik Der neue brasilianische Präsident Michel Temer will dem Land eine neoliberale Schocktherapie verpassen. Doch die Menschen wehren sich

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Von Matthias Danyeli

roteste in zahlreichen Städten, von brennenden Barrikaden bis hin zum Versuch, zum privaten Wohnsitz des Präsidenten Michel Temer zu gelangen. Gestoppt nur durch massiven Einsatz von Tränengas, Gummigeschossen und Blendgranaten der Polizei. 40 Millionen Menschen legten am 29. April die Arbeit nieder. Es war der größte Generalstreik in der Geschichte Brasiliens. Die Streikenden kämpfen gegen die neoliberalen Kürzungspläne der Regierung von Präsident Temer. Dessen neuester Vorstoß ist es, die Staatsausgaben für 20 Jahre auf dem Niveau einzufrieren, auf dem sie sich momentan befinden. Er wolle damit die Schulden gegenüber dem Ausland begleichen. Dass er auch steuerliche Entlastungen für große Konzerne plant, zeigt jedoch, dass es tatsächlich um die Konsolidierung der Profite des Kapitals geht. Das Programm umfasst die Anhebung des Renteneintrittsalters um fünf Jahre sowie die komplette Streichung des künftigen Rentenanspruchs für alle, die bisher noch nicht in das staatliche Rentensystem eingezahlt haben. Dazu kommen die Kürzung der sozialen Ausgabenprogramme des Staates sowie unzählige Deregulierungen in verschiedenen Bereichen des Arbeitnehmerschutzes. Gewerkschaftliche Mitspracherechte sollen eingeschränkt, die Arbeitszeiten ausgeweitet werden. Um diese neoliberale Schocktherapie umzusetzen, putschte sich Temer letztes Jahr mithilfe rechtskonservativer Regierungsmitglieder und hoher Gerichte an die Spitze der Regierung. Temer steht für die völlige Abkehr von der Politik der Vorgängerregierungen unter der Führung der Arbeiterpartei PT. Allerdings konnte er die Enttäuschung darüber ausnutzen, dass die sozialdemokratische PT die in sie gesetzten Hoffnungen schon seit langer Zeit nicht mehr erfüllte. Präsident Lula da Silva verabschiedete zwar, als er 2002 an die Macht kam, soziale Programme für einen bedeutenden Teil der brasilianischen Arbeiterschaft, jedoch koalierte die Arbei-

terpartei mit Konservativen und anderen Reaktionären. Unmittelbaren Ausdruck fand dieser Spagat in der Verstaatlichung von großen Teilen der Ölindustrie und sozialen Unterstützungsgeldern für Arme auf der einen Seite und der Vertreibung Indigener aus Regenwaldgebieten sowie konzernfreundlicher Arbeitsmarktgesetzgebung auf der anderen Seite. Spätestens mit der jüngsten Wirtschaftskrise in Brasilien war selbst dieser dürftige Kompromiss nicht mehr aufrechtzuerhalten, ohne die Herrschenden anzugreifen. Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff stand seitdem für die Besetzung von Favelas durch Panzer im Vorfeld der Fußball-WM 2014, aber auch für das geplante neoliberale Reformprogramm »Agenda Brasil«. Die PT hatte den Kompromiss zwischen den Klassen de facto bereits beendet – Temer hat ihm nur den Todesstoß versetzt, um ein noch härteres Reformprogramm durchzusetzen. Daher führte die allgemeine wirtschaftliche Krise auch zu einer politischen Krise der PT, die ihre Versprechen weder gegenüber der Arbeiterklasse noch gegenüber dem Kapital einhalten konnte. Die Konzerne und Banken haben sich mit ihrer Unterstützung des parlamentarischen Putsches von Temer gegen die PT-Bürokratie entschieden. Zugleich haben sich viele politisch aktive Arbeiterinnen und Arbeiter von der PT abgewendet. Angesichts des harten Sozialabbaus Temers gehen Lulas Umfragewerte, der 2018 wieder für die Präsidentschaft kandidieren möchte, zwar wieder in die Höhe. Allerdings wurzeln die Bewegungen rund um den Generalstreik gerade unter den Linken und ehemaligen PT-Anhängern jenseits der Parteibürokratie. So entsteht derzeit ein Fenster für die Linke, den Generalstreik als Auftakt zu einer neuen Organisierung von unten zu nutzen. Schon 2015 gründete sich gegen den Rechtsruck das Bündnis »Frente povo sem medo« (Volk ohne Angst). Dieser Zusammenschluss linker Parteien, sozialer Bewegungen und Gewerkschaften ruft zu weiteren Massenprotesten über den Sommer hinweg auf. ■

GROSSBRITAnNIEN Die Belegschaft eines BMW-Werks in Goodwood streikt zum ersten Mal seit 40 Jahren. Sie wendet sich gegen den Plan der BMW Group, Ende Mai zum letzten mal Renteversicherungsbeiträge in die Altersvorsorge einzubezahlen. Der Verlust beim Renteneinkommen läge bei mehreren tausend Euro pro Jahr, obwohl das Geld schon einbezahlt wurde. Gegen die Begründung als »Maßnahmen zur Sicherung der Rentenfonds« verweist die Gewerkschaft Unite auf den jüngsten Rekordgewinn von 6,9 Milliarden Pfund. ■

ISRAEL

Streik IM Gefängnis 1.500 palästinensische politische Gefangene verkünden am 17. April 2017 den Beginn eines unbefristeten Hungerstreiks. Die streikenden Gefangenen fordern ein Ende von Israels Praxis der Misshandlungen, Isolationshaft, Folter, medizinischer Vernachlässigung und Verweigerung von völkerrechtlich garantierten Rechten, wie das Recht auf eine faire Gerichtsverhandlung und das Besuchsrecht der Familie. Aus Solidarität mit Menschen im Hungerstreik kam es in der Westbank zu einem Generalstreik. Etwa 6.300 palästinensische politische Gefangene, unter ihnen mindestens 300 Kinder, sind in Gefängnissen in Israel, nachdem sie in der Westbank oder in Gaza festgenommen wurden. Amnesty international bezeichnet diese langjährige Praxis als »grausam«, der europäische Gewerkschaftsbund hat eine Solidaritätserklärung verabschiedet. ■

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Türkei | Erdogan, der Kemalismus und die Linke

Der Scheinriese Erdoğan Mit 51 Prozent Zustimmung im Verfassungsreferendum in der Türkei kann Recep Tayyip Erdogan zwar das Präsidialsystem einführen, aber sein Sieg war knapp. Ali Cem Deniz erklärt, warum die Linke hoffen, aber Erdogan nicht mit der Forderung nach mehr Laizismus besiegen kann Nach dem Verfassungsreferendum haben mehrere zehntausend Menschen in der Türkei protestiert. Welche Rolle spielte dabei die sozialdemokratische kemalistische Partei CHP? Die CHP hat mit ihrer Beschwerde gegen das Ergebnis ihren Teil beigetragen. Gleichzeitig haben wir wieder einmal gesehen, dass die Parteiführung keinen Bezug zur Straße hat. Der Vorsitzende der CHP Kemal Kılıçdaroglu hat sich nur in sehr vagen Formulierungen mit den Demonstrierenden solidarisiert, gleichzeitig aber betont, dass die CHP keine offizielle Rolle bei den Protesten einnehmen würde. Das ist nicht verwunderlich, schließlich waren diese auch gegen die CHP und Kılıçdaroglu gerichtet, die man für die Niederlage mit verantwortlich gemacht hat. Ist jetzt die Formierung eines neuen Blocks gegen Erdogans AKP aus Kemalisten (CHP) und Kurden und Linken (HDP) möglich? Das Bündnis zwischen linken Kurden und Türken gibt es schon in der Form der HDP. Doch für die Präsidentschaftswahl 2019 wird das nicht ausreichen. Das Nein-Lager konnte der AKP Großstädte wie Istanbul und Ankara entreißen. Doch während das Ja-Lager ein solider Block ist, der 2019 geschlossen Erdogan wählen wird, ist das Nein-Lager gespalten. Selbst wenn CHP und HDP sich auf einen Kandidaten einigen könnten, müssten sie die Nationalisten überzeugen, die beim Referendum überwiegend mit »Nein« gestimmt haben. Und auch die größtenteils religiös-konservativen Kurden, die beim

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Ali Cem Deniz

Ali Cem Deniz arbeitet als Journalist und Autor. Zuletzt erschienen: Yeni Türkiye – Die neue Türkei. Rezension siehe Seite 82.


Türkei | Erdogan, der Kemalismus und die Linke

Referendum wieder zu Erdogan gewandert sind, müsste man zurückgewinnen. Das alles muss passieren, ohne die urbanen AKP-Wähler zu verlieren, die mit »Nein« gestimmt haben. Ich glaube derzeit nicht, dass sich all diese Gruppen bis 2019 auf eine Alternative zu Erdogan einigen können. Die Zukunft sieht dennoch gut aus. Bei den 18-35-Jährigen sind die »Nein«-Wähler in der Mehrheit. Das sind Menschen, die nur die AKP-Regierung kennen. Bei ihnen ist der Frust am größten. Hier muss die Opposition ansetzen, denn hier sind die ideologischen Gräben nicht so tief wie bei älteren Generationen. Für die AKP wird es mit jeder Wahl schwerer, die Mehrheit zu halten, während die Chancen für die Opposition größer werden. Warum war die Opposition bisher nicht erfolgreich? Die türkische Linke und die gesamte Opposition haben folgendes Problem: Sie müssen der Versuchung widerstehen, ständig auf Erdogan zu reagieren. Mittlerweile hat auch die europäische Öffentlichkeit Erdogans Medienstrategie zu spüren bekommen: »bad news is good news«. Seit 15 Jahren dominiert er nahezu alle politischen Debatten in der Türkei. Gerade die Linke muss aber über Erdogan hinausschauen und die strukturellen Hintergründe seines Erfolgs verstehen, statt auf Klischees zurückzugreifen. Kurz gesagt: Je weniger man sich mit Erdogans Person beschäftigt, desto verständlicher wird die aktuelle Türkei. Durch die staatlichen Repressionen sind die kurdische und die türkische Linke geschwächt. Viele Parteimitglieder und Abgeordnete sind im Gefängnis. Wie sollte die HDP damit umgehen? Wir erleben, dass auch nach dem Referendum die Repressionen nicht abnehmen. HDP-Abgeordnete werden weiterhin festgenommen. Die Partei ist abhängig von der Willkür der Behörden und kann dagegen leider nicht viel unternehmen. Solange der Ausnahmezustand

herrscht, wird sich das nicht ändern. Allerdings hat die AKP ein Interesse daran, den Ausnahmezustand zu beenden. Außerdem ist Erdogan auf die kurdischen Stimmen angewiesen, wie das Referendum gezeigt hat. Das ist die zweite gute Nachricht aus der Abstimmung: Die Koalition zwischen AKP und Nationalisten ist gescheitert. Obwohl die Parteispitze der

Teil der Mittel- und Oberschicht geworden und sie haben nicht nur die Politik, sondern die ganze Gesellschaft und Kultur der Türkei verändert. Auch sie schicken ihre Kinder auf private Schulen oder zum Studieren nach Europa. Die Türkei ist heute in vielerlei Hinsicht heterogener als das Land, mit dem es die Kemalisten vor 90 Jahren zu tun hatten.

Die gesamte türkische Opposition hat ein Problem nationalistischen MHP sich hinter Erdogan gestellt hat, hat ihre Basis mit »Nein« gestimmt. Wenn die AKP in Zukunft Wahlen gewinnen möchte, muss sie ihr Verhältnis zur HDP neu überdenken. Und die Repressionen gegen die HDP haben noch etwas gezeigt: Die Partei repräsentiert eine etablierte politische Bewegung, die sich nicht einfach an den Rand drängen lässt. In deinem kürzlich erschienen Buch (siehe Seite 82) sprichst du von einem Konflikt zwischen »weißen« und »schwarzen« Türken. Was hat es damit auf sich? Die Begriffe haben nichts mit dem Aussehen oder der ethnischen Herkunft zu tun. Sie sind eine sehr vereinfachte Möglichkeit, Bruchlinien in der Gesellschaft zu erkennen. Interessanterweise wurden zuerst die »weißen« Türken definiert. Sie waren jene kemalistische Schicht, die in den ersten Jahrzehnten der Republik alle Bereiche der Gesellschaft und Politik dominierte. Sie kleideten sich westlich, hörten europäische Musik und hatten oft außerhalb der Türkei studiert. Ihnen gegenüber stand eine Art »schweigende Mehrheit« der »schwarzen« Türken, die mit der Binnenmigration ab den 1950er Jahren immer sichtbarer wurde. Sie gewannen an Bedeutung als billige Arbeitskräfte, die in den Slums von Istanbul lebten und auch als politische Kraft, die bei so gut wie jeder Gelegenheit gegen die kemalistische Modernisierung stimmte. Heute sind diese Bruchlinien unklarer als je zuvor. Viele »schwarze« Türken sind

Die Kemalisten sind stets modern und offen elitär aufgetreten. Ist der Kemalismus ein Projekt der Oberschicht? Das lässt sich eindeutig bejahen, doch der Kemalismus hat ebenfalls Veränderungen durchgemacht. In den 1970er Jahren konnte die CHP mit dem Sozialdemokraten Bülent Ecevit ihre größten Erfolge seit dem Ende des CHP-Staates 1956 erzielen. Reste dieser »aNatolischen Linken« sind noch heute vereinzelt an der Basis der Partei vertreten. In bestimmten Regionen ist die CHP bei der ländlichen und sogar konservativen Bevölkerung durchaus beliebt. Insgesamt bleibt sie aber eine Partei, die für den Status Quo steht. Innerhalb der CHP gibt es kaum Veränderungen. Trotz zahlreicher Wahlniederlagen ist ein Wechsel an der Parteispitze äußerst selten. Selbst gegenüber linken Protestbewegungen, wie der Gezi-ParkBewegung von 2013, blieb die CHP verschlossen. Warum wurden der Islam und die Kurden zum Feindbild für die Kemalisten? Hinter dem Kemalismus versteckt sich nicht nur ein autoritäres Verständnis von Laizismus, sondern überdies ein beinharter Nationalismus. Mustafa Kemal Atatürk und seine Anhänger waren davon überzeugt, dass das Osmanische Reich aufgrund seiner ethnischen und religiösen Vielfalt zerfallen ist. Kurden, Araber, fromme Muslime, aber auch nicht-muslimische Minderheiten wie Armenier und Griechen sind in dieser Ideologie die Sündenböcke. Für die Kemalisten kann die Türkei nur dann erfolgreich sein, wenn

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Türkei | Erdogan, der Kemalismus und die Linke

sie eine ethnisch und religiös homogene Nation ist. Das entspricht natürlich nicht der Realität der türkischen Gesellschaft und selbst die Kemalisten können diesem Anspruch nicht gerecht werden. Der aktuelle CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroglu stammt aus dem alevitischkurdischen Dersim. Doch er erwähnt Kurden oder Aleviten selten. Stattdessen betont er immer wieder, dass er keinen »ethnischen Separatismus« betreiben möchte. Das zeigt: Jede Abweichung von der kemalistischen Identitätspolitik wird von der CHP bis heute als Gefahr für die »Einheit« des Lands gesehen.

Rund 90 Jahre Laizismus »von oben« haben massiv zum Erfolg Erdogans beigetragen. Die Islamisierung hingegen kommt nur zum Teil von oben. Als Erdogan 2001 verkündete, dass er das Hemd der islamischen Bewegung »Milli Görüg« ausgezogen hat, meinte er das tatsäch-

Die kemalistische CHP hingegen machte fast ausschließlich mit Kindern Wahlwerbung. Sie sagten kemalistische Parolen auf und hielten Bilder von Atatürk in die Kamera. Alle sprachen Hochtürkisch, regionale Akzente oder andere Identitätsmerkmale kamen nicht vor.

Der Kemalismus ist ein beinharter Nationalismus

Das kemalistische Bürgertum und das Militär, die jahrzehntelang die Politik in der Türkei bestimmte, sehen sich heute in der Defensive. Die Popularität von Erdogan können sie sich nur damit erklären, dass ungebildete Massen aus den ländlichen Regionen auf populistische Islamisten hereinfallen. Warum greift das zu kurz? Dass Erdogan mit Kohle- und Nudel-Verteilungen Stimmen kauft, so wie die Kemalisten es lange Zeit behauptet haben, stimmt nicht. Auch das persönliche Charisma von Erdogan spielt zwar eine wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle. Das zeigt sich im jüngsten Wahlkampf. Obwohl Erdogan seit 2014 aggressiv Werbung für das Präsidialsystem machte, lag die Zahl der Befürworter weit unter den Erwartungen. Rund 30 Prozent gehören zu den Stammwählern Erdogans, die restlichen 15-20 Prozent müssen bei jedem Wahlkampf aufs Neue überzeugt werden. In Abwesenheit der HDP, deren Mitglieder im Gefängnis sitzen und die de facto vom Wahlkampf ausgeschlossen war, richteten sich alle Blicke auf die CHP. Doch sie führte den Wahlkampf hauptsächlich mit altbackenen kemalistischen Parolen. Selbst eine oberflächliche Neuausrichtung der Partei wäre ein klares Signal gewesen und hätte die »Nein«Kampagne zu einem klaren Erfolg führen können. Stattdessen haben wir gesehen, wir Erdogan mit 51 Prozent ganz knapp gewonnen hat. Ist Erdogans Islamisierung mit mehr Laizismus zu begegnen, wie es die Kemalisten fordern?

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Mustafa Kemâl Pascha am 29. Oktober 1923, dem Tag der Ausrufung der Republik Türkei. Erst elf Jahre später erhielt er von der Nationalversammlung den Namenszusatz Atatürk (deutsch: Vater der Türken)

lich. Die AKP ist ein Nebenprodukt des türkischen Islamismus, das jedoch weitgehend »ideologiefrei« bleibt. Elemente des Islamismus finden sich in der Rhetorik und teilweise in konkreten politischen Positionen, doch insgesamt dominieren Neoliberalismus und klassischer Fortschrittsgedanke die Politik der AKP. So konnte sie alle Mitte-Rechts-Parteien verdrängen, während die traditionellen Islamisten unter dem Dach der Saadet Parti heute nur eine Kleinstpartei bilden. Der Kemalismus hingegen hat klare ideologische Linien, die sich seit Atatürk kaum verändert haben. Das zeigen die Werbespots im jüngsten Wahlkampf: Die AKP warb mit Mega-Bauprojekten und einem oberflächlichen, neoliberalen Pluralismus, der möglichst viele Schichten der Gesellschaft zu Wort kommen lässt.

Die »Islamisierung« der Türkei ist in Wirklichkeit das Sichtbarwerden der muslimisch-konservativen Bevölkerung, die seit den 1980er Jahren einen sozialen Aufstieg erlebt hat. Wie man auf diese Gruppe zugehen kann, hat die HDP zum Teil gezeigt, indem sie kopftuchtragende Aktivistinnen in die Partei aufgenommen hat. Das war ein Grund, wieso die AKP die HDP als Bedrohung gesehen hat. Angesichts der Repressionen der Regierung hätte sich die CHP, die sich als linke und sozialdemokratische Partei versteht, gegenüber der HDP öffnen müssen. Eine solche Öffnung wäre für die Schaffung einer linken Alternative beim Verfassungsreferendum notwendig gewesen. Dazu müssten allerdings die Kemalisten ihre fast hundertjährige Ideologie über Bord werfen. ■


Afghanistan | INTERVIEW MIT MALALAI JOYA

»Der Krieg gegen Terror ist die größte Lüge des Jahrhunderts« Die Bundesregierung schickt Geflüchtete zurück nach Afghanistan. Dort herrscht nach wie vor Krieg. Wir sprachen mit der afghanischen Aktivistin Malalai Joya über die aktuelle Situation in Afghanistan Interview Lisa Hofmann Übersetzung Einde O‘Callahagan

Die deutsche Regierung geht davon aus, dass Afghanistan »ein sicheres Land« sei. Als Konsequenz daraus haben Geflüchtete kaum eine Chance, dass ihnen Asyl gewährt wird. Ist Afghanistan wirklich sicher? Leider ist die Sicherheitslage überall in Afghanistan miserabel und sie wird von Jahr zu Jahr schlechter. Die Bevölkerung lebt in ständiger Angst. Die Taliban, der »Islamische Staat« (IS), dschihadistische Warlords in der Regierung und die ausländischen Besatzer machen Afghanistan zu einem unsicheren Ort. Allein in Kabul sterben viele Menschen durch Raketenangriffe oder Selbstmordattentate. Man weiß nicht, ob man abends lebend zurückkehren wird, wenn man morgens die Wohnung verlässt. Wenn das die Lage in der Hauptstadt ist, kann man sich die Situation in den isolierten Provinzen leicht vorstellen. In der Provinz Farah ist nur eine Stadt unter der Kontrolle der Regierung, den Rest kontrollieren die Taliban. Alle Mädchenschulen wurden geschlossen. Häufig töten die Taliban Menschen, die für die Regierung arbeiten. Alle Straßen nach Farah stehen unter ihrer Beobachtung und, wenn sie jemanden von der afghanischen Armee oder der Polizei entdecken, wird er vor Ort hingerichtet. In anderen Provinzen Afghanistans ist die Lage ähnlich. Die Ermordung von Menschen durch Drohnen und Flugzeuge der USA beziehungsweise der Nato, die unterdrückerische Herrschaft der Warlords, kriminelle Milizen, die Drogenmafia, über drei Million Drogensüchtige, Armut und Arbeitslosigkeit – das alles macht Afghanistan zu einem extrem unsicheren Land. Leider muss man sagen, dass Afghanistan vor 2001 unter der Herrschaft der Taliban viel sicherer war, als es heute ist. ▶

Malalai Joya Malalai Joya war von 2005 bis 2007 die jüngste Abgeordnete des afghanischen Parlaments. Sie gilt als eine der schärfsten Kritikerinnen des Krieges der Nato und der USA und ist Autorin diverser Bücher.

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Afghanistan | INTERVIEW MIT MALALAI JOYA

Was sind die Ziele der westlichen Besatzungskräfte in Afghanistan? Zuerst will ich darauf hinweisen, dass ausländische Soldaten Werkzeuge in den Händen ihrer Regierungen sind, die sie für ihre eigenen Interessen ausnutzen. Eigentlich sind diese Soldaten Opfer der kriegstreibenden Politik ihrer Regierungen. Der sogenannte »Krieg gegen den Terror« ist die größte Lüge des Jahrhunderts. In Afghanistan erleben wir, dass die USA und die Nato direkt und indirekt die gefährlichsten Terroristen unterstützen und bewaffnen. Der Terrorismus ist immer noch eine strategische Waffe in den Händen des Weißen Hauses mit dem Ziel, Asien zu destabilisieren und den wirtschaftlichen und militärischen Fortschritt von Russland, China und anderen Rivalen zu blockieren. Das ist das Hauptziel der USA in unserem Land. Deshalb haben sie riesige Stützpunkte aufgebaut und ihre größten Waffen in unserem Land stationiert. Der Test der MOAB, der sprengkräftigsten Fliegerbombe der US-Streitkräfte, vor einigen Tagen beweist, dass die USA in unserem Land sind, um ihre Hegemonie über die Region zu sichern. Wie hat sich Afghanistan durch die militärische Intervention des Westens verändert? Die Intervention hat Afghanistan keineswegs positiv verändert. Stattdessen hat sie das Land noch tiefer ins Elend und die Tragödie gerissen. Der Westen und die USA brachten die islamisch-fundamentalistischen Kriminellen zurück an die Macht. Sie sind für die totale Vernichtung unseres Landes verantwortlich, deren Auswirkungen heute immer noch zu spüren sind. Wir sind unter der US-amerikanischen Besatzung weder unabhängig noch frei. Von Demokratie und Frauenrechten unter der Herrschaft von frauenfeindlichen, fundamentalistischen Verrätern ganz zu schweigen. Das Gerede über diese Werte in unserem Land ist blanker Hohn gegenüber unserem gequälten Volk. Die USA begehen bis zum heutigen Tag Kriegsverbrechen an der Bevölkerung. Morde, Bombardierung, Folter, gesetzeswidrige und unbegrenzte Inhaftierungen und die Verwendung von gesundheitsschädlichen Chemikalien in Waffen sind

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nur einige Beispiele. Die Besatzer der USA und der Nato genießen vollständige Straffreiheit für ihre Verbrechen dank einer bilateralen Sicherheitsvereinbarung, die von der verräterischen afghanischen Regierung und der kriminellen Regierung der USA unterzeichnet wurde. Jetzt, nach dem Abwurf der MOAB, hat unser Volk Angst davor, dass Afghanistan zum Testboden des Wettrüstens zwischen den Supermächten wird. Heute gehören die Raten von Gewalt gegen Frauen und die der Müttersterblichkeit in Afghanistan zu den höchsten der Welt. Jedes Jahr steigen die Zahlen weiter. In Gebieten, die unter der Kontrolle von frauenfeindlichen Kräften wie Taliban, IS und fundamentalistischen Warlords stehen, sind die Frauen so unterdrückt wie zu Zeiten der Taliban. Kriminelle und mächtige Warlords, die sich an Verbrechen gegen Frauen beteiligt haben, genießen völlige Straffreiheit. Das führt dazu, dass viele Frauen keine andere Lösung für ihr Leiden sehen, als Selbstmord zu begehen. Die Besatzung hat unsere Probleme nur vergrößert. Wie ich in der Vergangenheit gesagt habe und noch ein-

Der Krieg wurde für die Kinder zum Alltag. Sie spielen auf den kaputten Panzern (Bild oben) Proteste gegen Abschiebungen nach Afghanistan in Hamburg


Afghanistan | INTERVIEW MIT MALALAI JOYA

mal wiederhole, kommen Demokratie, Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte niemals durch einen militärischen Einmarsch. Solange unser Land von den USA und der Nato besetzt wird, wird unser Volk nicht in Sicherheit und Stabilität leben können. Am 22. April griffen die Taliban einen Militärstützpunkt in Mazar-i-Sharif an. 140 afghanische Soldaten wurden getötet und 130 verletzt. Warum sind die Taliban immer noch stark? Heute bekommen die Taliban Waffen von Iran, Russland, Pakistan und anderen Ländern, da auch sie ihre Interessen in der Region durchsetzen wollen. Die USA beobachten die Situation und bewegen sich nur dort, wo ihre Interessen bedroht werden. Das kann kein Krieg gegen die Taliban oder den Terrorismus sein. Die USA sind eine Supermacht, die sich mit noch nie gesehenen militärischen Fähigkeiten rühmt, aber sie sind unfähig, eine Gruppe von ungebildeten, schwachen Kämpfern niederzuschlagen! Die afghanische Armee und die Polizei sind von Analphabetentum, Drogenproblemen und Korruption durchtränkt. Hohe Offiziere sind in Korruption auf höchster Ebene verwickelt und interessieren sich überhaupt nicht für die armen Soldaten, die ihr Leben an der Front aufs Spiel setzen. Hochrangige Beamte werden sogar beschuldigt, in Angriffe auf diese unschuldigen Soldaten verwickelt zu sein. Die Opfer dieses Kriegs sind Zivilisten und die Soldaten, die der Armee beigetreten sind, um das Überleben ihrer Familien zu sichern. Es gibt auch Berichte über Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politiker. Unter welchen Bedingungen ist politische Arbeit möglich? Während westliche Regierungen über Demokratie in Afghanistan reden, verfügt unser Volk nicht einmal über den elementarsten Bestandteil der Demokratie, die Redefreiheit. Diejenigen tapferen Journalistinnen und Journalisten, die es gewagt haben, die Wahrheit zu senden, wurden entführt, bekamen Morddrohungen, wurden verletzt oder getötet, mussten das Land verlassen oder wurden ge-

zwungen, die Wahrheit zu verschweigen. Politikerinnen und Politiker sind in der gleichen Situation. Das Klima der Angst und der Brutalität machen die Arbeit all derjenigen sehr schwer, die die Wahrheit

Aber keine von ihnen erfuhr mehr Diskriminierung und Verfolgung als die Hindus und Sikhs. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt, sie durften ihre religiösen Rituale nicht praktizieren, und sie wurden be-

Unter den Taliban war das Land sicherer als jetzt sagen. Ich zum Beispiel bin dazu gezwungen, im Untergrund zu leben, und kann nicht in der Öffentlichkeit erscheinen. Die Bundesregierung hat vor, mehr als 12.000 Afghaninnen und Afghanen aus Deutschland nach Afghanistan abzuschieben. Was steht den Abgeschobenen nach ihrer Rückkehr bevor? Ich verurteile die Zwangsabschiebung von Geflüchteten. Die Mehrheit unserer Leute haben ihre Länder wegen der Sicherheitslage und der Finanzkrise verlassen. Der Westen, einschließlich Deutschland, ist für die elende Lage in Afghanistan, Irak und Syrien verantwortlich. Die Vereinbarung mit dem unterdrückerischen Regime in der Türkei ist entsetzlich. Alle wissen, dass das Regime den IS in Syrien und Irak unterstützt und die kurdischen fortschrittlichen Kräfte unterdrückt, die die einzige Gegenmacht gegen den IS in der Region sind. Wenn man einem solchen Regime Milliarden von Euro gibt, unterstützt man indirekt den IS. Und wenn man das Schicksal der Flüchtlinge in die Hände eines solchen Regimes legt, schenkt man dem IS eine gute Gelegenheit, Jugendliche für terroristische Gruppen zu rekrutieren. Mehr als 6000 afghanische Hindus und Sikhs leben in Deutschland. Viele von ihnen haben die deutsche Staatsbürgerschaft, aber etwa ein Drittel ist jetzt von Abschiebung bedroht. Dürfen Hindus und Sikhs ungehindert ihre Religion in Afghanistan praktizieren? Während mehr als drei Jahrzehnten Krieg in Afghanistan wurden fast alle anderen Ethnien und Religionsgemeinschaften von den Fundamentalisten unterdrückt.

droht und getötet. Man kann sagen, dass das Leben für die Hindus und Sikhs wirklich unerträglich ist – daher sind nur noch etwa 250 Familien von über 250.000 übrig, die anderen mussten das Land verlassen. Die Bundesregierung wird weiterhin ihre Politik der Sammelabschiebungen nach Afghanistan verfolgen. Dieses Jahr sind Bundestagswahlen und die Rechten werden die Frage der Flüchtlingspolitik, der Abschiebungen und der inneren Sicherheit besetzen. Was erwartest du von den Linken? Wir brauchen die internationale Solidarität aller gerechtigkeitsliebenden, friedensliebenden und fortschrittlichen Bewegungen, Personen, Parteien und Aktivisten der Welt, die ihre Stimmen gegen Besatzung und Krieg erheben. Was die Abschiebung von Geflüchteten angeht, bitten wir euch, eure Stimmen gegen die Beteiligung eurer Regierung am Krieg in Afghanistan und gegen die Unterstützung eines korrupten und mafiösen Marionettenregimes zu erheben. Westliche Länder, einschließlich Deutschland, sind für die gegenwärtige verzweifelte Lage und die Fluchtwelle in Afghanistan verantwortlich. Wenn die Regierung gegenüber dem afghanischen Volk ehrlich ist, muss sie fortschrittliche Kräfte und Aktivistinnen unterstützen und nicht kriminelle Terroristen, egal in wessem Namen sie handeln. Wenn afghanische Beamte, die Menschenrechte verletzt und Korruption begangen haben, in euer Land als offizielle Gäste eingeladen werden, erhebt eure Stimmen, organisiert Proteste und entlarvt sie vor der deutschen Öffentlichkeit.■

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USA | INTERVIEW MIT NANCY FRASER

© Johnny Silvercloud / CC BY SA / flickr.com

Protest bei der Amtseinführung von Trump im Januar 2017: »Rassismus, Sexismus und jede Form der Unterdrückung bekämpfen« steht auf dem Plakat einer Demonstrantin

»Eine neue, linke Erzählung bieten« Die Politikwissenschaftlerin und Feministin Nancy Fraser über Identitätspolitik, soziale Gerechtigkeit und neue linke Anti-Trump-Koalitionen Interview: Houssam Hamade Frau Fraser, was hat die Linke falsch gemacht? Hat sie sich zu sehr auf Emanzipationspolitik konzentriert und zu wenig auf die soziale Frage, »zu viel Rosa, zu wenig Rot«, wie es aus Teilen der Linkspartei hieß?

Nancy Fraser

Nancy Fraser: Ja und nein. Das Problem ist nicht der Kampf für Feminismus, LGBTQ-Rechte und gegen Rassismus, sondern die Trennung dieses Kampfs vom Kampf für soziale Gerechtigkeit.

Was wurde aus den klassischen sozialen Bewegungen, den Gewerkschaften und Industriearbeiterinnen und Industriearbeiter?

Sie nennen das »progressiven Neoliberalismus« . . . Genau. In den Vereinigten Staaten verbinden sich seit etwa drei Jahrzehnten die neoliberalen Kräfte mit den progressiven Kräften und ihr Einstehen für Eman-

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zipation und Vielfalt. Diese liehen dem Neoliberalismus ihr progressives Charisma. Für diesen Bund stehen vor allem die Clintons, die die US-Wirtschaft Goldman Sachs überantworteten und die neoliberale Globalisierung rücksichtslos beförderten.

Nancy Fraser geboren 1947 in Baltimore, ist Politikwissenschaftlerin und eine der bekanntesten US-amerikanischen Feministinnen.

Die Gewerkschaften wurden mehr oder weniger zerstört, der sogenannte Rostgürtel wurde sich selbst überlassen: Einst eine Bastion der Sozialdemokratie, verhilft er heute Trump zu Mehrheiten. Clintons Politik und die seiner Nachfolger verschlechterte das Leben der Mehrheit,


USA | INTERVIEW MIT NANCY FRASER

vor allem aber der Industriearbeiterinnen und Industriearbeiter. Dieser Angriff erfolgte unter der »geliehenen« progressiven Fassade. Das macht aber das Einstehen für Emanzipation und Vielfalt nicht falsch. Nein, im Gegenteil. Fatal ist aber dessen Bund mit dem Neoliberalismus: In dieser Zeit herrschte ein Dauerdiskurs über Vielfalt und Empowerment. An die Stel-

Bewegung sollte sich mit der verlassenen Arbeiterklasse verbünden. Sie muss erklären, warum beides zusammengehört. Ich selbst engagiere mich für einen Feminismus der 99 Prozent. Damit stehen wir im erklärten Gegensatz zu »Glasdeckenfeminismus«: Wir kämpfen sowohl für die (weiblichen und männlichen) Arbeitenden als auch für Migranten und die, die sich unbezahlt an Care Work aufreiben. Das kann nur zusammen erkämpft werden, wie es der progressive Populismus von Bernie Sanders macht.

nigen an, die die Wirtschaftspolitik zu ihrem Vorteil manipulieren. Aber wie soll man Leute ins Boot holen, die reaktionären Positionen anhängen? Das sind nicht Mitstreiter, sondern Gegner. Vielleicht hilft eine genauere Analyse: Trumps Wählerinnen und Wähler bestehen aus etwa drei Blöcken. Die meisten wählen traditionell Republikaner. Die haben ihn gewählt, aber dabei oft die Nase zugehalten. Dann gibt es die »Alt-Right«Leute, Rechtsextreme, die meiner Ansicht nach nur einen kleinen Teil seiner Wählerschaft ausmachen. Zum dritten Teil gehören unter anderem ehemalige Gewerkschaftsmitglieder. Bei denen finden wir nicht die eindeutig rassistischen Ressentiments, auch wenn sie teils dazu neigen. Diese Leute sind erreichbar.

Eine ernsthaft soziale Bewegung sollte sich mit der Arbeiterklasse verbünden le einer antihierarchischen, klassenbewussten und egalitären Auffassung von Emanzipation trat eine linksliberal-individualistische. Eine »Winner-takes-itall«-Hierarchie wurde befördert, um einigen »besonders talentierten« Frauen oder Lesben und Schwulen ihren Aufstieg zu ermöglichen. Gleichzeitig muss die Mehrheit ihr Leben im Keller verbringen. Der »progressive Neoliberalismus« tat also progressiv, beförderte aber tatsächlich die Abwertung ganzer Heere von Menschen? Und das spielte dem reaktionären Populismus Trumps in die Hände. Er präsentierte eine scheinbare Alternative. Endlich stand jemand auf der Seite der Abgehängten. Und mit dem Ausscheiden von Sanders blieb nur die Wahl zwischen dem progressiven Neoliberalismus Clintons und dem reaktionären Populismus Trumps. Eine unmögliche Wahl.

Ob das Konzept der 99 Prozent so sinnvoll ist? Es sind nicht alle Reichen böse und alle Armen gut. Zu den 99 Prozent gehören auch Rassisten. Und das Problem liegt ja nicht nur im Fehlverhalten der Eliten.

Was können wir tun? Wir müssen eine neue, linke Erzählung bieten. Eine ernsthaft egalitäre soziale

Wir sollten nicht prinzipiell davon ausgehen, dass die alle Rassisten sind. Damit würde die Linke ihr sicheres Versagen vorantreiben. Die wir erreichen wollen, erreichen wir nur auf der Grundlage von Respekt. Die Linke muss zeigen, dass sie ein Narrativ zu bieten hat, das die angesprochenen Kümmernisse erfasst und ausdrückt.

Sie haben recht, die Sache mit den 99 Prozent ist nicht das letzte Wort. Ich bevorzuge selbst die Klassenpolitik. Der Unterschied zwischen dem progressiven Populismus von Sanders und dem reaktionären Populismus Trumps ist allerdings, dass Sanders keine Sündenböcke konstruiert. Trump gibt Mexikanern und Muslimen die Schuld. Er spricht echte Missstände an, folgt aber einer völlig falschen Analyse. Sanders verbindet den Kampf für soziale Gerechtigkeit mit dem Kampf für Minderheitenrechte. Das funktioniert erstaunlich gut. Auch »die Reichen« stellt er nicht per se als schlecht dar, sondern er greift strukturelle Ursachen auf und zu Recht dieje-

Sie scheinen zuversichtlich.

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Gilt das alles auch für Deutschland? Mit Gerhard Schröder wurden ebenfalls massiv soziale Rechte abgebaut und die Sozialdemokratie entstellt. In den USA ist das Ganze besonders deutlich. Auch in Frankreich sehen wir mit der Wahl zwischen Le Pen und Macron eine Wahl zwischen progressivem Neoliberalismus und reaktionärem Populismus. In Deutschland gilt das wohl auch, aber abgeschwächt.

Wir sollten also reden?

Kellnerin in einem typisch amerikanischen Diner: Etwa 80 Prozent der Erwerbstätigen in den USA arbeiten im Dienstleistungssektor. Ein großer Teil der Jobs ist prekär und schlecht bezahlt. Das gilt umso mehr für die etwa elf Millionen Menschen, die sich illegal im Land aufhalten

Ich bin weder optimistisch noch pessimistisch. Heute ist vieles möglich. Die Hegemonie ist erschüttert, ein wenig wie in den 60er Jahren. Der Widerstand gegen Trump ist stark. Das zeigt eine Anekdote: Trump sollte traditionellerweise beim Eröffnungsspiel der Major Baseball League den ersten Ball werfen. Ihm wurde aber davon abgeraten, da wahrscheinlich war, dass er ausgebuht würde.Es bilden sich gerade beeindruckende linke Koalitionen. Menschen aller Altersklassen politisieren sich. Mit einem progressiven Populismus, wie ihn Sanders betreibt, können sie erreicht werden. Zu dieser neuen Linken gehören aber eben auch Kurskorrekturen, hin zu einer solidarischen Linken. Diese kämpft um soziale Gerechtigkeit und für Emanzipation und Vielfalt. ■ zum Text Das Interview erschien zuerst in der TAZ vom 2. Mai 2017. Wir bedanken uns für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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USA | NAZIS IN DEN USA

Nazis in den USA Seit Trump im Weißen Haus sitzt, ist viel geschrieben worden über die Gefahr eines neuen Faschismus in den USA. Wenig bekannt ist hingegen, wer die tatsächlichen Faschisten in Amerika sind, was sie wollen und was sie tun. Wir klären auf VON BILL CRANE

Pepe der Frosch, im amerikanischen Original bekannt unter der Bezeichnung Pepe the Frog, ist ein Onlinephänomen, das seit einigen Jahren in zahlreichen Formen im Internet kursiert. Seit 2015 hat sich die faschistische »alt-right«-Bewegung das Symbol zunehmend angeeignet

Bill Crane ist Mitglied der International Socialst Organization (ISO) und lebt in South Carolina.

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on Indien bis Ungarn und von Frankreich bis in die USA: Der Faschismus befindet sich im Aufschwung. Spätestens seit der Wahl von Donald Trump steht die extreme Rechte auch in Amerika wieder im Rampenlicht. Trumps Kampagne und seine Wahl wurden im ganzen Land von rechtsradikalen Mobilisierungen begleitet – vom Ku-Klux-Klan (KKK), der in North Carolina aufmarschierte bis zur NeonaziWebsite »The Daily Stormer«, die zu einem antisemitischen Aufmarsch in Montana aufrief. Die vor allem im Internet aktive »alt-right«Bewegung (deutsch etwa »alternative Rechte«) produziert längst nicht mehr nur Memes, sondern macht Schlagzeilen bei CNN. Die Berichterstattung über die faschistische Rechte in den USA ist in Europa, aber auch in Amerika selbst, bislang ziemlich dünn und geht selten über eine bloße Beschreibung des Phänomens hinaus. Statt einer soliden Analyse handelt es sich meist lediglich um liberale Hysterie. Was aber sind die Wurzeln des Faschismus in Amerika, wie entwickelt er sich und wie ist sein Verhältnis zu dem Chauvinis-

ten im Weißen Haus? Die »alt-right« ist genau wie das Milieu, dem sie entsprungen ist, ein modernes Phänomen. Doch extrem reaktionäre Politik ist auch in Amerika alles andere als neu. Das ist eine direkte Folge der Paradoxie der Gründungsgeschichte der USA: Während die Gründerväter sich im Gewand eines radikalen und sogar antikolonialen Republikanismus präsentierten, beruhte ihre »egalitäre« Demokratie auf gleich zwei welthistorischen Verbrechen: der Versklavung der Schwarzen und dem Genozid an der amerikanischen Urbevölkerung. Die politische Atmosphäre in den USA ist seither systematisch durchdrungen von rechtspopulistischen Einstellungen: Eine Politik, die zwar vorgibt einem Gleichheitsprinzip zu folgen und sich gegen die Eliten zu wenden, die aber gleichzeitig die Unterdrückten angreift — Indigene und Schwarze genau wie die Millionen Zugewanderte von überall auf der Welt.

Rechtsradikale Mobilisierungen im ganzen Land

Die Ursprünge der gegenwärtigen faschistischen Bewegung in Amerika liegen im frühen 20. Jahrhundert. Im Jahr 1916 wurde der KKK gegründet. In sei-


USA | NAZIS IN DEN USA

Die aktivistische extreme Rechte in Amerika ist heute ein unübersichtlicher Flickenteppich verschiedener Gruppen und Bewegungen. In vielen ländlichen Regionen dominieren Milizen und Waffenbruderschaften, die sich zusammenschließen, um gegen die US-Regierung zu opponieren. Auch der Klan ist nach wie vor aktiv — wenn auch gespalten in viele einzelne lokale Gruppen. Auch Neonazi-Gruppierungen wie der »Aryan Brotherhood« (Arische Bruderschaft) ist es gelungen, landesweite kriminelle Vereinigungen aufzubauen. Dennoch bilden solche Strömungen eine Minderheit innerhalb der radikalen Rechten. Die »alt-right« ist eine neue Entwicklung, die sich mehr oder weniger unabhängig von den traditionellen Kräften der extremen US-Rechten vollzogen hat. Sie verkörpert das Zusammentreffen von drei verschiedenen Kräften: einer neuen Gene-

ration von Verfechtern der Vorherrschaft der Weißen, den sogenannten Paläokonservativen und der ultrasexistischen Männerrechtsbewegung. Bereits in den 1980er und 90er Jahren versuchten Teile der faschistischen Rechten, aus ihrer politischen Isolation auszubrechen. Dabei wurden sie maßgeblich inspiriert von der europäischen »Neuen Rechten«, die schon früher damit begonnen hatte, ihre faschistische Ideologie zu modernisieren, indem sie liberale und linke Themen aufgriff und ihre Überzeugung von der Überlegenheit der europäischen Kultur und der »weißen Rasse« hinter den Konzept des Ethnopluralismus versteckte. Die »alt-right«-Bewegung hat viel von dieser Ideologie übernommen. Richard Spencer, der den Begriff »altright« geprägt hat, hat den Faschismus neu erfunden als Identitätspolitik für weiße Amerikaner. Die Ursprünge des Paläokonservatismus liegen in der Opposition der Republikaner gegen Präsident Franklin Roosevelt und seinen »New Deal« in den 1930er Jahren. Ideologisch zusammengehalten wurde die Bewegung durch ihren Widerstand geEine Frau mit Donald Trump T-Shirt streckt während einer Auseinandersetzung mit Gegendemonstranten die Hand zum Hitlergruß. © E. Jason Wambsgans / MBR Twitter

ner Hochphase hatte er drei Millionen Mitglieder. Die Mission des KKK bestand darin, weißen Männer die uneingeschränkte Kontrolle über die Arbeitskraft der schwarzen Bevölkerung zurückzugeben sowie die »Tugendhaftigkeit« der weißen Frauen zu bewahren. Dazu setzte der Klan auf paramilitärische Organisierung, ihre berühmten nächtlichen Ritte und Kreuzverbrennungen sowie auf Angriffe auf Schwarze und auch Weiße, die er als Abweichler von der Idee der weißen Reinheit betrachtete. Die Klassenbasis des Klans bildete das sich im sozialen Abstieg befindliche Kleinbürgertum. Eingezwängt zwischen der Zentralisierung des Kapitals sowie der Militanz der Arbeiterklasse und der Unterdrückten, neigt diese Klasse zu einer reaktionären Ideologie. Der KKK sah eine Verschwörung von Schwarzen, Kommunisten, jüdischen Finanzkapitalisten und der Katholischen Kirche am Werk. Gegen diese angeblich verkommenen Einflüsse forderten die KlanFührer die Wiederherstellung der Herrschaft der amerikanischen Gründerväter — eine weiße Republik der Mittelklassen. Die Ursprünge des Klans fallen in die gleiche Zeit wie das Aufkommen faschistischer Bewegungen in Europa. In den 1920er und 30er Jahre gab es in den USA viele Parallelen zum faschistischen Moment auf dem alten Kontinent – es wimmelte vor reaktionären Bewegungen und Organisationen. Doch das faschistische Moment blieb in den USA unerfüllt. Die Verfolgung der Linken in den 1950er Jahren schuf allerdings eine Atmosphäre, in der die faschistische Rechte sich als anständige Antikommunisten gerieren und erstarken konnte. Die »John Birch Society« entstand in dieser Zeit, genau wie die Neonazi-Bewegung, die eine sehr eigenwillige Version der weißen Vorherrschaft des Christentums mit der Vergötterung Hitlers verband. Auch der KKK wurde in den 1950er Jahren wieder aufgebaut und stieß in der Bewegung für Rassentrennung auf fruchtbaren Boden.

gen den angeblich aufgeblähten Staatssektor und eine allmächtige Regierung sowie durch eine Betonung der traditionellen Werte des angelsächsischen Protestantismus. Diese Ideen teilen sie mit der traditionellen radikalen Rechten, genau wie ihren Antikommunismus und ihre Gegnerschaft zu den sozialen Bewegung der 1960er Jahre. Im Unterschied zu den Neokonservativen stehen die Paläokonservativen der interventionistischen US-Außenpolitik ablehnend gegenüber. Von ihnen übernahm die »altright« ihre Forderung nach Dezentralisierung sowie ihre Opposition zum amerikanischen Imperialismus und im Besonderen zur Allianz mit Israel. Die Männerrechtsbewegung ist ein noch jüngeres Phänomen, das als Reaktion auf die Erfolge des Feminismus aufkommen ist. Sie ist sehr divers und umfasst sowohl die sogenannte Pickup-Artist-Szene, Vertreter der Väterbewegung sowie einige Kulturkrieger der Videospiel- und Science-FictionCommunity. Was sie vereint, ist ihre Verachtung

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USA | NAZIS IN DEN USA

von Frauen und ihr Antifeminismus. Die »alt-right« hat von dieser Gruppierung ihre Orientierung auf Online-Aktivismus, Memes und Jugendkultur übernommen. Viele Aktivisten der »alt-right« sahen in der Männerrechtsszene eine erfolgreiche Bewegung, über die sie ein größeres Publikum erreichen

Trump ließ die Herzen der Faschisten höher schlagen

mer Nenner. Von Anfang an setzte Donald Trump in seiner Präsidentschaftskampagne auf Themen, die die Herzen der faschistischen Rechten in den USA – der »neuen« wie der traditionellen – höher schlagen ließen. Das gilt für die Islamfeindlichkeit, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 den Antisemitismus in der faschistischen Rhetorik weitgehend ersetzt hat, genauso wie für die Hetze gegen Zugewanderte aus Lateinamerika, welche die US-Faschisten als Teil des gegenwärtigen »Genozids an

© Wikimedia / Fibonacci Blue

»Deplorables und alt-right vereint« steht auf dem Plakat eines rechten Trump-Anhängers über einer Zeichnung von »Pepe dem Frosch«. Hillary Clinton hatte während ihrer Präsidentschaftskampagne auf einer Veranstaltung in New York von einem »Basket of deplorables« (deutsch: »Korb der Kläglichen/Bedauernswerten«) gesprochen, in den sie die Hälfte der Anhänger Trumps steckte. Dies wurde von vielen als Beleidigung aufgefasst. TrumpUnterstützer griffen die Bezeichnung »Deplorables« jedoch auch auf und verwendeten sie als Eigenbezeichnung

könnten. Die »alt-right« heute ist eine lose verbundene faschistische Bewegung, die in erster Linie im Internet existiert. Ihre organisatorischen Zentren sind Webseiten wie »Occidental Dissident«, »The Right Stuff« oder »Attack the System«. Zudem ist sie zunehmend in den sozialen Medien und Online-Netzwerken präsent. Ihre Ressourcen außerhalb des Internet sind jedoch ziemlich dürftig, was einen entscheidenden Unterschied zu den paramilitärischen Milizen, klassischen Neonazis und dem KKK darstellt. Die »alt-right« ist enorm vielfältig: Sie umfasst sowohl Neonazis, die mit offen zur Schau gestellter Hitler-Verehrung schockieren wollen, rechte Anarchisten, Vertreter eines primitiven »männlichen Tribalismus«, bis hin zu Aktivisten, die die Akzeptanz des Mainstreams suchen, indem sie »Vielfalt« betonen und sich in Hipster-Ästhetik üben. Allerdings steckt hinter dieser Spaltung in verschiedene Strömungen eher eine Arbeitsteilung innerhalb der Bewegung als ernsthafte ideologische Kontroversen. Nationalistische Politik für Weiße ist ihr gemeinsa-

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den Weißen« sehen. Und auch Trumps »America First«-Ideologie und seine anfängliche Ablehnung der Einmischung in Kriege im Ausland passten zu den Ideen der Faschisten. Trumps Aufstieg wurde von Verfechtern der »weißen Vorherrschaft« und der eher traditionellen extremen Rechten überschwänglich gefeiert. Sie scheiterten aber daran, gezielt in seine Kampagne zu intervenieren und sie für den Aufbau ihrer Organisationen zu nutzen. Die »alt-right« war die erste rechtsradikale Gruppe die sich als Organisation hinter Trumps Kampagne stellte. Bereits in der frühen Phase seiner Kandidatur unterstützten sie ihn durch Bedrohung und Bloßstellung seiner Gegner im Internet. Zu ihrem Markenzeichen gehören Memes mit »Pepe dem Frosch«, einer zum Internetphänomen avancierten Comicfigur. Während des Wahlkampfs verbreiteten sie zahlreiche Pepe-Bilder mit Hitlerbart und NaziUniform und auch mit der Frisur Trumps. Mindestens eines dieser Bilder retweetete Trump selbst. Durch Trump erreichte die »alt-right« die Aufmerksamkeit der Mainstream-Medien. Der Höhepunkt


USA | NAZIS IN DEN USA ANZEIGE

ihrer Berühmtheit folgte allerdings erst nach Trumps Wahl, als auf einer Konferenz des »National Policy Institute« – dem wichtigste Thinktank der »alt-right« – ihr Anführer, Richard Spencer, in die enthusiastische Menge rief: »Heil Trump, Heil uns allen, Sieg Heil!« Zahlreiche Zuhörer hoben daraufhin den Arm zum Hitlergruß. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem Rechtspopulismus von Trump und dem Faschismus der »alt-right«. Letztere verfolgt einen revolutionären Weg anstatt eines reformistischen. Die Anhänger der »alt-right« glauben nicht daran, dass die USA und ihre Institutionen so fundamental reformiert werden können, wie sie es für nötig halten. Ihr Ziel ist ein oder mehrere ethnisch homogene »weiße« Staaten, die aus der Zerstörung der USA erwachsen sollen. Seit Beginn seiner Präsidentschaft hat sich Trump auf die interventionistische Außenpolitik des US-Establishments zubewegt und Israel unterstützt. Das hat den Widerstand sowohl der paläokonservativen als auch der Nazi-Strömungen innerhalb der »alt-right« hervorgerufen. Die Kader der »alt-right«-Bewegung sehen sich als die radikale Speerspitze von Trumps politischer Basis. Als Fürsprecher extrem rassistischer Positionen, die unvereinbar mit dem US-Mainstream sind, lassen sie Trumps Rassismus weniger radikal erscheinen. Ihre Opposition zum Establishment der Republikaner hat den Diskurs innerhalb der Partei verschoben. Junge Konservative geraten zunehmend unter den Einfluss von faschistischen Ideen. Obwohl Trump und seine Unterstützer aus dem faschistischen Milieu in vielen Fragen getrennte Wege gehen, sind sie eine Art symbiotische Beziehung eingegangen und ihr Einfluss könnte noch zunehmen, wenn Trump auf weiter wachsenden Widerstand stößt. Trump ist es gelungen, mit seinen Forderungen eine Mauer an der mexikanischen Grenze zu bauen, Einwanderung aus muslimischen Ländern zu verhindern und Massenabschiebungen durchzuführen, ein großes Publikum zu erreichen. Während bei weitem nicht alle Wählerinnen und Wähler Trumps diese Maßnahmen unterstützen – die Zahl der Menschen, die seine Kundgebungen besuchten, ist nur ein Bruchteil seiner Wählerbasis – ist es dennoch ein wesentlich größerer Teil der Bevölkerung, als ihn die faschistische Rechte – ob traditionell oder »alt-right« – je hätte ansprechen können. Der typische Trump-Unterstützer reiht sich ein in das klassische Wählerprofil der radikalen Rechten: männlich, weiß, mittleres bis höheres Einkommen, kleine Geschäftsleute, aber auch Manager und Hochqualifizierte. Die entscheidende Frage ist, inwiefern es den Faschisten gelingt, das Denken von gewöhnlichen Trump-Unterstützern zu beeinflussen. Jede Entwicklung in diese Richtung muss von der US-Linken verfolgt, analysiert und bekämpft werden. ■

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Trump entdeckt sich als Feldherr

© LUSHSUX / twitter.com

USA | Trumps AuSSenpolitik

Angetreten ist Donald Trump mit dem Versprechen, die USA aus Kriegen möglichst herauszuhalten. Jetzt bombardiert er Syrien, zündet eine »Megabombe« in Afghanistan und forciert eine mögliche nukleare Eskalation mit Nordkorea. Was ist los mit Präsident Trump? Eine Spurensuche VON DER MARX21-Redaktion

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ie Serie von militärischen Vorstößen und Schlägen der USA seit der Machtübernahme durch Donald Trump ist auffällig: Irak (Mossul), Jemen, Afghanistan, Syrien und jetzt das Hochschaukeln der Spannungen mit Nordkorea – als Oberbefehlshaber der US-Armee spielt Trump mit dem Feuer. Ein Grund dafür ist sicher die innenpolitische Lage in den USA. Von Trumps großspurig angekündigten Projekten – Einwanderungsstopp für Muslimas und Muslime, Mauerbau an der mexikanischen Grenze, Abschaffung von Obamacare (Krankenversicherung) oder Einrichtung von Importzöllen – ist wenig bis nichts übriggeblieben. Die Proteste gegen ihn halten an, seine Umfragewerte sind so rasch gefallen wie noch bei keinem anderen Präsidenten. Sein Raketenangriff auf Syrien hat dagegen den Beifall der westlichen Eliten und sogar der SPD in Deutschland gefunden.

der strategischen Geduld« mit dem Atomprogramm des Diktators Kim Jong Un am Ende sei. Kurz zuvor hatten die USA und Südkorea ihre bisher größten M i litärmanöver nahe der nordkoreanischen Grenze abgehalten. Über 17.000 US-Soldaten und 300.000 südkoreanische Soldaten nahmen daran teil, und der US-Luftwaffenstützpunkt Kadena in Japan schloss sich mit einem simulierten Überraschungsschlag an. Das Säbelrasseln heizte die US-Regierung mit der Entsendung des »SuperFlugzeugträgers« USS Carl Vinson in die Gewässer vor der koreanischen Halbinsel und des Atom-UBoots USS Michigan in den Hafen Busan von Südkorea weiter an. Zuvor hatte Donald Trump einen Militärschlag gegen Nordkorea nicht ausgeschlossen.

Trump spielt mit dem Feuer

Seine Kriegstreiberei ist mehr als eine Reaktion auf sinkende Umfragewerte an der Heimatfront. Sie ist vor allem ein Versuch, die verlorene Vorherrschaft der USA als Weltmacht zurückzugewinnen. Aber dieses imperiale Schaulaufen führt zu einer gefährlichen Konfrontation mit rivalisierenden Mächten. Sein neuester Schachzug brachte die Zuspitzung der Spannungen mit Nordkorea. Als Trumps Vize-Präsident Mike Pence die entmilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea besuchte, sagte er, dass die »Zeit

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Aber auch mit diesen Drohgebärden lässt sich die US-amerikanische Vormachtstellung nicht einfach wieder herstellen. Nordkoreas Diktator Kim Jong Un hat mit neuen Raketentests (die allerdings fehlschlugen) reagiert und mit der Ankündigung von Gegenschlägen gedroht. Die USA haben damit begonnen, das Raketenabwehrsystem THAAD in Südkorea zu stationieren. China hat zwar Kim aufge-


USA | Trumps AuSSenpolitik

fordert, sein Atombombenprogramm einzustellen, andererseits hat es den Aufbau des US-Antiraketensystems scharf verurteilt.

»Der Irre mit der Bombe« sitzt heute nicht mehr nur in Pjöngjang: Am 13. April ließ US-Präsident Donald Trump eine Massenvernichtungswaffe über Afghanistan abwerfen

Trumps gefährliches Säbelrasseln richtet sich nicht nur gegen Nordkorea. Seit dem Ende des Kalten Kriegs ist China wirtschaftlich und militärisch zu einer führenden Regionalmacht Südostasiens aufgestiegen. Imperialistische Rivalitäten zwischen Japan, den USA, China und anderen Regionalmächten um die Kontrolle von Ölvorkommen im südchinesischen Meer sind schon unter Obama eskaliert. Trump hat, um Chinas Unterstützung für Nordkorea auszuschalten, den Schalter umgelegt. Er hat bisher darauf verzichtet, Importzölle auf die Einfuhr chinesischer Waren in die USA zu erheben, dafür erwartet er Unterstützung oder zumindest Neutralität von China im Konflikt der USA mit Nordkorea. China hat einen »netten Präsidenten«, twitterte Trump Ende April. China hat sogar gedroht, seine Öllieferungen an Nordkorea einzuschränken, doch es ist zu bezweifeln, dass die Herrschenden in China nur zuschauen werden, wenn Trump und seine Generäle versuchen sollten, Kim auszuschalten. Trump mag sich in seiner neuen Rolle als Kriegspräsident gefallen. Aber das ändert nichts daran, dass ihm auch außenpolitisch enge Grenzen für vorzeigbare »Erfolge« gesetzt sind. Der britische Marxist Alex Callinicos erinnert an Trumps Vor-Vorgänger: »Trump mag sich als Herr der Welt fühlen, wenn er mit seinen Generälen zusammensitzt. Andere Präsidenten vor ihm kannten dieses erhebende Gefühl ebenfalls. George W. Bush nannte sich einen »Entscheider« (»decider«) und führte die USA in eine der schlimmsten militärischen Niederlagen ihrer Geschichte. Auch Trump wird die Grenzen der Macht der USA bald zu spüren bekommen.« Der Einsatz der Mega-Bombe in Afghanistan ändert nichts daran, dass die USA nach 16 Jahren Krieg ihrem Ziel nicht näher gekommen sind, die Taliban und deren Bündnispartner zu besiegen. Nach dem Raketenangriff auf Syrien hat Trump darauf verzichtet, weitere Schritte zum Sturz von Bashar alAssad zu unternehmen. Wahrscheinlich haben ihn seine Generäle – angeführt von H. R. McMaster und Kriegsminister James Mattis – gewarnt, dass die USA einen Krieg in Syrien verlieren würden. Das will auch Trump nicht riskieren. ■

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Theorie | Medienmacht im Kapitalismus

»Lügenpresse«? Medienmacht im Kapitalismus

99,5 Prozent der am Kiosk verkauften Tageszeitungen gehen in Deutschland auf das Konto der fünf größten Verlagsgruppen. Die Medienmacht ist in der Hand weniger Milliardäre und Millionäre. Lügenpresse? Vertrauensverlust? Pressefreiheit? Die Debatten gehören in den Kontext der Besitzverhältnisse Von Ulrike Sumfleth

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Theorie | Medienmacht im Kapitalismus

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ber 99 Prozent – Das sind die Forschungsergebnisse von Horst Röper in seiner Untersuchung »Zeitungsmarkt 2016«. Der wahre Skandal ist, dass diese Zahl anscheinend kein Skandal ist. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass »die Medien« weltweit im Besitz milliardenschwerer Konzerne sind, dass wir uns fast gar keine andere Medienkultur mehr vorstellen können. Oder doch? Ich möchte an dieser Stelle wenig bekannte Themen einführen, die im Rahmen der Debatten über »Lügenpresse«, Pressefreiheit und Umverteilung eine Rolle spielen sollten. Wer über »Lügenpresse« diskutiert, landet meist in einer Sackgasse: Man zankt über journalistische Ergebnisse. Guter Artikel, mieser Beitrag… Das lenkt perfekt ab von darunter verborgenen Problemen. Es ist wichtig, diese Oberfläche abzulehnen und stattdessen zu fragen: Was sind denn die Ursachen für den Vorwurf »Lügenpresse«? In welcher Verbindung steht er mit der Geldmacht der Medienkonzerne? Zur Bundestagswahl verstärkt die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam ihre Kampagne gegen Armut. Ihr Bericht besagt: Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt die Hälfte des Weltvermögens. Auch das Bündnis »Reichtum umverteilen«, an dem etwa 30 Initiativen beteiligt sind (u. a. Verdi, attac, Arbeiterwohlfahrt), stößt in diese Richtung. Die Beteiligten fordern eine Vermögenssteuer und eine reformierte Erbschaftssteuer für Millionäre und Milliardäre. Es geht um Geldmacht – und das ist richtig so. Was aber noch hergestellt werden muss, ist die Verbindung von Vermögensmacht und Medienmacht. Denn unser Pressemarkt wird von Superreichen beherrscht. Milliardäre sind Springer, Bauer, Burda und Bertelsmann. Auf der Millionärsebene folgen Medien Union, Holtzbrinck-Verlag, Dieter von Holtzbrinck Medien, Funke, Münchner Merkur, M. DuMont Schauberg und Spiegel-Gruppe. Diese elf teilen sich im Wesentlichen den Pressemarkt auf. Wenn also immer mehr Menschen den Massenmedien misstrauen, dann müssen wir fragen: Wem gehören diese Medien? Und: Was gehört ihnen noch? Journalisten sind Geiseln des Systems. Sie können nicht in der Presse über ihre Probleme berichten. Ihre Selbstbeschreibungen sind positiv. Ein anderes Bild erlangt man, wenn man sich ihre Arbeitsmarktsituation vor Augen führt. Diese beginnt bei dem irreführenden Begriff »Verlage«. Die Platzhirsche sind nämlich Konglomerate. Gemischtwarenkonzerne, die weltweit mit Waren und Dienstleistungen handeln, die nichts mit Journalismus zu tun haben. Ihre natürlich real vorhandenen Redaktionen und sonstigen Medien sind nur ein zweckdienlicher Teil davon. Konglomerate be-

herrschen die Massenmedien mehr denn je. Unabhängige Verlage mit Selbstzweck-Journalismus gibt es kaum noch. Wie lange kann sich eine Demokratie das leisten? Wenig weiter bringt uns die ständige Forderung nach »mehr unabhängigen kleinen Verlagen«. Was wir stattdessen brauchen, sind mehr große unabhängige Verlage! Allein große unabhängige Redaktionen mit Selbstzweck Journalismus hätten die Chance, den Multis etwas entgegenzusetzen. Der Alltag von Journalisten ist Lichtjahre davon entfernt. Es gibt kaum noch Jobs außerhalb der Konzerne. Seit der Jahrtausendwende wurden Journalisten massenhaft entlassen, outgesourct und prekarisiert. Das Marketing bestimmt die Inhalte, Controller regieren. Der Profitmaximierung hat sich alles unterzuordnen.

Ulrike Sumfleth ist Journalistin und Dozentin für Kampagnenstrategie. Im Mai 2017 erscheint ihre Publikation »Verlagskonzerne und ihr Märchen von der Pressefreiheit«.

Die Konzernstruktur programmiert internen Lobbyismus Im Inneren der Redaktionen werden Journalisten zu diesem Zweck instrumentalisiert. Politisch durch Nicht-Herstellung von Zusammenhängen. Durch Inhalte, die nur kritisch sein dürfen, solange sie nicht die eigenen Machtverhältnisse in Frage stellen. Hier hebelt die »Lügenpresse«-Diskussion unbeholfen an. Die Medienwissenschaft erklärt den Vertrauensverlust in die Presse so: Die Funktion der Massenmedien besteht in Herstellung und Absicherung des verbindlichen Sinnhorizonts einer Kultur – in der Bestimmung all dessen, was als »wahr und wirklich« gilt (Niklas Luhmann). Einen objektiven Zugang zur Wirklichkeit gibt es nicht. Wirklichkeit stammt von wirken, arbeiten. Sie ist ein Produkt menschlicher Tätigkeit. Medien konstruieren »Wirklichkeit« durch hochgradige Selektion – sie wählen aus. Ein Beispiel, wie diese Auswahl stattfindet, lieferte kürzlich eine Studie des SPD-Politikers Marco Bülow. Er zeigte, wie »einseitig und verzerrend« ARDZDF-Talkshows in ihrer Themenwahl sind. In jeder zweiten von 204 Sendungen der vergangenen eineinhalb Jahre ging es um Islam, Flüchtlinge, Terrorismus, Extremismus. Armut war nur sechsmal Thema. Klimawandel kam gar nicht vor. Was wir öffentliche Diskurse nennen, ist darum auch nur eine Simulation. Solange die Presse den Nerv der Zeit trifft, geht das gut. Wird die Wirklich-

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Theorie | Medienmacht im Kapitalismus

keit jedoch als völlig anders empfunden als das Geschilderte, erweckt das zurecht den Verdacht, »belogen« zu werden. So etwa bei der Berichterstattung über Griechenland in der Schuldenkrise oder über den Krieg in der Ukraine. Schaut man sich nun an, unter welchen Bedingungen Massenmedien ihre Sicht von »Wirklichkeit« basteln, landet man bei ihrer Struktur. Ihre Struktur als Gemischtwarenkonzern programmiert Interessenkonflikte. Um die ausufernden Geschäfte zu unterstützen, werden Journalisten zu Promotion-Handlangern instrumentalisiert. Sie machen »Schleichwerbung« in vielen Formen. Dies geschieht zum Teil sogar unwissentlich, weil sie gar nicht erfahren, woran sich ihr Arbeitgeber beteiligt.

griff bei uns kaum Thema ist, scheint es hier kein Problem zu geben. Ein Trugschluss. Nur die Inhaber genießen Pressefreiheit. Sie gilt nicht für ihre rund 20.000 Journalisten. Zusätzlich setzt das boomende Content Marketing der Glaubwürdigkeit der Presse zu: Journalismus und Pseudojournalismus sind immer weniger unterscheidbar. Wir haben ein Bio-Label auf Äpfeln, aber keine Definition, was Journalismus von PR abgrenzt? Auch das muss sich ändern. Zumal die Konzerne selbst große ContentMarketing-Agenturen betreiben.

Nur die Inhaber genießen Pressefreiheit

Bisherige Untersuchungen über Lobbyismus unterstellen ein veraltetes Modell: Dass externe Unternehmen versuchen würden, Einfluss zu nehmen. Es wird davon ausgegangen, dass die Verführer zur Umwelt gehören. Diese drohen zum Beispiel mit Anzeigenboykott oder bestechen Redakteure. Dieses Modell ignoriert, dass ein rasant wachsender Anteil der Firmen den Konglomeraten selbst gehört. Diese zählen nicht zur Umwelt des Konzerns, sie sind ein Teil von ihm. In dieser Kategorie handelt man unter Kollegen. Der Druck wird von innen heraus ausgeübt. Eine Medienstatistik über Marktanteile besitzt die Politik nicht. Diese hat sie 1996 abgeschafft. Just, als die größte Umwälzung der Mediengeschichte begann. Ebenso fehlt eine zentrale Medienaufsicht. Bei uns ist sie in ca. 18 Instanzen zersplittert und Ländersache. Als machten Medien vor Grenzen halt. »Pressestatistiken« sind entsprechend irreführend. Sie ermitteln nicht die Macht aller Medien eines Konzerns insgesamt. Die Konzentration wird systematisch unterschätzt. Ignoriert werden etwa publizistische Verflechtungen und die Konzentration bei Druck und Vertrieb. Der gesetzliche Rahmen wird immer mehr verschoben. Das Kartellrecht ist nur an wirtschaftlicher Macht orientiert. Es gibt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Global Playern Vorfahrt vor dem nationalen Wettbewerb. Entmutigend ist auch unser Betriebsverfassungsgesetz. Paragraf 180 verhindert innere Pressefreiheit. Die politische Tendenz bestimmt der Verleger allein. Bei »Pressefreiheit« wird stets auf staatliche Verletzungen wie in der Türkei verwiesen. Weil Staatsein-

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Was es braucht, um der Medienmacht der Konglomerate etwas entgegenzusetzen, ist eine starke Gegenöffentlichkeit. Linke Parteien, Organisationen, Verlage, Gewerkschaften und soziale Bewegungen sind hierbei zentral. Dass dies erfolgreich sein kann, zeigte sich jüngst in der Anti-TTIP-Bewegung, die trotz Geringschätzung der Konzernmedien eine halbe Million Menschen auf die Straße brachte. Genauso wichtig ist es jedoch, die Besitz- und Machtverhältnisse der Konzernmedien in den Blick zu nehmen und so eine linke Perspektive in die Debatte über »Lügenpresse« und »Vertrauensverlust« zu tragen. Dazu möchte ich mit meiner im Mai erscheinenden Broschüre einen Beitrag leisten. ■

HINTERGRUND

Verlage? Wie Satelliten umschwirren pressefremde Geschwisterfirmen die Redaktionen. Kann man unter solch einem Dach unabhängigen Journalismus betreiben? Zu den Beteiligungen der elf größten deutschen Medienkonzerne zählen IT-Lösungen für Luftfahrt und Militär, Steuerung von Bürgerbüros, Stadtmarketing für deutsche Städte, Inkassomanagement, Lotterie, Jobportale, Techniktests, Postauslieferung, Finanzdienstleistungen, Autohandel, Immobiliensuche, Retourenmanagement, Wettervorhersage, Verwaltung von Krankenhausprodukten, Heimwerkerbedarf, Hotelbewertung, Callcenter für Fluggesellschaften, technische Startups, Kinder-Lernplattformen, Altenbetreuung, Erotikportale, Partnervermittlung und Zoobedarf.


Inland | Interview mit Geflüchteten

Mona, du hast ein sehr langes Gespräch mit einer aus Syrien geflohenen Familie geführt. Welchen zeitlichen Rahmen umfasst es? Wir haben fast den ganzen Tag miteinander verbracht, uns zunächst etwas kennengelernt und gemeinsam gegessen. Wir haben über ihren Alltag in Syrien gesprochen und wie sich dieser seit dem Ausbruch der Revolution 2011 verändert hat, über ihre persönlichen Gründe Syrien 2015 zu verlassen und sehr ausführlich über die Flucht selber. Am Ende hatte ich über drei Stunden Tonmaterial. Auf welchem Weg sind Yasmeen und Mohammad nach Deutschland gekommen? Bis in die Türkei sind sie aus Sicherheitsgründen getrennt gereist: Yasmeen ist mit den beiden kleinen Kindern auf Umwegen mit dem Bus gefahren und Mohammad ist zu Fuß gegangen. Dann folgten sie der sogenannten Balkanroute entlang – inklusive tagelanger Fußmärsche und einer dramatischen Schlauchbootfahrt.

Von Angst und Gefahren der Flucht Was hat dich an der Geschichte von Yasmeen und Mohammad am meisten berührt? Es ist die Geschichte einer Flucht – natürlich ist das insgesamt sehr traurig. Besonders bewegt hat mich zum einen, als Yasmeen erzählte, dass ihre Schwangerschaft der letzte Anstoß zur Flucht war. Die meisten Frauen in Syrien lassen deutlich vor der Zeit einen Kaiserschnitt durchführen, weil sie nie wissen können, ob sie, wenn die Geburt natürlich losgeht, den Weg zum Krankenhaus schaffen oder überhaupt dorthin dürfen. Um dieser Situation zu entgehen und auch die notwendige medizinische Hilfe für ihren Sohn zu bekommen, hat sich die Familie zur Flucht entschieden. Sehr eindrücklich war auch Mohammads Schilderung, wie türkische Soldaten ihn an der Grenze zusammenschlugen. Es fiel

»Die Anonymität brechen« Die Stichwörter haben alle schon gehört: Bürgerkrieg, Schlauchboot, Balkanroute. Aber wie fühlt sich eine Flucht für eine Familie wirklich an? Mona Mittelstein hat ein ausführliches Interview mit einer Familie aus Syrien aufgezeichnet Interview: Jan Maas

Mona Mittelstein

Mona Mittelstein ist Mitglied der LINKEN in Lübeck. Ihr ausführliches Interview mit Yasmeen und Mohammad erscheint auf unserer Website marx21.de – dort gibt es auch eine PDF-Fassung des Textes.

ihm spürbar schwer darüber zu sprechen – die Atmung wurde flacher, die Stimme gepresst, der ganze Körper angespannt, als er über den Moment sprach, in dem er dachte, »die bringen mich jetzt um!« Die gesamte Flucht war auf der einen Seite geprägt von Angst und Gefahren und auf der anderen Seite von Menschen, die aus dieser Not Kapital geschlagen haben. Man kann ganz gut nachvollziehen, wie so eine Flucht das komplette Vermögen einer Familie verschlingen kann. Wie hast du Yasmeen und Mohammad kennengelernt? Ich kenne Yasmeens Bruder und dessen Familie schon seit vielen Jahren und bin eng mit ihnen befreundet. Darum sprechen wir natürlich auch immer viel über die Familie, die noch in Syrien ist beziehungsweise war und über ihre Sorgen und Ängste. Ich war sehr erleichtert, als mir dann erzählt wurde, dass zumindest Yasmeen und ihre Familie es bis hier geschafft haben und jetzt in Lübeck angekommen sind und freute mich darauf, sie kennenzulernen. Warum findest du es wichtig, einer geflüchteten Familie so viel Raum für ihre Geschichte zu geben? Ständig werden Zahlen genannt: Wie viele sind wann und wo angekommen. Viele nehmen die Geflüchteten als Störfaktor, als »Flüchtlingskrise« wahr. Hier kommen aber nicht Zahlen an, sondern Menschen. Die Geschichten überschneiden sich an vielen Stellen miteinander, an anderen aber auch nicht. Mir war es wichtig, zu hören, was es bedeutet, alles aufzugeben und sich auf extrem gefährlichen Wegen in eine ungewisse Zukunft, in ein fremdes Land mit fremder Sprache zu begeben. Und mir auch von ihrem Leben davor erzählen zu lassen. Diese Menschen haben ja nicht nur ihre vertraute Umgebung zurück gelassen, sondern oft auch Familienmitglieder und ihre Träume. Von solchen oft traumatisierenden Erlebnissen zu hören bricht die Anonymität. Der Erzählende wird zum Gegenüber und ist keine Zahl und kein austauschbares Gesicht mehr. Viele meinen, »jetzt sind die ja hier und alles ist gut«, aber das stimmt nicht. Geflüchtete tragen ihre Geschichte mit sich und müssen damit leben. ■

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Debatte | Ist Flucht Klassenkampf?

Bedingungslose Solidarität mit Menschen in Not ist ein zentraler Grundsatz linker Politik. Aber sollten wir von Klassenkampf sprechen, wenn Menschen dieser Not entfliehen? Unsere drei Autoren geben unterschiedliche Antworten

Ralf Krämer

Ralf Krämer ist Gewerkschaftssekretär und Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE.

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unächst mal ist wichtig, dass es sich hier um eine Frage der theoretischen Analyse handelt, nicht darum, ob oder wie solidarisch wir mit geflüchteten Menschen sind. Aus marxistischer Sicht stellen die Begriffe soziale Klasse und Klassenkampf eine Beziehung her zwischen der Stellung unterschiedlicher Gruppen von Menschen in den sozialökonomischen Produktionsverhältnissen, ihren daraus resultierenden Interessen und ihrem kollektiven Handeln in der Auseinandersetzung mit anderen, gegnerischen Klassen. In allen durch kapitalistische Produktionsweise geprägten Gesellschaften besteht eine lohnabhängige bzw. arbeitende Klasse »an sich« bzw. gegenüber dem Kapital, sozusagen als sozialstatistische Kategorie. Es sind die Menschen egal, welchen Geschlechts, Alters oder

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Herkunft (und ihre Familienangehörigen), die durch Verkauf ihrer Arbeitskraft gegen Lohn bzw. Arbeitsentgelt ihren Lebensunterhalt bestreiten, vom Verkäufer im Supermarkt bis zur Technikerin bei Daimler. Ihnen gegenüber steht die Klasse, deren Reichtum auf dem Einsatz von Kapital und letztlich der Ausbeutung fremder Arbeit beruht, vom Unternehmer mit vielleicht 20 Beschäftigten bis zu den Eigentümern großer Konzerne bzw. Aktienpakete als der herrschenden Klasse oder Oligarchie im engeren Sinne. Teile der Bevölkerung gehören auch zu anderen Klassen oder Schichten. Die gleichartige soziale Stellung der Lohnabhängigen bietet die Grundlage, Spaltungen zu überwinden, gemeinsame Interessen zu artikulieren und Kämpfe für ihre Durchsetzung zu führen: für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, soziale Absicherung, weitergehend auch um Gleichheit, Anerkennung und Teilhabe, Demokratie, Frieden. Klassenformierung und Klassenmacht erfordern Kommunikation, Organisierung und kollektives Handeln. Die unmittelbaren Klassenorganisationen sind die Gewerkschaften. Zunächst »bilden die Arbeiter eine über das

ganze Land zerstreute und durch die Konkurrenz zersplitterte Masse (...) Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr. (...) immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. (...) Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren.« (Kommunistisches Manifest, MEW 4, S. 470f.) Klassenbildung vollzieht sich in dem gesellschaftlichen und staatlichen Raum, in dem reale Gemeinsamkeiten der ökonomischen, sozialen, politischen und rechtlichen Lebensbedingungen und Verhältnisse sowie der Sprache, Medien und Kultur die Grundlage und den Rahmen dafür bieten, und in dem auch gemeinsame Gegner und Adressaten für Forderungen bestehen. Das ist zunächst die Ebene der Nationen bzw. Staaten. Die Formierung der Klassen, ihrer neuen Generationen, auch in neuen Betrieben und Branchen und unter

Menschen auf der Flucht handeln nicht als Teil einer Klasse

sich ständig verändernden sozialen und politischen Verhältnissen ist ein nie abgeschlossener Prozess. Ebenso die Diskussion und der Kampf um die politische Ausrichtung der Klasse und ihrer Organisationen in Richtung Solidarität und internationale Zusammenarbeit. Menschen auf der Flucht handeln nicht als Teil einer Klasse und kämpfen nicht gegen eine andere, auch wenn ihre Not Folge des globalisierten Kapitalismus oder imperialistischer Interventionen ist, sondern suchen individu-


Debatte | Ist Flucht Klassenkampf?

ell oder als Familie ein besseres Leben. Sie haben ihre Herkunftsgesellschaften und Klassen verlassen und müssen in denen ihrer Zielländer erst ankommen und ihren Platz finden. Solidarität mit Geflüchteten und die Integration eingewanderter Bevölkerung in die arbeitende Klasse, ihre Organisationen und Kämpfe ist die klassenpolitische Herausforderung. Sie wird nicht dadurch leichter, dass man Flucht als Klassenkampf deklariert.

Raul Zelik

Raul Zelik ist Schriftsteller, Politikwissenschaftler und Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE.

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egenfrage: Handelt es sich bei einem vom Gewerkschaftsapparat organisierten Tarifkonflikt, bei dem Kolleginnen und Kollegen von den eigenen Forderungen aus der Zeitung erfahren und Hauptamtliche ihnen Trillerpfeifen in die Hand drücken, um Klassenkampf? Oder vielleicht doch nur um eine ritualisierte Aushandlungsform, mit der der Kapitalismus die Binnennachfrage regelt? Wahrscheinlich würden die meisten von uns antworten, dass viele Tarifkonflikte leider tatsächlich sehr

Ein Mann klammert sich an sein Kind, nachdem sie von mazedonischen Polizisten kurz hinter der griechischen Grenze gestoppt wurden. Einen Tag zuvor hatte Mazedonien den Notstand ausgerufen, um effektiver gegen die tausenden Flüchtenden vorgehen zu können

entpolitisiert sind, aber dass sie trotzdem die Kräftekonstellation zwischen den Klassen mitbestimmen und deshalb nicht einfach denunziert werden sollten. Dazu kommt noch ein weiterer Aspekt: Zu den wichtigsten Erkenntnissen des italienischen Neo-Marxismus der 1960er Jahre zählte die Beobachtung, dass es Kampfformen gibt, die nicht von Organisationen getragen werden und auf den ersten Blick

Migration muss vielseitig interpretiert werden

kaum zu erkennen sind. So bestand der dynamischste Teil der italienischen Arbeiterbewegung der 1960er Jahre nicht aus der organisierten Facharbeiterschaft, sondern aus Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus dem italienischen Süden, die sich der Lohnarbeit und Fabrikdisziplin wild verweigerten. Der Operaismus war der Versuch, diese Rebellion zu beschreiben. Zum Beispiel die Sabotage: Aufgrund eines einzigen falsch abgelegten Schraubenschlüssels stand eine ganze Fertigungshalle still. Auf ähnliche Weise muss man heute wohl auch die Migration unterschiedlich zu interpretieren versuchen. Es stimmt, dass Migration in vieler Hinsicht eher Teil der globalen neoliberalen Maschine als eine Widerstandsform ist. Es sind die Agilsten und meistens auch nicht unbedingt die Bedürftigsten, die sich auf die gefährliche Reise machen. Auf dem Weg gibt es zwar auch Strukturen der Solidarität, aber letztlich sind Migrantinnen und Migranten Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer, die irgendwie durchzukommen versuchen. Die Gewaltkriminalität, die die Mordlogik der Profitsteigerung auf die Spitze treibt, verdient Milliardenbeträge mit der Migration. Und schließlich stimmt auch, dass Migrantinnen und Migranten nicht die Gesellschaft verändern, sondern auf geregelte Weise an den Ausbeutungsverhältnissen teilhaben wollen. Und trotzdem ist eben auch wahr, dass es bei Migration letztlich um etwas Ähnliches geht wie bei einem Tarifkonflikt: nämlich um eine minimale Teilhabe am Reichtum und etwas geregeltere Ausbeutungsverhältnisse. Und wahr ist eben auch, dass Mi-

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Debatte | Ist Flucht Klassenkampf?

gration durchaus auch eigene Organisationsformen schafft. Es entstehen Netzwerke der Solidarität und kreative Kommunikationskanäle. Daraus nun abzuleiten, dass Geflüchtete ein revolutionäres Subjekt werden könnten, das ähnlich wie die süditalienische Arbeitsmigrantion der 1960er Jahre einen neuen Zyklus der Revolte einläutet, ist zwar auch wiederum völlig übertrieben. Dagegen spricht schon allein die Tatsache, dass die Geflüchteten – anders als am Fließband in den 1960er Jahren – keine gemeinsame Sprache sprechen und keinen kollektiven politischen Bezugsrahmen besitzen. Aber auch Menschen, die nicht vorhaben, ein revolutionäres Subjekt zu werden, haben das Recht auf Teilhabe. Wenn sie dieses Recht gemeinsam einfordern und durchsetzen, kämpfen sie. Und in diesem Sinn ist die Stürmung des Zauns von Ceuta oder Melilla durchaus Klassenkampf – vielleicht vergleichbar mit dem Ausbruch aus einem Armen- und Arbeitshaus im 18. Jahrhundert. Viel entscheidender als die Frage, wie wir etwas definieren, ist aber selbstverständlich, wie wir uns verhalten. Und hier kann es nur eine Antwort geben: Migration ist nicht in erster Linie ein bürgerliches Recht (nämlich das auf Freizügigkeit), sondern ein soziales – bei dem es um Teilhabe geht. Man kann nicht Leiharbeit und Hartz IV ablehnen und gleichzeitig die Grenzzäune von Ceuta und Melilla für normal halten. Solidarität ist unteilbar.

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YAAK PABST

Yaak Pabst ist Politikwissenschaftler und Redakteur von marx21.

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m Sommer 2016 entstand aus der individuellen Entscheidung zur Flucht eine kollektive Aktion von Zehnttausenden, welche für kurze Zeit das europäische Grenzregime zu Fall brachte. Zu Tausenden widersetzen sich Geflüchtete der Polizei und erzwangen mit ihrem entschlossenen Handeln den faktischen Kollaps des Dublin-Systems. Jetzt kämpft die EU, unter Führung von Deutschland, mit all ihrer Macht für die Wiederherstellung der alten Ordnung. Auch das ist Klassenkampf. Die Herrschenden führen ihn mit Stacheldraht, Zäunen und Türmen, mit schärferen Einreisebestimmungen und Asylgesetzen, mit tausenden Soldatinnen und Polizisten, ausgerüstet mit Booten, Helikoptern und Nachtsichtgeräten. Im Kapitalismus sind Flucht und Migration eine Reaktion auf den Klassenkampf von oben. Konzerne und ihre jeweiligen Nationalstaaten heizen im Kampf um Arbeitskräfte, Rohstoffe und Absatzmärkte auf dem Weltmarkt die globale Flucht – und Migrationsbewegung immer weiter an. Grenzkontrollen, Einwanderungsbestimmungen und Asylgesetzgebung formen die Migrationsregime der einzelnen kapitalistischen Staaten. Diese sind jedoch ein Mechanismus, um die Migration im Interesse der Wirtschaft bes-

Kämpfende Migrantinnen während des »Brot und Rosen«-Streiks im Jahr 1912 in Lawrence im US-Bundesstaat Massachusetts

ser steuern zu können und die Ausbeutung von einheimischen und ausländischen Lohnabhängigen zu erleichtern. Die Frage von Flucht und Klassenkampf ist deswegen nicht nur eine theoretische Frage. Der Klassenkampf entsteht aus den ausbeuterischen Produktionsverhältnissen im Kapitalismus. Er nimmt verschiedene Formen an und durchzieht die gesamte Gesellschaft. Er beschreibt ökonomische, politische und ideologische Kämpfe zwischen gesellschaftlichen Klassen. Es gibt die bürgerliche und die proletarische Seite des Klassenkampfes. Während die Einrichtung und Aufrechterhaltung von Mig-

Flucht ist eine Reaktion auf den Klassenkampf von oben


Debatte | Ist Flucht Klassenkampf?

rationskontrollen und Grenzregimen die bürgerliche Seite des Klassenkampfes in diesem Feld ausmacht, gehört der Widerstand dagegen und die Migrationsbewegung von Millionen Menschen weltweit zur proletarischen Seite. Aus Menschen die fliehen, werden irgendwann Menschen die arbeiten. Historisch haben die imperialistischen Kernländern »ihre« Kolonien im Nahen Osten, Afrika aber auch in Südamerika, Osteuropa und Asien, als Quellen für billige Arbeitskräfte und Rohstoffe ausgebeutet. Der Imperialismus hat in diesen Ländern eine »gigantische globale Reserve-Armee der Arbeit« geschaffen. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wirkt bis heute – 232 Millionen Menschen leben als Migrantinnen oder Migranten nicht in ihrem Geburtsland. In den 35 entwickelten Industrieländer (OECD-Staaten) hat die im Ausland geborene Bevölkerung dementsprechend stark zugenommen und machen im Durchschnitt 12,3 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Migrationsbewegungen im Kapitalismus verändern die Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Einheimische und zugewanderte Beschäftigte sind zwar in ihrer gemeinsamen Erfahrung der Ausbeutung vereint, aber auch durch die unterschiedlichen Nationalitäten und rassistische Ausländergesetzgebung gespalten. Dies schafft Potential für Konflikte aber auch für Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse. Die lohnabhängig Beschäftigten haben objektiv kein Interesse an der Aufrechterhaltung von Grenzregimen und Einwanderungskontrollen, sowie der damit verbundenen repressiven Gesetzgebung und polizeilichen Schikanen. Sie behindern den gemein-

sam Kampf. Migrantinnen und Migranten haben jedoch auch eine lange Tradition sich in den Klassenkampf im Betrieb einzumischen. Historisch ist die Thematik des Rassismus eng verknüpft mit den Kämpfen gegen Ausbeutung. So haben Migrantinnen und Migranten antirassistische Forderungen im Kontext »ökonomischer« Kämpfe erhoben und damit Verbindungslinien zwischen diesen Auseinandersetzungen gezogen. Bereits 1912 streikten Zehntausende junge Arbeitsmigrantinnen in Lawrence im US-Bundesstaat Massachusetts nicht nur für höhere Löhne, sondern für ein menschenwürdiges Leben. Ihre Streikparole »Brot und Rosen« formulierte den Wunsch nach Teilhabe für alle. Daran können wir heute anknüpfen, indem wir als Linke uns für eine vollständige Bewegungsfreiheit der Arbeiterklasse einsetzen und gleichzeitig für gleiche soziale, politische und ökonomische Teilhabe kämpfen.

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Geschichte | Martin Luther

Gefangener der Geschichte Martin Luther trotzte der Macht von Papst und Kaiser. Doch er hetzte auch gegen die Rebellion der Armen und huldigte dem Obrigkeitsstaat. Wir erzählen die widerspruchsvolle Geschichte des Reformators und erinnern daran, dass es auch protestantische Priester gab, die sich mit Leib und Seele dem Aufstand verschrieben Von Chris Harman

Chris Harman (1942–2009) war ein britischer Sozialist und Autor. Bei vorliegendem Text handelt es sich um einen Auszug aus seinem Buch »Wer baute das siebentorige Theben? Wie Menschen ihre Geschichte machen«, das Ende 2016 im Laika-Verlag erschienen ist.

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m Jahr 1517 veröffentlichte der 34 Jahre alte Mönch und Theologielehrer Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen. Darin prangerte er den Ablasshandel der katholischen Kirche an. Mit einem Ablass konnten sich die Menschen damals von ihren Sünden loskaufen und sich einen Platz im Himmel sichern. Seine Tat wurde zum Auslöser der größten Spaltung der westlichen Kirche. Die Städte Süddeutschlands und der Schweiz – Basel, Zürich, Straßburg, Mainz – stellten sich hinter Luther, ebenso einige der mächtigsten deutschen Fürsten. Schon bald gab es Anhänger in Holland und Frankreich und das trotz der Gegenmaßnahmen der Behörden, wie der Verbrennung von vierzehn lutheranischen Handwerkern auf dem Marktplatz von Meaux im Jahr 1546. Luther begann mit theologischen Disputen über den Ablass, über Kirchenzeremonien, die Aufgabe

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der Priester als Vermittler zwischen den Gläubigen und Gott und über das Recht des Papstes, die Priesterschaft zu disziplinieren. Die katholische Kirche war aber ein so wesentlicher Bestandteil der mittelalterlichen Gesellschaft, dass diese Fragen unvermeidlich sozialen und politischen Charakter annehmen mussten. Faktisch griff Luther die Institution an, die in der Feudalordnung die ideologische Herrschaft ausübte. Wer aus dieser ideologischen Herrschaft seinen Nutzen zog, musste zurückschlagen. Luther war ein brillanter Polemiker und verfasste ein Traktat nach dem anderen, in denen er seine Auffassungen darlegte. Er übersetzte die Bibel, was erheblich zur Entwicklung der deutschen Sprache beitrug. Doch das an sich erklärt noch nicht die weitreichenden Folgen seines Handelns. Es gab eine lange Tradition der Opposition zur römisch-katholischen Kirche mit ähnlichen Vorstellungen wie denen Luthers. Seit zweihundert Jahren bestand die Untergrundkirche der Waldenser mit Anhängern in vielen europä-


Geschichte | Martin Luther

ischen Großstädten. Hussiten hatten hundert Jahre zuvor für ähnliche Ideen in Böhmen gekämpft, und in England gab es immer noch viele »Lollarden« (Laienprediger), Anhänger des Reformers Wyclif und seiner Lehren Ende des 14. Jahrhunderts. Diese Bewegungen hatten aber die Kirche und die bestehende Gesellschaft niemals ernsthaft gefährdet. Das war anders bei Luther und den Reformern wie Zwingli in Zürich und Calvin in Genf.

Soziale Widersprüche erschüttern das Kirchendogma

Um zu verstehen, warum es dazu kam, müssen wir uns den nach der Krise des 14. Jahrhunderts einsetzenden übergreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel ansehen. Zunächst gab es den langsamen, immer wieder unterbrochenen Fortschritt in den Produktionstechniken der Handwerker, Schiffsbauer und Heerestechniker, die Neuerungen aus Eurasien und Nordafrika aufgriffen und mit eigenen Entwicklungen verbanden. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gab es eine Menge Gerätschaften, die im 12. Jahrhundert und oft noch im 14. Jahrhundert unbekannt gewesen waren. Dazu gehörten mechanische Uhren, Wassermühlen, Windmühlen, Hochöfen zur Herstellung von Gusseisen, neue Methoden des Schiffsbaus, Geräte zur Ortsbestimmung auf See, die Kanone und die Muskete für die Kriegsführung, die Druckerpresse zur Massenerzeugung von Schriften, die bis dahin nur als eifersüchtig gehütete Manuskripte in ausgewählten Bibliotheken lagen. Diese technischen Errungenschaften waren unabdingbare Voraussetzung für alle weiteren Veränderungen. In der Frühphase des Feudalismus wurde für den unmittelbaren Gebrauch produziert – für den Lebensunterhalt der Bauernfamilie und das Luxusleben des Grundherrn. Jetzt begann sich die Produktion am Markt auszurichten. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts begannen die Preise zu steigen und der Lebensstandard der großen Masse fing an zu fallen. Die Reallöhne sanken ab Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auf die Hälfte bis zu einem Drittel, während die Bauernschaft immer mehr unter Druck gesetzt wurde, verschiedenste Abgaben an die Grundherren zu zahlen. Geschichtswissenschaftler haben eine Menge Zeit damit vergeudet, sich über die genaue Beziehung zwischen Kapitalismus und Protestantismus zu streiten. Eine ganze Schule in der Tradition des deutschen Soziologen (und Nationalisten) Max Weber behauptet, der Kapitalismus sei durch protestantische Werte geschaffen worden, ohne zu erklären, woher der angebliche protestantische »Geist« gekommen war. Andere Schulen haben behauptet, es habe gar keine derartige Beziehung gegeben, da viele der ersten Protestanten keine Kapitalisten waren und in den Gegenden Deutschlands, in denen der Protestantismus besonders tief verwurzelt war,

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eine »zweite Leibeigenschaft« entstand. Die Verbindung zwischen beiden ist aber leicht zu erkennen. Technischer Wandel und neue Marktbeziehungen zwischen Menschen im Feudalismus brachten eine »gemischte Gesellschaft« hervor, den »Marktfeudalismus«, in dem beides ineinandergriff, es aber auch zu einem Zusammenstoß zwischen kapitalistischen und feudalen Denk- und Handelsweisen kam. Aufgrund der Überlagerung der Feudalstrukturen mit den Strukturen des Markts musste die Mehrheit der Menschen unter den Mängeln beider Systeme leiden. Ein sich ausdehnender Überbau der Konsumtion der herrschenden Klasse destabilisierte die Grundlage bäuerlicher Produktion – und im Verlauf des 16. Jahrhunderts geriet die Gesellschaft in eine neue Krise, in der sie zwischen Fort- und Rückschritt zerrissen wurde. Jede Klasse der Gesellschaft war deshalb in Verwirrung gestürzt und alle versuchten sich an ihre alten religiösen Glaubenssätze zu klammern, nur um dabei feststellen zu müssen, dass auch die Kirche in Unordnung war. Die Menschen konnten mit dieser Situation nur zurechtkommen, wenn es ihnen gelang, ihre noch aus dem alten Feudalismus stammenden Ideen neu zu formulieren. Leute wie Luther, Zwingli, Calvin, John Knox – sogar Ignatius von Loyola, der den Jesuitenorden gründete und sich an die Spitze der katholischen Gegenreformation stellte – boten ihnen einen solchen Weg an. Martin Luther und Johannes Calvin hatten nicht die Absicht, revolutionäre Bewegungen oder auch nur Bewegungen für gesellschaftliche Reformen ins Leben zu rufen. Sie waren allerdings bereit, die bestehende religiöse Ordnung radikal herauszufordern. Für sie handelte es sich jedoch um eine theologische Auseinandersetzung über die Entstellung der in der Bibel dargelegten Lehren Jesu und der Apostel durch die katholische Kirche. Was zählte, betonten sie, war der »Glaube« des Einzelnen, nicht die Vermittlung von Priestern oder »gute Taten«, und schon gar nicht solche, die mit Geldzahlungen an die Kirche verbunden waren. Die Palette katholischer Heiliger, die in Gestalt von Statuen und Schreinen angebetet wurden, war nichts Geringeres als ein Götzendienst an der biblischen Botschaft. Wegen solcher Fragen waren die ersten Protestanten bereit, große Risiken auf sich zu nehmen, selbst wenn die Strafe für Ketzerei öffentliche Verbrennung bei lebendigem Leib hieß. In gesellschaftlichen Fragen waren Luther und Calvin allerdings konservativ gestimmt. Im Jahr 1521, als die Reichsoberen Luthers Kopf forderten, bestand dieser darauf, der Obrigkeit in Fragen, die nicht die Religion betrafen, Folge zu leisten: »Denn

Aufruhr hat keine Vernunft. Deshalb sind Obrigkeit und Schwert eingesetzt, die Bösen zu strafen und die Frommen zu schützen.« Dennoch gaben ihre Lehren den Anstoß für gesellschaftliche Kämpfe, in denen sie sich auf die eine oder andere Seite stellen mussten. Luther, zunächst Mönch, dann Theologieprofessor, gehörte zur »humanistischen« Renaissance, die sich über Europa verbreitet hatte, und konnte Einzelne aus diesem Milieu für sich gewinnen. Er verschaffte sich auch den Schutz mächtiger Personen wie des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, der seine eigenen Händel mit der Kirche hatte. Der wirkliche Grund für die geschwinde Verbreitung seiner Lehren in den 1520er Jahren in Süddeutschland lag aber darin, dass sie eben die unzufriedenen Schichten ansprachen, denen Luther so misstraute. Die städtische Reformation erfasste die süddeutschen und Schweizer Städte, nachdem Luther berühmt geworden war, weil er sich im Jahr 1521 auf dem Reichstag zu Worms dem Kaiser widersetzt hatte. Die Städte wurden von alten Oligarchien aus den Familien reicher Kaufleute und des niederen Adels regiert. Sie hatten Rat und Senat seit Generationen beherrscht. Viele der Oligarchien hatten ihr eigenes Hühnchen mit der Kirche zu rupfen – zum Beispiel, weil die Geistlichen für sich Steuerbefreiung beanspruchten und andere umso mehr zahlen mussten. Die Stadträte fürchteten zudem die Macht der lokalen Fürsten. Gleichzeitig fanden sie Mittel und Wege, sich einen Teil des Kirchenzehnten selbst anzueignen. Sie suchten eher den schrittweisen Wandel, der ihnen vermehrten Einfluss auf das religiöse Leben der Stadt und Zugriff auf die Kirchengelder ermöglichte, ohne größere Unruhen zu riskieren. Unterhalb dieser sozialen Schicht aber befand sich eine große Zahl Krämer und Handwerker – und auch Priester, Nonnen und Mönche aus Handwerkerfamilien –, die es leid waren, für eine Geistlichkeit zu zahlen. Durch ihre Agitation wurde der Sieg der Reformation von Stadt zu Stadt getragen. In Erfurt kam es zum Pfaffensturm mit der Demolierung von Häusern der Geistlichen, beteiligt waren Studenten und Handwerker, nachdem Martin Luther im Jahr 1521 durch die Stadt gekommen war. In Basel forderten die Weber, das Evangelium solle nicht allein mit dem Geist erfasst werden, »sondern auch mit den Händen greifbar sein«. Die Gelder für die Kirchenbeleuchtung sollten einem »anderen Armen, dem es in der Winterszeit an Holz, Licht und anderen notwendigen Dingen mangelt«, zukommen. In Braun-

Die Reichsoberen forderten Luthers Kopf

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Geschichte | Martin Luther

Der »irdische Priester« Thomas Müntzer im Trommelwirbel des Bauernaufstands – Thomas Müntzer will entgegen dem Anspruch von Kirche und Reformatoren die Reformation auf die Ausbeutungsverhältnisse der Bauern ausweiten

schweig, Hamburg, Hannover, Lemgo, Lübeck, Magdeburg, Memmingen, Mühlhausen, Stralsund und Wismar zwangen »Ausschüsse« der Handwerker und Krämer die Stadträte zur Umsetzung religiöser Neuerungen. Wittenberg wurde »von Konflikten zerrissen und war den Bilderstürmern anheimgefallen«. Auf diese Weise gingen zwei Drittel der Reichsstädte Deutschlands zu der neuen Religion über. Luther schrieb den Erfolg seiner Lehre dem göttlichen Willen zu. In Wirklichkeit war es Klassenbewusstsein in Zeiten der Wirtschaftskrise, weshalb die Menschen zur Aufnahme seiner Lehren bereit waren. Den Stadträten und Senaten gelang meist die Umsetzung einiger Reformen und sie konnten die Unruhen wieder eindämmen. Am Ende des Jahres 1524 brach eine zweite und sehr viel gewaltsamere Bewegung aus, bekannt als »Bau-

ernkrieg« und »Revolution des gemeinen Mannes«. Im vorhergehenden halben Jahrhundert hatte es bereits eine Reihe lokal begrenzter ländlicher Unruhen in Süddeutschland gegeben. Jetzt wirkten die Nachrichten von den religiösen Wirren in den Städten wie ein Brennglas für die aufgestaute Verbitterung. Spontan bildeten sich Armeen aus Tausenden, ja Zehntausenden Bauern und trugen die Bewegung von einem Gebiet zum nächsten, als sie durch die Süd- und Mittelgebiete des Reichs zogen, Klöster plünderten, Burgen angriffen und die Städte für ihre Sache zu gewinnen suchten. Die Feudalherren und Bischöfe wurden völlig überrascht und versuchten die Aufständischen durch Verhandlungen zu besänftigen, während sie gleichzeitig die Kurfürsten um Hilfe anflehten. Den Aufständischen gelang die Einnahme einiger Städte und andere konnten sie auf ihre Seite ziehen. In Heilbronn stand der Magistrat so sehr unter dem Druck der Bürger und »namentlich der Weiber«, dass er den Aufständischen die Stadttore öffnete, die dann alle Konvente und geistlichen Einrichtungen besetzten. So konnten die Aufständischen die Kontrolle über Städte wie Memmingen, Kaufbeuren, Weinberg, Bermatingen, Neustadt, Stuttgart und Mühlhausen übernehmen. Überall stellten die Rebellen Listen mit Beschwerden auf. Eine dieser Listen bestehend aus zwölf Artikeln, die von Bauern in der Umgebung Memmingens aufgestellt worden waren, entwickelte sich geradezu zu einem nationalen Manifest der Erhebung und wurde immer wieder nachgedruckt. Das Manifest begann mit religiösen Forderungen, die für die große Mehrheit der Menschen besonders dringlich waren: das Recht der Gemeinden, ihre Pfarrer zu wählen und über die Verwendung des Zehnten selbst zu entscheiden. Weiterhin aber wurden Forderungen aufgestellt, die die Lebensgrundlage der Bauern betrafen, wie die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Beseitigung verschiedener Abgaben an den Grundherrn, die Rückgabe widerrechtlich angeeigneten Gemeindelands, Aufhebung des Jagd-, Angel- und Holzsammelverbots und Beendigung der willkürlichen Gerichtsstrafen. Das war kein revolutionäres Programm. Dahinter stand die Hoffnung, der Adel ließe sich überreden, sich der Sache der Bauern anzunehmen. Dennoch stellten gerade die einfachsten Forderungen der Bauern einen Angriff auf die gesamten Grundlagen der Herrschaft von Kurfürsten und Adel dar. Die Adelsschicht konnte keine Zugeständnisse machen, die ihre eigene Klassenstellung gefährdeten. Während sie sich also verhandlungsbereit zeigten, begannen die Grundherren ihre Landsknechtsheere zusammenzustellen. Im April 1525 schlugen sie los. Tausende – einige vermuten bis zu Hunderttausend – Bauern wurden getötet. ▶

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Geschichte | Martin Luther

Luther war entsetzt über den Aufstand. Er warf sich ohne Schwanken hinter die Grundherren, ebenso wie Zwingli oder Melanchthon. Er schrieb das Traktat: »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«, worin er die Herren drängte, mit größter Härte Rache an den Aufrührerischen zu nehmen. In einem Brief betonte er: »Ich bin der Meinung: es ist besser, daß alle Bauern erschlagen werden als die Fürsten und die Obrigkeiten.« Es gab aber auch protestantische Priester, die sich mit Leib und Seele dem Aufstand verschrieben. Der bekannteste war Thomas Müntzer. Er hatte an der Universität studiert und den Doktorgrad erworben. Zunächst stellte er sich bei den ersten Auseinandersetzungen Luthers mit dem Papst und dem Kaiser an dessen Seite. Schon etwa drei Jahre später begann er Luther wegen seiner Kompromissbereitschaft anzugreifen. Bald gingen seine eigenen Schriften und Predigten über religiöse Fragen hinaus und er wetterte gegen die Unterdrückung der Massen. Die Erfüllung des Christentums hieß für ihn jetzt revolutionärer irdischer Wandel: »Es ist der allergrößt Greuel auf Erden, daß niemand der Dürftigen Not sich will annehmen.« Die Ursache des »Wuchers, der Dieberei und Räuberei« seien »unser Herrn und Fürsten«. Dazu sage Luther nur: »Amen.« Müntzer befand: »Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann feind wird.« Mit solchen Worten zog Müntzer den Zorn der Obrigkeit auf sich und er musste den meisten Teil des Jahres 1524 untertauchen, reiste durch das Land und baute kleine Geheimbünde auf. Luther drängte die Kurfürsten, gegen Müntzer vorzugehen. Selbst heute behandeln ihn die meisten Historiker mehr oder weniger als einen Wahnsinnigen. Das einzig »Wahnsinnige« bei Müntzer war aber, dass er die Sprache der Bibel benutzte, die fast allen Denkern seiner Zeit geläufig war, nicht um die Klassenherrschaft zu stärken, sondern sie zu bekämpfen. Als der Aufruhr losbrach, machte Müntzer sich auf den Weg nach Mühlhausen im thüringischen Bergbaugebiet. Dort stürzte er sich sofort in die Arbeit, um gemeinsam mit radikalen Flügeln der Stadtbürger die Stadt als Hochburg der Revolution zu verteidigen. Er wurde gefangen genommen, auf dem Streckbett gefoltert und im Alter von 28 Jahren geköpft, nachdem die Aufständischenarmee bei Frankenhausen von dem lutherischen Landgrafen Philipp von Hessen und

dem katholischen Herzog Georg von Sachsen geschlagen worden war. Die Niederschlagung des Aufstands hatte einschneidende Folgen für die gesamte Gesellschaft Deutschlands. Danach war die Stellung der Kurfürsten erheblich gestärkt. Die geringeren Ritter, wie Götz von Berlichingen, denen die wachsende Macht der Kurfürsten missfiel, zeigten zu Beginn sogar gewisse Sympathie mit den Aufständischen. Jetzt sahen sie in den Kurfürsten die Garanten der fortgesetzten Ausbeutung der Bauernschaft. Auf ähnliche Weise galten den Stadtoberen die Kurfürsten am Ende als Schutzschild gegen die Erhebungen. Selbst den kleineren Bürgern fiel es nicht schwer, sich mit den Siegern über einen Aufstand zu versöhnen, dem sie sich aus Feigheit nicht angeschlossen hatten. Mit der Anerkennung der neuen und gestärkten Macht der Kurfürsten nahm die städtische Oberund Mittelschicht auch hin, dass es nicht ihre Interessen waren, die die zukünftige deutsche Gesellschaft prägen sollten.

Luther hatte Angst vor dem Aufstand

DAS BUCH

Chris Harman Wer baute das siebentorige Theben? Wie Menschen ihre Geschichte machen Laika Verlag Hamburg 2016 1020 Seiten (drei Bände) 77 Euro Die Bände sind auch einzeln erhältlich 20 Euro

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Der deutsche Protestantismus war eins der Opfer dieser Feigheit. Das Luthertum hatte sich selbst zum Gefangenen der Geschichte gemacht, als es die Fürsten zum Handeln drängte. Die Furcht der Lutheraner vor dem Aufstand ließ sie die alte Disziplin wieder einführen. Einer der engsten Bundesgenossen Luthers, Philipp Melanchthon, forderte eine weitere Einschränkung der Freiheiten, denn es sei nötig, dass »ein solch wild, ungezogen Volk als Teutschen sind, noch weniger Freiheit hette, dann es hat«. Diese Disziplin erzwangen jetzt die Kurfürsten. Das Luthertum entwickelte sich nach der Niederlage der Aufstände zu einer doppelt nützlichen Waffe. Einerseits konnte es gegen den katholischen Kaiser gewendet werden, der die Fürstenmacht beschneiden wollte, andererseits diente es der ideologischen Kontrolle der von ihnen ausgebeuteten Schichten. Auf diese Weise wurde eine Religion, deren Nährboden die Krise des deutschen Feudalismus gewesen war, in Gegenden Nord- und Ostdeutschlands, wo die Bauern wieder in die Leibeigenschaft gezwungen wurden, zum offiziellen Glaubensbekenntnis – so wie das Christentum selbst als Reaktion auf die Krise des römischen Reichs aufgekommen war, nur um sich in die Ideologie eben dieses Reichs zu verwandeln. ■


Geschichte | RUSSLAND 1917

»Nehmt doch die Macht!« Nach der Februarrevolution von 1917 konnte die Provisorische Regierung nicht herrschen – und die Mehrheit in den Räten wollte es nicht. Unterdessen verlangte die russische Bevölkerung weiterhin nach Land, Brot und Frieden Von Stefan Ziefle

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n jeder Revolution entsteht übergangsweise eine Doppelherrschaft. Die alten Herrscher verfügen über ihre Institutionen und bewaffneten Kräfte, die Revolution schafft sich ihre eigenen. Eine territoriale Aufteilung des Landes ist die Folge: Die Hauptstadt der Revolution, Paris, stand 1789 gegen den Sitz des Königs in Versailles, London stand 1688 gegen Oxford. Meist folgte die territoriale Vereinigung erst im Zuge eines Bürgerkrieges, an dessen Ende eine Seite gewann, deren Institutionen dann das ganze Land kontrollierten.

net worden und praktisch aufgelöst. Aber wer sollte nun regieren? Hinter den Kulissen verhandelten Vertreter des kapitalistischen Bürgertums mit den Spitzen des alten Staatsapparates über die Bildung einer Übergangsregierung. Der Adel konnte allerdings als eigenständige politische Kraft nicht auftreten, so verhasst war das alte Regime. Stattdessen sammelten sich alle Monarchisten hinter der Kadettenpartei, dem liberalen Flügel des Bürgertums. Die Kadetten waren eine Partei der Besitzenden. Sie hatten in den Jahren zuvor verhaltene Kritik an der Monarchie geäußert. Das qualifizierte sie nun, zu einem Sammelbecken aller zu werden, die wünschten, die Revolution möge möglichst wenig verändern. Die Kapitalisten hatten sich gut im Zarismus eingerichtet. Seit einem halben Jahrhundert konnten sie Land erwerben und selbst Großgrundbesitzer werden. Die adeligen Gutsbesitzer arbeiteten mittlerweile nach denselben kapitalistischen Kriterien. Die industrielle Produktion in den Städten wur-

Die Revolution überholt die Revolutionäre

Die Februarrevolution in Russland 1917 warf dieses Schema anscheinend über den Haufen. Nur fünf Tage nach der ersten Demonstration war von der alten Herrschaft nichts mehr zu sehen. Die zaristische Verwaltung existierte zwar noch, aber die Armee war mit wehenden Fahnen zur Revolution übergelaufen, einschließlich der berüchtigten Kosakenregimenter, und die Polizei war nach kurzen, aber heftigen Gefechten entwaff-

Im Februar 1917 hatten die Protesten das ganze Land erfasst. Auf dem Bild: Eine Demonstration in Wladiwostok. Auf den Bannern steht: »Es lebe der internationale Sozialismus«, »Es lebe das freie Russland«, »Es lebe der Feiertag der Werktätigen in der ganzen Welt«

Stefan Ziefle ist Historiker und Stadtverordneter der LINKEN im hessischen Wächtersbach.

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Geschichte | RUSSLAND 1917

de ebenfalls von den Kapitalisten kontrolliert. Der Krieg selbst war ein durch und durch kapitalistischer Krieg. Zudem bereicherte sich das russische Bürgertum an der Kriegswirtschaft, während Arbeiterklasse und Bauernschaft mit immer kleineren Lebensmittelrationen auskommen mussten. Insofern kamen die Wohlhabenden angesichts der Revolution schnell überein, die Revolution so schnell wie möglich zu beenden und die Arbeiterklasse, Bauernschaft und Armee wieder an ihren gewohnten Platz zu schicken. Nur verfügte weder das Bürgertum noch die Monarchie über die dafür erforderliche Autorität. In der Revolution hatten die Menschen ihre eigenen Strukturen geschaffen. Sie lehnten sich dabei an die Erfahrungen der vorherigen Revolution von 1905 an und gründeten ihre alten Kampforgane neu: Die Räte, oder auf Russisch: Sowjets. Jede Fabrik wählte Delegierte für einen lokalen Sowjet, der wiederum für einen regionalen und dieser schließlich für den Allrussischen Sowjet. Auch die militärischen Regi-

te, was ein Großteil seiner Anhängerschaft von ihm erwartete, problemlos eine eigene Regierung stellen können. Aber er wollte nicht. Die Mitglieder der Sowjets waren größtenteils Mitglieder der beiden Hauptflügel der russischen Arbeiterbewegung, Menschewiki und Bolschewiki, und der Sozialrevolutionären Partei. Die ersten beiden hatten ihre Basis in den industriellen Zentren, den Arbeiterbezirken. Die Sozialrevolutionäre bestanden hauptsächlich aus intellektuellen Kleinbürgern, meist aus dem ländlichen Raum, weshalb sie auch als Bauernpartei galt. Alle drei Parteien waren in unterschiedlichem Maße vom Marxismus geprägt. Gemeinsam war ihnen die Vorstellung, das absolutistische Russland bräuchte zur weiteren Entwicklung des Landes eine Phase der bürgerlichen Herrschaft. Denn Sozialismus könne nur in einer fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratie entstehen. Das widersprach zwar der Ansicht der Mehrheit in den Betrieben und Dörfern, aber die Führung dieser Parteien hatte genügend Prestige – teuer erkauft

Die Bolschewiki machen eine 180-GradWende

Die bewaffneten Revolutionäre bewachen das Kirier-Automobil der Provisorischen Regierung am 2. März 1917 in Petrograd.

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menter und die Dorfgemeinschaften wählten ihre Vertretungen. Diese Räte waren die Institutionen der Revolution, sie vertraten die revolutionären Massen, waren der Ort für Anfragen, Beschwerden und Wünsche. Eine besondere Rolle spielte der Petrograder Sowjet. Die Hauptstadt war der Ausgangspunkt der Revolution gewesen, ihr Sowjet wurde als erster Regionalsowjet gegründet. Bis zum ersten Allrussischen Sowjetkongress im Juni richteten sich die regionalen Sowjets im restlichen Russland nach den Entscheidungen in der Hauptstadt. Was der Sowjet beschloss, war faktisch Gesetz, denn die übergroße Mehrheit der Bevölkerung vertraute ihm, nur ihm, und wäre nicht bereit gewesen, Anordnungen anderer Folge zu leisten. Der Sowjet hät-

durch Jahre im Gefängnis oder Exil –, um die Delegierten des Sowjets zu überzeugen. Auch die Führung der Bolschewiki unterstützte diese Haltung. Und so überzeugte die Vertretung der Revolution die Vertretung des Bürgertums, eine Koalitionsregierung mit dem Adel einzugehen. Nur ein Vertreter der Revolution war Teil dieser Regierung, der Anwalt Alexander Kerenski, der sich vor der Revolution einen Namen als Verteidiger von Sozialisten gemacht hatte. Seine Ernennung sollte die Massen beruhigen. So wurde die Doppelherrschaft nach Art der Februarrevolution geboren. Das Dilemma war nun, dass diese provisorische Regierung, geleitet von Großfürst Georgi Lwow, völlig andere Ziele vertrat als die Menschen, die die Revolution gemacht hatten. Die Soldaten wollten Frieden. Statt für die Interessen anderer zu sterben und zu töten, wollten sie – in ihrer übergroßen Mehrheit Bauern – zurück auf ihre Felder und die Saat ausbringen. Auch die Arbeiterklasse wollte Frieden, denn sie bezahlte mit ihrem Schweiß und ihrem Hunger für die Schlachten an der Front. Die neue Regierung aber wollte den Krieg gewinnen. Der Kriegsminister plante eine Landung in der Türkei, um mit einem mili-


Geschichte | RUSSLAND 1917

tärischen Erfolg die Stimmung im Land zu drehen, als Vorstufe für eine Konterrevolution. Die bürgerliche Presse trommelte lautstark für diese Operation, die Generalität begann die Vorbereitungen und die Sowjetführung leugnete jegliche Aktivitäten in diese Richtung. Dass die Invasion niemals stattfand, lag einzig daran, dass sich keine Soldaten fanden, die für diese Eroberung verheizt werden wollten. Nachdem der Skandal bekannt wurde, erhoben sich Stimmen in den lokalen Sowjets, man möge doch bitte selbst die Regierung in die Hand nehmen und die Konterrevolutionäre entlassen. Im April zogen spontane Demonstrationszüge aus den Petrograder Arbeiterbezirken zum Regierungssitz, begleitet von Armeeregimentern in voller Bewaffnung. Die Arbeiterklasse wollte ihrer Forderung an die Sowjetführung Nachdruck verleihen, aber die Aktion war gegen die bürgerliche Regierung gerichtet. Als ein herbeigeeilter Sowjetführer mit der Autorität des Petrograder Sowjets im Rücken die Arbeiterschaft zur Heimkehr aufforderte, löste sich die Menge friedlich auf – dabei ereignete sich eine vielsagende Anekdote. Ein Arbeiter hielt dem Sozialisten die Faust unter die Nase und rief: »Nehmt doch die Macht, wenn wir sie euch schon geben!« Aber nur zwei Dinge geschahen: Erstens bekam der Kriegsminister ein anderes Ressort. Sein Amt übernahm nun Kerenski. Zweitens wurde eine »Kontaktkommission« gegründet, in der Vertreter der Regierung und des Sowjets saßen und besprachen, bis zu welchem Punkt die Sowjetführer die Aktivitäten der Regierung decken könnten. In anderen Fragen lief es ähnlich wie bei der Türkei-Operation. Die Bauernschaft hatte sich von der Revolution die Verteilung des Großgrundbesitzes versprochen. Das war natürlich nicht im Sinn der Regierung, die versuchte, die Landfrage auf den Nimmerleinstag zu verschieben. Die Arbeiterklasse wollte den Achtstundentag, die Fabrikbesitzer waren strikt dagegen – ebenso die Regierung. Die Konflikte in allen Politikfeldern spitzten sich ständig zu. Die Bauernschaft besetzte Land und griff die Güter des Adels an, die Arbeiterklasse streikte für ihre Rechte und bessere Bezahlung. Die Herrschenden konnten zwar nicht mit Gewalt antworten, aber kampflos aufgeben wollten sie auch nicht. Also begannen sie eine Welle von Betriebsschließungen, eine der Situation angepasste Form der Aussperrung. Die Arbeitslosigkeit stieg, ebenso die Unzufriedenheit. Die Verhältnisse schrien förmlich nach einer politischen Lösung. Aber die eine Seite der Doppelherrschaft, die Regierung, konnte nicht und die andere, die Sowjetspitze, wollte nicht. Im Juli kulminierte die Lage in einer erneuten Demonstrationswelle in Petrograd. Diesmal war die Stimmung wütender. Mittlerweile hatte die Wut auch einen politischen Ausdruck: Seit der Rückkehr

Mitglieder der provisorische Regierung. Die Regierung wurde geleitet von Großfürst Georgi Lwow und vertrat völlig andere Ziele als die Menschen, die die Revolution gemacht hatten

Lenins aus dem Exil Anfang April hatte sich die Position der Bolschewiki um 180 Grad gedreht. Sie argumentierten nun, die Sowjets müssten die Macht übernehmen und die Revolution müsse in eine sozialistische Revolution übergehen. Damit traf die Partei den Nerv in den Petrograder Betrieben, in deren Sowjets sie nun auch die deutliche Mehrheit hatte. Aber in anderen Teilen des Landes fehlten den Menschen noch die Erfahrungen, die in Petrograd schon gemacht worden waren, um sich von der Richtigkeit der bolschewistischen Position überzeugen zu können. In der Armee brachte erst der Versuch einer Sommeroffensive, der sogenannten Kerenski-Offensive, den Meinungsumschwung. So konnte die Regierung den halben Aufstand in Petrograd nutzen, um mit Rückendeckung der Sowjetspitze die bolschewistische Partei zu verbieten, viele ihrer Aktiven zu verhaften und ihre Presse zu beschlagnahmen. Gleichzeitig aber musste Fürst Lwow zurücktreten. Kerenski wurde Ministerpräsident und die Sowjetführung stellte die Mehrzahl der Minister. Dieses Zugeständnis beruhigte die Massen zunächst. Die Doppelherrschaft, ursprünglich zwischen den gegensätzlichen Machtzentren Sowjet und bürgerlicher Regierung, hatte sich nun, nach dem Zwischenschritt der »Kontaktkommission«, in die Regierung selbst bewegt.

SERIE marx21 begleitet das Jubiläum der Russischen Revolution mit einer Serie. Im nächsten Heft folgt ein Artikel über Oktoberrevolution. Für weitere Artikel zur Revolution lohnt sich außerdem ein Blick auf unsere Website: www.marx21.de.

Erst im Oktober, als beim zweiten Allrussischen Sowjetkongress die Mehrheit in Richtung der Bolschewiki kippt, wird dieser Zustand beendet. Der Sowjet wird die Macht übernehmen. Von da an wird die Doppelherrschaft den typischen territorialen Charakter haben: Revolution und Konterrevolution befinden sich im Bürgerkrieg um die Kontrolle über das ganze Land. ■

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KULTUR | Kendrick Lamar und Joey Bada$$

Nichts ist mehr »Alright« Die US-Rapper Kendrick Lamar und Joey Bada$$ haben nun mit »DAMN.« und »All-Amerikkkan Badass« zwei neue Erzählungen über die USA unter Trump vorgelegt Von Peter Stolz und Kasper ange

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ass die USA in den vergangenen Jahren aufsehenerregende Fälle von rassistischer Polizeigewalt und mit Black Lives Matter eine neue antirassistische Massenbewegung erlebt haben, ist auch am Hiphop nicht spurlos vorübergegangen. Und spätestens seit Donald Trump die Genrelegende Snoop Dogg auf Twitter angriff, nachdem dieser ein Double des US-Präsidenten in einem Musikvideo symbolisch erschossen hatte, ist auch die Konfliktlinie zwischen Hiphop-Community und der neuen Regierung klar gezogen. Kendrick Lamar und Joey Bada$$ haben nun mit »DAMN.« und »All-Amerikkkan Badass« (KKK für Ku-Klux-Klan) zwei neue Erzählungen über die USA unter Trump vorgelegt.

Den Kulturpessimisten die Argumente wegnehmen

Kendrick Lamar ist tief in der Hiphop-Geschichte verwurzelt. Er stammt aus Compton, jenem Vorort von Los Angeles, der 1988 durch das Debut der RapGruppe »N.W.A.« zur Legende wurde. Jenem Vorort, in dem es fast 30 Jahre später immer noch kein Kino gab, das den 2015 erschienenen Film »Straight Outta Compton« über jene Rap-Gruppe hätte zeigen können. Denn Compton mit seinen knapp 100.000 Einwohnern gilt als »Low Income Area«, da lohnt es sich einfach nicht, ein Kino aufzumachen. Auch wenn Lamar mit seiner politischen Haltung auf sich aufmerksam gemacht hat, ist es in erster Linie das musikalische Genie, das den 29-Jährigen abhebt. Spätestens mit seinem zweiten Album »Good Kid, M.a.a.d. City« war er in aller Munde und erlangte weltweite Berühmtheit. Er schaffte es, musikalische Trends zu setzten, sich ein großes Publikum zu erarbeiten und sich zugleich von überproduzierten Hit-Alben abzusetzen. Gerade auf »To pimp a But-

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terfly« benutzte er bewusst Jazz-Elemente als Bezug auf schwarze Kultur. Auf seinem neuesten Album »DAMN.« geht er mit der Zeit und beweist wieder, dass er sein Fach beherrscht. Er verbindet die lyrisch-politische Raffinesse, für die er gefeiert wird, und den modernen Rap, der momentan eine ganze Generation begeistert. Im Vergleich zu Kendrick Lamars letztem Album »To Pimp a Butterfly« klingt »DAMN.« dabei zunächst etwas weniger politisch. Das Leben als Schwarzer in den USA, Gott, innerliche Konflikte – das sind seit seinem Debut »Section.80« seine Leitthemen, und Ersteres tritt hier in den Hintergrund. »DAMN.« ist nach dem aktivistischen »Butterfly« eine Innenwendung. Programmatisch klingen die Zeilen »It was always me versus the world/ until I found it‘s me versus me«. Und so rappt er sich über mal aggressive, mal sanft-psychedelische Beats durch sämtliche Widersprüche seines Seelenlebens. Das klingt hier überheblich (»If I quit this season I‘ll still be the greatest«), dort verzweifelt (»I feel like the whole world want me to pray for them/ But who the fuck prayin‘ for me?«), dann wieder nach dem Versuch, nach Jahren des Superstar-Lebens die Bodenhaftung nicht zu verlieren (»I‘m talking fear, fear of losin‘ creativity (…) fear of losin‘ loyalty from pride«). Joey Bada$$ dagegen hat für langes Psychologisieren keine Zeit und probt ohne Umschweife den Aufstand, die große Auflehnung der Jungen gegen das alte, korrupte, rassistische System. Seine Sprache ist dabei so direkt, dass sie gegen Kendricks Vielschichtigkeit und technische Finesse naiv wirken könnte, wäre die wütende Ernsthaftigkeit des erst 22-Jährigen nicht so verdammt einnehmend: »Obama just wasn‘t enough, I need some more closure/ and Donald Trump is not equipped to take this country over (…) and everything I do and say today is worthwhile/will for sure inspire action«. Unter dem Strich lässt sich »All-Amerikkkan Badass« auf »Wacht auf, ihr Schafe!« herunterbrechen. Vielleicht ein bisschen zu simpel, um sich damit als Stimme der Generation gegen Trump zu bewerben, aber ein gutes Album bleibt es dennoch.


KULTUR | Kendrick Lamar und Joey Bada$$

seinen Kollegen und Kolleginnen nutzt er die Bühne nicht, um kitschige Balladen zu trällern. Nein, er thematisiert Unterdrückung und propagiert eine schwarze Identität von unten. In der Performance zeigt er sich mit seinen Brüdern im Gefängnis, angekettet in Reih und Glied. Kurz bevor er sich aus den Ketten befreit, rappt er: »My hair is nappy, you know that it‘s big, my nose is round and wide/ You hate me don‘t you?/ You hate my people, your plan is to terminate my culture/ You know you‘re evil I want you to recognize that I‘m a proud monkey«. Die Show endet mit seiner Hymne auf Black Lives Matter »Alright«, die eigens für die Grammys einen dritten Part bekommen hat. Dieser ist eine Wutrede über die Lage der Schwarzen in den USA. Dort heißt

Wutrede über die Lage der Schwarzen in den USA es: »Situation is heavy, I‘ve got to prove/ On February twenty sixth I lost my life too (der Tag, an dem Trayvon Martin von einem Polizisten ermordet wurde)/ It‘s like I‘m here in a dark dream/ Nightmare, hear screams recorded«.

Auch wenn Kendrick Lamar nicht die Rede zur Lage der Nation hält, die »Butterfly« war, ist »DAMN.« doch ein durch und durch politisches Album. Nur klingt das hier um einiges pessimistischer als seine Demo-Hymnen »HiiiPower« oder »Alright«. So erinnert er sich an den Schock nach Trumps Wahlsieg, die stolzen Demonstrationen und schließlich die um sich greifende Apathie: »Revertin’ back to our daily programs«. Trotzdem bleibt Kendrick Lamar einer der Wenigen, der Kulturpessimisten die Argumente nimmt. Das bewies er zum Beispiel bei den Grammys 2016. Mit seinen 11 Nominierungen und 4 Auszeichnungen ist er der große Gewinner des Abends. Im Gegensatz zu

In dieser Verbindung mit dem Aktivismus liegt der große Unterschied zwischen Kendrick Lamar und den meisten seiner Kollegen. Während Rapper wie Drake es sich in der teuren Upper Eastside von New York gemütlich gemacht haben, kommt Lamar und wirft ihnen genau das vor. Derzeit ist es bei ihnen Mode, einen Anti-Trump-Song zu machen. Das ist zwar löblich, doch bei den meisten bleibt es dabei. Und es bleibt der fade Beigeschmack, dass es sich dabei um Promo handeln könnte, um das Album zu vermarkten. Bei Kendrick Lamar geht es nicht um bloße Vermarktung und die Kritik an einer einzigen Person. Lamars Stärke ist ohnehin eher die Verknüpfung von eigener Biographie und Sozialpanorama. Im letzten und besten Song erzählt er die wahre Geschichte der Begegnung seines Vaters Ducky mit seinem heutigen Labelchef Anthony »Top Dawg« Tiffith. Dieser überfiel vor zwanzig Jahren den Fastfood-Laden, in dem Ducky arbeitete und ersparte ihm aus Mitgefühl einen frühzeitigen Tod. Und die Moral von der Geschicht’: »Whoever thought the greatest rapper would be from coincidence?/ Because if Anthony killed Ducky Top Dawg could be servin‘ life/While I grew up without a father and die in a gunfight.« Da können wir dem Schicksal nur danken. ■

Die Alben Kendrick Lamar »DAMN« | Interscope/ Universal Music 2017 | Audio-CD 16,99 Euro, MP3-Download 9,99 Euro

Joey Bada$$ »All-Amerikkkan Badass« | Cinematic Music Group (Alive) 2017 | Audio-CD 17,99, MP3-Download 9,99 Euro

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Review

Š Hamid Sulaiman / Hanser Berlin

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GRAPHIC NOVEL

Hamid Sulaiman | Freedom Hospital

Der etwas andere Arztroman Im Zentrum einer neuen Graphic Novel steht ein Untergrund-Krankenhaus im syrischen Kriegsgebiet. Neben dem täglichen Überlebenskampf zeigen die Bilder auch die verworrene Lage im Land Von Lisa Hofmann visten haben so wenig Nahrungsmittel, dass sie sich irgendwann gezwungen sehen, aus der von allen geliebten Katze eine Suppe zu kochen. Sie lassen sich aber weder durch den Verlust der Katze, noch die fortwährenden Kampfhandlungen und auch nicht durch die Todesfälle, auch unter den Unterstützern von Yasmins Projekt, entmutigen. Sulaiman fängt die Verzweiflung, aber auch die Hoffnungen von Yasmin in eindrücklichen Bildern ein. Dabei wechseln sich Flucht vor Bomben, Gespräche mit Unterstützerinnen und Unterstützern und romantische Abende ab. Durch diese Gegenüberstellung wirken die teilweise sehr drastischen Kriegsszenen noch erschütternder. Sulaiman erzählt mit seiner Graphic Novel nicht nur vom Mikrokosmos des »Freedom Hospitals«, sondern unternimmt auch den Versuch, die unübersichtliche Lage der verschiedenen in Syrien Krieg führenden Fraktionen und Nationen darzustellen. So wird bei jeder Waffe, die im Buch auftaucht, benannt, aus welcher Quelle sie stammt und von welcher Fraktion sie aktuell verwendet wird. Dadurch gewinnt man einen Überblickt über die Parteien, Nationen und Unternehmen der Rüstungsindustrie, die an diesem

Krieg verdienen. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto verworrener erscheint die Situation. Die Gräben zwischen den Kriegsparteien werden im Laufe der Zeit auch immer mehr zu Rissen in der Gemeinschaft der Aktivistinnen und Patienten des »Freedom Hospitals«. Zu Beginn der Graphic Novel diskutieren die Aktivisten der Friedensbewegung und die internationalen Journalisten friedlich und offen mit Sunniten, Muslimbrüdern und Alawiten. Sie erklären einander ihre jeweilige Sicht auf den Konflikt in Syrien, hören sich gegenseitig zu und machen sogar Witze mit- und übereinander. Mit der Zeit spitzen sich allerdings die Konflikte sowohl innerhalb der Gruppe als auch in Syrien insgesamt immer weiter zu. Der Islamische Staat (IS) beginnt, Kämpfer zu rekrutieren und Gebiete zu erobern. Manche verlassen das Krankenhaus, andere schließen sich dem IS an und bekämpfen ihre ehemaligen Freunde. Hamid Suleiman kämpfte selbst gegen Assad. Er wurde inhaftiert und gefoltert und lebt heute in Frankreich im Exil. Mit »Freedom Hospital« ist ihm ein eindrückliches Panorama des Kriegs in Syriens gelungen. Wem die drastischen Darstellungen nicht zu brutal sind, sei die Graphic Novel sehr empfohlen. ■

★ ★★ graphic novel | Hamid Sulaiman | Freedom Hospital | Hanser | Berlin 2017 | 288

Seiten | 24 Euro Review

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ine Stadt irgendwo in Syrien. Bomben fallen. Raketen und Gewehre werden abgefeuert, Menschen und Gebäude getroffen. Es ist Krieg. Die Gewalt, die Brutalität und das Grauen des Kriegs springen einen förmlich an beim Lesen und Betrachten der Graphic Novel »Freedom Hospital« von Hamid Sulaiman. Der Autor zeigt in schlichten Schwarz-Weiß-Bildern den Alltag des Kriegs in Syrien. Er zeichnet nicht nur Kampfhandlungen und Hinrichtungen, sondern auch Demonstrationen und das Leben der Patientinnen und Patienten, Aktivistinnen und Aktivisten des »Freedom Hospitals«. Dabei handelt es sich um ein selbstorganisiertes Krankenhaus, das die aus dem Exil zurückgekehrte Friedensaktivistin Yasmin mit einigen Verbündeten betreibt. Sie versuchen, verwundete Rebellen und Zivilisten zu versorgen und damit eine minimale medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten. Die Lage im »Freedom Hospital« ist katastrophal. Den Helferinnen und Helfern mangelt es an allem. Weder gibt es ausreichend medizinische Ausstattung noch genügend Medikamente. Keine internationale Hilfsorganisation unterstützt das Krankenhaus. Die Aktivistinnen und Akti-

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ein anderes Thema war jüngst so präsent wie die Debatte um Flucht und Migration. Begriffe wie »Obergrenzen«, »finanzielle Überforderung« oder »kulturelle Unterschiede« dominieren den Diskurs. Zum Teil wurden sie sogar von prominenten Persönlichkeiten der LINKEN reproduziert. Nicht jedoch von Katja Kipping. In ihrem Buch »Wer flüchtet schon freiwillig« wird nicht weniger als die Systemfrage gestellt. Die LINKEN-Vorsitzende weist zunächst detailliert die Verantwortung nach, die westliche Staaten für Flucht und Vertreibung haben. Die zunehmende Zahl der Geflüchteten sei keinem unglücklichen Zufall geschuldet, sondern habe Ursachen. Kipping schildert diese ausführlich. Neben der Handelspolitik der Europäischen Union auf dem afrikanischen Kontinent nennt sie unter anderem deren imperiale Außenpolitik, Kriegsbeteiligungen, Waffenexporte, Geheimdienstbündeleien, aber auch den Klimawandel und rassistische Verfolgungen. All diese Dinge geschehen bereits seit Jahrzehnten, basiert doch »unser Wohlstand hier (...), auf der doppelten Ausbeutung dort«, bilanziert Kipping. Gemeint ist damit sowohl die Ausbeutung von Naturressourcen als auch die von Arbeitskräften. Die Besonderheit der gegenwärtigen Situation sei daher weniger die Anzahl der Geflüchteten, als die Tatsache, dass sie es überhaupt bis nach Europa schaffen. Jahrzehntelang versuchte die EU dies zu verhindern: Sie investierte massiv in die Grenzsicherungsagentur Frontex und kooperierte mit repressiven Regimen rund ums Mittelmeer – immer mit dem Ziel, Geflüchteten den Weg nach Europa abzuschneiden. Nun sind deutlich mehr Menschen nach Europa gelangt als in der Vergangenheit. Das führte dazu, dass eine »neue Sichtbarkeit des Leids und der Flüchtlinge« entstanden sei. »Mit ihnen platzt die Systemfra-

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Katja Kipping | Wer flüchtet schon freiwillig

BUCH DES MONATS Amerika will eine Mauer bauen, Europa hat das Mittelmeer. Katja Kippings Buch über die gegenwärtige »Flüchtlingskrise« wird konkret, wo andere noch diskutieren Von Carolin Hasenpusch

★ ★★ buch | Katja Kipping | Wer flüchtet schon freiwillig. Die Verantwortung des Westens oder Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss | Westend | Frankfurt am

Main 2016 | 208 Seiten | 16 Euro ge in die bis dato heile Welt des Merkel’schen Biedermeiers.« Auch wenn kaum ein Geflüchteter seine Flucht als politische Aktion sehe, so würde doch jeder einzelne eine Botschaft nach Europa tragen: »So wie wir wirtschaften und handeln, wie wir arbeiten, konsumieren und Politik machen – so kann es nicht weitergehen.« Die Geflüchteten verweisen auf die Ungerechtigkeit der Weltwirtschaftsordnung und »setzen die Verteilungsfrage im globalen Maßstab auf die Agenda«. So unterschiedlich die Fluchtursachen zunächst erscheinen mögen, hängen sie doch zu-

sammen und greifen systematisch ineinander. Ihre Bekämpfung kann daher nur mit dem Kampf gegen das bestehende kapitalistische System einhergehen. Dies ist eine zentrale These des Buchs. Die Reaktionen der Herrschenden auf das, was sie »Flüchtlingskrise« nennen, lesen sich hingegen wie »ein Handbuch mit dem Titel: Was jetzt unbedingt zu vermeiden ist«. Auf wenige Wochen der offenen Grenzen folgte die größte Asylrechtsverschärfung seit den 1990er Jahren. Die europäische Abschottungspolitik floriert und die Komplizenschaft mit autoritären Regimen in Nord-

afrika und der Türkei wird weiter ausgebaut. Amerika will eine Mauer bauen, Europa hat das Mittelmeer. All das spielt Rassistinnen, Antidemokraten und rechten Kräften in die Hände. Kipping bleibt also keineswegs bei einer ökonomischen Erklärung stehen, sondern benennt Rassismus als eigenständiges Phänomen kapitalistischer Strukturen. Das gesellschaftliche Klima bezeichnet sie als eines, »in dem rassistische Gewalt gedeiht und ein neuer brauner Terror sich formiert«. Kippings Buch ist ein gelungener Rundumschlag zur sogenannten »Flüchtlingskrise« – einer Krise, die es so nicht gebe, sondern die sich viel mehr als Krise der sozialen Gerechtigkeit darstelle. Sie basiere nicht auf Mangel, sondern auf der Tatsache, dass Reichtum ungerecht verteilt ist. Doch der Band ist mehr als nur eine Bestandsaufnahme und politische Analyse: Er fordert dazu auf, sich für eine solidarische und gerechte Gesellschaft einzusetzen. Die gesellschaftliche Polarisierung ist so groß wie nie, doch es muss nicht unausweichlich nach rechts gehen – wenn wir alle zusammen handeln. So lautet eine weitere zentrale These. Hierin liegt die große Stärke von »Wer flüchtet schon freiwillig«: Kipping wird konkret. Gemäß dem Ausspruch »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren« präsentiert sie positive Beispiele von Aktivismus und solidarischer »Willkommenskultur«. Zudem liefert sie einen Ausblick auf mögliche Handlungsebenen für einen »Aufbruch in einen grenzübergreifenden Postkapitalismus«. Selbstverständlich lassen sich einige Vorschläge diskutieren und vor allem die Frage nach dem revolutionären Subjekt. Doch an dieser Stelle sei lediglich gesagt, dass Kippings Buch einen wichtigen und fundierten Beitrag zur Debatte liefert. Sie bringt eine Handlungsbezogenheit und Konkretheit ein, die in Diskussionen oft zu kurz kommt. ■


BUCH

Kohei Saito | Natur gegen Kapital

Die ökologische Krise im 21. Jahrhundert mit Marx verstehen Marx wird als ökologischer Denker rehabilitiert. Das vorliegende Buch rekonstruiert seine ökologische Kritik des Kapitalismus. Von Peter Oehler

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ielen gilt Karl Marx immer noch als wenig ökologisch. Dieser Haltung widerspricht Kohei Saito jetzt entschieden und fundiert mit dem vorliegenden Buch. Saito ist Soziologe und hat diese Arbeit als Dissertation an der Humboldt-Universität Berlin vorgelegt. Grundlage seiner Untersuchungen ist die neue historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA²), insbesondere Abteilung IV (Exzerpte, Notizen, Marginalien), an der Saito mitgearbeitet hat. Ein wesentlicher Vorwurf gegen Marx ist der des »Prometheanismus«, eines unerschütterlichen Fortschrittsglauben. Anhand der MEGA², insbesondere zahlloser Exzerpte und anderer, zum Teil unveröffentlichter Dokumente von Marx, zeigt Saito dagegen, dass Marx sehr wohl diverse wesentliche Veränderungen in seinem Denken durchgemacht hat. Saitos Ziel ist dabei gewesen, eine »systematische Darstellung der Marx'schen ökologischen Kritik« des Kapitalismus aufzuzeigen. Saito bestätigt die Fortschrittsgläubigkeit von Marx – zu seiner Zeit - und räumt auch ein, dass Marx am Anfang nicht ökologisch gedacht hat. Aber, und das macht das Wesentliche dieser Arbeit aus, er

zeichnet plausibel die Entwicklung nach, die Marx im Laufe seines Lebens vollzogen hat. Dass Marx dabei nicht nur die soziale (Schatten-)Seite des Kapitalismus wichtig war, sondern gerade auch die stoffliche, zeigt sich darin, dass er sich intensiv mit den Naturwissenschaften auseinandergesetzt hat. Saito macht zunächst den Übergang vom jungen Marx zu seinem späteren Werk deutlich, als sich Marx von Feuerbach bzw. von der Philosophie ganz allgemein verabschiedet hat. Diese Entwicklung ist vielen eventuell noch bewusst. Weniger bekannt ist dagegen, dass Marx auch ab 1868 noch einmal sein ganzes Denken wesentlich ökologischer ausgerichtet hat. Bereits vor 1868 hat Marx ja bereits eine ökologische Kritik am Kapitalismus formuliert, die ganz wesentlich auf der Stoffwechseltheorie von Justus von Liebig basiert. Nichtsdestotrotz herrschte in Marx' Denken noch eine gewisse Fortschrittsgläubigkeit vor, insbesondere was die Landwirtschaft betrifft. Ab 1868, nachdem also bereits der erste Band des »Kapital« erschienen war, richtete er seine Kritik, vor allem durch den deutschen Liebig-Kritiker Carl Fraas beeinflusst, neu aus. Das führte zu

einer deutlichen Distanzierung Marx von Liebig. Saitos Buch macht deutlich, dass sich wesentliche ökologische Konzepte konsequent durch Marx' ganzes Lebenswerk ziehen. Etwa in seiner Stoffwechseltheorie, der zufolge der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur rationell, das heißt nachhaltig, regeln muss, um eine unüberwindbare stoffliche bzw. Naturgrenze zu respektieren. In seiner Werttheorie: »dass der Wert als Vermittlung des übergeschichtlichen Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur die materiellen Bedingungen für eine nachhaltige Produktion nicht erfüllen kann«. Auch die »internationale Ausbeutung von begrenzten Ressourcen« war Marx voll und ganz bewusst. Ich kann dieses Buch auf alle Fälle jedem, der sich nicht nur mit Marx, sondern gerade auch mit Ökologie auseinandersetzen möchte, empfehlen. Denn es weist überzeugend nach, dass Marx nicht die absolute Herrschaft der Menschheit über die Natur proklamiert hat, wie es ihm heute noch von einigen Umweltaktivisten vorgeworfen wird, und dass keineswegs er für das teils noch gespannte Verhältnis zwischen Marxismus und Ökologie verantwortlich gemacht werden kann. ■

★ ★★ BUCH | Kohei Saito | Natur gegen Kapital. Marx' Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus | Campus-Verlag | Frankfurt am Main 2016 | 328 Seiten | 39,95 Euro

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Buch

Ali Cem Deniz | Die neue Türkei

Die Geschichte der Türkei neu erzählt Die Türkei unter Erdogan polarisiert. Ali Cem Deniz beleuchtet in seinem Buch »Yeni Türkiye – Die Neue Türkei. Von Atatürk bis Erdogan« die Geschichte und Gesellschaft des türkischen Staates jenseits von Klischees. Von Heinz Willemsen

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★ ★★ BUCH | Ali Cem Deniz | Yeni Türkiye - Die neue Türkei. Von Atatürk bis Erdogan | Promedia Verlag | Wien 2016 | 216 Seiten | 17,90 Euro

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nter der Führung von Recep Tayyip Erdogan hat die AKP eine in der türkischen Geschichte beispiellose Folge an Wahlsiegen errungen. Keine andere Partei konnte so lange an der Regierung bleiben. Kaum ein Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk war so einflussreich und so umstritten wie Erdogan. Das kemalistische Bürgertum und das Militär, das jahrzehntelang die Politik in der Türkei bestimmt hatte, sieht sich heute in der Defensive. Die Popularität von Erdogan können sie sich nur damit erklären, dass ungebildete Massen aus den ländlichen Regionen auf populistische Islamisten hereingefallen sind. Und viele deutsche Linke folgen ihnen in diesem Erklärungsversuch. Ali Cem Deniz zeigt in seinem Buch über die neue Türkei, dass diese Klischees den Blick auf die gewaltige Transformation der türkischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verstellen und, so darf man anfügen, die Linke in ihrem Widerstand gegen die autoritäre Umgestaltung unter Erdogan entwaffnen. Die moderne Türkei ist aus der Oppositionsbewegung in den oberen Rängen der Gesellschaft und des Staates im Osmanischen Reich entstanden. Die jungen Eliten, die ihren Stützpunkt vor allem im Militär hatten, sahen die Schwäche des Reiches in den

auffälligsten Unterschieden zum Westen, in der Religion und der multiethnischen Gesellschaft. Der Islam und die Kurden wurden deshalb zu den Feindbildern der kemalistischen Klasse. Als Abkömmlinge der Oberklassen gaben sie sich offen elitär. Die ungebildeten Massen mussten mit positivistischen und nationalistischen Ideen erzogen werden. Der Kemalismus, das wird nach Lektüre des Buches »Yeni Türkiye« deutlich, ist nicht nur eine Klassenbewegung der Ober- und Mittelschichten. Der jahrzehntelange Bürgerkrieg gegen die Kurden hat seinen Ursprung im Bemühen der Kemalisten, einen ethnisch homogenen Nationalstaat zu gründen. Das erklärt auch, warum die HDP sich ohne jedes Wenn und Aber gegen den Militärputsch im Juni 2016 gestellt hat. Auch ist der Völkermord an den Armeniern, wie deutsche Debatten im letzten Jahr nahelegen, kein Ausfluss des Islam, denn es waren Angehörige des »Komitees für Einheit und Fortschritt«, die Vorläufer der Kemalisten, die ihn organisiert hatten. Viele Leser werden sich erstaunt die Augen reiben, wenn sie lesen, dass ausgerechnet Erdogan der erste türkische Politiker war, der Trauer um die Toten von 1915 bekundete, auch wenn er den Begriff Genozid vermied. Die Geschichte der Türkei von

ihrer Gründung 1923 bis zur Jahrtausendwende ist vor allem eine Geschichte des Kampfes des kemalistisch-laizistischen Bürgertums gegen die überwältigende Mehrheit der türkischen Bevölkerung. Der Gegensatz zwischen den »weißen« Türken (den kemalistischen Mittel- und Oberschichten) und den »schwarzen« Türken (der überwältigenden Mehrheit der islamischen Landbevölkerung ANatoliens und den Kurden im Südosten) bestimmte die Politik der Türkei nach dem zweiten Weltkrieg. Mit mehreren Militärputschen versuchte das Bürgertum, seine Macht zu sichern. Doch die ökonomische Entwicklung förderte die Emanzipation des Islam und der Kurden. Millionen türkischer Bauern in ANatolien sowie Arbeiter und Angehörige der Unterschichten in Istanbul sahen Erdogans Wahlsieg 2002 als Befreiung an. Auch viele Kurden versprachen sich von der AKP-Regierung ein Ende der Repression. Angesichts der autoritären Wende seit dem gescheiterten Militärputsch warnt Ali Cem Deniz vor der Falle eines Kulturkampfs – des Laizismus gegen den Islam. Wer die politische Geschichte der Türkei verstehen will, sollte zu seinem Buch über die neue Türkei greifen, auch wenn die ökonomische Geschichte des Landes in dem Buch zu kurz kommt. ■


BUCH

Mithu Melanie Sanyal | Vergewaltigung

Der böse Mann erklärt nur wenig Vergewaltigungen sind noch immer ein großes Tabuthema. Ein neues Buch bettet sexualisierte Gewalt nun in gesellschaftliche Zusammenhänge ein – und liefert Ideen für einen angemessenen Umgang Von Rebecca Offermann

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uch für Leserinnen und Leser, die sich schon näher mit Vergewaltigung und Vergewaltigungsmythen (wie »Vergewaltigungen finden vor allem im öffentlichem Raum durch unbekannte Männer statt«) beschäftigt haben, bietet Mithu M. Sanyals Buch neue Perspektiven auf dieses Tabuthema. Das Anliegen der Kulturwissenschaftlerin und Journalistin ist es, vorherrschende Ansichten über sexualisierte Gewalt auf den Prüfstand zu stellen. Hierfür liefert sie eine schlaglichtartige Übersicht über historische, feministische und aktuelle Vergewaltigungsdebatten. Zum besseren Verständnis der heutigen Sichtweisen schildert Sanyal ausgewählte Beispiele aus der Geschichte. So wurde in der Antike die Ehre von Frauen in ihrem Körper verortet. Eine vergewaltigte Frau verlor ihre Ehre, was ein existenzbedrohender Zustand war. Die Vorstellung, dass eine Vergewaltigung schlimmer als der Tod ist, wurde zusammen mit anderen Denkmustern über Jahrhunderte – zum Teil bis heute – transportiert. Dass Sanyal solche historischen Zusammenhänge aufdeckt, ist eine große Stärke ihres Buches. Oftmals wird von Betroffenen einer Vergewaltigung erwartet, dass sie vollkommen zusammenbrechen. Die Autorin kriti-

siert diese Haltung. Sie will dabei keineswegs die Schwere dieses Verbrechens anzweifeln, sondern Betroffenen und deren Umfeld einen Umgang jenseits von Klischees erleichtern. Sanyal betont, dass die Reaktionen auf sexualisierte Gewalt stark von den individuellen Lebensumständen der Betroffenen abhängen. Auch der gesellschaftliche Kontext spiele eine Rolle. Nach wie vor würde Betroffenen oft nicht geglaubt, dass sie vergewaltigt wurden. Darin sieht die Autorin einen der Hauptgründe dafür, dass so wenig über die Diversität von Vergewaltigungserfahrungen gesprochen werden kann. Sanyal legt Wert darauf, dass Vergewaltigung ein Verbrechen ist und keine Identität. Damit möchte sie darauf hinweisen, dass es Gründe dafür gibt, dass eine Person sexualisierte Gewalt ausübt (was die Tat natürlich nicht rechtfertigt). Die Erklärung, jemand sei „ein böser Mann“, sei hier nicht ausreichend. Als Therapie schlägt sie Empathie- und Konsenstrainings für Vergewaltiger vor. Obwohl – statistisch gesehen – in den meisten Fällen Frauen vergewaltigt werden und Männer vergewaltigen, plädiert Sanyal für die Einsicht, dass Geschlecht nicht vor Vergewaltigung schützt. Es gäbe auch betroffene Männer und gewalttätige Frauen. Darüber hinaus setzt sich die Au-

torin mit der Vermischung von sexualisierter Gewalt und Rassismus auseinander. Diesen Aspekt erläutert sie anhand der Debatten über die Silvesternacht 2015 in Köln. Zudem nennt sie historische Beispiele, etwa das Bild des vermeintlich schwarzen Vergewaltigers in den USA, das als Rechtfertigung für Lynchmorde genutzt wurde. Eine Schwäche des Buches ist, dass es keine tiefergehende Analyse von Frauenunterdrückung und der Rolle von sexualisierter Gewalt liefert. Sanyal fokussiert ausschließlich auf die destruktiven Auswirkungen, welche die Aufteilung der Menschheit in Männer und Frauen und die daran anknüpfenden geschlechterbezogenen Zuschreibungen mit sich bringen. Ebenso wenig thematisiert sie in ihrem Buch den Umgang mit Vergewaltigungen in linken Kreisen. Der Schwerpunkt liegt auch nicht auf praktischen Bewältigungsstrategien von sexualisierter Gewalt. Doch die facettenreiche Betrachtung des Themas liefert jede Menge Ideen für einen angemessenen Umgang mit Vergewaltigung. Dadurch, dass Sanyal unterschiedliche Aspekte beleuchtet, bietet sie Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, sich Denk- und Handlungsoptionen jenseits von Glaubenssätzen anzueignen. ■

★ ★★ BUCH | Mithu Melanie Sanyal | Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens | Edition Nautilus | Hamburg 2016 | 240 Seiten | 16 Euro

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Preview

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PREVIEW | FILM

Oktoberrevolution (re)animiert Künstlerinnen und Künstler in Sankt Petersburg hatten ganz unterschiedliche Haltungen zur Revolution im Jahr 1917. Ein experimenteller Trickfilm erweckt ihre Erfahrungen zum Leben

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Von Lisa Hofmann

as sehen wir vor unserem inneren Auge beim Wort Oktoberrevolution? Lenin, der auf einer Barrikade steht und eine kämpferische Rede an die vor ihm versammelten Massen hält? Schier endlose Demonstrationszüge, die sich durch Sankt Petersburg schlängeln? Diese und viele andere Szenen in unseren Köpfen entstammen wahrscheinlich dem Stummfilm »Oktober« (1928) von Sergei Eisenstein oder dem Buch »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« von John Reed. Reeds Buch war die Vorlage für Eisensteins Film. Aber sind das schon alle Bilder und Geschichten zur Oktoberrevolution? Wie haben Künstlerinnen, Künstler und Intellektuelle die Zeit des Umbruchs, der Doppelherrschaft und den Sieg der Bolschewiki in Sankt Petersburg erlebt? Welche Rolle spielten sie selbst im revolutionären Prozess? Waren sie Teil der Bewegung, versuchten sie, die Kunst von der Politik zu trennen, oder standen sie aufseiten der Konterrevolution? Diesen Fragen geht die Regisseurin Kathrin Rothe in dem animierten Dokumentarfilm »1917 – Der wahre Oktober« nach. Rothe rekonstruiert die Ereignisse des Jahres 1917 in Sankt Petersburg mithilfe der persönlichen Aufzeichnungen und Tagebücher des Kunstkritikers Alexander Benois, der Lyrikerin Sinaida Hippius, des Malers und Avantgardisten Kasimir Malewitsch, des Schriftstellers und Marxisten Maxim Gorki und des Dichters Wladimir Majakowski. Sie alle erleben die Veränderungen, die mit der Oktoberrevolution in ihr Leben treten, jeweils aus einem unterschiedlichen Blickwinkel und gehen auf eigene Art mit ihnen um. Der Kunstkritiker Benois sorgt sich um den Erhalt der bürgerlichen Kunstwerke in der Ermitage. Er gründet eine Kommission zum Schutz der Denkmäler und Kunstwerke. Sinaida Hippius wohnt gegen-

über der Duma; sie kann die meisten Auseinandersetzungen in und um das Parlament aus nächster Nähe beobachten. Viele hochrangige Politiker gehen in ihrem Salon ein und aus. Sie verabscheut die Bolschewiki und versucht im Hintergrund, Intrigen gegen sie zu spinnen. Der Maler Malewitsch engagiert sich in den neu gebildeten Räten. Er möchte die Kunst aus den gebildeten bürgerlichen Schichten ins Volk bringen und gründet dafür Kunstbrigaden. Gorki ist eng mit den revolutionären Bolschewiki, vor allem mit Lenin, befreundet. Er diskutiert in den Versammlungen der Bolschewiki über Strategie und Taktik der Revolution, streitet aber auch weiterhin mit anderen Künstlerinnen und Künstlern über die Funktion der Kunst in revolutionären Zeiten. Der Lyriker Majakowski ist vollkommen begeistert von den Ideen der Bolschewiki und möchte mit der Revolution auch eine Revolution der Kunst vorantreiben. Wo immer es möglich ist, lässt Kathrin Roth die porträtierten Personen selbst sprechen und legt den animierten Figuren Zitate aus Aufzeichnungen und Tagebüchern in den Mund. Dadurch entsteht ein interessantes Panorama unterschiedlicher Sichtweisen auf die Oktoberrevolution. Die animierten Szenen werden immer wieder durch Szenen aus dem Entstehungsprozess des Films ergänzt. So kann man beobachten, wie Szenen mit Scherenschnitten aus schwarzem Karton entstehen oder wie sich die Zeitleiste an der Wand des Ateliers mit immer mehr Ereignissen füllt. Durch diese zusätzliche Metaebene erhalten die animierten Szenen eine Rahmung, die den Film abrundet. »1917 – Der wahre Oktober« ist eine ungewöhnlich Rekonstruktion der Oktoberrevolution und allen zu empfehlen, die der Frage nachspüren möchten, in welchem Verhältnis Kunst und revolutionärer Prozess zueinander stehen können. ■

DER FILM

1917 – Der wahre Oktober Regie: Kathrin Rothe Deutschland 2017 Maxim Film 90 Minuten Filmstart: 11. Mai 2017 marx21 02/2017

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PREVIEW | Tür-zu-Tür-Wahlkampf

»Schönen guten Tag, ich bin von der Partei DIE LINKE…« Mit dem Tür-zu-Tür-Wahlkampf greift die Linkspartei auf bewährte Organisationsmethoden der Arbeiterbewegung zurück Vom Bereich Kampagnen & Parteientwicklung der Bundesgeschäftsstelle der LINKEN

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austürgespräche sind eine ziemlich alte Methode, um Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Als noch keine technischen Kommunikationsmittel die Massen erreichen konnten, ging man von Tür zu Tür, um die Ideen der Arbeiterbewegung zu verbreiten und neue Mitstreitende zu gewinnen. Heute, wo wir viele Menschen nicht mehr über klassische Wahlkampfaktivitäten erreichen, sind solche Gespräche wieder aktuell geworden. Im direkten Gespräch mit den Menschen sind wir nicht darauf angewiesen, dass jemand unsere Flyer liest, zu Veranstaltungen kommt oder unsere Forderungen aus den Medien kennt. Wir gehen dahin, wo die Leute sind. Dort, wo man DIE LINKE wählt oder gewählt hat. Dort wo die Wahlbeteiligung gering ist. An diesen Orten haben wir die besten Chancen, Wählerinnen zu treffen und zu mobilisieren. Studien belegen einen klaren Zusammenhang zwischen Wahlenthaltung und sozialer Situation. Die Armen sind es, die nicht mehr wählen, während die Oberschicht ihr Wahlrecht wahrnimmt. Diese Schieflage in der Repräsentation gilt es zu überwinden. Als LINKE haben wir Vorschläge, die jenen ohne Hoffnung helfen können. In der Partei DIE LINKE wurden in den letzten Jahren bereits einige Erfahrungen mit Haustürgesprächen gemacht. Für den Bundestagswahlkampf bündeln wir diese und nutzen sie für Multiplikatoren-Schulungen sowie Aktiven-Trainings in Landesund Kreisverbänden. Das Wichtigste für den aufsuchenden Wahlkampf sind motivierte Aktive, die freundlich und unvoreingenommen auf die Menschen zugehen. Die offene und positive Haltung ist der erste Schritt. Als Zweites braucht es Vorbereitung. Es ist keine gute Idee, einfach so von Tür zu Tür zu gehen. Ein wenig Übung ist notwendig, sowie eine genaue Auswahl der Gebiete und eine Idee für den Aufbau des Gesprächs. An den Wohnungstüren verliert man

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schnell die Scheu und sammelt Erfahrung im Umgang mit den Menschen. Wichtig ist auch die Nachbereitung. Man sollte wissen, wo man schon war, um nicht mehrmals an die gleiche Tür zu klopfen. Treffen wir auf Menschen, die der LINKEN offen gegenüberstehen, laden wir sie zu einem Treffen ein. Manche geben uns auch ihre Kontaktdaten, um in Verbindung zu bleiben. Gesammelte Kontakte müssen daher zeitnah in eine direkte Ansprache münden. So werden aus LINKE-Wählern ganz schnell Wahlkämpferinnen oder Mitglieder. Auch für die Aktiven vor Ort lohnt sich der Einsatz: Sie lernen ihre Gegend besser kennen. Im direkten Gespräch erfährt man, welche Themen die Menschen bewegen und was sie sich wünschen. Die abstrakten Diskussionen um soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden bekommen einen ganz realen Bezug zu den Menschen vor Ort. Darüber hinaus ist der Wahlkampf eine gute Gelegenheit, erste Erfahrungen mit Haustürgesprächen zu machen. Mit diesen Erfahrungen kann man dann auch jenseits von Wahlen zu den Menschen gehen. Wenn es Mietsteigerungen in einem Viertel gibt, macht man sich auf und organisiert Widerstand. Wenn man eine Kampagne für eine bessere Gesundheitsversorgung organisiert, geht man durch den Ort und sammelt Unterstützerinnen. Haustürgespräche verbinden uns stärker mit den Menschen, für die wir Politik machen wollen. Im schlimmsten Fall wollen einige nicht mit uns reden. Aber im besten Fall gewinnen wir nicht nur Wähler sondern aktive Mitstreiterinnen. Darum raus an die Türen. Es lohnt sich. ★ ★★ Mehr Informationen Wenn Ihr Interesse am Haustürwahlkampf habt, könnt ihr euch bei der Bundesgeschäftsstelle der LINKEN melden. Schreibt einfach eine E-Mail an: haustuergespraeche@dielinke.de.


Zur Verteidigung der Russischen Revolution | von John Rees | 130 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-23-4 | 2017

Refugees Welcome – Marxismus und Migration | Textsammlung | 80 Seiten, 3,50 Euro | ISBN 978-3-947240-01-2 | 2017

Ché Guevara und die kubanische Revolution | von Mike Gonzales | 112 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-32-6 | 2009

Erdogans Türkei - Ein Land zwischen Repression und Widerstand | mit Beiträgen von Erkin Erdogan, Jürgen Ehlers, Nicole Gohlke, Ron Margulies | 100 Seiten, 4,50 Euro | ISBN 9783-947240-05-0 | 2017

Krieg im Osten - Die Ukraine zwischen Nationalismus, Imperialismus und Revolution | von Klaus Henning | 100 Seiten, 4,50 Euro | ISBN 978-3-94724000-5 | 2017

Wer war Lenin? | von Ian Birchall | 48 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-34-0 | 2009

Politischer Islam – eine marxistische Analyse | von Chris Harman | 84 Seiten, 3,50 Euro | ISBN 978-3-934536-23-4 | 2012

Wie frei ist die Frau? | mit Beiträgen von Judith Orr, Katrin Schierbach, Maya Cohen-Mosler | 53 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 9783-934536-33-3 | 2009

Der Markt versagt – eine marxistische Antwort auf die Krise | mit Beiträgen von Chris Harman, Tobias ten Brink | 46 Seiten, 2 Euro | ISBN 978-3934536-14-2 | 2009

Islam, Rassismus und die Linke | mit Beiträgen von Marwa al-Radwany, Stefan Ziefle, Volkhard Mosler, David Crouch | 37 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 9783-934536-34-0 | 2009

Marxismus und Anarchismus | von John Molyneux | 58 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3-934536-42-5 | 2013

Rassismus – Meinungsmacher, Ideologien, Gegenkräfte | theorie21 Nr. 2/2012 | mit Beiträgen von Alex Callinicos, Deepa Kumar, Kate Davison, Volkhard Mosler, u.a. | 186 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-60-9

Wieviel Demokratie verträgt der Kapitalismus? – der Staat, das Kapital und die Linke | mit Beiträgen von Colin Barker, Chris Harman, Yaak Pabst, Win Windisch | 46 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-38-8 | 2010

Marxismus & Gewerkschaften | theorie21 Nr. 1/2013 | mit Beiträgen von Bill Dunn, Luigi Wolf, Olaf Klenke, Heiner Dribbusch, Frank Renken, Jürgen Ehlers, u.a. | 338 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-48-7

Die revolutionären Ideen von Karl Marx | von Alex Callinicos | 277 Seiten, 16,80 Euro | ISBN 978-3-89965-476-9 | 2011

Edition Aurora Bücherstand im Foyer oder bestellung an: marx21 | Edition Aurora, Postfach 44 03 46, 12003 Berlin info@marx21.de; Versandkosten: 0,85 Cent (Inland)



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