marx21 Ausgabe Nummer 47 / 01-2017

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marx21 01/2017 | Frühjahr 2017 | 4,50 EUrO | marx21.dE

Pflegestreik Fünf Insider berichten vom Klassenkampf im Krankenhaus

sahra Wagenknecht Wo sie richtig liegt und wo nicht

magazin Für intErnatiOnalEn SOzialiSmUS

Bundeswehr

Martialische Mission in Mali

80 Jahre Guernica

Wie Pablo Picasso die Kunstwelt auf den Kopf stellte

schulz-effekt

Der SPD-Kandidat und die Linke

innere sicherheit Auf dem Weg in den Überwachungsstaat?

Karl Marx

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Vom Massenprotest zur politischen Alternative - strategien für die Linke im Kampf gegen rechts

195906

204501

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Österreich 4,70 eUrO schWeiZ 7,50 chF

© Illustration: egarcigu.com

Ein neuer Film entstaubt den Meister


BERLIN »Wir haben es satt!« Unter diesem Motto hatten am 17. Januar zahlreiche Verbände und Organisationen zu Protesten gegen die Agrarpolitik von EU und Bundesrepublik aufgerufen. 18.000 Menschen kamen - mit guter Laune, bunten Kostümen und kreativen Plakaten. Eine große Menschenmenge – viele verkleidet als Kuh, Schwein oder Huhn – zog trotz eisigen Temperaturen vom Potsdamer Platz Richtung Brandenburger Tor. Die Protestierenden wollten im Jahr der Bundestagswahl auch auf wichtige politische Entscheidungen aufmerksam machen: Wie Glyphosat-Zulassung, GentechnikGesetz oder Baurecht für Megaställe. Die Demonstrierenden kritisierten die Orientierung der Politik an den Interessen von Investoren und Agrarkonzernen. Stattdessen forderten sie eine umweltverträgliche, ressourcenschonende, sozial gerechte und vielfältige Landwirtschaft.

© Jakob Huber / Campact / flickr.com / CC BY-NC


EDITORIAL |FRÜJAHR 2017

Liebe Leserinnen und Leser,

S

eit der Amtseinführung von Donald Trump geht eine Schockwelle durch die USA und die ganze Welt. Wer gehofft hatte er würde seinen Rassismus und Chauvinismus im Amt mäßigen, wurde bitter enttäuscht. Doch Trumps Frontalangriff blieb nicht ohne Folgen: Er löste eine Massenbewegung aus, wie sie sich Linke in den USA die letzten Jahrzehnte nur erträumen konnten. Auch auf der anderen Seite des Atlantik schreitet die gesellschaftliche Polarisierung rasant voran. Während die Partei des rassistischen Hetzers Geert Wilders bei der Parlamentswahl in den Niederlanden stärkste Kraft zu werden droht, hat in Frankreich Marine Le Pen vom neofaschistischen Front National Chancen im Mai in den ÉlyséePalast einzuziehen. In Deutschland droht die AfD mit zweistelligem Ergebnis in den Bundestag zu kommen, während der Nazi-Flügel um Björn Höcke weiter an Einfluss gewinnt. Die drängende Frage für die Linke lautet: Wie stoppen wir die rechten Hetzer? Antworten geben wir auf über zwanzig Seiten in unserem Titelthema ab Seite 14. Bereits am 22. und 23. April werden wir in Köln die Chance auf eine bundesweite Massenmobilisierung gegen die AfD haben. Petry und Co. laden zum Bundesparteitag und wir wollen ihnen die Show vermasseln. Was geplant ist, erklärt Reiner Schmidt von »Köln gegen Rechts« auf Seite 86. Doch nicht nur von der AfD und der radikalen Rechten geht in Deutschland eine Gefahr aus. Die Bundesregierung missbraucht die Angst vor Terroranschlägen für eine drastische Verschärfung der Sicherheitsgesetze. Wir sprachen mit dem Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schultz, der sogenannte Gefährder vertritt, über vermeintliche Hassprediger und den autoritären Sicherheitsstaat. Das Interview ab Seite 8.

unerwartet aus dem Umfragetief befördert. Was das für DIE LINKE bedeutet und wie sie mit den wachsenden Hoffnungen auf Rot-Rot-Grün umgehen sollte, erfahrt ihr ab Seite 48 in unserem Schwerpunkt »R2G und DIE LINKE«. Zudem nehmen wir hier die Strategie von LINKE-Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht unter die Lupe und unser Gesprächspartner Raul Zelik verrät, warum man beim Fahrradfahren die Gesetze der Gravitation beachten sollte. Dass auch in Deutschland antirassistische Proteste großes Potenzial haben, beweisen nicht nur mehrere Großdemonstrationen und Blockaden gegen Auftritte der AfD, sondern auch die Proteste gegen die ersten Sammelabschiebungen nach Afghanistan. Die Tatsache, dass die Bundesregierung zehntausende Menschen in ein Kriegsgebiet abschieben will, sorgt zurecht für Empörung. Ein Ausdruck davon: Als wir auf unsere Facebook-Seite die kämpferische Rede der Fraktionsvorsitzenden der hessischen LINKEN Janine Wissler gegen die Abschiebungen stellten, ging der Beitrag durch die Decke. Er erreichte über eine halbe Million Menschen und Janine bekam aus dem ganzen Land Dankschreiben für ihre klaren Worte. Auch aus unserer Redaktion gibt es erfreuliches zu berichten: Seit dieser Ausgabe unterstützen Jan Kallen und Peter Stolz unser Team. Von Peters Schreibkunst und Musikgeschmack könnt ihr euch auf Seite 78 beim »Album des Monats« überzeugen. Jan steuerte diese Ausgabe den »Weltweiten Widerstand« auf auf der Doppelseite 40/41 bei. Das wichtigste zum Schluss: Das Programm von »MARX IS’ MUSS 2017« steht. Ihr findet es auf Seite 42/43. Anmelden kann man sich zwar schon länger, jetzt wird es aber langsam Zeit. Also auf geht’s!

IN EIGENER SACHE

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Vielen Dank an Eduard Garcia! Der Illustrator Eduard Garcia hat uns seine Grafik für das Titelbild zur Verfügung gestellt. Mehr Informationen zu seiner Arbeit findet ihr unter: egarcigu.com

Eure Redaktion Die Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD hat die Partei

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse

Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 68 23 14 90 marx21 01/2017

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inhalt

MARX21 #47 | Frühjahr 2017

Titelthema: Wie stoppen wir die Hetzer? Von Trump bis zur AfD Der Kampf gegen rechts in Zeiten wachsender Polarisierung

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Völkisch, frauenfeindlich, elitär Das Familienbild der AfD und der Nationalsozialismus 20 Rechtsterrorismus Was der Staat aus den NSU-Verbrechen gelernt hat

22

Geert Wilders Warum die niederländische Linke einen Kurswechsel braucht

24

Marine Le Pen und der Front National Im Herzen schlummert der Faschismus

28

Trump und die extreme Rechte Warum die »Alt-Right« die Republikaner zerstören will

30

»Kampf der Kulturen« Wie die Trump-Bande den »Rassenkrieg« heraufbeschwört

32

Trump und Berlusconi Was wir aus den Fehlern der italienischen Linken lernen können

36

Bundesparteitag der AfD Wie wir der AfD die Show vermasseln werden

86

49

Schulz-Effekt Der SPD-Kandidat, DIE LINKE und ein vergiftetes Angebot

Schwerpunkt: R2G und DIE LINKE

marx21.de

Schulz-Effekt Der SPD-Kandidat, DIE LINKE und ein vergiftetes Angebot

49

Schröders »Agenda 2010« Warum der Verrat nichts mit Charakterlosigkeit zu tun hat

52

Bewegungspartei Raul Zelik über das Ende der liberalen Moderne und die Aufgaben der Linken

56

R2G in Berlin Sie schießen auf Andrej Holm und meinen den Koalitionsvertrag

59

Sahra Wagenknecht Wo sie richtig liegt und wo nicht

62

Inland

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marx21 01/2017

Überwachungsstaat Ein »Linksanwalt« über die wahren »Gefährder«

08

G20-Gipfel in Hamburg Hauptsache Protest?

13

Pflegestreik Fünf Insider berichten vom Klassenkampf im Krankenhaus

44

Schwarzbuch Bundeswehr Fakten gegen die Propaganda der Kriegstreiber

81

28

Marine Le Pen und der Front National Im Herzen schlummert der Faschismus


42

»MARX IS MUSS 2017« Das Programm: Der gesamte Kongress auf einen Blick

Internationales

36

Trump und Berlusconi Was wir aus den Fehlern der italienischen Linken lernen können

Mali Warum der Bundeswehreinsatz zu einem zweiten Afghanistan zu werden droht

12

Chile Wie die Mapuche-Ureinwohner gegen Großkonzerne kämpfen

41

Europa als Beute Ein Dokumentarfilm über die Krise, der dennoch nicht deprimiert

77

Spanien Die Linke jenseits von Podemos und 15M

79

Geschichte Februarrevolution 1917 Wie ein spontaner Aufstand Rußland und die Welt veränderte

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Imperialismus Wie der Westen den Nahen Osten in den Abgrund riss 80 Theorie Die Granulare Gesellschaft Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst Neues theorie21-Journal 100 Jahre Russische Revolution und die Lehren für heute

81 85

Kultur

66

Februarrevolution 1917 Wie ein spontaner Aufstand Rußland und die Welt veränderte

62

Karl Marx Ein neuer Film entstaubt den Meister

69

80 Jahre Guernica Wie Pablo Picasso die Kunstwelt auf den Kopf stellte

72

Macht der Kunst Eine baskische Aktivistin über Guernica und den Kampf gegen das Vergessen 75 Sahra Wagenknecht Wo sie richtig liegt und wo nicht

Album des Monats Ein 19 Jahre alter Offenbacher nimmt den Mund voll und behält Recht 78 Graphic Novel Wie Carlo Giuliani beim G8-Gipfel in Genua ermordert wurde

83

Rubriken

69

Karl Marx Ein neuer Film entstaubt den Meister

Fotofeature Editorial Impressum Betriebsversammlung Briefe an die Redaktion Unsere Meinung marx21 Online Weltweiter Widerstand Review Preview

02 03 06 06 07 12 27 40 76 84

marx21 01/2017

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IMpressum | Frühjahr 2017

marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 11. Jahrgang, Heft 47 Nr. 1, Frühjahr 2017 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Print & Online Yaak Pabst (leitender Redakteur/V.i.S.d.P.), Martin Haller (stellv.), Tilmann von Berlepsch, Lisa Hofmann, David Jeikowski, Jan Kallen, Jan Maas, Boris Marlow, Peter Stolz Lektorat Clara Dirksen, David Paenson, Christoph Timann, Ilonka Wilk, Irmgard Wurdack Übersetzungen David Paenson, Rosemarie Nünning Layout Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara Covergestaltung Yaak Pabst, Illustration: Eduard Garcia / egarcigu.com Redaktioneller Beirat (Koordinierungskreis marx21) Stefan Bornost, Christine Buchholz, Hannes Draeger, Michael Ferschke, Werner Halbauer, Martin Haller, Ewald Heimann, Christoph Hoffmeier, Daniel Kerekes, Ronda Kipka, Jary Koch, Rhonda Koch, Julia Meier, Volkhard Mosler, Yaak Pabst, Frank Renken, Fanni Stolz, Oskar Stolz, Heinz Willemsen, Luigi Wolf Aboservice-Team Phil Butland, Stefan Hanczuch, Renate Heitman, Klaus Henning, Rita Renken, Alper Sirin Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint viermal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 68 23 14 90 Fax: 030 – 68 22 97 35 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint Ende Mai 2017 (Redaktionsschluss: 28.04.)

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Tilman von Berlepsch, Redakteur

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ilmans erste politische Aktion ist wildes Plakatieren für den Schul- und Unistreik im Jahr 2009. Der guerillamäßige Aktivismus packt ihn und lässt ihn fortan nicht mehr los. Während seiner Abiturphase verspürt er das Bedürfnis, etwas gegen die globale Ungerechtigkeit zu unternehmen. Deshalb engagiert er sich für die Trinkwasserinitiative »Viva con Agua« und organisiert Konzerte, Bildungs- und Protestveranstaltungen. Nach bestandenem Abitur zieht Tilman von Kassel nach Berlin, absolviert dort ein Freiwilliges Soziales Jahr und studiert schließlich Politik und Wirtschaft. Nun beginnt er auch, sich intensiver mit dem Marxismus zu beschäftigen. Bald kommt es zu Konflikten mit seiner bisherigen politischen Praxis und er sucht nach einer neuen Politgruppe. Auf einer Demonstration bekommt er einen Flyer von marx21 in die Hand gedrückt, der eine Veranstaltung zu Luxemburgs »Reform oder Revolution« bewirbt. Schon bald wird Tilman Mitglied des Hochschulverbands Die Linke.SDS und ist nun bei jeder Aktion dabei – egal, ob Blockupy-Proteste in Frankfurt oder die Unterstützung des Streiks an der Charité anstehen. Im Sommer 2016 versucht Tilman aus der »eigenen Komfortzone« auszubrechen und beteiligt sich drei Wochen an der Flüchtlingsnotrettung vor der libyschen Küste. Er will »Blut, Schweiß und Tränen für Menschen in existenzieller Not geben«. Nach wie vor ist dem Politologen die Verbindung von politischer Theorie und praktischem Handeln wichtig. In unserer Redaktion betreut er unter anderem die Beiträge zu den Themen Gewerkschaften, Arbeitswelt, Eurokrise und Türkei.

Das Nächste Mal: Jan Kallen


Briefe an die Redaktion | Frühjahr 2017

Briefe an die Redaktion

Gesamtsituation. Nun wird Trump vor der Aufgabe stehen, »seine« Kapitalinteressen durchzusetzen, ohne dem gesamten USKapital (zu heftig) zu schaden. Das ist eine, meiner Meinung nach, unlösbare Aufgabe. Deshalb werden die Konflikte eher noch zunehmen (oder Trump belässt es bei wenigen symbolischen Veränderungen). Die Hoffnungen der Wählerinnen und Wähler werden in jedem Fall enttäuscht. Deshalb müssen wir eine neue Welle der Sündenbockpolitik erwarten. Stefan Ziefle, Wächtersbach

Zum Interview »Einen Keil zwischen Erdogan und die Arbeiterklasse treiben« mit Ron Margulies (Heft 4/2016) Zum Artikel »Der neue Bonaparte« von Christian Schröppel (Heft 4/2016) Der »18. Brumaire« ist meines Erachtens kein tauglicher Text zur Analyse der Wahl Donald Trumps. Marx analysierte hier, wie ein Patt im Klassenkampf zwischen einer alten und einer neuen herrschenden Klasse dazu geführt hatte, dass sich eine auf reaktionären Populismus stützende Kraft anscheinend über beide Fraktionen erheben konnte. Dies war das Ergebnis der Revolution von 1848. Es gibt, wie Christian Schröppel am Ende des Artikels zugibt, nichts annähernd Vergleichbares heute. Innerhalb des Kapitals existieren immer unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Interessen. In der Regel kristallisieren sich bestimmte Positionen als dominant heraus und beherrschen den Staatsapparat. Die gegenwärtige Lage in den USA ist gekennzeichnet durch den Niedergang des ökonomischen Gewichts des Lands. Bestimmte Sektoren sind immer noch weltmarktführend (IT, Energie, Rüstung, Finanzen), andere nicht mehr (Maschinenbau, Textil, Automobil). Es ist nicht mehr möglich, die staatlichen Ressourcen zum Gedeihen aller Kapitalfraktionen einzusetzen. Dies führt zu existenziellen Bedrohungen für Teile des US-Kapitals. Diese sind derart stark, dass ein Gefühl der Krise des Gesamtsystems entsteht. Vor diesem Hintergrund werden die Konflikte härter, Kompromisse unrealistischer, so dass die Vertreter der schwächeren Position keinen Ausweg mehr sehen, als die Hegemonie der Stärkeren im Staatsapparat herauszufordern. Dies geht natürlich nur, indem der Konflikt aus den Hinterzimmern der Thinktanks herausgeführt wird und neue Bündnispartner gewonnen werden: das Kleingewerbe, der »Mittelstand« oder protektionistische »Arbeiterführer«. Trumps Wahl ist das Ergebnis dieser Entwicklung. Sie zeigt die Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse, aber auch die Unzufriedenheit der Mehrheit mit der

Seltsam abstrakt bleibt Ron Margulies Rede vom Keil zwischen der AKP-Regierung und ihren Anhängerinnen und Anhängern. Welche Kraft vermag sich als ein solcher Keil formieren und wie können die Kämpfe der Arbeiterklasse zu einer fortschrittlichen gesellschaftlichen Entwicklung in der Türkei und in Kurdistan beitragen? Zudem bleiben die Spaltungslinien innerhalb der türkisch-kurdischen Gesellschaft weitgehend ausgeblendet: Wie kommt es zur Zustimmung eines großen Teils der türkischen Bevölkerung zu den diktatorischen Maßnahmen und welche Strategie ergibt sich daraus für die Linke? Nimmt die Revolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei ihrerseits »Rücksicht« auf das das kemalistisch-sunnitische Ideologieamalgan der »kleinen Leute« und hält sich populistisch von der aktiven Unterstützung im kurdischen Freiheitskampf fern? Lässt sie für den Klassenkampf die Rechte von Minderheiten sausen oder aber unterstützt sie aktiv das Sammlungsprojekt von HDK/HDP, welches trotz vieler Widerstände und Konflikte versucht, in ihren eigenen Reihen den Forderungen nach sexueller, kultureller, religiöser und emanzipativer Selbstbestimmung als einer Bewegung der Vielfalt eine Stimme zu geben? In der an Spaltungen reichen Geschichte der revolutionären Linken in der Türkei spielt die Einschätzung in Kurdistan und die daraus resultierenden Konsequenz für die eigenen Linie seit Anfang der 1970er Jahre eine Schlüsselrolle. Der Kemalismus ist eben nicht nur Staatsdoktrin, sondern er ist auch fest im Selbstverständnis der Republikanischen Volkspartei CHP verankert. Als vermeintlich notwendige, nationale Modernisierungsetappe ist der Kemalismus zudem auch zur ideologischen Grundlage einiger revolutionärer Traditionslinien degeneriert. Kurzum: Ich hätte von Margulies gerne mehr über die konkrete Einschätzung

der Unterstützung der kurdischen Freiheitsbewegung als der stärksten und als der am stärksten unterdrückten politischen Kraft erfahren. Wolfram Siede, Basel

Zum Artikel »Schützt die Polizei uns vor Terrorismus?« von Hans Krause (marx21.de, 09.01.2017) Der Bericht ist ein Armutszeugnis für jeden sozial-links-denkenden Menschen. Klingt, als hätte ein 16-jähriger Freizeit-Anarcho versucht etwas zu verfassen. Wenn die Polizei dazu beiträgt das Sicherheitsgefühl der gesamten Bevölkerung zu stärken, ist viel gewonnen, denn es nimmt die diffuse Angst. Es ist richtig, dass man Terror nicht mit Polizeipräsenz bekämpfen kann. Aber mehr Beamte können mehr Arbeit verrichten. Und man muss ein wenig weiter denken: Die Polizei, das sind nicht nur der Beamte in Uniform. Datenerfassung, Datenabgleich, Vernetzungen usw. All das bindet enorm viel Arbeitskraft und das muss auch von Polizeibeamten geleistet werden. Clemens Eberhardt auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Nach der Tragödie in Berlin: Nein zu Rassismus und Krieg« von der marx21 Redaktion (marx21.de, 20.12.2016) Es wundert mich nicht, dass die Regierenden wieder mit den gewohnten Forderungen wie massivere Bewaffnung der Polizei, Bundeswehr im Inneren und Ausbau des Überwachungsstaates um die Ecke kommen. Dieses tragische Verbrechen wäre damit leider auch nicht verhindert worden. Der politisch-mediale Komplex wirft bewusst Nebelkerzen. Es soll verschleiert werden, dass sich die BRD mit ihrer Teilnahme an den völkerrechtswidrigen und imperialistischen Einsätzen in Afghanistan und Syrien im Krieg befindet und dieser in Form von Terroranschlägen zu uns kommen kann. Deshalb muss die Beendigung der gegenwärtigen und geplanten Kriegseinsätze der Bundeswehr auf die Tagesordnung. Dr. Helmut Kohl auf unserer Facebook-Seite

Zur Buchrezension »Anpfiff für die Linke« von Jan Maas (marx21.de, 16.12.2016) Es ist ein uralter Trick, als Repräsentanten »der Linken« irgendwelche doofen Menschen oder Gruppen auszuwählen, um dann zur bahnbrechenden Erkenntnis zu gelangen, dass alle Linken doof sind. Da hätte ich von einem ND-Journalisten mehr erwartet. Hans Krause auf unserer Facebook-Seite

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

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INLAND | Innere Sicherheit

»Ein hemmungsloser Eingriff in die Grundrechte« Die »Anti-Terror-Maßnahmen« von Innenminister Thomas de Maizière bringen keine Sicherheit, sondern höhlen die Grundrechte aus und schüren Rassismus. Ein Gespräch mit dem Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schultz über vermeintliche Hassprediger, den autoritären Sicherheitsstaat und die größten Gefährder der Demokratie Interview: Yaak Pabst In der Debatte um innere Sicherheit behaupten Politikerinnen und Politiker aller etablierten Parteien, der Sicherheitsapparat müsse massiv gestärkt werden, um der »Gefahr des Terrorismus« wirksam begegnen zu können. Haben sie Recht? Nein, so werden die Ursachen des Terrorismus nicht beseitigt. Im Gegenteil: Es besteht die Gefahr, dass sich die Gewaltspirale weiterdreht. Für mich sind die wesentlichen Ursachen klar, nämlich eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung, der damit verbundene ökologische Raubbau in den Ländern des Südens und vor allem die Militärinterventionen und Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien. Ein wirklich wirksamer erster Schritt im Kampf gegen den Terrorismus wäre, dass der Westen seine Kriege im Nahen und Mittleren Osten beendet und alle Rüstungsexporte stoppt. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) mahnt aber permanent zur Eile und behauptet: »Angesichts der Gefährdungslage haben wir keine Zeit zu verlieren« ... Einspruch! De Maizière betreibt doch hier das Geschäft mit der Angst. Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung verfolgt er eine Politik, die in keinem Verhältnis mehr zur tatsächli-

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Hans-Eberhard Schultz

Von seinen Gegnern wird Hans-Eberhard Schultz gerne als »Linksanwalt« beschimpft. Der Jurist war in den 1960er Jahren im SDS, dem Sozialistischen Deutsche Studentenbund, aktiv und arbeitet seit 1978 als Rechtsanwalt. Als Strafverteidiger war er in mehreren »Terrorismus-Verfahren« tätig, u.a. gegen PKK-Anhänger und den Vorsitzenden Öcalan. Seit 9/11 vertritt er sogenannte Islamisten und Hassprediger sowie muslimische Vereine in Verbotsverfahren. Schultz ist Mitglied im Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) sowie Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte in Berlin und Vorsitzender einer Stiftung für soziale Menschenrechte und Partizipation.

chen Bedrohung durch terroristische Organisationen steht. Politisch motivierte Anschläge sind ja kein neues Phänomen. Wenn man die Zahlen der Terroropfer in Europa vergleicht, dann waren die 1970er und 1980er Jahre deutlich schlimmer. In Deutschland ist es wahrscheinlicher, an einer Fischgräte zu ersticken als bei einem Terroranschlag ums Leben zu kommen. Für mich steht fest: Die größte Bedrohung der Demokratie geht in Deutschland gegenwärtig nicht von äußeren »Feinden der Demokratie« oder »Islamisten« aus, sondern von dem umfassenden Aufbau eines autoritären Sicherheitsstaates, mit dem vorgegeben wird, die Demokratie gegen »Terroristen« schützen zu wollen. Maßgebliche Kräfte in der Regierung und den Sicherheitsapparaten sind dabei, diesen autoritären Sicherheitsstaat in den Zustand eines permanenten Notstands zu versetzen. Das dient der Herrschaftssicherung angesichts zunehmender Krisen und Kriege sowie der weltweit massiv anwachsenden sozialen Spaltung. Der Innenminister behauptet, dass der Staat der »freien Bürgergesellschaft« nicht konträr gegenübersteht, er sei ihr »Instrument«: »Der demokratische Staat schützt die Freiheit, er bedroht sie nicht.« Das sehe ich anders. In Deutschland findet seit Jahren ein systematischer Zerset-


Inland | Innere Sicherheit

in einen Plan zum Bewachen eines angeblich entführten und gefangenen Abweichlers uminterpretiert.

Es droht der permanente Notstand

zungsprozess verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte statt. Schon die ersten sogenannten Anti-Terror-Pakete, die noch unter der rot-grünen Regierung verabschiedet wurden, lehnten nahezu alle Bürgerrechts- und Datenschutzorganisationen zu Recht als »Katastrophe« ab. Mittlerweile haben die verschiedenen Behörden ein bedrohliches Arsenal an Möglichkeiten. Und die wären? Die alle aufzulisten, würde leider den Rahmen des Interviews sprengen. Das reicht von der Vorbeugehaft oder der Zulässigkeit des Einsatzes verdeckter Ermittler und deren Verwertung im Strafprozess ohne Zeugenaussagen über beschleunigte Strafverfahren und kleine und große Lauschangriffe sowie Telefonüberwachungen und Rasterfahndungen bis hin zur Isolationshaft. Die Sicherheitsgesetze in Deutschland gehören bereits jetzt zu den schärfsten in der EU. Und mit jedem verabschiedeten »Sicherheitspaket« können die staatlichen Behörden immer hemmungsloser in die Grundrechte eingreifen. Ist überhaupt bekannt, wie viele Telefongespräche in Deutschland überwacht werden? Nein, natürlich nicht. Die von Auslandsgeheimdiensten oder »privaten Sicher-

heitsdiensten« belauschten Gespräche werden ja überhaupt nicht erfasst. Aber bereits vor den Anschlägen des 11. September 2001 war Deutschland mit einer offiziellen Zahl von 1,5 Millionen abgehörten Telefongesprächen schon Weltmeister. Heute wird dies um ein Vielfaches übertroffen. Denn die seitdem verabschiedeten »Anti-Terror-Gesetze« haben systematisch das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis unterminiert. Heute können staatliche Behörden viel leichter Telefongespräche abhören oder E-Mails und Kurzmitteilungen mitlesen. Aber wenn ich nichts Ungesetzliches getan habe, brauche ich doch auch keine Angst vor einer Telefonüberwachung zu haben? Diese Ansicht ist sicher weit verbreitet. Sie verkennt aber die großen Fehlerquellen bei Abhöraktionen. Denn beim Abhören sind ja keine klärenden Nachfragen möglich. Deshalb kommt es teilweise zu grotesken Missverständnissen, die zu schweren Nachteilen für die Abgehörten führen. Ein Beispiel: In einem »Terroristen-Prozess« habe ich einen PKK-Anhänger vertreten. Als zentrales Beweismittel wurde dort ein schriftlicher »Wochen-Küchen-Dienstplan« mit den Namen der Angeklagten vorgelegt. Die Staatsanwaltschaft hat ihn

Aber das ist doch ein Einzelfall! Keineswegs. Außerdem haben die Enthüllungen von Edward Snowden gezeigt, dass die Telefonüberwachung nicht isoliert betrachtet werden kann. Sie ist Teil des massiven Ausbaus der staatlichen präventiven Überwachung. Erst vor zwei Jahren hat die Bundesregierung die Vorratsdatenspeicherung beschlossen und damit zugelassen, dass die Daten von Millionen ohne Anlass abgegriffen werden. Zudem müssen Provider vier Wochen lang die Aufenthaltsorte ihrer Nutzer für die Strafverfolgungsbehörden bereithalten. Was ist daran schlimm? Die staatlichen Behörden können von jedem Nutzer einsehen, mit wem er wann wie lange telefoniert hat und so ein Bewegungs- und Kontaktprofil erstellen. Wer wissen will, wohin das führt, kann das beim Grünen-Politiker Malte Spitz beobachten. Er hat sechs Monate seiner Vorratsdaten von der Telekom eingeklagt und die Daten auf »Zeit Online« veröffentlicht. All diese Maßnahmen haben weitreichende Folgen für das informationelle Selbstbestimmungsrecht von uns allen. Und: Wissenschaftliche Studien fanden heraus, dass das Bewusstsein, abgehört beziehungsweise überwacht zu werden, bei vielen Menschen zu passiven Änderungen im Verhalten und in der Einstellung gegenüber staatlichen Institutionen führt. Gibt es eine »Erfolgskontrolle« über die getroffenen Maßnahmen zur Ausweitung der Überwachung? Schön wär's! Das haben Anwältinnen und Anwälte immer wieder gefordert, aber die Bundesregierung ignoriert es. Allerdings hat die Internationale Juristenkommission bereits 2009 in einer dreijährigen Stu-

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INLAND | Innere Sicherheit

die in vierzig Ländern den Effekt von »Antiterrormaßnahmen« untersucht. Ihre Bilanz ist erschütternd: Es sei in vielen Teilen der Welt zu Folter, willkürlichen Inhaftierungen, unfairen Prozessen, langen Haftdauern ohne Prozess, ja zu einer »Militarisierung der Justiz« und zur Straffreiheit für schwere Menschenrechtsverletzungen gekommen. Das beunruhigende Fazit des Berichts lautet: »Außerordentliche Maßnahmen, die gegen den Terrorismus gerichtet sind, sickern bereits in den Normalbetrieb des Staats und das alltägliche Justizsystem ein. Mit langfristigen Konsequenzen für den Rechtsstaat und die Achtung von Menschenrechten.« Und aus den USA wurde bekannt, dass die Behauptung der dortigen Sicherheitsbehörden, durch verstärkte Überwachung und andere Repressionsinstrumente Dutzende von Terror-Anschlägen verhindert zu haben, eine dreiste Propagandalüge ist, wie ein engagierter Parlamentarier durch hartnäckiges Nachbohren feststellen konnte.

nenminister Hans-Peter Friedrich definierte diese in einem Zeitungsinterview als »Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie erhebliche Straftaten begehen könnten«. Wie siehst du diese Definition aus juristischer Sicht? Meiner Meinung nach ist das der katastrophale Versuch, wichtige Grundrechte wie die Gleichheit vor dem Gesetz, die Vereinigungsfreiheit und vor allem die Religionsfreiheit auszuhebeln. Das betrifft vor allem Strafverfahren und ausländerrechtliche Verfahren, aber auch Verbotsverfahren gegen religiöse Vereinigungen.

Was bedeuten die beschlossenen Anti-Terror-Gesetze für Menschen ohne deutschen Pass? Für Muslime oder Menschen, denen die Zugehörigkeit zu dieser Religion zugeschrieben wird, nichts Gutes: Sie stehen unter Generalverdacht. Menschen ohne deutschen Pass können unter erleichterten Voraussetzungen und mit verkürztem Rechtsschutz ausgewiesen und abgeschoben werden. Aber damit nicht genug. Gegen sie können Aufenthaltsbeschränkungen, Meldeauflagen, Ausreiseverbote und sogar Verbote verhängt werden, mit bestimmten Personen Kontakt aufzunehmen. Zudem kann die Verlängerung des Aufenthaltsstatus von Verhören – beschönigend »Sicherheitsgespräche« genannt – abhängig gemacht werden. Das erinnert stark an die Kommunistenverfolgung der 1950er Jahre in der McCarthyÄra in den USA. Wir sollten uns nicht täuschen lassen: Die Geschichte lehrt, dass solche Instrumente – einmal erfolgreich an einer zum Feind erklärten Minderheit erprobt – auch auf andere missliebige Teile der Bevölkerung angewandt werden können.

Innenminister Thomas de Maizière und Justizminister Heiko Maas fordern trotzdem Abschiebehaft und Fußfesseln für »Gefährder«. Immerhin war der mutmaßliche Attentäter Anis Amri auch als ein solcher eingestuft ... Unter dem Vorbehalt weiterer Erkenntnisse, insbesondere über geheimdienstliche Verwicklungen auch in diesem Fall: Warum sollte eine Fußfessel in Deutschland solche Anschläge verhindern, wenn das schon in Frankreich nicht gelang? Dort wurde diese Maßnahme schon lange vor den letzten Anschlägen angewandt. Ganz abgesehen davon: Schon nach geltenden Vorschriften hätte im Fall Amri die Abschiebehaft verhängt werden können. Trotzdem findet jetzt ein regelrechter Überbietungswettbewerb nach weiteren Gesetzesverschärfungen statt. Das ist absurd.

Die Bundesregierung warnt in letzter Zeit immer öfter vor »islamistischen Gefährdern«. Der ehemalige Bundesin-

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»Der Salafismus« ist ein Konstrukt westlicher Geheimdienste

Wird die Gefahr eines »islamistischen Terrorismus« übertrieben? Ich meine: eindeutig ja. Zum einen gibt es bei manchen Anschlägen noch viele offene Fragen, ob tatsächlich organisierte »islamistische Terroristen« verantwortlich gemacht werden können. Zwar reklamiert oft der »Islamische Staat« die Anschläge in Europa für sich. Aber die französischen Behörden haben beispiels-

weise keine eindeutigen Verbindungen zwischen Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, dem Massenmörder von Nizza, und dem IS gefunden. Der Attentäter war nicht religiös und kein Mitglied einer Terrorgruppe. Zum anderen ist das Bild falsch, das Sicherheitsbehörden und selbsternannte Terrorismus-Experten zeichnen, »der Salafismus« sei »die schlimmste Bedrohung unserer Zeit«. Tatsächlich handelt es sich bei »dem Salafismus« um ein Konstrukt westlicher Geheimdienste. Aber es gibt doch salafitische Strömungen im Islam? Sicher, aber genauso wie islamische Gläubige im Allgemeinen keine homogene Gruppe bilden, obwohl sie sich alle auf den Koran berufen, ist auch die salafitische Glaubensgemeinschaft keine homogene Gruppe. Die als besondere Bedrohung dargestellten Dschihadistinnen und Dschihadisten befürworten Gewaltanwendung im Namen Gottes, sind aber selbst in der salafitischen Gemeinschaft nur eine Minderheit. Im Salafismus gibt es zahlreiche Strömungen, die entweder ausdrücklich völlig unpolitisch sind oder jedenfalls gewaltsame und terroristische Aktivitäten prinzipiell ablehnen und dagegen kämpfen. Kannst du ein Beispiel nennen? Davon gibt es eine Menge. Eindrucksvoll war für mich der offene Brief von 120 Rechtsgelehrten, auch aus den arabischen Ländern, die hier als »salafistisch« gelten, an Bagdadi, den selbsternannten Kalifen des »Islamischen Staates«. Darin verurteilen sie dessen »Dschihadismus« als fundamentalen Verstoß gegen den Islam und widerlegen seine terroristischen Aktivitäten aus theologischer Sicht. Doch dieser veröffentlichte und über das Internet in der ganzen Welt verbreitete Brief wird hierzulande von Experten, den meisten Politikerinnen und Politikern und den Massenmedien systematisch unterschlagen. Warum? In der Politik und den Massenmedien fungiert die gegenwärtige zum Teil hysterische Debatte über »den Salafismus« als Ablenkungsmanöver. Die eigentliche Funktion des rassistischen Feindbilds Islam ist es, die Bevölkerung zu spalten. Gäbe es die Muslime nicht, die zum Sün-


© Campact / CC BY-NC

INLAND | INNERE SICHERHEIT

Vor dem Berliner Kanzleramt fordern Demonstranten einen gesetzlichen Schutz für »Whistleblower«. Erst die Dokumente, die Edward Snowden an die Öffentlichkeit brachte, deckten auf, wie weit die Zusammenarbeit von Internetunternehmen und Geheimdiensten reicht

denbock der sozialen Probleme in der gegenwärtigen Krise gemacht werden können, wären es die Roma und Sinti, die Obdachlosen, Hartz-IV-Betroffene oder eine andere Randgruppe. Ich halte es für eine Überlebensfrage für unsere Demokratie, den antimuslimischen Rassismus zurückzudrängen. Der ehemalige SPD-Chef und jetzige Außenminister Sigmar Gabriel fordert trotzdem: »Salafistische Moscheen müssen verboten, die Gemeinden aufgelöst und die Prediger ausgewiesen werden, und zwar so bald wie möglich«. Als Anwalt hast du mehrere Mandanten vertreten, denen die Staatsanwaltschaft vorgeworfen hat, »Hassprediger« zu sein. Konnte sie ihre Beschuldigungen vor Gericht beweisen? In den von mir vertretenen Verfahren keineswegs. Im Gegenteil: In mehreren Verfahren gelang es uns nachzuweisen, dass es sich um haltlose Anschuldigungen handelt. Kannst du ein Beispiel nennen?

Im Fall eines Bremer Imams ermittelte die Staatsanwaltschaft unter anderem wegen »Sammlung von Spendengeldern für die Mujahedin« sowie »Anschlagsplanungen auf jüdische Einrichtungen in Deutschland«. Wir konnten jedoch nachweisen, dass das Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung auf den frei erfundenen Denunziationen eines mutmaßlichen Agenten aus seinem Heimatland Tunesien beruhte. Bei der Durchsicht der Ermittlungsakten kam heraus, dass der deutsche und der französische Geheimdienst mit diesem bezahlten V-Mann solange intensiv zusammengearbeitet hatten, bis das Ganze durch einen Zufall aufflog. Wie bitte? Ja, es war ein bezahlter V-Mann, der die unbegründeten Vorwürfe gegen meinen Mandanten erhob. Das ist übrigens kein Einzelfall. Schon beim parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Murat Kurnaz kam heraus, dass der Bremer Verfassungsschutz jahrelang einen

V-Mann eingesetzt hatte, der in der Behörde den internen Spitznamen »Lügenbaron« erhielt. Offenbar hatte der Mann einen Hang dazu, sich mit erfundenen Geschichten wichtig zu machen, so dass er deshalb sogar später »abgeschaltet« wurde. Der »Weser-Kurier« deckte damals auf, dass Berichte von V-Männern umgeschrieben wurden: »Aus Konjunktiven seien Indikative geworden, aus indirekter Rede Tatsachenbehauptungen, aus vagen Gerüchten harte Fakten.« Für mich zeigt das, wie gefährlich die V-Mann-Praxis ist. Wie ist denn der Fall des Bremer Imams ausgegangen? Das von mir eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen den V-Mann wurde dann auch eingestellt, weil der Geheimdienstagent nicht identifizierbar sei. Und das, obwohl doch die Ermittlungsbehörden und vermutlich auch der Verfassungsschutz längere Zeit intensiv mit ihm zusammengearbeitet haben. Eine Entschädigung für das Ermittlungsverfahren erhielt der Imam trotzdem nicht. ■

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UNSERE MEINUNG | Bundeswehreinsatz in Mali

Bundeswehreinsatz in Mali

Kein zweites Afghanistan Von Christine Buchholz

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m Januar hat die Große Koalition beschlossen, deutsche Transport- und Kampfhubschrauber im umkämpften Nordmali zu stationieren. Sie stockt das Bundeswehrkontingent im Rahmen der UN-Militärmission Minusma auf bis zu tausend Soldaten auf. Damit macht sie diesen Einsatz zum größten laufenden Auslandseinsatz — und zu einem äußerst gefährlichen. Mali droht für die Bundeswehr zu einem zweiten Afghanistan zu werden. Bereits im letzten Jahr war das von der Bundeswehr genutzte Camp Castor im nordmalischen Gao zweimal Ziel von Anschlägen. Verletzt wurde dabei niemand. Im Januar kam es dann zu einem verheerenden Anschlag auf das in unmittelbarer Nachbarschaft liegende Lager der malischen Armee. Dabei starben 77 malische Soldaten und mit ihnen zusammenarbeitende Tuareg-Milizionäre. Die Begründung für den Bundeswehreinsatz ist widersprüchlich. Ursprünglich stellte die Bundesregierung die Ausweitung des deutschen Operationsgebiets in den gefährlichen Norden als einen Akt der Solidarität mit Frankreich dar, als Reaktion auf die Terroranschläge in Paris im November 2015. Das Mandat der Minusma-Truppe sieht allerdings gar nicht vor, Terror zu bekämpfen. Vielmehr soll sie den Frieden im Land sichern. Den gibt es aber nicht, die Anschläge nehmen zu. Der Einsatz bekommt eine Eigendynamik. Vieles erinnert an die erste Zeit der Bundeswehr in Afghanistan vor fünfzehn Jahren. Genau wie damals sind weder Minusma noch die mit ihr kooperierende Kampfoperation Barkhane der französischen Armee in der Lage, das Land zu befrieden. Im Gegenteil: Die Anwesenheit ausländischer Truppen provoziert geradezu Widerstand. Die deutschen Truppen fahren abgeschirmt in gepanzerten Wagen Patrouille, ohne Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Je länger das dauert, desto mehr werden sie als fremde Besatzer wahrgenommen. Ein Soldat sagte mir bei einem Besuch in Gao: »Je stärker wir hier präsent sind, desto interessanter werden wir als Anschlagsziel.« Tatsächlich geht es bei dem Bundeswehreinsatz weniger um Mali als vielmehr um die geopoli-

tischen Ziele Deutschlands. Schon im Januar 2013 lud die französische Regierung die Bundesregierung ein, sich am Krieg in Mali zu beteiligen. Diese verstand das als einmalige Gelegenheit, im Windschatten der französischen Armee am Südrand der Sahara, in einer rohstoffreichen Region, militärisch Fuß zu fassen. Frankreich verfügt als ehemalige Kolonialmacht über militärische Stützpunkte, Erfahrung und Einfluss in der Region. Deutschland hingegen kaum. Ein Jahr später sagten der damalige Bundespräsident Gauck, Verteidigungsministerin von der Leyen und der damalige Außenminister Steinmeier auf der Sicherheitskonferenz von München, Deutschland dürfe nicht länger am Rand stehen und zugucken, wenn internationale Konflikte ausgefochten würden. Der Bundeswehreinsatz in Mali fügt sich in die deutschen imperialistischen Bestrebungen ein. Er ist in vielem auch Ausbildung für die Bundeswehr selbst. Was sie heute als Blauhelmtruppe lernt, kann sie morgen als Kampftruppe umsetzen. Dem dient zum Beispiel der Einsatz einer eigenen Heron-Aufklärungsdrohne. Die Bundeswehr wertet hier, anders als bei den Einsätzen in Afghanistan oder in Syrien und Irak, die Bilder in Eigenregie aus. Das ist zwar ineffizient, aber die deutschen Streitkräfte machen es trotzdem selbst, unter schwierigen Bedingungen. Frieden kann nicht von außen aufgezwungen werden. Er kann nur aus der malischen Gesellschaft wachsen, von unten. Es gibt in Mali eine Linke sowie eine für afrikanische Verhältnisse starke Zivilgesellschaft. Anfang der 90er Jahre gab es eine Revolution im Land. Doch westliche Regierungen haben die korrupten Regierungen gestärkt, die danach gekommen sind. DIE LINKE sollte stattdessen diejenigen Kräfte unterstützen, die im Innern Malis für Frieden und eine sozialere Gesellschaft kämpfen.

Frieden kann nur aus der malischen Gesellschaft wachsen

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Christine Buchholz ist verteidigungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.


© Klaus Stuttmann

STUTTMANN

UNSERE MEINUNG | G20-Gipfel

G20-Gipfel in Hamburg

Kapitalismus- statt Institutionenkritik VON Florian Wilde

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n Vorbereitung der Proteste gegen den G20-Gipfel im Juli in Hamburg wird kontrovers diskutiert, ob der Gipfel als Zielscheibe großer Proteste überhaupt geeignet ist. Immerhin sind die G20 deutlich breiter aufgestellt als der exklusive Club der G7. Beschlüsse werden ohnehin kaum gefasst und die Agenda ist recht unbestimmt und uneinheitlich, was auch deren Kritik notwendigerweise etwas unbestimmt macht. Tatsächlich bieten die G20, trotz der Einbeziehung einiger sogenannter Schwellenländer, jedoch mehr als genug Angriffsfläche für Kritik. Sie reden über »Partnerschaft mit Afrika«, aber es fehlt fast der gesamte Kontinent. Sie reden über »Bekämpfung von Fluchtursachen«, aber keines der großen Herkunftsländer sitzt am Tisch. Sie reden über Frieden, sind aber selbst die größten kriegführenden und Rüstung produzie-

renden Staaten. Wir sollten aber weniger über die Legitimität von Gipfeln an sich reden, sondern uns gegen die auf ihnen vorangetriebene Politik stellen. Und hier stehen die G20 für eine Politik der Ban-

Das Unbehagen von links aufgreifen kenrettung durch die Steuerzahlenden, für eine Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben und für eine reine Wachstumsorientierung, in der die Klimaschutzziele für die Interessen der Erdöl-, Kohle- und Autoindustrie geopfert werden. Die G20 sind ein Zusammenschluss, um das Überleben einer Weltordnung ab-

zusichern, die die Ursache für Flucht, Kriege, Ausbeutung und Umweltzerstörung ist. Gerade die relativ unbestimmte Gipfelagenda kann aus Perspektive der Gegenproteste sogar eine Stärke sein: Wenn es gelingt, den Widerstand zu einem Kristallisationspunkt für das wachsende Unbehagen an der neoliberalen Weltordnung zu machen und dieses Unbehagen von links aufzugreifen und mit solidarischen Antworten sowie einer antikapitalistischen Perspektive zu verknüpfen. Dafür sollten wir aber statt Institutionenkritik Kapitalismuskritik ins Zentrum rücken. Florian Wilde ist G20-Kampagnenreferent der Bürgerschaftsfraktion der LINKEN in Hamburg.

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© Eduard Garcia / egarcigu.com

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AfD-Familienbild Völkisch, frauenfeindlich, elitär

Rechtsterrorismus Was der Staat aus den NSU-Verbrechen gelernt hat

Widerstand gegen Wilders Warum die niederländische Linke einen Kurswechsel braucht

Marine Le Pen's Front National Im Herzen schlummert der Faschismus

Trump und die extreme Rechte Warum die »Alt-Right« die Republikaner zerstören will

»Kampf der Kulturen« Wie die Trump-Bande den Rassenkrieg heraufbeschwört

Trump und Berlusconi Was sich aus den Fehlern der italienischen Linken lernen lässt


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»Der größte Fehler wäre es, tatenlos zuzusehen« Ob Trump, Le Pen, Wilders oder Petry: In zahlreichen Ländern ist die Rechte auf dem Vormarsch. Doch mit der richtigen Strategie können wir sie stoppen. Denn die Krise des Establishments bietet auch Chancen für die Linke, meint Christine Buchholz Interview: Martin Haller Seit der Amtseinführung von Donald Trump als US-Präsident vergeht kaum ein Tag ohne neue schockierende Nachrichten aus dem Weißen Haus. Mit Geert Wilders in den Niederlanden und Marine Le Pen in Frankreich werden wohl in diesem Frühjahr in gleich zwei unserer Nachbarländer rassistische Hetzer Rekordergebnisse erzielen. Bei uns droht die AfD mit zweistelligem Ergebnis in den Bundestag einzuziehen. Ist der Rechtsruck unaufhaltsam? Momentan werden in vielen Ländern rassistische Demagogen bis hin zu Faschisten nach oben gespült. Das ist gefährlich. Aber es gibt auch eine gewaltige Gegenbewegung. Die Proteste in den USA gegen Trump waren die größten seit den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, wenn nicht sogar aller Zeiten. In London gingen Zehntausende gegen Trumps geplanten Besuch in Großbritannien auf die Straße. Und auch in Deutschland wird es Proteste geben, wenn Trump zum G20-Gipfel nach Hamburg kommt. Viele erkennen die Gefahr, die von den rassistischen Hetzern ausgeht. Und viele wollen dagegen etwas tun. Deshalb würde ich auch nicht von einem Rechtsruck sprechen. Was wir erleben ist vielmehr eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung. Der neoliberale Konsens der Herrschenden bröckelt und sie können nicht mehr weitermachen wie gewohnt. Die Situation ist einerseits brandgefährlich, weil rassistische Gewalt zunimmt und auch die reale Gefahr einer faschisti-

Christine Buchholz

Christine Buchholz ist Mitglied des Parteivorstands der LINKEN und aktiv im Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus«

schen Bewegung wieder wächst. Aber die Unzufriedenheit mit dem Status quo bietet auch Chancen für die Linke. Siehst du das auch für Deutschland so? Ja, auch in Deutschland erleben wir eine Polarisierung. Dazu zählt der Aufstieg der AfD, aber auch die Millionen Menschen, die sich solidarisch mit Geflüchteten zeigten und die großen Gegenbewegungen, die das weitere Ausgreifen der Pegida-Bewegung gestoppt haben. Dasselbe brauchen wir jetzt im Kampf gegen die AfD: eine Massenbewegung, die in der Lage ist, sie zu stoppen, bevor sie so stark wird wie der Front National in Frankreich oder die FPÖ in Österreich und sie sich so festgesetzt hat, das jeder Widerstand wesentlich schwieriger wird. Seit der Dresdner Hetzrede von Björn Höcke ist die AfD wieder in aller Munde. Zahlreiche Medien und Politiker zogen einen direkten Vergleich zur Rhetorik der Nationalsozialisten und stellten Höcke in eine Reihe mit Hitler und Goebbels. Ist die AfD auf dem Weg zur Nazipartei? Noch ist die AfD keine faschistische Partei, wie etwa die NPD, aber sie hat das Potenzial, dazu zu werden – und das mit wesentlich größerem Einfluss als ihn die NPD je hatte. Die AfD ist nach wie vor eine Sammlung verschiedener rechter Strömungen — von marktradikalen Nationalkonservativen wie Jörg Meuthen, völkisch-nationalen Rechtspopulisten wie Frauke Petry, bis hin zu Neofaschisten wie Björn Hö-

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Woran machst du fest, dass Höcke ein Faschist ist, Petry aber nicht? In ihrem Rassismus, Nationalismus und völkischen Denken nehmen sie sich nicht viel. Das stimmt, Petry ist keineswegs weniger rassistisch in ihrer Hetze gegen Geflüchtete und Muslime. Auch sie vertritt einen völkischen Nationalismus. Aber ihr Ziel ist es, die bürgerliche Politik nach rechts zu verschieben und nicht sie zu stürzen. Sie will eine rechtsnationale Kraft im Parteienspektrums etablieren und will mittelfristig eine Regierungsbeteiligung der AfD als Koalitionspartner der Union. Deshalb distanziert sie sich taktisch von Höckes Nazi-Parolen. Höcke und sein Flügel setzen hingegen auf eine »fundamentaloppositionelle Bewegungspartei«. Sie verfolgen eine Strategie, die ich als neofaschistisch bezeichnen würde. Gestützt wird dieser Flügel von Alexander Gauland, der betont, die »Politik bis auf‘s Messer bekämpfen« zu wollen. Was macht eine neofaschistische Strategie aus? Neofaschisten sind Nazis im Tarnmantel. Da ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus politischer Selbstmord wäre, versuchen Faschisten seit dem Zweiten Weltkrieg, aus der Schmuddelecke herauszukommen, indem sie sich ein nationalkonservatives Mäntelchen umhängen. Statt auf den Hitler-Faschismus beziehen sie sich auf einen seiner ideologischen Vorläufer und Wegbereiter, die sogenannte Konservativen Revolution. Das macht sie nicht weniger gefährlich. Im Kampf um die Macht verfolgt der Nazi-Flügel eine vergleichbare Strategie wie damals die NSDAP. Die Parlamente sind zwar ein Element darin, aber nicht das zentrale. Daher versucht er, Macht auf der Straße aufzubauen. Höcke war der

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© Geoff Livingston / CC BY-NC-ND / flickr.com

cke. Alle Flügel haben gemeinsam, dass sie in der AfD eine historische Chance sehen, aus der gesellschaftlichen Nische der radikalen Rechten auszubrechen. Bislang ist die Radikalisierung ungebrochen. Obwohl Höckes Rede mit Sicherheit einige bürgerlich-rechtskonservative Anhänger der AfD verschreckt hat, ist Frauke Petry mit dem Versuch gescheitert, Höcke nach der Nazi-Rede in Dresden aus der Partei auszuschließen.

erste AfD-Politiker, der erfolgreiche Straßenproteste organisierte. Die AfD bezeichnete er als »letzte friedliche Chance für unser Vaterland« — eine implizite Androhung von Gewalt, sollte sie nicht auf »friedlichem« Weg an die Macht gelangen. Höcke zeichnet das Bild einer allmählichen mutwilligen Zerstörung von »Nation« und »Volk«, die nur durch eine neue nationale Bewegung gestoppt werden kann. Das unterscheidet sich von der parlamentarischen Strategie, die Petry verfolgt. Petry hat Höcke nach seiner Dresdner Rede öffentlich scharf kritisiert und versucht, ihn aus der Partei auszuschließen, womit sie jedoch scheiterte. Auch im Zuge der Listenaufstellungen für die Bundestagswahl spitzen sich die Flügelkonflikte zu. Zerlegt sich die AfD gerade selbst? Nein, die AfD wird sich nicht selbst zerlegen. Die teils heftigen Flügelkämpfe haben die Entwicklung der AfD von Beginn

Oben: Massenproteste gegen Trumps »Muslim Ban« am Ronald Reagan Airport in Washington D.C. Unten: Eine ganze Stadt steht auf gegen die AfD: 10.000 Menschen demonstrieren am 10. Februar in Münster gegen den Besuch Frauke Petrys zum Neujahrsempfang der AfD


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Proteste organisieren. Ich rufe alle dazu auf, zu den Protesten gegen den Bundesparteitag der AfD am 22. April in Köln zu kommen und lautstark zu protestieren. Auch im Bundestagswahlkampf wird es viele Möglichkeiten dazu geben.

begleitet an. Nachhaltig geschwächt hat sie das bislang nicht. Der größte Fehler wäre es, tatenlos zuzusehen, wie die AfD Hass auf Muslimas und Muslime und Geflüchtete sowie Sexismus und Homophobie schürt und so versucht, die Gesellschaft nach rechts zu drängen. Die Verharmlosung der neofaschistischen Rechten ist einer der Gründe für ihren Aufstieg in vielen europäischen Ländern. Man hält eine Partei wie den Front National, die FPÖ oder auch die AfD nicht auf, indem man sie einfach als besonders rassistische Konservative oder Populisten abtut. Das hat in Österreich und Frankreich nicht geklappt und wird auch in Deutschland nicht funktionieren. Wie stoppen wir sie dann? Es ist wichtig, von außen Druck auf die AfD zu machen und so ihre internen Widersprüche zu verstärken und sie von Teilen ihres »weichen« Umfelds zu isolieren. Dazu müssen wir die AfD offen konfrontieren und wo immer sie auftritt breite antirassistische und antifaschistische

Werten wir durch so eine offene Konfrontation die AfD nicht eher auf? Das hilft ihr doch nur, sich in die Opferrolle zu begeben. Die AfD ist kein Opfer, sondern sie ermuntert rechte Gewalttäter. Wenn wir sie gewähren lassen, führt das dazu, dass Muslimas, Juden, Geflüchtete, Zugewanderte und alle, die nicht in das Weltbild der AfD passen, immer häufiger Anfeindungen und Gewalt ausgesetzt sind. Auch die Angriffe auf Antifaschistinnen, Antirassisten, Linke und Gewerkschafter nehmen zu. In dem internen Strategiepapier der AfD »Manifest 2017« wird beschrieben, wie wirkungsvoll die vielfältigen Proteste und Aktionen gegen die AfD sind: Sie führten zu Frustration bei aktiven Parteimitgliedern. Außerdem trügen Störaktionen »in der Öffentlichkeit, vor allem in der Mittelschicht und bei Interessengruppen zum Eindruck bei, dass die AfD ein Stigma trägt und man sich nicht mit ihr zeigen sollte.« Die AfD nimmt sich zwar vor, die Opferrolle stärker auszuspielen, aber sie will in Nordrhein-Westfalen ihre Wahlkampfveranstaltungen und -stände in Zukunft stärker geheim halten. Das ist der gemeinsame Erfolg eines vielfältigen Protestes. In dem Strategiepapier rühmt sich die AfD als »Tabubrecherin« und spricht von »sorgfältig geplanten Provokationen«. Fallen wir nicht auf ihre Masche rein, wenn wir auf jede rassistische Forderung und jeden völkischen Spruch mit Empörung reagieren? Wenn rassistische Hetze, Geschichtrevisionismus und indirekte Gewaltaufrufe unwidersprochen bleiben, wird die AfD indirekt bestätigt. Unser Problem ist ja nicht, dass zu viele der AfD klar widersprechen würden, sondern dass CDU und SPD deren Forderungen übernehmen und ihr damit letztlich doch recht geben. Wie meinst du das? Die Bundesregierung hat eine Asylrechtsverschärfung nach der anderen durchge-

setzt. Jetzt stehen Massenabschiebungen bevor, genau wie es die AfD fordert — unter anderem in Kriegsgebiete wie Afghanistan. Einige Unionspolitiker, allen voran Horst Seehofer, haben sich in einen direkten Wettstreit mit der AfD in Sachen Rassismus gegen Geflüchtete und Muslime begeben. Gerade der antimuslimische Rassismus ist weit über den Kreis der AfD-Sympathisanten hinaus salonfähig. Die Bundesregierung kritisiert Trump für den »Muslim Ban« und diskutiert gleichzeitig über ein Verbot der Vollverschleierung. Sie kritisiert die von Trump geplante Mauer an der mexikanischen Grenze und schließt gleichzeitig Pakte mit Diktatoren und Autokraten, um Geflüchtete von Europa fernzuhalten oder sie im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Du argumentierst dafür, stärker das Bündnis mit den von Rassismus Betroffenen zu suchen. Allerdings vertreten einige migrantische oder muslimische Verbände auch ziemlich konservative Ideen, oder? Ich halte es für selbstverständlich, Solidarität mit allen zu üben, die von Rassisten angegriffen werden. Das gilt nicht nur für diejenigen, die linke oder progressive Ideen vertreten. Wenn wir uns spalten lassen, dann überlassen wir den rassistischen Hetzern das Feld. Es ist ein großer Fortschritt, wenn sich muslimische Gemeinden und Organisationen an Protesten und Bündnissen gegen Rassismus beteiligen, denn wir sollten nicht über sie reden, sondern mit ihnen. Nur so kann die Erfahrung des Rassismus Menschen zugängig gemacht werden, die sie selbst nicht machen. Das stärkt die Bewegung gegen die AfD. Das gemeinsame Eintreten gegen rassistische Unterdrückung und für Religionsfreiheit ist zudem eine Chance, den Einfluss reaktionärer politischer Strömungen unter Muslimen zurückzudrängen. Aber ist es klug, auch mit Abschiebeparteien wie der SPD zusammen gegen Rassismus kämpfen zu wollen, wie es das Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« macht? Richtig ist, dass SPD und auch Grüne durch ihre repressive Flüchtlingspolitik eine Mitverantwortung für die humanitäre Katastrophe an den EU-Außengrenzen und im Mittelmeer tragen. Der AfD spielt

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diese Politik in die Hände, weil sie dazu beiträgt, Geflüchtete und Zugewanderte als Gefahr darzustellen. Richtig ist auch, dass der Rassismus der sogenannten Mitte den Aufstieg der AfD erst möglich gemacht hat. Die SPD hat es nicht fertiggebracht, Thilo Sarrazin auszuschließen, obwohl der den antimuslimischen Rassismus salonfähig machte, mit dem nun die AfD punktet. Falsch ist es hingegen, SPD und Grüne deshalb als rassistisch zu brandmarken und sie vom Kampf gegen die AfD ausschließen zu wollen. Warum? Wenn wir uns im Kampf gegen die AfD auf den Kreis derer beschränken, die rassistische Strukturen als Ganzes ablehnen, werden wir wenige bleiben. Viele Menschen, die vom offenen Rassismus der AfD angewidert sind und bereit wären, dagegen aktiv zu werden, sind nicht gegen Grenzen und stellen eine Einteilung in »Staatsbürger« und »Ausländer« nicht grundsätzlich infrage. Um die AfD zu isolieren, sind es aber gerade diese Menschen, die wir für eine antirassistische Offensive gewinnen müssen. Das können wir nicht, indem wir sie als Rassisten beschimpfen. Nur im gemeinsamen Kampf lassen sich rassistische Denkmuster und die dahinterstehenden gesellschaftlichen Strukturen überwinden. Das ist doch total widersprüchlich. Auf der einen Seite die SPD dafür zu kritisieren und dann mit ihr zusammenzuarbeiten… Nein, es wäre fatal, SPD und Grüne vom antirassistischen Kampf auszuschließen, wie mache radikale Linke das fordern. Die üblichen Verdächtigen werden nicht die Mobilierungskraft entwickeln, die nötig ist, um die AfD zu stoppen. So gingen in Münster Mitte Februar etwa 10.000 Menschen gegen die AfD und den Besuch von Petry auf die Straße. Die Proteste konnten nur so groß werden, weil sie von einem breiten Bündnis getragen wurden. Aber besteht dann nicht die Gefahr, dass DIE LINKE als Teil des politischen Mainstreams wahrgenommen wird und die AfD als die »einzige echte Oppositionspartei«, wie sie es von sich behauptet? In Bündnissen gegen die AfD geht es darum, gemeinsam zu mobilisieren. Das ist eine zentrale Aufgabe des Bündnis-

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© Franz Ferdinand Photography / CC BY-NC / flickr.com

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»Kein Wahlkampf mit unserem Leben«: Protest gegen eine Kundgebung der AfD am 21. November 2015 in Mainz

ses »Aufstehen gegen Rassismus«, an dem DIE LINKE auch beteiligt ist. Aber ein liberaler Antirassismus allein wird die AfD nicht stoppen. Natürlich müssen über die beschlossenen gemeinsamen Ziele hinaus weitergehende Positionen vertreten werden können. Auf der Berliner Demonstration gegen die AfD am 3. September sind auch Rednerinnen und Redner aufgetreten, die die Asylrechtsverschärfungen angegriffen haben. Aber eben nicht nur solche. Wenn aber DIE LINKE eine Zustimmung zu ihren Positionen zur Eintrittsbedingung für das Bündnis machen würde, schlösse sie Akteure etwa aus dem Bereich von Gewerkschaften, SPD, Grünen und viele andere aus. In Bündnissen geht es darum, sich darüber zu verständigen, wie und wann die AfD geschlagen werden kann. Aber es ist auch entscheidend, eine linke Alternative sichtbar zu machen. Die Aufgabe der LINKEN ist es, die Ängste und Verunsicherungen, die nach rechts kanalisiert werden, auf die eigentlichen Gefahrenquellen zu lenken: den Kapitalismus, seine Krisen und die damit verbundenen sozialen Missstände und Unsicherheiten. Dafür müssen wir die Bundesregierung und die neoliberalen Parteien scharf angreifen. Wie kann die LINKE das machen? DIE LINKE muss beides tun: aktiver Motor einer lokal verankerten und bundesweiten handlungsfähigen antiras-

sistischen Massenbewegung sein und gleichzeitig sichtbar bleiben als antikapitalistische Protestpartei, die in sozialen Kämpfen verankert ist. Das wird in den kommenden Monaten bedeuten, sowohl als linke politische Alternative aufzutreten, als auch Teil der antirassistischen und antifaschistischen Mobilisierungen zu sein. ■

WAS DU TUN KANNST marx21 ruft alle Leserinnen und Leser auf jetzt aktiv gegen rechts zu werden. Mach mit: •

• • • • •

Unterschreibe den Aufruf »Aufstehen gegen Rassismus – Deine Stimme gegen rechte Hetze!« und verbreite ihn über deine Kanäle. Mobilisiere zur Protestaktion beim AfD-Parteitag in Köln am 22. und 23. April (siehe Interview Seite 86) Mobilisiere in deiner Uni, Schule, Betrieb zum AfD-Parteitags-Protest. Gewinne Bündnispartnerinnen und Bündnispartnern für die Mobilisierung zum Protest beim AfD-Parteitag Werde vor Ort aktiv - mach mit bei der LINKEN Organisiere in deiner LINKEN- bzw. SDS-Ortsgruppe oder gemeinsam mit Bündnispartnerinnen und Bündnispartnern einen Workshop zu Rassismus, Faschismus und AfD. Referenteninnen und Referenten vermitteln wir gerne. Komm zum Kongress MARXISMUSS nach Berlin und diskutiere mit Hunderten Aktivistinnen und Aktivisten über linke Perspektiven gegen den Rechtsruck


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Mit der »Keimzelle« gegen den »Volkstod« Die AfD stellt sich gerne als Vorkämpferin für Familien dar. Doch ihre Vorschläge gehen zu Lasten von Frauen und bewegen sich nahe am Familienbild der Nazis Von Marion Wegscheider

Marion Wegscheider arbeitet als Übersetzerin. Sie ist aktiv bei der LINKEN in Essen, bei LISA NordrheinWestfahlen. Sie schreibt regelmäßig für das Portal »Die Freiheitsliebe«.

Plakat des Winterhilfswerks aus dem Jahr 1938. Das Winterhilfswerk unterstand Reichspropagandaminister Joseph Goebbels und sollte die Idee der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« populär machen. Es wirbt mit der Darstellung einer »erbgesunden« Familie als Keimzelle der Nation

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en Islam lehnt sie ab, da er angeblich zwingend den Mann über die Frau stelle. Gender-Mainstreaming lehnt sie ab, da es angeblich die natürliche Geschlechterordnung und die Ehe auflöse. Geschlechterbeziehungen nehmen in Wahl- und Grundsatzprogrammen der AfD – die von sich selbst behauptet, »Gender-Ideologie« strikt abzulehnen – einen bedeutenden Stellenwert ein. Allem voran die Rolle der Frau: Einerseits legt die AfD deutschen Frauen die Sorge um Heim, Herd und Kind ans Herz. Andererseits will sie »fremden« Frauen, sprich Muslimas, das Recht aberkennen, selbst zu entscheiden, was sie tragen – im Namen der freien Entfaltung. Mit diesem Lippenbekenntnis zollt die AfD der Tatsache Tribut, dass die Frauenbewegung bedeutende Fortschritte erkämpft hat. Doch in Wirklichkeit bewegt sich die freie Entfaltung, wie die AfD sie sich vorstellt, in engen Grenzen. Für den Baden-Württemberger Landesverband beginnt sie damit, dass Frauen sich möglichst »für das Kind entscheiden können«, und Abtreibungen keinesfalls »bagatellisiert« oder gar zum Menschenrecht erklärt werden dürfen. Nach der Geburt ist es ihr wichtig, dass

»jedes Kind darin bestärkt wird, sein biologisches Geschlecht anzunehmen«, da die Geschlechter »aufeinander zugeordnet sind« – eine »Frühsexualisierung« ist dabei allerdings zu vermeiden. Das Kind sei weiterhin zugunsten seiner »gesunden« Entwicklung möglichst lange häuslich zu betreuen. Später müsse der »strukturellen Benachteiligung« von Jungen sowie der »ideologischen Indoktrination«, wie sie laut Landtagswahlprogramm 2016 in der deutschen Schulbildung stattfinden, um jeden Preis entgegengewirkt werden, da das Land »starke Männer« braucht. Im Erwachsenenalter ist die AfD dann zwar offiziell gegen Diskriminierung, lehnt es jedoch strikt ab, eingetragene Lebenspartnerschaften der Ehe zwischen Mann und Frau gleichzustellen, weil sie im heutigen Deutschland eine »volkserzieherische Überhöhung nicht heterosexueller Menschen« feststellt. Diese sei insofern schädlich, als nur die Ehe zwischen Mann und Frau »eine Familie begründen« könne – und diese Familie sei schließlich nicht nur für die Vorsitzende Frauke Petry die »Keimzelle der Gesellschaft«. Wenn die Partei fordert, dass Familien mehr Aufmerksamkeit und Förderung erhalten sollen, ist damit genau eine Art der Familie gemeint, nämlich Vater,

AfD: völkische Elitenförderung


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Mutter und eheliche Kinder. Was die AfD bei all dieser Propaganda unterschlägt, sind gesellschaftliche Tatsachen. Ihr Familien- und Frauenbild hat mit der Wirklichkeit herzlich wenig zu tun. Mehr als zwei Drittel der Frauen sind heute entweder erwerbstätig oder suchen Arbeit. Das alte Modell der Hausfrauenehe mit dem Mann als Alleinernährer ist weitgehend abgeschafft. An seine Stelle ist aber keineswegs ein Modell der Gleichheit getreten, sondern in den meisten Fällen arbeitet der Vater in Vollzeit und die Mutter in Teilzeit. Entsprechend bleibt die Lücke zwischen den Löhnen von Männern und Frauen in Deutschland groß. Die wirtschaftliche Schlechterstellung der Frau und die ungleiche Verteilung der Erwerbsarbeit untergraben Versuche einer gerechten Verteilung der Haus- und Sorgearbeit. Schlechterstellung im Beruf, Mehrbelastung im Haushalt – daran zerschellen Lebensentwürfe von Frauen – und Familien. Die Scheidungsquote liegt seit langen Jahren dauerhaft über 40 Prozent, und über die Hälfte der Scheidungen wird von Frauen eingereicht. Dennoch sind die traditionellen Geschlechterbilder und -verhältnisse, die die AfD gefördert sehen möchte, in Deutschland alles andere als aufgelöst. Ein selbstbestimmter Schwangerschaftsabbruch beispielsweise ist längst kein Recht, sondern bleibt lediglich straffrei. Außerdem fördern Staat und Wirtschaft durch das Ehegattensplitting sowie die Bevorzugung bestimmter Arbeitszeitmodelle genau die von der AfD propagierte Kernfamilie mit männlichem Ernährer und drängen in erster Linie Frauen in die un- oder unterbezahlte Sorge- und Pflegearbeit ab, unabhängig davon, wie gern diese sich »entfalten« würden. Die von Vaclav Klaus als »fast revolutionäre Partei« bezeichnete AfD steht im Licht der Realität weniger für eine Revolution als vielmehr für ein Rollback hart erkämpfter Teilfortschritte und eine weitere Verfestigung des Status quo in Sachen Geschlechterverhältnisse. Der Rassismus der AfD verleiht diesem Rollback eine zusätzliche Brisanz. Die Partei fordert zwar in der Familie eine »Willkommenskultur für Un- und Neugeborene«, um die »Geburtenrate in unserem Land« zu steigern, die sich durch Zuwanderung nicht kompensieren lasse. Offenbar darf die Familie jedoch nicht aus eingewanderten Menschen bestehen, denn diese weisen laut AfD-Grundsatzprogramm bei »sozialer Schwäche« und »niedrigem Bildungsstand« eine zu hohe Geburtenrate auf. Anders als nicht-eingewanderte Menschen mit akademischer Bildung, die der AfD zu wenige Kinder bekommen. Es handelt sich also um abstammungsdeutsche wohlhabende Familien mit höherer Bildung, die der AfD letztlich am Herzen liegen. Und daran offenbart sich genau das, was an der AfD noch am häufigsten positiv dargestellt wird, als Lüge – nämlich, dass sie die Partei des »kleinen Mannes«

sei, eine Alternative für die »Abgehängten« und vom System Verratenen. In Wahrheit steht sie für eine völkische Elitenförderung, die der Familienpolitik der Nazis sehr nahe steht. Die brachte Joseph Goebbels 1932 auf den Punkt: »Den ersten, besten und ihr gemäßesten Platz hat die Frau in der Familie, und die wunderbarste Aufgabe, die sie erfüllen kann, ist die, ihrem Land und Volk Kinder zu schenken.« Für die Linke gilt: wer geschlechtliche und sexuel-

Jetzt gilt es, die sexuelle Selbstbestimmung zu verteidigen le Selbstbestimmung angreift, greift alle an. Deutlicher kann ein solcher Angriff nicht sein, als wenn menschliche Partnerschaften über ihre ethnische Zusammensetzung und volkswirtschaftliche Leistung bewertet und gar als »Keimzellen« bezeichnet werden. Durch diese Benennung gibt die AfD klar und deutlich zu verstehen, dass Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit für sie weniger wichtig sind als funktionierende Reproduktionseinheiten für den »Volkskörper«. Insofern passt es ins Bild, dass der vermeintlich gemäßigtere konservative Flügel inklusive Parteiführung keinen Bedarf sieht, immer offener faschistische Führungskader wie Bernd Höcke auszuschließen, und eine Beatrix von Storch an seiner Spitze duldet, die es laut eigener Aussage im Zweifelsfall für angebracht hält, an Landesgrenzen auf nicht-deutsche Frauen und Kinder zu schießen. Leider ist die AfD keine Einzelkämpferin in der Weltpolitik. Die Regierung des ausgesprochenen Sexisten Donald Trump etwa hatte noch vor ihrer Amtseinführung erste Schritte unternommen, um Planned Parenthood jede Förderung zu entziehen – einer Organisation, die Gesundheitsvorsorge und sexuelle Aufklärung überall dort leistet, wo das USGesundheitssystem zu teuer oder schlicht nicht ausgebaut ist. Doch zum »Women's March« anlässlich der Amtseinführung von Präsident Trump waren weltweit mehrere Millionen Menschen auf den Straßen, um gegen die Einschränkung von Rechten und Freiheiten durch sexistische und rassistische Politik zu protestieren. Und zum internationalen Frauenkampftag am 8. März 2017 rufen feministische Gruppen aus über 30 Ländern bereits zu Streiks gegen Gewalt an Frauen und für die Verteidigung der sexuellen Selbstbestimmung auf. In diesem Moment liegt die Chance auf eine weltweite Massenbewegung, die letztlich wirklich Revolutionäres im Sinne aller Menschen bewirken könnte. ■

FRAUENTAG

Demonstrationen und Kundgebungen am Frauenkampftag unter folgendem Link: http:// maedchenmannschaft. net/termine-rundum-den-frauenkampftag-2017/

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»Es ist Alarm angesagt« Steigende Gewalt gegen Geflüchtete, die AfD auf dem Weg in den Bundestag – die rechte Szene ist in Bewegung. Wir sprachen mit Friedrich Burschel über die Verantwortung der etablierten Politik Interview: Tilman von Berlepsch

Friedrich Burschel

Friedrich Burschel ist Referent der RosaLuxemburg-Stiftung für Neonazismus und begleitet als Journalist den Münchener NSU-Prozess.

In den letzten Wochen fanden mehrere Großrazzien gegen rechte Terrorzellen statt. Wie groß ist die Gefahr von rechtem Terrorismus in Deutschland? Bereits Anfang 2016 hatte das Bundeskriminalamt angesichts der extrem aufgeheizten Stimmung wegen der Ankunft zehntausender Geflüchteter vor rechten Gruppen gewarnt, die im Stile des NSU losschlagen könnten. Die Gefahr neuer rechter Anschläge und Morde könnte also so akut wie lange nicht sein. An entsprechender aufputschender Hetze im Netz und aus der Politik mangelt es ja leider nicht. No-Go-Areas für gefährdete Menschen und Gruppen gab und gibt es durchgehend seit der Wende – vermutlich auch schon davor und zwar in Ost und West. Seit der Wende sind fast 200 Menschen von Nazis ermordet worden. Die Schwerverletzten, Verletzten und Angepöbelten, Bespuckten, Eingeschüchterten und Gedemütigten wurden gar nicht erst gezählt. Mit der Verhaftungswelle will Innenminister Thomas de Maizière (CDU)

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eine starke Hand beweisen. Er kündigte an: »Etwaiger entstehender Rechtsterrorismus wird von den Sicherheitsbehörden im Keim erstickt.« Hat der Staat aus den NSUVerbrechen gelernt? Quatsch, die scheinen mir unbelehrbar. Und Herr de Maizière gehört zu denjenigen, die zur angespannten Stimmung gegen Geflüchtete im Land beitragen, mit jedem Satz, den er sagt. Die starke Hand der Innenpolitik ist gerade dabei, mit brachialen Methoden gegen Geflüchtete vorzugehen, statt gegen die Leute, die – über weite Strecken ungestraft – Geflüchtetenunterkünfte angreifen oder anzünden. Das bisschen Theaterdonner um rechten Terror ist doch erst entfacht worden, als im Oktober in Bayern ein Polizist von einem Reichsbürger erschossen worden war. Der Terror gegen Geflüchtete hat das nicht vermocht. Im NSU-Prozess sind zahlreiche Verstrickungen zwischen Geheimdienst, Polizei und rechtem Terror zu Tage getreten. Wie glaubwürdig ist der staatliche Kampf gegen rechts?


Die Behörden haben zum Ersten strukturelle Probleme, rechten Terror überhaupt als Gefahr wahrzunehmen. Das zeigt beispielsweise der Irrsinn, dass die Bundesanwaltschaft nach etlichen Anschlägen auf Autos und die geplante Geflüchtetenunterkunft nicht gegen die terroristische Vereinigung des NPD-Politikers Schneider in Nauen (Brandenburg) vorgehen will. Zum Zweiten wird auch nach dem NSU das Problem des institutionellen Rassismus und des Rassismus individueller Beamtinnen und Beamten nicht angegangen und anerkannt. Zum Dritten ist nicht nachvollziehbar, was Geheimdienste in dieser Sache anrichten. Alles, was wir im NSU-Kontext über die Verstrickung des sogenannten Verfassungsschutzes wissen, müsste eigentlich ausreichen, hier mit dem Eisenbesen zu Werke zu gehen. Rechte Pogrome wie in Bautzen oder Freital erinnern an die Ereignisse in Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen Anfang der 1990er Jahre. Trifft der Vergleich, oder haben wir es mit einer neuen Qualität von rechtem Terrorismus zu tun? Natürlich haben die jeweiligen pogromartigen Ausschreitungen unterschiedliche aktuelle Hintergründe, aber die Täterinnen und Täter rechnen mit derselben Tatenlosigkeit des Staats und mit der Zustimmung großer Teile ihres Umfelds. Die nationalistische Stimmung im Land, spätestens mit der AfD vollends in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sorgt für flächendeckende rassistische Ausschreitungen. Und die etablierten Parteien nutzen die rassistische Stimmung wieder, um noch jede ausländer- und asylpolitische Schweinerei durchzuziehen und Gesetze entsprechend zu verschärfen. Das war auch Anfang der 1990er so, als sogar das Grundgesetz im Sinne der Abschottung geändert, das Asylgrundrecht faktisch abgeschafft wurde. Die Regierung geht von 12.000 gewaltbereiten Rechtsextremen aus. Sind das alles Terroristen? Wie grenzt man Rechtsterrorismus von rechter Alltagsgewalt ab? Der Schritt in einen terroristischen Untergrund à la NSU, in Zellen und klandestine Aktivitäten ist klein. Die ideologisch gefestigten organisierten Nazis im Land sprechen schon lange vom bevorstehenden »Rassenkrieg«, in dem sie die Rolle des »weißen arischen Widerstands« spielen, der die »weiße Rasse« zu retten habe. Dieser Scheißdreck ist jetzt aber salonfähig geworden, indem Vertreter der Leitkultur vom rechten Rand der bürgerlichen Parteien, AfD-Höcke, NPD, Identitäre und Ande-

© WildeBilder / flickr.com

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Demonstration in Gedenken der Opfer des NSU-Terror: Zehn Menschen wurden mutmaßlich vom »Nationalsozialistischen Untergrund« ermordet. Doch die Behörden verdächtigten die Angehörigen, anstatt rechte Terroristen

re das weichgespült – etwa im Sinne eines Ethnopluralismus – in ihr Repertoire aufnehmen. Da heißt es dann »Umvolkung«, »illegaler Import Fremdvölkischer« oder »Bevölkerungsaustausch«. »Besorgte Bürger« finden sich dann schon, denen man solch braune Brühe einflößen kann. Die Gewalt hängt in der Luft.

Die Sicherheitsbehörden sind unbelehrbar

Welche Rolle spielt das Internet bei der Vernetzung und Radikalisierung von gewaltbereiten Rechten? Verschiedene Studien, unter anderem eine, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung bei einer Bremer Forschungsgruppe in Auftrag gegeben hat, kommen zu zurückhaltenden Befunden. Mit Sicherheit hat das Internet die Organisierung erleichtert. Neu ist im Grunde diese Explosion nicht anonymisierter rassistischer, sexistischer und nationalistischer Posts in sozialen Netzwerken. Das erleichtert rechter Propaganda das Setzen von Themen und die Mobilisierung für die eigenen Aktivitäten. Das Netz funktioniert hier wie ein Verstärker.

Die Organisation und Durchführung von Anschlägen gilt häufig als Vorbereitung auf den beschworenen »kommenden Bürgerkrieg«. Welche Rolle spielen solche Narrative bei der Organisierung von militanten rechten Gruppen? Das spielt in der ideologischen Zurichtung der terrorbereiten Nazi-Szene eine enorme Rolle. Wir haben im NSU-Prozess gestaunt, auf wie vielen beschlagnahmten Festplatten von Angeklagten sich zum Beispiel die »Turner Diaries« von William Pierce finden lassen. Dieser lausige, in Tagebuchform gegossene Roman gilt als Blaupause für terroristische Aktionen der internationalen militanten Naziszene an einem Tag X. Der Roman wurde bei dem Londoner Nagelbomber und Mörder David Copeland ebenso gefunden wie bei den in München Angeklagten Ralf Wohlleben und André Eminger. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der neuen Rechten wie Trump, der AfD und Pegida und der Zunahme rechter Gewalt? Ja. Wo die menschenverachtenden und nationalistischen Töne aus den Mündern seriöser Politiker kommen, in den USA gar vom neuen Präsidenten, wenn sie von vielen Leuten aus der Mitte der Gesellschaft aufgegriffen werden, dürfen sich gewaltbereite Attentäter eingeladen fühlen, in ihrem Tun fortzufahren und die Situation zu eskalieren. Wenn selbst de Maizière von einer »Teilverrohung der Gesellschaft« spricht und – mit Blick auf tatverdächtige Feuerwehrleute und Finanzbeamte – davon, dass selbst »unbescholtene Bürger« zum Brandbeschleuniger greifen, dann, denke ich, ist Alarm angesagt. ■

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Der aufhaltsame Aufstieg von Geert Wilders Der Erfolg von Geert Wilders und seiner Partei der Freiheit (PVV) in den Niederlanden ist ein Musterbeispiel für die Verrohung und Entsolidarisierung, die rassistische Bewegungen auslösen können. Wenn die Linke ihn stoppen will, braucht sie einen Kurswechsel Von Freek Blauwhof

FREEK BLAUWHOF studierte in Amsterdam und war dort aktiv im Jugendverband der sozialistischen Partei und bei den Internationalen Sozialisten. Heute ist er Mitglied der LINKEN in Berlin-Neukölln.

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chon seit mehr als zehn Jahren wettert Geert Wilders, Vorsitzender und einziges Mitglied der Partei der Freiheit (PVV), gegen Muslime und andere Minderheiten, die EU-Bürokratie, den Euro und die angeblich linke Elite in Politik und Medien – mit beachtlichem Erfolg: Seit 2006 fährt er regelmäßig zweistellige Wahlergebnisse ein. Jüngsten Umfragen zufolge könnte die PVV bei der Parlamentswahl Mitte März auf mehr als 21 Prozent der Stimmen kommen (etwa doppelt so viel wie 2012). Sie könnte damit stärkste Kraft werden. Seit Wilders im September 2004 aus der Fraktion der wirtschaftsliberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) ausgeschlossen wurde und seine eigene Partei gründete, ist bei ihm eine kontinuierliche Radikalisierung festzustellen. In seinen Tweets, in seinen Reden, in seinen Interviews hetzt der 53-jährige gegen alle, die nicht seiner Meinung sind. Wilders Hauptsündenbock sind Muslimas und Muslime. Während er im Jahr 2004 seine Hetze noch auf »Radikale« beschränkte, nahm er schon bald Muslimas und Muslime im Allgemeinen ins Visier. Inzwischen nennt er den Islam regelmäßig eine »faschistische

Ideologie« und spricht von einer »islamischen Invasion« oder einem »Tsunami der Islamisierung«. Er verbreitet die rassistische Verschwörungstheorie, dass Muslimas und Muslime nach Europa kommen würden, um mit Billigung oder Hilfe der vermeintlichen linken Elite ein Großkalifat zu errichten. Im Jahr 2008 führte Wilders auf einer Veranstaltung des Hudson Institute in New York aus: »Sie kommen, um unsere Gesellschaft in ihren Dar-al-Islam einzugliedern. Also sind sie Siedler. (...) Wir befinden uns vielleicht in den letzten Phasen der Islamisierung Europas. Dies ist nicht nur eine klare Bedrohung für die Zukunft Europas, sondern auch für die USA und den Westen an sich.« Auf diese Art und Weise deutet er seit Jahren das Tagesgeschehen. Mit der Festlegung auf das Thema Islam will er seinen Aufstieg fortsetzen und an und an die europaweiten Erfolge der radikalen Rechten anknüpfen. Vom Front National in Frankreich über die FPÖ in Österreich und die Lega Nord in Italien bis hin zum Vlaams Belang in Belgien – all diese Parteien konnten mit einem scharfen Anti-Islam-Profil Wahlerfolge feiern. Dementsprechend gestaltet sich der Wahlkampf der PVV: Alle Moscheen und islamischen Schulen sollen geschlossen und das öffentli-

Wilders verbreitet rassistische Theorien


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Wilders’ Aufstieg in den Niederlanden vollzog sich im angespannten Klima nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York (2001) und der Ermordung des rechten Politikers Pim Fortuyn (2002) sowie des islamophoben Filmmachers Theo van Gogh (2004). Zudem hat die rabiate Kürzungspolitik, welche die herrschenden Parteien seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung durchdrücken, zu großem Frust über die etablierte Politik geführt. Verständlicherweise sind Millionen Menschen empört über Rentenkürzungen und die Rente mit 67, über Steuererhöhungen für Normalverdienende und den massiven Abbau der öffentlichen Gesundheitsversorgung. So müssen Patientinnen und Patienten trotz Krankenversicherung mindestens die ersten 375 Euro selbst zahlen, bevor die Kassen irgendeine Rechnung übernehmen – mit Ausnahme des Hausarztbesuches. Genau diesen Frust versucht Wilders für sich zu mobilisieren, indem er sich als Sprachrohr der kleinen Leute gegen die Elite und die EU anbietet. Dabei gehörte er als Mitarbeiter und Abgeordneter der liberalen VVD (1990-2004) und als parlamentarische Stütze der Minderheitsregierung Rutte I (VVD-CDA) 2010 bis 2012 genau dieser neoliberalen Elite an. Auch danach stimmte Wilders’ Partei entgegen ihren Wahlversprechen für Privatisierungen im ÖPNV und in der Pflege und gegen eine Veröffentlichungspflicht für Nebenverdienste von Ministerinnen und Ministern. Wilders gibt sich also sozial vor der Wahl, um anschließend ebenfalls Kürzungspolitik zu betreiben. Über die strukturellen Ursachen der Krise, die Schuld der Banken und Konzerne, den Abbau von Tarifverträgen und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in der EU sagt er nichts. Stattdessen stempelt er Minderheiten zu Sündenböcken ab, auf die er den Frust in der Bevölkerung lenken kann. So verbreitet er regelmäßig die Behauptung, die weißen niederländischen »Henk und Ingrid« würden für »Ahmed und Fatima« bezahlen. Auch polnischen LKW-Fahrerinnen und -Fahrern wirft er vor, den niederländischen Kollegen die Jobs wegzunehmen. Dementsprechend glaubt ein beachtlicher Teil seiner Wählerinnen und Wähler, dass sie ein persönliches wirtschaftliches Interesse an Diskriminierung, Ausgrenzung und Abschiebung verschiedener Minderheiten hätten. Trotz seiner absurden Lügen und seines Rassismus ist Wilders in den Medien und im Parlament keines-

© Erik bij de Vaate / CC BY-NC-ND / flickr.com

che Tragen von Kopftüchern und der Koran verboten werden. Wilders will zudem Migrantinnen und Migranten aus muslimischen Ländern die Einreise verwehren und die Aufnahmezentren für Geflüchtete in den Niederlanden schließen.

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Migrantinnen und Migranten zwei neue Parteien gegründet: »DENK« und »Artikel 1«. DENK (zu Deutsch: Denk nach) wurde von zwei ehemaligen Sozialdemokraten, Selcuk Öztürk und Tunahan Kuzu, gegründet. Ihnen gefiel nicht, wie die PvdA in der Einwanderungs- und Wirtschaftspolitik nach rechts rückte. Die beiden türkischstämmigen Abgeordneten erklärten Ende 2014 ihren Austritt. Ein Auslöser war, dass ein Parteikollege, der damalige Sozialminister Lodewijk Asscher, beschlossen hatte, Organisationen wie Millî Göruş schärfer zu überwachen. Außerdem stellte er eine Studie vor, wonach junge türkischstämmige Niederländerinnen

Die Linke muss offensiv antirassistische Politik betreiben Protest gegen Wilders Rassismus im Frühjahr 2014: Eine Demonstrantin hält ihren niederländischen und ihren marokkanischen Pass in die Höhe. Regelmäßig wettert Wilders im Wahlkampf gegen die doppelte Staatsbürgerschaft

wegs isoliert. Im Gegenteil – mit seiner andauernden Hetze konnte er mehr Medienaufmerksamkeit gewinnen als alle anderen Politikerinnen und Politiker in den vergangenen zehn Jahren. Damit hat er das politische Klima in den Niederlanden ernsthaft vergiftet. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die Parteien der Mitte und zum großen Teil auch die linken Parteien dabei versagt haben, Wilders’ Rassismus klar zu benennen und ihn prinzipiell zu bekämpfen. Nach dem Motto »Ignorier ihn, dann wird er sich schon selbst enttarnen« weigerten sich die sozialdemokratische Partei der Arbeit (PvdA), die grüne Partei Groenlinks und zum großen Teil selbst die Sozialistische Partei (SP), Wilders einen Rassisten zu nennen, geschweige denn aktiv Gegenproteste zu organisieren oder zumindest sich an geplanten Protesten zu beteiligen. Der Journalist und Sozialist Max von der Lingen aus Amsterdam kritisiert, dass die Parteiführung der SP eine »falsche Strategie« im Umgang mit Wilders habe: »Sie beschränkt ihre Kritik an Wilders auf das Enttarnen seiner neoliberalen Politik und schweigt zu seinem Rassismus.« Die Angst der Führung der SP, mit einem klaren antirassistischen Kurs Stimmen an Wilders zu verlieren, mündete in einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Da die etablierte Linke nicht gegen den Rassismus aufgestanden ist, hat Wilders seinen Weg bis in die Arbeiterklasse gefunden. Allerdings kommt die Mehrheit der PVV-Stimmen aus reicheren Schichten. Infolge des Versäumnisses der Linken, einen klaren antirassistischen Kurs einzuschlagen, haben

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und Niederländer große Sympathien für den »Islamischen Staat« empfänden. Letztere Aussage musste er wegen Fehlern in der Studie abschwächen, er distanzierte sich dennoch nicht davon. »Artikel 1« wurde von der Journalistin und Fernsehmoderatorin Sylvana Simons, die eigentlich als Spitzenkandidatin von DENK vorgesehen war, gegründet. Die Gründung von »Artikel 1« war eine Reaktion auf die konservative Seite von DENK. So hatte die Führung von DENK die türkische Regierungspolitik unter Erdogan verteidigt. Die beiden Neugründungen sprechen vielen Migrantinnen und Migranten aus der Seele: Nicht dieselben Chancen in der Gesellschaft zu haben, als Menschen zweiter Klasse angesehen zu werden, Opfer jenes Rassismus zu sein, den Wilders weiter anstachelt, und der, wie etwa in der Figur des Nikolaushelfers »Zwarte Piet« (schwarzer Peter), immer noch tief in der Gesellschaft verankert ist. Für die Rechten in den Niederlanden sind die beiden Parteien zu einem Hassobjekt geworden, weil sie selbstbewusst, manchmal auch plakativ und provozierend, für die Gleichberechtigung von Migrantinnen und Migranten eintreten. Wenn die Linke in den Niederladen den weiteren Aufstieg Wilders’ und den Rassismus stoppen will, muss sie sich ändern. Das gilt für die Sozialdemokraten und die Grünen, aber besonders für die SP. Niels Jongerius, Aktivist und Mitglied der SP, sieht das ähnlich: »Ich teile die Kritik, dass die SP nicht Motor der antirassistischen Bewegung ist und mehr machen könnte. Ich denke auch, dass die Gründung von »Artikel 1« sich erübrigt hätte, wenn wir als linke Partei offensiv antirassistische Politik betrieben hätten.« ■


MARX21 Online Auch nach zwei Jahren meistgelesen: Volkhard Moslers Beitrag über den islamistischen Terrorismus

TOP TEN

NOVEMBER / DEZEMBER / JANUAR

Kristian Heitkamp auf unserer Facebook-Seite Die Frage ist, wie DIE LINKE mehr Einfluss auf die Politik ausüben kann. So konnte sie in Hessen, trotz des Scheiterns der Sondierungsgespräche mit der SPD unter Andrea Ypsilanti, unter anderem die Studiengebühren abschaffen. Wollen wir unser linkes Profil behalten, müssen wir darauf achten, dass wir auch als linke Partei wahrgenommen werden und uns nicht in Rechtfertigungsgesprächen verlieren dürfen. 1 ·26. November um 17:18 Uhr

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Marita Kruse auf unserer Facebook-Seite Internationale Solidarität heißt nicht, alle Menschen hier aufnehmen, weil das Kapital ihnen die Existenzgrundlage raubt, sondern im internationalen Kampf dafür zu sorgen, dass niemand mehr seine Heimat aus Angst vor Tod oder Hunger verlassen muss. Das ist internationaler Klassenkampf und Wagenknecht bietet diesen Verbrechern die Stirn. Darum soll sie demontiert werden und viele Linke machen dabei auch noch mit. 2 ·13. Januar um 23:05 Uhr

es besser machen kann 5. Erich Kästner: Kein

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Dr. Helmut Kohl auf unserer Facebook-Seite Gibt es eigentlich mal eine Chance mit euch vernünftig darüber zu reden, warum es wenig sinnvoll ist, eher kontraproduktiv, seine Energie für die Propaganda für eine nicht (mehr) existente bürgerliche Revolte zu verschwenden? Um es mal grob anzudeuten, ihr kommt analytisch durchaus auf viel Richtiges doch ist dieses verblendet von Revolutions-Kitsch-Vereinfachungen. 1 ·21. Dezember 18:51 Uhr

ONLINE ANGEKLICKT marx21.de bei twitter: ★ minus 31 Follower in den letzten drei Monaten (4115 Follower insgesamt)

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(396)

des elitären Liberalismus Insgesamt gab es im Januar 30.712 Aufrufe der Seite marx21.de (28.788 im November / 21.240 im Dezember)

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Karikatur der Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen vom Front National

© Carlos Latuff

Faschismus mit modernem Gesicht Der französische Front National sieht Trumps Sieg als Zeichen, dass seine Stunde bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl schlägt. Die Partei stellt sich als wählbare Alternative dar, doch in ihrem Herzen schlummert der Faschismus

B

Daniel Kerekes ist Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN in Essen und Autor des Portals »Die Freiheitsliebe«.

Von Daniel Kerekes

ei der Suche nach den Gründen für den Aufstieg des Front National wird oft das weichere Image des FN unter der neuen Vorsitzenden Marine Le Pen angeführt. Das ist aber falsch. Sie mag das äußere Erscheinungsbild der Partei etwas verändert haben, aber die Parteigründer hatten von Anfang an das Ziel verfolgt, dem Faschismus ein modernes Gesicht zu geben. Auch Marine Le Pen verfolgt nach wie vor diese Strategie. Ihr wichtigstes Vorhaben war die »Entteufelung« (dédiabolisation) des Front National.

Le Pens wichtigstes Vorhaben war die »Entteufelung«

Sie greift aber nicht sehr weit. Unter der Führung ihres Vaters Jean-Marie Le Pen bekannten sich führende Mitglieder als Nazis und Rassisten. So sagte Jean-Marie Le Pen 1987 in einem Interview, die Gaskammern der Nationalsozialisten seien ein »Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges« gewesen. Für diese Aussage, die er über die Jahre hinweg immer wieder öffentlich wiederholte, wurde Le Pen mehrfach zu Geldstrafen verurteilt. Ebenso wurde er verurteilt, weil er Platten mit Liedern der Waffen-SS hergestellt und verkauft hatte.Das konnte Marine Le Pen aber nicht dazu bewegen, sich von ihrem Vater zu distanzieren. Zwar hat sie medienwirksam ein paar der als Nazis bekannten Mitglieder ausgeschlossen. Tatsächlich aber ist der vermeintliche Reinigungsprozess nur oberflächlich: Le Pen und viele Parteikollegen pflegen weiter intensive Kontakte zur faschistischen Rechten. So verkündete in

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Lille die FN-Jugendorganisation auf einer Veranstaltung mit Marine Le Pen die strategische Partnerschaft mit der »Union zur Verteidigung der Jugend« (UDJ), einer gewaltbereiten Pariser Studierendenverbindung. Wegen schwerer Körperverletzung an Muslimen standen zwei der Mitglieder im Februar 2012 bereits zum zweiten Mal vor Gericht. Ein ehemaliger Vorsitzender der Gruppe, Frédéric Chatillon, leitet die Kommunikationsagentur der Partei. Chatillon begleitete Le Pen auch auf ihrer offiziellen Italienreise und stellte den Kontakt zur neofaschistischen Bewegung MSI her. Ein weiteres ehemaliges UDJ-Mitglied, der Anwalt Philippe Péninque, arbeitet für Le Pen als politischer Berater. Der Wahlkampfleiter der Region um Nantes, Christian Bouchet, ist ein bekannter Nazi-Kader. Sein Sohn betreut die offizielle Facebook-Seite Le Pens. »Marine Le Pen ist nicht dabei, sich der Antisemiten und der (katholischen) Traditionalisten zu entledigen«, sagt die französische Soziologin Marie-Cécile Naves. Die Mitherausgeberin eines Lexikons des Rechtsextremismus beschreibt die offensichtliche Strategie der Parteichefin so: »Wichtig ist es lediglich, dass die radikalsten Mitglieder weniger in den Medien und auf Demonstrationen sichtbar sind.« Einen weiteren Beleg für die halbherzige Abkehr von radikalen Elementen liefert ein Blick in das Umfeld des umstrittenen Universitätsprofessors und FN-Spitzenpolitikers Bruno Gollnisch. Er unterlag 2011 knapp Marine Le


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Pen im Rennen um die Präsidentschaft der Partei. Gollnisch ist Abgeordneter im Europaparlament, Mitglied des Parteivorstands und Vorsitzender der FN-Fraktion in der Region rund um Lyon. Er gilt als Europas einflussreichster Nationalist und hat beste Kontakte zur extremen Rechten. Die Neuausrichtung des Front National unter Marine Le Pen folgt der Strategie eines Großteils der europäischen Rechten. Neben den bekannten Forderungen – weniger Einwanderung, mehr Geld für innere Sicherheit, Wiedereinführung der Todesstrafe – spricht sich der FN auch für die Abschaffung des Euro, neue Grenzkontrollen und wirtschaftlichen Protektionismus aus. Außerdem führte Marine Le Pen ein neues Feindbild ein: den Islam. »Es gibt zwar keine Panzer und keine Soldaten, aber eine Besatzung ist es trotzdem«, erklärte die Parteichefin Le Pen 2014 zum Islam in Frankreich. Nach den Pariser Attentaten zu Beginn des Jahres sah sich Le Pen bestätigt und schürte weiter Angst gegen Muslime. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der FN ein Verbot von Kopftüchern in der Öffentlichkeit verlangt, ebenso wie ein faktisches Verbot des Baus von Moscheen. Der Rassismus, dem die vier Millionen in Frankreich lebenden Muslime ausgesetzt sind, ist allgegenwärtig. So führt beispielsweise der französische Autor Michel Houellebecq derzeit mit seinem Roman »Unterwerfung« die Bestsellerlisten an. Darin beschreibt er, wie 2022 eine muslimische Partei die Stichwahl um das Präsidentenamt gewinnt und die französische Gesellschaft Stück für Stück unterjocht. Er schürt mit dieser Fiktion ganz gezielt Angst und Vorurteile in der Bevölkerung. Houellebecq ist kein Einzelfall. In ihrem Buch »Wie die französischen Eliten das ,muslimische Problem‘ geschaffen haben« beschreiben die beiden Soziologen Abdellali Hajjat und Marwan Mohammed wie es in allen Bereichen der französischen Kultur und Politik zu einem massiven Anstieg von islamfeindlicher Propaganda kam. Nicht nur diese Entwicklung hat den Kadern des FN Rückenwind für ihre Hetze gegeben. »Rassismus, Antisemitismus, Homophobie: Die Kandidaten des FN ohne Maske« titelt das französische Wochenmagazin L’Obs. So postete z. B. der FN Kandidat Jean-François Etienne auf seinem Facebookprofil Fotos von afrikanischen Flüchtlingsbooten mit dem Kommentar: »Ein oder zwei dieser Abfallschiffe versenken«. Kaum waren die rassistischen Äußerungen des Kandidaten bekannt, kamen durch das Magazin L’Obs weitere ans Licht. Der FN verbindet seine Hetze gegen Muslime und Ausländer mit einer Anti-Austeritätspolitik, um auch ehemalige Wählerinnen und Wähler der Linken einzufangen. Mit dieser Mischung von Parolen gegen den Islam, Einwanderung, Euro und das deutsche »Spardiktat« fährt der FN zurzeit einen Wahlerfolg nach dem anderen ein. Bei der Präsidentschaftswahl 2012 wurde Le Pen Dritte, aus der Europawahl 2014 ging der FN als stärkste Kraft in Frankreich hervor, und zuletzt hatte er große Er-

folge bei den Départementswahlen 2015. Der antimuslimische Rassismus der bürgerlichen Mitte, insbesondere der Konservativen, machte es Le Pen leicht, sich als respektable Kraft darzustellen. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: »2007 fügt der konservative Politiker Nicolas Sarkozy dem Front National mit einem betont rechten Wahlkampf eine herbe Niederlage zu. Ein kurzsichtiges Vorgehen: Durch seinen Rechtsruck macht Sarkozy viele Forderungen des FN salonfähig.« Sarkozy vereinte eine drastische Kürzungspolitik mit einer offen rassistischen Agenda, wie sie kein französischer Präsident der Gegenwart vertreten hat. Die Regierung verfügte Quoten für »illegale« Einwanderer und setzte diese auch rücksichtslos um. Flüchtlingscamps der Roma wurden in Trümmer geschlagen und Frankreichs muslimische Bevölkerung einer üblen und unaufhörlichen Hetzkampagne ausgesetzt. So hat der Staat Kleidungsvorschriften erlassen und die Freiheit des Gebets eingeschränkt: Das öffentliche Tragen der Verschleierung wurde untersagt, Beten auf der Straße verboten. In seiner Wahlkampagne trat Sarkozy streckenweise in Le Pens Fußstapfen, indem er Panik wegen halal geschlachteten Fleischs schürte. Die Islamophobie von etablierten Politikern und Parteien hat den FN legitimiert.

Die Islamophobie der Etablierten hat den FN legitimiert

Der Aufstieg des Front National zeigt, welche Gefahren von rechts drohen, wenn Regierungen die europäische Wirtschaftskrise auf Kosten der Menschen bewältigen wollen. Doch der FN kann geschlagen werden. In den 1990er Jahren mobilisierten Antifaschistinnen und Antifaschisten gegen die Treffen der Rechten und beteiligten sich an einer Kampagne der »demokratischen Belagerung« des Front National. Im Manifest gegen den Front National hielt der ehemalige Vorsitzende der Sozialdemokratie Jean-Christophe Cambadélis fest, man müsse alle linken Kräfte gegen Veranstaltungen, Kundgebungen, Infostände der FN mobilisieren. Der Höhepunkt der Gegenbewegung war eine Großdemonstration am 29. März 1997 in Straßburg gegen den Parteitag des Front National. Das half, eine Spaltung des FN zu provozieren, von der er sich lange nicht erholte. 1999 verließ der wichtigste Mann hinter Le Pen den FN, Bruno Mégret. Dieser gründete das Mouvement National Républicain als neue rechte Partei und nahm 5.000 Mitglieder des FN mit. Auch als Jean-Marie Le Pen es 2002 schaffte, mit 4,8 Millionen Stimmen in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen zu ziehen, brachten Massenproteste den Front National erneut in Bedrängnis. Auf dem Höhepunkt der Bewegung protestierten über eine Million Menschen am 1. Mai in Paris. Neben den Demonstrationen in Paris fanden rund 400 Veranstaltungen in anderen Städten statt. Diese breite Bewegung gegen den FN verhinderte einen Wahlsieg und drängte die Partei erneut zurück. Auf diesen Erfahrungen kann die Linke in Frankreich aufbauen. Dafür muss sie den Front National und die Hetze gegen den Islam, die den Rassismus in Frankreich respektabel gemacht hat, aktiv konfrontieren. ■

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Die extreme Rechte hinter Trump Donald Trump glaubt gern, dass er nicht nur eine Wahl gewonnen, sondern auch »eine Bewegung aufgebaut« habe. Und wenn man nach seiner ersten Zeit im Weißen Haus urteilt, hat er Recht – aber nicht so, wie er es glaubt VON Scott McLemee

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sie Linke in Amerika in den letzten Jahrzehnten nur erträumt haben. Erst vor zwei Monaten war die am meisten mit Trump identifizierte Bewegung die sogenannte »alt-right«-Bewegung (etwa »alternative Rechte«, d. Red.), die aus extrem Rechten besteht, wie zum Beispiel den Neofaschisten, die sich Richard Spencer angeschlossen, als er während einer Veranstaltung des National Policy Institute, einer Denkfabrik der weißen Rassisten, »Heil Trump!« skandierte. Eine andere führende Person der »alt-right«-Bewegung, Trumps Kampagnenleiter Stephen Bannon, dient jetzt als Chefstratege und oberster Berater des Präsidenten. Zweifelsohne ist er derjenige Berater, der Trumps Glauben anstachelt, dass sein Wahlerfolg ein Beweis für eine Massenbewegung sei. Alle, die Trumps Kampagne genau beobachteten, konnten sehen, wie sehr er sich nach dem Jubel der Massen sehnte, die im Einklang mit seiner Stimmung lachten, jubelten und Wut ausdrückten.

inen Tag nach der kleinsten Beteiligung der Öffentlichkeit an der Amtseinführung eines USPräsidenten seit Menschengedenken nahmen etwa eine halbe Million Menschen am Frauenmarsch auf Washington teil, um Trumps Programm der Angriffe auf Migrantinnen und Migranten, des Frauenhasses und der Einschränkung der sexuellen Selbstbestimmung anzuprangern. Wahrscheinlich war es der größte Protest seit den Antikriegskundgebungen während der zweiten Amtszeit von George W. Bush, und mehrere Rednerinnen drückten ihre Solidarität mit der »Black Lives Matter«-Bewegung gegen Polizeigewalt aus. Kurz gesagt, es könnte sehr wohl sein, das Donald Trump auf dem Weg ist, eine neue Massenradikalisierung von einem Ausmaß zu inspirieren, wie

Sie wollen die Republikanische Partei zerstören

© E. Jason Wambsgans / MBR Twitter

Scott McLemee ist regelmäßiger Kolumnist der amerikanischen Zeitschrift »Inside Higher Ed«, Redakteur von »Jacobin« und schreibt für diverse andere Publikationen, darunter »International Socialist Review«.

Übersetzung: Einde O’Callaghan

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Trump weiß wenig über das komplizierte ideologische Terrain des amerikanischen Konservatismus. Er tritt sein Amt mit einem Kongress an, der von der Republikanischen Partei dominiert ist. Und diese Partei – wie es einer ihrer führenden Strategen ausgedrückt hat – braucht nur einen Präsidenten, der genügend Finger hat, um die Gesetze zu unterschreiben, die sie ihm schickt. In dieser Hinsicht ist Trump qualifiziert, also glaubt die Führung der Republikaner, dass sie mit ihm arbeiten könne. Sie sind sich alle einig, dass sie Obamas Gesundheitsreform zerlegen, Steuern senken, Bildung privatisieren, die Rechte der Frauen und der LGBT-Community einschränken und die Regulierung der Wirtschaft abschaffen oder verhindern wollen. Die meisten dieser Punkte sind seit Jahrzehnten zentrale Bestandteile des Programms der Republikaner – zusammen mit der Unterstützung von Militärausgaben und einer aggressiven imperialistischen Außenpolitik. Dabei wurde offener Rassismus allerdings zumeist ver-


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mieden. Der verstorbene Lee Atwater, ein einflussreicher Führer der Republikaner, erklärte einmal, dass das Ködern mit Rassismus unbeliebt und unwirksam geworden sei, also bestehe die List darin, subtiler zu sein. »Man spricht über wirtschaftliche Fragen«, sagte er einmal einem Politikwissenschaftler, »und ein Nebenprodukt davon ist, dass die Schwarzen schwerer darunter leiden als die Weißen.« Der politische Aufstieg Trumps begann mit einer Variante dieser Taktik: Er vertrat die Ansicht, dass Barack Obama nicht beweisen könne, dass er amerikanischer Staatsbürger sei. Aber seine Kampagnenrhetorik gegen mexikanische und muslimische Einwanderinnen und Einwanderer war weit weniger subtil. Das erwies sich für die Führer der Republikaner als peinlich, aber sie waren kaum imstande, sich prinzipiell dagegen zu stellen. Gleichzeitig hatte sich innerhalb der amerikanischen Rechten unter der Einwirkung der Weltwirtschaftskrise eine Spannung verstärkt: Die Propaganda der Republikaner feiert die Rolle der Reichen als Arbeitgeber, verkündet die Tugenden des Kleinunternehmertums und erklärt die Kleinstädte in ländlichen Gebieten zum wahren Amerika. Aber die Politik, die sie wirklich betrieben und die weitgehend auch von der Demokratischen Partei unter Clinton und Obama unterstützt wurde, hat die wirtschaftliche Unsicherheit und Ungleichheit in einem Ausmaß erhöht, das seit der Depression der 1930er nicht mehr zu sehen war. Spencer, Bannon, und Andere aus der »alt-right«-Bewegung sehen ihre Rolle darin, Mechanismen der politischen und gesellschaftlichen Herrschaft über eine Bevölkerung aufzubauen, die über die nächsten zwei Jahrzehnte ethnisch und kulturell noch heterogener wird – während es gleichzeitig unwahrscheinlich ist, dass ihr Lebensstandard durch die freie Marktwirtschaft steigen wird. Sie lehnen sowohl den Neoliberalismus als auch die Zurückhaltung nach Atwaters Art ab, sondern schüren rassistische Feindseligkeit. Und sie betrachten die Mehrheit der Führung der Republikaner als Feinde. Zweifelsohne hat Donald Trump davon keine Ahnung. Er hat seine ersten Amtswochen in siedender Wut über Attacken seitens der Medien verbracht und schäumt darüber, dass er sein Amt mit der niedrigsten Zustimmungsrate angetreten hat, die ein angehender Präsident jemals genossen hat. Er steht jetzt auf der Spannungslinie zwischen einerseits denjenigen Kongressabgeordneten, die sich als die politischen Erben Ronald Reagans betrachten, und andererseits denjenigen, die Bannons Bestrebung teilen, die Republikanische Partei zu zerstören und sie durch etwas Grausameres und Brutaleres zu ersetzen. Das ist, mit anderen Worten, eine prekäre und wacklige Position, und sie kann noch brisanter werden, wenn die extreme Rechte in anderen Ländern mobilisiert. Millionen Menschen in den USA denken darüber nach, wie sie Trumps Angriffe auf gefährdete Teile der Bevölkerung abwehren können. Und wenn sie weitere Millionen überall in der Welt sehen, die aus Solidarität auf die Straße gehen, kann das nur eine Hilfe sein. Wie die alte gewerkschaftliche Parole der Industrial Workers of the World sagt: Ein Angriff auf Einen ist ein Angriff auf Alle. ■

Eine Frau mit Donald Trump T-Shirt streckt während einer Auseinandersetzung mit Gegendemonstranten die Hand zum Hitler-Gruß

© E. Jason Wambsgans / MBR Twitter

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Die

Trump-Bande und der Kampf

der Kulturen Von Kevin Ovenden

Übersetzung: Rosemarie Nünning

Anfang der neunziger Jahre schrieb der USAmerikaner Samuel Huntington einen Bestseller über den kommenden »Kampf der Kulturen«. Die Bande um Trump im Weißen Haus scheint das Buch ausgiebig studiert zu haben

© Carlos Latuff

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nscheinend liest Donald Trump keine Bücher. Die extrem rechte Bande, die sich um ihn geschart hat, tut es dagegen schon. Angesichts ihrer verbalen Ergüsse drängt sich der Gedanke an Samuel Huntingtons Buch »Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert« auf. Es war in ultrarechten Kreisen sehr beliebt, als es vor 20 Jahren veröffentlicht wurde – jener Zeit, als die Steve-Bannon-Generation faschistischer Ideologen sich in einer Welt nach dem Ende des Kalten Kriegs ihre ersten Sporen verdiente. Huntington bot eine rassistisch grundierte Rationalisierung für die sich ausweitenden militärischen Konflikte und Eingriffe der USA an, die nach seiner Auffassung die neue Weltordnung charakterisieren würden, statt des langsamen Verschwindens von Konflikten durch den Welthandel, was als Neoliberalismus bekannt wurde. China war bereits auf dem Weg des Aufstiegs. In den USA ging die Sorge über einen amerikanischen Niedergang um. Und es zeichnete sich bereits ein Gegenschlag im Nahen Osten gegen die jahrzehntelange Vorherrschaft der USA und anderer Auslandsmächte sowie lokaler Tyrannen ab. Beide Prozesse ha-


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ben sich seitdem rapide beschleunigt. Aufgrund ihrer schwindenden Macht konnten die USA sie nicht aufhalten. Huntington behauptete, diese Konflikte entstünden aus einem »Kampf der Kulturen«. Er teilte die Welt in zehn angeblich unveränderliche Kulturräume auf (wobei die Zahl auch schwankte): westlich, islamisch, slawisch-orthodox (Russland), lateinamerikanisch, chinesisch und so weiter. Diese Kategorien sind völlig künstlich: »orthodoxe Kultur« wurde mit dem Ostchristentum gleichgesetzt, »afrikanische Kultur« bezog sich nur auf die südlichen zwei Drittel des Kontinents Afrika. Die Logik dieses Unterfangens bestand einzig und allein darin, die imperialen Kämpfe, welche die USA führen würden, zu rechtfertigen. Um den Krieg im Nahen Osten und die Erhöhung des militärischen Drucks auf China zu rechtfertigen, entwickelte Huntington die unsinnige Idee von einer islamo-konfuzianischen Kultur, die Muslime und Chinesen als vereinte Feinde der USA, der Führung des überlegenen Blocks der westlichen Kultur, zusammenbringe.

wurde. Auch Obamas Nahostpolitik ist gescheitert – spätestens, seit er sich dem neuerlichen Irrglauben hingab, in Libyen und Syrien das Regime auswechseln zu können. Chinas Aufstieg setzte sich auch während der Regierungszeit von Bush und Obama fort. Sie versuchten es mit einer Politik gegenüber China, die der Wiedererrichtung der Vorherrschaft der USA dienen sollte, was ihnen nicht gelang. Nun ist auch Obama gegangen.

Kevin Ovenden ist Aktivist und Autor von »Syriza: Inside the Labyrinth«.

Die Trump-Bande setzt in gewisser Hinsicht diese Politik fort. Aber es gibt auch einen gefährlichen Bruch. Der Krieg gegen Terror erforderte einen antimuslimischen Rassismus im In- und Ausland. Er war jedoch nicht als Rassenkrieg oder religiöser Krieg angelegt. Diejenigen, die sich auf Huntington bezogen, waren eine absolute Minderheit in der Regierung Bush. Stattdessen ging es darum, im Irak durch eine auf Schockwirkung angelegte Taktik Angst und Schrecken zu verbreiten. Die trügerische Hoffnung der Herrschenden war, dass es zu einem schnellen politischen Wandel und der Installation neuer, am Westen orientierter liberaler Regime käme, die sich in die Weltordnung mit einer in den USA konzentrierten Konzernmacht und all den neoliberalen Fantasien einordneten. Blair wärmte die alte europäische liberalimperialistische Ideologie des 19. Jahrhunderts auf, als er im Jahr 1999 in Chicago eine Grundsatzrede hielt – vor dem 11. September 2001, aber während des Kriegs der Nato im Kosovo. Es war die Idee eines Imperialismus und eines Kolonialismus als zivilisierende Mission, die er den Neokonservativen, die mit Bush 2000 an die Macht gekommen waren, antrug. Sie betrachteten den islamischen Nahen Osten als rückständig und hielten sich in ihrer Arroganz für die Zivilisatoren, die Nationen durch Krieg und Besetzung schufen (und dabei natürlich plünderten und profitierten – so wie die Imperialisten des 19. Jahrhunderts). Die Trump-Bande glaubt nicht, dass es möglich sei, Nationen zu schaffen. Und Theresa May hat sich in Washington ähnlich geäußert. Sie teilen zwar die alte Vorstellung von der Minderwertigkeit der Muslime, glauben aber nicht, dass sie zivilisierbar seien, ebenso wenig die Chinesen. Sie müssen geschlagen werden, und zwar als konkurrierende Kulturen, die Bedrohung müsse eliminiert werden. Wer also glaubt, die Ablehnung der Politik des Regimewechsels aus der Zeit von Bush und Obama seitens Trump bedeute nun die Ablehnung von Krieg, gibt sich einem ernsthaften Irrtum hin. Es wird mehr Krieg bedeuten, mit einer noch barbarischeren und

Keine »Zivilisierung«, sondern Rassenkrieg

Jetzt prügelt die TrumpBande auf Muslime im Allgemeinen ein, warnt den Iran bezüglich militärischer Handlungen und sinniert über einen handfesten Krieg im Südchinesischen Meer. Dies zusammen mit der geplanten Hinwendung zu protektionistischer Politik sind die Konturen ihrer Vorstellung von der Sicherung der Interessen des amerikanischen Kapitalismus und Imperialismus. Sie sprechen auch bereits von Handelskriegen mit Deutschland und der Europäischen Union. Schon vor Trumps Amtsantritt standen die USA vor der Frage, wie sie mit einem wirtschaftlich aufsteigenden China und dem Nahen Osten umgehen sollten. George W. Bush versuchte zusammen mit Tony Blair im Jahr 2003 eine Lösung zu finden. Sie scheiterten im Irak. Deshalb behauptet Trump auch fälschlicherweise, er sei gegen den Krieg gegen den Irak gewesen. Er sagt das heute nur deshalb, weil Bush und Blair dort eine Niederlage erlitten. Barack Obama änderte die Taktik: keine Bodentruppen, aber ein Drohnenkrieg im Nahen Osten, in Afghanistan und Pakistan und die Schwerpunktverlagerung nach Asien mittels Aufbaus eines Handelsblocks und engerer, gegen China gerichteter militärischer Bündnisse. Das ist faktisch eine handelsprotektionistische Zone, nur dass sie von Kalifornien über den Pazifik bis nach Südostasien reicht. Das Instrument dafür war die Transpazifische Partnerschaft (TPP), die jetzt von Trump aufgekündigt

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gefährlicheren Rechtfertigung und Kriegsführung. Der Krieg gegen Terror hat einen blutigen Pfad hierhin geschlagen. Wie die Antikriegsbewegung damals bereits betonte, hat ein Krieg gegen etwas, das Terror genannt wird, keine Grenzen. Es gibt keine Stelle, an der ein Waffenstillstand erklärt werden könnte, keine Friedensverhandlungen, die aufgenommen werden könnten, keine Nachkriegszeit, nur endlosen Krieg. Trump spricht jetzt bewusst von »islamischem Terror«, nicht von »dschihadistischem« oder »islamistischem«. Wie unscharf die beiden letzten Begriffe auch sind – und sie beinhalteten schon immer, dass Muslime ein Problem darstellen –, ließen sie doch Raum für eine Unterscheidung zwischen den guten und den bösen Muslimen. Die Trump-Bande geht jetzt noch weiter. Unter ihnen gibt es Leute, die mit einem Krieg der Zivilisationen sympathisieren, wobei der Überlegene die Bedrohung durch die Minderwertigen auslöscht. Trump selbst hat gesagt: »Es ist einfach nicht wahr, dass alle gleich erschaffen wurden.«

Jahre in Deutschland mit ihrer rechtlichen Diskriminierung und Rassentrennung, den täglichen Propagandafeldzügen, in denen jüdischen Deutschen gleiche Bürgerrechte abgesprochen wurden und sie den Schutz des Gesetzes oder auch nur der üblichen staatsbürgerlichen Werte nicht mehr genossen, führte schließlich ab dem Spätsommer 1941 in den Holocaust. Es gab Etappen und Schwellen, die überschritten wurden, um eine Ideologie, bei der es um die Ausschaltung des angeblich üblen Einflusses im Leben der Nation, den vermeintlichen Verderb des nationalen Organismus ging, in die physische Auslöschung von Millionen Menschen zu überführen. Eins der Schlüsselelemente hierbei war die Ideologie, unter deren Vorzeichen der Krieg im Osten geführt wurde. Auch hier handelte es sich um mechanisierten Massenmord wie im Ersten Weltkrieg 1914 bis 1918. Es war ein Eroberungskrieg und ein Krieg um Ressourcen (Trump sagt, als die USA erst einmal in Irak waren, hätten sie sich einfach nur das Öl holen sollen). Das galt auch für die übrigen Beteiligten im Ersten Weltkrieg. Zusätzlich jedoch gab es einen ideologischen Rassenkrieg der Auslöschung, einen Krieg um Sein oder Nichtsein – eine vermeintlich überlegene Rasse und ihre Kultur mussten ihre Existenz durch die Vernichtung der angeblich minderwertigen Kulturen und der Völker, die Träger dieser Kulturen waren, sichern (Völker und Rassen sind hier austauschbar). Dies war die Ideologie für den Einmarsch in die Sowjetunion im Sommer 1941. Sie wurde in Befehle bis hinunter auf die Fußtruppenebene übersetzt, wonach die Kriegskonventionen – das Verbot der Folter und die Verschonung Gefangener – keine Geltung hatten. Auf der grausamen Bühne des Kriegs entstand schließlich die ultimative Barbarei des Holocausts.

Imperialistische Kriege gehen mit Rassismus Hand in Hand

Kriege sind immer barbarisch. Ändert sich das bei einer anderen Rechtfertigungsideologie? Trumps Verteidigungsminister, General »Mad Dog« Mattis, war Befehlshaber bei der Zerstörung Falludschas im Irak, als das im Namen der Staatenbildung und der Schaffung einer liberalen Weltordnung geschah. Das britische Weltreich war in den Jahren 1876 bis 1878 in China und Indien verantwortlich für den Tod von zwölf Millionen Chinesinnen und Chinesen und sechs Millionen Inderinnen und Indern, weil es im Namen des Freihandels bewusst Nahrungsmittel aus Hungerregionen in andere Länder exportierte. Nach viktorianischer Ideologie war dies die zivilisierende Mission des Westens. Das Gemetzel des Ersten Weltkriegs war bis dahin beispiellos – es war der Zusammenstoß konkurrierender Mächte (nicht angeblicher Kulturen) und gegenüber der Öffentlichkeit begründet mit modernem Nationalchauvinismus. Hitler setzte die expansionistische Kriegspolitik im Interesse des deutschen Großkapitals, die das Militär des Kaiserreichs im Jahr 1914 bereits verfolgt hatte, fort. Das deutsche Kapital und seine Staatsbeamten wollten die Aufhebung des sie knebelnden, nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen Friedensvertrags von Versailles erreichen. Hitler kündigte ihn auf. Die Expansion Deutschlands nach Osten im Zweiten Weltkrieg war aber aufgrund der Weltauffassung der Herren des Dritten Reichs ein noch barbarischeres Unternehmen. Die antisemitische Politik der 1930er

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Der liberale Kapitalismus hat seine eigenen Schrecken hervorgebracht. Aber er ist auch in der Lage, reaktionäre Kräfte und Ideologien zu erzeugen, die diesen Horror noch weitertreiben. Trump konnte wegen der Krise der neoliberalen Ordnung und mithilfe der Hauptpartei des US-amerikanischen Kapitalismus aufsteigen. Es geht hier nicht um einen direkten Vergleich – und schon gar nicht die Gleichsetzung von Trump mit Hitler. Es geht darum: Imperialistische Kriege gehen notwendigerweise mit mörderischem Rassismus Hand in Hand. In dem Krieg der USA in Vietnam kamen zwei Millionen Menschen um und Millionen wei-


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© wikimedia / CC BY

Das Bild des Häftlings Satar Jabar wurde zum Symbol des Folterskandals im Gefängnis von Abu-Ghuraib im Irak. US-Soldaten drohten Jabar an, dass er durch Elektroschocks getötet würde, falls er von der Kiste steige. Als das Foto an die Öffentlichkeit gelangte, leugnete Washington, dass die Kabel stromführend gewesen seien. Auch Trump will foltern

tere wurden verletzt. Solch ein Krieg lässt sich nicht tagaus, tagein führen, ohne die Opfer als weniger menschlich als die Täter anzusehen – sei es beim Foltern der Bauern oder ihrer Tötung mittels B-52-Langstreckenbomber. Dieser unmenschliche Rassismus prägte die Denkweise der US-Soldaten, die die Bewohner des Dorfs My Lai auszulöschen versuchten, indem sie von Haus zu Haus gingen, nicht aus militärischen Gründen, sondern als ein Akt dessen, was sich als völkermörderisch bezeichnen lässt. Die Folter an Gefangenen und ihre Entwürdigung in dem von den USA geführten irakischen Gefängnis Abu Ghraib um das Jahr 2005 und die Besetzung des Iraks enthüllten ähnliche Schrecken, gefördert durch die Aufhebung normaler Regeln, die sich der US-amerikanische Staat in dem abnormen Krieg gegen Terror selbst gab. Wenn der Rassismus, der mit dem Massenmord des Kriegs verbunden ist, nicht nur ein notwendiges Beiprodukt, sondern tief in der Begründung des Kriegs verankert ist, wenn es in der Hand des Kommandeurs liegt, welches Ziel er wählt, welche Waffen oder Terrormethoden (was Krieg nun mal bedeutet), welches Ziel der Krieg hat, dann könnte eine Schwelle überschritten werden. Dann geht es nicht um ge-

fühllose Missachtung und Übelkeit erregende Entschuldigungen für Massenmord, nicht um das eher wahllose Massaker von My Lai, welches das oberste Kommando der USA zu vertuschen suchte. Dann geht es um Auslöschung als Politik. Die Auslöschung einer angeblichen minderwertigen Kulturrasse. Die Auslöschung oder Beschneidung eines Kulturkonkurrenten in seinen Freiheiten und Rechten, der auch ein strategischer Gegner ist. Wir haben bereits einen ersten Eindruck davon bekommen auf den blutigen Höhepunkten des Kriegs gegen Terror und angesichts der Schrecken, die mit der brutalen Eindämmung des Arabischen Frühlings einhergehen. Wir wissen sehr genau, wozu die Kriegsmaschinerie der USA, die größte unter ihren Konkurrenten auf der Welt, in der Lage ist. Jetzt befinden sich im Weißen Haus Leute, die kein Problem damit haben, diese schreckliche Macht voll auszuüben. Sie geben sich Fantasien einer rassischen Überlegenheit hin und nach ihrer Weltauffassung geht es bei Konflikten über den Raub von Ressourcen um einen Kampf zwischen überlegenen und minderwertigen Völkern. Niemand weiß, was kommt, aber einfach nur dabei zuzusehen ist keine Option. Es ist Zeit, die Trump-Bande zu stoppen. ■

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Trump und das BerlusconiSyndrom

© Matt Bors

Wie soll sich die Opposition gegen rechts organisieren? Ein Blick auf die Erfahrungen der italienischen Linken im Kampf gegen den früheren italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi hilft, alte Fehler zu vermeiden VON Cinzia Arruzza

Cinzia Arruzza ist Assistenzprofessorin für Philosophie an der New School for Social Research in New York.

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chon während des US-Präsidentschaftswahlkampfs wimmelte es von Vergleichen zwischen Donald Trump und dem früheren italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Sie sind in der Tat nicht unbegründet. Trump und Berlusconi stammen eher aus der Geschäftswelt als aus der Politik und beide haben ihre mangelnde Erfahrung im politischen Establishment als Zeichen ihrer Reinheit verkauft. Beiden gilt ihr Geschäftserfolg als bester Beweis für ihre Eignung, das Land zu regieren. Wie Platons Tyrann stellen sie beide ein Ethos zur Schau, das sich auf den Traum des ununterbrochenen und grenzenlosen Genusses sowie auf einen aggressiven und selbstverliebten Eros gründet – obwohl Berlusconi sich lieber als unwiderstehlicher Verführer denn als Vergewaltiger sieht. Beide suhlen sich in vulgären, frauenfeindli-

chen und rassistischen Witzen und haben Beleidigungen und politische Inkorrektheit zu akzeptablen Formen der politischen Kommunikation erhoben. Beide schwelgen in kitschiger Ästhetik und in künstlicher orangefarbener Bräune. Und beide haben sich mit der extremen Rechten verbündet, um eine politische Variante des autoritären Neoliberalismus und des zügellosen Kapitalismus voranzutreiben. Aber hier enden die Gemeinsamkeiten. Während Trump die Republikanische Partei kidnappte und sich gegen den Widerstand eines großen Teils des republikanischen Establishments und der Medien durchsetzen musste, setzte Berlusconi sein Medienimperium ein, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und eine neue politische Partei zu schaffen, die das politische Spektrum verändern sollte. Er war gezwungen, sich mit anderen rechten Parteien zu


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verbünden, die untereinander im Streit lagen, nämlich der Alleanza Nazionale und der Lega Nord – erstere eine Weiterentwicklung der neofaschistischen MSI, letztere eine regionale, fremdenfeindliche Rechtspartei. Berlusconi trat auch nicht für Isolationismus und Protektionismus ein, griff die internationalen Wirtschaftsabkommen nicht an und stellte Italiens Mitgliedschaft in der EU und in der Eurozone nicht in Frage – zumindest nicht bis 2011. Diese Unterschiede sind so bedeutend, dass man sich davor hüten sollte, aus den italienischen Wechselfällen leichtfertig Vorhersagen über den Kurs von Trumps Präsidentschaft abzuleiten. Das soll allerdings nicht heißen, dass aus der italienischen Erfahrung nichts zu lernen wäre. Im Gegenteil: Wir können daraus wichtige Lehren ziehen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Ähnlichkeiten zwischen Berlusconi und Trump richten, sondern auf die Gemeinsamkeiten zwischen dem Anti-Berlusconismus und der Form, die der Anti-Trumpismus anzunehmen droht.

großen Teil ihrer Unterstützung aus der Arbeiterschaft einzubüßen. Als die Lega Nord beschloss, die Regierung nicht länger mitzutragen, war Berlusconi zum Rücktritt gezwungen. Der zweite ausschlaggebende Faktor war die Massenmobilisierung, insbesondere der Generalstreik, den die drei größten Gewerkschaften im Oktober 1994 gegen die Rentenreform ausriefen und der laut Gewerkschaftsangaben 3 Millionen Menschen in 90 Städten auf die Straße brachte, sowie ein zweiter im November mit einer Million Menschen in Rom – eine der bislang größten Gewerkschaftsdemonstrationen überhaupt. Was jedoch nach dem Sturz der ersten Regierung Berlusconi geschah, hält überaus wichtige Lehren für die Anti-Trump-Opposition bereit, denn die neoliberale Kürzungspolitik der MitteLinks-Regierungen in den folgenden sechs Jahren bereiteten Berlusconis Wiederaufstieg den Boden.

Beide suhlen sich in Sexismus und Rassismus

In einem Kommentar in der New York Times wurde unlängst behauptet, der Widerstand gegen die Maßnahmen Berlusconis und seiner Regierung, die Massenmobilisierungen und die weitgehende Konzentration auf seinen Charakter hätten der Opposition geschadet und im Ergebnis Berlusconis Macht nur gestärkt. Demnach wären die einzigen echten Niederlagen, die Berlusconi beigebracht wurden, die Wahlkampagnen von Romano Prodi und Matteo Renzi gewesen, die sich auf positive Vorschläge konzentrierten, anstatt auf seinen Charakter einzuschlagen. Davon ausgehend wurde in demselben Beitrag vorgeschlagen, Trumps Gegner sollten die derzeitigen Straßendemonstrationen beenden und bei all den Themen Bereitschaft zur Zusammenarbeit zeigen, in denen es zwischen dem Präsidenten und den Demokraten im Kongress Übereinstimmung gibt – wie z.B. bei den Infrastrukturinvestitionen. Das ist das Rezept für ein Desaster. Zunächst einmal seien die historischen Abläufe zurechtgerückt. Berlusconis erste Regierung von 1994 dauerte ganze sieben unrühmliche Monate. Sie wurde durch ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren beendet, vorrangig durch zwei: Das war zum einen die Unzuverlässigkeit der Lega Nord, auf deren Stimmen Berlusconi angewiesen war, um in Norditalien zu gewinnen, der er dafür aber nichts bieten konnte. Berlusconis Versuch einer Rentenreform und seine Unfähigkeit, eine föderalistische Verfassungsänderung durchzusetzen, stand den Wahlinteressen der Lega Nord entgegen, die befürchten musste, einen

Da war zunächst die Technokratenregierung unter Lamberto Dini, die 1995 und 1996 die bis dato verheerendste Rentenreform durchsetzte, indem sie zum ersten Mal im Beitragswesen eine Kapitalfinanzierung einführte, die schrittweise die Umlagefinanzierung ersetzen sollte. Die Reform ging mit den Stimmen der Mitte-Links-Parteien und der Unterstützung der Gewerkschaften durch – um eine Rückkehr Berlusconis an die Regierung um jeden Preis zu verhindern. Bei den Wahlen von 1996 konnte die Mitte-Links-Koalition ihre parlamentarische Mehrheit nur halten, weil sie von der Partei Rifondazione Comunista toleriert wurde und weil die Lega Nord sich weigerte, mit Berlusconi erneut eine Regierung zu bilden. In den folgenden fünf Jahren verabschiedeten Mitte-Links-Regierungen erste Verschlechterungen im Arbeitsrecht, insbesondere eine massive Prekarisierung und weitere bedeutende Erosionen von Arbeiterrechten. Sie versuchten, erhebliche Verschlechterungen im Bereich der öffentlichen Bildung durchzusetzen und schafften es, den Schulen eine Autonomie zu geben, die den Weg öffnete zu einer betriebswirtschaftlichen Verwaltung der öffentlichen Schulen; zudem führten sie neoliberale Reformen im Bereich der Hochschulbildung ein. Sie setzten die umfangreichste Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und Vermögen durch, die es bisher in Europa gegeben hatte, beteiligten sich an der Bombardierung Serbiens und verabschiedeten ein Einwanderungsgesetz, das die ersten Sammellager für Migranten ohne Papiere vorsah. Schließlich gründete Ministerpräsident D’Alema die berüch-

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Romano Prodi, von 1996 bis 1998 und 2006 bis 2008 italienischer Ministerpräsident, hielt seine schützende Hand über Berlusconi, anstatt ihn zu bekämpfen

dienmonopol vorgehen wollte. Das Tüpfelchen auf dem i war ein Deal zwischen Renzi und Berlusconi 2014 hinsichtlich einer Änderung der Verfassung und des Wahlrechts – mit dem Segen des Staatspräsidenten und früheren Kommunisten Giorgio Napolitano. Außerdem sei daran erinnert, dass Berlusconi die Wahlen von 2006 verlor und nur deshalb wieder an die Regierung kam, weil die Regierung Prodi nach dem Ausscheiden der kleinen Zentrumspartei UDEUR ihre knappe Parlamentsmehrheit nicht mehr halten konnte.

© Wikimedia / RanZag

Der Anti-Berlusconismus zersetze die Linke

tigte Bicamerale, einen Zweiparteienausschuss, der zu einem Einvernehmen mit Berlusconi über eine halbpräsidiale Verfassungsänderung führen sollte, die der Exekutive weitgehende Vollmachten auf Kosten der gewählten parlamentarischen Instanzen einräumen würde. All diese Maßnahmen von Mitte-Links-Regierungen trafen lediglich auf die organisierte Opposition der radikalen Linken, weil Gewerkschaften und Mitte-Links-Wähler bereit waren, alles zu schlucken, um eine Rückkehr von Berlusconi zu verhindern. Das Ergebnis dieser Politik war, dass die Ära Berlusconi mit seinem Wahlsieg von 2001, der ihm sowohl im Senat wie auch im Abgeordnetenhaus eine überwältigende Mehrheit sicherte, jetzt erst richtig einsetzte. Während Mitte-Links-Wähler gegen Berlusconi auf die Straße gingen, um die Demokratie zu verteidigen und die Korruption anzuprangern, setzten Mitte-Links-Abgeordnete ihre Kollaboration mit Berlusconi wo immer möglich fort und schützten ihn vor juristischer Verfolgung – so wie sie sich unter den Regierungen Prodi und D’Alema einem Gesetz verweigert hatten, das gegen Berlusconis Me-

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Die Gegnerschaft des politischen Mainstreams zu Berlusconi hat stets an einer ernsten selektiven Amnesie gelitten. Nie werden die Auswirkungen von sechs Jahren harter Kürzungspolitik und das Fehlen einer bedeutenden gesellschaftlichen Opposition als entscheidende Faktoren herangezogen, um zu erklären, wie Berlusconi seine Macht konsolidieren konnte. Auch war die Mehrheit der Opposition gegen Berlusconi nicht bereit einzuräumen, dass die Kürzungspolitik der zweiten Regierung Berlusconi mit der der Mitte-Links-Regierungen wesensgleich war. Berlusconis Angriff auf das Arbeitsrecht beispielsweise war nur eine Ausweitung der bereits von der Mitte-Links-Regierung eingeführten Prekarisierung der Arbeit, die Renzi Jahre später mit dem Jobs Act qualitativ verschärfte. Berlusconis Privatisierungen im öffentlichen Dienst waren von Mitte-Links durch die Übernahme der Parole »Privat ist besser« vorbereitet worden. Das Einwanderungsgesetz von Mitte-Rechts, das illegale Einwanderung kriminalisiert, war nichts anderes als ein Zusatz zu einem vorhergehenden Gesetz von Mitte-Links. Italiens Beteiligung an den Kriegen in Afghanistan und im Irak war politisch durch den erstmaligen Bruch von Artikel 11 der Verfassung möglich geworden – der die Beteiligung an Angriffskriegen verbietet; D’Alema hatte diesen Bruch veranlasst, damit die italienischen Streitkräfte Serbien bombardieren konnten. Die Hauptströmung im Anti-Berlusconismus hat es immer vorgezogen, mit Einbildung statt mit harten Fakten zu operieren. In dieser Vorstellungswelt dauerte die Herrschaft Berlusconis eher zwanzig Jahre als neun. Berlusconi war ein »Faschist«, die italienische Demokratie bedroht, die radikale Linke half, Berlusconis Macht zu festigen, weil sie sektiererisch


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und unwillig war, mit Mitte-Links zu kooperieren, und die Wähler Berlusconis waren allesamt Rassisten und frauenfeindliche, ungebildete Verlierer, während das Land strukturell rechts war, weshalb selbst bescheidene keynesianische Maßnahmen unmöglich waren. Deshalb musste sich die Linke mit neoliberalen Technokraten aller Art verbünden, um eine Rückkehr von Berlusconi an die Macht um jeden Preis zu verhindern. Kommt uns das nicht alles bekannt vor? Diese Sorte Anti-Berlusconismus mündete in der Stärkung und Festigung von Berlusconis Macht, statt sie zu untergraben. Obendrein hat sie dazu beigetragen, die italienische Linke zu zersetzen, und den weiteren Verfall der Demokratischen Partei ermöglicht. Der Anti-Trumpismus läuft die gleiche Gefahr. Unmittelbar nach den Präsidentschaftswahlen machten die Meinungsmacher der Demokratischen Partei die weiße Arbeiterklasse für Trumps Sieg verantwortlich und erklärten sie für unbelehrbar rassistisch und ungebildet. Wählern anderer Kandidaten wurde die Mitschuld an Clintons Niederlage gegeben. Versuche, das Wahlverhalten der Arbeiterklasse mit den Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung und der Desillusionierung über Obamas Präsidentschaft zu erklären, wurden als ökonomistischer Reduktionismus bespöttelt. Mehrfach wurde das Ende der amerikanischen Demokratie und der Beginn des Faschismus beschworen. Aber der Wahlunterstützung von Trump lagen in Wirklichkeit sehr unterschiedliche Beweggründe und Erwartungen zugrunde. Ein Teil seiner weißen Wählerschaft teilt sicher seinen abstoßenden Rassismus, seine Homophobie und Frauenfeindlichkeit. Ein großer Teil der Stimmen für Trump ist jedoch ohne die Desillusionierung über die Präsidentschaft Obamas, ohne die dramatischen sozialen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die Kürzungspolitik und Clintons Verflechtungen mit der Wall Street und dem alten Establishment nicht erklärbar. In diesen unterschiedlichen Erwartungen liegt ein starkes Element von Instabilität für Trumps kommende Präsidentschaft. Eine wirksame Opposition gegen Trump sollte die neue, auf uns zurollende Welle von Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie bekämpfen, andererseits aber auch die legitimen Hoffnungen auf einen radikalen Politikwechsel aufgreifen. Dazu braucht es breite gesellschaftliche Bündnisse und Bewegungen, aber auch ein für allemal die Abkehr von der Vorstellung vom kleineren Übel, die schon so großen Schaden angerichtet hat. Der einzige Weg zu einer wirksamen Opposition gegen den autoritären, rassistischen und sexistischen Neoliberalismus besteht darin, eine radikale und glaubwürdige Alternative anzubieten. ■

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Internationales | weltweiter widerstand

© Jano Charbel

ÄGYPTEN

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3000 Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter treten Anfang Februar in der Stadt Mahalla im Norden Ägyptens in einen eintägigen Streik. Sie äußern damit ihren wachsenden Unmut über die außer Kontrolle geratenen Lebenshaltungskosten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter fordern höhere Löhne und Zulagen. Obwohl sie für ein Staatsunternehmen arbeiten, erhalten die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht den staatlich festgesetzten Mindestlohn, den Beschäftigte im öffentlichen Dienst bekommen. Die Streikenden arbeiten in der verstaatlichten Spinnerei und Weberei Misr, der größten Textilfabrik von Ägypten. Sie drohen damit, die übrigen Abteilungen des Konzerns in den Streik zu rufen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden.


Internationales | weltweiter widerstand

CHILE

»Das Land gehört uns« Die Mapuche-Ureinwohner Chiles kämpfen gegen Großkonzerne. Sie besetzen Land und streiten für Rechte

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Von Jan Kallen

n der chilenischen Hauptstadt Santiago demonstrierten Mitte Januar rund 250 Menschen für die Freilassung politischer Gefangener und gegen die systematische Unterdrückung der Mapuche. Auf Plakaten stand: »Gebt uns unser Land zurück« und »Das Land gehört uns«. Die Demonstration in der Hauptstadt reiht sich ein in eine neue Welle von Protesten in den Siedlungsgebieten der Mapuche im Süden von Chile in den letzten Monaten. Mit etwa 600.000 Personen stellen die Mapuche, die Ureinwohner des Landes, heute die größte ethnische Minderheit der chilenischen Gesellschaft. Sozial zählen die Mapuche in Chile zum ärmsten und am wenigsten gebildeten Teil der Bevölkerung. Im Alltag sind die Ureinwohner Diskriminierung und Vorurteilen ausgesetzt, vergleichbar mit der Lage der Roma und Sinti in Europa. Die Unterdrückung der Mapuche in Chile hat eine lange Geschichte. Doch der Widerstand der Mapuche war nie komplett gebrochen. In den vergangenen Jahren haben Mapuche-Aktivistinnen und Aktivisten wieder mehrmals die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen, indem sie sich besonders gegen die Waldrodung und Übernahme ihrer Heimatgebiete wehrten. Ihr Unmut richtete sich gegen Großgrundbesitzer, die Fisch- und Holzindustrie sowie gegen Energie- und Zellulosekonzerne, die in ihren Stammesgebieten tätig sind und auf Tradition, Religion, Kultur, Umwelt- oder Gewässerschutz keine Rücksicht nehmen. Auf ihrem Land entstanden Wasserkraftwerke, Eukalyptus- und Kiefernplantagen für die Holzindustrie, industrielle Anlagen zur Lachszucht und Müllhalden. 2014 wurde auf reklamiertem Gebiet der neue Flughafen von Temuco eröffnet. An einigen Projekten sind auch die deutsche Regierung und deutsche Konzerne beteiligt. Im Zuge der jüngeren Proteste klagte die Machi Francisca Linconao Huircapan, eine Anführerin der Mapuche, erfolgreich gegen die Firma Palermo Limitada und schuf einen Präzedenzfall für den ge-

samten südamerikanischen Raum. Die Polizei verhaftete Huircapan erstmals im März 2013. Man warf ihr die Beteiligung an einem Brandanschlag auf das Haus einer Großgrundbesitzer-Familie vor. Im Oktober 2013 sprach man sie jedoch von allen Anklagepunkten frei. Huircapan gewann danach ein Gerichtsverfahren gegen den Staat Chile, der sie für die körperlichen und spirituellen Verletzungen während der Haft entschädigen sollte. Bisher blieben allerdings jegliche Zahlungen an die Aktivistin aus. Stattdessen verhaftete die Polizei im letzten Jahr im Zuge der neuen Proteste Huircapan und zehn weitere Mapuche erneut. Grund hierfür waren angeblich neue Beweise zu dem Brandanschlag. Die Behörden überführten Huircapan unmittelbar in ein Frauengefängnis. Eine Gerichtsentscheidung wurde mit Hilfe des AntiTerror-Gesetzes – ein Überbleibsel aus der Diktatur unter Pinochet – umgangen. Ebenfalls aufgrund dieses Gesetzes drohte den elf Gefangenen lebenslange Haft, da das Gesetz anonyme Zeugenaussagen zulässt. Francisca Linconao Huircapan trat aus Protest Ende Dezember in den Hungerstreik. Menschenrechtsorganisationen wie die Gesellschaft für bedrohte Völker weisen immer wieder darauf hin, dass Mapuche bei politisch motivierten Anklagen diesem Sonderstrafrecht ausgesetzt sind, während Verbrechen im Dienste der Großgrundbesitzer gegen Mapuche-Aktivisten konsequent mild geahndet werden. Der Konflikt mit den Mapuche ist nicht nur Teil der chilenischen Geschichte, sondern untrennbar mit dem heutigen chilenischen Staat verbunden. Jeglicher Widerstand gegen die Landnahme stellt das Staatsgebiet und das Privateigentum an Grund und Boden in Frage. Das erklärt auch die Härte, mit der die Staatsgewalt gegen die Proteste einer unterdrückten Minderheit vorgeht. Einen ersten Etappensieg erreichte der Protest trotzdem: Die Machi Francisca kam aus dem Gefängnis frei und beendete ihren Hungerstreik. ■

Ungarn Ungarische Arbeiterinnen und Arbeiter demonstrierten Ende Januar für die Wiedereinstellung der Gewerkschaftssekretärin Edit Kovács. Sie war Anfang des Monats von der deutschen Richard Fritz Group, die in Ungarn Glasscheiben für Kraftfahrzeuge produzieren lässt, gekündigt worden. Der Gewerkschaftsvorsitzende Tamás Székely berichtet, in den vergangenen Monaten seien einige führende Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in Ungarn entlassen worden. Dagegen müsse ein entschlossener Kampf geführt werden.

GEORGIEN Um gegen illegale Entlassungen zu protestieren, besetzten Anfang Februar etwa 350 Personen das Gelände des Düngemittelherstellers Rustavi Azot in Georgien. Neben Mitgliedern der Gewerkschaft der Metall-, Minen- und Chemiearbeiter beteiligten sich auch Kolleginnen und Kollegen aus anderen Branchen und Studierende an der Aktion. Als einige Aktivistinnen und Aktivisten versuchten, das Managementbüro der Firma zu besetzen, beendete die Polizei den Protest äußerst gewalttätig. Mehrere Protestierende sowie Journalisten erlitten Verletzungen im Gesicht und am Körper.

Türkei

Streikrecht durchgesetzt Nach gescheiterten Tarifverhandlungen streikten in der Türkei Ende Januar über 2000 Metallarbeiter für bessere Löhne und Sozialleistungen. Trotz der Versuche der Regierung, den Streik zu verbieten, blieben die Angestellten von drei großen Elektronikherstellern standhaft und erhielten schließlich ein akzeptables Angebot. Da in den letzten Jahren nahezu alle Streiks von der Regierung untersagt worden waren, erklärte der Generalsekretär der Gewerkschaft, dass somit das Streikrecht für die gesamte Arbeiterklasse zurückerobert worden sei.

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Frankreich, Front National und die Präsidentschaftswahlen mit Vanina Giudicelli

Islamfeindlichkeit: Venezuela: Linker Türöffner für die neue Aufbruch in LateinRechte mit Christine amerika schon am Buchholz [Mitglied des Ende? mit Mike Gonzalez

17:00-18:30

Bundestages], Armin Langer [Salaam-Schalom Initiative], Iman Andrea Reimann [Deutschsprachiger Muslimkreis]

[Französische Sozialistin]

[Lateinamerikanist und Historiker]

mit Grit Wolf, Johanna Henatsch, Meike Särbeck, Stefan Jagel, Harald Weinberg

Seminar ABC des Marxismus:

Seminar ABC des Marxismus:

Lühr Henken [Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag], Stefanie Haenisch [DIE LINKE. Frankfurt]

des Bundestags, DIE LINKE]

Die AKP und die Linke Wie weiter für den antimilitaristischen Widerstand in Deutschland? mit

in der Türkei mit Ron Margulies [Türkischer Sozialist, DSIP]

senschaftler]

Schnell [Sprecherin DIE LINKE. Berlin-Neukölln]

mit Werner Halbauer [DIE LINKE.Berlin-Neukölln]

Seminar ABC des Marxismus:

Schultz [Anwalt, Vorstand der Internationalen Liga für Menschenrechte], Irmgard Wurdack [Vorstand der LINKEN.Neukölln]

Dschihadisten in Europa – eine neue Gefahr? mit Eberhard

mit Sebastian Müller [Die Linke.SDS Köln], Tilman von Berlepsch [Die Linke. SDS Berlin]

Finanzkapitalismus: Bändigen (Keynes) oder stürzen (Marx)?

[Ökonom]

Landesvorstand DIE LINKE. NRW]

Münster]

Partei und Klasse II

Seminar ABC des Marxismus:

Wissler [Fraktionsvorsitzende DIE LINKE.Hessen], Marcel Bois [Historiker]

Von der KPD lernen: Revolutionäre Parlamentsarbeit in der Weimarer Republik und heute mit Janine

mut Rosa [Soziologe und Politikwissenschaftler]

Beschleunigung und Entfremdung mit Hart-

Rhonda Koch [Redakteurin von theorie21]

Die Welt verstehen: Was ist historischer Materialismus? mit

für sexuelle Selbstbestimmung], Marion Wegscheider [Linke Sozialistische AG Frauen LINKE.NRW]

[Redaktion marx21]

mission der LINKEN]

Klenke [Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft DIE LINKE Berlin und NGG Gewerkschaftssekretär]

Was steht hinter Industrie 4.0? mit Olaf

mit Wolfgang Schaumberg [Betriebsgruppe Gegenwehr ohne Grenzen], Colin Barker [Bewegungsforscher]

Erfahrung 1968: Wie Sozialisten in die Arbeiterklasse ausgreifen können

Popowitsch [Ukraine, Gruppe »Soziale Bewegung«]

Weinberg [Sprecher für Krankenhauspolitik und Gesundheitsökonomie der Fraktion DIE LINKE im Bundestag]

Neoliberalismus im Krankenhaus mit Harald

Theorie und Praxis II

Gewerkschaften:

Theorie und Praxis I

Gewerkschaften:

Sexismus und Rassis- War Jesus ein Roter? Der Krieg im Osten mit Klaus-Dieter Heiser [DIE der Ukraine und der mus als »FrauenLINKE. Neukölln] Kampf für soziale schutz« bei AfD & Co mit Silke Stöckle [Bündnis Gerechtigkeit mit Sachar

mit Andreas Kemper [Journalist], Ronda Kipka [Die Linke.SDS Berlin]

mit Heinz Willemsen [ver.di, Mitarbeitervertreter]

Rassismus und Faschismus II

Seminar ABC des Marxismus:

Rassismus und Faschismus I

Seminar ABC des Marxismus:

Neu gelesen: Rosa Lenin neu entdecken? Luxemburgs Schrift Eine Debatte mit »Massenstreik, Partei Michael Brie [Rosa-Luxemburg-Stiftung], Sebastian und Gewerkschaften«, Zehetmair [historische Kom-

Philosophie II

Seminar ABC des Marxismus:

Philosophie I

Seminar ABC des Marxismus:

Wie entstehen Krisen? Marx und die Religion: Ist die AfD auf Arbeiterklasse heute: Marx‘ Krisentheorie Mehr als Opium mit dem Weg zu einer Eine revolutionäre Jules El-Khatib [Mitglied im faschistischen Partei? Kraft? mit Lisa Hofmann mit Thomas Walter

mit Ronda Kipka [Die Linke. SDS Berlin]

Imperialismustheorie II

Seminar ABC des Marxismus:

Imperialismustheorie I Partei und Klasse I

Seminar ABC des Marxismus:

Arbeit, Ware, Wert: Ursachen von Frauen- Hätte Hitler gestoppt Einführung in die mar- unterdrückung heute werden können? mit Hannes Dräger [DIE LINKE. und ihre Ursprünge xistische Ökonomie

Kurdistan: Geschichte DIE LINKE und Rosa und Politik der PKK mit Luxemburgs Kampf Erkin Erdogan [Sprecher gegen Regierungsder HDK] beteiligungen mit Lucia

Al-Radwany [Initative Grenzen-Los!]

Woher kommt Rassismus? mit Marwa

Staat und Revolution II Frauenbefreiung II

Seminar ABC des Marxismus:

Staat und Revolution I Frauenbefreiung I

Seminar ABC des Marxismus:

»Mehr von uns ist Kurdistan: Rojava, Rot-Rot-Grün: besser für alle!« Streik Peschmerga und der Perspektive für einen gegen den Notstand Krieg gegen den IS mit Politikwechsel? mit Frank Renken [PolitikwisHubertus Zdebel [Mitglied in Krankenhäusern

Adrienne Wallace [Socialist Worker’s Party Irland], Rosemarie Nünning [Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung]

15:00-16:30

Principe [Linksblock Portugal], Fabio de Masi [Mitglied im Europäischen Parlament], Joseph Choonara [Redakteur International Socialism Journal]

Wie aktuell ist der Kampf für das Recht auf Abtreibung? mit

EU: Neustart, Reform, Revolution? mit Catarina

12:00-13:30

Brown [US-amerikanische Sozialistin], Ingar Solty [Rosa-Luxemburg-Stiftung]

USA nach den Wahlen: Rassismus, Widerstand und Klassenkampf mit Kathleen

Krause [marx21 Berlin]

500 Jahre Reformation: War Martin Luther ein Revolutionär? mit

Christine Buchholz [religionspolitische Sprecherin DIE LINKE], Ulrich Duchrow [evangelischer Theologe]

Riexinger [Vorsitzender DIE LINKE]

Perspektiven für den Widerstand im Wahljahr u.a. mit Bernd

Eine kurze Geschichte Hollywoods mit Hans

Kritik der Ökonomie II

Eröffnungspodium:

Seminar ABC des Marxismus:

Aufstehen gegen Rassismus:

Kritik der Ökonomie I

Stammtischkämpfer/ innen-Ausbildung II

Seminar ABC des Marxismus:

Aufstehen gegen Rassismus:

Stammtischkämpfer/ innen-Ausbildung I

Einführung zum Seminartag: Die Bedeutung des Marxismus heute

10:00-11:30

Freitag 26.5.

19:30-21:00

14:00-17:30

11:15-13:00

10:00-10:45

25.5. Änderungen vorbehalten. Alle Aktualisierungen findest du auf www.marxismuss.de

Donnerstag

marx is muss 2017 PROGRAMM


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Eribon-Debatte: Die Linke und die Arbeiterklasse mit Bernd

Podium: Wie stoppen wir die AfD? mit Christi-

17:00-18:30

19:30-21:00

Abschlusspodium

12:00-13:30

Moritz Wittler [DIE LINKE. Neukölln]

mit Rita Renken [DIE LINKE. Berlin-Friedrichshagen]

Alexandra Kollontai: Die russische Revolution und die Befreiung der Frau

Blättermann [Literaturwissenschaftler]

»Schlagt die Weißen mit dem roten Keil« - Kunst, Theater und Film der russischen Revolution mit Robert

Sahne Fischfilet

»Noch nicht komplett im Arsch« Musik gegen Rechts mit Feine

Constanze Kurz [Chaos Computer Club, angefragt], Dirk Spöri [Landessprecher DIE LINKE. Baden-Württemberg]

Revolution in Zeiten des 3D-­Druckers mit

Katja Kaba [DIE LINKE. Charlottenburg-Wilmersdorf]

Revolutionäre Erhebungen und die Gewaltfrage mit

Meier [DIE LINKE.Freiburg], Martina Renner [NSAUntersuchungsausschuss]

Überwachung, Drohnenmorde, Cyberwar: Staat und Imperialismus im 21. Jahrhundert mit Julia

Sameh Naguib [Ägyptischer revolutionärer Sozialist]

Ägypten: Sisi, Islam und die Linke mit

mit Stathis Kouvelakis [Mitglied von Laiki Enotita, Politikwissenschaftler am King’s College, London], Panos Garganas [Griechischer Sozialist, Mitglied von Antarsya]

brich [Österreich, Redakteur der Neuen Linkswende], Weymen Bennett [Großbritannien, Stand up to Racism]

konZert UND party

[Sozialistische Bewegung Russlands]

Breit und entschlossen: Strategien im Kampf gegen Rechts in Europa mit David Al-

Russland: Widerstand gegen Putins Herrschaf mit Ilya Budraitskis

[Bundestagsabgeordnete, DIE LINKE]

Aktuelle Flüchtlingspolitik: Wir schaffen das – wer zahlt den Preis? mit Ulla Jelpke

Max Steininger [Landesgeschäftsführer DIE LINKE. Bayern], Gökay Akbulut [Referentin für Flucht und Migration bei der Rosa Luxemburg Stiftung]

Islam: eine Religion ohne Aufklärung? mit

Antisemitische Verschwörungstheorien und Islamfeindlichkeit der neuen Rechten mit Achim Bühl [Professor an der Beuth Hochschule für Technik in Berlin]

mit Max Manzey [Die Linke. SDS Berlin]

Wie weiter für die Lin- Von Hitler zu Höcke: Was ist Faschismus? ke in Griechenland?

Was ist Kapitalismus und wie ist er entstanden? mit Sebas-

tian Zehetmair [Historiker], Engelhardt [Aufstehen gegen Kasper Ange [Redakteur theorie21] Rassismus in Sachsen], Daniel Kerekes [Linksjugend [’solid] NRW]

Was sind Nationale Befreiungsbewegungen und wie ordnen wir sie ein? mit Gabi

[Kritische Psychologin]

Einführung in die mar- Das neoliberale GeNatur, Bedürfnis, xistische Staatstheschlechterregime und Entfremdung: Das Menschenbild bei orie mit Yener Orkunoglu seine Kritik mit Tove [DIE LINKE.Darmstadt] Soiland [Philosophin] Marx mit Felicitas Karimi

Das Scheitern der Marxismus und ÖkoRussischen Revolution logie mit Hubertus Zdebel und der Aufstieg des [Mitglied des Bundestags, DIE LINKE] Stalinismus mit Jan

The World Economy today: On the Brink of another Slump? (engl.) mit Joseph

Sumfleth [Dozentin für soziale Publizistik, ehemals Choonara [Redakteur des Ressortleiterin im TV Spielfilm »International Socialism Verlag] Journal«]

»Lügenpresse«? Medienmacht im Kapitalismus mit Ulrike

Popowitsch [Ukraine, Gruppe Maas [Redaktion marx21] »Soziale Bewegung«]

Der Krieg im Osten der Ukraine und der Kampf für soziale Gerechtigkeit mit Sachar

Meienreis [Nordamerikanist, DIE LINKE Berlin]

Du darfst deine Zahnbürste behalten: Kommunismusvorstellungen bei Marx, Engels & Co mit David

Rhonda Koch [Redakteurin von theorie21]

Lenin und die Rolle Was ist sexualisierte der bolschewistischen Gewalt? Der Versuch Partei mit Stefan Bornost einer Erklärung mit

Burkhard Schaper [IGM[marx21 Koordinierungskreis] Vertrauensleutekörper bei Atos, Berlin], Thomas Frischkorn [ver.di-Streikleitung T-Systems, Darmstadt]

Gewerkschaftsarbeit und Arbeitskämpfe in der IT-Branche mit

JETZT ANMELDEN unter marxismus.de

Bürgerliche Arbeiterpartei: Wie die SPD wurde was sie ist mit

Martin Haller [Redakteur marx21-Magazin]

ne Buchholz [religionspolitische Sprecherin DIE LINKE], Aiman Mazyek [Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland]

Riexinger [Vorsitzender DIE LINKE], Luigi Wolf [Organizer], Julia Dück [Interventionistische Linke]

senschaftler, Schwerpunkt Staats- und Demokratietheorie], Colin Barker [Bewegungsforscher]

10:00-11:30

Sonntag 28.5.

Der Kampf gegen Poulantzas und SYRIZA: den Staat von Rassismus und innen verändern? mit Verunsicherung im Alex Demirovic [SozialwisBetrieb

[Lateinamerikanist]

15:00-16:30

Pappe [Historiker, Autor von »Die ethnische Säuberung Palästinas«]

Kuba: Vom antiimperialistischen Befreiungskampf zur Aussöhnung mit den USA? mit Mike Gonzalez

Was sind die Ursachen de Nahostkonflikts und wie kann er gelöst werden? mit Ilan

12:00-13:30

Naisse [Syrischer Sozialist, »Strömung Revolutionäre Linke«]

Syrien: Das Regime, Ernst Bloch: Die Hoffder Imperialismus und nung im Marxismus die Linke mit Ghayath und der Religion mit

[Türkischer Sozialist, DSIP]

Gab es einen Urkommunismus? Erkenntnisse von Ausgrabungen in der Türkei mit Ron Margulies

US-Imperialismus unter Trump mit

Volkhard Mosler [DIE LINKE. Frankfurt]

Wissler [Fraktionsvorsitzende DIE LINKE.Hessen], Ilya Budraitskis [Sozialistische Bewegung Russlands]

100 Jahre Oktoberrevolution u.a. mit Janine

10:00-11:30

Samstag 27.5.

19:30-21:00

Stefan Ziefle [DIE LINKE Main-Kinzig-Kreis]

Möller González [Die Linke. SDS Berlin]

Verleumdet, ermordet, Die Natur rebelliert! vergessen: Wofür Klimawandel im stand Leo Trotzki? mit Kapitalismus mit Nicole

mit Vincent Streichhahn [Politikwissenschaftler und aktiv bei Die Linke.SDS]

Judith Butler: Zwischen Dekonstruktion und politischer Praxis

Fight for 15$: Die Kampagne um einen höheren Mindestlohn in den USA


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Betrieb & Gewerkschaft | STREIK IM KRANKENHAUS

»Ich bin froh, Teil dieser Bewegung zu sein.« Die Streikbewegung für mehr Personal im Krankenhaus geht in die nächste Runde. Die Berliner Charité hat die Lunte gelegt, jetzt brennt sie im Saarland. Gewerkschaftsaktivistinnen und Unterstützer berichten über den Pflegeaufstand, Demokratisierung ihrer Streiks und die Notwendigkeit von Solidarität

Katharina Stierl

Katharina Stierl ist Gesundheitsund Krankenpflegerin aus Leipzig. Momentan unterstützt sie für ver.di die Kolleginnen und Kollegen im Saarland in der Tarifauseinandersetzung für mehr Personal im Krankenhaus.

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as System Krankenhaus beruht auf einer extrem starken Hierarchie, was zu permanentem Druck auf die Beschäftigte führt. Gerade wir Krankenpflegerinnen sind diesem

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Druck aus verschiedenen Richtungen ausgesetzt. Er entsteht vor allem dadurch, dass Anforderungen an uns gestellt werden, die wir schlicht nicht erfüllen können. Die Leitungen verlangen, dass wir möglichst schnell und profitorientiert arbeiten. Die Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen wünschen sich natürlich, dass wir gute Pflege leisten und uns Zeit für sie nehmen. Sie sind auf uns angewiesen und geben sich vertrauensvoll in unsere Hände. Der Personalmangel führt jedoch dazu, dass wir diesen Anforderungen nie in vollem Umfang gerecht werden können. Die Folgen sind

ständige moralische und berufsethische Konflikte. Das ständige Gefühl den eigenen Ansprüchen an gute Pflege nicht zu genügen, hat mich letztlich aus dem Beruf vertrieben. Ich habe im Juni 2016 die Arbeit als Krankenpflegerin beendet, da für mich die Umstände einfach nicht mehr tragbar waren. Nun bin ich im Saarland — zurück im Krankenhaus. Aber diesmal nicht um zu pflegen, sondern um die Kolleginnen in ihrer Tarifbewegung für Entlastung zu unterstützen. Es ist das erste Mal, dass ich tatsächlich an Veränderung glaube. Viele Kolleginnen und Kollegen hier schließen sich

momentan der Bewegung an, weil sie erkennen, dass es der einzige Weg aus der Misere ist. Schon zu lange warten wir auf Veränderung. Das Thema Personalmangel und Entlastung als gewerkschaftliche Auseinandersetzung anzugehen, ist der einzig mögliche Weg für bessere Arbeitsbedingungen und für eine gute Pflege zu kämpfen. Ich bin sehr froh ein kleiner Teil dieser Bewegung zu sein.


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Meike Saerbeck

Meike Saerbeck ist Gesundheitsund Krankenpflegerin auf einer Intensivstation der Asklepios Klinik St. Georg und Gewerkschaftsaktivistin bei ver.di in Hamburg.

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n Hamburg wurden 2004, zeitgleich zur Einführung des Finanzierungssystems der Fallpauschalen, die Landesbetriebskrankenhäuser an den Krankenhauskonzern Asklepios verkauft. Seitdem hat sich vieles verschlechtert, besonders was die Versorgungsqualität und unsere Arbeitsbedingungen angeht. Wir erleben seither täglich, was es heißt, wenn mit der Versorgung von kranken Menschen Profit gemacht wird. Immer weniger Personal soll immer mehr Patientinnen und Patienten versorgen, in manchen Bereichen pflegen wir heute doppelt so viele Menschen wie noch vor 10 Jahren. Das hat krasse Folgen: Viele Behandlungen und Prophylaxen können wir gar nicht mehr durchführen, Zeit für menschliche Zuwendung fehlt und teilweise können wir sogar in Notfallsituationen nicht angemessen handeln. Das gefährdet unsere Patientinnen und Patienten und macht uns auf Dauer krank. Dazu kommt noch, dass Asklepios in den letzten zehn Jahren nahezu alle nichtmedizinischen Bereiche outgesourct hat. Unsere Kolleginnen und Kollegen in diesen Bereichen arbeiten unter enormen Druck, haben keinen Tarifvertrag und oft nur befristete Arbeitsverträge. Auch in Hamburg wollen wir für mehr Personal kämpfen. Das ist innerhalb von ver.di

aber nicht ganz ohne Widerstände möglich. Es ist klar, dass eine Tarifbewegung für mehr Personal anders aufgebaut sein muss, als das, was wir bisher gemacht haben. Wenn wir erfolgreich kämpfen wollen, dann geht das nur, wenn die Bewegung wirklich von »unten« kommt. Wir müssen als Gewerkschaft alle Kolleginnen und Kollegen in Entscheidungsprozesse mit einbeziehen und transparent sein. Dafür ist das Delegiertenmodell der Tarifberaterinnen entscheidend. Sicher werden damit aber auch alte »Machtstrukturen« in den Gewerkschaften angekratzt und dagegen gibt es leider auch Widerstand aus dem Gewerkschaftsapparat. Die Pflegekräfte der Charité haben mit ihrem Streik für mehr Personal bewiesen, wozu wir fähig sind, wenn wir uns organisieren. Jetzt folgen ihnen die Kolleginnen und Kollegen aus dem Saarland. Ihnen gilt unsere volle Solidarität, denn was dort geschieht, ist für uns alle entscheidend. Den saarländischen Kolleginnen werden Pflegekräfte aus Hamburg und überall folgen. Es ist höchste Zeit für einen bundesweiten Pflegeaufstand.

Grit Wolf

Grit Wolf ist Gesundheits- und Krankenpflegerin aus Berlin, Mitglied der ver.di-Tarifkommission an der Charité sowie Kernaktivistin im ersten Streik für mehr Personal im Krankenhaus 2015.

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enn ich Kolleginnen und Kollegen aus anderen Häusern von unserem Kampf für mehr Personal an der Charité berichtete, bekam ich in den letzten Jahren immer wieder eines zu hören: »Bei uns ist das niemals möglich.« Viele können sie sich einfach nicht vorstellen, dass sie und ihre Kolleginnen auch in der Lage sind kraftvoll zu streiken. Es ist aber ein Mythos, dass uns an der Charité die Streikmacht in die Wiege gelegt wurde. Unsere Stärke ist auch nicht vom Himmel gefallen. Erst durch die Kämpfe der letzten Jahre sind wir nach und nach durchsetzungsfähiger geworden. Die Unzufriedenheit ist in allen Krankenhäusern groß. Gewerkschaften müssen aber erst einmal beweisen, dass sie etwas bewegen wollen und auch können, dann gewinnen sie auch Mitglieder und Kampfkraft. Abkürzungen gibt es da nicht. Deshalb bin ich umso glücklicher, dass nun die Kolleginnen und Kollegen im Saarland unsere Bewegung aufgegriffen haben und unseren Kampf für mehr Personal fortführen. Uns an der Charité war von Beginn an klar, dass wir den Kampf gegen Personalmangel und Arbeitsverdichtung letztlich nur gewinnen können, wenn wir die Politik zu einer gesetzlichen Regelung

zwingen. Uns war aber auch klar, dass Appelle nicht ausreichen. Um der weiteren Ökonomisierung der Krankenhäuser einen Riegel vorzuschieben und die Abwärtsspirale aus Personalabbau und steigendem Kostendruck zu stoppen, müssen wir da ansetzen, wo es weh tut — und das bedeutet Streik. Besonders freut mich , dass unser Tarifberatermodell nun auch in vielen anderen Kliniken im ganzen Land zum Einsatz kommt. Wir haben hier ein neues Modell von Tarifarbeit mitentwickelt. Tarifberaterinnen und Tarifberater sind Delegierte der einzelnen Stationen und Bereiche, die uns in der Auseinandersetzung unterstützen, die Streiks mit vorbereiten und an der Charité jetzt eine wichtige Rolle für die Umsetzung des Tarifvertrags spielen. Das entlastet uns Mitglieder der Tarifkommission, bedeutet aber auch eine Politisierung eines größeren Kreises von Beschäftigten und nicht zuletzt auch eine Demokratisierung der Gewerkschaftsarbeit. Für ein Projekt wie unseren Kampf für eine Mindestbesetzung ist es zentral, dass die Kolleginnen und Kollegen die Auseinandersetzung als ihren Kampf wahrnehmen und sich mit ihrer Expertise einbringen. Viele Tarifberaterinnen und Tarifberater bei uns haben in der Auseinandersetzung großes Selbstbewusstsein gewonnen und sind zu Kernaktiven geworden. Nun könnten die Tarifberater zu einem ganz neuen, demokratischen gewerkschaftlichen Organisationsmodell im Krankenhaus und auch darüber hinaus werden.

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Bernd Riexinger

Bernd Riexinger ist Parteivorsitzender der LINKEN. Als langjähriger Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart war er an der Entwicklung von Strategien für eine Demokratisierung von Streikbewegungen beteiligt. Heute setzt er sich für eine aktive Unterstützung der LINKEN von gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen ein.

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er seit Jahren von der Bundesregierung ignorierte Pflegenotstand hat gefährliche, zum Teil tödliche Folgen: In Krankenhäusern, in denen eine Pflegekraft sechs oder weniger Patientinnen und Patienten zu versorgen hat, ist die Sterblichkeit um 20 Prozent niedriger ist als in den Häusern, in denen es mehr als zehn Patienten sind. In Deutschland versorgt eine Pflegekraft im Schnitt jedoch 10,3 Menschen. Das macht auch die Beschäftigten krank: Alten- und Krankenpflegerinnen und -pfleger sterben im Schnitt zehn Jahre früher als andere Beschäftigte. Kliniken und Pflegeheime brauchen dringend mehr Personal und es braucht gesetzliche Vorgaben, die sich am Bedarf und nicht an vermeintlichen Sparzwängen und Aktionärsrenditen orientieren. Derzeit finden im Saarland Warnstreiks statt. Im Jahr der Bundestagswahl könnte es zu einem bundesweiten Arbeitskampf kommen, der Geschichte schreibt. Die Gelegenheit ist gut. Wenn es im Wahljahr gelingt, eine bundesweite Streikbewegung mit starker gesellschaftlicher Unterstützung auf die Beine zu stellen, könnten konkrete Er-

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folge erreicht werden. Dafür ist es wichtig, den Arbeitskampf konsequent zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Pflege und Gesundheitsversorgung zu machen und ihn mit den Interessen von Patientinnen und Patienten sowie anderen Beschäftigtengruppen zu verbinden. Slogans wie »Mehr von uns ist besser für alle« oder »Streiken gegen die Burn-out-Gesellschaft« bringen das auf den Punkt. Als LINKE werden wir die Streiks und Aktionen weiterhin tatkräftig unterstützen. Schon im letzten Jahr haben wir den Schwerpunkt der Kampagne »Das muss drin sein« auf die Forderung nach 100.000 zusätzlichen Pflegekräften und Einführung einer gesetzlichen Personalbemessung gelegt. Vom Internationalen Frauenkampftag am 8. März bis zum Tag der Pflege am 12. Mai wollen wir nachlegen und bundesweit Beschäftigte in Krankenhäusern ansprechen und mit öffentlichen Aktionen die gewerkschaftlichen Aktivitäten unterstützen. Neben einer demokratischen Organisation der Streiks durch die Aktiven selbst und einer klugen Streiktaktik, die Durchhaltevermögen mit unkonventionellen Aktionen und Streikformen verbindet, entscheidet vor allem die öffentliche Unterstützung über einen Erfolg. Deshalb sollten wir als LINKE aktiv in Unterstützungsbündnissen mitarbeiten oder diese gemeinsam mit Be-

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Betrieb & Gewerkschaft | STREIK IM KRANKENHAUS

schäftigten, ver.di und lokalen Bündnispartnern auf den Weg bringen. Um die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, sollten wir deutlich machen, dass die Forderungen nach mehr Personal in Pflegeheimen und Krankenhäusern, nach einer besseren Bezahlung und Anerkennung der überwiegend von Frauen geleisteten Arbeit und nach guter Gesundheitsversorgung und Pflege für alle zusammengehören. Das Geld dafür ist da, alleine der politische Wille fehlt. Mit einer gerechten Besteuerung der 880.000 in Deutschland

lebenden Millionäre könnten nicht nur die fehlenden 100.000 Pflegekräfte locker finanziert werden.


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DANIEL ANTON

schlagkräftigste Argument für ein solches Bündnis: jeder Mensch war, ist oder wird früher oder später mal Patient im Krankenhaus sein und will natürlich gut versorgt sein. Wir rennen offene Türen ein, wenn wir in der Öffentlichkeit mit der Forderung nach mehr Personal auftreten. Und das wird nötig sein: Sollte es auch in Freiburg und anderen Standorten in Südbaden zu ganzen Stationsschließungen im Rahmen eines Streiks kommen, wird es wichtig sein, dass eine breite Öffentlichkeit

zung hatten sie vom Bündnis »Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus« und genau das versuchen wir nun in Freiburg als Erfolgsrezept zu kopieren. Es ist der Versuch gesamtgesellschaftlichen Druck aufzubauen, den Konflikt zu politisieren und den Beschäftigten in einem möglichen Arbeitskampf zur Seite zu stehen. Zusammen kommt dabei ein bunter Haufen: vom ver. di-Sekretär, über den Personalrat, von Aktiven von SPD, LINKE und SDS, bis hin zur Interventionistischen Linken und solidarischen Einzelpersonen ist alles dabei. Der Schritt zu diesem Treffen und damit zum Aufbau der Bündnisstrukturen war eigentlich gar nicht so schwer. Viele ver. di-Sekretäre sind froh über eine Solidaritätsstruktur — so auch in Freiburg — und die Brisanz des Themas ist allen bewusst. Das ist auch das

sich hinter die Beschäftigten stellt. Die Gegenseite wird alles darauf setzen einen möglichen Streik als unverhältnismäßig darzustellen. Wir sagen gemeinsam mit den Beschäftigten: Nicht der Streik gefährdet die Patienten, sondern der »Normalbetrieb« und wollen so die Öffentlichkeit auf unsere Seite bringen. Für Linke ist dieser Konflikt auch eine Chance, nicht nur abstrakt über Klassenkampf zu sprechen, sondern sich in reale Kämpfe einzumischen und tatsächlich etwas zu bewegen. Nicht nur für den Kampf um die öffentliche Meinung, sondern auch für viele Kolleginnen und Kollegen ist es extrem wichtig, diesen Zuspruch zu erhalten. Viele haben Angst, dass die Öffentlichkeit es verwerflich finden könnte, wenn in einem Krankenhaus gestreikt wird. Ihnen diese Angst zu nehmen ist ein wesentlicher Bau-

stein für einen erfolgreichen Streik. Diese Aufgabe wollen wir in Freiburg anpacken. Mit unserem neugefundenen Namen ist auch eine klare Ansage verbunden: »Entlastung jetzt! Südbaden für mehr Personal im Krankenhaus!«

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Daniel Anton ist aktiv bei der LINKEN in Freiburg und Mitbegründer von »Entlastung jetzt! Südbaden für mehr Personal im Krankenhaus!«. Bereits in der Tarifbewegung im Sozial- und Erziehungsdienst im Jahr 2015 sammelte er Erfahrungen in der gewerkschaftlichen Solidaritätsarbeit und beteiligte sich an einem Unterstützerbündnis für die Beschäftigten.

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ls sich in Freiburg Ende 2016 zum ersten Mal eine Gruppe von 15 Menschen trifft, um zu beraten, wie man das Pflegepersonal in den Krankenhäusern bei ihrer Forderung nach mehr Personal unterstützen kann, ist das Beispiel der Charité allgegenwärtig. Die Charité ist nicht einfach bekannt als größtes Uniklinikum Europas, sondern als das Haus, in welchem die Beschäftigten einen historischen Kampf für eine bessere Personalbemessung gewonnen haben. Unterstüt-

Mit einer Fotoaktion stellen zahlreiche Krankenhausstationen im Saarland auf kreative Weise ihre Streikbereitschaft zur Schau. Auf Facebook erreichen die Bilder Hunderttausende

Mach mit. Solidaritätsarbeit Du willst auch in deiner Stadt die Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus in ihrer Auseinandersetzung für mehr Personal unterstützen und suchst nach Ideen, wie das geht, oder nach potenziellen Verbündeten und bereits bestehenden Solidaritätsstrukturen? Dann melde dich bei uns, wir helfen gerne weiter: Einfach E-Mail an redaktion@marx21.de Informationen Wie es im Saarland und mit dem bundesweiten Aufstand der Pflege weitergeht, erfährst du auf unserer Homepage marx21.de. Dort begleiten wir die Bewegung mit Artikeln, Interviews und Hintergrundberichten und halten dich immer auf dem Laufenden. Debatte Auch auf unserem Kongress »MARX IS’ MUSS 2017« werden der Streikbewegung im Krankenhaus mehrere Veranstaltungen gewidmet. Unter anderem sprechen auch Grit Wolf, Meike Saerbeck und Bernd Riexinger. Jetzt anmelden unter marxismuss.de

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SCHWERPUNKT 52| 56| 59| 62|

Schröders »Agenda 2010« Warum der Verrat nichts mit Charakterlosigkeit zu tun hat

Bewegungspartei Interview mit Raul Zelik

R2G in Berlin Sie schießen auf Andrej Holm und meinen den Koalitionsvertrag

Sahra Wagenknecht Wo sie richtig liegt und wo nicht


SCHWERPUNKT | r2G und die LINKE

Schulz und das vergiftete Angebot Die SPD befindet sich mit ihrem neuen Kanzlerkandidaten Martin Schulz im Aufschwung. Schon mehren sich die Stimmen für eine Linksregierung nach den Bundestagswahlen. Wie soll die LINKE reagieren? Sieben Thesen von marx21 zur Debatte 1 | Der Erfolg des neuen Kanzlerkandidaten der SPD, Martin Schulz ist Teil der Gegenreaktion auf Trump und den Aufstieg der Rechten weltweit. Die Wahl von Donald Trump hat die weltweite politische Polarisierung vorangetrieben. Wir erleben, wie mit dem Aufstieg neuer rechter Führungsfiguren und ihrer Parteien zugleich das Bedürfnis einer linken Antwort größer wird. Millionen Menschen wünschen sich eine Ende der neoliberalen Politik, der rassistischen Hetze und der imperialistischen Außenpolitik. In den USA erreichte die die Kampagne von Bernie Sanders Millionen und machte ihn zudem populärsten linken Präsidentschaftskandidaten der Nachkriegsgeschichte. Aber auch in vielen anderen Ländern gibt es dieses Phänomen. In England steht für die Wiederbelebung des Linksreformismus Jeremy Corbyn. In Frankreich hat überraschenderweise der Parteilinke Benoît Hamon die Stichwahl um die Präsidentschaftskandidatur der Sozialisten gewonnen. In Deutschland erleben wir nun, wie nach dem bedrohlichen Aufstieg der AfD auch in die deutsche Sozialdemokratie neue Bewegung kommt. Der Prozess der Wiederbelebung sozialdemokratischer Parteien, die wegen ihrer marktliberalen Ausrichtung in eine tiefe Krise stürzten, kann gelingen, weil sich in diesen Parteien vermeintlich linkere Führungsfiguren durchsetzten. So stellt sich auch Martin Schulz klar gegen rechts, fordert mehr soziale Gerechtigkeit und will die SPD an der Seite der Gewerkschaften für höhere Löhne für die »hart arbeitenden Menschen« positionieren. 2 | Die linke Rhetorik von Schulz wird die grundsätzlich markt- und unternehmerfreundliche Politik der SPD nicht verändern. Martin Schulz hat die Agenda 2010 nie kritisiert , Ceta gegen den Widerstand der belgischen Wallonie durchgesetzt und mitgeholfen Griechenland die drakonischen Kürzungen aufzuzwingen. Die deutsche Sozialdemokratie und auch die Grüne teilen das Ziel der EU, sie zum wettbewerbsfähigsten

Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Im Konkurrenzkampf mit den USA und China hat die EU mit Kürzungspaketen und Lohn-und Sozialdumping vorangetrieben. In Deutschland haben SPD und Grüne diese Standortpolitik mit der Agenda 2010 im Interesse der deutschen Konzerne umgesetzt und halten im Kern daran fest. SPD und Grüne sind fest dem Kapital verpflichtet, aber sie unterscheiden sich doch in ihrer Methode, ihrer sozialen Basis und ihrer Rhetorik vom bürgerlichen Block Schwarz/Gelb. Die beiden Vorsitzenden der LINKEN, Bernd Riexinger und Katja Kipping, haben treffend erklärt: »Bisher ist Martin Schulz nicht als Kritiker der Agenda 2010 und der unsozialen EU-Politik aufgefallen. Die SPD und ihr Kanzlerkandidat müssen liefern, wir werden sie an ihren Taten messen. Sind sie wirklich bereit die Reichen zu besteuern, die solidarische Mitte zu stärken, Kinder- und Altersarmut wirksam zu bekämpfen, Rüstungsexporte zu beenden und eine Militarisierung Europas verhindern?« 3 | Glaubwürdige Trump-Kritik heißt: US-Atomraketen aus Büchel abziehen, US-Basis Ramstein dicht machen, Bundeswehr abrüsten. Mit Donald Trump steht ein Präsident an der Spitze der US-Army, der von der Atombombe sagt: »Wenn wir sie haben, warum setzen wir sie dann nicht ein?«. Martin Schulz setzt im Wahlkampf auf eine rhetorische Abgrenzung gegenüber Trump, doch die Bundesregierung treibt die Aufrüstung der Bundeswehr und Militarisierung der EU voran. Ein erster, friedenspolitischer Schritt wäre der sofortige Abzug der US-Atomraketen aus Büchel und die Schließung der US-Drohnenbasis Ramstein. Martin Schulz schweigt zur Militarisierung der deutschen Außenpolitik und der Aufrüstung der NATO. DIE LINKE muss ihre Kritik an den Auslandseinsätzen und der Aufrüstung der Bundeswehr weiter deutlich machen - auch gegen die aktuelle US-Truppenverlagerungen nach Osteuropa sowie der Stationie-

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rung von 450 Bundeswehr-Soldaten in Litauen. Das Grundsatzprogramm der LINKEN gibt die richtige Antwort: »Die Bundeswehr muss aus allen Auslandseinsätzen zurückgeholt werden«. DIE LINKE hat mit dieser Forderung ein Alleinstellungsmerkmal und sollte dies im Wahlkampf zum Thema machen. Zahlreiche SPD-Mitglieder haben gegen Trump protestiert, doch die Große Koalition und Hamburgs Bürgermeister Scholz (SPD) gehören zu den Gastgebern des G20-Gipfels, wo Trump am 7. Juli als Staatsgast empfangen werden soll. Gegen diese »Herren der Welt« werden viele Tausend auf die Straße gehen. DIE LINKE kann hier an vielen Orten in der Gegenmobilisierung zu Trump und Co eine vorwärtstreibende Rolle spielen und den Wahlkampf mit der Mobilisierung verbinden.

5 | Das Angebot auf Bundesebene »rot-rot-grüne Regierungsoptionen« zu diskutieren ist vergiftet. Das Kalkül der SPD in den Gesprächsrunden zu R2G ist die Schwächung der LINKEN. SPD und LINKE haben in den Fragen der Militarisierung, der Europapolitik und der Flüchtlingspolitik und der sogenannten »Inneren Sicherheit« sehr unterschiedliche Positionen. Während DIE LINKE die Asylrechtsverschärfungen abgelehnt hat, hat die Mehrheit der SPD-Abgeordneten zugestimmt – allerdings mit einer großen Anzahl von Nein-Sagern. Auch in der Frage der Sammelabschiebungen nach Afghanistan kommt die SPD stark unter Druck von Protesten und fängt an zu lavieren. Die SPD hat schon länger beschlossen, Koalitionen mit der LINKEN nicht mehr auszuschließen. Sie hat aber auch sehr deutlich gemacht, dass sie von der LINKEN Zustimmung zur Nato, zu Militäreinsätzen und zur Europapolitik erwartet. Angesichts dessen sind die Einladungen zu informellen Treffen um zukünftige rot-rot-grüne Regierungsoptionen auf Bundesebene zu diskutieren, ein vergiftetes Angebot. Durch die Treffen mit linken Abgeordneten kann sich die SPD linker geben, als sie ist und DIE LINKE wirkt weniger radikal in ihrer Kritik oder wird geschwächt. Die SPD hält denjenigen in der LINKEN die eine Regierungsbeteiligung wollen, die Karotte hin und befeuert den Realo-Flügel und den innerparteilichen Streit in DIE LINKE. So fand Dietmar Bartsch, Spitzenkandidat der LINKEN, dass »nicht alles an der Agenda 2010 schlecht« gewesen sei. Das Weichspülen der Positionen der LINKEN und die Stärkung des Realoflügels sind aus Perspektive der SPD-Spitze wichtig, um einerseits DIE LINKE als Konkurrentin zu schwächen und andererseits, zukünftig Rot-Rote-Regierungsoptionen im Bund zu ihren Bedingungen zu haben. Ein zentrales Motiv der SPD, die Linkspartei in die Regierung zu nehmen, ist die Einbindung der stärksten linken Oppositionspartei. Eine derartige Konstellation führe dazu, dass DIE LINKE »gemäßigter« auftrete, sagte der SPD-Vize und Vertreter des linken Flügels, Ralf Stegner. DIE LINKE darf ihre Kritik an der SPD nicht abmildern oder ihre eigenen Positionen abschwächen oder aufgeben.

Kalkül der SPD: Schwächung der LINKEN

4 | Schulz mobilisiert Hoffnungen auf soziale Veränderungen, von denen sich DIE LINKE nicht abschneiden sollte. Sie muss daher im Wahlkampf eine scharfe Kritik an der Politik der SPD mit politischen Angeboten an die Sozialdemokratie für eine gemeinsame Aktionseinheit auf der Straße verbinden. Im Wahlkampf wird die soziale Frage eine wichtige Rolle spielen. DIE LINKE reagiert richtig, wenn sie die SPD scharf attackiert und aufzeigt, dass die Partei nicht glaubwürdig ist. Als sozialistische Partei hat die LINKE die Aufgabe die historischen Erfahrung vom Verrat der Sozialdemokratie in die aktuelle Debatte einzubringen. DIE LINKE darf aber nicht nur abseits stehen und kritisieren, sondern muss selbst den gemeinsamen Kampf für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus einfordern und organisieren. Beispiel höhere Löhne: Wir müssen einfordern, dass die SPD sich praktisch in den gemeinsamen Kampf um höhere Löhne einbringt. DIE LINKE sollte zugleich klarmachen, dass Lohndumping nur beendet werden kann, wenn das Hartz-IV System angegriffen wird, d.h. eine sanktionsfreie Mindestsicherung eingeführt, der Mindestlohn erhöht und Leiharbeit abgeschafft wird. Im gemeinsamen Kampf können sich sozialdemokratische Wählerinnen und Wähler selbst davon überzeugen, wer den Kampf entschlossen führt. Das gilt auch für den Kampf gegen Rechts. Angesichts der Welle von Protesten gegen Trump ist es möglich und auch nötig, diese Stimmung in Deutschland zu nutzen und einen gemeinsamen breiten und entschlossenen Widerstand gegen die AfD einzufordern. Wir müssen die Hoffnungen ernst nehmen, ohne die Illusionen zu stärken. So kann DIE LINKE in die sozialdemokratische Anhängerschaft ausgreifen.

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6 | Tolerierung einer Minderheitenregierung durch die LINKE ist keine Alternative zur Regierungsbeteiligung. Die LINKE sollte die Strategie der Tolerierung ablehnen. Erstens erfordert auch eine Minderheitenregierung die Zustimmung der LINKEN zu einem Haushalt, damit zu den Grundlinien der Politik und zum Beispiel dem Militärhaushalt. In Sachsen-Anhalt hat


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Am 2. Oktober 2004 demonstrieren über 50.000 Menschen in Berlin gegen die von der SPD mit eingeführte Agenda 2010. Die Massenproteste fallen zusammen mit der Gründung der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), die sich später mit der PDS zur LINKEN vereinigt. Die SPD hält auch unter Schulz an der AgendaPolitik fest

die PDS Kürzungen im Kitabereich im Magdeburger Modell zugestimmt und damit viel Kritik geerntet. An der Zustimmung der LINKEN zum Haushalt scheiterte auch die rot-grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen. Zweitens hängt das Modell von der unwahrscheinlichen Bereitschaft von SPD und Grünen ab, sich im Bund in eine solche fragile Konstellation zu begeben. Grundsätzlich steht einer Regierungsbeteiligung der kapitalistische Charakter des bürgerlichen Staatsapparates entgegen. Der Staatsapparat ist nicht demokratisch strukturiert, sondern wird von oben nach unten bestimmt. Von daher hat eine Regierung nur eingeschränkte Kontrolle über den Staatsapparat. Zudem fehlt der Regierung die Kontrolle über die zentralen Konzerne und Banken und ist damit erpressbar und letztlich relativ machtlos. Damit wird jede mitregierende linke Partei für die sozialen und politischen Angriffe des Kapitals mitverantwortlich gemacht und verliert dadurch an politischer Glaubwürdigkeit und Fähigkeit, Widerstand zu organisieren. 7 | Im Wahlkampf wäre es falsch, eine Regierungsbeteiligung der LINKEN von vornherein auszuschließen. Doch es gibt Schlimmeres als Merkel – ein Verrat der LINKEN. Deshalb muss DIE LINKE politische und soziale Mindestbedingungen für eine Beteiligung an der Regierung stellen. Viele Wählerinnen und Wähler erwarten von der LINKEN und einer rot-roten oder rot-rot-grünen Regierung, dass diese die drängenden Probleme an-

geht. Deshalb muss DIE LINKE im Wahlkampf neben einer scharfen Kritik an der Politik der SPD politische und soziale Mindestbedingungen für eine Beteiligung an der Regierung stellen. Die Orientierungspunkte stehen im Grundsatzprogramm von 2011: »An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt, die Privatisierungen der Daseinsvorsorge oder Sozialabbau betreibt, deren Politik die Aufgabenerfüllung des Öffentlichen Diensts verschlechtert, werden wir uns nicht beteiligen.« Dazu müssen aktuelle Forderungen kommen, wie beispielsweise die Reichensteuer, die Rücknahme von TTIP und CETA, der Kampf gegen Altersarmut, eine Ende der Erpressung der von der Krise besonders betroffenen EU-Länder und die Beendigung der Massensterbens im Mittelmeer durch die Öffnung der Fluchtrouten. Solche Mindestbedingungen sind unabdingbar, weil eine Beteiligung der LINKEN ohne Politikwechsel die Glaubwürdigkeit der Partei zunichtemacht. Doch es gibt Schlimmeres als Merkel – ein Verrat der LINKEN. DIE LINKE ist kein Korrektiv für andere, sondern eine eigenständige Oppositionspartei. Es führt in eine politische Sackgasse, sie zu einer Mehrheitsbeschafferin für Rot-Grün zu degradieren. Der Kampf um wirkliche Veränderung findet vor allem außerhalb der Parlamente statt. Statt auf eine Regierungsbeteiligung zu hoffen, sollte DIE LINKE sich mehr dafür einsetzen gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen. Veränderung beginnt mit Opposition. ■

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Schröders Verrat war vorprogrammiert Zwischen 1998 und 2005 führte ausgerechnet ein sozialdemokratischer Bundeskanzler den schärfsten Angriff auf den Sozialstaat durch und ausgerechnet ein grüner Außenminister kommandierte den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945. Alle, die sich Hoffnung auf einen Politikwechsel durch eine rot-rot-grüne Bundesregierung machen, sollten sich mit den historischen Vorgängern auseinandersetzen Von Volkhard Mosler

Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

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er größte Verräter an der Geschichte der SPD war zweifellos Gerhard Schröder«, sagte WASG-Mitgründer Klaus Ernst dem »Handelsblatt« vor der letzten Bundestagswahl 2013. Zweifellos empfanden viele Wählerinnen und Wähler die Politik von Rot-Grün in den Jahren 1998-2005 als Verrat. Für diesen Verrat gibt es falsche und richtige Erklärungen. Eine falsche vertritt der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Er befürwortet eine Neuauflage von Rot-Grün unter Beteiligung der LINKEN. In seinem lesenswerten Buch »Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken« schreibt er, »dass erhebliche Teile der Führungsspitze der SPD das Aufstiegsversprechen der Partei radikal individualisiert haben«. Mit anderen Worten: Statt des sozialen Aufstiegs der arbeitenden Klassen hätten sie ihren eigenen Aufstieg betrieben. Es ist nicht zu bestreiten, dass Gerhard Schröder, Peer Steinbrück und Wolfgang Clement sich goldene Nasen verdient haben mit dem Wissen und den Beziehungen, die sie durch Regierungserfahrungen sammeln konnten. Eine hinreichende Erklärung für den neoliberalen Kurswechsel von Rot-Grün ist Charakterlosigkeit jedoch nicht.

Schröder: Genosse der Bosse

Der Kurswechsel der SPD hat nicht erst mit dem Regierungsantritt von Schröder begonnen, sondern schon viel früher, nämlich bereits in den 1980er Jahren. Bis Mitte der 1970er Jahre schien sich der Kurs einer Keynesianischen Wirtschaftspolitik mit staats-

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kapitalistischen Elementen bewährt zu haben. Die beiden ersten großen Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit (1974, 1981) führten jedoch zu einer radikalen Umkehr. In den wichtigen europäischen Staaten Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) mit sozialdemokratischen oder sozialistischen Regierungen machten die Führungen der Sozialdemokratie die Erfahrung, dass schuldenfinanzierte staatliche Investitionsprogramme nach keynesianischem Modell die Krise nicht verhinderten: in Großbritannien verdoppelte sich die Arbeitslosigkeit unter einer Labour geführten Regierung von 1974 bis 1977, in der BRD stieg die Arbeitslosigkeit unter Kanzler Schmidt (SPD) von 0,4 Millionen (1974) auf 2,5 Millionen (1982) und in Frankreich stieg sie unter Präsident Mitterand von 7,8 auf 14 Prozent. Der Politikwissenschaftler Fritz Scharpf fand Mitte der 1980er Jahre mit seiner Studie über »Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa« starke Beachtung, als die SPD gegen Helmut Kohl in der Opposition war. In den 1990er Jahren hatte sich Scharpf bei den so genannten Enkeln Willy Brandts wie Schröder durchgesetzt. Scharpf verband die Kritik des Keynesianismus mit der Forderung nach einer »auf den Privatsektor bezogene sozialdemokratische Angebotspolitik«. Diese müsse »auf die Steigerung der Unternehmenserträge gerichtet sein«. SPD-Parteitagsbeschlüsse der 1990er Jahre sind vom Geist Scharpfs geprägt.


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Zugleich wuchs in den Betrieben und Gewerkschaften der Widerstand gegen Kohls Politik des Sozialabbaus. Massendemonstrationen und Abwehrstreiks prägten die Stimmung der letzten Kohljahre. Kohls Versuch, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ab dem ersten Krankheitstag abzuschaffen, scheiterte beispielsweise an einer Welle von spontanen Streiks. Oskar Lafontaine spürte diese Stimmung früh, machte sich zu ihrem politischen Sprecher und schlug 1995 bei der Wahl zum SPD-Parteivorsitzenden für alle überraschend mit großer Mehrheit Rudolf Scharping. Mit einer groß angelegten Kampagne der Medien im Rücken setzte sich jedoch der »Automann« Schröder schließlich als Kanzlerkandidat ge-

gen Lafontaine durch. Bald nach dem Wahlsieg vom September 1998 kam es zu einem Machtkampf zwischen Kanzler Schröder und Finanzminister Lafontaine. Schröder war für die Liberalisierung der Finanzmärkte, Lafontaine für ihre stärkere Kontrolle. Dafür erntete er Ablehnung aus der Finanzbranche. Die britische »Sun« erklärte den Finanzminister zum gefährlichsten Mann Europas. Schröder drohte mit Rücktritt und ließ Lafontaine durch seine rechte Hand, Kanzleramtsminister Bodo Hombach, aus dem Amt mobben. Lafontaine trat von allen Ämtern zurück, der Dax schoss um sechs Prozent in die Höhe.

Teure Zigarren, schnelle Autos und Brioni-Anzug: Auch äußerlich markiert Gerhard Schröder eine Abkehr von klassischen sozialdemokratischen Werten

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Gegen den neuen Kurs regte sich Widerstand in den Gewerkschaften. Die SPD erlitt bei Landtagswahlen im zweiten Halbjahr 1999 teilweise dramatische Rückschläge. Mit der Teilprivatisierung der Altersrente (»Riesterrente«) brach die Regierung trotzdem ein wichtiges Wahlversprechen von 1998, dass sie die Rentenkürzungen der Kohl-Regierung zurücknehmen werde. Ein zweites, noch wichtigeres Wahlversprechen betraf die Beschränkung des Einsatzes der Bundeswehr auf von der Uno oder der OSZE mandatierte Friedensmissionen. Mit dem Kosovokrieg (1999) und dem bis heute andauernden Afghanistankrieg (2001) betätigte sich Rot-Grün auch als Tabubrecher

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Schröder steht für den Abschied von der alten SPD

»IV suxx« - IV ist scheiße, steht auf diesem Poster in Berlin. Gemeint ist Hartz IV. Schröders Agenda-Erbe spukt immer noch durch die SPD

Hombach ist auch Autor des berüchtigten SchröderBlair-Papiers von 1999 (»Der Weg nach vorn für Europas Sozialdemokraten«). Darin verkündeten die beiden sozialdemokratischen Regierungschefs den Abschied von der alten Sozialdemokratie. Es gebe keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, nur eine »richtige« (Sachzwangargument). Das Papier war ein deutliches Plädoyer für Deregulierung der Arbeitsmärkte, Senkung der Lohnkosten und Steigerung der Gewinne. »Soziale Gerechtigkeit« sei »manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt worden.« Wolfgang Clement, Schröders Wirtschaftsminister, entwickelte ein Konzept der sozialen Ungleichheit, die er als neue Variante sozialer Gerechtigkeit verkaufte.

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für eine neue imperiale Weltpolitik Deutschlands. Außenminister Fischer griff in seiner Argumentationsnot gegen die grüne Basis auf ein angeblich drohendes neues Auschwitz zurück. Und die erste Regierung Schröder brach noch ein drittes Wahlversprechen von 1998: »Die SPD-geführte Bundesregierung wird den Anstieg der Arbeitslosigkeit stoppen.« Tatsächlich stieg die Arbeitslosigkeit bis 2002 um 300.000 weiter an. So galt Rot-Grün im Wahljahr 2002 als sicherer Verlierer gegen CDU/CSU und FDP. Aber es kam anders. Durch eine gut inszenierte Antikriegskampagne gegen eine deutsche Beteiligung am Irakkrieg von George Bush und Tony Blair gelang es Rot-Grün, die eigene Anhängerschaft noch einmal zu mobilisieren. Es gelang dem Bündnis zugleich, die PDS unter die Fünfprozenthürde zu drücken. Unter Führung von Dietmar Bartsch hatte die PDS einen rot-rotgrünen Lagerwahlkampf gemacht, statt Rot-Grün wegen der gebrochenen Versprechen in der Riesterrente und der Friedenspolitik anzugreifen. Nach der Bildung der zweiten rot-grünen Regierung trat Schröder die Flucht nach vorn an. Der Winter 2002 war in jeder Hinsicht ein Krisenwinter. Die deutsche Wirtschaft verfiel in Stagnation, ohne Aussichten aus dieser herauszukommen. Deutschland war durch die hohen Kosten der Wiedervereinigung und die dadurch bedingte Verdoppelung der Staatsschulden zum schwachen Mann Europas geworden. Neben einer weltweiten Konjunkturkrise machten die Wirtschaftswissenschaftler eine spezifische deutsche Strukturkrise aus. Damit waren die vergleichsweise niedrigeren Wachstumsraten der


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deutschen Wirtschaft gemeint. In den ganzen 1990er Jahren betrug das Wachstum Deutschlands jährlich knapp die Hälfte von dem der USA. 2001 und 2002 betrug das jährliche Wachstum der USA 5,9 Prozent, das Deutschlands nur noch 0,9 Prozent. In einer auf Konkurrenz und Profit beruhenden globalisierten Marktwirtschaft ist das bedrohlich. Gegen den Widerstand großer Teile der Gewerkschaften und der Parteibasis peitschte Schröder nun die Agenda 2010 durch, die »Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts wieder an die Spitze« bringen sollte. Wesentliche Elemente der Agenda 2010 waren die Deregulierung der Finanzmärkte, die Deregulierung der Arbeitsmärkte durch Abschaffung des Kündigungsschutzes in kleinen Betrieben, die Deregulierung der Arbeitszeitordnung, die Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 43 Prozent, Milliardenkürzungen bei Behinderten, Alten und Kranken, die Durchlöcherung der Flächentarifverträge durch sogenannte »betriebliche Bündnisse für Arbeit«. Der wichtigste Eingriff war jedoch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe (Hartz IV). Hartz IV bedeutete und bedeutet für Millionen Menschen ein Gefühl extremer Verunsicherung, die Sorge, von einem Tag auf den anderen ins Nichts zu stürzen und damit den sozialen Abstieg zu erleben. Die SPD hat unter Sigmar Gabriel inzwischen »Fehler« bei der Einführung von Hartz IV eingeräumt. Bereits damals hätte man einen Mindestlohn einführen müssen, um den »unfairen Niedriglohnsektor« klein zu halten. Das geht am Kern der Agenda 2010 vorbei. Gerhard Schröder sagte beim Weltwirtschaftsforum 2005 in Davos: »Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.« Schröder war sich sicher, »dass das veränderte System am Arbeitsmarkt erfolgreich sein wird«. Zunächst stieg aber die Zahl der Arbeitslosen im Wahljahr 2005 auf das Rekordniveau von fünf Millionen – ein Nagel im Sarg von Rot-Grün und ein Grund für den Wahlerfolg der gerade entstehenden Linkspartei. Hartz IV hat zusammen mit den anderen Maßnahmen zu einer beträchtlichen Bereicherung der Kapitalisten und entsprechenden Verarmung der unteren Klassen geführt. Die Lohnquote am Volkseinkommen fiel innerhalb von vier Jahren (2003– 2007) von 71 auf 63 Prozent. Dem deutschen Kapital hat die Agenda 2010 geholfen, seine Kosten so nachhaltig zu senken, dass es seitdem alle anderen europäischen Kapitalisten hat unterbieten und ausbooten können. Dafür hat

die SPD Schröder ihren tiefsten Absturz zu verdanken (von 40,9 Prozent 1998 auf 23 Prozent 2009). Die Grünen als Partei des neuen Mittelstandes haben das Verarmungsprogramm von Rot-Grün besser überstanden. Die aktuelle Krise der EU und des Euros ist auch eine Folge von Schröders »erfolgreicher« nationaler Standortpolitik. Das Ergebnis erleben wir gerade – ein Auseinanderbrechen des Euros und der EU. Was aus der Sicht des Einzelkapitalisten rational und sinnvoll erscheint, ist für die Menschheit eine Katastrophe. Was hat der Sturz Kohls durch Rot-Grün also der Arbeiterklasse gebracht? Gewiss kein »kleineres Übel«. Edmund Stoiber (CSU) – Schröders Gegenkandidat 2002 – hat einmal rhetorisch gefragt, was eigentlich passiert wäre, wenn er die Wahlen gewonnen hätte und nicht Schröder und er die »notwendigen Reformen« einer Agenda 2010 hätte durchsetzen müssen. Seine Antwort war: Es hätte massiven Widerstand der Gewerkschaften und Massenstreiks gegeben. Dass es dazu nicht gekommen ist, ist der eigentliche Verrat der SPD. Der damalige DGB-Chef Michael Sommer beantwortete die Frage, was gewesen wäre, wenn die Gewerkschaften zu Protesten aufgerufen hätten: »Dann würden wir in einem anderen Land leben.« Der Grund für den Verrat der SPD liegt jedoch nicht in der Charakterlosigkeit ihrer Führung, sondern in ihrem Wesen als »bürgerliche Arbeiterpartei«. Das bedeutet, dass es sich bei ihr um eine Partei handelt, die sich zwar auf den organisierten Teil der Arbeiterklasse stützt, aber den Erhalt und das Funktionieren des Kapitalismus betreibt. Der Verrat Schröders steht in einer langen Tradition: die Unterstützung des Weltkriegs 1914–18, die blutige Niederschlagung der Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19, die Unterstützung der Zerschlagung des Sozialstaats durch die Tolerierung der Brüning-Regierung 1930–32, die kampflose Kapitulation vor Hitler 1933, die Zustimmung zu den Notstandsgesetzen 1968, die Verhängung von Berufsverboten gegen Linksradikale und Kommunisten 1972, die Zustimmung zur Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen unter Helmut Schmidt 1981. DIE LINKE wird das Wesen der SPD nicht verändern. Sie ist aus dem Protest gegen ihren bislang letzten großen Verrat entstanden und ein wichtiger Teil des Widerstands gegen neoliberale Politik. Die wichtigste Lehre aus der Agenda 2010 ist daher: Es gibt Schlimmeres als Merkel – ein Verrat der LINKEN. ■

Agenda 2010 nutzte dem Kapital

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Die bürgerliche Hegemonie bröckelt und die Rechte ist auf dem Vormarsch. Warum die liberale Moderne nicht mehr zu retten ist und was das für die Linke bedeutet, erklärt unser Gesprächspartner Raul Zelik. Nebenbei verrät er, warum man beim Fahrradfahren die Gesetze der Gravitation beachten sollte Interview: Martin Haller

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n der LINKEN tobt die Debatte über eine mögliche Regierungsbeteiligung auf Bundesebene. Ist Regieren die einzige Möglichkeit linke Forderungen durchzuset-

zen? Wenn man sich die jüngere Geschichte anschaut, müsste man die Frage eher umgekehrt formulieren: Haben linke Erfolge überhaupt etwas mit Regierungsbeteiligungen zu tun? Die Mitte-Links-Regierungen in Europa haben seit 1980 eher den Neoliberalismus vorangetrieben und verweisen somit auf das Gegenteil: ob nun Felipe González in Spanien, Tony Blair in Großbritannien oder Schröder-Fischer in Deutschland. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass soziale Kämpfe historisch auch konservative Regierungen zu Veränderungen gezwungen haben, die ich als »fortschrittlich« bezeichnen würde. Das stimmt für die Einführung der Versicherungssysteme unter Bismarck im 19. Jahrhundert genauso wie für die Energiewende unter Merkel. Reaktionäre oder progressive Transformationen haben also offensichtlich viel weniger mit der Zusammensetzung von Regierungen als mit dem Stand der gesellschaftlichen Mobilisierung zu tun. Deswegen muss es zentrale Aufgabe der Linken sein, soziale Kämpfe zu organisieren,

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zu verbinden und zu stärken – und eben nicht Verwaltungspersonal für den Staatsapparat zur Verfügung zu stellen. Wer etwas verändern will, muss auf Organisierung und soziale Kämpfe setzen. Umfragen zeigen aber, dass sich neunzig Prozent der Parteimitglieder DIE LINKE an der Regierung wünschen. Macht man es sich nicht zu einfach, wenn man die Option einer Regierungsbeteiligung grundsätzlich verneint? Ich verneine ja gar nichts, sondern verweise auf die Realität. Ich bin da altmodisch. Für mich besteht eine zentrale Aufgabe einer linken Organisation in der Aufklärung. Und in diesem Sinne müsste eine linke Partei den Illusionen ihrer Wählerinnen und Wähler eben auch mal widersprechen. Das Beispiel Syriza hat gerade erst wieder gezeigt, wie falsch es ist, unbegründete Hoffnungen auf Abkürzungen zu wecken. Das Versprechen, die Wahl einer Regierung – und nicht der Kampf der Vielen – könnte die Kräfteverhältnisse verändern, hat sich nicht erfüllt. Was bleibt, ist Enttäuschung. Die Bedeutung von Regierungen wird völlig überschätzt. Und wir unterschätzen unsere Macht – als Menschen, die Unruhe stiften, Konflikte provozieren und kämpfen – gesellschaftlich etwas in Bewegung zu setzen.

Auf Hegemoniekrisen gibt es immer zwei Antworten


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Raul Zelik Raul Zelik ist Schriftsteller, Übersetzer und Politikwissenschaftler. Seit 2016 gehört er dem Parteivorstand der LINKEN an.

Ein zentrales Argument der Befürworterinnen und Befürworter einer rot-rotgrünen Koalition ist, dass nur durch eine Abkehr von der neoliberalen Politik den Rassisten der AfD der Nährboden entzogen werden kann. Angesichts der Gefahr von rechts also doch in die Regierung? Das Argument überzeugt mich nun am allerwenigsten. Machen wir mal einen Schritt zurück und betrachten das große Ganze. Die globalen Migrationsbewegungen, die wachsende Verunsicherung und die Angst vor dem sozialen Abstieg, die geopolitischen Krisen und der Rechtspopulismus haben meiner Ansicht alle etwas gemeinsam: Sie sind Ausdruck einer heraufziehenden globalen Krise. Man könnte sagen, der Kapitalismus ist dabei, sich zu Tode zu siegen. Er hat alle Lebensbereiche und Weltregionen kolonisiert, aber kann jetzt mit einem wachsenden Teil der Weltbevölkerung nichts anfangen. Milliarden Menschen sind überflüssig. Und das ist der Grund für die anschwellende Hegemoniekrise des bürgerlichen Systems. Auf Hegemoniekrisen gibt es immer zwei Antworten: eine emanzipatorische und eine reaktionäre. Wenn die Linke jetzt den bürgerlich-liberalen Status Quo verteidigt, wird die extreme Rechte zur einzigen Alternative. Das Problem ist aber: Obwohl die liberale Moderne mit ihren sozialen und demokratischen Errungenschaften natürlich einen historischen Fortschritt gegenüber dem darstellt, was vorher war, ist sie nicht zu retten. Unsere Aufgabe ist nicht, ihren Kollaps zu verwalten, sondern eine emanzipatorische Alternative jenseits des Bestehenden sichtbar zu machen. Natürlich sollten wir zugleich die demokratischen und sozialen Errungenschaften verteidigen, die es heute gibt. Aber dafür brauchen wir nicht an der Regierung zu sein. Linke Regierungen könnten doch aber auch hilfreich sein, die Bedingungen für gewerkschaftliche Kämpfe und soziale Bewegungen zu verbessern. Lassen sich Regierungsbeteiligung und Protestpartei nicht auch in Einklang miteinander bringen? Ja, das könnten sie, wenn der Organisierungsgrad der Bevölkerung hoch wäre, das kritische Bewusstsein der Linken geschärft und die Macht der politischen Organisation gegenüber den Regierungskadern so groß, dass man die Leute im Apparat jederzeit zurückpfeifen könnte. Diese Bedingungen sind heute aber nicht gegeben. Deswegen wird eine Regierungsbeteiligung eher zu einer Demobilisierung von Protesten führen. Man kann nun natürlich bescheidener sein und argumentieren: Elke Breitenbach in

Berlin kümmert sich besser um Flüchtlinge als ihr Vorgänger Mario Czaja von der CDU, die Regierung Ramelow in Thüringen setzt dem Verfassungsschutz wenigstens Grenzen, während Abgeordnete wie Katharina König weiter gegen den Verfassungsschutz recherchieren. Ja, stimmt. Aber wir stehen, zumindest befürchte ich das, vor einem Zeitenbruch. Da sollten wir uns darauf konzentrieren, emanzipatorische gesellschaftliche Macht zu organisieren. Und etwas pathetisch würde ich sagen: Alles, was wir machen, müsste diesem Organisierungsgedanken untergeordnet sein. Ich kann nicht erkennen, dass DIE LINKE ihre Beteiligung in Parlamenten und Regierungen heute so diskutiert. Kannst du Beispiele dafür nennen, wie Reformen aus der Opposition heraus erkämpft wurden? Alle Errungenschaften in der kapitalistischen Welt – Sozialversicherungssysteme, Wahlrecht für Arbeiter und Frauen, der Antifaschismus nach 1945, die Entkolonisierung, die Öffnung des Bildungswesens, die ökologischen Transformationen – wurden durch soziale Kämpfe erzwungen oder aus der Gesellschaft heraus geschaffen. Die wenigsten kamen unter Links- oder Mitte-LinksRegierungen. Meistens waren diese Errungenschaften Antworten der Mächtigen auf die Möglichkeit eines radikalen Bruchs. Das erklärt im Übrigen auch, warum die Sozialdemokratie gemeinsam mit dem sozialistischen Lager unterging. Ihr Reformhorizont bestand nur solange es eine radikalere Gegenmacht gab, so deformiert diese Gegenmacht auch aussah. Unsere Aufgabe ist es, wieder eine Gegenmacht aufzubauen, wie es die Arbeiterbewegung, der Sozialismus und die Befreiungsbewegungen einmal waren. Ziemlich ambitioniert? Ja. Aber man kann halt auch nicht mit dem Fahrrad zum Mond fahren. Man muss schon die Gesetze der Gravitation berücksichtigen. Ich würde mir ja auch wünschen, es wäre alles viel einfacher. Als Beispiel für eine aktivistische Protestpartei wird häufig Podemos in Spanien angeführt, zu Recht? Mit Einschränkungen. Podemos ist seit der Gründung sehr stark auf die Führungspersonen zugeschnitten gewesen und hat einen klassischen Medienwahlkampf gemacht. Sie sind auf bemerkenswerte 21 Prozent gekommen, aber stecken jetzt in einer schweren Krise. Ich denke, es muss immer darum gehen, kollektive Bildungsprozesse zu stärken, in denen viele Menschen selbst aktiv werden. Am Anfang war Podemos das, aber dann haben die neuen Politkader schnell nur

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noch mitspielen wollen im System. Momentan hat man den Eindruck, dass es vor allem der AfD gelingt aus der Opposition heraus Druck aufzubauen und Erfolge zu erzielen. Woran liegt es, dass den Rechten gelingt, woran die LINKE meist scheitert? Weil die Rechte auf viel geringere Machtwiderstände trifft. Erinnert ihr euch, wie schnell die großen Talkshows Pegida-Sprecher einluden, während die Medien die größeren TTIP-Proteste lange Zeit eher totschwiegen? Ist euch nie aufgefallen, wie unterschiedlich Geheimdienste und Polizei gegenüber rechts und links agieren? Wie viele wichtige Zeitungsleute und Industrielle die AfD unter-

Die TTIP-Proteste wurden lange Zeit totschwiegen stützt haben, wie wenige die Linke? Und außerdem ist es natürlich auch für die Menschen selbst viel anspruchsvoller, alles in Frage zu stellen, was man ihnen beigebracht hat. In Deutschland durfte man lange Zeit nicht einmal »Kapitalismus« sagen. Hingegen leuchtet es dem Alltagsverstand sofort ein, dass Muslime und Ausländer an allem schuld sein sollen.

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© BUND / Jörg Farys / flickr.com / CC BY-NC

Trotz des Erstarkens der Rechten in zahlreichen Ländern gibt es auch gegenläufige Tendenzen, die eine linke Alternative sichtbar machen. Dazu gehören die Präsidentschaftskampagne von Bernie Sanders in den USA sowie das Phänomen Jeremy Corbyn in Großbritannien. Was kann die LINKE von diesen Beispielen lernen? Dass es darum geht, prinzipiell zu widersprechen. Dass wir einfacher reden müssen, weil Bildungszugang auch Bestandteil herrschender Macht ist. Dass wir aber nicht populistisch den Leuten nach dem Mund reden sollten, sondern die Wahrheit sagen müssen. Und ich meine, dass wir dabei nicht nur unserem Verstand, sondern auch unserem Herzen vertrauen sollten. Denn unsere stärkste Waffe ist die Empathie: das Mitgefühl, die Solidarität. Wenn wir uns darauf besinnen, werden wir irgendwann gewinnen. Sie war das entscheidende Werkzeug in der Evolution der Menschheit, und sie scheidet die Linke von der Rechten, die Kooperation von der

Unsere stärkste Waffe ist die Empathie

Am 17. September 2016 gehen 320.000 Menschen in sieben Großstädten gegen CETA und TTIP auf die Straße. Die Bundesregierung wird das Thema nicht aus dem Wahlkampf heraushalten können – eine gute Gelegenheit für DIE LINKE


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Sie schießen auf Andrej Holm und meinen den Koalitionsvertrag Der erzwungene Rücktritt des Berliner Staatsekretärs zeigt deutlich: SPDRechte, lokale Wirtschaftsgrößen und die konservative Presse werden alles tun, um einen echten Politikwechsel zu blockieren. DIE LINKE handelt blauäugig, wenn sie das ignoriert Von Georg Frankl und Stefan Bornost

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ach den Wahlen in Berlin im September zog die LINKE selbstbewusst in die Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen. Mit einer gewissen Berechtigung, denn die Sozialisten hatten deutlich zugelegt, während ihre Verhandlungspartner Verluste verkraften mussten. Mit dem Erfolg im Rücken konnten die Unterhändler einen Koalitionsvertrag vereinbaren, der zahlreiche Fortschritte und umfangreiche Reformen verspricht, darunter auch eine Wende auf dem heiß umkämpften Gebiet der Wohnungspolitik. Auf dieser Grundlage stimmten knapp 90 Prozent der Parteimitglieder für die Annahme des Koalitionsvertrags und den Gang in die Regierung. Anschließend ließ die neue Senatorin der Linkspartei für Stadtentwicklung und Bauen, Katrin Lompscher, eine kleine Bombe platzen: Zum Staatssekretär in ihrer Behörde berief sie den renommierten Gentrifizierungskritiker und Mietenaktivisten Andrej Holm – ein Signal an die Mieterbewegung, dass die LINKE es ernst meine mit einer Wohnungspolitik, die sich nach den Interessen der großen Mehrzahl der Mieterinnen und Mieter richtet. Dieses Signal ist natürlich auch bei denen angekommen, die sich in den vergangenen Jahren hemmungslos an den explodierenden Mieten bereichert haben. Bereits nach der Veröffentlichung des Koalitionsvertrags schäumte die Immobilienwirtschaft gegen »sozialistische« Preisvorgaben im privaten Wohnungsbau. Dirk Wohltorf, Vorsitzender des Immobilienverbands Deutschland in Berlin-Brandenburg, rief den neuen Se-

nat auf, sich aus dem Markt herauszuhalten. Der Koalitionsvertrag strotze nur so »von Misstrauen gegen die Marktkräfte«, stimmte Jacopo Mingazzini, Vorstandsmitglied des Wohnungsprivatisierers Accentro, mit ein. Und bezüglich Holm warnte der FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja: »Er steht der Hausbesetzerszene näher als einem Investor.« Gerade einmal sechs Wochen blieb Andrej Holm im Amt. Seine eigentlich längst bekannte Stasi-Vergangenheit war ein gefundenes Fressen und lieferte die Vorlage für die Angriffe der schwarz-blau-gelben Opposition und der Hauptstadtpresse. Statt sich vor ihren Staatssekretär zu stellen, fielen ihm bald auch die Koalitionspartner in den Rücken. Einer der ersten, die öffentlich in die Anti-Holm-Kampagne einstiegen, war Sven Kohlmeier von der SPD: »Nach den mir bekannten Tatsachen – hauptamtliche Mitarbeit beim MfS und Lüge im Lebenslauf – ist Herr Holm als Staatssekretär und politische Führungskraft für mich nicht tragbar«, erklärte der Rechtspolitiker bereits Mitte Dezember der Boulevardpresse. Holm war für Kohlmeier aber wohl auch persönlich nicht tragbar: Der Sozialdemokrat betreibt selbst eine Anwaltskanzlei, die sich in den Dienst von Immobilienspekulanten stellt: »Neubauwohnungen, Altbauwohnungen, Villen, Mietshäuser oder Wohn- und Geschäftshäuser sind besonders gefragte Immobilieninvestments«, heißt es auf der Website der Kanzlei. Und weiter: »Wir unterstützen Sie dabei, Ihre Traum-Immobilie in Berlin rechtlich abgesichert zu erwerben.« Ein Wechsel zu einer mieter-

Die Immobilienwirtschaft schäumte

Georg Frankl ist aktiv in der LINKEN BerlinNeukölln.

Stefan Bornost ist Redakteur von theorie21.

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freundlichen Wohnungspolitik à la Holm wäre wohl Gift für dieses Geschäftsmodell. Kohlmeier fällt in der Berliner SPD keineswegs aus dem Rahmen: Die Partei regiert die Hauptstadt seit beinahe drei Jahrzehnten mit und ist eng verbandelt mit der Immobilienszene. Nicht umsonst hat zum Beispiel der Immobilienmagnat Klaus Groth sie im Wahlkampf mit üppigen Spenden bedacht. Es war der heutige Bürgermeister Müller, der in seiner Zeit als Bausenator die Bebauung des Tempelhofer Feldes mit Luxuswohnungen gegen den erfolgreichen Widerstand der Anwohnerinnen und Anwohner durchsetzen wollte. Und auch in den Reihen der Berliner Grünen finden sich so manche mit engen Kontakten zur Hausbesitzerszene wie Marc Urbatsch, bis vor kurzem Geschäftsführer in der familieneigenen Operatio GmbH, eine Vermögensverwaltung mit Schwerpunkt auf Baurecht. Bei der Umkehr in der Berliner Wohnungspolitik auf die ehrliche Unterstützung von SPD und Grünen zu bauen, wäre reichlich naiv. Die Fortschritte im Koalitionsvertrag sind nicht der Einsicht der Koalitionspartner in die richtigen und guten Argumente der LINKEN zu verdanken, sondern dem Druck der Bewegungen in den vergan-

Holm ist nicht über seine Stasi-Vergangenheit gestürzt genen Jahren – Mediaspree, Tempelhofer Feld, Mauerpark, Oeynhausen und Mietenvolksentscheid – und dem Wahlergebnis der LINKEN, die diese Bewegungen im Wahlkampf am stärksten unterstützt und repräsentiert hat. »Sich gegenseitig beim Scheitern zuzusehen, wie es in der Großen Koalition der Fall war, darf es nicht wieder geben«, sagte Klaus Lederer noch vor Beginn der Koalitionsverhandlungen. Die Performance von Rot-RotGrün in der Causa Holm macht jedoch genau den Eindruck, als ob Sozialdemokraten und Grüne die LINKE in der Wohnungspolitik gerne scheitern sähen. Und nicht nur auf politischer Ebene wird der Koalitionsvertrag torpediert: Zum 1. Januar haben die landeseigenen Wohnungsunternehmen Mieterhöhungen von zumeist 10 bis 15 Prozent an über 20.000 Haushalte verschickt, obwohl der Koalitionsvertrag Steigerungen von maximal 2 Prozent im Jahr vorsieht. Ein klarer Angriff auf die Koalitionsvereinbarungen. Die Darstellung, Andrej Holm sei vor allen Dingen über seine Stasi-Vergangenheit gestürzt, täuscht. Als damals junger Auszubildender trug Holm für keines der von der Stasi begangenen Verbrechen die Verantwortung, noch kann man ihm heute irgendwelche Sympathien zur Repression in der ehemaligen DDR unterstellen. Nach seinem Rücktritt ist in mehreren Medien die verpasste Chance für eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit in der DDR beklagt worden. Dabei haben die meisten Verantwortlichen in Politik und Medien daran gar kein Interesse. Kaum etwas eignet sich besser als das Bild der Stasi-Partei, um die LINKE

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»Friede den Hütten, Krieg den Palästen«: Protest gegen Mietwucher und Zwangsräumungen in Berlin-Kreuzberg im September 2013

zu diskreditieren, ohne sich mit ihren Inhalten und Argumenten beschäftigen zu müssen. Dass SPD und Grüne diesem Spiel zusahen und es am Ende sogar mitspielten, wirft ein deutliches Licht auf das Vorhaben, mit R2G ein linkes Projekt für einen echten Politikwechsel zu initiieren, an welchem die drei Koalitionspartner auf Augenhöhe zusammenwirken. Regierungskoalitionen sind immer Zweckbündnisse, in denen die Beteiligten ihre eigenen Ziele, allem voran den Machterhalt, verfolgen. Bereits nach der ersten rot-roten Regierungsperiode 2002 bis 2006 erklärte der damalige Bürgermeister Klaus Wowereit mit Blick auf die Linkspartei.PDS: »Wir haben die PDS nicht hoffähig, wir haben sie klein gemacht, und wir werden sie noch kleiner machen.« Und in der Tat: Da die Führung der damaligen PDS Wowereits Kurs nichts entgegensetzte, stürzte die Partei in eine tiefe Krise. Bei der Abgeordnetenhauswahl im Jahr 2006 verlor sie 181.000 Stimmen und rutschte von 22,6 Prozent auf 13,4 Prozent. Fünf Jahre später verlor die LINKE noch mehr Stimmen und erreichte nur noch 11,7 Prozent. Daraufhin schmiedete Wowereit ein Bündnis mit der CDU. Nichts spricht dafür, dass die SPD-Spitze ihre Strategie geändert hat. »Wir beanspruchen zu Recht die Führungsrolle in der Koalition«, erklärte ihr Fraktionschef Raed Saleh im Januar. Wie soll die LINKE mit dieser Situation umgehen? Ein Blick nach Griechenland kann helfen, die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden: Auch die Reformregierung unter der Führung der Linkspartei Syriza war seit ihrem


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und Vermögenden, die dafür kürzer treten sollen, sondern auch für die anderen Parteien, die der Konkurrenz von der LINKEN keine wahrnehmbaren Erfolge durchgehen lassen wollen. Die LINKE darf sich trotz aller Widrigkeit nicht in eine Position der Schwäche drängen lassen. Andrej Holm hat ein Beispiel gegeben, wie linke Vorwärtsverteidigung unter rechtem Feuer aussehen kann: Noch in seiner Rücktrittserklärung rief er zu einem öffentlichen Strategietreffen auf, wo Konsequenzen und die Perspektiven für die Mieterbewegung diskutiert wurden. Und nach

© Uwe Hiksch / CC BY-NC-SA / flickr.com

Wir müssen die Regierung vor uns hertreiben

Start von Kräften umstellt, die keine sozialen Reformen wollten: Zuvorderst die EU-Troika unter deutscher Führung, aber auch die konservativ-sozialdemokratische Bürokratie im Staatsapparat und natürlich die parlamentarische Opposition. Gleichzeitig hegte die Bevölkerung hohe Erwartungen und zeigte wiederholt ihre Bereitschaft, aktiv für einen Wandel zu kämpfen. Aber Ministerpräsident Alexis Tsipras entschied sich dafür, die parlamentarischen und diplomatischen Gepflogenheiten und Abläufe zu respektieren. Er glaubte, in nicht-öffentlichen Verhandlungen kraft der besseren Argumente Schäuble und Co. von seinem Kurs überzeugen zu können. Doch die Troika wollte und konnte nicht nachgeben. Weniger aus ökonomischen Erwägungen – Griechenland wird seine Schulden niemals zurückzahlen können, das weiß auch Herr Schäuble – sondern aus politischen: Die öffentliche Demütigung und Nötigung einer Linksregierung sollte jegliche Hoffnung auf Wandel zunichtemachen und die Bewegungen demoralisieren. Schäuble und Merkel haben ein Exempel statuiert und deutlich gemacht, was droht, wenn die Bevölkerung sich wehrt. Tsipras hat die Chance der Mobilisierung der eigenen Kräfte – in Griechenland und darüber hinaus – verpasst und ließ sich zu einer 180-Grad-Wende erpressen. Im Ergebnis hat sich die Partei gespalten und ist in Umfragen abgestürzt. Die Berliner LINKE ist in einer ähnlichen Situation wie Syriza bei Regierungsantritt: In vielen Fragen weiß sie die Mehrheit der Stadt, insbesondere der Mieterinnen und Mieter, hinter sich. Ein politischer Kurswechsel wäre aber ein echtes Problem – nicht nur für die Unternehmen

seinem Rücktritt besetzten Studierende das Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität. Gemeinsam sind Studierende und Mieterinitiativen zum Roten Rathaus gezogen. In der Besetzung werden inzwischen auch die drohenden massiven Kürzungen an der Universität diskutiert. In dieser Situation kann die gesellschaftliche Linke – und darin die Partei DIE LINKE – an Stärke zulegen und sich Rückenwind verschaffen, wenn sie sich klar auf der Seite der Protestierenden positioniert. Ein wirklicher Politikwechsel gegen die Baumafia und die SPD-Rechte wird nicht durch linke Senatorinnen und ihre Staatssekretäre im Koalitionsausschuss unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgesetzt. Will die LINKE sich durchsetzen, so ist sie auf gesellschaftliche Mobilisierung angewiesen und muss diese daher selbst vorantreiben. Andernfalls droht die Wiederholung der Fehler, welche die PDS unter Wowereit machte. Damit Rot-RotGrün nicht zu einer Falle für die LINKE wird, muss der Druck auf die Regierung erhöht werden – die Auseinandersetzung um die Wohnungspolitik in Berlin ist hier von großer Bedeutung. Der Berliner Landesverband hat im Jahr 2016 stolze 722 Mitglieder gewonnen – viele davon sind jung und bereit, sich aktiv für eine andere Politik einzusetzen. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen, aber nicht im Parlament oder in Verhandlungszimmern, sondern auf den Straßen und Plätzen, in Schulen, Hochschulen und Betrieben. Dort müssen die Mitglieder der LINKEN eine aktive Rolle einnehmen, die über die Vermittlung der Regierungspolitik hinausreicht, oder wie es Andrej Holm am Schluss des öffentlichen Strategietreffens formulierte: »Wir müssen die Regierung jetzt vor uns hertreiben.« Denn obwohl der Koalitionsvertrag mit seinen zahlreichen Leerstellen und Mängeln in vielen Fragen nicht weit genug geht, gilt es jetzt, die verabredeten Fortschritte und Reformen gegen die zunehmenden Angriffe von Rechts zu verteidigen. ■

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Wie Sahra Wagenknecht es besser machen kann Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht will, dass die LINKE den Aufstieg der AfD bekämpft. Das ist richtig. Doch mit Warnungen vor »islamistischen Gefährdern«, der Forderung nach mehr Polizei und Obergrenzen für Geflüchtete wird das nicht gelingen. Eine Stellungnahme von marx21

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urzeit läuft eine Kampagne von CDU bis Grünen gegen den angeblichen AfD-Kurs der LINKEN unter Sahra Wagenknecht. Die politischen Gegnerinnen und Gegner der LINKEN versuchen gezielt, die Partei zu diskreditieren und im Vorfeld der Bundestagswahl zu beschädigen. Leider macht es ihnen die LINKE-Spitzenkandidatin Wagenknecht einfach. Anstatt den Antirassismus der Linkspartei im Kampf gegen den Aufstieg der Rechten ins Feld zu führen, wiederholt sie in Interviews auf wichtige Fragen Antworten der Regierenden. Mit der Warnung vor islamistischen Gefährdern, der Forderung nach mehr Polizei oder nach einer Obergrenze für Geflüchtete vertritt sie nicht das Programm ihrer Partei. Im Gegenteil: Solche Forderungen erhebt der politische Mainstream, den Sahra Wagenknecht eigentlich attackieren möchte. Von CDU-Innenminister Thomas de Maiziere über Noch-SPD-Chef Gabriel bis hin zur grünen Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt: Es herrscht inzwischen ein regelrechter Überbietungswettbewerb bei Vorschlägen zur inneren Sicherheit. Die LINKE darf dabei nicht mitmachen. Der Krieg gegen den Terror ist die Hauptursache für den Anstieg des Terrorismus. Zu Recht fordert deswegen die Linkspartei den Abzug der Bundeswehr aus dem Ausland und den Stopp jeglicher Waffenexporte. Ebenso hat sich die LINKE gegen die Verschärfung der Anti-Terror-Gesetze und der Asylgesetze sowie gegen den weiteren Ausbau des Überwachungsstaats ausgesprochen. Die Leitlinie der Partei ist: Nicht Geflüchtete oder offene Grenzen sind das Problem, sondern die unge-

rechte Weltordnung und Kriege. Konkret: Dass Milliarden für Bankenrettungen ausgegeben wurden, der Reichtum ungleich verteilt ist und Waffen exportiert werden, anstatt Fluchtursachen zu bekämpfen. Sahra Wagenknecht ist eine wichtige Vertreterin der LINKEN. Sie erreicht ein Millionenpublikum. Als Spitzenkandidatin hat sie auch eine besondere Verantwortung, das Programm der Partei nach außen zu vertreten. Das macht sie sehr gut, wenn sie die neoliberale Politik der aktuellen oder vergangenen Regierungen kritisiert, wenn sie die Heuchelei und den Verrat von Grünen und SPD herausarbeitet, oder wenn sie bei der Frage der Fluchtursachen die imperialistische Wirtschaftspolitik kritisiert, die für Hunger und Elend in großen Teilen Afrikas und Asiens verantwortlich ist. Falsch ist hingehen ihre Behauptung, dass die Politik der »unkontrollierten Grenzöffnung« von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Zusammenhang mit dem Terrorismus steht. Der Attentäter von Berlin hielt sich bereits seit Jahren im Schengen-Raum auf. Fast alle Attentäter von Paris waren französische oder belgische Staatsbürger. Keiner von ihnen war besonders gläubig, fast alle waren zuvor im kleinkriminellen Milieu aktiv. Was sie mit Anis Amri verband, waren ihre soziale Entwurzelung und Perspektivlosigkeit. Die Situation vieler Migranten und Geflüchteter ist durch die Erfahrung von Rassismus und der Kriege des Westens gegen muslimische Länder geprägt. Das macht es Gruppen wie dem IS einfach, Menschen zu rekrutieren. Insofern verschärft die Politik der Bundesregierung wie die Hetze der

Mehr Polizei stoppt keinen Terror

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Die LINKE sollte stattdessen deutlich machen, dass die Grenzen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten verlaufen. In Hessen hat die Partei vorgemacht, dass ein klarer antirassistischer Kurs nicht zu weniger Stimmen führen muss. So verurteilte sie in den letzten Wochen die Abschiebepolitik der Bundesregierung scharf und stellte sich auf die Seite der Betroffenen. In neusten Umfragen steht die LINKE in Hessen bei acht Prozent. Und eine solche Politik trägt Früchte über die Wahlarithmetik hinaus. Unter dem Druck der Solidaritätsbewegung mit Geflüchteten haben mehrere Bundesländer beschlossen, entgegen der Politik der Bundesregierung keine Menschen mehr nach Afghanistan abzuschieben. Unabhängig von den Umfragewerten darf die Linkspartei nicht zulassen, dass Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft und Geflüchtete gegeneinander ausgespielt werden. Rassismus ist kein Nebenthema, sondern muss von der LINKEN als eine Ideologie der Spaltung angegriffen werden, die alle Unterdrückten schwächt. Diese Ideologie der Spaltung richtet sich insbesondere gegen Muslimas und Muslime. Die islamfeindliche Hetze ist nach wie vor der wichtigste Antrieb für den Aufstieg der AfD. Die LINKE muss dem entgegenhalten: Nein zu Rassismus – Ja zur Religionsfreiheit ohne Wenn und Aber – Keine Diskriminierung. Selbst wenn alle Muslime in Deutschland heute zum Christentum konvertieren würden, gäbe es morgen noch niedrige Löhne, Armutsrenten, schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit und Hartz IV.

Die Art und Weise, wie über »Gefährder« diskutiert wird, ist durch diesen rassistischen Diskurs geprägt. Den sollte die LINKE nicht übernehmen. Die Einstufung von sogenannten Gefährdern ist völlig will-

Rassismus ist kein Nebenthema kürlich und politisch motiviert. So sind beispielsweise von 542 Gefährdern nur 15 dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet. Der Rest sind angebliche islamistische Gewalttäter. Der aktuelle Sicherheitsdiskurs vergiftet das gesellschaftliche Klima. Er folgt demselben Rassismus und trägt dazu bei, dass nach dem Anschlag in Berlin Muslime und Geflüchtete unter Generalverdacht gestellt werden. Die LINKE muss zeigen, wie gefährlich diese Stimmungsmache ist, anstatt sich daran zu beteiligen. Politikerinnen und Politiker, aber auch Teile der Medien haben mit ihrem Gerede über die angebliche Jahrhundertwelle an Geflüchteten und beschränkte Aufnahmekapazitäten den Neonazis und Rassisten neuen Zulauf beschert. Aus den Worten von Vielen werden Taten von Einigen: 2016 gab es im Durchschnitt täglich drei gewalttätige Angriffe auf Geflüchtete. In einer Zeit, in der in Deutschland die rassistisch motivierte Gewalt drastisch zunimmt und 598 Rechtsextreme, gegen die ein Haftbefehl vorliegt, auf freiem Fuß sind, sollte die LINKE sich nicht an Spekulationen über die Gefahr, die von Islamisten ausgeht, beteiligen. Wenn der jetzige Außenminister Sigmar Gabriel fordert: »Salafistische Moscheen müssen verboten, die Gemeinden aufgelöst und die Prediger ausgewiesen werden, und zwar so bald wie möglich«, sollten Politikerinnen und Politiker der LINKEN nicht in die selbe Kerbe schlagen. Es ist die Aufgabe von Linken, Rassismus gegen religiöse Minderheiten zurückzuweisen, ungeachtet dessen, wie sympathisch oder unsympathisch ihr einzelne Gruppierungen sein mögen. Die Linkspartei sollte zu einer differenzierten Analyse des Salafismus in Deutschland

© Wikimedia

AfD das Problem: Mehr Rassismus und mehr Krieg werden zu mehr Terror führen. Das müsste Sahra Wagenknecht viel deutlicher formulieren. Geht es um geflüchtete Menschen in Deutschland, verliert Sahra Wagenknecht an Schärfe gegenüber der Politik der Bundesregierung. Wenn sie behauptet: »Wer sein Gastrecht missbraucht, der hat sein Gastrecht eben auch verwirkt«, oder: »Natürlich gibt es Kapazitätsgrenzen, wer das leugnet, ist doch weltfremd«, wiederholt sie einen alten Fehler der Linken. Ihr Credo: Solange es in Deutschland nicht ausreichenden sozialen Wohnungsbau und keine Vollbeschäftigung gibt, sollten möglichst wenige Geflüchtete nach Deutschland kommen. Denn das ebne nur dem Lohndumping den Weg und nütze dem Kapital und bereite so dem Rassismus den Boden. Eine solche Argumentation ist nicht rassistisch – wie ihr manche Linke vorwerfen –, aber sie ist auch nicht internationalistisch-sozialistisch, sondern übernimmt die nationalstaatlich-sozialdemokratische Sichtweise, die von scheinbaren nationalen und nicht von Klasseninteressen ausgeht. Die von ihr behaupteten Kapazitätsgrenzen sind die Grenzen kapitalistischer Verhältnisse, nicht die tatsächlich vorhandener Reichtümer.

Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag: Sie ist die wohl prominenteste Vertreterin der Partei, aber ihre Positionen sind alles andere als unumstritten

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beitragen. Der Blick auf junge Männer und Frauen, die sich konservativen oder reaktionären Strömungen des Islams zuwenden, ignoriert meist die sozialen Ursachen dafür. Wer das Wachstum von salafitischen Strömungen im Islam nur als irrational abstempelt und nach sicherheitspolitischen Antworten ruft, blendet aus, dass die politisch Verantwortlichen in Deutschland mit ihrer verfehlten Asylgesetzgebung, mit der Diskriminierung junger Menschen mit nichtdeutschen Namen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem und nicht zuletzt mit ihrer Unterstützung für die US-Kriege im Nahen

Freiheit stirbt mit Sicherheit Osten diesen Zulauf selbst mit zu verantworten haben. Davon abgesehen sind die salafitischen Gläubigen eine Minderheit innerhalb der Minderheit und zudem keine homogene Gruppe. Dass der Salafismus in Deutschland hegemonial werden könnte, ist höchst unrealistisch: Er wird niemals in der Lage sein, über gesellschaftliche Machtverhältnisse zu entscheiden. Der Rassismus hingegen ist es bereits, denn er spaltet schon jetzt die Gesellschaft in ein »Ihr« und ein »Wir«, in Muslime und Nicht-Muslime und verbreitet Misstrauen und Hass. Nach jedem Terroranschlag wird der Ruf nach schärferen Sicherheitsgesetzen und dem Ausbau des Sicherheitsapparats lauter. Das sich neben Sahra Wagenknecht auch andere führende Politikerinnen und Politiker der LINKEN daran beteiligen ist ein Fehler. In Berlin hat Rot-Rot-Grün jetzt sogar eine millionenschwere Aufrüstung der Polizei beschlossen: Neun Millionen Euro stehen für die angeblich 12.000 fehlenden Dienstwaffen sofort zur Verfügung und 8,8 Millionen Euro für neue Maschinenpistolen. Doch diese Politik der inneren Aufrüstung und Militarisierung wird den Terrorismus und die Gewalt nicht eindämmen. Im Gegenteil: Nach den Terroranschlägen in Brüssel schickte Frankreich weitere 1600 Polizistinnen und Polizisten auf die Straße. Den Anschlag von Nizza hat dies nicht verhindert. Aber als dann hunderttausende Französinnen und Franzosen gegen die neoliberalen Arbeitsmarktreformen der Regierung auf die Straße gingen, war die Polizei zur Stelle und ging mit brutaler Härte gegen die Protestierenden vor. Wer Terror und Gewalt verhindern möchte, sollte nicht nach mehr Polizei rufen. Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaft an der Akademie der Polizei in Hamburg, sagte nach den Anschlägen und dem Amoklauf in Bayern im Sommer 2016 gegenüber dem Freitag: »Horst Seehofer hat eine signifi-

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kante Aufstockung in Bayern angekündigt. Und der Seeheimer Kreis in der SPD fordert 20.000 neue Polizisten. Kein Mensch fordert aber 20.000 Sozialarbeiter, Psychologen oder Integrationsspezialisten. Wenn wir die einstellen würden, hätten wir wohl bessere Erfolge.« Die Polizei ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Tagtäglich gibt es Gewalt die von Polizistinnen und Polizisten ausgeht. Die Taz schreibt: »Über 2.100 Polizisten wurden 2014 wegen Gewalttätigkeit angezeigt. Nur 33 wurden angeklagt. Ihre Opfer hingegen landen oft vor Gericht.« Besonders betroffen von Polizeigewalt sind Geflüchtete und Zugewanderte in Deutschland. Das reicht von selektiven Kontrollen, körperlichen, psychischen und sexuellen Misshandlungen bis hin zu Mord. Die Wahrnehmung rassistischer Polizeigewalt in der Öffentlichkeit ist in Deutschland sehr gering. Nur wenige Fälle werden von den Medien und der Politik aufgegriffen und gelangen an eine breite Öffentlichkeit. Die Aufgabe der Polizei ist nicht der Schutz der Bevölkerung. Im Gegenteil: Die Polizei ist Teil des staatlichen Unterdrückungsapparats. Sie soll die Entscheidungen der Parlamente – vom Bau eines Bahnhofs wie bei »Stuttgart21« bis hin zur Abschiebung von Geflüchteten – dort durchsetzen, wo es Widerstand dagegen gibt. Die LINKE sollte für eine radikale Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und ein Ende der imperialistischen Außenpolitik eintreten, statt für einen stärkeren Staat und mehr Polizei.


© Jakob Huber

Keine Aktion ohne Fraktion: Mandatsträger der LINKEN sind bei den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt dabei – sie landen später teilweise im Polizeikessel. Statt mehr Polizei zu fordern, hat DIE LINKE die Aufgabe Protestbewegungen und Klassenkämpfen zu unterstützen und aufzubauen

Sahra Wagenknechts Bereitschaft, diejenigen Teile der Arbeiterklasse, die auch für rechte und rassistische Antworten offen sind, für eine linke Perspektive zu gewinnen, ist richtig. Allerdings hilft es nicht, dafür den Kampf gegen Rassismus oder andere Formen der Unterdrückung wie Sexismus oder Homophobie hintanzustellen. Für einen Großteil der Klasse sind genau diese Unterdrückungsmechanismen schmerzhafte Alltagserfahrung. Sie drücken sich in alltäglicher Gewalt und Ausgrenzung aus, wie auch in niedrigeren Löhnen und geringeren Chancen auf sozialen Aufstieg. Die LINKE muss denjenigen eine Stimme geben, die keine Stimme haben. Der Kampf gegen Rassismus und der Kampf um soziale Gerechtigkeit gehören zusammen. Die LINKE kann im Wahlkampf klarmachen, dass Menschen, die in Deutschland von Hartz IV betroffen sind oder zu Niedriglöhnen arbeiten, keinen Cent mehr in der Tasche haben, wenn Menschen abgeschoben werden oder weniger Geflüchtete nach Deutschland kommen. Die deutsche Volkswirtschaft ist eine der reichsten der Welt. Niemand müsste arbeitslos oder arm sein. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der die oft genannte Grenze der Belastbarkeit noch nicht annähernd erreicht ist. Die angeblich beschränkten Aufnahmekapazitäten, von denen heute oft gesprochen wird, sollen von der seit Jahren stattfindenden Ausplünderung der öffentlichen Haushalte ablenken. Die Zukunft der öffentlichen Daseinsvorsorge ist tatsächlich bedroht, allerdings nicht von Flücht-

lingen, sondern von einer Politik im Interesse der Reichen, Banken und Konzerne. Antirassismus und Antikapitalismus müssen zum Profil der LINKEN gehören. Die Partei und all ihre Funktionsträgerinnen und Abgeordneten haben eine große Verantwortung. Sie ist in Deutschland für viele Millionen Menschen eine Alternative zum Neoliberalismus, Rassismus und Militarismus der etablierten Parteien. Eine geschwächte LINKE wird niemandem nützen, der gegen den Rechtsruck kämpfen will. Wenn die LINKE als radikale Opposition gegen Kapital, Rassismus und herrschenden Politikbetrieb erkennbar wird, kann sie gewinnen. So sind die Unterstützung und politische Zuspitzung von Klassenkämpfen Aufgaben der LINKEN. Die Kampagne der Partei »Das muss drin sein« bietet die Möglichkeit, schon jetzt aktiv zu werden. Genauso wie die »Das muss drin sein«-Kampagne das soziale Profil der LINKEN schärft und mit echten Auseinandersetzungen verbindet, sollten die Aktivitäten im Rahmen von »Aufstehen gegen Rassismus« das zentrale Moment für unseren Kampf gegen die Demagogen und Brandstifter der AfD sein. Es gilt, beide Elemente in einem bewegungsorientierten Wahlkampf zu bündeln und damit die Menschen zu ermutigen, selbst aktiv zu werden. So kann sich ein anderes Lager formieren: in einem Lagerwahlkampf unten gegen oben, der aus mehr besteht, als alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen – nämlich darin, selbst für eine bessere Welt zu kämpfen. ■

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Weihnachten | War jesus ein roter?

Niemand erwartete die Revolution © Wikimedia

Der russische Zar Nikolaus II. nach seinem Sturz im März 1917

In der Oktoberrevolution von 1917 gelang es der Arbeiterbewegung erstmals, die Macht zu übernehmen. Doch ohne den Aufstand vom Februar hätte es sie nicht gegeben

Stefan Ziefle ist Historiker und Stadtverordneter der LINKEN im hessischen Wächtersbach.

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Von Stefan Ziefle

m Januar 1917 trat der russische Revolutionär Lenin bei einer Versammlung junger Arbeiterinnen und Arbeiter in seinem Schweizer Exil auf. In seiner Rede vertrat er die Ansicht, Europa gehe »schwanger mit der Revolution«. Der Erste Weltkrieg dauerte da bereits über zwei Jahre. Die Zweite Internationale, die internationale Vereinigung der sozialistischen Parteien, war bei seinem Beginn zerbrochen. Wie die deutsche SPD und die ihr angegliederten Gewerkschaften im Rahmen des sogenannten »Burgfriedens« hatten auch in fast allen anderen kriegführenden Ländern die Organisationen der Arbeiterbewegung jeglichen Klassenkampf

eingestellt, um den Sieg »ihrer« herrschenden Klasse nicht zu gefährden. Insofern schien Lenins Vorhersage überraschend, dass in den kommenden Jahren »eben im Zusammenhange mit diesem Raubkriege [...] Volkserhebungen in Europa unter der Führung des Proletariats« entstehen würden, auch wenn er einschränkend hinzufügte: »Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben.« Doch sechs Wochen später war es soweit. In der russischen Hauptstadt Petrograd begann eine Welle von Erhebungen, die erst den Zaren, dann die Herrschaft des Kapitals in Russland und schließlich,


Weihnachten | War jesus ein roter?

zwanzig Monate später, den deutschen Kaiser stürzte und den Krieg beendete. Niemand erwartete an diesem 23. Februar eine Revolution. Sozialistinnen und Sozialisten feierten den Internationalen Frauentag (nach dem in Mitteleuropa gültigen gregorianischen Kalender war es der 8. März, Anm. d. Red.). Diese Tradition war im Jahr 1910 nach einem Aufruf Clara Zetkins, der führenden sozialistischen Frauenpolitikerin Deutschlands, begründet worden. Die sozialistischen Gruppen im Petrograder Untergrund begingen diesen Tag mit Flugblättern, Reden und Versammlungen, riefen aber nirgendwo zu Streiks auf, weil die Zeit für Kampfhandlungen noch nicht gekommen schien. Aus Wut über die Nahrungsmittelknappheit traten die Textilarbeiterinnen, deren Ehemänner häufig in der Armee dienten, dennoch in den Streik und marschierten durch die Fabrikbezirke. Ein Arbeiter der Maschinenfabrik »Ludwig Nobel« erinnerte sich später: »Wir konnten Frauenstimmen hören: ›Nieder mit den hohen Preisen!‹ ›Schluss mit dem Hunger!‹ ›Brot für die Arbeiter!‹ Eine unübersehbare Menge kämpferisch gestimmter Arbeiterinnen füllte den Weg. Diejenigen, die unserer ansichtig wurden, begannen mit den Armen zu wedeln und riefen: ›Kommt raus!‹ ›Legt die Arbeit nieder!‹ Schneebälle flogen durch die Fenster. Daraufhin schlossen wir uns der Revolution an.« Am folgenden Tag war bereits die Hälfte der 400.000 städtischen Arbeiter Teil der Bewegung, sie formierten sich zu Demonstrationszügen und marschierten in das Stadtzentrum. Die Parole »Brot« wich den Losungen »Nieder mit der Selbstherrschaft« und »Nieder mit dem Krieg«. Bewaffnete Polizeieinheiten und kasernierte Soldaten, die auf ihren Fronteinsatz warteten, griffen die Demonstranten an. Aber am vierten Streik- und Demonstrationstag verweigerten die Soldaten in den Kasernen den Befehl. Die Arbeiter- und Soldatenmassen mischten sich, strömten mit ihren Gewehren und roten Fahnen auf die Straßen und nahmen Polizisten und Regierungsbeamte fest. In Moskau und anderen russischen Städten entstanden ähnliche Bewegungen. Die Generäle erklärten dem Zaren am 1. März, ihm bleibe keine andere Wahl als abzudanken, wenn die Ordnung gewahrt bleiben solle, was er am 3. März auch tat.

Der Krieg hatte die Arbeits- und Lebensbedingungen der überwältigenden Mehrheit der Menschen in Russland deutlich verschlechtert. Sie sollten durch verstärkte Anstrengungen und Entbehrungen den Sieg ermöglichen. Und während Hunger sich in den Arbeitervierteln breitmachte, starben täglich Arbeiter und Bauern an der Front. Industrielle, Adelige, die Hofclique um die Zarin und Spitzenfunktionäre im Staatsapparat dagegen bereicherten sich am Krieg und schwelgten in Luxus. Doch Unzufriedenheit allein reicht nicht für eine Revolution. Dazu ist auch das Selbstbewusstsein notwendig, etwas verändern zu können. Es bedarf der Initiative derer, die den ersten mutigen Schritt machen. Da diese in solchen Fällen anderes zu tun haben als Tagebücher zu schreiben, ist wenig bekannt über die Personen, die an hunderten Orten zu Streiks oder Demonstrationen aufriefen. Aber wo die Personen bekannt sind, erwiesen sie sich als organisierte Sozialistinnen und Sozialisten. Insofern ist »Spontanität« nicht mit der Abwesenheit von Organisationen zu verwechseln. Die Mitglieder der Partei der Bolschewiki in den Betrieben konnten spontan eine führende Rolle übernehmen, obwohl die Parteiführung durch die Ereignisse überrascht war und Tage brauchte, um zu reagieren. Sie konnten das einerseits, weil sie – anders als die Spitze ihrer eigenen Partei – die Stimmung in den Betrieben selbst erlebten, und andererseits – im Gegensatz zu den Anhängern der anderen

Die Bewegung war spontan entstanden. Doch auch wenn keine Partei die Revolution geplant oder zu ihr aufgerufen hatte, kam sie doch nicht aus dem Nichts.

© Wikimedia

Revolution sollte den Krieg stoppen

Oben: Demonstration von Arbeitern des Putilowwerks in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg, während der Februarrevolution Unten: Plakat der Bolschewiki zur Warnung an die europäischen Monarchien: Ein russischer Arbeiter bittet die gekrönten Häupter auf dem unbesetzten Thron des Zaren Platz zu nehmen, aus dem eine Metallspitze ragt

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Theorie | Ist Marx noch aktuell?

Beerdigung der Kronstädter Opfer der Februarrevolution in der Marinekathedrale von Kronstadt

Unzufriedenheit alleine reicht nicht Parteien in den selben Betrieben – als Bolschewiken über eine größere Klarheit in den entscheidenden politischen Fragen verfügten.

SERIE marx21 begleitet das Jubiläum der Russischen Revolution mit einer Serie. Im nächsten Heft folgt ein Artikel über die Doppelherrschaft von kapitalistisch-bürgerlicher Duma und proletarischrevolutionären Sowjets. Lenin plädierte bereits im April dafür, dass die Räte die Macht vollständig übernehmen sollten – seine Genossen erklärten ihn für verrückt. Für weitere Artikel zur Revolution lohnt sich außerdem ein Blick auf unsere Website: www. marx21.de.

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Diese politischen Fragen waren der Krieg und der Zarismus. Die beiden großen Parteien der russischen Arbeiterbewegung, Menschewiki und Bolschewiki, unterschieden sich in beiden Fragen erheblich. Die Menschewiki hatten keine einheitliche Position zum Krieg. Dementsprechend zögerten sie, Aktionen zu unterstützen, die zu einer militärischen Niederlage führen könnten. Die Bolschewiki hingegen sahen den Krieg als einen imperialistischen Krieg, bei dem jede Seite ihre imperialistischen Ziele verfolgte und auf jeder Seite die Arbeiter den Preis dafür zu zahlen hatten. Sie lehnten den Krieg entschieden ab und nahmen deshalb keine Rücksicht auf die Kriegsführung. Im Gegenteil: Für sie war die Revolution ein Mittel, den Krieg zu beenden und die Waffen gegen die eigenen Herrscher zu richten. In der Frage, wie der Zarismus zu stürzen sei, waren die Differenzen nicht ganz so offensichtlich. Die Menschewiki betrachteten Russland als ein feudales Land und die Revolution gegen den Zaren als eine Aufgabe des Bürgertums. Das Ziel der Revolution sollte danach ein moderner Kapitalismus mit dazu passender Regierungsform sein: eine bürgerliche, parlamentarische Demokratie. Die Bolschewiki schätzten die Lage ähnlich ein, aber mit einem ent-

scheidenden Unterschied: Sie zogen aus den Erfahrungen der gescheiterten Revolutionen von 1848 in Frankreich und Deutschland den Schluss, dass das Bürgertum zwar Demokratie bevorzuge, aber aus Angst vor dem politischen Erstarken der Industriearbeiterklasse auch mit einer Diktatur leben können, solange seine Kontrolle über die Produktion und ihr Reichtum unangetastet bleibe. Die russischen Erfahrungen der vorhergehenden Jahrzehnte sprachen für diese Einschätzung. Die politischen Parteien des Bürgertums strebten zwar Reformen des Zarismus an, die ihnen selbst mehr politische Mitsprache ermöglichen würden, aber stürzen wollten sie den Zaren nicht. Eine ihrer führenden Leute, Michail Rodsjanko, erzählte später: »Die gemäßigten Parteien haben die Revolution nicht nur nicht gewollt, (…) sie haben sich vor ihr einfach gefürchtet.« Diese Erkenntnis vor Augen meinten die Bolschewiki, auch wenn die Revolution erst einmal eine bürgerliche sein müsse, auch wenn der Kapitalismus erst einmal etabliert werden müsse, trotzdem die Arbeiter die treibende Kraft der Revolution sein würden. Sie würden den Anfang machen, sie würden mit ihren Organisationen und Aktionen die Ziele der Revolution durchsetzen, möglicherweise auch im Interesse des Kapitals, aber in jedem Fall gegen dessen Willen und Widerstand. Die Bolschewiki änderten im Laufe des Jahres 1917 diese Position, aber sie ermöglichte ihnen erst einmal, die Revolution ohne Rücksicht auf mögliche bürgerliche Bündnispartner voranzutreiben. Die Februarrevolution brachte nach dem Sturz des Zaren zwei Machtzentren hervor: Auf der einen Seite gab es eine Regierung, die von jenen bürgerlichen Parteien der Duma gebildet wurde. In diesem nach Klassenwahlrecht gewählten alten zaristischen Parlament saßen überwiegend Großgrundbesitzer und Industrielle mit dem Fürsten Lwow als Regierungschef. Auf der anderen Seite standen die Arbeiterdelegierten, die sich in einem Sowjet, einem Arbeiterrat nach dem Vorbild der russischen Revolution von 1905 versammelten. Die Arbeiterdelegierten trafen sich anfangs nur, um die Aktivitäten der verschiedenen Arbeitergruppen aufeinander abzustimmen. Als aber auch die aufständischen Regimenter ihre Delegierten schickten, wurden die Sowjets zum Brennpunkt der revolutionären Bewegung. Ihre gewählte Exekutive übernahm fortan die Verwaltung der Hauptstadt und anderer Städte. Faktisch wurde sie zur Regierung der Revolution. Diese Arbeiter- und Soldatenregierung war jedoch nicht bereit, die Macht zu übernehmen, sondern wartete auf die Dumapolitiker. Diese »Doppelherrschaft« prägte die politischen Auseinandersetzungen der kommenden Monate. ■


KULTUR | DER JUNGE KARL MARX

Angetrieben vom Willen die Welt zu verändern: Jenny Marx (Vicky Krieps), Karl Marx (August Diehl) und Friedrich Engels (Stefan Konarske)

»Eine Nacht im Gefängnis wird uns allen guttun« Der neue Film »Der junge Karl Marx« des Regisseurs Raoul Peck ist ab März 2017 in den deutschen Kinos zu sehen. Wir haben ihn schon gesehen und sind begeistert

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n einem Wald sammeln zerlumpt aussehende Menschen Brennholz. Sie klauben Zweige und Reisig vom Boden auf. Schnitt. Eine bewaffnete Reiterschar bricht durch den Wald. Sie macht Jagd auf die holzsammelnden Menschen. Sie haben kein Erbarmen mit ihnen. Ein Teil der Holzsammelnden verliert sein Holz, ein anderer Teil sein Leben. Aus dem Off ist während der kompletten Sequenz eine Stimme zu hören, die einen Text über Fragen des Holzdiebstahls verliest. Sie erläutert, dass das Aufsammeln von Reisig kein Diebstahl sei, da das Holz schon vom Eigentum, dem Wald, getrennt sei. Wohingegen das Abschneiden von Zweigen und Ästen von Bäumen ein gewaltsames Abtrennen vom Eigentum und damit Diebstahl darstelle. Die Ausführungen enden mit der Feststellung: »Das Volk sieht die Strafe, aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist.« Diese Sätze stammen von Karl Marx, der sie am 25. Oktober 1842 in einem

Artikel zu den »Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz« in der Rheinischen Zeitung veröffentlichte. Mit der beschrieben Szene beginnt der Film »Der junge Karl Marx« des Regisseurs Raoul Peck. Marx war, als er in die »Debatte über den Holzdiebstahl« eingriff, Redakteur der Kölner Zeitung. Marx und seine Mitredakteure waren zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt, sozialistische Revolutionäre zu sein. Ein Teil der Redaktion um Moses Heß bestand aus Junghegelianern, ein anderer Teil, zu dem auch Marx gehörte, waren bürgerliche Radikaldemokraten. Sie versuchten, eine bürgerliche demokratische Opposition gegen den preußischen Absolutismus aufzubauen, ohne dabei die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen. Marx sagte später über seine Zeit bei der Rheinischen Zeitung, »[dort] kam ich zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen«. Die »Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz« stellten einen Wendepunkt in Marx’ politischer Entwicklung dar. Er erkannte,

Vom Holzdiebstahl zum Sozialismus

Lisa Hofmann ist Mitglied des hessischen Landesvorstands der LINKEN und Redakteurin von marx21.

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als er sich mit den unterschiedlichen Positionen zur Verschärfung der Gesetze gegen die Holzdiebe beschäftigte, dass sowohl die industriellen Kapitalisten, die den Absolutismus ablehnten, als auch die feudalen Land-und Waldbesitzer, die den Absolutismus verteidigten, ein gemeinsames Interesse hatten: die Aufrechterhaltung des Privateigentums. Marx erinnerte sich später, dass ihn die Beschäftigung mit dem Holzdiebstahl und den Gesetzen dagegen »von der reinen Politik zu den ökonomischen Bedingungen brachte, und auf diese Weise zum Sozialismus«.

Keine abstrakten Ideen, konkretes Handeln

© Wikimedia

Ein Straßenjunge bettelt bei einer wohlhabenden Frau nach etwas zu essen, doch sie hat keinen Blick für ihn übrig. Die sozialen Gegensätze in den frühen englischen Industriemetropolen zu Marx’ Zeiten waren gewaltig

Weiterlesen Alex Callinicos Die revolutionären Ideen von Karl Marx VSA Verlag Hamburg, 2011 16,80 Erhältlich über marx21.

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Später ist der junge Marx des Films, dargestellt von August Diehl, in den Redaktionsräumen der Rheinischen Zeitung zu sehen. Die preußische Polizei hat das Gebäude umstellt, und die anwesenden Redakteure sind in hellem Aufruhr. Sie verdanken den Aufmarsch der Polizei Marx‘ Artikel über den Holzdiebstahl und sind nicht besonders erfreut darüber. Marx verteidigt seinen Artikel und sein Handeln, das darauf hinausläuft, immer wieder den Staat herauszufordern. Die anderen Redakteure versuchen, auf ihn einzuwirken, sich doch besser der Zensur zu unterwerfen und klein beizugeben. Die Szene endet damit, dass Marx seinen Kollegen mitteilt: »Eine Nacht im Gefängnis wird uns allen guttun«, um dann mit den Worten »Ich wäre dann so weit, meine Herren« der Polizei die Tür zu öffnen. Daraufhin wird die gesamte Redaktion verhaftet. In einer anderen Szene

ist eine Spinnerei in Manchester zu sehen. Dort arbeiten ausschließlich Frauen und Kinder an den Maschinen. Eine Gruppe bessergekleideter Männer, offensichtlich die Chefs der Spinnerei, betreten die Maschinenhallen. Der Vorarbeiter versucht, die junge Irin Mary Burns beim Besitzer der Spinnerei, Friedrich Engels, wegen aufrührerischen Verhaltens anzuschwärzen. Daraufhin ergeht sich die Gruppe gut gekleideter Männer in rassistischen und sexistischen Äußerungen über die irischen Arbeiterinnen. Mary gerät über dieses Verhalten in Rage und ruft, wenn man was von ihr wolle, könne man auch direkt mit ihr sprechen, sie hätte auch einen Mund. Als sie die Aufmerksamkeit der Männer hat, beginnt sie ihnen ihren Rassismus gegenüber den Irinnen vorzuwerfen und erzählt, dass eine der Arbeiterinnen an einer der Maschinen alle 10 Finger verloren habe und dass die Bezahlung für eine derart riskante Arbeit purer Hohn sei. Es entsteht ein Wortgefecht zwischen ihr und dem Spinnereibesitzer, das damit endet, dass er sie entlässt. Mary verlässt die Maschinenhalle und feuert im Gehen ihre Arbeitsschürze dem Spinnereibesitzer vor die Füße. Daraufhin verlässt auch ihre Schwester die Spinnerei und spuckt, als Ausdruck ihrer Verachtung, Friedrich Engels im Gehen vor die Füße. Engels’ Sohn, der ebenfalls Friedrich heißt, ist Prokurist der Spinnerei und wohnt dieser Szene mit wachsendem Entsetzen bei. Er versucht, die Frauen gegenüber seinem Vater zu verteidigen, allerdings ohne Erfolg. Daraufhin verlässt auch er die Spinnerei und sucht Mary Burns im Armenviertel von Manchester. Er gerät in ein irisches Trinkgelage und sucht Kontakt zu den Arbeitern, indem er ihnen erzählt, er verfasse ein Buch über die Lage der Arbeiter in England und brauche dafür Informationen. Die irischen Arbeiter trauen dem gut gekleideten Fabrikantensohn nicht über den Weg und verprügeln ihn, nachdem er sich weigerte zu gehen. Diese Szene, die das Elend der Arbeiterinnen in den Spinnereien und Armenvierteln Englands und den unverhohlenen Rassismus gegenüber den Iren, aber auch Friedrich Engels’ wachsenden Abscheu gegenüber der eigenen Klasse darstellt, gehört zu den eindrücklichsten des gesamten Films. Friedrich Engels und Mary Burns werden ein Paar. Mary ermöglicht erst Engels und später auch Marx Zugang zum Proletariat, dem sie beide selbst nicht entstammen, und Engels verfasst sein Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«. Karl Marx befindet sich mittlerweile mit seiner Frau Jenny und ihrem ersten Kind im Exil in Paris. Sie leben fast völlig mittellos und versuchen, sich mit gelegentlichen Artikeln über Wasser zu halten. Immer wieder nehmen sie an Versammlungen der frühen Sozialisten um Pierre-Joseph Proudhon teil. Diese Versammlungen zeichnen sich vor allem dadurch


KULTUR | DER JUNGE KARL MARX

Im Film »Der Junge Karl Marx« ist es Jenny Marx, die immer wieder die zentralen Fragen auf das Wesentliche herunterbricht – wenn sie beispielsweise nach einem Treffen mit Proudhon und Bakunin erklärt, dass sie es gar nicht erwarten könne, die alte Ordnung einstürzen zu sehen. Oder wenn sie Marx und Engels daran erinnert, dass sie mit der Mobilisierung des Proletariats über eine riesige unbezwingbare Armee verfügen würden. Dass es für viele der Proletarierinnen um mehr als um bloße Befreiung von der Lohnarbeit ging, wird in einem Gespräch zwischen Jenny und Mary über ihre Beziehungen deutlich. Mary vertritt in diesem Gespräch die Auffassung, dass zur Freiheit auch eine sexuelle Befreiung und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern gehören. Sie ist mit Friedrich Engels nicht verheiratet, möchte sein Geld nicht haben und hat keine Kinder mit ihm.

© Wikimedia

Illustration der »Pyramide des kapitalistischen Systems« aus dem Jahr 1911. Oben stehen Kapital und Adel (»Wir beherrschen dich«), gefolgt vom Klerus (»Wir täuschen dich«), dem Militär (»Wir schießen auf dich«) und der bürgerlichen Gesellschaft (»Wir essen für dich«). Ganz unten stehen die arbeitenden Klassen (»Wir arbeiten für alle«, »Wir ernähren alle«)

© Kris Dewitte, Neue Visionen Filmverleih

aus, dass bei ihnen kaum Arbeiter anwesend sind, sondern vor allem Handwerksgesellen und Intellektuelle, wie Marx selbst oder auch der spätere Anarchist Michail Alexandrowitsch Bakunin. Proudhon möchte das Privateigentum nicht abschaffen. Er ist der Meinung, dass die Banken und deren Kreditzinsen der Kern allen Übels seien und dass man mittels friedlicher Propaganda einen Zustand herbeiführen könne, in dem die Handwerker und die Kleinbauern besser gestellt würden. Der deutsche Schneidergeselle Wilhelm Weitling ist – anders als Proudhon – revolutionärer Kommunist und eine der Gründungsfiguren der deutschen Arbeiterbewegung. Er möchte auf dem Weg der Revolution und der politischen Machtergreifung eine Art Erziehungsdiktatur errichten, um eine kommunistische Gesellschaft von Gleichen zu errichten. In religiösen Worten versucht er, sich den Massen in deren Sprache verständlich zu machen. Von Weitling übernimmt Marx die Idee der Einheit des politischen und ökonomischen Klassenkampfs. Marx und Engels beteiligen sich am von Weitling gegründeten »Bund der Gerechten«, versuchen Proudhon davon zu überzeugen, französischer Delegierter dieses Bundes zu werden, wirken auf der Versammlung darauf hin, dass der Bund in »Bund der Kommunisten« umbenannt wird und verfassen dessen wichtigstes Dokument: das »Manifest der Kommunistischen Partei«. Gleichzeitig versuchen sie, die Arbeiterinnen und Arbeiter für ihre Sache zu gewinnen. Sie sind der festen Überzeugung, dass »die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst« sein kann. Sie sprechen auf deren Versammlungen und versuchen, all ihre Ideen und Konzepte in einer leicht zugänglichen Sprache zu formulieren. Sie sind mit diesem Vorgehen zugleich Teil einer breiten Bewegung wie auch deren intellektuelle Avantgarde.

Karl Marx freundet sich 1844 im Pariser Exil mit Friedrich Engels an

Wenn er Kinder wolle, könne er ja welche mit ihrer jüngeren Schwester haben. Jenny ist darüber leicht irritiert, verurteilt diese Position aber nicht. »Der junge Karl Marx« mit seinen aus dem Leben gegriffenen Dialogen zeichnet ein authentisches Bild des Wirkens von Marx und Engels. Er zeigt, dass Marx und seine Mitstreiterinnen von einem leidenschaftlichen Willen getrieben wurden, für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen. Damit hebt sich der Film von den meisten Darstellungen über Marx ab, die genau das verschweigen, was Engels anlässlich von Marx’ Tod sagte: »Denn Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats..., das war sein wirklicher Lebensberuf. Der Kampf war sein Element. Und er hat gekämpft mit einer Leidenschaft, einer Zähigkeit, einem Erfolg wie wenige.« ■

DER FILM

Der junge Karl Marx Regie: Raoul Peck Frankreich/Deutschland / Belgien 2016 Neue Visionen Kinostart: 2. März

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Kultur | 80 Jahre Guernica

© Pedro Belleza / flickr.com

Pablo Picassos »Guernica«, ausgestellt im Museo Reina Sofía in Madrid

Ein Bild unserer Zeit Vor achtzig Jahren reagierte Pablo Picasso mit einem Kunstwerk auf die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica. Es ist eines der beeindruckendsten Antikriegsbilder und Ausdruck eines neuen Kunstverständnisses Von Phil Butland

Phil Butland hat Philosophie und Literatur studiert und schreibt regelmäßig über Kunst und Kultur für marx21.

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s ist der 26. April 1937, gegen 16:30 Uhr als die erste deutsche Bombe auf die baskische Stadt Guernica (heute Gernika) fällt. An diesem Montag sind viele Bewohnerinnen und Bewohner der Nachbarstädte in der Stadt, um den Markt zu besuchen. Viele Einwohner kämpfen zu diesem Zeitpunkt im spanischen Bürgerkrieg, deshalb halten sich hauptsächlich Frauen, Kinder und rund 3.000 Kriegsflüchtlinge in der Stadt auf. Nach einer ersten Bombenwelle warten die Piloten der Wehrmacht, bis die Bevölkerung ihre Verstecke verlässt, um sich um die Verwundeten zu kümmern. Als die Menschen aus ihren Luftschutzbunkern kriechen, beginnt eine zweite längere Bombardierung.

Begleitet wird das Bombardement von tieffliegenden Flugzeugen, aus denen mit Maschinengewehren auf Menschen geschossen wird. Der Angriff, den Wolfram von Richthofen befehligt, dauert mehr als drei Stunden. Fünfzig Tonnen hochexplosives Material sowie Brandbomben werden abgeworfen. Drei Viertel aller Gebäude der Stadt werden komplett zerstört. Der britische Kriegskorrespondent George Steer berichtet in »The Times«: »Während der Nacht fielen die Häuser, bis die Straßen zu langen, roten, undurchdringlichen Trümmerhaufen geworden waren.«

Franco statuierte ein Exempel

Wer das Bild »Guernica« ohne Vorwissen betrachtet, erfährt wenig über die Ereignisse, die in der baski-


Kultur | 80 Jahre Guernica

schen Stadt gleichen Namens geschahen. John Berger, der kürzlich verstorbene Biograf Pablo Picassos, beschrieb das Bild folgendermaßen: »Es gibt keine Stadt, keine Flugzeuge, keine Explosionen, keine Bezugnahme auf die Tageszeit, das Jahr, das Jahrhundert oder den Teil Spaniens, in dem es passiert ist. Es gibt keine Feinde zu beschuldigen. Es gibt keine Helden.« Man erkennt aber sofort: Es geht um Schmerz und Elend, um Leid und Tod. Wie kaum ein anderes Kunstwerk, eine Ausnahme ist vielleicht »Der Schrei« von Edvard Munch, liefert »Guernica« keine historischen Fakten, sondern zeigt die puren Emotionen der Opfer eines Massakers. Auf dem Bild ist eine Frau mit nach oben gedrehtem Gesicht zu sehen. Sie heult hilflos, ihr totes Baby in den Armen. Ein Pferd schreit vor Angst. Verstümmelte Körperteile liegen herum. »Wir werden gedrängt, ihren Schmerz nachzufühlen«, erklärt John Berger die Wirkung des Kunstwerks. Es ist nur monochrome Angst zu sehen. Der Verzicht auf Farben war eine bewusste Entscheidung Picassos. Er war der Meinung, dass ein farbiges Bild nicht die gleiche Wirkung entfaltet hätte, da Farben von den Schrecken ablenken würden. Deshalb funktioniert es als Kunstwerk auch so gut. Es spricht unsere Emotionen mit Mitteln an, die sich nicht in Worte fassen lassen. »Guernica« artikuliert Horror, indem es Horror darstellt. Einige Interpreten des Kunstwerks verwendeten viel Mühe darauf, die besonderen Bedeutungen einzelner Figuren herauszuarbeiten: Was bedeutet dieser Stier oder jenes Pferd? Warum weint diese Frau? Dieses Vorgehen ist legitim, aber meiner Meinung nach verfehlen sie den Kern von »Guernicas« Großartigkeit. Picasso erklärte seine Wahl der Figuren seines Kunstwerks so: »Dieser Stier ist ein Stier und dieses Pferd ist ein Pferd (...) Wenn Sie bestimmten Sachen in meinen Bildern einen Sinn geben, kann es richtig sein, aber es ist nicht meine Intention, ihnen diese Bedeutung zu geben. Ihre Ideen und Schlüsse habe ich auch erhalten, aber instinktiv, unbewusst. Ich male für das Malen. Ich male die Objekte für das, was sie sind.«

zu verhindern. Die baskischen Parteien ließen sich während des spanischen Bürgerkriegs nicht eindeutig einem Lager zuordnen. Im Oktober 1936 gründete sich unter Beteiligung linker Parteien eine autonome baskische Regierung mit dem Christdemokraten José Antonio Aguirre als Präsident. Diese Regierung unterstützte die Spanische Republik, war aber gleichzeitig dazu bereit, Kompromisse mit Franco einzugehen. So hatte sie zum Beispiel nach dem Verlust der Stadt Bilbao den Pakt von Santoña (auch als »Verrat von Santoña« bekannt) unabhängig von den republikanischen Kräften verhandelt. Der Angriff auf Guernica vertiefte die Spaltung zwischen den Basken im Norden und den Republikanern im Süden. Mit dem Luftangriff demonstrierte General Franco, dass er bereit war, auch baskische Zivilistinnen und Zivilisten zu töten, sollte ihre Regierung die Spanische Republik unterstützen. Seit 1901 lebte Picasso im französischen Exil. Einige Kunsthistoriker stellten sein Leben dort als eine unpolitische Phase dar, obwohl sich auch während dieser Zeit einige linke Aktivistinnen und Aktivisten in seinem Freundeskreis befanden. Er selbst sympathisierte während des Exils mit der Kommunistischen Partei Frankreichs und trat ihr 1944 auch bei.

Oben: Pablo Picasso 1953 in Mailand

© Recuerdos de Pandora / flickr.com

Seit dem Luftangriff auf Guernica haben Anhänger Francos sowie seine deutschen Unterstützer immer wieder argumentiert, dass dieser eine militärische Bedeutung gehabt hätte. Die Beweise hierfür sind allerdings sehr dünn. Es gab in der Tat zwei Rüstungsbetriebe am Stadtrand. Aber keiner der beiden wurde durch die Bombardierung beschädigt. Viel wahrscheinlicher ist es, dass Guernica bombardiert wurde, um eine baskische Kriegsbeteiligung

© Wikimedia / Paolo Monti

Schmerz mit den Augen fühlen

Unten: Die von der »Legion Condor« völlig zerstörte spanischen Stadt Guernica (heute baskisch Gernika). Die Legion Condor war eine LuftwaffenEinheit der deutschen Wehrmacht im Spanischen Bürgerkrieg, die bei verdeckten Operationen, das heißt ohne deutsche Uniformen oder Hoheitszeichen, auf der Seite Francisco Francos gegen die spanische Republik kämpfte

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Kultur | 80 Jahre Guernica

© Wikimedia / Lachmann

die spanische Luftwaffe bewohnte Gebiete in Madrid, Barcelona und Valencia. Später kamen weitere Städte hinzu: Coventry, Dresden, Hiroshima und in jüngster Zeit Gaza und Aleppo. Guernica war weder der erste noch der schwerste Fall eines Flächenbombardements, aber dank Picasso steht es stellvertretend für alle diese Kriegsverbrechen – und den Widerstand gegen sie. Während des Irakkriegs hing eine Teppichreproduktion von »Guernica« im UNGebäude. Bevor der US-Außenminister Colin Powell und dessen Stellvertreter John Negroponte dort sprachen, stellten UN-Beamte einen blauen Vorhang vor das Bild, um die Kriegstreiber nicht in Verlegenheit zu bringen.

Pablo Picasso (mit Baskenmütze) und weitere Bühnenmaler sitzen im Jahr 1917 auf dem von ihnen gestalteten Bühnenbild zum Ballett »Parade« in Paris

Weiterlesen John Berger: Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso (Rowohlt 1987), nur noch antiquarisch erhältlich.

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Im Januar 1937 schuf Picasso sein erstes eindeutig politisches Werk: »Traum und Lüge Francos«. Es handelt sich dabei um 18 (ursprünglich 14) Radierungen, die Franco in lächerlichen Posen und Verfremdungen zeigen. Ursprünglich sollten die Radierungen als Postkarten im spanischen Pavillon der Weltausstellung in Paris 1937 verkauft werden, um Geld für die Spanische Republik zu sammeln. Diese Idee wurde nach der Bombardierung Guernicas verworfen. Nun wurde im Pavillon das nach der Stadt benannte Gemälde gezeigt. Die Reaktionen auf diesen Entschluss waren nicht alle positiv. Viele linke Kritiker waren kaum beeindruckt von dem Kunstwerk. In »L’Humanité«, der Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreichs, berichtete der linke Dichter Louis Aragon von der Weltausstellung, ohne Picassos Bild überhaupt nur zu erwähnen. Trotzdem wurde »Guernica« auch eine praktische politische Rolle zuteil. Nach der Pariser Weltausstellung tourte das Bild durch Skandinavien, England und die USA. Der Eintrittspreis für die Ausstellung war in der Regel ein Paar gebrauchte Stiefel. Diese Stiefel wurden direkt an die republikanische Armee geschickt. Die Zerstörung von Guernica wird oft als die erste gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Bombardierung gewertet. Das ist genau genommen falsch. Bereits 1914 haben deutsche Zeppeline Antwerpen bombardiert und zehn Zivilisten getötet. In den 1920ern entwickelten die Briten Winston Churchill und Arthur »Bomber« Harris die tödliche Strategie der Flächenbombardements gegen die revoltierende irakische Bevölkerung. Auch während des spanischen Bürgerkriegs zerstörten deutsche und

Von Theodor W. Adorno stammt der Ausspruch: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«. Damit meint er, dass die Dichtung, und die Kunst im Allgemeinen, weder Auschwitz noch Guernica verhindern konnten, aber auch, dass es unmöglich ist, die unvorstellbaren Schrecken in Form von Kunst direkt zu reproduzieren. Aus diesem Grund sagte der Architekt Peter Eisenman über das von ihm entworfene Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin: »Es ist ein bisschen zu ästhetisch. Es sieht ein wenig zu gut aus. Nicht, dass ich etwas Hässliches wollte, aber ich wollte nichts, das nach Design aussieht. Ich wollte das Gewöhnliche, das Banale.« Einige der Auswüchse des Spätkapitalismus, vor allem der Holocaust, aber auch Hiroshima und die Bombardierung Guernicas, sind kaum fassbar. Für viele Künstlerinnen und Künstler reicht es seitdem nicht mehr aus, einfach den Horror zu beschreiben, sie müssen auch involvierender darauf reagieren können. Aus dieser Erkenntnis entstand die künstlerische Bewegung des Modernismus. Das Theater Brechts, die Romane von James Joyce und die Kunst Picassos waren der Versuch, eine Kunst für eine Zeit zu entwickeln, in der die Reproduktion von schönen Landschaften nicht mehr ausreicht. »Guernica« ist eines der besten und überzeugendsten Kunstwerke der Moderne. Genau die Abwesenheit von Konkretheit und Helden im Bild erlaubt es, den Horror darzustellen, den jeder Krieg verkörpert, und uns damit auch eine starke Systemkritik anzubieten. Während Picasso »Guernica« malte, sagte er: »Mein ganzes Leben als Künstler war nichts mehr als ein kontinuierlicher Kampf gegen die Reaktion und den Tod der Kunst. In dem Bild, das ich male, drücke ich mein Entsetzen über die militärische Kaste aus, die Spanien jetzt zu einem Ozean des Elends und des Todes machten.« Seine Abscheu gegen die Verderbtheit dieser Kaste hat sein Leben lang angehalten und wird von seinen Nachfolgern in der neuen Spanischen Linken fortgeführt in ihrem Kampf gegen das Vergessen und gegen neue Guernicas. ■


Kultur | 80 Jahre Guernica

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m 26. April vor achtzig Jahren wurde die baskische Stadt Guernica, heute baskisch Gernika, durch Bomben der deutschen Wehrmacht zerstört. Ist die Bombardierung heute noch ein Thema? Ja, die Bombardierung ist ein traumatisches Kapitel unserer Geschichte. Pablo Picassos Gemälde »Guernica« verhinderte, dass dieses Ereignis verdrängt wurde. Außerdem war die deutsche Wehrmacht für den Luftangriff verantwortlich. Das zeigt die internationale Bedeutung des Spanischen Bürgerkriegs. Leider werden beim Gedenken häufig die Hintergründe der Bombardierung verschwiegen. So erscheint die Zerstörung als ein abgeschlossenes Stück Geschichte, das nichts mit uns zu tun hat. Die Initiative für die Auseinandersetzung mit der Bombardierung kommt immer von der Opferseite, also von Familienangehörigen der Opfer des Franquismus oder Bürgerinitiativen von unten.

Gegen das Vergessen Die Erinnerung an die Bürgerkriegsverbrechen der Faschisten in Spanien ist immer noch ein umkämpftes Thema. Eine baskische Aktivistin berichtet vom Verdrängen, neuen politischen Allianzen dagegen und von der Macht der Kunst Interview: Phil Butland

Ana Barrena Lertxundi

Deutschland tragt die Verantwortung Und wie gestaltet sich das Gedenken im Baskenland? Gibt es inzwischen Mahnmale für Gernika? Ja, viele Mahnmale erinnern an die Bombardierung. Außerdem ist das Thema schon seit Langem und immer noch sehr präsent in der Kultur.Es gibt viele Bücher zum Thema aber eben auch auch TV-Serien und Filme, wie der 2016 erschienene Streifen »Gernika« von Koldo Serra Baskische Aktivistinnen und Aktivisten bemühen sich auch international um Aufmerksamkeit für diese Erinnerung. In vielen Hauptstädten der Welt gibt es eine »Euskal Etxea«, ein baskisches Kulturzentrum. Sie entstanden zur Zeit des Bürger-

Ana Barrena Lertxundi stammt aus den Baskenland. Sie ist Mitglied von Podemos und der LINKEN und wohnt zurzeit in Berlin.

kriegs mit dem Hauptziel, Baskinnen und Basken bei der Flucht zu unterstützen. Heute organisieren sie Kulturveranstaltungen und klären über die Vergangenheit auf. Glaubst du, dass Deutschland eine Verantwortung für Gernika gegenüber der spanischen und baskischen Bevölkerung hat? Internationale Interessen spielten im Spanischen Bürgerkrieg eine Rolle. Ohne das Eingreifen Deutschlands hätte es die Bombardierung nie gegeben. Also trägt Deutschland die Verantwortung. Die komplizierte Frage ist, was aus dieser Verantwortung folgt. Meine Antwort lautet, dass auch die deutsche Regierung etwas gegen das Vergessen tun muss. Außerdem sollte die Erinnerung an die Zerstörung Gernikas auch ein Ausgangspunkt sein, um andere Kriege und Konflikte in Europa kritisch aufzuarbeiten. Eine letzte Frage an dich. Welchen Einfluss hat die Erinnerung an Gernika auf deine politische Praxis? Die Erinnerung an Gernika, sowohl durch historische Aufarbeitung als auch durch die Kunst, steht für mich für die Hoffnung auf politische Veränderung. Die Erinnerung an die Bombardierung Gernikas durch Picassos Gemälde zeigt für mich die Kraft der Kunst, konkretes Geschehen zu verallgemeinern. Das Bild stellt Gefühle dar, die alle Menschen angesichts einer Bombardierung empfinden würden. Die Zerstörung wird nicht als einzigartiges historisches Ereignis dargestellt. Das Erinnern ermöglicht über alle nationalen Identitäten hinweg, gemeinsam für eine Sache zu streiten. Im Kontext des internationalen Aufschwungs der extremen Rechten und der Zunahme imperialitischer Kriege ist eine Erinnerung an die Barbarei des Krieges wichtiger denn je. Gegen die Politik des Vergessens Kann Kunst Widerstand leisten. ■

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© Philippe Leroyer / flickr.com / CC BY-NC-ND

Review


REVIEW | Film

Aus Hoffnungslosigkeit muss Mut werden Ein neuer Dokumentarfilm zeigt die Verwüstungen, die die Finanzkrise in Europa angerichtet hat. Doch statt zu deprimieren, kann er auch Ansatzpunkte für mehr Widerstand bieten Von Phil Butland

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s ist ein ungewohnter Anblick, wenn ein Börsenmakler in Krawatte und Anzug warnt: »Wenn Syriza das jetzt an die Wand fährt, wird in der nächsten Wahl rechts außen gewinnen«. Dieser Makler heißt Dirk Müller, auch bekannt als »Mister Dax«. Er ist einer der Interviewpartner von Christoph Schuch und Reiner Krausz in ihrem neuen Dokumentarfilm. Es sprechen auch der Historiker Daniel Ganser, die Journalistin Teresa Galindo, und Fabio De Masi, Abgeordneter der LINKEN im Europäischen Parlament, das er als »kastriert« bezeichnet. Aber nicht nur Expertinnen und Akademiker kommen zu Wort: Aktivistinnen und Aktivisten gegen Gentrifizierung aus Valencia oder gegen den »Braindrain« in Portugal berichten ebenfalls von ihrer politischen Arbeit. Die aktuelle Entwicklung der Europäischen Union versteht De Masi als eine »fundamentale Kriegserklärung gegen die Demokratie«, die nur den Interessen der Superreichen nütze. Die Staatsschulden wachsen zwar, aber dennoch übersteigt das Vermögen der Millionäre in Europa mit 17 Billionen Euro die gesamten Schulden aller 28 EU-Staaten. In Spanien es Journalisten neuerdings gesetzlich verboten, über Repressionen durch die Polizei zu berichten. Überwachungsapparate werden aufgebaut, um die Opfer der Krise

einzuschüchtern und Solidarität und Widerstand zu zerschlagen. In Valencia berichtet Miguel Angel Ferris von der Wirkung der Gentrifizierung auf den Alltag. In der Stadt mit 800.000 Einwohnern stehen 100.000 Wohnungen aufgrund von Spekulation leer. In Portugal befürchtet Aktivistin Paula Gil, dass die Abwanderung von gut ausgebildeten Leuten die Wirtschaft des Landes dauerhaft schädigen wird. Die Zahl der Portugiesinnen und Portugiesen, die wegen Arbeitslosigkeit das Land verlassen, ist zurzeit so hoch wie während der Diktatur. »Europa – Ein Kontinent als Beute« stellt das Ausmaß der Krise deutlich dar. Aber wenn der Film versucht, zu erklären, wer dafür verantwortlich ist, ist er nicht immer überzeugend. Der Historiker Ganser gibt dem Kapital aus den USA die Schuld am griechischen Staatsdefizit und auch Müller meint, dass der eurasische Kontinent von den USA beherrscht wird. Die Analyse ist nicht völlig falsch, unterschätzt aber die eigenständigen Interessen des deutschen und europäischen Kapitals. Griechenlands Probleme sind eher in Berlin als in Washington verursacht worden. Am Anfang des Films benennt Ganser die Ursache viel deutlicher: »Die Leute müssen mit einem Feindbild versorgt werden und dieses Feindbild darf auf keinen Fall die

Elite sein. Denn dann könnte die Analyse Richtung Klassenkampf gehen.« Es ist die Mehrheit der Gesellschaft, die aufgrund dieser Politik verliert – in Athen, in Berlin und in Washington. Und es ist im Interesse dieser Mehrheit, gegen diese Politik zu kämpfen. Es bleibt die Frage nach dem »Wie?«. Darauf gibt De Masi am Ende des Films eine gute Antwort: »Wenn die Mehrheit entdeckt, wie mächtig sie ist, ist diese Politik in Gefahr. Wenn tausend Leute auf die Straße gehen, werden viele es gut finden, aber sie haben Angst, dass sie allein auf der Straße sind. Wir müssen anfangen, wieder mutig zu sein.« Die Demonstrationen gegen Donald Trumps Amtsantritt als US-Präsident waren die größten in der Geschichte der USA und die größte internationale Mobilisierung seit dem 15. Februar 2003. Das sollte uns Mut machen, dass Widerstand doch möglich ist. Die Debatte über diesen empfehlenswerten Film kann dazu beitragen. Schaut ihn euch an, am besten zusammen mit anderen – dann könnt ihr danach gleich diskutieren, wie der Wunsch nach einer gerechteren Gesellschaft verwirklicht werden kann. ■

★ ★★ Dokumentarfilm | Europa – Ein Kontinent als Beute | Regie: Christoph Schuch und Reiner Krausz | Deutschland 2016 | Edition Salzgeber | 78 Minuten | Kinostart: 23. Februar 2017

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REVIEW | Album des Monats

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uf einmal ist er da. Aus dem Nichts steht ein 19 Jahre junger Offenbacher im Rampenlicht. Er scheut sich nicht in alter Rap-Manier zu behaupten anders, neu, befreit von Einflüssen zu rappen. Doch im Gegenteil zu den meisten seiner Rapkollegen behält er zum Großteil Recht. Die Rede ist von Soufian. Der Rapper, der zum kommerziellen Rap kam, wie die Jungfrau zum Kinde. Indem er seinem Vorbild und späteren LabelChef Haftbefehl, in Offenbach auf der Straße traf und ihm kurzerhand seine Texte vorrappte. Haftbefehl war überzeugt und lud ihn zu sich ins Studio ein. Dass Haftbefehl dabei ein gutes Gespür für Talente hat, bewies er nicht nur einmal. Was folgte waren etliche FeatureSongs mit befreundeten Rappern, Social-Media-Hörproben in schlechter Handy-Qualität und ein eigener Splash!-Auftritt, dem größten Hip-Hop Festival Europas. Und das alles ohne je etwas veröffentlicht zu haben. Das alleine ist auf jeden Fall etwas Neues. Mit seinem ersten offiziellen Feature im Song »Kalash« versprach Soufian schon mal viel. Selbstverständlich schielt nun die gesamte Rapszene, und auch darüber hinaus, mit gespannten Augen auf das neu erschienene Mixtape »Allé Allé«. Die Erwartungen sind groß. Nicht zuletzt weil Soufian selber seit einem halben Jahr im gefühlten Stundentakt über sämtliche Kanäle verkündet, das nächste große Ding zu sein. Das Mixtape beginnt mit dem Song »Hab die Straße im Blut«. Ein langes, düsteres Intro lässt erahnen in welche Richtung es gehen wird. Soufian durchbricht die Stille und bestätigt mit seiner Technik die Hoffnungen, die nun schon über ein Jahr aufgebaut wurden. »Wo ich lebe, da willst du nicht wohn‘« heißt es in der erste Zeile die gleichzeitig auch die thematische Leitlinie ist. Auf dem Mixtape erzählt er von den dreckigen Seiten Frankfurts, von Drogendelikten, Pro-

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Soufian | Allé Allé

ALBUM DES MONATS Der junge Offenbacher Rapper Soufian verkündet vollmundig eine neue Generation des Rap zu sein. Zu Recht, meint unser Autor Von Peter Stolz

★ ★★ ALBUM | Soufian | Allé Allé | Generation Azzlack | 2017

stitution und Straßenleben. Soufian zeichnet ein Bild, das authentisch wirkt. Das Besondere daran ist seine fast schon knabenhafte Aura, die mit seiner aggressiven Stimme und seinen Texten bricht. Das ist

wahrscheinlich auch sein Erfolgsrezept, das in dieser Form Seinesgleichen sucht. »Die erste Kippe war mit 13, ein Jahr später kam dann Haschisch/ 15 Jahre alt auf Schnee - meine Stadt nimmt dir das Lachen«

es sind Zeilen wie diese, die das Mixtape begleiten und mit kraftvollen Bildern schmücken. Musikalisch ist das Mixtape die nötige Weiterentwicklung eines Subgenres, die sein Labelchef einst selbst einläutete. Soufian behält auf jeden Fall Recht, wenn er sagt, eine neue Generation zu vertreten und neumodischen Rap zu machen. »Haze-Trap« nennt er es. Das Neue zeichnet sich dadurch aus, dass trappige Beats zum Einsatz kommen auf denen eine ganz eigene, abgehackte Stimme zum Einsatz kommt. Obwohl diese Entwicklung positiv ist und durchaus Türöffner für so manchen kommenden Rapper sein könnte, sind vor allem die Tracks stark, die auf Elemente des klassischen Rap zurückgreifen. Nichtsdestotrotz ist es frischer Wind der den verstaubten, 40 jährigen Rappern, den Staub von der Glatze weht. Doch erstmal müssen die Radiorapper keine Angst haben, kein Gehör mehr zu finden. Die Erwartungen sind nämlich zu hoch. Soufian kann sein Niveau nicht über 16 Tracks halten. Mitverantwortlich ist dabei seine Themenauswahl abseits einer Klassenzeichnung. Diese ist nicht so innovativ wie seine Technik. Das Mixtape kommt leider nicht ohne chauvinistisches Geprotze aus. Der emanzipatorische Ansatz, den es in seinem Rap-Umfeld durchaus gibt, bleibt eine Hoffnung. Das macht das Mixtape schwierig zu hören. Auch variiert er nicht unbedingt musikalisch, so hat man beim Hören schnell das Gefühl, den selben Track nochmal zu hören. Audiovisuell sieht es da auch nicht anders aus. Trotzdem, die Mischung aus seiner Stimme, seine Art zu Rappen und seine Beat-Auswahl machen ihn zu einem Unikat. Er ist Vertreter einer neuen Generation, die auf jeden Fall Zukunft und mit dem neue gegründeten Label »Generation Azzlack« gleichzeitig eine Plattform hat. Es bleibt abzuwarten was da noch auf uns zukommt. ■


REVIEW | BUCH

Krise und Protest Wer sich für die spanische Linke jenseits von Podemos und 15M interessiert, wird in Nikolai Hukes Buch fündig. Doch für Einsteigerinnen und Einsteiger ist es eher nicht zu empfehlen Von Rebecca Offermann

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latzbesetzungen von tausenden Menschen, eine kometenhaft aufsteigende Linkspartei: Im Jahr 2011 machte erst die spanische Bewegung 15M Schlagzeilen, dann die Partei Podemos mit ihrem Einzug in das Europaparlament 2014. Doch was geschah eigentlich in den Jahren dazwischen? Das vor kurzem erschienene Buch von Nikolai Huke gibt einen detaillierten Überblick über jene Kämpfe, die bis 2016 im Zusammenhang mit Sparpolitik und Repräsentationskrise des politischen Systems in Spanien stattfanden. Der Autor beleuchtet dabei gleichberechtigt die verschiedenen Widerstände und zeichnet so ein umfassendes Bild jenseits der medialen Schwerpunktsetzung. Zwar geht er auch auf die bekannten Phänomene 15M und Podemos ein, doch er widmet anderen linken Akteuren ebenso viel Platz – etwa den oft von Migrantinnen angeführten Proteste der Plattform von Hypotheken Betroffener gegen Zwangsräumungen oder jenen Arbeitskämpfen im Gesundheits- und Bildungsbereich, die von Nutzerinnen, Nutzern und Beschäftigten ohne Unterstützung der Gewerkschaften ausgefochten wurden. Im letzten Teil des Buches werden verschiedene linke Parteien und Wahlinitiativen vorgestellt, die ihre politische Arbeit mehr oder weniger auf

das Parlament beschränken. Zu nennen ist hier die traditionelle Linkspartei IU (Vereinigte Linke), die es nicht geschafft hat, der gesellschaftlichen Unzufriedenheit ein Gesicht zu geben. Des Weiteren stellt Huke die katalanische basisdemokratische Partei CUP vor, die am ehesten ein Sprachrohr sozialer Bewegungen im Parlament ist. Auch Wahlplattformen wie Guanyem Barcelona (Wir gewinnen Barcelona) und Ganemos Madrid (Wir gewinnen Madrid) behandelt er. Diese haben sich zu den Kommunalwahlen des Jahres 2015 gegründet und stellen nun in beiden Großstädten die Bürgermeisterinnen. Leserinnen und Lesern mit wenig Vorwissen über die spanischen Verhältnisse wird es teilweise schwerfallen, das Gelesene einzuordnen. Denn es gibt keine Einleitung zum Verlauf der ersten Jahre der Krise, zur Vorgeschichte des 15M und auch nur wenig Kontextinformationen. Die Bewegung 15M verband ihre Kritik am politischen Establishment mit der Forderung nach einem Ende der Sparpolitik. Diese soziale Ausrichtung geht bei Huke etwas verloren, da er sich sehr auf die basisdemokratische Funktionsweise der Bewegung konzentriert. Interessant wäre auch eine genauere Analyse gewesen, warum Bewegungen wie der 15M politisch wenig erreicht haben. Eine mögliche Erklärung ist, dass soziale Bewegungen und

Organisationen in Zeiten von Sparpolitik und wirtschaftlicher Stagnation kompromisslosen Staatsapparaten gegenüberstehen. Massenmobilisierungen auf der Straße werden ausgesessen, es fehlt ihnen an wirkmächtigen Druckmitteln. Zu schlussfolgern, dass Menschen aufgrund des Scheiterns außerparlamentarischer Bewegungen für parteipolitische Projekte offen sind, liegt da nahe. Doch es bleibt offen, warum nicht auch über die Machtübernahme in der ökonomischen Sphäre diskutiert wird. So thematisiert Huke die Rolle der großen Gewerkschaften CCOO und UGT nur am Rande. Die Wiederbelebung von Basisgewerkschaften wie der andalusischen SAT oder die »Märsche für die Würde«, die durch ländliche Gebiete bis nach Madrid gingen, um gegen die Arbeitsmarktreform und die Sparpolitik zu protestieren, waren auch Teil der Protestbewegungen der vergangenen Jahre. Sie bleiben leider weitestgehend unberücksichtigt. Ziel von Hukes Buchs ist es, aus dem erfolgreichen Scheitern der spanischen Bewegungen zu lernen und Rückschlüsse auf die eigene politische Praxis zu ziehen. Wie diese aussehen kann, muss der Leser oder die Leserin allerdings alleine entscheiden. ■

★ ★★ BUCH | Nikolai Huke | Krisenproteste in Spanien. Zwischen Selbstorganisation und Überfall auf die Institutionen | Edition Assemblage | Münster 2016 | 175 Seiten | 14,80 Euro

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REVIEW | BUCH

Eine lange Geschichte der Einmischung Seit sechs Jahrzehnten hinterlässt westliche Politik »verbrannte Erde« im Nahen Osten, kritisiert Michael Lüders auf überzeugende Weise. Doch dann tappt auch er in eine ideologische Falle Von Reuven Neumann

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★ ★★ BUCH | Michael Lüders | Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet | C.H. Beck | München 2015 | 176 Seiten | 14,95 Euro

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er Nahe Osten scheint immer wieder in Chaos, Gewalt und Krieg zu versinken. Selbst die Aufstände und Revolutionen in Tunesien, Ägypten oder in Syrien konnten nur kurzfristig Hoffnung machen. Mittlerweile befinden sich diese Länder im Bürgerkrieg oder im Griff repressiver Herrscher. Insbesondere der Vormarsch des Islamischen Staates (IS) beunruhigt die westlichen Regierungen. Daher konzentrierten sie sich hauptsächlich auf dessen militärische Bekämpfung. Doch welche tatsächlichen Hintergründe und Ursachen gibt es für diese Entwicklung? Der Publizist Michael Lüders möchte mit seinem Buch aufzuzeigen, dass vor allem westliche Politik für die gegenwärtige Instabilität der Region verantwortlich ist. Als Beispiele führt er die zahlreichen mittelbaren und unmittelbaren Interventionen an, die in erster Linie der Durchsetzung westlicher Interessen dienten. Den »Sündenfall« westlicher Politik im Nahen Osten stellt für ihn der Sturz von Mohammed Mossadegh im Jahr 1953 dar. Den Putsch gegen den iranischen Präsidenten unterstützten damals die USA und Großbritannien, da dieser die Ölindustrie verstaatlicht und so gegen die Interessen der westlichen Petrolfirmen gehandelt hatte. Es folgte eine lange Geschichte der Intervention, die Lüders ausführlich beschreibt. Die seit 1991 andauernde Zer-

störung des Irak durch Kriege, Sanktionen und Besatzung stellt er dabei in den Mittelpunkt. Eine von Lüders Thesen lautet, dass die Zerschlagung der sozialen und politischen Strukturen des Irak und die Verdrängung der sunnitischen Bevölkerung verantwortlich für die Entstehung des Islamischen Staats seien. Die Gruppe sei »die Quittung für den ebenso völkerrechtswidrigen wie sinnlosen US-geführten Einmarsch im Irak 2003 und die nachfolgende Zerstörung irakischer Zentralstaatlichkeit sowie den Krieg in Syrien.« In Bezug auf Syrien argumentiert Lüders allerdings, dass der Westen vor allem beabsichtigt habe, Assad »um jeden Preis« zu stürzen – anstatt gemeinsam mit ihm gegen den IS vorzugehen. Lüders sieht den syrischen Herrscher hingegen eher als Partner. Entsprechend meint er, dass heute die »Gotteskrieger in Damaskus an der Macht« wären, hätte das westliche Vorhaben damals Erfolg gehabt. Tatsächlich war das Problem in Syrien aber die mangelnde konsequente Unterstützung des Westens für die Oppositionsgruppen gegen Assad. Erst deshalb konnte der IS seinen Machtbereich in Syrien ausweiten. Korrekt ist das »Grundmuster« westlicher Politik, das Lüders erkennt. Hierzu gehört die massive Unterstützung für die Golfstaaten, für Saudi-Arabien oder das repressive Regime in Ägyp-

ten, um zum einen die eigene Versorgung mit Erdöl und Erdgas sicherzustellen und zum anderen, um die Sicherheit Israels zu garantieren. Ohnehin habe der israelische Staat in seiner Politik gegenüber den Palästinensern einen »Freibrief« erhalten. Viele von Lüders Beobachtungen sind richtig, beispielsweise dass »westliche Politik in Syrien und Irak verbrannte Erde« hinterlassen und einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung des IS geleistet habe. Doch sein Buch weist auch Schwächen auf, etwa wenn er meint, militärische Mittel könnten doch »sinnvoll sein«, wenn der IS so »an vorderster Front aufgehalten werden könnte«. Hier tappt Lüders genau in die ideologische Falle, wonach der IS der Hauptfeind ist und nicht die interessengeleitete Politik des Westens. Diese Fokussierung auf den Kampf gegen den IS, der in den Medien vor allem als ein brutaler, rücksichtsloser Gegner bezeichnet wird, verdeckt aber die Ursachen für die tatsächlichen Hintergründe der gegenwärtigen Probleme. Lüders schließt sein Buch mit dem Appell, dass es angesichts der »neuen Unübersichtlichkeit« mehr »Diplomatie, Interkulturalität und Pragmatismus« bedürfe. Verglichen mit der Schärfe seiner Kritik an westlicher Nahost-Politik sind das recht maue Lösungsvorschläge. ■


REVIEW | BUCH Des Monats

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as »Schwarzbuch. Kritisches Handbuch zur Aufrüstung und Einsatzorientierung der Bundeswehr« hat den Anspruch, Kriegsgegnerinnen und -gegner argumentativ auszurüsten. Das ist den Autorinnen und Autoren gelungen. Der Text ist eine wichtige Lektüre für alle, die am Frieden interessiert sind. Das Buch zeichnet die bundesdeutsche Geschichte der Auslandseinsätze seit 1990 kenntnisreich nach. Detailliert haben die Autorinnen und Autoren die Entschlossenheit der Regierung Kohl herausgearbeitet, die Bundeswehr erstmalig in Auslandseinsätze zu entsenden. Zudem zeigen sie auf, wie Kohl mittels einer Politik der kleinen Schritte versuchte, die Bevölkerung an die zunehmende Militarisierung zu gewöhnen und den sichtbaren Widerstand in der Gesellschaft klein zu halten. Dieser »Kampf um die Köpfe« halte bis heute an. Bedeutsam ist die im Buch getroffene Einschätzung, dass der völlig fehlgeschlagene erste große Bundeswehreinsatz in Somalia 1993 »vor allem innenpolitisch motiviert« gewesen sei. Er sollte den Widerstand der SPD gegen die Entsendung der Bundeswehr außerhalb des Nato-Gebiets brechen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994, das Auslandseinsätze grundsätzlich erlaubt und sie von einem Parlamentsbeschluss abhängig macht, wird im Buch zu Recht als »Dammbruch« charakterisiert. Die SPD und auch immer mehr Abgeordnete der Grünen stimmten seitdem im Bundestag für Bundeswehreinsätze im Ausland – selbst für Kriegseinsätze wie in Jugoslawien (1999), in Afghanistan (seit 2001) oder zuletzt in Mali, Syrien und Irak. Seit Beginn des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr nahmen die Auslandseinsätze drastisch zu. Dabei gehe es der Regierung zum einen darum,

Rosa-Luxemburg-Stiftung und Fraktion DIE LINKE im Bundestag (Hrsg.) | Schwarzbuch Bundeswehr

BUCH DES MONATS Das Verteidigungsministerium fordert mehr Rüstung und weitere Einsätze der Bundeswehr. Die Linksfraktion beleuchtet in einem »Schwarzbuch« Ursachen und Folgen dieser Entwicklung Von Lühr Henken

★ ★★ BUCH | Rosa-Luxemburg-Stiftung und Fraktion DIE LINKE im Bundestag (Hrsg.) | Schwarzbuch. Kritisches Handbuch zur Aufrüstung und Einsatzorientierung der Bundeswehr | Berlin 2016 | 123 Seiten | Kostenloser Download unter: www.rosalux.de/publication/42571/schwarzbuch.html

mit einer Vielzahl an Einsätzen »Handlungsfähigkeit zu beweisen«, zum anderen wolle sie sicherstellen, »dass Deutsche an möglichst vielen Orten mit am Tisch sitzen und

Einfluss nehmen können, wenn etwa die Nachkriegsordnung und die Neuaufteilung der Einflusssphären verhandelt« werden. Hintergrund hierfür sei laut »Schwarzbuch

Bundeswehr« ein »globaler Wettlauf der großen und mittleren Mächte um Rohstoffe, Märkte und politischen Einfluss, der mit militärischen Mitteln unterfüttert« werde. An dem schlechten Verhältnis zu Russland geben die Autorinnen und Autoren richtigerweise der Nato die Schuld: Sie heize den Konflikt »massiv« an und habe zehnmal so hohe Militärausgaben wie Russland. Deutschland unterstreiche »seinen Anspruch als europäische Führungsmacht seit Ausbruch des Konflikts mit Russland« auch durch vielfältige militärische Maßnahmen. Das sei »faktisch die Vorbereitung auf einen möglichen Krieg mit Russland.« Dazu gehöre auch der mögliche Einsatz von Atomwaffen: »Die Nato arbeitet daran, die alptraumhafte nukleare Konfrontation des Kalten Krieges wiederherzustellen.« Das »Schwarzbuch Bundeswehr« formuliert Alternativen, benennt politische Ziele und erhebt Forderungen. »Eine Welt und eine Bundesrepublik Deutschland ohne Armee ist (…) unser langfristiges Ziel. Mit konkreten Abrüstungsschritten kann und muss hier und heute begonnen werden.« Die Realität sieht allerdings anders aus. Das »Schwarzbuch Bundeswehr« macht deutlich, dass mit der Umsetzung des von der Regierung unterstützten Nato-Ziels, den deutschen Wehretat von derzeit 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf zwei Prozent zu erhöhen, »eine massive Aufrüstung der Bundeswehr« drohe. Das würde einen Anstieg des Verteidigungshaushalts von derzeit knapp 35 auf 60 Milliarden Euro bedeuten. Als wichtigstes sicherheitspolitisches Dokument stellt das Weißbuch des Verteidigungsministeriums dafür gerade die Weichen. Gegen diese Entwicklungen sollten wir uns zur Wehr setzen. ■ marx21 01/2017

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REVIEW | BUCH

Vereinzelung und Vermessung Viel ist derzeit von der »Filterblase« durch die sozialen Netzwerke die Rede. Doch die ist nur ein Teil einer weiter reichenden gesellschaftlichen Entwicklung. Ein Ausblick darauf, wie technologische Neuerungen unser Leben grundlegend verändern werden, ist jetzt als Taschenbuch erschienen Von Theodor Sperlea

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★ ★★ BUCH | Christoph Kucklick | Die granulare Gesellschaft – Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst | Ullstein Verlag | Berlin 2014 | 272 Seiten | 9,99 Euro

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issenschaftliche und technische Neuerungen sind zwar gesellschaftlich bedingt, wirken aber auch immer auf die Gesellschaft zurück: Der Buchdruck machte es möglich, dass verschiedene Meinungen sich verbreiten und koexistieren konnten, und war somit eine Voraussetzung für die Aufklärung. Die Erfindung der Telegrafie und später des Telefons ermöglichte eine schnelle Weitergabe von Informationen, welche die Welt näher zusammengebracht hat, im Guten wie im Schlechten. In seinem Buch »Die Granulare Gesellschaft« gibt der Soziologe und Journalist Christoph Kucklick einen Ausblick, auf welche kommenden Veränderungen wir uns dank der digitalen Revolution einstellen müssen. Seine Grundthese ist folgende: Durch das Internet, das immer mehr Geräte des täglichen Lebens miteinander vernetzt, besteht die Möglichkeit, das Verhalten jedes Menschen viel genauer als jemals zuvor zu vermessen. Wenn nun die neuesten Errungenschaften der Forschung in maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz in Verbindung mit dieser Datenfülle genutzt werden, dann erweitern sich einerseits die Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung, aber andererseits auch die der Überwachung. Wir werden viel mehr über uns selbst wissen, wer-

den ganz gezielt genau die Produkte angeboten bekommen, die wir wollen, werden unterschiedlich einkaufen, lernen, arbeiten – und uns darin von anderen abgrenzen. Die bisher gültigen Verallgemeinerungen darüber, wie Menschen leben und denken, werden durch viel genauere Beschreibungen der Vielfalt in unserer Gesellschaft ersetzt. Jedoch wird bei all der Vielfalt nicht mehr viel Gesellschaft übrig bleiben, warnt Kucklick. Diese neue Formation nennt Kucklick die »granulare Gesellschaft«, deren Anfänge er bereits im Heute zu erkennen glaubt. Als Beispiel nennt er den fünfjährigen Felix, dessen Blutzuckerspiegel von seinen datenaffinen Eltern seit seiner Diabetes-Diagnose ständig überwacht wird, um sofort auf Veränderungen seines Zustands reagieren zu können. Wo Ärztinnen und Ärzte solche datenreichen Messmethoden übernehmen, scheint es, als gäbe es die klassischen Krankheiten nicht mehr, da jede Patientin und jeder Patient individuelle Charakteristika zeigt. Kucklick sieht diese Tendenz in allen Bereichen unseres Lebens und lässt seine Leserinnen und Leser mit Fragen zurück: Welche unserer Politikmodelle funktionieren noch, wenn die Wählerschaft komplett vermessbar ist? Wie frei können wir handeln, wenn jeder unserer Schritte zum Beispiel von

Werbefirmen verfolgt, gespeichert und ausgewertet werden kann? Wie finden wir eine gemeinsame Gesprächsbasis, wenn wir uns hauptsächlich aus unseren Facebookfeeds informieren? Dass der Autor hier keine Antworten liefert, ist der Komplexität des Themas geschuldet, zeichnet das Buch zugleich aber aus. Manche der beschriebenen Tendenzen sind bereits seit einer Weile bekannt und erlangten in letzter Zeit große mediale Aufmerksamkeit. Dennoch kann Kucklicks Buch eine neue Debatte anstoßen, weil er viele Phänomene und Facetten der Entwicklung zusammenfasst und verständlich erklärt. »Die Granulare Gesellschaft« ist ein wichtiges Buch, aber die wirkliche Arbeit beginnt erst nach der Lektüre: Die Linke muss ihre Theorien und Strategien für dieses neue digitale oder »granulare« Zeitalter neu ausrichten. Wir können es uns nicht leisten, diese Entwicklungen zu verschlafen, denn dann würden uns die neu gewonnen Freiheiten durch reaktionäre Sicherheitsbewegungen schnell wieder genommen. ■


REVIEW | BUCH

Kein Vergeben, kein Vergessen Vor mehr als fünfzehn Jahren erschoss die italienische Polizei Carlo Giuliani. Ein neuer Graphic Novel rekonstruiert die Geschehnisse aus Sicht des Demonstranten und beschreibt, wie der Staat versuchte, seine Verantwortung zu vertuschen Von Lisa Hofmann

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enua im Juli 2001. Die Clique der mächtigsten Regierungschefs der Welt, die G8, tagt in der italienischen Hafenstadt. Seit Tagen herrscht der Ausnahmezustand. Die Staatsund Regierungschefs werden mit einem riesigen Polizeiaufgebot geschützt. Überall in der Stadt wurden Straßen mit meterhohen Zäunen und Panzersperren blockiert. Selbst die Kanaldeckel in der Innenstadt wurden verschweißt. Während des Treffens der G8 veranstaltet die gerade entstehende globalisierungskritische Bewegung durchgehend riesige Demonstrationen. Aus ganz Europa sind junge Menschen nach Genua gereist, um ihre Wut über die herrschenden Verhältnisse und die wachsende globale Ungerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen. Die Polizei reagiert auf diesen Protest mit massiver Gewalt. Am Nachmittag des 20. Juli, es ist der dritte Tag der gewalttätigen Auseinandersetzungen, findet in der Via Tolomaide eine Straßenschlacht zwischen Polizei und Demonstrierenden statt. Die Polizisten beginnen, Tränengasgranaten in die Menschenmenge zu schießen, die Demonstrierenden vermummen sich und errichten eine Barrikade aus Altglascontainern. Die Polizei unternimmt den Versuch, die Demonstrierenden nicht nur frontal sondern auch seitlich zu attackieren. Dies gelingt nur bedingt.

Daraufhin ziehen sich sowohl die Demonstrierenden als auch die Polizei zurück. Doch auf einmal werden aus einem Polizeiauto zwei Schüsse abgefeuert und der 21-jährige Familienvater Carlo Giuliani liegt mit zwei Kopfschüssen auf dem Asphalt der Piazza Gaetano Alimonda. In »Carlo Vive – G8, Genua 2001« versuchen die Autoren Francesco Barilli und Manuel de Carli mit den Mitteln des Graphic Novel zu rekonstruieren, wie es zum Tod von Carlo Giuliani kommen konnte, was am späten Nachmittag des 20. Juli 2001 passiert ist – und warum der italienische Staat und die Polizei bis heute nicht für diese Tat verantwortlich gemacht wurden. Gleichzeitig ist es das Ziel der Autoren, Carlo Giuliani als Person und handelndes Subjekt und nicht nur als eine Chiffre für maßlose Polizeigewalt darzustellen. Der Graphic Novel beginnt und endet mit einem Gedicht von Carlo Giuliani. Seine Geschichte und die Ereignisse, die zu seinem Tod führten, werden abwechselnd von seiner Schwester Elena und seinen Eltern, Haidi und Giuliano, erzählt und bewertet. Als Symbole der engen Verbindung zu Carlo wurden sie mit jeweils einem Gegenstand gezeichnet, den Carlo bei sich trug, als er starb. Elena trägt zu Beginn des zweiten Kapitels eine Sturmhaube, seine Mutter hält den Feuerlöscher in der Hand, mit dem er angeb-

lich einen Polizisten erschlagen wollte, und sein Vater hat die Rolle Klebeband dabei, die er um seinen Oberarm trug. Der Graphic Novel rekonstruiert in Schwarz-Weiß-Sequenzen das Leben und den Tod Carlos und den Versuch seiner Familie, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, sowie die Versuche des Staats und der Medien, die Tat zu vertuschen beziehungsweise sie den Demonstranten in die Schuhe zu schieben. Die einzelnen Sequenzen wirken dabei wie Szenen aus einem Film. Dieser Eindruck entsteht auch dadurch, dass manche Sequenzen aus dem vorhandenen Bildund Videomaterial der Presse und aus den Prozessakten abgezeichnet wurden. Mit dem Wissen, dass es sich um reale Szenen handelt, wirkt die dargestellte rohe Brutalität der Polizei oftmals verstörend. Allen, die das verkraften, kann ich »Carlo Vive« aber empfehlen: Die Autoren hatten das Ziel, eine lebendige Erinnerung an den Menschen Carlo Giuliani zu schaffen. Das ist ihnen sehr gut gelungen. ■

★ ★★ BUCH | Francesco Barilli / Manuel de Carli | Carlo Vive – G8, Genua 2001 | Bahoe books | Wien 2016 | 144 Seiten | 16 Euro

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Preview


PREVIEW | FILM

Geschichte von unten erzählen Vor hundert Jahren erschütterte die Oktoberrevolution Russland und die Welt. In der neuen Ausgabe des Journals theorie21 beleuchten wir die Hintergründe und fragen nach der Übertragbarkeit der historischen Erfahrungen auf die heutige politische Praxis

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Von Der THEORIE21-REDAKTION

ie Russische Revolution war eine der bedeutendsten Emanzipationsbestrebungen der Geschichte. Sie löste eine massenhafte Politisierung und das Mündigwerden der arbeitenden Bevölkerung aus. Für kurze Zeit schufen Menschen die fortschrittlichste Gesellschaftsordnung ihrer Zeit. Die Arbeiter- und Soldatenräte waren gelebte Demokratie von unten. Sie traten für Frauenrechte ein und stellten traditionelle Besitzverhältnisse in Frage. Obwohl die Errungenschaften dem bald folgenden Bürgerkrieg und dem Stalinismus zum Opfer fielen, ist die Russische Revolution auch heute noch ein wichtiger Bezugspunkt für den Kampf für eine bessere Welt. Die neue theorie21-Ausgabe widmet sich diesem historischen Ereignis. Was keine leichte Aufgabe ist: Die bisher erschienene Literatur zu 1917 ist uferlos, kaum ein Ereignis führte zu einer derart kontroversen historischen Debatte. Wir möchten die Geschichte der Russischen Revolution von unten erzählen. Es geht uns im ersten Teil des Heftes darum, die Erinnerung an die Errungenschaften der Revolution nicht verloren gehen zu lassen. Der liberalen und konservativen Geschichtsschreibung wollen wir eine alternative Erzählung entgegensetzen, in der 1917 nicht den Anfang der stalinistischen Diktatur markiert. Die Geschichte von unten zu erzählen, ist auch deswegen wichtig, weil die Nacherzählung von Geschichte auf unser gegenwärtiges Selbstverständnis erheblichen Einfluss hat. Wenn die Russische Revolution in unserer Erinnerung nur mehr als Blutbad einer mörderischen Bande machtfixierter Männer auftaucht, verlieren wir ein wesentliches Argument für die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse fundamental umzu-

stürzen. Aber wir schauen nicht nur als Historikerinnen und Historiker auf die Geschichte, sondern vor allem als Aktivistinnen und Aktivisten, die den Kapitalismus im Hier und Jetzt stürzen wollen. Deswegen müssen wir entscheiden, welche Elemente der historischen Auseinandersetzung besonders relevant sind für unsere gegenwärtigen Strategiedebatten. Zwei Aspekte der Oktoberrevolution scheinen uns besonders wichtig und werden daher im zweiten Teil des Journals behandelt. Zum einen stellt sich die Frage der Übertragbarkeit, also die Frage danach, ob und inwieweit die unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen von Russland im Jahre 1917 und unserer Gegenwart einen Vergleich politischer Strategien zulassen. Wir erörtern diese Frage an den Beispielen der Organisation linker Hegemonie, der Rolle von Gewerkschaften und der Bedeutung politischer Kunst. Zum anderen wagen wir einen Vergleich von revolutionärer Organisierung damals und heute: Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den bolschewistischen Organisationsformen ziehen, die uns in unseren heutigen Rahmenbedingungen von Nutzen sein können? Neben dem Theoriejournal wird sich das Netzwerk marx21 auch mit anderen Publikationen in die Diskussion um die Russische Revolution einbringen. theorie21 soll eine lebhafte Debatte über 1917 anstoßen, um dem Anspruch gerecht zu werden, dass wir Theoriearbeit als Theorieproduktion verstehen. Das bedeutet, im Sinne einer Emanzipation von unten die Welt theoretisch zu durchdringen, um strategische Schlussfolgerungen für die Veränderung dieser zu formulieren. So ein Unterfangen ist anspruchsvoll und bedarf demokratischer und offener Diskussionen. ■ marx21 01/2017

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PREVIEW | Proteste gegen die AFD

Der AfD die Show stehlen Am 22. und 23. April findet der Bundesparteitag der AfD in Köln statt. Wir sprachen mit Reiner Schmidt über die geplanten Proteste Interview: LISA HOFMANN Beim letzten Bundesparteitag der AfD in Stuttgart gab es Gegendemonstrationen und Blockaden. Ist für Köln ähnliches geplant? Ja und nein. Anders als in Stuttgart wollen wir nicht am Stadtrand im Kessel landen. Die Voraussetzungen dafür sind in Köln günstig. Das Tagungshotel Maritim liegt in der Stadtmitte. Egal, welche Strategie sich die Polizei überlegt, um die Rassisten zu schützen: Tausende werden am 22. April ab 7:30 Uhr morgens versuchen die Zugänge zum Parteitag zu blockieren. Die AfD tagt im Maritim-Hotel – nicht zum ersten Mal, oder? Ja, die Maritim-Kette zeichnet sich seit Jahren durch eine »Willkommenskultur« gegenüber der AfD und anderer rechter Gruppierungen aus und sagt selbst nach vehementen Protesten quer durch die Stadtgesellschaft diese Veranstaltungen nicht ab. Bis zum 22. April ist es nicht mehr so lange. Gibt es schon ein breites Bündnis und Mobilisierungen zu den Protesten? Am 18. Januar trafen sich auf Einladung des antifaschistischen Aktionsbündnisses »Köln gegen rechts« mehr als dreißig Gruppen, Migrantenorganisationen, Initiativen und Bündnisse aus dem Kölner Raum und diskutierten über die Proteste gegen den AfD-Bundesparteitag. Es wurden folgende Schritte vereinbart: Blockaden und Großdemonstrationen in Köln am 22. April, eine bundesweite Kampagne gegen den Umgang der Maritim-Kette mit der AfD und politische und kulturelle Aktionswochen in und um Köln, die unter dem Motto »Solidarität statt Hetze – Der AfD die Show stehlen« der rechtzeitigen Mobilisierung dienen sollen. 86 | marx21 01/2017

Reiner Schmidt

Reiner Schmidt ist Mitglied der Interventionistischen Linken Köln und Aktivist bei »Köln gegen Rechts« ★ ★★ Blockaden und Demonstration Am 22./23.4. soll im Kölner Maritim-Hotel der nächste Bundesparteitag der AfD stattfinden. Geplant sind Blockaden und eine bundesweite Großdemonstration in Köln

Björn Höcke und andere führende AfDMitglieder fallen immer wieder durch krasse rechte Äußerungen auf. Macht es das einfacher, den Gegenprotest zu organisieren? Ja und nein. Selbstverständlich mobilisiert die Tatsache, dass die AfD ihre Nazis gewähren lässt, einige aus dem sozialliberalen Lager zu den Protesten. Und das ist gut so. Aber wäre das Problem rassistische Hetze, frauenfeindliche Positionen, neoliberaler Wirtschaftspolitik und Militarismus in der AfD gelöst, wenn die Partei Höcke ausschließen würde? Oder noch deutlicher: Hätte sich mit einem

Abflauen der Wahlergebnisse der AfD das Problem der Verschiebung des Mainstreams nach rechts erledigt? Ihr organsiert schon länger Proteste gegen die Pro-Bewegung und gegen Pegida und Hogesa. Welche Erfahrungen habt ihr bisher gemacht? Köln hat eine lange Tradition von antifaschistischen Protesten und von Blockaden gegen rechte Großveranstaltungen: sei es der »Antiislamisierungskongress« 2008, der erfolgreich durch Blockaden verhindert wurde, seien es die vielen nachfolgenden Veranstaltungen aus dem Pro-Köln/-NRW-Spektrum, die Mobilisierungen gegen Hogesa und der erfolgreich verhinderte Kongress des »Compact«-Magazins im vergangenen Jahr. Meist haben wir in Köln den Spagat zwischen Antifa und dem zivilgesellschaftlichen Protestspektrum hinbekommen. Das zeichnet sich auch diesmal ab. Was kann man machen, wenn man die Gegenproteste unterstützen möchte? Im Vorfeld der eigentlichen Aktionstage wäre es wichtig, sich auch in anderen Städten, in denen es Maritim-Hotels gibt, an der Kampagne gegen die Hotelkette als privilegierten Partner der AfD zu beteiligen. Es gibt einen Flyer, der diese Partnerschaft skandalisiert. Und es gibt einen offenen Brief, den Hotelgäste, Künstlerinnen und Künstler oder Gewerkschaften unterschreiben sollten. Er wird Mitte März an die Geschäftsführung und den Betriebsrat des Maritim geschickt und diese abermals auffordern, den Parteitag in Köln abzusagen. Flyer und offener Brief können bestellt werden bei gegenrechts@riseup.net. Und natürlich nicht zu vergessen: Kommt am 22. April nach Köln! ■




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