marx21 Ausgabe Nummer 46 / 04-2016

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marx21 04/2016 | winter 2016/2017 | 4,50 EURO | marx21.de

Wer sind die Identitären?

Türkei Was Erdogan wirklich will

Pränataldiagnostik

Sollten Frauen ein behindertes Kind abtreiben dürfen?

Lokführer, Piloten & Co. Warum ihre Streiks allen Beschäftigten nützen

Syrienkrieg

Ein Buch gegen die schlechten Nachrichten

Weihnachten War Jesus ein Roter?

Neue Linke in Polen Rechte Regierung unter Druck Pro & Contra R2G gegen den Rechtsruck?

Antifaschismus

Magazin für internationalen Sozialismus

Trump, Le Pen, Petry: Warum die Rechten von der Krise der Herrschenden profitieren – und was die Linke dem entgegensetzen kann.

Verschwörungstheorie Mit Marx gegen die Illuminaten

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195906

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Österreich 4,70 EURO SCHWEIZ 7,50 CHF

Behindertenrechte Diskriminierung per Gesetz


Fotofeature | Berlin

BERLIN Am 4. November protestieren das Umweltinstitut München, Campact und die Antiatomorganisation »ausgestrahlt« vor dem Finanzministerium dagegen, dass die Brennelementsteuer für Atomkraftwerke voraussichtlich im Dezember auslaufen wird. Diese war im Jahr 2011 mit dem Ziel in Kraft getreten, den Wettbewerbsvorteil der AKWBetreiber auszugleichen und sie an den Kosten der Atomenergie zu beteiligen. Mit der Abschaffung der Steuer würden dem Staat laut Campact Einnahmen in Höhe von etwa 750 Millionen Euro entgehen. Daher fordern die Organisatoren des Protests eine Verlängerung der Brennelementsteuer über das Jahr 2017 hinaus. Zudem haben sie eine Onlineaktion gegen die Milliardengeschenke an die Atomkonzerne begonnen, an der sich schon über 200.000 Menschen beteiligt haben. © Jakob Huber / Campact / flickr.com / CC BY-NC


EDITORIAL | WINTER 2016/17

Liebe Leserinnen und Leser,

E

s war ein Schock für die Herrschenden, aber auch für die Linke: Der 45. US-Präsident wird ein rassistischer und frauenverachtender Milliardär sein, der in einem vergoldeten Wolkenkratzer residiert und von dort gegen die »Eliten« wettert. Zugegeben, auch wir rieben uns am Morgen nach der Wahl verwundert die Augen. Die ideologische Krise der Herrschenden ist seit langem sichtbar, aber wir haben offensichtlich unterschätzt, wie tief sie ist. Doch was bedeutet Trumps Sieg für die USA, für die Welt und für die Möglichkeiten für Widerstand? Unserer Redaktion brachte er erst einmal die Einsicht, dass der bis dahin geplante Schwerpunkt zur Demokratischen Partei und der fatalen Logik des »kleineren Übels« so wohl eher nicht funktionieren würde. Während wir in den folgenden Tagen mit einer Welle rassistischer Gewalt in den USA, aber auch Massenprotesten gegen Trump, bereits einen Vorgeschmack auf dessen Präsidentschaft bekamen, machten wir uns also an die Ursachenforschung. Offensichtlich ist, dass Trumps Erfolg Ausdruck eines Phänomens ist, das seit Beginn der Krise 2008 in vielen Staaten beobachtet werden kann. Auch in Europa verliert das politische Establishment an Zuspruch und die extreme Rechte befindet sich auf dem Vormarsch. Daher fragen wir in unserem Titelthema »Zeit der Monster« nach den tieferen Ursachen dieser Entwicklung und den Perspektiven für die Linke. Um zu verstehen, was in den USA passiert ist, baten wir den New Yorker Aktivisten und Autor Sean Larson um eine Erklärung. Seine Analyse findet ihr auf Seite 20. Um die instabile Weltlage greifbar zu machen, lohnt wie immer aber auch der Griff in die marxistische Theoriekiste: Christian Schröppel wirft für uns einen Blick in die Schriften von Karl Marx und zeigt, dass dieser uns auch ohne persön-

liche Bekanntschaft einiges über Trump erzählen kann. Doch damit nicht genug: Unsere Redaktion hat es fertig gebracht, den vor achtzig Jahren verstorbenen Marxisten Antonio Gramsci für ein Interview zu gewinnen. Er hält die Situation für »delikat und gefährlich«, sieht darin jedoch auch Chancen für »unsere Partei«. Das Interview gibt es auf Seite 28. Doch nicht nur die Weltpolitik durchläuft turbulente Zeiten. So ereilte uns im Oktober die schlechte Nachricht, dass Clara Dirksen nach über vier Jahren unsere Redaktion verlassen wird. Neue Aufgaben in der LINKEN rufen. Ihr Abschied brachte nicht nur kurzfristig unsere Rubrik »Review & Preview« ins Wanken, sondern bedeutet auch, dass der Rest der Redaktion nun noch öfter den Duden wird aufschlagen müssen. Doch es gibt auch gute Nachrichten: Bereits seit letzter Ausgabe adelt Tilman von Berlepsch unser Redaktionsteam durch seine Mitarbeit und seit November ist nun auch Lisa Hofmann an Bord. Ihr ist es auch zu verdanken, dass wir euch weiterhin in jeder Ausgabe zahlreiche Bücher, Filme und Events vorstellen können. Herzlich gratulieren möchten wir Klaus Stuttmann, der uns jede Ausgabe eine seiner Karikaturen zur Verfügung stellt und nun den ersten Platz beim Deutschen Karikaturenpreis erhielt. Die Gewinnerzeichnung findet ihr auf Seite 33. Bevor ihr weiterblättert, bitte noch schnell den Kalender zücken. Denn der Termin für »MARX IS‘ MUSS 2017« steht fest. Kommendes Jahr wird unser Kongress vom 25. bis 28. Mai in Berlin stattfinden. Erstes Mobilisierungsmaterial ist gerade frisch aus dem Druck gekommen und die Programmplanung läuft auf Hochtouren. Am besten gleich anmelden unter www.marxismuss.de.

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Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 68 23 14 90 marx21 04/2016

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inhalt

MARX21 #46 | WINTER 2016/17

Titelthema: Zeit der Monster Leitartikel Wie die Linke den Kampf um die Arbeiterklasse gewinnen kann

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Infografik Das Geheimnis von Trumps zweifelhaftem Sieg

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USA Wie die Linke sich aus der Schockstarre befreit

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Faschismusdebatte Warum Trump kein neuer Mussolini ist

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Bonapartismus Kann Marx Trump erklären?

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Indigener Widerstand Standing Rock und der Kampf gegen die US-Ölkonzerne

Hegemoniekrise Ein Gespräch mit Antonio Gramsci über das Ende des amerikanischen Traums 30 Inland Lokführer,Piloten & Co. Warum ihre Streiks allen Beschäftigten helfen

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Rot-Rot-Grün in Berlin Ein Spiel mit dem Feuer 33 Identitäre Bewegung Wie sie den rechten Rand modernisiert

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AfD Wie die Partei sich für Nazis öffnet

37

Bundesteilhabegesetz Wie der Neoliberalismus das Behindertenrecht erfasst 46

marx21.de

Pränataldiagnostik Dürfen Frauen ein behindertes Kind abtreiben?

48

Pro & Contra Linke Regierung gegen den Rechtsruck?

52

G20-Gipfel Warum du im Juli 2017 nach Hamburg kommen musst

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Internationales

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marx21 04/2016

Türkei Was Erdogan wirklich will

08

Indigener Widerstand Standing Rock und der Kampf gegen die US-Ölkonzerne

12

Hochschulreform Wie eine Million Studierende gegen die spanische Regierung rebellieren

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Südkorea Massenproteste können Präsidentin stürzen

38

Marroko Die katastrophalen Folgen der neoliberalen EU-Politik

39

Syrienkrieg Ein Buch gegen die schlechten Nachrichten

40

Neue Linke in Polen Warum die rechte Regierung ins Schwitzen gerät

43

20

USA Wie sich die Linke aus der Schockstarre befreit


08

Türkei Was Erdogan wirklich will

54

Neuer Klassiker Ein Buch, das deinen Blick auf die Weltgeschichte verändern wird

Geschichte Neuer Klassiker Ein Buch, das deinen Blick auf die Weltgeschichte verändern wird

54

Christentum War Jesus ein Roter? Große Frauen Ein Kalender erinnert an vergessene Kämpferinnen für eine andere Welt

62

Migration Die Geschichte des Schlepperwesens Radikale Ökologie Eine kleine Geschichte der Umweltbewegung

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73

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Theorie Verschwörungstheorien Mit Marx gegen die Illuminaten Proleten, Pöbel, Parasiten Verachtet die Linke die Arbeiterklasse? Abstiegsgesellschaft Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne

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Kultur Weihnachten Was unter jeden Baum gehört

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TV-Serien Die besten, die niemand kennt

68

Album des Monats Kate Tempest begeistert mit Poetry, Politik und linken Perspektiven 74

68

TV-Serien Die besten, die niemand kennt

62

Christentum War Jesus ein Roter?

Roman Wie eine Träne im Ozean

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Film Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki

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Rubriken

58

Verschwörungstheorien Mit Marx gegen die Illuminaten

Fotofeature Editorial Impressum Betriebsversammlung Briefe an die Redaktion Fotostory Unsere Meinung Weltweiter Widerstand marx21 Online Review Preview

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IMpressum | WINTER 2016/17

marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 10. Jahrgang, Heft 46 Nr. 4, Winter 2016/17 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Print & Online Yaak Pabst (leitender Redakteur/V.i.S.d.P.), Martin Haller (stellv.), Tilman von Berlepsch, Lisa Hofmann, David Jeikowski, Jan Maas, Boris Marlow, Estela García Priego (Praktikantin) Lektorat Clara Dirksen, Brian E. Janßen, David Paenson, Christoph Timann, Irmgard Wurdack Übersetzungen David Paenson, Frank Simon Layout Yaak Pabst Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat Stefan Bornost, Christine Buchholz, Michael Ferschke, Werner Halbauer, Christoph Hoffmeier, Rhonda Koch, Sven Kühn, Julia Meier, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Fanni Stolz, Oskar Stolz, Ben Stotz, Anton Thun, Heinz Willemsen, Luigi Wolf Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint viermal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 68 23 14 90 Fax: 030 – 68 22 97 35 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint Ende Februar 2017 (Redaktionsschluss: 20.01.)

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marx21 04/2016

Christoph Timann, Lektorat

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olitisch aktiv wird Christoph schon sehr früh. Schockiert über die gewalttätigen, rassistischen Übergriffe auf Asylbewerberunterkünfte beteiligt er sich Anfang der 1990er Jahre zusammen mit seinen Eltern an Lichterketten gegen Rassismus. Während dieser Zeit bekommt er das Buch »Die Roten Matrosen« von Klaus Kordon geschenkt. »Das habe ich in kurzer Zeit verschlungen, und es hat wohl den Grundstein dafür gelegt, dass ich mich später revolutionär organisiert habe«, erinnert sich Christoph. Während des Kosovokriegs erschüttert ihn die militärische Beteiligung Deutschlands an diesem Konflikt und er tritt zwei Monate nach Beginn des Bundeswehreinsatz der Organisation Linksruck bei. Die Themen Krieg und Antirassismus bestimmen bis heute das politische Engagement des leidenschaftlichen Chorsängers. Er beteiligt sich an den Millionenprotesten gegen den Irakkrieg, wird Gründungsmitglied der LINKEN in Hamburg und versucht aktuell das Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« mitaufzubauen. Christoph schreibt zwar gelegentlich Artikel für marx21, sein hauptsächlicher Beitrag zum Magazin besteht aber im Korrekturlesen. Das Aufspüren und Korrigieren von Fehlern macht Christoph große Freude. Er erzählt, dass er diese Eigenschaft wohl von seinem Großvater geerbt hat, »der sogar so weit gegangen ist, beim Bücherlesen immer einen Bleistift zur Hand zu haben, um mögliche Fehler zu korrigieren«. Auch bei dieser Ausgabe hat Christoph wieder dazu beigetragen, dass sie möglichst fehlerfrei ist und sich alle Satzzeichen an der richtigen Stelle befinden.

Das Nächste Mal: Tilman von Berlepsch


Briefe an die Redaktion | WINTER 2016/17

Briefe an die Redaktion

Sollten die Briten tatsächlich einen Premierminister Corbyn wählen, der ein radikales Reformprogramm durchsetzen will, benötigt er die aktive Unterstützung sozialer Bewegungen, die momentan noch im Aufbau sind. Glücklicherweise sind die ersten kleinen Schritte zu deren Aufbau schon gemacht worden. Dass nicht nur junge Leute involviert sind, ist eher zu begrüßen. Phil Butland, Berlin

Zum Artikel »Schimon Peres: der Friedensstifter?« von Ilan Pappe (marx21.de, 30.09.2016)

Zum Artikel »Der Brexit und die CorbynBewegung« von Charlie Kimber (Heft 3/2016) In einer Bildunterschrift heißt es: »Jeremy Corbyn hat eine politische Bewegung losgetreten, die hunderttausende vorwiegend junge Menschen begeistert«. Obwohl Corbyn tatsächlich viele Jugendliche begeistert hat, bejubeln keineswegs nur junge Leute seinen Aufstieg. Viele ältere Leute, die sich von der LabourPartei nach dem Golfkrieg verabschiedet hatten, sind nun wieder eingetreten – auch meine Eltern gehören dazu. Auf Facebook beobachte ich, dass viele alte Schulfreundinnen und -freunde sich ebenso positiv auf Corbyn beziehen wie meine alten Lehrerinnen und Lehrer. Obwohl viele von ihnen erst seit kurzem politisch aktiv sind, wäre es übertrieben, sie als Jugendliche zu bezeichnen. Verschiedene Statistiken belegen meine subjektiven Eindrücke. Seit dem vergangenen Jahr hat sich die Zahl der Labour-Mitglieder verdreifacht: von 200.000 auf 600.000. In diesem Zeitraum ist ihr Durchschnittsalter in der Tat leicht gestiegen. Bei seiner Wahl zum Labour-Vorsitzenden hat Corbyn in jeder Altersgruppe eine absolute Mehrheit erhalten – abgesehen von einer Ausnahme: bei den 18- bis 24-Jährigen. Diese Fakten sind aus zwei Gründen wichtig – einer davon ist eher positiv, der andere eher negativ. Zunächst einmal ist es begrüßenswert, dass die Unterstützung für Corbyn Breite und Tiefe hat, denn das bedeutet, dass sie dauerhaft anhalten kann. Eine Bewegung, die nur von begeisterten Jugendlichen getragen wird, kann oft wie eine Rakete aufsteigen, um dann schnell zu verglühen. Allerdings verfügen die neuen Corbyn-Fans über wenig politische Erfahrung. Und wenn überhaupt, dann haben sie diese eher online als auf der Straße gesammelt. Gerade ältere Leute haben weniger Zeit für Straßenaktionen. Trotzdem können sie ihren Beitrag leisten.

Wer hat wem 1948 den Krieg erklärt? Wer war sich am Anfang des Kriegs siegessicher, wen »ins Meer zurück zu treiben«? Wer hat der palästinensischen Bevölkerung die Lüge aufgeschwatzt, dass sie in sieben Tagen wieder zurückkehren können würden, wenn sie jetzt – vorübergehend – in die Nachbarländer flüchten würden? Kritische Betrachtung der Person Peres? Unbedingt! Geschichtsverfälschung? Bitte nicht! Gustav Mazerat, auf unserer Facebook-Seite

Zum Kommentar »Lateinamerika: Die dritte Alternative« von Felipe Magnus Carvalho Schmidt und Nicole Möller-González (marx21. de, 08.08.2016) Meines Erachtens greift es viel zu kurz, primär auf politische Verselbstständigungen und Korruption abzuheben. Das Grundproblem scheint mir, dass es nicht gelungen ist, eine funktionierende und hinreichend produktive Wirtschaft aufzubauen, die nicht nur am Tropf der Öleinnahmen hängt und damit in Abhängigkeit von hohen Ölpreisen funktioniert. Effektivere Umverteilung und Kontrolle der Bürokratie reicht da nicht. Ralf Krämer, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Venezuela: Das Ende von Chavez Traum?« von Mike Gonzalez (marx21.de, 31.10.2016) Interessanter Text, aber es bleibt offen, warum die demokratische Kontrolle der angeblichen »Revolution« in Venezuela vollständig gescheitert ist. Wieso wird eine neu gegründete sozialistische Partei sofort zum Instrument von Korruption und Unterdrückung? Hans Krause, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Warum Trump siegte« von der marx21-Redaktion (marx21.de, 31.10.2016) Ich gehöre wohl zu der eher geringen Anzahl von Leuten, die nicht so überrascht sind über den Wahlsieg Trumps. Die liberale Mittelschicht konnte sich nicht vorstellen, dass der Brexit durchkommt. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass ein

Hitler aufsteigt, viel zu lumpenproletarisch, wobei ich ausdrücklich Trump nicht mit Hitler vergleichen möchte. Trump ist kein Faschist, er baut keine faschistische Partei und Bewegung auf, aber er hat sehr bewusst an die schlimmsten Ressentiments appelliert, an Sexismus, Rassismus jeder Art, um sich andere Wählerschichten zu erschließen. Er hat damit die Homophoben, Rassisten und Sexisten ermutigt, mit ihrem »das wird man doch mal sagen dürfen« und ihrer Haltung gegen »political correctness«. Er hat denen Nahrung gegeben, die das Potenzial für eine faschistische Bewegung werden können, wenn die Linke sich nicht endlich von den Demokraten löst, eine eigene Partei bildet und den Kampf aufnimmt. Streikbewegungen gehören dazu, Black Lives Matter und auch der Kampf um Frauenrechte wie das Recht auf Abtreibung. Marie Rose, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Die Schlacht um Mossul wird eine Katastrophe auslösen« von Christine Buchholz (marx21.de, 19.10.2016) Daesch, der »IS«, kann nur von den Menschen selbst politisch besiegt werden. Das kann die Zivilgesellschaft aber erst schaffen, wenn alle ausländischen Armeen abziehen und ihre Bombardierungen einstellen. Das sollte auch unsere Forderung sein. Die sektiererischen Milizen der Zentralregierung, die sogenannten Schabiha-(»Geister«-)Milizen zu unterstützen, die ziemlich das gleiche wie der »IS« machen, nur gegen die sunnitische Bevölkerung, ist sicherlich keine Lösung. Die imperialistischen Militärinterventionen der US-geführten Allianzen und die damit einhergehende Teile-und-Herrsche-Politik sowie die Unterstützung des konservativen sektiererischen Regimes haben al-Kaida im Irak und damit den »Islamischen Staat im Irak« seit 2007 erst hervorgebracht. Mossul hatte 2010 etwa 2,9 Millionen Einwohner und könnte jetzt zu einem zweiten Aleppo werden. Aleppo hatte vor dem Beginn der russischen Bombardierungen noch zwei Millionen Einwohner. Jetzt sind etwa 270.000 Menschen im Ostteil Aleppos durch die Bombardierungen und die Belagerung vom Hungertod bedroht. Wie kann ein Linker so etwas mit dem einseitigen Verweis auf Daesch, als ob das die einzige unappetitliche Kriegspartei sei, rechtfertigten wollen? Frank Mackimmie, auf unserer Facebook-Seite

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

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Türkei | Was Erdogan wirklich will

Oppositionspolitiker werden verhaftet, kurdische Gebiete bombardiert. Die Nachrichten aus der Türkei sind bedrückend. Was Erdogan bezweckt, was seine Politik für die Menschen bedeutet und wie die Linke jetzt reagieren sollte, erläutert Ron Margulies aus Istanbul Interview und Übersetzung: Tilman von Berlepsch

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Türkei | Was erdogan wirklich will

»Einen Keil zwischen Erdogan und die Arbeiterklasse treiben«

Ron Margulies

Ron Margulies ist Dichter, Journalist und Mitglied der Devrimci Sosyalist İşçi Partisi (DSİP, dt.: Revolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei).

Nach dem Putschversuch des türkischen Militärs hat Erdogan den Ausnahmezustand ausgerufen. Welche Befugnisse hat er nun und wie setzt er sie ein? Mit dem Ausnahmezustand kann die Regierung per Dekret regieren. Das bedeutet, dass die Regierung ohne Einbeziehung des Parlaments Gesetze beschließen kann. Außerdem werden Gerichtsverfahren abgekürzt, was Festnahmen und Gefängnisstrafen vereinfacht. Der Ausnahmezustand wurde ursprünglich für drei Monate ausgerufen und dann verlängert. Erdogan kündigte an, dass er mindestens ein Jahr bestehen bleibt. Das bedeutet die komplette Abschaffung der Demokratie. Natürlich müssen die Verantwortlichen des Putsches vor Gericht gestellt werden. Aber dafür ist das geltende Recht völlig ausreichend. Das zeigt, dass der Ausnahmezustand nicht für die Bestrafung der Putschisten ausgerufen wurde, sondern damit die Regierung freie Hand bei ihrem eigentlichen Vorhaben hat.

Die kurdische Bewegung hat in den letzten Jahren viele Rückschläge erleiden müssen. Zunächst möchte ich daran erinnern, dass die linke prokurdische Partei HDP bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 13 Prozent erreicht hat. Das sind sechs Millionen Stimmen – ein riesiger Erfolg. Diesen Erfolg wiederholte die HDP, als sie bei der Wahlwiederholung im November letzten Jahres wieder 10 Prozent erreichte – diesmal unter extrem schwierigen Bedingungen. Als jedoch der Friedensprozess durch die Regierung abgebrochen wurde und sich gleichzeitig die Kurden im Norden Syri-

Und das wäre? Die vollständige Unterdrückung der Opposition. Die Regierung hat es vor allem auf zwei Ziele abgesehen: Das GülenNetzwerk und die kurdische Bewegung. Alle Personen, die verhaftet wurden oder ihren Job verloren haben, sind Mitglieder oder Sympathisanten einer dieser beiden Bewegungen. Der kritische Punkt ist, dass es nicht verboten ist, ein Unterstützer der GülenBewegung zu sein. Der Putsch war eine Straftat, ja. Aber die Regierung zielt nicht nur auf die Putschisten, sondern auf alle, die beispielsweise ein Konto auf einer Bank der Gülen-Bewegung haben oder bei einer kritischen Zeitung oder einem kritischen Fernsehsender arbeiten. Das ist absurd und illegal. Genauso werden Anhänger der kurdischen Bewegung oder HDP-Aktivistinnen und -Aktivisten, die für eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts kämpfen, kriminalisiert. Nach türkischem Recht haben sie nichts Illegales gemacht. Doch die Regierung setzt auf volle Konfrontation mit den Kurden – innerhalb der Türkei und im Norden Syriens. Dafür nutzt Erdogan den Ausnahmezustand.

ens erfolgreich dem IS widersetzten, kam es zu Autonomiebestrebungen in den kurdischen Regionen in der Türkei. Der türkische Staat reagierte darauf mit roher militärischer Gewalt. Hunderte Kurdinnen und Kurden wurden getötet, mehrere Städte und Viertel zerstört und Tausende verloren ihre Häuser. Das hatte ohne Zweifel einen demoralisierenden Effekt auf die Bewegung. Dennoch bleibt die kurdische Bewegung eine starke Massenbewegung. Sie hat sich bisher noch von jedem Rückschlag wieder erholt.

Konnte Erdogan die kurdische Bewegung schwächen?

Erdogan will die vollständige Unterdrückung der Opposition

…und die türkische Linke? Die türkische Linke ist schon seit langer Zeit sehr schwach. Das liegt daran, dass sie Erdogans AKP von der falschen Richtung attackiert. Die Republikanische Volkspartei (CHP), die sich selbst als sozialdemokratisch darstellt und von vielen als links wahrgenommen wird, argumentiert von einem nationalistisch-kemalistischen antimuslimischen Standpunkt aus. So hat die CHP beispielsweise die Regierung nicht für die Verzögerung der Friedensgespräche mit den Kurden kritisiert, sondern für die vermeintliche Aufgabe der nationalen Einheit durch zu viele Zugeständnisse an die kurdische Bewegung. Viele Linke sehen ihre Hauptaufgabe in der Verteidigung des Säkularismus gegen

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Türkei | Was Erdogan wirklich will

Der Schriftsteller Orhan Pamuk spricht von einem »Terrorregime«… Das trifft es schon eher. Der Staat terrorisiert die Menschen buchstäblich. Die Angst davor, verhaftet zu werden oder den Job zu verlieren, ist weit verbreitet. Aber besonders hilfreich ist die Bezeichnung nicht. Ich würde eher von einem zunehmend autoritären Staat sprechen.

© Myigitdocumenter / Flickr.com / Public Domain Mark 1.0

Die Repressionen gegen die Medien und Verhaftungen haben enorme Ausmaße angenommen. 40.000 wurden ins Gefängnis gesteckt, 150.000 Beamte verloren ihren Job. Ist die Türkei auf dem Weg in einen »faschistischen Staat«? Die Türkei als »faschistischen Staat« zu bezeichnen ist absurd. Wäre sie ein faschistischer Staat, gäbe es keine kurdische Partei, geschweige denn Abgeordnete. Es gäbe auch keine freien Gewerkschaften und Streiks. Nicht alles was wir nicht mögen, dürfen wir als Faschismus bezeichnen.

© The Weekly Bull / RonF / Flickr.com / CC BY-NC-ND

die islamische Bedrohung durch die AKP. Dadurch bleibt die Linke isoliert und hat keine Chance, einen Keil zwischen die AKP-Führung und ihre religiöse und arme Anhängerschaft zu treiben. Deswegen bleibt die Linke schwach – im Parlament wie auch auf der Straße.

Die Türkei als faschistisch zu bezeichnen, ist absurd Ist Erdogans »Säuberungswelle« die Reaktion auf sein Scheitern bei dem Versuch, ein Präsidialsystem einzuführen? Es gibt in der Türkei, aber auch im Ausland, die Tendenz, alles was im Land passiert, auf Erdogan zu beziehen. So als würde eine Person allmächtig und eigenhändig das ganze Land steuern. Diese Sichtweise führt in die Irre. Es besteht kein Zweifel, dass Erdogan gerne ein Präsidialsystem einführen würde.

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Aber das erklärt nicht alles was er tut. Man muss beachten, dass er aus einer konservativen und islamischen politischen Tradition kommt, die den türkischen Nationalismus hochhält und den Staatsapparat sowie das Militär schätzt. Ja, Erdogan möchte die Türkei konservativer und religiöser machen. Aber vor allem möchte er die Türkei zu einer starken Macht in der Region machen, damit sie ihre Interessen gegen die großen Westmächte behaupten kann. Und natürlich sieht er für sich und seine Partei dabei die Führungsrolle vor.

Oben: »Stoppt den Krieg des türkischen Staats gegen die Kurden«. Wie hier im Frühjahr 2016 in London, gibt es in vielen Städten weltweit Solidaritätsdemonstrationen mit der türkischen Linken und dem kurdischen Widerstand Unten: Zehntausende Menschen stellen sich in der Nacht vom 15. Juli in Istanbul den Panzern in den Weg und verhindern den Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs


Türkei | Was erdogan wirklich will

Wie geht er jetzt vor? Sein Hauptproblem war von Anfang an, dass der kemalistische Staatsapparat, also das Militär, die Verwaltung und die Gerichte, ihn nicht akzeptierte. Sie nahmen ihn als eine Bedrohung für die »säkulare Republik«, wie sie Atatürk ausgerufen hat, wahr. Also begannen sie, ihn zu behindern. Deswegen ergriff Erdogan in seiner ersten Amtsperiode Maßnahmen gegen den militärischen und zivilen kemalistischen Apparat. Ansonsten wäre er vermutlich nach einem Staatsstreich gehängt worden. Erfolgreich war er, weil er in dieser Zeit eine Allianz mit der Gülen-Bewegung einging. Dies ist auch der Grund, warum die Anhänger der GülenBewegung so umfangreich den Staatsapparat infiltrieren konnten. Als 2010 die Verbindung zur Gülen-Bewegung abbrach, schmiedete Erdogan eine Allianz mit den Kemalisten aus Militär und Verwaltung. Zu gemeinsamen Feinden wurden die Gülen-Bewegung und – noch wichtiger – die kurdische Bewegung erklärt. Von nun an wurden diese beiden mit aller Kraft des Staats bekämpft. Die jetzige Kooperation zwischen Erdogans AKP und der faschistischen MHP ist der parlamentarische Ausdruck dessen. Außenpolitisch steht Erdogan unter dem Druck zweier konkurrierender imperialer Blöcke. Die EU und die USA brauchen die Türkei als wichtigen Nato-Verbündeten. Andererseits muss die Türkei sich mit Russland arrangieren, wie die Aussöhnung um den abgeschossenen russischen Kampfjet gezeigt hat. Wohin steuert die Türkei außenpolitisch? Die türkische Außenpolitik hat ein kurzfristiges und ein langfristiges Ziel. Das kurzfristige unmittelbare Ziel ist es, die Etablierung einer kurdischen Autonomieregion im Norden Syriens, die vor zwei Jahren mit den erfolgreichen Kämpfen gegen den IS begonnen hat, zu verhindern. Der türkische Staat möchte unbedingt verhindern, dass sich entlang der gesamten südlichen Grenze der Türkei, in Syrien und im Irak, kurdische Staaten halten. Im irakischen Norden konnte er kurdische Gebiete nicht verhindern, da diese unter dem Schutz der USA standen. Er musste sich damit arrangieren und unterhält mittlerweile gute Handelsbeziehungen mit der Barzani-Regierung.

Die kurdischen Gebiete in Syrien haben jedoch einen gänzlich anderen Charakter, denn sie werden von der PKK geführt. Der türkische Staat sieht sich also in einer Situation, wo eine Organisation als Nachbarstaat auftreten könnte, die er schon im Inland bekämpft. Um das zu verhindern, ist die türkische Armee in Syrien einge-

»IS-Mentalität«. Nach ein paar Tagen korrigierte er sich und unterstützte die Menschenmenge, die gegen den Putsch auf die Straße gegangen war. Dies zeigt jedoch seine instinktive Reaktion, sowie die vieler Linker. Die türkische Linke war nicht nur kein Teil des Widerstands gegen den Militärputsch, sondern

Die Menschen wollen keinen Krieg und bestehen auf ihre demokratischen Rechte rückt. Aus dem gleichen Grund wurden die Friedensverhandlungen abgebrochen und der offene Krieg gegen die kurdische Bewegung in der Türkei wieder aufgenommen. Langfristiges Ziel der türkischen Außenpolitik ist es, die wichtigste Macht in der Region zu werden. Dies erschien realistischer, bevor das Scheitern der syrischen Revolution die gesamte Region ins Chaos stürzte. Jetzt, wo Washington die syrischen Kurden als einzig effektive Kraft gegen den IS unterstützt und Russland Assad beisteht, wurde die Türkei in ihre Schranken verwiesen.

fühlte sich sogar von den Menschen auf der Straße bedroht. Warum gibt es keine Massenbewegung für den Frieden? Das ist nicht so einfach. Wir versuchen genau das aufzubauen und es hat für uns oberste Priorität. Die türkische Regierung hingegen benutzt das tägliche Sterben türkischer Soldaten, um ihnen als Märtyrer gegen »PKK-Terrorismus« zu huldigen und den türkischen Nationalismus zu feiern. Der Umstand, dass die Linke losgelöst von den gewöhnlichen Arbeitern agiert, erschwert das Ganze.

Der HDP-Vorsitzende Demirtas sprach nach dem Putschversuch von der »Macht der Straße«. Wieso bekommt nur Erdogan seine Anhänger auf die Straße, aber seine Gegner nicht? Der Putschversuch wurde durch den Einsatz tausender Menschen verhindert, die sich vor die Panzer gestellt haben. Dies ist bei keinem Militärputsch zuvor passiert und wurde von den Putschisten nicht erwartet. Nicht alle Leute auf der Straße waren Anhänger der AKP. Es ist wichtig zu verstehen, dass - egal welche persönliche Motivation dahinter stand – das Aufhalten der Panzer ein großer Sieg für die Demokratie war. Leider erkannte das weder die HDP noch die übrige Linke. Da manche der Menschen auf der Straße religiös waren und die Moscheen zum Widerstand aufgerufen haben, beschimpfte die Linke die Massen als »reaktionär«. Der jetzt verhaftete HDP-Chef Demirtas bezeichnete die Stimmung auf der Straße zunächst als

Was müsste die Linke eigentlich tun? Erdogans Popularität war schon vor dem Putschversuch sehr hoch. Nach dem Putsch ist seine Zustimmung auf 60 Prozent gewachsen. Unter diesen Umständen sind Kampagnen gegen seine Person zwecklos. Was wir tun müssen, ist einen Keil zwischen ihn und die Arbeiterklasse treiben, ohne ihn oder die Menschen, die ihn wählen, zu beleidigen. Wir müssen für Demokratie und Frieden streiten und die Rechtsstaatlichkeit gegen Eingriffe verteidigen. Wir müssen sicherstellen, dass wir nicht als Anhänger der Putschisten angesehen werden, dass wir keine Unterstützer der Kemalisten und nicht islamophob sind. Ich habe keine Zweifel, dass viele Menschen, die Erdogan ihre Stimme gegeben haben, über viele seiner Schritte unglücklich sind. Die Menschen wollen keinen Krieg und bestehen auf ihre demokratischen Rechte. Diese Menschen müssen wir erreichen. ■

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© Avery White / CC BY-NC / flickr.com

FOTOSTORY | USA

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Protestaufruf gefolgt und blockieren die Zufahrtsstraßen. Mitte: Die Polizei geht mit Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor. Unten rechts: Wie hier in New York gibt es überall im Land große Solidaritätsaktionen.

© Alex Chis / CC BY-NC-ND / flickr.com

Stirnband einer Demonstrantin, die mit erhobener Faust vor einer brennenden Straßenblockade steht. Die indigene Bevölkerung beklagt, dass im Falle eines Rohrbruchs das Reservat unbewohnbar gemacht werden könnte. Unten links: Tausende sind dem

© blogocram / CC BY-NC / flickr.com

© Leslie Peterson / CC BY-NC / flickr.com

USA | Das Reservat Standing Rock ist Schauplatz einer Bewegung für Umweltschutz und die Rechte der amerikanischen Ureinwohner. Seit Frühjahr 2016 wird hier gegen den Bau einer Ölpipeline protestiert. Oben: »Wasser ist leben« steht auf dem


© Daniel López García / CC BY / Flickr.com

FOTOSTORY | SPANIEN

der Bauarbeiter. Unten links: »Kürzt euren eigenen Scheiß« (im übertragenden Sinn) Mitte: Am 26. Oktober, dem ersten Streiktag, demonstrieren allein in Madrid 60.000 Menschen. Unten rechts: »Zur Hölle mit der Partido Popular und den Reválidas«.

© Jose Antonio Moreno Cabezudo CC BY-NC-ND / flickr.com

den »Reválidas« während der Diktatur Francos. Die Streikenden bleiben nicht einfach zuhause, sondern gehen massenhaft auf die Straße. Oben: Als der Demonstrationszug in Madrid an einer Baustelle vorbeizieht, kommt es zu spontanen Solidaritätsbekundungen

© socialiststudents.org.uk / ES

© Jose Antonio Moreno Cabezudo CC BY-NC-ND / flickr.com

Spanien | Zwei Millionen Schülerinnen, Schüler und Studierende streiken im Oktober und November für jeweils einen Tag gegen eine geplante Bildungsreform. Diese soll den Schulabschluss vom Bestehen einer einzelnen Prüfung abhängig machen, vergleichbar mit

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Titelthema ZEIT DER MONSTER

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Infografik Das Geheimnis von Trumps Sieg

USA Wie sich die Linke aus der Schockstarre befreit

Bonapartismus Kann Marx Trump erklären?

Faschismusdebatte Warum Trump kein neuer Mussolini ist

Hegemoniekrise Ein Gespräch mit Antonio Gramsci


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Die Zeit der Monster Trump, Le Pen, Petry: Warum die Rechten von der Krise der Herrschenden profitieren – und was die Linke dem entgegensetzen kann VON MARTIN HALLER und YAAK PABST

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ie alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster«, so beschrieb der italienische Marxist Antonio Gramsci die Zeit des Übergangs nach dem Ersten Weltkrieg. Es war die Zeit der Krisen, Kriege und Revolutionen. Gramsci stellte die Frage nach der Hegemonie: Wer herrscht, wer führt – und wer nicht mehr? Heute befinden sich die Herrschenden und ihr politisches System erneut in einer tiefen Krise. »Alles ist jetzt möglich. Die Welt kollabiert vor unseren Augen«, kommentierte der französische Botschafter in den USA den Sieg von Donald Trump. Nach dem Brexit ist die Wahl Trumps bereits das zweite politische Erdbeben in diesem Jahr. Und es ist kein Zufall, dass die herrschende Klasse gerade in den beiden Ländern einen Rückschlag erlitt, in denen der Neoliberalismus seinen Siegeszug begann – in Großbritannien unter Margret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan. In den entwickelten Industrienationen des »Westens« wenden sich Millionen Menschen vom etablierten Politikbetrieb ab. Nach dem jahrzehntelangen neoliberalen Umbau der Gesellschaft, egal unter welchen Parteien, grassiert Frustration. Die Wut über die Folgen der Wirtschaftskrise, den stagnierenden oder sinkenden Lebensstandard, schlechte Zukunftsaussichten sowie eine undemokratische und niemandem rechenschaftspflichtige herrschende Klasse kommt in immer mehr Ländern an die Oberfläche – nicht nur in den USA. Die politische Landschaft verändert sich. Die etablierten Parteien, die glaubten, über eine sichere Basis zu verfügen, verlieren diese plötzlich. Das politische Parteiensystem steht unter Druck. Die sogenannte Finanzkrise leitete 2007 die Stagnation des Weltkapitalismus ein. Die Erschütterungen der ökonomischen Basis

sind so stark, dass jetzt der politische Überbau, das heißt, die Institutionen und die traditionelle Art zu herrschen, brüchig wird, was Raum für neue Kräfte schafft: Politische Außenseiter werden durch die Hegemoniekrise der Herrschenden nach oben katapultiert. Und die neuen Kräfte kommen nicht ausnahmslos, aber überwiegend von rechts. Bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich im Frühjahr 2017 würde Marine Le Pen, die Spitzenkandidatin des neofaschistischen Front National, nach derzeitigen Umfragen sicher in die Stichwahl kommen. Und auch in Deutschland droht bei der Bundestagswahl 2017 der Einzug der AfD in den Bundestag mit einem zweistelligem Ergebnis. Weitere Erschütterungen können jederzeit folgen.

Das Parteiensystem steht unter Druck

Yaak Pabst ist Redakteur von marx21.

Martin Haller ist Redakteur von marx21.

Doch es ist offen, ob die Krise des politischen Systems den Rassisten und Nazis weiter Auftrieb verschaffen wird oder ob sie nach links gewendet werden kann. Die Wahlkampagne von Bernie Sanders für die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten in den USA artikulierte von links die große Unzufriedenheit, die Millionen Amerikaner angesichts des Status quo verspüren. Er sprach von »Sozialismus« und einer »politische Revolution« und begeisterte so Millionen für seine Kampagne. In England erkämpfte sich völlig überraschend der linke Außenseiter und Antimilitarist Jeremy Corbyn den Vorsitz der Labour Party. Er konnte sich gegen den erbitterten Widerstand der rechten Parteibürokratie durchsetzen, weil hinter seiner Kampagne eine reale Bewegung steht. Zehntausende verfolgten seine antikapitalistischen und antirassistischen Reden auf Kundgebungen und Hunderttausende organisieren sich wieder – die Mitgliedschaft der Labour Party stieg im Zeitraum seiner Kampagne von 200.000 auf 640.000. Das Nachbarland Irland erlebt einen Linksruck: Die sozialistische Koalition »People before Profit« zog bei

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den Parlamentswahlen 2016 in Fraktionsstärke ein, getragen von einem erfolgreichen Kampf gegen die Wassergebühren, einer immer selbstbewussteren Bewegung gegen die drakonischen Abtreibungsgesetze und breite Proteste gegen die Steuergeschenke an Apple und andere Multis. Auch in Polen bekommt die rechte Regierung Druck von links und ist mit ihrer weiteren Verschärfung der Abtreibungsgesetze auf die Nase gefallen. Statt eines Rechtsrucks erleben wir momentan eine fortschreitende gesellschaftliche Polarisierung. Sie kann sowohl einen Anstieg von Klassenkämpfen und das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen bedeuten, als auch den weiteren Vormarsch der radikalen Rechten. Es ist die Zeit eines Donald Trump, aber auch eines Bernie Sanders, einer Marine Le Pen, aber auch eines Jeremy Corbyn.

den Flüchtlingsdeal mit der Türkei aushandelte. Großbritanniens Expremierminister David Cameron führte die »Remain«-Kampagne mit nicht minder rassistischen Ausfällen als seine Gegner aus dem »Brexit«-Lager. In Frankreich schürt nicht nur der Front National, sondern nahezu das gesamte politische Spektrum seit Jahren die islamfeindliche Stimmung. In den USA wurden unter keinem anderen Präsidenten so viele Migrantinnen und Migranten abgeschoben wie unter Obama. In seiner Amtszeit ist die Zahl der Polizeimorde an Schwarzen weiter gestiegen, während gegen die Proteste der »Black Lives Matter«Bewegung die Nationalgarde eingesetzt wird. Der Rassismus der Herrschenden hat es der radikalen Rechten leicht gemacht, die wachsende Unzufriedenheit für ihre Hetze gegen Minderheiten zu missbrauchen. Trump, Le Pen oder Petry treiben den Rassismus der etablierten Parteien lediglich auf die Spitze und verbinden ihn mit einer Kritik an den »Eliten«, obwohl ihre Politik alles andere als klassenneutral ist.

Wir erleben keinen Rechtsruck

Die einseitige Wahrnehmung eines Rechtsrucks beruht nicht zuletzt auf einer verzerrten Perspektive auf die gesellschaftlichen Spaltungslinien, wie sie vielen Analysen des Wahlsiegs von Trump zugrunde liegt: Auf der einen Seite stehen demzufolge rückwärtsgewandte, wütende, rassistische und ungebildete Arbeiterinnen und Arbeiter und Arme, auf der anderen progressive Kräfte, die für Offenheit, Internationalismus und Globalisierung eintreten – liberale und gebildete »Weltbürger«, Befürworter der EU oder Wählerinnen und Wähler der Demokraten. Diese Sichtweise ist jedoch Ausdruck der liberalen Ignoranz gegenüber dem Klassencharakter unserer Gesellschaft. Die Institutionen des neoliberalen Kapitalismus sind ebenso wenig progressive Kräfte oder Verteidiger von Freiheit und Gleichheit, wie Nationalisten und Rassisten die Interessen derjenigen vertreten, die unter den Auswirkungen von Globalisierung und Klassenkampf von oben leiden. Zudem stellt diese Sichtweise die Dynamik hinter dem Aufstieg der Rechten verfälscht dar. Denn es ist kein Zufall, dass die Antwort auf die wachsende soziale Spaltung, Unsicherheit und die Angst vor sozialem Abstieg in rassistische Bahnen gelenkt wird. Rassismus ist, genau wie Sexismus, tief in unsere Gesellschaft und ihre Institutionen eingeschrieben und wird bewusst von oben geschürt. So dient etwa die zunehmende Islamfeindlichkeit dazu, den »Krieg gegen den Terror« zu legitimieren und eine Minderheit als Sündenbock für gesellschaftliche Missstände zu brandmarken. Die sich liberal gebenden Parteien stehen keineswegs für eine offene, antirassistische Gesellschaft. Es war die angebliche Flüchtlingskanzlerin Angela Merkel, die das Recht auf Asyl in Deutschland de facto abschaffte und den menschenverachten-

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Dass die radikale Rechte ausgreifen kann, haben auch der politische Liberalismus in den USA, verkörpert durch die Demokratische Partei, und die europäische Sozialdemokratie mit zu verantworten. Denn dem Aufstieg der Rechten gingen in vielen Ländern sozialdemokratische oder andere vermeintlich fortschrittliche Regierungen voraus. Doch diese stellten sich in den Dienst des Kapitals und beteiligten sich in Regierungsverantwortung am Angriff auf den Lebensstandard der Bevölkerung. Sie hinterlassen Millionen enttäuschte und wütende Wählerinnen und Wähler, die ihnen in der Hoffnung auf eine Wende zum Besseren ihre Stimme gegeben hatten. In den USA verloren die Demokraten bei der letzten Wahl sieben Millionen Stimmen. Auch in Deutschland nimmt die Bindekraft der traditionellen Parteien massiv ab. Seit 1990, so die Studie des Parteienforschers Oskar Niedermayer, haben die etablierten Parteien die Hälfte ihrer Basis verloren – die Mitgliederzahl schrumpfte in diesem Zeitraum von 2,4 auf 1,2 Millionen. Besonders hart trifft es die SPD, die älteste Volkspartei Europas. Nachdem ihr ehemaliger Bundeskanzler Gerhard Schröder die neoliberale Agenda 2010 durchpeitschte, verließen über 100.000 Genossinnen und Genossen die Partei. Es ist jedoch nicht zwangsläufig, dass von der Frustration und Enttäuschung über den Verrat die radikale Rechte profitieren muss. Beispiel Griechenland: Kein anderes Land in Europa wurde von der Weltwirtschaftskrise so hart getroffen und in keinem anderen Land waren die politischen Folgen derart drastisch. Die regierende sozialdemokratische


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© Audrey McNamara / Twitter

Am Abend des 9. November protestieren in Oakland unmittelbar nach dem Wahlsieg Trumps spontan tausende Menschen. Auf Plakaten steht »Fuck Trump. Fuck Racism.« oder »Not my President«. In den darauffolgenden Tagen schlossen sich Hunderttausende den Protesten an

Pasok stürzte von 44 Prozent im Jahr 2009 auf unter fünf Prozent bei der Parlamentswahl im Januar 2015. Doch der Aufstieg der faschistischen Goldenen Morgenröte konnte durch ein breites antirassistisches Bündnis gestoppt werden – auch weil eine linke Perspektive der Solidarität und des Klassenkampfes greifbar war. Ob USA, Griechenland, Frankreich oder Deutschland: Die Linke ist gefordert. Linke Parteien müssen Katalysatoren für gesellschaftliche Kämpfe sein. Sie müssen Hilfe zur Selbsthilfe beim Aufbau von Widerstand leisten. Sie müssen Protestparteien sein – aber nicht solche, die passiv die bestehende Unzufriedenheit widerspiegeln, sondern die zu Organisatoren eines Protests werden, der kapitalistische Ungerechtigkeit bekämpft. Auch in der deutschen Linken begann angesichts des Vordringens der AfD in sozialdemokratische Hochburgen bei den letzten Landtagswahlen eine Debatte über eine Hinwendung zur Arbeiterklasse. Das ist zu begrüßen. Allerdings entspricht die Vorstellung davon, was die Arbeiterklasse ist, nicht selten dem Zerrbild, das bürgerliche Kommentatoren von ihr zeichnen. Die Arbeiterklasse ist in Deutschland und Europa, genau wie in den USA, auch weiblich, zugewandert und homosexuell. Das Klischee vom weißen männlichen Industriearbeiter hat noch nie der Realität entsprochen. Es ist vollkommen richtig, die Debatte zu führen, wie diejenigen Teile der Arbeiterklasse, die auch für rechte und rassisti-

sche Antworten offen sind, für eine linke Perspektive gewonnen werden können. Es hilft uns jedoch nicht, dafür den Kampf gegen Rassismus, Sexismus oder Homophobie hintanzustellen. Für einen Großteil der Klasse sind genau diese Unterdrückungsmechanismen schmerzhafte Alltagserfahrung. Sie drücken sich in alltäglicher Gewalt und Ausgrenzung aus, wie auch in niedrigeren Löhnen und geringeren Chancen auf sozialen Aufstieg. Was wir brauchen – und die Kampagnen von Corbyn und Sanders haben gezeigt, dass das klappen kann – ist die Verbindung von Kämpfen gegen Unterdrückung in jeder Form mit einer klassenorientierten, kämpferischen und positiven Politik von links, die die Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung gegenüber den Herrschenden artikuliert und diese Aufgabe nicht den Rechten überlässt. Es geht darum, die Menschen als aktive, kämpfende Subjekte zu begreifen, um durch eine Betonung der gemeinsamen Interessen die Spaltung innerhalb der Klasse zu überwinden und die Wut gegen den gemeinsamen Feind zu richten – eine Politik also, die die dringenden Bedürfnisse und Hoffnungen der Menschen anspricht, anstatt ihre Ängste, wie es die Rechte macht. Wenn die Linke als radikale Opposition gegen Kapital, Rassismus und herrschenden Politikbetrieb erkennbar wird, kann sie gewinnen – in den USA, wie auch hierzulande – und eine Welt ermöglichen ohne Kapitalismus und die politischen Monster, die er gebiert. ■

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Das Geheimnis von Trumps Sieg Wie konnte es passieren, dass in einem Land, in dem noch vor vier Jahren der erste schwarze Präsident im Amt bestätigt wurde, ein reaktionärer Rassist gewinnen konnte? Einige Zahlen geben Aufschluss

2. Nur 18% wählten Trump

1. Niederlage Clinton Nicht Trump hat gewonnen, sondern Clinton verloren. Die Wahlbeteiligung ging auf 58,2 Prozent runter. Die Demokraten verloren innerhalb der Amtszeit Obamas 5 Millionen Wählerinnen und Wähler. Der Stimmenanteil sank von 69,5 Millionen 2008 auf 64,5 Millionen.

Quelle: Federal Election Commission; Edison Research; CNN; Wikipedia

325 Millionen Menschen leben in den USA, aber nicht einmal ein Fünftel stimmte für Donald Trump. Ein Drittel der Gesamtbevölkerung darf nicht wählen, weil sie minderjährig ist, keine Staatsbürgerschaft hat oder einmal straffällig geworden ist. Von den restlichen 219 Millionen hat sich ein weiteres Drittel überhaupt nicht zur Wahl registriert. Abzüglich der Wählerinnen und Wähler, die für Clinton, Johnson oder Stein stimmten oder sich nicht an der Abstimmung beteiligten, bleiben lediglich 18 Prozent aller in den USA lebenden Menschen, die tatsächlich Trump wählten.

3. Die Wirtschaft war wahlentscheidend Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler empfindet den Zustand der amerikanischen Wirtschaft als nicht gut oder miserabel. Je schlechter die Einschätzung, umso größer die Unterstützung für Trump. Immigration und Terrorgefahr spielten zwar eine Rolle im Wahlkampf, aber für 52 Prozent der Wählerinnen und Wähler war der Zustand der USWirtschaft das wichtigste Anliegen.

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4. Die Hochburgen der Demokraten erobert Ein Geheimnis von Donald Trumps Wahlsieg findet sich im Mittleren Westen. Hier gewann er nicht nur die sogenannten Swing States Iowa und Ohio, sondern auch Wisconsin und Michigan – jahrzehntealte Bastionen der Demokraten. Gerade in diesen Staaten, dem sogenannten »Rust Belt«, grassiert die Armut, schließen Fabriken und die Menschen fürchten um ihre Zukunft. Eine große Anzahl dieser Menschen blieb zuhause oder wählte Trump.

Demokraten Republikaner Quelle: Edison Research; New York Times; Sueddeutsche Zeitung Wikipedia

5. Gegen den Status Quo

Rassismus spielte in Trumps Wahlkampf eine wichtige Rolle, aber das war nicht der einzige Faktor für seinen Sieg. 39 Prozent der Wähler gaben an, dass die Hoffnung auf Veränderung für sie das wichtigste Kriterium für ihre Kandidatenwahl war. 83 Prozent dieser Gruppe wählte Trump. Clinton stand als Kandidatin für den Status quo, Trump dagegen.

Quelle: Supplemental Nutrition Assistance Program (SNAP)

6. Wachsende Armut

In den meisten US-Bundesstaaten wird nach 26 Wochen kein Arbeitslosengeld mehr gezahlt. Daher sind viele Millionen Menschen auf Lebensmittelmarken angewiesen. Nach dem Ausbruch der Wirtschaftkrise im Jahr 2007 ist die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger auf über 45 Millionen explodiert. Die leichte Abnahme im Jahr 2016 ist nicht auf eine Entspannung der Lage, sondern auf strengere Voraussetzungen für den Bezug zurückzuführen.

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Während die politische Elite nach der Wahl Trumps so tut, als wäre nichts geschehen, löst sich die Linke langsam aus ihrer Schockstarre. Doch wenn sie keinen Bruch mit den Demokraten vollzieht, sind ihre Forderungen zum Scheitern verurteilt

Sean Larson ist Doktorand an der New York University und ist dort aktiv in der neuen Hochschullehrer-Gewerkschaftsbewegung. Er ist Mitglied der International Socialist Organization und schreibt regelmäßig für New Politics, Socialist Worker, und International Socialist Review.

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Von Sean Larson

ass die politische Kultur in den USA irgendwann einen Fernsehstar und berüchtigten Rassisten wie Donald Trump an die Spitze des Landes spülen würde, war eigentlich nie vollkommen abwegig. Heute ist diese einst lustige Vorstellung zur abscheulichen Realität geworden. Um als Linke damit umzugehen und eine Wiederholung dieses Desasters in den USA, in Deutschland und überall auf der Welt bekämpfen zu können, müssen wir die sozialen und politischen Wurzeln des Phänomens Trump näher untersuchen.

strukturellen Bedingungen sind einzelne Wählerstimmen oft vollkommen bedeutungslos, wenn man überhaupt wählen darf. Deswegen war die Wahlbeteiligung in den USA schon immer niedrig und die aktive Wählerschaft speiste sich im Grunde schon immer aus den Gutverdienern, dem Kleinbürgertum und der herrschenden Elite.

Clinton hat nichts zum Wählen angeboten

Es gibt gute Gründe, einfachen Schlussfolgerungen über »die Amerikaner« mit Skepsis zu begegnen. Das liegt vor allem an den Besonderheiten des politischen Systems, das sich stark von den Demokratien Westeuropas unterscheidet. Die Verfassung der USA von 1787 diente dem Zweck die Sklaverei aufrechtzuerhalten und seither blieb das politische System im Kern unverändert. Institutionen wie das Wahlkollegium (die Wahlmänner) und das »Allesoder-Nichts-Prinzip« des reinen Mehrheitswahlrechts wurden in die Verfassung geschrieben, um ein störungsfreies Funktionieren des Systems zu gewährleisten und es gegen die »Gefahren« einer populären Demokratie abzusichern. Unter diesen

Die Resultate von Wahlen können daher auch nur begrenzt auf die tatsächliche Stimmung im Land zurückgeführt werden. Diese Einschränkung ist wichtig, um die richtigen Schlüsse aus dem Aufstieg Trumps zu ziehen. Denn dem Anschein zum Trotz war die Präsidentschaftswahl 2016 kein Rechtsruck oder eine Neuordnung der Wählerschaft. Lediglich in einigen entscheidenden Staaten gab es Wählerwanderungen von den Demokraten zu Trump. In den letzten drei Präsidentschaftswahlen haben die Republikaner jeweils fast die gleiche Anzahl von Stimmen bekommen: etwa 60 Millionen. Auf der anderen Seite bekam Obama 2008 noch etwa 69,5 Millionen Stimmen. Vier Jahre danach waren es nur noch 66 Millionen und im November dieses Jahres fiel das Ergebnis der Demokraten unter Clinton auf lediglich noch 64,5 Millionen Stimmen. Das bedeutet, etwa fünf Millionen Menschen, die Obama 2008 gewählt haben, sind diesmal einfach zuhause geblieben. Die Wahlbeteiligung war die niedrigs-


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te seit zwanzig Jahren. Etwa 45 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung haben nicht abgestimmt. Trump wählte also nur etwa ein Viertel der Wahlberechtigten. Es gab keine große Welle der Begeisterung für ihn, sondern ein Satthaben des Clintonismus. Das US-amerikanische Kapital wollte Clinton als Präsidentin. Sie erhielt achtzig Prozent der Konzernfinanzierung in diesem Präsidentschaftswahlkampf. Aber in der Bevölkerung ist Clinton, genau wie Trump, extrem unbeliebt. Beide waren die unpopulärsten Präsidentschaftskandidaten seit dem Beginn entsprechender Umfragen. Auch mit zwei Millionen mehr Stimmen als ihr Gegner ist der Traum von der Clinton-Dynastie geplatzt. Als Donald Trump 2012 twitterte »Das Wahlkollegium ist eine Katastrophe für die Demokratie«, war dies eine der seltenen Äußerungen, mit der er vollkommen richtig lag. Doch woher kam die Unterstützung für Trump? Natürlich hat Rassismus eine Rolle gespielt, ohne ihn ist seine Kampagne nicht zu verstehen. Seine Basis waren die absteigenden Mittelschichten, Konzernmanager und Kleinunternehmer. Doch auch viele Arbeiter haben Trump gewählt. Die entscheidenden Stimmen, die seinen Sieg gesichert haben, kamen aus den krisengeschüttelten Regionen der alten Schwerindustrie, dem »Rust Belt«, wo bei den letzten

beiden Präsidentschaftswahlen noch Obama siegte. Einige von Trumps wilden Versprechungen haben die ökonomischen Interessen dieser Wählerinnen und Wähler angesprochen, auch wenn sie dem Milliardär in Wirklichkeit vollkommen egal sind. Viele von ihnen haben Trump jedoch nicht wegen, sondern trotz seines ekelhaften Rassismus und seiner Frauenfeindlichkeit gewählt. In Interviews mit Trump-Wählern wird deutlich, dass selbst unter seinen Unterstützerinnen und Unterstützern viele ihn verachten. Dass es für sie keine Alternative gab, lag insbesondere an Clinton. Ihre E-Mails haben damit gar nicht so viel zu tun. Es geht um ihre heillose Unfähigkeit, sich auf die Interessen der Durchschnittsmenschen zu beziehen. Auf ihren Kundgebungen wetterte sie, dass eine bessere Krankenversicherung als die aktuelle »nie und nimmer« kommen wird. Dabei haben nach wie vor 40 Prozent der Menschen Probleme ihre Arztrechnungen zu bezahlen. Bei solch anregenden Äußerungen ist es kein Wunder, wenn die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner Clinton verschmäht haben. Ihre ganze Wahlkampagne bestand aus nichts außer Angst vor Donald Trump. Clinton hat nichts zum Wählen angeboten, also haben die Leute sie nicht gewählt. Das plötzliche Scheitern des technokratisch-liberalen Regierens in den USA kam unerwartet. Die Linke hat die Einzigartigkeit des Phänomens Obama unterschätzt. Seinen Erfolg konnte Clinton nicht wiederholen. Die Eliten haben keine Lösungen mehr anzubieten für die Probleme der lohnabhängigen Klasse und jede Form einer populären Ansprache der Menschen ist ihnen vollkommen fremd. Die Herrschenden können nicht mehr in der alten Weise herrschen. Mangels einer durchsetzbaren Zukunftsperspektive von Seiten der Linken kriechen die Rechten aus dem Abflussrohr der Geschichte, um die Zukunft in ihre schmutzigen Hände zu nehmen. Nun ist Donald Trump der »mächtigste Mann der Welt«. Und die politische Elite will bereits wieder zum Alltagsgeschäft übergehen. Die Republikaner und auch die Führung der Demokraten, Clinton wie auch Präsident Obama, haben alle angekündigt, dass sie mit Trump konstruktiv zusammenarbeiten werden, um »das Beste für das Land« zu tun. Am Tag der Wahl wurde Trump noch überall als Ausgeburt des Faschismus gebrandmarkt, am nächsten Tag galt er bereits als legitimer Ausdruck des politischen Systems der USA. Die Normalisierung verlief rasch und vollständig. Doch wie viel Macht hat Trump tatsächlich? Was kann er durchsetzen? Das US-Kapital hat sich bereits in opportunistischer Manier hinter ihn gestellt. Natürlich wird er viele seiner verrückten Wahlversprechen nicht umsetzen, insbesondere diejenigen, welche den Kapitalinteressen entgegenstehen. Viele Drohungen hat er schon in den ersten Tagen nach der Wahl zurückgenom-

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Trump und sein Gruselkabinett lassen Schlimmes befürchten, aber das akut drängendere Problem sind all die Kräfte, die sein Erfolg freigesetzt und ermutigt hat. Es gibt eine drastische Zunahme von rassistischen Verbrechen sowie von Gewalt gegen Frauen und sexuelle Minderheiten. Allein in der ersten Woche nach der Wahl wurden mehr als 400 »hate crimes« verübt, also Verbrechen, die aus Hass gegen bestimmte soziale Gruppen begangen werden. Leider müssen wir mehr Gewalt dieser Art erwarten. Die meisten Täter sind nicht organisiert, aber auch die Organisationen der Rechten nutzen die neue Gelegenheit. Als Verteidigung dagegen hat sich nur die Solidarität der Betroffenen bewährt – auf dem Campus, am Arbeitsplatz, in der Schule. Die wichtigste Aufgabe der Linken in den USA ist nun der Kampf gegen rechts. Die Frage ist jedoch, wie dieser aussehen kann. Sich auf den Staat zu verlassen, hat sich als bankrotte Strategie erwiesen. Es gibt nur eine erfolgversprechende Art und Weise, die radikale Rechte zu schlagen, welche durch Trumps Sieg nach oben gespült wurde: Wir müssen eine Stimmung innerhalb der Gesellschaft schaffen, in der rassistische, frauenfeindliche oder islamfeindliche Ideen nicht toleriert werden. Die Leute, die diesen Ideen folgen, müssen sich isoliert und schwach fühlen. Der einzige Weg, wie eine solche Stimmung je erreicht wurde und auch heute wieder erreicht werden kann, ist eine soziale Bewegung mit Massenbasis. Ohne eine konkrete linke Alternative, die klare Antworten gibt, für materielle Verbesserungen kämpft und die Selbstaktivität der breiteren gesellschaftlichen Schichten anregt, wird die rechte Hetze immer

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© Stan Wiechers / CC BY-SA / flickr.com

men. Auch wenn seine Präsidentschaft die Verabschiedung von Abkommen wie TTIP unwahrscheinlicher macht, wird sie keinen Bruch mit der Politik des Freihandels herbeiführen. Auch »Obamacare« wird wahrscheinlich nicht wie von ihm angekündigt abgeschafft – und ja, Clinton wird nicht ins Gefängnis geworfen. Aber Trump wird die Neuordnung des Präsidentenamts, die unter Obama vollendet wurde, ausnutzen, um eine noch schärfere neoliberale Sparpolitik auf Kosten der Arbeiterklasse sowie Angriffe auf Migrantinnen und Migranten durchzusetzen. Das neue Kabinett ist bereits voller Rassisten und Rechtsradikalen. So etwa Trumps Generalstaatsanwalt Jeff Sessions, ein Aushängeschild des dreisten Rassismus im Justizsystem. Trumps Chefberater, Steve Bannon, vergleicht sich selbst mit Darth Vader sowie Satan und behauptet: »Wir werden 50 Jahre lang herrschen.« Andere in Trumps Kabinett, wie der Vizepräsident Mike Pence, werden das neoliberale Projekt ausweiten, Geld von den Armen zu den Reichen zu pumpen.

Oben: Kellnerin in einem typisch amerikanischen Diner: Etwa 80 Prozent der Erwerbstätigen in den USA arbeiten im Dienstleistungssektor. Ein großer Teil der Jobs ist prekär und schlecht bezahlt. Das gilt umso mehr für die etwa elf Millionen Menschen, die sich illegal im Land aufhalten Unten: Verfallene Häuser in der ehemaligen Automobilmetropole Detroit im US-Bundesstaat Michigan. Arbeitslosigkeit und Armut führten hier zu einem drastischen Bevölkerungsrückgang. Ganze Viertel der einstigen Millionenstadt sind heute verfallen. Zurück bleiben die Ärmsten. Über 80 Prozent der Bevölkerung sind Afroamerikanerinnen und -amerikaner


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© Viewminder / CC BY-NC-ND / flickr.com

Angst unterstützt. Nun sehen viele US-Linke die bevorstehende Aufgabe in einer Wiederbelebung der Demokratischen Partei, damit sie in zwei oder vier Jahren wieder stark genug ist, um Trump und die Republikaner bei den Wahlen zu schlagen. Um diese Strategie zu bewerten, lohnt ein genauer Blick auf den Charakter der Demokratischen Partei.

Trump wird nicht mit dem Freihandel brechen auf fruchtbaren Boden fallen. Nur eine entschlossene, gesellschaftlich starke linke Alternative kann die heute überall grassierende Angst durchbrechen. Innerhalb der linken Presse, der Gewerkschaften und in den wenigen selbständigen Organisationen und Institutionen der US-Linken ist die Debatte über den Weg nach vorne in vollem Gang. Bernie Sanders Präsidentschaftskampagne hat große Hoffnungen von Millionen, vorwiegend jungen Menschen geweckt – und wichtiger noch: Er hat der Losung, die er verbreitet, einen Namen gegeben: Sozialismus. Seine Kampagne fand innerhalb der Demokratischen Partei statt und es ist fraglich, ob seine Botschaften auch so viele Leute erreicht hätten, wenn er unabhängig angetreten wäre. Während er in seiner Kampagne um die demokratische Nominierung noch scharfe Kritik an der eigenen Parteiführung äußerte, hat er schließlich jedoch vor dieser Führung kapituliert und Clintons Botschaft der

Die Demokraten sind eine Partei, wie es sie in Europa nicht gibt. Niemals in der Geschichte der USA waren sie eine Arbeiterpartei. Sie sind seit jeher strukturell kapitalistisch: Es gibt keinerlei Zugang oder finanzielle Unterstützung für Linke an der Parteibasis und selbst wenn einige Leute links reden, gibt es keine Mechanismen, irgendeinen Einfluss auf die Politik der Partei zu nehmen. Auch wenn es wichtige Unterschiede gibt, ist die Politik der Demokratischen Partei nicht wesentlich anders als die der Republikaner. Das weltweite Töten des Kriegsverbrechers George W. Bush wurde während der Präsidentschaft Obamas normalisiert und erweitert. Über sieben Mal so viele Menschen wurden unter ihm durch das Drohnenprogramm getötet wie unter seinem Vorgänger. Nicht die Republikaner haben das ungeheure System der Masseninhaftierung in den USA aufgebaut, sondern der Demokrat Bill Clinton. Auch die neoliberale Umstrukturierung des Bildungs- und Gesundheitssektors wurde unter Obama nicht gestoppt, sondern weiter vorangetrieben. Seine Politik hat die emporschnellende Ungleichheit in den USA nicht gemildert, sondern verschärft. Kurz nach seiner Wahl kündigte Trump in einem Interview an, zwei oder drei Millionen Migrantinnen und Migranten abzuschieben – also de facto Millionen Familien zu zerreißen. Zu Recht war die Empörung groß. Aber der weltweit umjubelte Obama hat bereits jetzt 2,5 Millionen Menschen abgeschoben, mehr als alle andere Präsidenten der Geschichte der USA – ohne dass es einen größeren Aufschrei in Medien und Gesellschaft gegeben hätte. Es ist daher keine Überraschung, dass Sanders vernünftige und notwendige Forderungen in der Demokratischen Partei ihre Sterbeklinik gefunden haben. Die Demokraten sind das Hospiz jeder Hoffnung auf Veränderung – in dessen Hinterhof sind bereits die sozialen Bewegungen vergangener Zeiten begraben. Die Demokraten sind nicht nur ein falscher Träger radikaler Forderungen, sondern direkt verantwortlich für das Scheitern vieler Bewegungen. Alle vier Jahre werden sämtliche mühsam aufgebauten Keime der selbständigen Bewegungen ausgelöscht, um aus Angst vor den Republikanern die Wahlkampagne der Demokraten zu unterstützen. Unter Trump ist es möglich, dass die wichtigen Bewegungen der letzten Jahre wiederbelebt werden, wie bereits unter Bush die große Antikriegsbewe-

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fährdet fühlen, hilft es nicht, beiseite zu treten und mit verschränkten Armen zuzuschauen. Die Politik des Abwartens muss durch bedingungslosen Widerstand ersetzt werden. Dieser Prozess hat bereits begonnen. Seit Trumps Sieg ist die Bereitschaft, sich in einer der wenigen linken Organisationen zu organisieren, deutlich gestiegen – eine Notwendigkeit für jede Form von künftigen Auseinandersetzungen. Die »Black Lives Matter«-Bewegung war, mit ihren immer wieder aufflammenden aber schnell verpuffend Kämpfen, eine wichtige Schule für zehntausende Aktivistinnen und Aktivisten. Das von amerikanischen Ureinwohnern geführte Protestlager in Standing Rock, North Dakota, gegen den Bau einer Ölpipeline ist die stärkste und entschlossenste Bewegung für Umweltschutz und indigene Rechte seit Jahrzehnten. Die aufkommende Welle linker Orga-

Der Versuch, Trump zu »entlarven«, wird scheitern Angst und Wut treibt die Menschen auf die Straße: Am Abend nach dem Wahlschock demonstrieren in New York City über 100.000 Menschen gegen den zukünftigen US-Präsidenten

gung, die Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war eine der größten Bewegungen der jüngsten Geschichte, aber im Jahr 2004 brach sie zusammen, nachdem der Großteil der Aktivistinnen und Aktivisten es für notwendig befand, die Präsidentschaftskampagne von John Kerry zu unterstützen, um Bushs Wiederwahl zu verhindern. Nach der Präsidentschaftswahl gab es außerhalb der Demokratischen Wahlmaschine keine dauerhaften Institutionen mehr, auf die sich die Bewegung hätte stützen können und auch die letzten Aktiven haben entmutigt aufgegeben. Die zwei- oder vierjährige Wiederholung dieses Ablaufs ist der Grund, warum es heute immer noch fast keine selbstständigen linken Kräfte in den USA gibt. Die Voraussetzung dafür wäre die Unabhängigkeit von der Demokratischen Partei. Die Zukunft der sozialen Bewegungen in den USA ist noch nicht entschieden. Einige große Gewerkschaften sind nach der Wahl rückgratlos in die Arme Trumps geflohen, ohne jedes Entgegenkommen von dessen Seite. Ihre Führungen haben erklärt, sich mit seinen protektionistischen Versprechungen zufrieden zu geben und angekündigt, mit ihm in diese Richtung zusammenzuarbeiten. Selbst Bernie Sanders meinte, obwohl er gegen Trumps rassistische und frauenfeindliche Politik eintrete, sei er bereit, mit ihm zusammenzuarbeiten, insofern er Politik im Interesse der Arbeiterfamilien durchsetzen wolle. Doch dieser Versuch, Trump zu »entlarven«, ist zum Scheitern verurteilt. In einer Zeit, in der Millionen von Menschen sich in der Öffentlichkeit ge-

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nisierung richtet sich nicht nur gegen Trump, sondern vielmehr gegen das gesamte politische Establishment. Es gibt darunter auch viele Aktivistinnen und Aktivisten, die skeptisch gegenüber der Demokratischen Partei als Mittel der sozialen Veränderung sind. Wie es weitergeht, wird davon abhängen, ob sie ihre Energien nur gegen die gegenwärtige Führung dieser Partei richten oder ob sie einen wirklichen Bruch mit den Demokraten vollziehen. Wieder beginnt die lange Arbeit, Organisationen und Institutionen der Linken auf unabhängiger Basis aufzubauen, damit Bewegungen wie »Black Lives Matter« und »Standing Rock« in Zukunft mächtig werden. So stehen die Dinge in Trumps Amerika. Viele in der Linken bekommen das widerliche Gefühl nicht weg, dass jetzt bereits alles zu spät sei. Man hat vorhergesehen und gewusst, dass ohne eine linksorientierte Alternative die verbrauchte liberale Krisenverwaltung eine grässliche Rechte hervorbringen würde. Jetzt hat der rechte Populismus die Macht ergriffen. Manche in der Linken rechnen nun damit, dass die Gewerkschaftsspitzen und die träge linksliberale Elite eine kämpferischere Haltung annehmen werden, sobald das ganze Ausmaß der Katastrophe offen zutage tritt. Mal sehen. Doch mittlerweile sind in vielen Städten die Straßen voll von Leuten, die den Rechtsradikalismus nicht mehr ertragen und den Widerstand selbst in die Hand nehmen wollen – nicht mit verschränkten Armen warten sie, sondern mit geballten Fäusten. ■


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Ist Trump ein Faschist? Die Präsidentschaftswahl in den USA hat die Diskussion über die Aktualität des Faschismus belebt. Das ist gut. Eine fehlerhafte Verwendung des Begriffs ist jedoch gefährlich Von JAN MAAS

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n der Linken herrscht Entsetzen über den Wahlsieg Donald Trumps. Schon drohen weitere Wahlerfolge von Rechten: In Frankreich könnte Marine Le Pen vom Front National Präsidentin werden und in Österreich Norbert Hofer von der Freiheitlichen Partei Präsident. Der Journalist Jakob Augstein spricht bereits von der »Rückkehr des Faschismus«. Er sagt, es sei »schon zu spät«. Damit allerdings überspannt er den Bogen. Nicht nur, dass diese Einschätzung falsch ist, sie lädt zudem zur Tatenlosigkeit ein.

Regime war die völlige Zerschlagung jeglicher Opposition. Und das ist – bei allen Unterschieden – der Kern des Faschismus: Eine gewalttätige Bewegung zur Vernichtung jeden Widerstands mit einer von Staat und Kapital zunächst weitgehend unabhängigen Massenbasis auf der Straße. Völlige Zerschlagung jeglicher Opposition bedeutet unter anderem: keine freien Parteien, keine freien Gewerkschaften, keine freie Presse. Politische Aktivität findet im Untergrund statt oder im Exil. Solche Verhältnisse drohen in den USA nicht. Trump ist nicht Präsident einer faschistischen Partei rechts von den etablierten, sondern war Kandidat der Republikaner. Er kann auch keine SA ins Feld führen. Aber: Unter seiner Präsidentschaft können Faschisten aufbauen, und sie wittern bereits Morgenluft.

Jan Maas ist Redakteur von marx21.

Falsche Analysen führen zu Tatenlosigkeit

Es ist wichtig, darüber zu sprechen, was Faschismus heute ist. Es gibt die Tendenz, den Begriff vor allem historisch zu verwenden: Faschismus, das war früher, in Italien und Deutschland; schlimm, aber lange vorbei. Doch faschistische Parteien gibt es tatsächlich noch heute. Sie stehen rechts der etablierten und sie sind gefährlich: die Goldene Morgenröte in Griechenland etwa, oder Jobbik in Ungarn. Auch in der AfD arbeiten im Flügel um Björn Höcke und in der Patriotischen Plattform um Hans-Thomas Tillschneider Faschisten mit. Trump jedoch spielt in einer anderen Liga. Zur Erklärung ein Blick zurück: Der historische Faschismus wuchs und gedieh vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, der großen, aber gescheiterten Welle proletarischer Revolutionen und der Weltwirtschaftskrise. Die faschistischen Parteien setzten angesichts dessen auf die Mobilisierung Hunderttausender – darunter viele ehemalige Soldaten – zum Kampf gegen die linken Parteien und Gewerkschaften, die sie für den verlorenen Krieg und ihr Elend verantwortlich machten. Die faschistischen Parteien durchliefen zudem eine Entwicklung von ihrem Keimstadium über die Aufbauphase bis zur Entfaltung. Nur Deutschland und Italien haben einen radikalisierten Faschismus an der Macht erlebt. Ein wesentliches Merkmal dieser

Selbst wenn Norbert Hofer und Marine Le Pen ihre jeweilige Präsidentschaftswahl gewännen, herrschte in Österreich oder Frankreich noch kein Faschismus. Zwar sind beide Faschisten, die faschistische Parteien mit entsprechender Tradition angehören, aber sie haben – noch – keine Schlägertrupps auf der Straße. Le Pen und Hofer würden – wenn sie gewännen – den bürgerlichen Staatsapparat führen. Mit der SS vergleichbare Parallelapparate sind gegenwärtig nicht in Sicht. Es ist schlimm genug, dass Trump, Hofer und Le Pen so weit gekommen sind. Falsche Analysen machen die Lage allerding nur schlimmer. Wer Trump einen Faschisten nennt, verschleiert, was Faschismus bedeutet, und verdeckt die Gefahr durch echte Faschisten. Es ist in den USA, Österreich und Frankreich absolut möglich, offen gegen die Regierung und die Konzerne zu protestieren. Und das ist auch bitter nötig, um der ohnmächtigen Wut auf das Establishment eine gegen den Kapitalismus gerichtete Alternative entgegenzustellen. ■

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TITELTHEMA | Zeit der MONSTER

Der neue Bonaparte? Karl Marx und Donald Trump haben sich nie persönlich kennengelernt. Dennoch kann Marx eine Menge über Trump erzählen. Von Christian Schröppel

Christian Schröppel ist Sozialwissenschaftler und aktiv im Kreisverband Kassel-Stadt der Partei DIE LINKE..

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ie ist es möglich, dass sich die herrschende Klasse der USA anscheinend selbst politisch entmachtet, um ihre unmittelbaren Interessen einer Truppe weitgehend unbekannter Hasardeure anzuvertrauen? Ist nicht das amerikanische System wie kein anderes darauf ausgelegt, durch die Politik von »checks and balances« Stabilität zu erzeugen und sicherzustellen, dass keine wesentlichen Interessen vernachlässigt werden? Doch während Trump damit droht, »den Sumpf in Washington auszutrocknen«, sind für die Posten des Finanzministers und des Wirtschaftsministers Abkömmlinge der Wall Street im Gespräch. Was ist da los? Wir haben uns bei Karl Marx umgesehen und sind auf erste Erklärungsversuche gestoßen. Vor allem in seiner Schrift »Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte« von 1852 sind wir fündig geworden. Marx analysiert darin den Übergang der französischen Republik

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zu einer autoritären Diktatur im Jahr 1851. Damals eroberte der scheinbar über den Klassen stehende Charles Louis Napoleon Bonaparte die Herrschaft und krönte sich, ausgestattet mit diktatorischen Vollmachten, zum Kaiser und ließ sich fortan Napoleon III. nennen. In seinem Text erklärt Marx, wie es dazu kam, dass die französische Bourgeoisie ihre eigene parlamentarische Vertretung zugunsten eines Diktators auflösen ließ. Das sogenannte bo-

vermittelnde Rolle in der internationalen Politik zehrten an den Nerven immer größerer Teile des Kapitals. Die ökonomisch schwächeren Teile des Kapitals hofften auf eine politische Lösung, um ihren Niedergang abzuwenden. Während die führenden Sektoren die weltweite Konkurrenz nicht fürchten müssen und auf eine Durchdringung weltweiter Märkte mit Unterstützung einer weitsichtig und geschmeidig agierenden US-Regie-

napartistische Regime konnte entstehen, weil die herrschenden Klassen unter sich zerstritten waren. Sie brauchten eine »äußere Kraft«, eine starke Führungspersönlichkeit, um ihre internen Konflikte zu schlichten und ihre wirtschaftliche Macht zu bewahren. Die vormals liberale Bourgeoisie kam zu dem Schluss, so Marx, dass »um ihre gesellschaftliche Macht unversehrt zu erhalten, ihre politische Macht gebrochen werden müsse; (…) dass, um ihren Beutel zu retten, die Krone ihr abgeschlagen (…) werden müsse.« Im November 1851 schrieb die britische Zeitung »Economist«: »Auf allen Börsen Europas ist der Präsident (Napoleon III.) nun als die Schildwache der Ordnung anerkannt.« Auch nach Trumps Wahlstieg stiegen die Börsenkurse stark an. Insbesondere die Aktien der großen Finanzinstitutionen haben gewonnen, dicht gefolgt von denen der Rüstungsindustrie, der Pharmabranche, der Schwerindustrie und des Bausektors. »Yes we can!« war der Leitspruch Barack Obamas 2008. Ihm lag der Glaube zugrunde, dass sich die allgemeinen Interessen der Kapitalistenklasse in der gesellschaftlichen Debatte im Wesentlichen durchsetzen würden. Jede einzelne Fraktion sei aufgefordert, auf dem Feld der öffentlichen Diskussion ihre Interessen zu formulieren und Anhänger zu finden. Doch das Ringen um Kompromisse, die Zugeständnisse an die organisierten Kräfte der Massen, die

rung setzen, sehen sich andere Sektoren des US-Kapitals heute einer heftigen Unterbietungskonkurrenz gegenüber. Der breiten öffentlichen Diskussion der Präsidentschaft Obamas setzt Trump nun die Aura des präsidialen Dekrets entgegen. Ebenso wie Napoleon III., der erklärte, Frankreich wieder »groß« zu machen, will auch Trump die Größe Amerikas wiederherstellen. Auf wen kann sich so eine vermeintlich klassenneutrale Herrschaft stützen? Karl Marx schreibt 1852 über die Parzellenbauern Frankreichs, die er als tragende Schicht der autoritären Herrschaft Napoleons III. sieht: »Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, lässt in seiner Kultur keine Teilung der Arbeit zu, keine Anwendung der Wissenschaft, also keine Mannigfaltigkeit der Entwicklung, keine Verschiedenheit der Talente, keinen Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse.« Die französischen Parzellenbauern waren formal selbstständig, litten jedoch in ihrer großen Mehrheit unter drückenden Schuldzahlungen, die sie oft an neue Gläubiger aus den Reihen der Bourgeoisie entrichten mussten. Die heutige Industriearbeiterschaft in stagnierenden Branchen der USA sowie kleine Gewerbetreibende befinden sich oft in einer ähnlichen Situation: Der ökonomische Niedergang macht sie besonders anfällig für rückwärtsgewandte Ideologien. Um sich zu ihrem Volkstribun machen zu können, stellte sich Trump als Gegner des politi-

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schen Establishments dar. Er nutzte Rassismus, Sexismus und Nationalismus, um seine Anhänger aufzustacheln und zusammenzuschweißen. Oder, wie Karl Marx über Louis Bonaparte schreibt: »Nie hat ein Prätendent (jemand, der Anspruch auf eine Position erhebt, d. Red.) platter auf die Plattheit der Massen spekuliert.« Diesen reaktionären Ideologien ist durch die Perspektive beschränkter branchenbezogener Kämpfe in schrumpfenden Wirtschaftssektoren kaum beizukommen. Jedoch zeigt die Kampagne des demokratischen Sozialisten Bernie Sanders, der in diesen Regionen eine Reihe von Vorwahlen der demokratischen Partei gewann, dass es durchaus eine linke Perspektive für umfassende Veränderungen des politischen und wirtschaftlichen Systems gibt, die diese Menschen erreichen und einbeziehen kann.Marx verweist darauf, dass die unmittelbare ökonomische Lage der Menschen in diesen Wirtschaftszweigen nicht zwingend zu einem rückschrittlichen Bewusstsein führen muss: »Die Dynastie Bonaparte repräsentiert nicht den revolutionären, sondern den konservativen Bauern, nicht den Bauern, der über seine soziale Existenzbedingung, die Parzelle hinausdrängt, sondern der sie vielmehr befestigen will, nicht das Landvolk, das durch eigne Energie im Anschluss an die Städte die alte Ordnung umstürzen, sondern umgekehrt dumpf verschlossen in dieser alten Ordnung sich mitsamt seiner Parzelle von dem Gespenste des Kaisertums gerettet und bevorzugt sehen will.«

befinden sich der zum Chefstrategen ernannte Stephen Bannon, ein ehemaliger Investmentbanker bei Goldman Sachs, der heute eine rechtsradikale Onlineplattform leitet, und der mögliche zukünftige Finanzminister Steve Mnuchin, ehemals Partner bei Goldman Sachs. Wilbur Ross, ehemaliger Zeremonienmeister bei der lichtscheuen Wall-Street-Burschenschaft Kappa Beta Phi, wird als möglicher Wirtschaftsminister gehandelt. Mehrere mutmaßliche Amtsträger der neuen Regierung der USA waren nie anerkannte Mitglieder der politischen Elite oder sind dort in Ungnade gefallen. Sie stehen fest auf der Seite der Kapitalinteressen, sind gesellschaftspolitisch streng konservativ bis reaktionär, vertreten jedoch in Einzelfragen wie beispielsweise der Frage eines umfassenden Investitionsprogramms in die Infrastruktur oder der Rolle der USA im Nahen Osten oft widersprüchliche und gegensätzliche Positionen. Im Juni 1848, kurz nach der Gründung der Zweiten Republik, führte die Entscheidung, die Nationalwerkstätten zu schließen, zu einem Aufstand der Arbeiterschaft. 5000 Arbeiter und 1500 Soldaten wurden in den Kämpfen getötet. Die bewegte Geschichte Frankreichs in den folgenden Jahren, darunter der Staatsstreich Napoleons III., fand vor diesem Hintergrund statt. Die politische Struktur der USA ist gegenwärtig keinem vergleichbaren Druck ausgesetzt und auch daher hat jeder Vergleich dieser Zeit mit der Amtseinführung Trumps enge Grenzen. Wenn allerdings Trump bislang den verfassungsmäßigen Ablauf der Gesetzgebung nicht in Frage stellt, so legt er doch die ideologische Grundlage für eine mögliche zukünftige Herrschaft der Bourgeoisie, die sich der »checks and balances« entledigt und im politischen Kampf das Florett durch den Säbel ersetzt. ■

Ein Vergleich von Trump mit Bonapart hat enge Grenzen

Weiterlesen Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Band 8, S. 111-207, Berlin 1960.

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Trumps Präsidentschaft ist alles andere als klassenneutral. In seinem Windschatten schickt sich eine schillernde Schar alter und neuer Kräfte des Kapitals an, die führenden Stellen des Staates in ihren Besitz zu nehmen. Im engeren Kreis um Trump


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ANTONIO GRAMSCI Antonio Gramsci (1891-1937) war ein revolutionärer Sozialist und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens. Unter der faschistischen Herrschaft verbrachte er mehr als zehn Jahre im Gefängnis. In dieser Zeit entstanden seine berühmten »Gefängnishefte«. Ihnen sind zum größten Teil die Antworten auf unsere Fragen entnommen.

Wir haben es geschafft, den vor achtzig Jahren verstorbenen Marxisten Antonio Gramsci für ein Interview zu gewinnen. Ein Gespräch über Trumps Wahlsieg, Hegemonie und die Aufgaben der Linken

Was hast du gedacht, als du von Donald Trumps Wahlsieg gehört hast? Was wir brauchen ist Nüchternheit: Wir sollten nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und uns nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens. Bevor Donald Trump gegen die Demokratin Hillary Clinton gewann, hatte er schon gegen sämtliche Konkurrenten aus den Reihen der Republikaner gewonnen. Wie erklärst du dir den Aufstieg Donald Trumps? Die politischen Parteien sind der Reflex und die Nomenklatur der Gesellschaftsklassen. Sie entstehen, entwickeln sich, lösen sich auf, erneuern sich, je nachdem, ob die einzelnen Schichten der kämpfenden Gesellschaftsklassen Verschiebungen von wirklich geschichtlicher Tragweite unterliegen, ihre Existenz- und Entwicklungsbedingungen radikal verändert sehen, eine größere und klarere Bewusstheit ihrer selbst und der eigenen vitalen Interessen erwerben. An einem gewissen Punkte ihres geschichtlichen Lebens lösen sich die gesellschaftlichen Klassen von ihren traditionellen Parteien. Die traditionellen Parteien in ihrer gegebenen Organisationsform, mit bestimmten, diese Partei bildenden, sie vertretenden und leitenden Menschen, werden nicht mehr als eigentlicher Ausdruck ihrer Klasse oder Klassenfraktion anerkannt. Du sprichst von einer »organischen Krise« als Hintergrund eines solchen Prozesses – im Gegensatz zu den konjunkturellen Krisen, denen die Wirtschaft im Kapitalismus unterworfen ist. Mit dem

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Begriff »organische Krise« beschreibst du die Verdichtung verschiedener Krisenmomente zu größeren Widersprüchen und Konflikten, die offenlegen, dass das politische und wirtschaftliche System nicht so reibungslos funktioniert, wie es sonst den Anschein hat. Ja, wenn solche Krisen auftreten, so wird die unmittelbare Situation delikat und gefährlich, weil das Feld den Lösungen durch Gewalt und der Tätigkeit dunkler Mächte überlassen wird. Ihr Ausdruck sind die charismatischen oder von der Vorsehung auserwählten Menschen. In den USA spielt gerade Donald Trump die Rolle des charismatischen Führers. Doch wie kommt es überhaupt zu einer Krise, die Figuren wie ihn begünstigt? Sie entwickelt sich, weil entweder die Führungsklasse in irgendeinem politischen Unternehmen einen Fehlschlag erlitten hat, wofür sie mit Macht den Konsensus (die Einwilligung, d. Red.) der breiten Massen erbat oder erzwang (...), oder weil breite Massen (...) schlagartig aus der politischen Passivität zu einer gewissen Aktivität übergehen (...).

Ich hasse die Gleichgültigen Du nennst das die »Hegemoniekrise der Führungsklasse«. Kannst du den Begriff der Hegemonie genauer erklären? Die »normale« Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich die Waage halten, ohne dass der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt, sondern im Gegenteil vom Konsens der Mehrheit (...) getragen erscheint. Der Zwangsapparat in den USA ist riesig. Polizei, Militär und Geheimdienste haben weitgehende Befugnisse. Aber du argumentierst, dass die Herrschaft in modernen kapitalistischen Gesellschaften nicht nur durch Gewalt und Repression aufrechterhalten wird. Sie wird politisch so organisiert, dass die Einbindung wesentlicher Teile der untergeord-

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neten sozialen Gruppen – du nennst sie die »Subalternen« – gewährleistet wird. Die Herrschenden integrieren die Beherrschten in ihre »Hegemonie«. Richtig. Die Vorherrschaft einer sozialen Gruppe zeigt sich auf zwei Arten, als Beherrschung und als intellektuelle sowie moralische Führung. Eine soziale Gruppe ist dominant, wenn sie die gegnerischen Gruppen unterwirft und die verbündeten Gruppen anführt. Eine soziale Gruppe kann, ja muss sogar vor der Machtübernahme die Führung übernommen haben; wenn sie dann an der Macht ist (…) wird sie dominant, aber sie muss weiterhin führend bleiben. Die Herrschenden müssen also, um einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen, ihre Ideen, ihre Werte und Normen als führend durchsetzen. Für die USA ist vielleicht die Idee vom amerikanischen Traum ein ganz gutes Beispiel hierfür.

Mitte: Donald Trump und Barack Obama bei einem ersten gemeinsamen Treffen Ende November im Weißen Haus zur Übergabe der Amtsgeschäfte Rechts: Proteste gegen den neuen US-Präsidenten Donald Trump in New York


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Manche heulen reuevoll, andere fluchen unanständig (…) Ich glaube, dass leben bedeutet, Partei zu ergreifen. (…) Gleichgültigkeit ist Apathie, ist Parasitismus, ist Feigheit, ist das Gegenteil von Leben. (…) Ich lebe, ich bin parteiisch. Deshalb hasse ich den, der nicht eingreift, ich hasse die Gleichgültigen. Wie kann die Linke Partei ergreifen? Gute Frage! Was kann man seitens einer Klasse, die die Erneuerung anstrebt, diesem gewaltigen Komplex von Schützengräben und Befestigungsanlagen der herrschenden Klasse entgegenstellen? Den Geist des Bruchs, das heißt die fortschreitende Aneignung des Bewusstseins der eigenen historischen Persönlichkeit, den Geist des Bruchs, der danach streben muss, sich von der führenden Klasse auf die potentiell verbündeten Klassen aus-

Die Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig machen

Darin steckt ja die Akzeptanz von den Prinzipien der Konkurrenz, des Profitstrebens und des Wettbewerbs. Dieses Ideen sind von breiten Teilen der USGesellschaft im alltäglichen Selbst- und Weltverständnis aufgenommen worden und Teil des »Alltagsverstands«. Doch das Versprechen »Vom Tellerwäscher zum Millionär« ist aufgrund der realen Erfahrung von Armut, Arbeitslosigkeit und Abstieg für Millionen Menschen in den USA brüchig geworden. Können wir von einer Hegemoniekrise in den USA sprechen? Ja. Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr »führend« ist, (...) bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann.

Die Krise eröffnet also auch eine Chance für die Linke, mit antikapitalistischen Argumenten am Bewusstsein der Menschen anzuknüpfen? Wie immer sich die Krise entwickelt, wir können nur eine Verbesserung der politischen Positionen der Arbeiterklasse erhoffen, nicht aber ihren siegreichen Kampf um die Macht. Die wesentliche Aufgabe unserer Partei besteht in der Eroberung der Mehrheit für die Arbeiterklasse. Die Phase, die wir durchlaufen, ist nicht die des direkten Kampfes um die Macht, sondern eine Übergangsphase zum Kampf um die Macht, eine Phase also der Agitation, der Propaganda, der Organisation. Aber ist es nicht schon zu spät? Donald Trump hat radikale Projekte – und eine große Mehrheit in den parlamentarischen Vertretungen. Die Republikaner haben bei der US-Kongresswahl auch ihre Mehrheit im Senat behauptet. Trump hat also als zukünftiger Präsident dank der Mehrheiten in beiden Kammern gute Aussichten, seine politischen Vorhaben ohne große Gegenwehr durchzusetzen.

zudehnen: all das erfordert eine komplizierte ideologische Arbeit, deren erste Bedingung die richtige Kenntnis des Gebiets ist, dem die Menschenmassen zu entreißen sind. Was bedeutet das für dich konkret? Die erste Aufgabe unserer Partei besteht darin, dass sie sich ihrer historischen Mission entsprechend rüstet. In jeder Fabrik, in jedem Dorf muss es eine kommunistische Zelle geben, die die Partei (...) vertritt, die politisch zu arbeiten versteht, die Initiative hat. Es muss deswegen noch gegen eine gewisse Passivität in unseren eigenen Reihen angegangen werden, gegen die Tendenz, die Reihen unserer Partei klein zu halten. Wir müssen vielmehr eine große Partei werden, wir müssen versuchen, die größtmögliche Anzahl von revolutionären Arbeitern und Bauern an unsere Organisationen zu ziehen, um sie zum Kampf zu erziehen, um aus ihnen Organisatoren und Führer der Massen zu machen, um sie politisch anzuheben. (…) Es geht darum, die Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig zu machen. ■

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UNSERE MEINUNG | Lokführer, Piloten & Co.

Lokführer, Piloten & Co.

Von wegen Partikularinteressen Von Heinz Willemsen

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gal ob die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC), die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO), die Lokführergewerkschaft GDL oder die Ärztegewerkschaft Marburger Bund: Gewerkschaften außerhalb des DGB machen in den letzten Jahren Schlagzeilen mit effektiven und häufig erfolgreichen Streiks. In den Medien werden sie dafür heftig kritisiert. Die Bildzeitung rief 2015 zum Telefonterror beim GDL-Vorsitzenden Wesselsky auf. Das Bundesarbeitsgericht verdonnerte im Juli 2016 die Gewerkschaft der Fluglotsen (GdF) zu einem Schadensersatz für einen Streik 2012, der die kleine Gewerkschaft in den Ruin treiben kann. Selbst viele prominente DGBGewerkschafter scheinen den urgewerkschaftlichen Grundsatz vergessen zu haben, dass man Streikenden nicht in den Rücken fällt. Sie kritisieren vermeintlich ständische Partikularinteressen und stimmen ein in den Chor über privilegierte Beschäftigtengruppen. Das ist grundfalsch. Ihre Streiks verdienen die Solidarität von Gewerkschaftern und Linken. Denn Standesorganisationen, das hat der ehemalige IG-Druck-Vorsitzende Detlef Hensche eingewandt, streiken nicht. Wer im Fall der Lokführer von privilegierten Beschäftigten redet, kann nicht die Lohnabhängigen der Deutschen Bahn meinen. Bei Schichtarbeit verdienen sie nicht nur deutlich weniger als ihre Kollegen in anderen EU-Staaten. Mit einem Netto-Gehalt unter 2.500 Euro liegen sie auch eher im unteren Feld der Löhne. Der Hauptvorwurf gegen den Streik der GDL 2014 lautete, sie betreibe Rosinenpickerei für eine mit besonderer Produktionsmacht ausgestattete Gruppe. Aber es war gerade der Bahnvorstand, der sich heftig gegen die Forderung der GDL wehrte, nicht nur Lokführer zu vertreten, sondern auch die schwächere Gruppe der Zugbegleiter. Aber auch wer wie die Fluglotsen erheblich mehr verdient, streikt nicht, um sich Privilegien auf Ko-

sten anderer Lohnabhängiger zu sichern. Piloten, Fluglotsen und Flugbegleiter sehen sich heute den gleichen Problemen gegenüber wie Millionen andere Lohnabhängige auch. Ausgründungen in Billigflieger-Gesellschaften haben teilweise drastische Lohnsenkungen für diese Berufsgruppen zur Folge. Und die neuen Gesellschaften eröffnen eine Abwärtsspirale, die sich auch auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen der Muttergesellschaften auswirkt. Wer sich wie Piloten und Fluglotsen gegen krankmachende Arbeitsbedingungen und Überstunden wehrt, leistet zugleich einen Beitrag zur Flugsicherheit für Millionen ganz normale Passagiere. Die Spaltung der Arbeiterklasse durch Privatisierung und Ausgründung ist Folge der neoliberalen Deregulierung. Sie ist auch dem Unvermögen der DGB-Gewerkschaften geschuldet, darauf adäquat zu reagieren. Politisch häufig eher konservativ, haben Cockpit, UFO und GDL dagegen ganz instinktiv gewerkschaftlich darauf reagiert. Privatisierungen sind sie mit gewerkschaftlicher Organisierung begegnet, statt mit der Hoffnung auf eine erneuerte Sozialpartnerschaft oder hilflosen Appellen an die Politik. So ist heute die GDL und nicht die DGB-Gewerkschaft EVG die größte Gewerkschaft bei den Privatbahnen. Und es war die GDL, die mit ihrer erfolgreichen Organisationsarbeit bei den Privatbahnen verhindert hat, dass von dort mit Dumpinglöhnen Druck auf die Beschäftigten der Deutschen Bahn ausgeübt wird. Solidarität mit diesen Arbeitskämpfen sollten sich deshalb auch die großen DGB-Gewerkschaften auf die Fahnen schreiben. Das wäre ein Schritt zur Einheit der Klasse.

Einheit der Arbeitertklasse entsteht durch Solidarität

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Heinz Willemsen arbeitet in einem diakonischen Sozialkonzern. Er ist Mitglied von ver.di und der LINKEN.


© Klaus Stuttmann

STUTTMANN

UNSERE MEINUNG | Rot-Rot-Grün in Berlin

Rot-rot-grün in Berlin

Ein Spiel mit dem Feuer VON Max Manzey

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etzt wird in die Hände gespuckt: Die neue rot-rot-grüne Regierung hat sich in Berlin für die nächsten fünf Jahre viel vorgenommen und schreibt in der Präambel des Koalitionsvertrags: »Wir wollen zeigen, dass dieser Aufbruch einen Wandel zum Besseren erlaubt, auch wenn nicht alles anders werden wird.« Doch leider ist das in Zeiten von AfD und Pegida zu wenig. Die Koalitionäre übernehmen eine runtergewirtschaftete Stadt, in der in den letzten Jahren gespart wurde »bis es quietscht« (Klaus Wowereit). Die Stadt wird von einer Welle der Immobilienspekulation überrollt und selbst »Normalverdiener« können sich kaum noch eine Wohnung in der Innenstadt leisten. Da werden die versprochenen 3000 Sozialwohnungen pro Jahr und die Reformen in den landeseignen Wohnungsunternehmen wie ein Tropfen auf den heißen

Stein wirken. Es ist richtig, dass investiert werden soll, anstatt in Niedrigzinszeiten Schulden zurückzuzahlen. Doch dadurch werden bei Schulsanierung und Verwaltungsaufstockung nur die schlimmsten

Wir brauchen eine linke Opposition Löcher geflickt. Die meisten Menschen in dieser Stadt werden von diesem »Politikwechsel« nichts spüren. Und von dieser Tatsache werden wiederum vor allem die Rechte und die AfD profitieren, die es sich auf den Oppositionsbänken im Abgeordnetenhaus schon bequem macht. Sie wird die Schuld bei der »links-grün versifften« Regierung suchen und gegen

Geflüchtete hetzen. Ihre aktuelle Pressemitteilung ist betitelt mit »Der neue Senat wird die Berliner enttäuschen« und kritisiert die zu geringen Bildungsausgaben. Wir sollten nicht den Fehler machen, die Sachzwänge der Regierungspolitik gegenüber der AfD zu verteidigen, sondern daran arbeiten, dass es auch in den kommenden fünf Jahren eine sichtbare linke Opposition in und außerhalb der LINKEN gegen diese Regierung gibt. Auch nur so – mit Druck von außen – können überhaupt die vielen guten Forderungen im Koalitionsvertrag gegen die Fliehkräfte von SPD und Stadtverwaltung durchgesetzt werden. Max Manzey ist Mitglied der Berliner LINKEN und aktiv im Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus«.

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Identitäre Bewegung | Wie sie den Rechten Rand modernisiert

Wie die »Identitäre Bewegung« den rechten Rand modernisiert Sie sind jung, aktivistisch und wollen eine Kulturrevolution von rechts. Die Alternative für Deutschland buhlt um ihre Kader. Doch das inszenierte bürgerliche Image blättert schnell ab, sieht man sich die politische Vergangenheit bekannter Mitglieder an Ein Gastbeitrag von Julian Bruns, Kathrin Glösel und Natascha Strobl Julian Bruns schreibt an seiner Dissertation über »faschistische Literatur in Nordeuropa«. Kathrin Glösel macht historisch-politische Bildungsarbeit im Mauthausen-Komitee Österreich sowie im Verein Gedenkdienst. Natascha Strobl hat in Wien Politikwissenschaft und Skandinavistik studiert und mit einer Arbeit zur »Neuen Rechten« abgeschlossen.

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nde September 2016 in Berlin: Neun Aktivistinnen und Aktivisten der »Identitären Bewegung Deutschland« (IBD) klettern auf das Brandenburger Tor und besetzen es. Sie entrollen unter anderem ein Transparent mit der Forderung: »Sichere Grenzen – sichere Zukunft«. Die Aktion sorgte bundesweit für Aufsehen und Schlagzeilen in fast allen wichtigen Medien und war für die Gruppe ein voller Erfolg. Gegründet in Frankreich 2012 unter der Bezeichnung »Génération Identitaire« hat die Gruppe mit dem LambdaSymbol als Logo nun auch in Deutschland Anhängerinnen und Anhänger. Doch wer sind die Identitären eigentlich? Identitäre versuchen, Rechtsextremismus und Rassismus für die Zielgruppe junger Erwachsener zu popularisieren. In ihrer Ästhetik, ihren rhetorischen Mitteln und ihrer professionalisierten Öffentlichkeitsarbeit heben sie sich von der Bildsprache der »Alten Rechten« ab.

Das Ziel ist die homogene »Volksgemeinschaft«

Seit April 2014 ist Nils Altmieks Chef der deutschen Identitären. Ihm war es wohl ein Dorn im Auge, dass der deutsche Ableger den Gruppen in anderen Ländern hinterherhinkte. Er wollte mit dem losen Aktivismus brechen und fasste Regionalgruppen zusammen. Altmieks ist kein Unbekannter, schon früher war er Gast bei der neurechten Buchmesse »Zwi-

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schentag 2014« und trat dort als Redner auf. Auch deutschlandweite Vernetzungstreffen finden nun statt. Auf »Herbstlagern«, die ähnlich angelegt sind wie die europaweiten »Sommeruniversitäten«, wird den Mitgliedern ideologisches und rhetorisches Rüstzeug mitgegeben. Verbunden mit Kampfsporttraining, Lagerfeuer und Uniformierung (in den eigenen Merchandise-Shirts) soll das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt werden. Zusätzlich mobilisieren Identitäre ihre Mitglieder zu Veranstaltungen des »Instituts für Staatspolitik«, die von der neurechten Vernetzungsfigur Kubitschek auf seinem Rittergut in Schnellrosa (Sachsen-Anhalt) abgehalten werden. Im Antaios Verlag von Götz Kubitschek werden Bücher rechter Autoren neu aufgelegt, Identitäre platzieren sie als Helden auf ihren T-Shirts und Stickern. Stellvertreter von Altmieks ist Sebastian Zeilinger, der den Bayern-Ableger leitet. Zeilinger trat beim »Sternmarsch in Chemnitz« am 19. März 2016, an dem auch Anhänger der rechtsextremen Organisation III. Weg teilnahmen, als Redner auf und wetterte dort gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland. Identitäre sind dem Spektrum der »Neuen Rechten« und damit des Rechtsextremismus zuzuordnen, der – trotz modernisierter Aufmachung – auf denselben ideologischen Säulen fußt wie der »Alte« Rechtsex-


Identitäre Bewegung | Wie sie den Rechten Rand modernisiert

© Daniel Weber | neuwal.com

tremismus. Es ist eine Ideologie, in deren Zentrum die homogene »Volksgemeinschaft« als Ziel steht. Darüber hinaus ist er gekennzeichnet durch die Ausgrenzung von als »fremd« kategorisierten Personen, durch Antimarxismus, Antiliberalismus, Antipluralismus sowie die Ablehnung der Demokratie als Organisationsform menschlichen Zusammenlebens. Die »Neue Rechte« hat ihre Wurzeln im Frankreich der späten 1960er Jahre. Als Gegenströmung zu den »68ern« gründeten Protagonisten wie Alain de Benoist und Guillaume Faye Denkfabriken und schrieben in Büchern und Zeitschriften gegen Emanzipation, Gleichheit und Liberalismus an. Ziel war, Rechtsextremismus wieder salonfähig zu machen. Es ging und geht der »Neuen Rechten« um den sogenannten vorpolitischen Raum, sie wollen den Kampf um die Köpfe gewinnen und eine Kulturrevolution von rechts. In Deutschland hat diese Szene verschiedene Stadien durchgemacht, mit dem His-

torikerstreit 1986 als einem Höhepunkt. Bis zu den Jahren nach der Jahrtausendwende lag sie ziemlich brach. Zu dieser Zeit wurden neue Projekte von deutlich jüngeren Personen gegründet, beispielsweise 2003 die Zeitschrift Sezession (mittlerweile so etwas wie ein Zentralorgan der »Neuen Rechten«) und 2004 die »Blaue Narzisse«. Damit wurden die Grundlagen für ein neues, jüngeres und internetaffines Netzwerk geschaffen. Zur selben Zeit gründete sich in Italien die neofaschistische Organisation »Casa Pound«, die die Richtung für die Identitären vorgab: ein rechtsextremer, cooler Lifestyle mit Aktionismus, ganz ohne Schlägernazi-Anstrich. Diese beiden Faktoren, die Verjüngung der »Neuen Rechten« und ihres publizistischen Netzwerkes und mit »Casa Pound« ein aktionistisches Vorbild, waren zentral für den Aufstieg der Identitären. Sie bilden sozusagen die PolohemdFraktion des Rechtsextremismus.

Demonstration der »Identitären Bewegung Österreich« in Wien gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. In Österreich besteht ein enges Netzwerk zwischen Identitären und der neofaschistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ)

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Identitäre Bewegung | Wie sie den Rechten Rand modernisiert

Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im thüringischen Landtag, bei einer Plenarsitzung im Februar. Höcke ist ein Fan der Identitären der ersten Stunde. Schon 2014 bezeichnete er seine Partei als »identitäre Kraft«

Weiterlesen Julian Bruns, Kathrin Glösel und Natascha Strobl Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa 2. Auflage Unrast Münster 2016 264 Seiten 18 Euro

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Die »Neue Rechte« ist die Verbindung zwischen etablierten, bürgerlichen Schichten und dem offenen Rechtsextremismus. Sie beruft sich nicht mehr direkt auf den Nationalsozialismus, sondern auf die »Konservative Revolution«, also Autoren wie Carl Schmitt und Ernst Jünger. Diese schrieben gegen Demokratie, Parteien und Liberalismus an, forderten einen autoritären Staat und deuteten den Begriff »Sozialismus« völkisch-nationalistisch um. Doch das inszenierte bürgerliche Image blättert schnell ab, sieht man sich die politische Vergangenheit bekannter Mitglieder an. Tony Gerber aus Sachsen hat eine Neonazi-Vergangenheit und pflegte sogar Kontakte zu NSU-Sympathisanten. Mario Müller, der bei den Identitären in Halle aktiv ist, war ebenfalls neonazistisch aktiv. Eine begriffliche Neuheit der »Neuen Rechten«, auf die sich auch die Identitären stützen, ist jene des »Ethnopluralismus«.Vereinfacht ausgedrückt behauptet »Ethnopluralismus« eine Vielfalt von gleichwertigen Ethnien (die als Kulturen angesprochen werden), will jedoch, dass sich diese nicht vermischen. Laut den Identitären wertschätzt »Ethnopluralismus« verschiedene Kulturen – solange jeder Mensch dort verbleibt, wo er »hingehört«. Gefordert wird letzten Endes weltweite Apartheid. Darüber hinaus kommen die »Neuen Rechte« und Identitäre nicht ohne Homogenisierung und Herabwürdigungen aus. Ein Beispiel dafür ist der antimuslimische Rassismus. Identitäre tragen das stereotype Bild des gewalttätigen muslimischen Mannes und der unterdrückten muslimischen Frau, die beide nicht in der »Moderne« angekommen sind, vor sich her. »Der Islam« wird bei Aktionen der Identitären immer als das »feindliche Andere« dargestellt, als Störfaktor im und Gefahr für das »christliche Europa«. Eine Schnittmenge auch und vor allem in Be-

zug auf die Zusammenarbeit mit der Alternative für Deutschland (AfD). Während der vergangenen Monate hat sich das Verhältnis zwischen AfD und Identitären intensiviert. Konnte man es zu Beginn des Sommers noch als durchwachsen bezeichnen, da es teilweise strategische Abgrenzungen einzelner Länderorganisationen und »Unvereinbarkeitsbeschlüsse« gab, empfängt die AfD nun Identitäre mit offenen Armen. Björn Höcke ist ein Fan der ersten Stunde und bezeichnete schon 2014 die AfD selbst als »identitäre Kraft«. Eine wichtige Figur in Sachen Vernetzung der deutschen Rechten ist Hans Thomas Tillschneider. Auch er will die AfD »durchlässig« halten – sowohl für Pegida, Burschenschafter als auch Identitäre. Tillschneider ist einer der Träger von »einprozent.de«, einer Initiative, die sich wohl als Dienstleister in Sachen Öffentlichkeitsarbeit gegen Geflüchtete beschreiben lässt. Gemeinsam mit Proponenten wie Götz Kubitschek, Philip Stein (Blaue Narzisse, Verlag Jungeuropa) und Jürgen Elsässer (Compact Verlag) sammelt man Spenden, um Agitationen gegen Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland, für Verfassungsbeschwerden gegen die Bundesregierung und zur Koordination von lokalpolitischen »Bürgeranfragen« zu organisieren. Sieht man sich die beteiligten Gruppen an, wird deutlich: Etwa 2/3 werden von Identitären gestellt, die mit jeder noch so winzigen Untergruppe eigens genannt werden – sie profitieren von der Mitarbeit und erhalten Geld von einprozent.de. Damit Identitäre aus ihrer Position heraus diskursbeeinflussend agieren können, sind sie auf Öffentlichkeit angewiesen und wollen gegnerische Debattenbeiträge verdrängen. Hierzu versuchen sie, Gegnerinnen und Gegner einzuschüchtern: Sei es durch Störaktionen bei linken Veranstaltungen, durch diffamierende Texte und Videos oder tätliche Angriffe am Rande von Demonstrationen. Ihre Öffentlichkeit schaffen sie sich zum einen selbst, indem sie Blogs und Video-Channels betreiben, zu Demonstrationen aufrufen, Gebäude besetzen und diverse Seiten und Profile in sozialen Netzwerken betreuen. Zum anderen behandeln vor allem Journalistinnen und Journalisten sie immer häufiger als Interviewund damit Diskurspartner. Das ist jedoch falsch, denn durch Interviews und Reportagen erweitert man ihren Wirkungsradius und gibt ihren rassistischen Botschaften Platz. Wie gefährlich die Bewegung der Identitären werden kann, zeigen die Entwicklungen der letzten zwei Jahre: Am Rande von Demonstrationen kam es zu körperlichen Übergriffen. In Graz (Steiermark, Österreich) etwa wurden antifaschistische Aktive mit einem Teleskopschlagstock von identitären Kadern attackiert. ■


AFD | Wie die Partei sich für Nazis öffnet

Grünes Licht für Nazis Noch versucht die AfD, den Schein einer Abgrenzung gegenüber Naziorganisationen zu wahren. Dabei stehen ihre Türen für NPD-Mitglieder und »Identitäre« schon jetzt sperrangelweit offen Von Volkhard Mosler

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er AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen hat sich wiederholt von der NPD distanziert. Seine Partei werde »niemals mit Extremisten paktieren oder zusammenarbeiten.« Die NPD sei eine solche Partei. So zitierte ihn die Presse am 1. September. Aber Meuthen selbst stieß schon damals die Tür für eine Zusammenarbeit auf. Wenn die NPD »vernünftige Vorschläge mache«, werde man diese nicht ablehnen, nur weil sie von der NPD stammten. Anfang November hat nun das Bundesschiedsgericht der AfD zum wiederholten Male eine Entscheidung des Bundesvorstands kassiert, die auf eine Abgrenzung der AfD zur NPD und anderen Naziformationen hinauslief. Es hob den Beschluss des Parteivorstands auf, den Landesverband Saarland wegen Zusammenarbeit mit rechtsextremen Organisationen aufzulösen. Der Bundesparteitag in Stuttgart hatte den Auflösungsbeschluss des Bundesvorstands noch mit 995 gegen 806 Stimmen unterstützt. Anfang August hatte das gleiche Parteigericht einen Bundesvorstandsbeschluss zurückgenommen, wonach »AfD-Mitglieder weder als Redner noch mit Parteisymbolen bei Pegida-Veranstaltungen auftreten sollen«. Das Schiedsgericht befand, dass dem Vorstand »eine solche Einschränkung der Mitgliedsrechte nicht zustehe«. Grundsätzlich seien Mitglieder der AfD aufgerufen »stets und überall für die AfD und deren Programm zu werben«. Schon das war ein Freifahrtschein für die Zusammenarbeit mit Neonazis jeglicher Couleur.

menarbeiten sollten, denn die können alle zu uns kommen«. Indem Gauland die Vereinigung von »Identitärer Bewegung« und AfD fordert, verkehrt er den Abgrenzungsbeschluss bei formeller Unterstützung desselben in sein Gegenteil. Die Auseinandersetzung um den saarländischen Landesverband ist mit dem Spruch des Bundesschiedsgerichts nicht beendet. Die beiden Bundesvorsitzenden Meuthen und Petry haben noch am Tag der Bekanntgabe der Entscheidung den saarländischen Landesverband aufgefordert, nicht zur Landtagswahl im März 2017 anzutreten. Inzwischen wurde bekannt, dass der Spitzenkandidat der AfD im Saarland, Rudolf Müller, in seinem Antiquitätengeschäft mit Hakenkreuzen handelt. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb Ermittlungen aufgenommen. Gegen die beiden Vorsitzenden der saarländischen AfD läuft weiterhin ein Ausschlussverfahren. Unter anderem deshalb, weil sie einem NPD-Mitglied bei dessen Aufnahmeantrag in die AfD geraten hatten, seine NPD-Vergangenheit zu verschweigen. Der AfD-Bundesvorstand will zumindest bis zur Bundestagswahl den Schein einer Abgrenzung ihrer Partei von der NPD und anderen Naziorganisationen aufrechterhalten. Der neofaschistische Höcke-Flügel hat diese Versuche – gestützt auf das Bundesschiedsgericht und auf prominente Anhänger ihres Flügels wie Gauland – jedoch ein ums andere Mal vereitelt. Wenn es im Januar zu einem Verbot der NPD kommen sollte, steht die AfD als »Alternative« für die dann heimatlosen NPD-Mitglieder sperrangelweit offen.

Der Spitzenkandidat handelt mit Hakenkreuzen

Ein ähnliches Schicksal erfuhr ein Beschluss des Bundesvorstands vom Juli, der Parteigliederungen eine Zusammenarbeit mit der »Identitären Bewegung« untersagte. Dieses Mal war es nicht das Schiedsgericht, sondern der stellvertretende Bundesvorsitzende Alexander Gauland, der die Entscheidung faktisch kassierte: »Wir sind die AfD, wir sind das Original«, führte er aus. »Ich erwarte, dass Menschen, die wie die AfD denken, bei uns mitmachen.« Deswegen sehe er »überhaupt nicht ein, warum wir mit der Identitären Bewegung zusam-

Die gesamte Auseinandersetzung zeigt, dass der neofaschistische Flügel dabei ist, die AfD unter seine Kontrolle zu bringen. Es wäre nicht das erste Mal, dass neofaschistische Kräfte eine ursprünglich rechtskonservative Partei erobern. Zuletzt gelang dies 1985 dem früheren SS-Mann Franz Schönhuber mit der zuvor von ehemaligen CSU-Abgeordneten gegründeten Partei der »Republikaner«. Die AfD ist auf dem besten Weg, diesem Vorbild zu folgen. ■

Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

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Internationales | weltweiter widerstand

© Chris da Canha / flickr.com

SÜDKOREA

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Bei einer der größten Demonstrationen seit Jahrzehnten kommen Anfang November Hunderttausende in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul zusammen. Neben Studierenden, Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern finden sich auch Familien mit Kindern unter den Protestierenden. Sie fordern lautstark den Rücktritt der Präsidentin Park Geun-hye, der sie vorwerfen, vertrauliche Regierungsdokumente an ihre Freundin und spirituelle Begleiterin Choi Soon-sil weitergegeben zu haben. Diese hat selbst kein politisches Amt inne, fungiert aber wohl schon länger als informelle Beraterin der Präsidentin. Choi wurde inzwischen verhaftet, Parks Rolle in dem Skandal soll nun die Staatsanwaltschaft klären.


Internationales | weltweiter widerstand

Marokko

Kampf um Würde Tausende gehen in Marokko nach dem Tod eines Fischhändlers Ende Oktober auf die Straße. Doch das ist nicht der einzige Grund für die Proteste

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Von Mohamed Lamrabet

ohsin Fikri starb am Freitagabend. Er war Fischhändler in al-Hoceima, einer Stadt in der armen Rif-Region in Nordmarokko. Nachdem seine Ware von der Polizei beschlagnahmt und in den Container eines Müllfahrzeugs geworfen worden war, stellten er und zwei weitere Personen sich aus Protest mit hinein. Einer der Polizisten soll den Fahrer dennoch aufgefordert haben, die Müllpresse anzuwerfen. Zwei konnten entkommen, Fikri wurde erdrückt. Das Schicksal von Mohsin Fikri erinnert an das des Tunesier Mohammed Bouazizi. Auch er war ein Straßenhändler. Auch er wehrte sich gegen Polizeischickanen, steckte sich selbst in Brand und löste so eine Welle von Protesten aus, die die gesamte Region erschütterten. »Hogra« nennt man diese Form der Demütigung in Marokko. Mohsin Fikris Schicksal ist kein Einzelfall. Seit 2011 haben sich mehr als ein Dutzend Straßenhändler aus Wut, Verzweiflung und Protest selbst angezündet. Mohsin Fikri und all die anderen sind Opfer eines korrupten Staats. Sie sind die Opfer international gelobter Modernisierungsprozesse zur Neoliberalisierung des Landes, die von der EU in den vergangenen Jahren mitfinanziert wurden. Der Staat hat öffentliche Dienstleistungen verkauft – meist an europäische Investoren. In der Folge sind die Preise für Wasser und Strom in die Höhe geschossen. Für Selbstständige aus ärmeren Bevölkerungsteilen wird es immer schwieriger zu überleben. 2014 hat Marokko einen Fischfangvertrag mit der EU ausgehandelt. Für gerade einmal 30 Millionen Euro sollen in den nächsten Jahren bis zu 120 Schiffe aus elf Ländern der EU vor der marokkanischen Küste Fischfang betreiben dürfen. Teil des Vertrags waren auch Initiativen zur Förderung der Menschenrechte. In Anbetracht der strukturellen Ausbeutung scheinen sie allerdings nicht mehr als Augenwischerei zu sein.

Deutschland arbeitet eng mit Marokko an Prestigeprojekten im Umweltbereich zusammen. Während das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Solaranlagen in Ouarzazate baut, werden Anwohner im ganzen Land enteignet, um Platz für Großprojekte zu schaffen. Im Viertel »Douar Ouled Dlim« in Rabat konfiszierte die Regierung Land, um es an eine Immobiliengesellschaft weiterzuverkaufen. Viele Anwohner – meist Senioren, Frauen und Kinder – weigern sich bis heute, einfach Platz zu machen und leben in Wellblechhütten weiter. Seit Fikris Tod protestieren in ganz Marokko Menschen. Noch am selben Tag fanden Großdemonstrationen in Nador, Tetouan, Marrakesch und Rabat statt. Am Montag darauf gingen etwa 5000 Menschen in Richtung der Polizeipräfektur in Casablanca auf die Straße. Ob sich die Demonstrationen ausweiten und zu einer landesweiten Bewegung anwachsen, bleibt abzuwarten. Aber die Wut ist groß. Bereits vor Monaten demonstrierten tausende Studierende gegen Etatkürzungen, die es schwer machen, im Bildungssektor Arbeit zu finden. Statt über die psychologischen Folgen von Armut und Flucht, Korruption und Verzweiflung spricht man in Deutschland lieber über Herkunft und Kultur, um Menschen das Recht abzusprechen, Opfer zu sein. Marokko wird vielleicht moderner, aber das Volk bleibt zurück. Mohsin Fikri ist tot. Trotzdem werden Millionen junge Marokkaner weiterhin um jeden Preis für ihre eigenen Lebensperspektiven und ihre eigene Würde einstehen. Auch wenn das bedeutet, sich bis nach Europa durchzukämpfen. Wer Verzweiflung sät, der erntet Flucht! ■ Mohamed Lamrabet promoviert in Paris zu antirassistischen Bewegungen in Frankreich und Deutschland. Er schreibt regelmäßig für die unabhängige Nahost-Plattform »Alsharq«, wo dieser Artikel auch zuerst ungekürzt erschien.

TÜRKEI Trotz schwieriger politischer Lage und andauerndem Ausnahmezustand wurde vom 8. November bis Redaktionsschluss ein SBahn-Netz der westtürkischen Stadt İzmir bestreikt. Der staatliche Betreiber der IZBAN, welche täglich 150.000 bis 300.000 Menschen von den Vororten in die Stadt transportiert, weigert sich, den Lohnforderungen der Eisenbahnergewerkschaft Demiryol-Iş nachzugeben. Derzeit bekommen die 340 Arbeiter bei IZBAN nur etwas mehr als den Mindestlohn – beim anderen großen SBahn-Betreiber der Stadt sind es 33 Prozent mehr.

ITALIEN Mit einer Streikbeteiligung von landesweit 1,3 Millionen haben die italienischen Basisgewerkschaften Ende Oktober ein starkes Zeichen gesetzt – für ein »No« beim Referendum zur Verfassungsänderung Ende des Jahres und damit gegen die Politik des Ministerpräsidenten Matteo Renzi. Dieser plant den Senat soweit zu entmachten, dass er beispielsweise Gesetzesvorgaben der Regierung nicht mehr blockieren könnte.

Island

Kampf um jede Minute Vierzehn Prozent verdienen isländische Frauen weniger als ihre männlichen Kollegen. Auf einen Achtstundentag (beginnend um 8 Uhr) hochgerechnet, entspräche dies – jeden Tag – unentgeltlichen Überstunden ab 14:38 Uhr. Daher haben Ende Oktober landesweit tausende Frauen um genau diese Uhrzeit ihren Arbeitsplatz verlassen und sich zu großen Demonstrationen getroffen. Dabei ist das Land sogar Vorreiter in Sachen Gleichberechtigung: Im Schnitt verdienen Frauen in der sogar EU 16,7 Prozent weniger als gleich qualifizierte Männer.

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Internationales | Syrien

Das Buch »Burning Country« erzählt von den Menschen in Syrien, die nicht nur um ihr Leben, sondern auch weiterhin für ihre Freiheit kämpfen. Ein Interview mit der Autorin Leila al-Shami

Interview: Max van Lingen Übersetzung: Frank Simon

Was war der Hauptgrund, das Buch zu schreiben? Robin Yassin-Kassab und ich fanden, dass zu schlecht über Syrien berichtet wird. Nicht weil es zu wenige Nachrichten gäbe, sondern weil sie selten syrische Anliegen wiedergeben. Die Medien berichten hauptsächlich über die humanitäre Krise oder den Aufstieg islamistischer Gruppen und des Extremismus. Syrerinnen und Syrer werden entweder als Opfer oder als Terroristen gesehen. Wir wollten diese Sichtweise herausfordern, indem wir die Menschen selbst erzählen lassen. Wir wollten Aktivistinnen und Aktivisten, die an der Revolution beteiligt waren und vom Krieg betroffen sind, eine Plattform bieten. Eine linke Analyse sollte darauf beruhen, was die Bevölkerung tut, und nicht nur darauf, was auf dem Schachbrett der Staaten geschieht oder was die internationalen Auswirkungen der Krise sind. Wie habt ihr eure Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner ausgesucht?

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© Syria Freedom Forever

»Menschen unterstützen, nicht Staaten«

Demonstration gegen Assad aber auch gegen die salafistische »Dschabhat Fatah al-Scham« in Syrien. Eine Frau hält bei dem Protest in der Stadt Maaret Al-Numan ein selbstgebasteltes Schild in die Luft. Darauf steht: »24 Tage Protest und wir werden fortfahren«. Die Menschen fordern immer noch das Ende der autoritären Politik der »Dschabhat Fatah al-Scham« und die Befreiung der Gefangenen. Trotz der Militarisierung des Konfliktes, gibt es immer noch eine strake Zivilgesellschaft die eine wichtige Rolle in der syrischen Revolution spielt

Leila al-Shami Leila al-Shami ist in der Menschenrechtsbewegung im Nahen Osten tätig gewesen. Sie ist die Co-Autorin von »Burning Country«. Das Buch behandelt den grausamen und komplizierten Krieg in Syrien.

Wir waren von Anfang an mit der Revolution in Syrien verbunden. Wir kannten bereits viele Leute. Als wir mit diesen Aktivistinnen und Aktivisten sprachen, brachten sie uns mit weiteren Menschen in Kontakt. So haben wir eine Vielfalt von Einsichten in das Leben in Syrien gewonnen von Leuten aus ländlichen wie städtischen Gebieten, von Frauen wie von Männern. Wir interviewten Menschen aller Religionsgemeinschaften und Nationalitäten in Syrien: Muslimas und Muslime, Christinnen und Christen, Ismailitinnen und Ismailiten, Alawitinnen und Alawiten, sowie Kurdinnen und Kurden als auch Araberinnen und Araber. Was glaubst du, warum ein großer Teil der internationalen Linken entweder sehr zurückhaltend oder sogar offen feindselig gegenüber der Revolution war? Viele Linke schauen vor dem Hintergrund bereits vorhandener Ideen auf Syrien. Vor dem Arabischen Frühling


Internationales | Syrien

Kannst du das näher erläutern? Erstens ist es kein säkulares Regime. Im Verlauf der Revolution haben wir gesehen, wie das Regime die verschiedenen Religionsgemeinschaften für eine Teileund-herrsche-Politik instrumentalisierte. Zweitens ist es kein sozialistisches Regime. Bereits unter Hafis al-Assad begann die Umsetzung neoliberaler Maßnahmen, die unter Baschar al-Assad noch zunahm. Baschar al-Assad suchte Syrien stärker in die Weltwirtschaft zu integrieren, beispielsweise durch ein wirtschaftliches Assoziationsabkommen mit der EU. Unter ihm führten die neoliberalen Maßnahmen dazu, dass sich der Reichtum in den Händen von Assads Verwandten und von Leuten, die mit dem Regime verbunden sind, konzentrierte, während große Teile der Bevölkerung in Armut lebten. Eine der Hauptforderungen der Revolution war daher soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit.

DAS BUCH

Leila al-Shami/ Robin Yassin-Kassab Burning Country: Syrians in Revolution and War Pluto Press London 2016 280 Seiten 21 Euro (ebook 12,08 Euro)

waren ihre Erfahrungen mit dem Nahen Osten auf die israelische Besatzung Palästinas und den US-Krieg und die anschließende Besetzung Iraks beschränkt. Als der Arabische Frühling begann und sich die Revolution nach Syrien ausbreitete, schauten die Linken dann durch die Brille des US-Imperialismus auf Syrien. Was ist an dieser Sichtweise falsch? Die Lage hatte sich im Jahr 2011 dramatisch verändert. Es gab plötzlich eine internationale revolutionäre Welle in der Region, die eine gewaltige Veränderung im Denken der Menschen bewirkte. Die Menschen sagten, sie wollten nicht länger unter diesen Regimes leben, die sie über so lange Zeit unterdrückt hatten. Die Linke reagierte aber mehrheitlich nicht auf die Tatsache, dass es eine Massenbewegung von unten gab. Sie sah das Regime Assads als ein säkulares sozialistisches Regime, das sich in einem Krieg mit den USA und Israel befände. Doch das stimmt nicht.

Einige Linke reduzieren die syrische Revolution aber auf einen US-amerikanischen Versuch des »Regime Change« durch Waffenlieferungen nach Syrien. Wie denkst du darüber? Es stimmt nicht, dass die USA unzählige Waffen nach Syrien lieferten. Die USA lieferten einigen Nachschub, aber lange Zeit nur leichte Waffen, Nachtsichtgeräte und Fertigmahlzeiten. Anschließend kamen einige Panzerabwehrwaffen, um eine Pattsituation aufrechtzuerhalten. Die USA lieferten keine schweren Waffen, die syrische Rebellen benötigen würden, um sich gegen die Luftangriffe des Regimes zu verteidigen, wie beispielsweise Luftabwehrraketen. Wie sieht die militärische Strategie der USA konkret aus? Die USA halten Ausschau nach Stellvertretern, die den »Krieg gegen den Terror« für sie führen. Die »Südliche Front«, ein Bündnis auf demokratischer und nationalistischer Grundlage, das sich geweigert hat, mit Islamisten zusammenzuarbeiten, wurde von den USA und Jordanien gezwungen, das Regime Assads nicht weiter zu bekämpfen. Dies ermöglichte dem Regime, sich auf andere Gebiete zu konzentrieren, darunter Daraya, was nach einer langen Belagerung und dem systematischen Aushungern der

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Internationales | Syrien

Bevölkerung an das Regime gefallen ist. Die USA haben außerdem die »SyrischDemokratischen Kräfte« mit Waffen und Luftunterstützung versorgt, die von der kurdischen YPG dominiert werden, weil diese ausschließlich gegen Daesch (arabisches Akronym für »Islamischer Staat im Irak und der Levante«, d. Red.) kämpfen. Die »Islamisierung« der Revolution hat gewiss ihre internationale Anziehungskraft reduziert. Für wie tiefgreifend hältst Du diese Entwicklung? Ein großer Teil des militärischen Kampfes wird von Islamisten verschiedener Couleur geführt – von moderaten islamistischen Gruppen, die innerhalb eines demokratischen Rahmens operieren, bis zu salafistischen Hardlinern. Internationale dschihadistische Gruppen wie Daesch sind dagegen konterrevolutionär, sie stellen eine dritte Kraft dar. Syrerinnen und Syrer haben gegen Daesch gekämpft, wie sie auch gegen das Regime Assads gekämpft haben. Die »Freie Syrische Armee« existiert noch immer und hat eine große Anhängerschaft, aber sie ist nicht mehr der einzige Akteur. Was waren die Gründe für die »Islamisierung« der Revolution? Spätestens nach dem Giftgasangriff auf Ghuta im Jahr 2013 wusste die syrische Bevölkerung, dass sie keine Hilfe aus dem Westen bekommen würde. Darum wandte sie sich an die Golfstaaten. Das Ergebnis war ein stärker islamistisches Vokabular. Viele Kämpfer wechselten zu islamistischen Gruppen, weil diese Waffen und Geldmittel zur Verfügung gestellt bekamen. Diese Gruppen konnten einen Sold zahlen, was angesichts des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und des Hungers entscheidend war. Zwar herrscht der militärische Kampf vor, aber es gibt ebenso eine starke Zivilgesellschaft, die immer noch eine sehr wichtige Rolle in der syrischen Revolution spielt. In Maarat al-Numan gab es über 200 Tage anhaltende Proteste gegen Assad und gegen »Dschabhat Fatah al-Scham« (»Front für die Eroberung der Levante«, der neue Name der al-Nusra-Front). Die Menschen in Maarat al-Numan haben Fatah al-Scham klar abgelehnt, aber in Aleppo ist die Lage ganz anders. Dort hat Fatah al-Scham eine große Rolle bei

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dem Durchbrechen der Belagerung des Ostens von Aleppo gespielt, wodurch zwischenzeitlich 300.000 Menschen befreit wurden. Während die internationale Gemeinschaft die Menschen in Aleppo im Stich gelassen hat, kam Fatah al-Scham ihnen zur Hilfe. Es ist lächerlich zu denken, dass die Menschen sie in dieser Lage ablehnen.

rere Gründe. Während einige Alawiten vom Regime profitieren, lebt die absolute Mehrzahl immer noch in verarmten Gemeinden in der Küstenregion. Sie fürchten jedoch Vergeltung durch Unterstützer der Revolution im Falle des Sturzes des Regimes und eine islamistische Alternative an der Macht. Insofern können wir sagen, dass die alawitische Bevölkerung vielmehr gegen die

Die Hauptakteure an den Fronten sind externe Kräfte Eine andere widersprüchliche Entwicklung, die du beschreibst, ist die Militarisierung. Als die Revolution sich zu militarisieren begann, war ein Großteil der Zivilgesellschaft dagegen. Die Menschen fürchteten, dass die Revolution ihre Rechtmäßigkeit verlieren und dies zu stärkeren ethnoreligiösem Sektierertum führen könnte. Dies wurde offensichtlich Realität, aber die Militarisierung war keine Entscheidung, die auf irgendeinem Treffen oder durch irgendeine Abstimmung fiel, sondern erfolgte, weil Tausende Menschen unter das Feuer des Regimes gerieten. Sie hatten die Wahl, entweder zu den Waffen zu greifen und sich zu verteidigen oder massakriert zu werden. Was hältst du von den Verhandlungen in Genf? Ich hege keine großen Hoffnungen und ich denke auch nicht, dass die syrische Bevölkerung große Hoffnungen hegt. Die USA haben sich jetzt in Sachen Syrien mit Russland verbündet. Die USA sind bereit, das Regime an der Macht zu lassen, wenn es sich darauf konzentriert, was die USA als größte Bedrohung ansehen. Solange die internationale Gemeinschaft den islamistischen Extremismus als das Hauptproblem ansieht, werden jegliche Verhandlungen wenig Bedeutung für die syrische Bevölkerung haben. Wie stark ist die Anhängerschaft von Assad? Kann er sich weiterhin auf die alawitische Bevölkerung verlassen? Einige Alawitinnen und Alawiten haben die Revolution massiv unterstützt, wenngleich die überwiegende Mehrheit hinter dem Regime steht. Dafür gibt es meh-

Revolution ist als für das Regime, weil es auch innerhalb der alawitischen Gemeinschaft Unzufriedenheit mit dem Regime gibt. Viele Alawitinnen und Alawiten haben gegen die Zwangsrekrutierung protestiert und Leute, die dem Regime nahestehen, sind besorgt über den Einfluss Russlands und Irans. Viele alawitische Milizen sind nicht länger unter der Kontrolle des Regimes. Die Hauptakteure an den Fronten sind externe Kräfte, wie die Hisbollah und die irakischen schiitischen Milizen, die von Iran gelenkt werden. Gibt es unter den Rebellen noch Gruppen, die Syrerinnen und Syrern unterstützen können, wenn sie weder das Regime noch Islamismus wollen? Es gibt viele positive Dinge, die man in Syrien unterstützen kann. Es gibt lokale Räte, die ihre Gemeinden selbst zu verwalten versuchen, während sie von heftigen Bombardements betroffen sind. Es gibt humanitäre Hilfsorganisationen wie die Weißhelme, die eine großartige Arbeit leisten und ihr eigenes Leben riskieren, um die Opfer von Luftangriffen aus den Trümmern zu retten. Aktivistinnen und Aktivisten haben Frauenzentren errichtet, unabhängige Medienzentren und Menschenrechtsorganisationen. Diese Initiativen sind momentan natürlich nicht die stärksten Akteure, aber sie stehen für Menschen, die kämpfen. Und diese Menschen sollten Linke unterstützen. Nur weil sie das Geschehen nicht beherrschen, bedeutet das nicht, dass wir unsere Unterstützung stattdessen Staaten schenken sollten. Wir sollten weder die USA noch Russland unterstützen. Alle in Syrien intervenierenden Staaten verursachen ein großes Chaos dort. ■


Internationales | POLEN

Symbol des »Schwarzen Protests«. Es spiegelt die Wut der polnischen Frauen wieder, die gegen das geplantes Abtreibungsverbot protestierten

Der »Schwarze Protest« kämpft weiter Frauenfeindlich, rassistisch, undemokratisch: Seit einem Jahr wird Polen nun von der rechtsgerichteten katholischen Partei für »Recht und Gerechtigkeit« regiert. Ihre Politik stößt auf wachsenden Widerstand

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Von Ellisiv Rognlien

ie rechtsgerichtete katholische Partei für »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) ist jetzt seit einem Jahr in Polen im Amt. Sie erhielt 37,6 Prozent der Wählerstimmen und verfügt damit über die absolute Mehrheit im Parlament. Mit Beata Szydło stellt die Partei auch auch die amtierende Ministerpräsidentin. Niemand hätte vor einem Jahr vorhergesagt, dass diese Regierung ihre erste Schlappe bei dem Versuch erleiden würde, eines der strengsten Abtreibungsgesetze weltweit weiter zu verschärfen. Hunderttausende gingen schwarz gekleidet in ganz Polen bei der als »schwarzer Protest« benannten Aktion auf die Straße, vor allem junge Frauen. Viele nahmen sich dafür einen Tag frei. Nach der von einer ultrakonservativen katholischen Bewegung ins

Parlament eingebrachten Verschärfung hätten Frauen selbst nach einer Vergewaltigung oder bei schwerer Schädigung des Fötus keinen Abbruch mehr vornehmen lassen dürfen. Zudem war eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren vorgesehen. Offiziell gibt es jährlich 1000 bis 2000 legale Abtreibungen in Polen. Frauenorganisationen gehen aber von über 100.000 aus. Viele Schwangerschaftsabbrüche werden in Ländern mit liberalerer Gesetzgebung vorgenommen, etwa in Tschechien oder Deutschland. In Polen selbst bauten Frauen ein Hilfsnetzwerk im Untergrund auf. Die Proteste stießen bei Frauen unter anderem deshalb auf so große Resonanz, weil nach Schätzungen vier bis fünf Millionen Frauen in Polen bereits abgetrieben haben, was selten öffentlich thematisiert wird. Einige bekannte

Ellisiv Rognlien ist Mitglied der Partei Pracownicza Demokracja (»Arbeiterdemokratie«).

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Internationales | POLEN

gerschaft auch dann ausgetragen werde, wenn das Kind schwer behindert sei oder bald nach der Geburt sterbe, damit es noch getauft und beerdigt werden könne. Frauen sollen rund 1000 Euro erhalten, wenn sie ein schwer behindertes Kind austragen. Das ist ein grausamer und zynischer Versuch der Bestechung von Frauen, die ihre Gesundheit riskieren, ständig in Angst und mit dem Trauma leben, ein Kind gleich nach der Geburt beerdigen zu müssen. Die 1000 Euro decken gerade die Kosten der Taufe und der Beerdigung und fließen gleich in die Taschen der Kirche, heißt es von wütenden Frauen. Sie verlangen stattdessen freien Zugang zur Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs.

© P.Tracz / KPRM / Public Domain Mark 1.0.jpg

Die PiS kam Ende 2015 nach einer acht Jahre regierenden extrem arroganten, korrupten und eng mit dem Großkapital verbundenen neoliberalen Koalition unter Führung der Bürgerplattform an die Macht. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs in dieser Zeit, aber einfache Leute spürten davon so gut wie nichts – die Löhne blieben niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch, was für viele Familien Armut bedeutet. Die PiS gewann die Wahlen mit dem Versprechen auf sozialen Wandel. Ein wichtiges Versprechen setzte sie tatsächlich um: Familien erhalten jetzt vom Staat monatlich für das zweite und jedes wei-

Beate Szydło ist seit dem 16.November 2016 Ministerpräsidentin der Republik Polen. Daneben ist sie stellvertretenden Vorsitzende der PiS

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Frauen haben dennoch offen über ihre Erfahrung gesprochen. Die Medien überzogen sie mit einer Hasskampagne, doch sie erhielten auch breite Unterstützung. Angesichts der Massenproteste ließ die Regierung das neue Gesetz, das in erster Lesung bereits eine Mehrheit bekommen hatte, in der zweiten Lesung scheitern. Die PiS fürchtete sich vor einer fortgesetzten Massenbewegung auf den Straßen. Gleichzeitig muss sie sich den Kirchenoberen dankbar erweisen, die ihr die Wählerstimmen verschafft haben. Sie steht unter dem Druck einer wachsenden ultrarechten bis faschistischen Bewegung, die sie bald überflügeln könnte. Deshalb hat sie als Zugeständnis an diese Kräfte bald nach ihrer Kehrtwende ein eigenes Gesetz »Pro Leben« vorgelegt. Jarosław Kaczyński, der Hauptstrippenzieher der PiS, erklärte, die Regierung wolle, dass eine Schwan-

Die polnische Gesellschaft ist stark polarisiert tere Kind 500 Złoty (rund 110 Euro), sehr arme Familien bereits für das erste Kind. Das bedeutet eine erhebliche finanzielle Entlastung für viele Familien angesichts eines Einkommens, das in der Regel bei knapp 600 Euro liegt. Viele andere Versprechen löste die PiS nicht ein, wegen der »500+« stehen allerdings immer noch 30 bis 35 Prozent der Wählerschaft hinter ihr. Wie lange die Regierung diese soziale Fassade noch aufrechterhalten kann, ist unklar. Sie plant eine »Bildungsreform«, gegen die Ende November in Warschau Zehntausende protestiert haben. Die PiS will die Mittelschulen abschaffen, die Lehrpläne auf christlich-konservativ trimmen und die Schulleitungen konservativ besetzen. Tausende Beschäftigte im Bildungsbereich könnten ihre Arbeit verlieren. Die PiS will auch dafür sorgen, dass Leute schneller aus ihren Häusern geräumt werden können.


Internationales | POLEN

© Grzegorz Żukowski / CC BY-NC / flickr.com

Anfang Oktober demonstrierten in Polen hunderttausende schwarzgekleidet Menschen für Frauenrechte und gegen das geplante Abtreibungsverbot der Regierung. Unter dem Eindruck der Massenproteste lehnte das Parlament den Gesetzesentwurf ab

Im Parlament gibt es keine linken Kräfte mehr. Die zwei wichtigsten Oppositionsparteien sind aggressiv neoliberal, verachten Arbeiterinnen und Arbeiter und hassen Gewerkschaften. Beide sind gegen eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes – und natürlich gegen das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper. Die postkommunistische SLD, die als »die« linke Partei gilt, vertritt die Interessen des aus dem alten Regime hervorgegangen Unternehmerlagers. Sie ist mitverantwortlich für die bereits Ende der 1980er-Jahre eingeleitete neoliberale Politik; ihre Führung schickte polnische Soldaten in den Irak und erlaubte der CIA, auf polnischem Staatsgebiet Geheimgefängnisse zu unterhalten. Die Gründung von Razem (»Gemeinsam«) im Mai 2015 als neue linke Partei begrüßten alle, die auf eine echte linke Alternative in Polen hoffen. Razem erzielte auf Anhieb 3,6 Prozent der Stimmen. Die Partei sieht sich als sozialdemokratische Neuformierung ähnlich wie Podemos in Spanien, betont Basisaktivität und Kampagnenpolitik, orientiert sich in ihren Zielvorstellungen an dem skandinavischen Modell des Wohlfahrtsstaats und strebt parlamentarische Reformen an. Razem ist inzwischen auf etwa 2000 Mitglieder angewachsen. Allein ihre Existenz hat sozialen Protest befördert und das Diskussionsklima nach links verschoben. In einem Land, in dem das Wort »links« so lange mit alten Parteifunktionären, neoliberalen Geschäftsleuten und Kriegsverbrechern assoziiert wurde, ist eine Partei mit gewerkschaftsfreundicher Politik, Antirassismus, Antisexismus und einer Politik für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ein echter Fortschritt.

Es gibt aber auch einige Schwächen. Razem schloss sich zum Beispiel nicht den Protesten gegen den Nato-Gipfel in Warschau, gegen US-amerikanische Stützpunkte und die Stationierung US-amerikanischer Soldaten in Polen an. Abgesehen davon hat Razem sehr erfolgreich viele junge Leute gewonnen und eine wichtige Rolle beim Aufbau vieler Kampagnen gespielt, insbesondere dem »schwarzen Protest«, der in den vergangenen Wochen gezeigt hat, dass außerparlamentarische Bewegungen etwas verändern können. Doch das wird nicht einfach werden, denn die Gesellschaft ist stark polarisiert. Die Regierung arbeitet mit Nachdruck daran, ihre Kontrolle über die Gesellschaft auszuweiten. Insgesamt strebt die PiS ein autoritäres Regime an. Sie besetzt Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft mit ihren Kumpanen und sie hat die Verfassung teilweise ausgehebelt, wogegen schon im Dezember 2015 in ganz Polen Zehntausende auf die Straße gingen. Außerdem hat die PiS das Staatsfernsehen in ein primitives rechtes Propagandainstrument verwandelt. Sie fördert noch weiter rechts stehende Kräfte wie die Organisationen des »Unabhängigkeitsmarsches« am 11. November, der von Faschisten angeführt wird. Fälle rassistisch motivierter Gewalt sind in diesem Jahr deutlich angestiegen. Aber es gab auch eine erfolgreiche antifaschistische Demonstration am 11. November in Warschau mit etwa 5000 Teilnehmenden und der Unterstützung der OPZZ, eine der größten Gewerkschaften. Wir wollen die Bewegungen für Frauen- und Gewerkschaftsrechte, gegen Rassismus und Nazis weiter aufbauen und stärken. Das ist die einzige Möglichkeit, die Regierung in Bedrängnis und letztendlich zu Fall zu bringen. ■

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INLAND | Behindertenrechte

Diskriminierung per Gesetz Das neue Bundesteilhabegesetz will Kosten sparen auf dem Rücken der Behinderten. Die wehren sich nun

Daniel Kreutz ist Vorsitzender des Sozialpolitischen Ausschusses des Sozialverbands Deutschland (SoVD) beim Landesverband NordrheinWestfalen.

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Von Daniel Kreutz

eit die »Krüppelbewegung« der 1970er Jahre verebbte, hat es solche Bilder kaum mehr gegeben: Im Mai 2016 ketten sich Rollstuhlfahrer vor dem Bundestag an, vor dem Düsseldorfer Landtag demonstrieren lautstark behinderte Menschen. Seitdem reißen die Protestaktionen Betroffener, darunter viele schwer Beeinträchtigte in E-Rollis, Blinde und Gehörlose, nicht mehr ab und erfassten vor allem im September zahlreiche Groß- und Landeshauptstädte. Was die Behinderten auf die Straße treibt, ist das »Bundesteilhabegesetz« (BTHG) der Großen Koalition – im Kern eine Neufassung der bislang im Sozialhilferecht verorteten Eingliederungshilfe (EGH), auf die viele behinderte Menschen existenziell angewiesen sind. Der Gesetzentwurf aus dem Hause von Andrea Nahles (Bundesministerin für Arbeit und Soziales) lässt nämlich nicht nur lang erwartete Verbesserungen vermissen, sondern wartet mit einer Reihe substanzieller Verschlechterungen auf.

Der Neoliberalismus erfasst jetzt das Behindertenrecht

Um einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe (EGH) zu haben, müssen künftig Beeinträchtigungen in fünf von neun »Lebensbereichen« nachgewiesen werden. Das schränkt den Kreis der Leistungsberechtigten gegenüber dem bisherigen Recht deutlich ein.

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Das Selbstbestimmungsrecht wird geschwächt. Nicht nur bleibt es beim langjährig umstrittenen »Mehrkostenvorbehalt« des Sozialhilfeträgers, wonach beispielsweise die Versorgung in der eigenen Wohnung abgelehnt wird, wenn sie wesentlich teurer kommt als eine Heimunterbringung. Es wird auch der Grundsatz »ambulant vor stationär« gestrichen und dem Sozialhilfeträger (SHT) die Möglichkeit eröffnet, manche Leistungen auch gegen den Willen der Betroffenen nicht mehr individuell, sondern nur an mehreren gemeinsam zu erbringen (»Zwangspoolen«). Die Betroffenen befürchten, dass sie vermehrt in stationären Einrichtungen untergebracht werden. Der Grundsatz individueller Bedarfsdeckung soll in der Eingliederungshilfe nicht mehr gelten. Bei den Leistungen für Bildung gibt es keinen offenen Leistungskatalog mehr, Regelungen zu Hilfsmitteln fehlen, beim Hochschulbesuch gibt es zeitliche und fachliche Einschränkungen, die Bereiche Erwachsenenbildung und außerschulische Bildung fehlen ganz. Auch für die Teilhabe an Arbeit wird der Leistungskatalog eingeschränkt. Die bisherige Gleichrangigkeit von Pflege und Eingliederungshilfe soll durch willkürlich konstruierte Vorrang-Nachrang-Verhältnisse abgelöst werden. Künftigen Behinderten mit Pflegebedarf und pflegebedürftigen alten Menschen, die ambulant zu Hause


INLAND | Behindertenrechte

Vor allem erwerbstätige Betroffene empören sich zu Recht darüber, dass ihr Einkommen und gegebenenfalls Vermögen weiterhin zur Finanzierung von Eingliederungshilfen (zum Beispiel der notwendigen persönlichen Assistenz) herangezogen wird. Die Beendigung dieser krassen Benachteiligung gegenüber Nichtbehinderten, denen solche – ausschließlich behinderungsbedingte – Kosten gar nicht entstehen können, zählte bislang zu den obersten Erwartungen der Behindertenverbände an ein Bundesteilhabegesetz. Wer neben der Eingliederungshilfe auch Sozialhilfe zur Pflege (oder zum Lebensunterhalt) benötigt – und das sind viele –, für den oder die bleibt es bei der bisherigen Einkommens- und Vermögensanrechnung der Sozialhilfe. Für Behinderte, die nur Eingliederungshilfe beziehen, soll es zwar Erleichterungen geben, insbesondere beim Vermögen. Doch die Belastung der Erwerbseinkommen mit »Eigenbeiträgen« wird es den meisten Betroffenen weiterhin verwehren, nennenswerte Ersparnisse aufzubauen. Zweck der nachteiligen Neuregelungen ist es, den Kostenanstieg bei der Eingliederungshilfe zugunsten der zuständigen Sozialhilfeträger deutlich unter die nach bisherigem Recht erwarteten Zuwächse zu drücken. Nun soll die »Herauslösung aus der Sozialhilfe« in einer Weise kommen, die an die »Zusammenlegung« von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe erinnert. Mit dem Bundesteilhabegesetz wird zwar die Eingliederungshilfe aus dem Sozialhilferecht (Sozialgesetzbuch XII) herausgenommen und in das Rehaund Teilhaberecht (SGB IX) verlagert – allerdings unter Mitnahme und teils noch Verschärfung fürsorgerechtlicher Grausamkeiten und Beschränkungen. Das Ergebnis ist eine fürsorgerechtliche Verhunzung des SGB IX und eine Rückabwicklung wesentlicher sozialpolitischer Ziele des SGB IX von 2001. So tritt an die Stelle des damals angestrebten einheitlichen Verfahrensrechts für alle Leistungsträger ein gesetzlich normiertes Sonderrecht für die Kostenträger der Sozialhilfe. Und dieses ermöglicht gerade nicht Leistungen zur »vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe«, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention gebietet, die seit 2009 Teil des deutschen

© kellerabteil / flickr.com / CC BY-NC

versorgt werden, drohen Einschränkungen ihrer Ansprüche auf Eingliederungshilfe. Die umstrittene Regelung, wonach die Pflegekassen für Pflegebedürftige in Eingliederungshilfe-Wohnheimen nur eine Pauschale von maximal 266 Euro zahlen, soll auf ambulant betreute EGH-Wohngemeinschaften ausgeweitet werden. Damit droht den Bewohnerinnen und Bewohnern solcher Einrichtungen der weitgehende Verlust ihres Leistungsanspruchs an die Pflegeversicherung – trotz Beitragszahlung.

Protest von Menschen mit und ohne Behinderung gegen das Bundesteilhabegesetz. Setzt sich die Bundesregierung damit durch, käme dies einer historischen Niederlage für behinderte Menschen gleich. Der Neoliberalismus der Agenda»Reformen« erfasst jetzt das Behindertenrecht Rechts ist. Vielmehr zielt das Bundesteilhabegesetz der großen Koalition auf Kostensenkung durch minimale Teilhabe. Der Neoliberalismus der Agenda»Reformen« erfasst jetzt das Behindertenrecht. Setzt sich die Bundesregierung damit durch, käme dieser Umbruch im Reha- und Teilhaberecht einer historischen Niederlage für behinderte Menschen gleich. Ein Lichtblick ist immerhin, dass viele Betroffene ihren Willen und ihre Fähigkeit wiederentdeckten, Druck auf die Politik auszuüben und sich für die Selbstwahrnehmung ihrer Interessen zu mobilisieren, oft ohne auf die Deckung und Organisationskraft großer Verbände zu warten. Es bleibt zu hoffen, dass sie, wenn sich die Depression der Niederlage gelegt hat, daran anknüpfen können, um eine neue Runde des Kampfs um ihre Menschenrechte zu eröffnen. ■

Zum Text Der Artikel bezieht sich auf den Stand der Debatte zum Redaktionsschluss Anfang November. Dieser Beitrag erschien erstmals in der »Sozialistischen Zeitung – SoZ«. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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Selbstbestimmung ohne Vorbehalte Haben Frauen das Recht, eine Schwangerschaft zu beenden, weil das Kind möglicherweise nicht lebensfähig oder schwer behindert sein wird? Warum sie volles Informationsrecht über ihr ungeborenes Kind haben müssen und das Recht auf Spätabtreibung nichts mit Behindertenfeindlichkeit zu tun hat Von Rosemarie Nünning

Rosemarie Nünning ist Vorstandsmitglied der LINKEN im Berliner Bezirk FriedrichshainKreuzberg und Unterstützerin von marx21. Sie ist aktiv im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung und Mitautorin der kürzlich erschienen Broschüre »Prostitution – Sexarbeit, Kriminalisierung und Frauenunterdrückung«.

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eit über hundert Jahren kämpfen Frauen für das uneingeschränkte Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Sie tun dies im Namen der Selbstbestimmung über ihren Körper und ihren Lebensweg. Dieses Recht wird ihnen von Staat und Kirche bis heute streitig gemacht. Mit der Möglichkeit der vorgeburtlichen Untersuchung eines Fötus auf schwere Schädigung seit Anfang der 1980er Jahre hat diese Debatte eine Erweiterung erfahren: Haben Frauen (und ihre Partnerinnen und Partner) ein Recht auf diese Untersuchung mit der möglichen Folge einer Abtreibung? Bewegen sie sich damit im Bereich der »Selektion« menschlichen Lebens? Neuen Schwung hat die Diskussion bekommen, weil jetzt der Gemeinsame Bundesausschuss der Krankenkassen darüber berät, ob eine vorgeburtliche Diagnostik anhand des Bluts der schwangeren Frau zur Kassenleistung werden soll. Bisher ist die Pränataldiagnostik meist »invasiv«, also mit einem Eingriff in den Körper der Frau verbunden (siehe Glossar). 30.000 bis 60.000 solcher invasiven Tests werden jährlich in Deutschland durchgeführt. Die nichtinvasive Diagnostik (NIPD), die zurzeit mehrere hundert Euro kostet, kann Frauen ohne das Risiko eines Eingriffs Auskunft darüber geben, ob Genommutationen (Trisomien) vorliegen, die für das Downsyndrom, zu erwartende schwere körperliche und geistige Behinderung oder frühen Kindstod verantwortlich sind. In einigen europäischen Ländern gibt es Pilotverfahren bezüglich der Kassenzulassung des Tests oder

bereits eine begrenzte Zulassung, ebenso in einigen Gegenden Kanadas und der USA. In Israel ist er über eine zusätzliche Krankenversicherung verfügbar. In China wird er teils von Stadtverwaltungen subventioniert. Den größten Marktanteil haben bisher die USA. In Deutschland vertreibt der Hersteller LifeCodexx seinen Praena-Test weit über die europäischen Grenzen hinaus. Ohne Zweifel haben Konzerne und Krankenkassen großes Interesse an der weiteren Verbreitung dieses Tests. Für Erstere ist es ein Milliardengeschäft, Letztere erwarten auf Dauer Einsparungen bei dem Testverfahren und möglichen Kosten für behinderte Menschen. Deshalb hat die wahrscheinliche Übernahme der Kosten für die NIPD durch die Krankenkassen scharfe Kritik bei rechten wie linken Gegnern vorgeburtlicher Tests hervorgerufen. Die christlichen Fundamentalisten und rabiaten Abtreibungsgegner mit ihrer Hauptorganisation Bundesverband Lebensrecht widmeten ihren diesjährigen, wieder mehrere Tausend Teilnehmer zählenden Marsch »für das Leben« insbesondere dem Kampf der Pränataldiagnostik. Ihr Motto lautete: »Jeder Mensch ist gleich wertvoll – kein Kind ist unzumutbar« und »Inklusion auch vor der Geburt«. Sie versuchen Druck auf Bundestagsabgeordnete auszuüben, NIPD nicht als Kassenleistung anzuerkennen. Dies verändere »das Klima in unserer Gesellschaft erheblich zuungunsten von Menschen mit Behinderungen und deren Eltern«. Sie genießen


Frauenbefreiung | pränataldiagnostik

die wohlwollende Unterstützung von hochrangigen CSU-Politikern, Bischöfen und der AfD, insbesondere Beatrix von Storch.

© Reporteros Tercerainformacion / CC BY-NC-SA / flickr.com

Von feministischer Seite hat die Aktivistin und Autorin Kirsten Achtelik im vergangenen Jahr das Buch »Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung« als Abrechnung mit vorgeburtlichen Diagnoseverfahren vorgelegt. Für sie hat »selektive PND nicht viel mit Selbstbestimmung zu tun, sondern ist vor allem behindertenfeindlich«. Sie führt damit eine Auseinandersetzung in der Linken fort, die mit dem Aufkommen vorgeburtlicher Diagnoseverfahren und später der Präimplantationsdiagnostik (PID) begann und in der bereits das Informations- und Selbstbestimmungsrecht von Frauen infrage gestellt wurde. Berühmt wurde ein Streitgespräch in der Zeitschrift »Konkret« im Jahr 1989 unter dem Titel »Krüppelschläge: Wie weit reicht das SelbstbestimGlossar mungsrecht der Frau?« Ein Argumentationsstrang lautet: Trisomien Trisomien entstehen, Frauen würden immer mehr nach wenn ein bestimmtes Chromosom der Verwertbarkeitslogik des Neolistatt üblicherweise doppelt gleich dreifach vorhanden ist. Bei der beralismus handeln und SchwangerTrisomie 21, die das Downsyndrom schaften bei Diagnose auf ein späverursacht, liegt das Chromosom 21 ter behindertes Kind abbrechen. Sie dreimal im Erbgut vor. Die Trisomie würden der Logik einer vom Kapita13 und 18 führen zu schweren Organfehlbildungen, einschließlich des lismus gesetzten Norm folgen. Dies Gehirns, oft stirbt der Fötus ab. sei »selektiv« und grenze an die VerPränataldiagnostik (PND) nichtung »unwerten Lebens«, der und Nichtinvasive PränatalEuthanasie im Faschismus. diagnostik (NIPD)

Demonstration für die Entkriminalisierung von Abtreibungen in Madrid Ende September 2014. Im vergangenen Jahr konnten Massenmobilisierungen die geplante Verschärfung der Abtreibungsgesetze verhindern

Hier werden unzulässiger Weise zwei Fragen miteinander vermischt: Die Entscheidung gegen ein behindertes Kind wird gleichgesetzt mit Behindertenfeindlichkeit und unter der Hand wird in diesem Fall der »Schutz des ungeborenen Lebens« über das Leben der Mutter gestellt, wie es auch in den 1990er Jahren dem Paragrafen 219 des Strafgesetzbuches auf Druck der christlichen Kirchen eingeschrieben wurde. Die Entscheidung gegen das Austragen einer Schwangerschaft bei einer Trisomiediagnose heißt aber nicht, dass die betroffene Frau, ihr Partner oder ihre Partnerin Menschen mit Downsyndrom das Recht auf Leben absprechen. Es heißt, dass sie sich – und ihre Familie – dieser Situation zu diesem Zeitpunkt nicht gewachsen fühlen. Ob aus finanziellen, gesundheitlichen, psychischen oder emotionalen Gründen: Keine Frau trifft diese Entscheidung leichtfertig.

bezeichnen die vorgeburtliche Untersuchung an Föten und schwangeren Frauen. Es gibt die nicht körperlich eingreifende (nichtinvasive) Untersuchung wie Ultraschall oder den Bluttest Praenatest, und die invasive, bei der eine Gewebeprobe aus der Plazenta, Fruchtwasser oder Blut des Fötus entnommen wird und bei der das Risiko einer Fehlgeburt besteht. Die Genauigkeit bei NIPD ist umstritten. Präimplantationsdiagnostik (PID) bezeichnet die Untersuchung einer durch künstliche Befruchtung entstandene Zellvereinigung vor der Einpflanzung in die Gebärmutter. Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist das oberste Beschlussgremium der Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland. Er bestimmt für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) für mehr als 70 Millionen Versicherte, welche Leistungen der medizinischen Versorgung von der Krankenkasse bezahlt werden.

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Frauenbefreiung | pränataldiagnostik

In dem neuen Kinofilm »24 Wochen« von Anne Zohra Berrached sind diese Auseinandersetzung und die Qual der Betroffenen sehr eindrücklich eingefangen. Kirsten Achtelik will das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nicht antasten, stellt aber die Selbstbestimmung unter Vorbehalt, wenn es um das Informationsrecht von Frauen über ihr ungeborenes Kind geht. Sie fordert, dass vorgeburtliche Tests ausschließlich privat bezahlt werden. Das sich als links verstehende Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik schlägt sogar vor, eine Ultraschalluntersuchung erst um die 30. Woche

Frauen haben ein Recht auf alle verfügbaren Informationen

HINTERGRUND Schwangerschaftsabbruch Der Strafrechtsparagraf 218 zum Verbot des Schwangerschaftsabbruchs wurde im Jahr 1871 erlassen. Seitdem haben radikale Frauenorganisationen, Sexualreformer, Sozialistinnen und Sozialisten den Kampf dagegen mit der Forderung nach ersatzloser Streichung geführt. Lautete die Parole der Kommunistischen Partei in der Weimarer Republik »Dein Bauch gehört dir«, hieß es mit Entstehen der linken 1968er Bewegungen »Mein Bauch gehört mir«. Das Ziel der Abschaffung des § 218 wurde nicht erreicht. Heute beinhaltet er eine »straffreie« Fristenlösung innerhalb der ersten 12 Wochen einer Schwangerschaft. Voraussetzung ist eine Zwangsberatung mit anschließender Bedenkfrist von drei Tagen. Der Abbruch kostet etwa 400 Euro und ist keine Kassenleistung. Bei »sozialer Bedürftigkeit« (einem verfügbaren persönlichen Einkommen der Frau bis zu 1.121 Euro im Monat) übernehmen die Länder die Kosten. Straflos bleibt ein Abbruch auch, wenn es eine »medizinische Indikation« gibt, die Frau also körperlich oder seelisch schwer gefährdet ist. Und bei einer »kriminologischen Indikation«, also Vergewaltigung. Spätabbruch Nach der 12. Schwangerschaftswoche gilt ein Schwangerschaftsabbruch als »nicht rechtswidrig«, wenn es triftige medizinische Gründe gibt, wenn also die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren gefährdet ist. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse.

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durchzuführen, das wäre im achten Schwangerschaftsmonat, in dem ein Abbruch kaum noch infrage kommt – und das ist wohl auch so gemeint. Die Autorin Achtelik schreibt dazu, die Geburt könne »bei sehr schwerer Behinderung mit geringer Lebenserwartung« dann so gestaltet werden, »dass alle wichtigen Personen das Baby noch kennenlernen können«. Was das heißt, musste im Jahr 2014 eine unter dem Namen »Agnieszka« bekannt gewordene polnische Frau erleben: In der 22. Schwangerschaftswoche erfuhr sie, dass ihr Fötus schwer geschädigt war und keine Überlebenschance hatte. Die Ärzteschaft verweigerte ihr den Abbruch aus »Gewissensgründen«, obwohl sie sogar nach den restriktiven polnischen Gesetzen einen Anspruch darauf hatte. Sie musste die Schwangerschaft bis zum bitteren Ende austragen und sich einem Kaiserschnitt unterziehen. Das Kind starb unmittelbar nach der Geburt. Dieser Fall wurde zu Recht von Pro-Choice-Organisationen und in der Presse als Beispiel einer inhumanen Politik in Polen skandalisiert. Zur Lösung eines solchen Dilemmas meint Achtelik in der Schweizer »Wochenzeitung« vom 15. September: »Da, wo ich ansetze, würde die Frau ja gar nicht wissen, ob ihr Kind behindert ist oder nicht.« Damit tritt sie faktisch für eine Bevormundung

der Frau ein. Sie bildet, ob sie es will oder nicht, mit ihrer Position eine Brücke nach rechts, zu den christlichen Abtreibungsgegnern. Sie torpediert aber auch ihr eigenes Argument, dass bei einer Untersuchung in der 30. Schwangerschaftswoche mit schwierigem Befund zumindest nachgeburtlich nötige Operationen vorbereitet werden könnten. In der »Konkret« vom Juni 2016 wendet sich Achtelik auch gegen einen präventiven Abbruch, wenn bei Frauen eine Infektion mit dem von der Tigermücke übertragenen Zikavirus festgestellt wird. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation wiesen in Brasilien fast 30 Prozent der von infizierten Frauen geborenen Kinder Auffälligkeiten wie ein deutlich verkleinertes Gehirn und damit starke geistige Behinderung auf. Achtelik reduziert die Entscheidung für den Abbruch auf eine Entscheidung gegen ein »nicht den Normen entsprechendes Kind«, auf »Angst vor Behinderung« und auf »Stärkung eines behindertenfeindlichen Diskurses«. Das Leid, das Frauen und ihre Partner erfahren, wenn sie ein Kind auf den Armen halten, das sie kaum unterstützen können und das womöglich nie in das soziale Leben integriert sein kann, sieht sie nicht. Tatsächlich kommt die »Stärkung eines behindertenfeindlichen Diskurses« von ganz anderer Seite. In Deutschland sind laut Statistischem Bundesamt 7,5 Millionen Menschen als Schwerbehinderte anerkannt. In 85 Prozent der Fälle wurde die Behinderung durch eine Krankheit verursacht. Entsprechend kommen deswegen Behinderungen bei Personen im fortgeschrittenen Alter häufiger vor als bei jüngeren Menschen. Mit dem jetzt vorgelegten Gesetz aus dem Hause der SPD-Ministerin Nahles, das perfiderweise »Teilhabegesetz« genannt wird, werden viele von ihnen gegen ihren Willen in Wohngemeinschaften und Heime gezwungen werden. Behindertenverbände laufen zu Recht dagegen Sturm. Um die zahlenmäßige Dimension von Schwangerschaftsabbrüchen wegen einer Trisomiediagnose zu verdeutlichen: Laut Statistischem Bundesamt werden von etwa 100.000 Schwangerschaftsabbrüchen im Jahr rund 3500 bis 4000 Abbrüche nach einer medizinischen Indikation (Gefahr für die Frau) vorgenommen. Rund 600 finden nach der 22. Schwangerschaftswoche statt. Abbrüche wegen Diagnose auf Downsyndrom liegen bei etwa 200 bis 300 im Jahr, also etwa 0,3 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche. Das sind sehr geringe Zahlen und trotzdem reichen sie für fanatische Feldzüge. Ein zweiter Argumentationsstrang der linken Kritikerinnen und Kritiker lautet, dass mit den neuen »Reproduktionstechniken« eine Fremdbestimmung »medizinisch-technischer Herkunft« stattfindet. Der Zugriff auf die Frauen nehme zu, die Selbstbe-


stimmung sei eine Illusion. Sicher lässt sich die Frage stellen, wie weit Selbstbestimmung in einer kapitalistischen Gesellschaft gehen kann, die uns ihren ökonomischen Rahmen, ihre Institutionen, ihre Moral aufzwingt. Karl Marx sprach von Entfremdung, weil der Mehrheit der Menschen die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse verwehrt ist, sie nicht Eigentümer der Produktionsmittel sind, mit denen sie arbeiten, und eine Minderheit sich das Produkt ihrer Arbeit aneignet, um Kapital anzuhäufen und nicht, um gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen. Der Kapitalismus zwingt alles in eine Verwertungslogik, und das nicht erst seit dem Neoliberalismus. Die herrschende Klasse produziert dazu Ideologien der Wertigkeit von Menschen zur Spaltung und Entsolidarisierung. Frauenunterdrückung betrifft die Hälfte der Gesellschaft mehr oder weniger stark. Behinderte werden diskriminiert und ihnen wird ein eigenständiges Leben schwer gemacht. Herrschende Ideologien setzen sich auch im Bewusstsein der Beherrschten fest, sonst wären sie nicht »herrschend«. Sie spiegeln sich in den Vorurteilen und im Handeln der Beherrschten wider. Sie werden aber immer auch angefochten, sonst gäbe es keinen alltäglichen individuellen Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung, keine Streiks, keine sozialen Bewegungen bis hin zu Betriebsbesetzungen, Barrikadenkämpfen und Revolutionen. Zu dem alltäglichen Widerstand gehört auch jener der Frauen, sich gegen den Zugriff auf ihren Körper zu wehren. Der Kampf gegen den Paragrafen 218 ist einer gegen den bürgerlichen Staat, der sich anmaßt, in das Leben der Frauen und ihre körperliche Integrität einzugreifen. Es geht um das Recht auf die Entscheidung, niemals ein Kind zu haben, zu diesem Zeitpunkt nicht oder weil es voraussichtlich schwer behindert sein wird oder aus anderen Gründen. Und in jedem einzelnen Fall ließe sich sagen, das sei »selektiv«. Kirsten Achtelik billigt in der »taz« vom 29. September 2016 den rabiaten Abtreibungsgegnern zu, nicht nur frauenfeindlich zu sein, da sie auch bessere Unterstützung von Frauen und Familien, die ein behindertes Kind großziehen, forderten und pränatale Diagnostik einschränken wollten. Das ist ein großer Irrtum. Die grundsätzliche Verweigerung des Rechts auf Selbstbestimmung der Frau lässt sich nicht durch finanzielle Unterstützung von Familien mit behinderten Kindern kompensieren. Das dient lediglich dazu, eine Brücke in diesem Fall von rechts nach links und zu Teilen der Behindertenbewegung zu schlagen. An die Pro-Choice-Bewegung appelliert Achtelik, das Thema »selektive Schwangerschaftsabbrüche« nicht den Konservativen zu überlassen. Damit verlangt sie von der Bewegung, das Recht einer Frau auf Schwangerschaftsabbruch unabhängig von

© Wikimedia Commons / Ken Hammond

Frauenbefreiung | pränataldiagnostik

ihren Motiven infrage zu stellen und den bürgerlichen Staat aufzufordern, in ihre Entscheidungsfreiheit einzugreifen. Dieser Spagat funktioniert nicht. Selbstbestimmung ist nicht teilbar. Sie muss erkämpft werden. Frauen haben ein Recht auf alle verfügbaren Informationen bezüglich ihrer Schwangerschaft – und sie müssen die Freiheit haben, dann ihre Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft zu treffen. Dazu gehört auch, dass der Zugang zu diesen Techniken nicht privatisiert ist, also wie der Schwangerschaftsabbruch zur Klassenfrage wird: Frauen in prekärer Lage wären im Gegensatz zu wohlhabenderen ausgeschlossen von einer Untersuchung. Ebenso haben Frauen auch ein Recht auf »Nichtwissen«, also auf die Entscheidung gegen einen Test. Aber die Entscheidung kann nur aufgrund unbeschränkten Zugangs zu Information gefällt werden. Gleichzeitig ist es notwendig, für eine Welt zu kämpfen, in der Entfremdung und Unterdrückung aufgehoben sind, Frauen nicht aus Not eine Schwangerschaft abbrechen und Behinderte über ihr Leben frei bestimmen können. ■

Das Bild zeigt eine hochschwangere Frau in einer Geburtsklinik. Frauen müssen die Freiheit haben ihre Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft selber zu treffen

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PRO & CONTRA | Wie HÄlSt DU es Mit R2g?

Von THOMAS NORD

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Sollte DIE LINKE #R2G anstreben?

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ie Debatte über eine Koalition aus SPD, der LINKEN und Bündnis 90/Die Grünen lässt viele Antworten zu. Zunächst kann man sie einfach ausschließen. Das fällt leicht. Oft genug war Enttäuschung auch über DIE LINKE die Folge, wenn diese Parteien in Regierungen waren. Schwieriger ist es, Verratsvorwürfen nicht gleich nachzugeben und Möglich- oder Notwendigkeiten, Chancen und Risiken des Zusammenarbeitens nüchtern abzuwägen. Ein handfester Grund für diese Abwägung ist das eigene Mobilisierungspotenzial, welches sich die Regierungsbeteiligung »ihrer« Partei wünscht. Es umfasst aktuell neunzig Prozent der Wählerinnen und Wähler der LINKEN. Die »heilspolitische« Überhöhung eines rot-rot-grünen Gesellschaftsprojekts fällt aus. Das Selbstverständnis der Parteien liegt in der jeweiligen Binnenbetrachtung weit auseinander. Deshalb ist der Widerstand gegen eine solche Zusammenarbeit in ihnen höher als bei Wählerinnen und Wählern. Bei diesen dominiert eine Sichtweise, die verschiedene, auf dem Papier oft nahe beieinander liegende politische Profile miteinander in Bezug bringt. Schon im Interesse der Mobilisierung bei Wahlen sollte sich DIE LINKE diese Option offen halten und sie wie jede andere auf ihren realen Gebrauchswert prüfen. Die existenziellen Konflikte und bestehenden Kräfteverhältnisse bilden den Maßstab für Entscheidungen. Sie sind so aus der aktuellen Situation heraus erklärbar und nicht mit dem Blick in den Rückspiegel. Für eine positive Antwort sind drei Voraussetzungen notwendig: Das Ergebnis der Wahl muss die Möglichkeit einer Mehrheit eröffnen. Die Parteien dürfen sich wechselseitige Verletzungen der Vergangenheit nicht als Blockadegrund vorhalten und angesichts der aktuellen Politik von SPD und Teilen der Grünen bedarf es einer Erwä-

gung, ob theoretische Möglichkeiten jetzt die notwendige Antwort geben. Als Resultat neoliberaler Politik erstarken reaktionäre Kräfte. Die Rechten sind auf dem Vormarsch. Politische und zivilisatorische Errungenschaften werden durch ihren wachsenden Erfolg infrage gestellt. Die aus einem dramatischen Sozialabbau resultierenden Ängste werden genutzt, um mit menschenfeindlichen, rassistischen und religiösen Feindbildern mehrheitsfähig zu werden. Mit Erfolg, wie man in Ungarn, Polen und in Österreich sehen kann. Frankreich könnte folgen. Diese Entwicklung gibt es auch in Deutschland. Hier wird 2017 mitentschieden, ob sich dieser verheerende politische Trend in Europa fortsetzt oder ob er gestoppt werden kann. Die stalinistisch dominierte Linke hat Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts angesichts der aufstrebenden rechten Kräfte falsch entschieden. Die Folgen sind bekannt. Allein wird DIE LINKE das nicht schaffen. Die Offensive der reaktionären Rechten reicht bis tief in die bürgerlichen Parteien. Bündnispartner für eine Gegenbewegung stehen bei uns nicht Schlange. In einer solchen Lage muss auch in anderen Parteien für einen Seitenwechsel in den sozialen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen geworben werden. Geprüft werden muss, ob aus Überschneidungen auf dem Papier der Einstieg in reale Verbesserungen entstehen kann. Unabhängig von dieser Frage wird jede Partei mit eigenem Profil und eigenen Themen in den Wahlkampf ziehen. Klar ist: Eine erneute Koalition von Union und SPD würde den Rechtstrend stärken. Österreichische Verhältnisse würden auch hier denkbar. Es ist ein Jahr vor der Wahl politisch geboten, mit allen in SPD, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen zu sprechen, die sich ein Zusammengehen vorstellen können. Ob es reicht, wird man sehen. ■

Ihre Wähler wollen, dass DIE LINKE regiert

Thomas Nord ist Mitglied des deutschen Bundestags und Bundesschatzmeister der LINKEN.

DEBATTE

WAS MEINST DU? 52 |

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PRO & CONTRA | Wie HÄlSt DU es Mit R2g?

CONTRA

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IE LINKE muss sich vor einem möglichen Eintritt in eine Regierung überlegen, ob sie tatsächliche Fortschritte erreichen kann oder ob sie sich aufgrund der politischen und finanziellen Rahmenbedingungen zur Mitverwalterin des Mangels macht und Verschlechterungen aufgrund von vermeintlichen Sachzwängen durchsetzt. Wenn linke Regierungen die Menschen enttäuschen, können davon rechte Parteien wie die AfD profitieren und die Rolle der Opposition ausfüllen. »Es ist nicht anzunehmen, dass die Partei DIE LINKE unter den gegebenen Bedingungen in einer Bundesregierung viel mehr erreichen würde als aus der Opposition«, meint der Philosoph Michael Brie hierzu. »Sie würde bei einer Beteiligung an einer Mitte-linksRegierung also die schon jetzt vorhandene politischparlamentarische Repräsentationslücke für einen Richtungswechsel komplett machen, damit die Rechten weiter stärken und zugleich ihren eigenständigen politischen Gebrauchswert verlieren.« Gerade in Zeiten von Schuldenbremse und angespannter Haushaltslage ist es wichtig, dass DIE LINKE verdeutlicht, was sie nicht mitzutragen bereit ist, und klare Haltelinien benennt. In der Debatte um eine Regierungsbeteiligung sind daher zwei Botschaften wichtig. Zum einen: DIE LINKE ist keine Mehrheitsbeschafferin für eine falsche Politik. Sie wird keinem Sozialabbau, keinem Stellenabbau im öffentlichen Dienst, keinen Privatisierungen und keinen Auslandseinsätzen der Bundeswehr zustimmen. Diese Haltelinien dürfen nicht verhandelbar sein. Ebenso wichtig ist die zweite Botschaft: Wenn mit parlamentarischen Mehrheiten die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen verbessert werden können, dann wird DIE LINKE diesen Verbesserungen zustimmen. Sie wird keine solche Reform aus Parteikalkül nur deshalb ablehnen, weil wir gern einen größeren Schritt machen würden.

Für grundlegende Veränderungen ist es allerdings wichtiger, ob es Bewegungen und Kämpfe und ob es gewerkschaftlichen sowie betrieblichen Protest gibt. Entscheidend ist weniger, wer regiert, sondern vielmehr, wer opponiert, und ob es gelingt, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verändern und Zugeständnisse von Regierungen zu erkämpfen. Gerade als LINKE müssen wir immer wieder grundsätzlich deutlich machen, dass die Macht in der Gesellschaft nicht in erster Linie in den Parlamenten und Regierungen liegt. Wir haben es mit einer ungeheuren Machtkonzentration großer Konzerne zu tun, die nicht bereit sind einfach zuzugucken, wenn Politik gegen sie gemacht wird. Vielmehr versuchen sie, Regierungen zu einer kapitalfreundlichen Politik zu bewegen oder notfalls sogar zu erpressen. Zudem ist der Staat selbst keine neutrale Institution. Der Staatsapparat ist Ausdruck der kapitalistischen Klassengesellschaft und der Eigentumsverhältnisse. Dieses Demokratiedefizit kann auch eine Regierung unter Beteiligung der LINKEN nicht grundsätzlich lösen. Deshalb muss sich DIE LINKE auch selbst der Grenzen der Möglichkeiten des Parlamentarismus bewusst sein und die gegenwärtigen Besitz- und Eigentumsverhältnisse infrage stellen. Es geht darum, um die Macht in den Betrieben zu kämpfen, und nicht nur um Mehrheiten in Parlamenten. Um zu der Gefahr von rechts zurückzukommen: Wollen wir der AfD wirksam begegnen, dann müssen wir gesellschaftliche Mobilisierungen gegen rechts unterstützen und rassistischen Argumentationen etwas entgegensetzen. Natürlich muss DIE LINKE dabei auch – etwa im Rahmen der Kampagne »Aufstehen gegen Rassismus« – mit SPD und Grünen zusammenarbeiten. Das ist aber etwas ganz anderes, als auf einen Wahlkampf zu setzen, der die Illusion einer möglichen linken Regierungsbeteiligung im Bund schürt. ■

Entscheidend ist nicht, wer regiert, sondern, wer opponiert

Mit diesen beiden Beiträgen ist die Debatte eröffnet und die Diskussion geht weiter. Auf marx21.de findest du jeweils eine weitere Antwort der beiden Autorinnen. Was denkst du? Beteilige dich online an der Debatte oder sende deinen Beitrag

Von JANINE WISSLER

Im kommenden Jahr ist Bundestagswahl. In der Linkspartei wird über Wahlstrategie, Wahlprogramm und das Verhältnis zu SPD und Grünen diskutiert. Janine Wissler und Thomas Nord sind unterschiedlicher Meinung, was eine rot-rot-grüne Koalition – kurz: #R2G – angeht

Janine Wissler ist Fraktionsvorsitzende der LINKEN im hessischen Landtag.

per E-Mail an redaktion@marx21.de. Oder schreibe uns per Post: marx21 – Magazin, Postfach 44 03 46 12003 Berlin. Wir freuen uns auf zahlreiche Zuschriften! marx21 04/2016

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BUCHBESPRECHUNG | Weltgeschichte

Wie entstand die heutige Weltordnung? Ein neues Buch liefert eine beeindruckende und zugängliche Darstellung der Geschichte der Welt: Von den urkommunistischen Gesellschaften und der neolithischen Revolution bis heute. Wir haben den ersten Band für euch gelesen

Von Sebastian Zehetmair

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Ein neuer BLick auf Geschichte


BUCHBESPRECHUNG | Weltgeschichte

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ie sind die ersten Staaten entstanden? Warum sind einst mächtige Reiche untergegangen? Und wie entwickelte sich der Kapitalismus? In dem Buch von Chris Harman werden diese – und darüber hinaus viele andere – Fragen behandelt. Die englische Originalausgabe dieses Werks erschien bereits 1999 und wurde von der britischen Tageszeitung »The Independent« in die Liste der »Zehn besten Geschichtsbücher« aufgenommen. Die deutsche Übersetzung wurde in drei Bänden veröffentlicht, die zusammen über zehntausend Jahre Menschheitsgeschichte behandeln. Der hier zu besprechende erste Band beginnt mit der Entstehung der ersten Zivilisationen und endet mit den Anfängen der neu entstehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung im 17. Jahrhundert.

gesamte Gesellschaft einen Fortschritt, obwohl die neu entstehenden herrschenden Klassen von der Arbeit der übrigen Menschen lebten: Erst das machte die Entstehung von Wissenschaft und Kunst möglich. Mit der Spaltung der menschlichen Gesellschaften in Klassen entstand der Klassenkampf. Harman schildert, wie lange vor der Entstehung des Kapitalismus in China, Mesopotamien und Indien der Kampf zwischen den Bauern und ihren Ausbeutern tobte, und verweist dabei auch auf den ersten dokumentierten Streik der Menschheitsgeschichte, der vor knapp 3200 Jahren von den Bauhandwerkern an den ägyptischen Pyramiden geführt wurde. Die Klassenspaltung machte die Herausbildung hierarchisch organisierter Apparate notwendig, mit denen die ausbeutenden Klassen ihre Interessen gegenüber der restlichen Gesellschaft verteidigten. Die Absicherung der Klassenherrschaft erfolgte teils durch direkte Gewalt, teils durch die ideologische Legitimation der bestehenden Verhältnisse mithilfe bestimmter Formen der organisierten Religion, der Philosophie und des Rechts. Damit entstanden die ersten Staaten. Harman schreibt: »Gab es erst einmal solche Staatsstrukturen und Ideologien, trugen sie zur Aufrechterhaltung der Verfügungsgewalt einer bestimmten Gruppe über das Mehrprodukt bei, selbst wenn diese längst nicht mehr ihren Zweck erfüllte, die Produktion weiterzuentwickeln.« Der Klassenkampf ist bei Harman immer auch ein Kampf zwischen verschiedenen Ideen. Verschiedene Klassen entwickelten unterschiedliche Vorstellungen von der Welt, die in Gegensatz zueinander gerieten. Auch die Religion war ein Schlachtfeld, auf dem der Klassenkampf ausgetragen wurde, wie Harman anhand von etlichen Beispielen aus der Geschichte der Weltreligionen zeigt.

Sebastian Zehetmair ist Mitglied der Historischen Kommission der LINKEN.

Die Geschichte der Menschheit ist ein globaler Prozess

Bei Harman bilden die gesellschaftlich organisierte Arbeit und ihre geschichtliche Entwicklung den roten Faden der Weltgeschichte. Indem Menschen neue Methoden der Produktion entwickeln, verändern sie auch ihre sozialen Beziehungen untereinander. Im Verlauf dieses Prozesses entwickeln sich verschiedene Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, mit denen jeweils verschiedenartige politische Organisationsformen, Staaten, Ideologien und Religionen korrespondieren. Harmans Darstellung beginnt mit den nomadischen Urgesellschaften, die auf einer egalitären und staatenlosen Form des Urkommunismus beruhten. Er zeigt – in Anlehnung an Friedrich Engels und etliche neuere frühhistorische und anthropologische Studien –, dass die Entstehung von Privateigentum, Klassen und Staaten (ebenso wie die Unterdrückung der Frau) eine Folge der Entwicklung neuer Produktionsmethoden war, die neue Quellen des Reichtums erschlossen und komplexere Formen der Arbeitsteilung mit sich brachte Die ersten Klassengesellschaften entstanden im Gebiet des »Fruchtbaren Halbmonds« zwischen der Südtürkei, Mesopotamien und Persien sowie im Industal (im heutigen Pakistan) und China, als die Entwicklung des Ackerbaus den menschlichen Gesellschaften ermöglichte, einen stabilen Überschuss zu produzieren: »Die neuen Methoden erforderten, dass einige Leute freigestellt wurden von der unmittelbaren Last der Feldarbeit, um die Tätigkeit der Gruppe abzustimmen und dafür zu sorgen, dass ein Teil des Überschusses nicht sofort verbraucht, sondern in einem Lagerhaus für die Zukunft gespeichert wurde.« Diese Klassenspaltung bedeutete zunächst für die

Die Weltgeschichte bildete bereits im frühen Altertum eine Einheit, in der zwischen den verschiedenen Zivilisationen ein permanenter Austausch von Gütern, Produktionstechniken und wissenschaftlichen, philosophischen oder religiösen Ideen stattfand, die sich mit ihrer Verbreitung entwickelten und veränderten. Zu diesem Prozess gehörte seit jeher auch schon die Migration größerer Menschengruppen. Deshalb ist die Idee von abgeschlossenen historischen »Kulturkreisen«, die neuerdings in der politischen Debatte wieder populär wird, abwegig. Harman stellt die Geschichte der Menschheit als einen zusammenhängenden globalen Prozess dar, der

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allerdings oft ungleichzeitig vonstattenging und in verschiedenen Teilen der Welt einen unterschiedlichen Verlauf nahm. Die einzelnen Zivilisationen durchliefen im Laufe ihrer Geschichte verschiedene Entwicklungsphasen, in denen jeweils unterschiedliche Produktionsweisen und damit auch unterschiedliche Formen der Klassenauseinandersetzungen vorherrschten. Anhänger wie Gegner der marxistischen Methode haben das Konzept der »Produktionsweise« gelegent-

Es gab keine zivilisatorische Überlegenheit Euorpas lich als ein universales Schema missverstanden, nach dem jede Gesellschaft notwendigerweise dieselbe feste Abfolge von Entwicklungsstufen durchlaufen müsse. Die Folge dieser »Stufentheorie« war ein vermeintlich universales Modell der geschichtlichen Entwicklung, das die europäische Entwicklung zur Norm erklärte und den regional ungleichen Verlauf der Menschheitsgeschichte nicht zu erklären vermochte. Tatsächlich war, wie Harman mit vielen Beispielen belegt, Europa im Vergleich mit China, Kleinasien und Nordafrika über mehrere Jahrtausende hinweg eine ökonomisch stark rückständige Region. Harman zeigt die Vielfalt unterschiedlicher Produktionsweisen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte entstanden und untergingen. Unterschiedliche geografische Bedingungen führten zu verschiedenartigen Formen der (lange Zeit vorrangig landwirtschaftlichen) Produktion, die jeweils eigentümliche Klassenstrukturen und verschiedenartige Formen des politischen und ideologischen Überbaus hervorbrachten. Erst der moderne Kapitalismus hat die globale Ökonomie in ein zusammenhängendes System verwandelt, dessen verschiedenen Teile einer einheitlichen ökonomischen Entwicklungslogik unterliegen. Gemeinsam war all diesen verschiedenen vorkapitalistischen Produktionsweisen, dass sie im ökonomischen Sinne wesentlich weniger dynamisch waren als die heutige kapitalistische Produktionsweise. Es gab, wie Harman feststellt, zwar auch in den vorkapitalistischen Gesellschaften eine langfristig wirksame Tendenz zur Verbesserung der Produktionsmethoden, die die Strukturen des politischen Überbaus veränderte. Aber die herrschenden Klassen hatten in der Regel kein Interesse an der Förderung derartiger Entwicklungen. Harman verweist auf etliche Fälle, in denen die Entwicklung der Produktivkräfte in bestimmten Zivilisationen gehemmt oder sogar vollständig blockiert wurden, weil dies den Interessen

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der besitzenden Klassen an stabilen Ausbeutungsverhältnissen widersprach. Dies war beispielsweise im mittelalterlichen byzantinischen Reich der Fall. Erst mit der Entstehung des modernen Bürgertums entstand eine Klasse, die die permanente Revolutionierung der Produktionstechniken bewusst vorantrieb, die sich zur Legitimation ihrer Herrschaft deshalb nicht mehr auf die Tradition, sondern auf den Fortschritt berief. Harman zerstört in seinem Buch systematisch den Mythos von einer langfristigen zivilisatorischen »Überlegenheit« Europas. Bis in die frühe Neuzeit gab es außerhalb Europas eine Reihe von Reichen, deren Herrscher deutlich wohlhabender als die nord- und mitteleuropäischen Feudalherren waren und die auch in technologisch-wissenschaftlicher Hinsicht wesentlich fortschrittlicher waren als die vergleichsweise rückständigen feudalen Gebilde in Nordwesteuropa. Die letzten Kapitel des Buches behandeln die frühe Neuzeit (14. bis 17. Jahrhundert) und die Entstehung der ersten Formen des Kapitalismus, die es einer Handvoll europäischer Staaten ermöglichte, zu einer dominierenden Stellung im Weltsystem zu kommen. Harman wirft hier eine Frage auf, die unter marxistischen Historikern seit geraumer Zeit diskutiert wird: Warum entstand diese neue Produktionsweise ausgerechnet in einer Region, die über lange Zeit wirtschaftlich relativ rückständig gewesen war? Für Harman liegt der Schlüssel zur Antwort in den Besonderheiten des europäischen Feudalismus. Im chinesischen Reich wurde die Produktion und Ausbeutung vor allem durch einen zentralisierten und bürokratischen staatlichen Apparat organisiert, während das europäische Feudalsystem wesentlich stärker dezentralisiert war. Gerade weil die europäischen Feudalherren deutlich ärmer waren als die Herrscher des chinesischen und des Mogulreiches, entwickelten sie ein größeres Interesse an der Entwicklung der Landwirtschaft und des Handels – zumal die zahlreichen kleinen Fürstentümer in Europa über Jahrhunderte hinweg kostspielige Kriege untereinander führten, die den Geldbedarf der Herrscher erheblich steigerte. Bereits während des Mittelalters wurden in Nordeuropa etliche neue Produktionstechniken in der Landwirtschaft eingeführt und große Landstriche urbar gemacht. Die landwirtschaftliche Produktion stieg im Laufe einiger Jahrhunderte deutlich. Anders als in China, Indien oder Byzanz existierte in Nordeuropa kein hochorganisierter Staatsapparat mit Tausenden von Beamten. Dieser Umstand wurde nun zum Vorteil. Denn der Unterhalt dieser Staatsbürokratie verbrauchte in den asiatischen Reichen einen wesentlich größeren Anteil der gesellschaftlichen Ressourcen als in den feudalen Kleinstaaten Nord- und Mitteleuropas und erwies sich schließlich


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BUCHBESPRECHUNG | Weltgeschichte

Chinesische Bauern wässern Reissetzlinge in künstlichen Kanälen. Das Erbauen und Verwalten der Bewässerungssystem erforderte das Herausbilden von Bürokratie als Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung. Die höheren landwirtschaftlichen Überschüsse begünstigten ab dem 14. Jahrhundert in einigen Regionen Europas (vor allem in England, den Niederlanden und in Nordfrankreich) die Entwicklung des Handels und ein deutlich beschleunigtes Wachstum der Städte. Damit entstanden neue Marktbeziehungen und die ersten Ansätze der kapitalistischen Produktionsweise im 15. und 16. Jahrhundert. Aus den städtischen Kaufleuten und Handwerkern bildete sich eine neue Klasse der Bürger. Diese war in Europa schon in der frühen Neuzeit materiell relativ unabhängig von den alten herrschenden Klassen und begann, neuartige Ideen über die gesellschaftliche Ordnung zu entwickeln. Ansätze zur Entstehung eines städtischen Bürgertums gab es zwar auch in China – und dort bereits etliche Jahrhunderte früher als in Europa. Aber dort blieben, wie Harman argumentiert, Kaufleute und Handwerker wesentlich stärker abhängig von den alten besitzenden Klassen und ihrem Staatsapparat: »Warum die Kaufleute und reicheren Handwerker sich in China nicht zu einer ausgewachsenen kapitalistischen Klasse formierten, hatte materielle Gründe, nicht ideologische. Sie waren abhängiger von den Beamten des Staatsapparates als es in Europa im 17. und 18.Jahrhundert der Fall war. Denn die

Staatsbürokratie war unentbehrlich für die Verwaltung eines besonders wichtigen Produktionsmittels: des riesigen Kanalnetzes und der Bewässerungsanlagen.« Der Vergleich zwischen der europäischen und der chinesischen Geschichte hilft dabei, die Voraussetzungen für die Entstehung des heutigen Kapitalismus klarer zu fassen. Die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, mit denen sich diese Ordnung dann auch politisch durchsetzte, bilden einen wesentlichen Teil des zweiten Bandes, der noch zu besprechen ist. Chris Harman hat sich bis zu seinem Tod im Jahr 2009 an etlichen wissenschaftlichen Debatten zu den verschiedensten Fragen der Geschichte und der marxistischen Theorie beteiligt. Viele dieser Auseinandersetzungen sind in dieses Buch eingeflossen, auch wenn sie nicht immer explizit dargestellt werden. Die Fußnoten und das Literaturverzeichnis liefern gute Ausgangspunkte um tiefer in diese Debatten einzutauchen. Dieses Buch bietet einen beeindruckenden Überblick über mehrere Jahrtausende von gesellschaftlicher Entwicklung und Klassenkämpfe. Es zeigt, was die marxistische Methode bei der Analyse der Geschichte in den letzten Jahrzehnten geleistet hat. ■

DAS BUCH

Chris Harman Wer baute das siebentorige Theben? Wie Menschen ihre Geschichte machen Laika Verlag Hamburg 2016 1020 Seiten (drei Bände) 77 Euro Die Bände sind auch einzeln erhältlich 20 Euro

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Theorie | Verschwörungstheorien

Mit Marx gegen die Illuminaten Die Welt gerät aus den Fugen, aber warum? Verschwörungstheorien bieten Erklärungen an, verhindern aber eine effektive Kritik an den herrschenden Verhältnissen. Eine marxistische Analyse eines populären Phänomens Von David MAienreis

David Maienreis ist Politikwissenschaftler.

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ie sind eine allgegenwärtige Erscheinung unserer Zeit: Verschwörungstheorien. Mit ihren häufig rassistischen und antisemitischen Beiklängen sind sie vor allem auf der (extremen) Rechten verbreitet. Aber auch in anderen politischen Lagern kursieren Theorien, die – oft zu Recht – auf dem Verdacht beruhen, dass in der Welt nicht alles mit rechten Dingen zugeht und die Öffentlichkeit über die Machenschaften mächtiger Zirkel belogen wird. Doch es gibt zwei wesentliche Probleme an Verschwörungstheorien: Erstens lenken sie von den eigentlichen Problemursachen ab und den Unmut der Menschen auf ganz falsche Ziele. Aktuell können wir das zum Beispiel an den weit verbreiteten

»Theorien« über die muslimische Weltverschwörung beobachten. Die Annahme, dass »der Islam« die Weltherrschaft erringen und in Europa und Amerika Kalifate errichten wolle, weist Ähnlichkeiten mit den Behauptungen über die »jüdische Weltverschwörung« auf, die ab Ende des 19. Jahrhunderts aufkam. Zweitens aber geben Verschwörungstheorien den Menschen, die unter dem Kapitalismus leiden, keine Werkzeuge und keine Strategie an die Hand, wie sie die Welt verändern können. Die einzige angebotene Strategie besteht meist darin, die jeweiligen Strafverfolgungsbehörden auf Missstände aufmerksam zu machen – oder Selbstjustiz an den vermeintlichen Verschwörern zu üben.


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Theorie | Verschwörungstheorien

Viele Verschwörungen sind real

Trotz dieser Schwächen: Zu Beginn ein kurzes Plädoyer für die Verschwörungstheorien. Wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten, stände heute wahrscheinlich die Todesstrafe auf die Behauptung, Marinus van der Lubbe habe gar nicht im Alleingang den Reichstag angezündet. Ohne die hartnäckigen Recherchen einiger Journalisten (und weniger der zuständigen Untersuchungsausschüsse zum NSU) würde sich heute jeder üblen Anschuldigungen aussetzen, der behauptete, der thüringische Verfassungsschutz diene gar nicht in erster Linie dem Schutz der Verfassung und der Bekämpfung politischer Gewalttaten. Bis kurz vor Schluss wollte niemand Bob Woodward und Carl Bernstein Glauben schenken, den beiden

Reportern der »Washington Post«, die den Watergate-Skandal aufdeckten. Hätte der schweizerische Geheimdienst nicht seine Akten geöffnet, wüssten wir heute nicht, dass die Tradition der schwarzen Kassen in der CDU auf Vermögen zurückgeht, das Funktionäre des Dritten Reichs nach dem Krieg nach Liechtenstein und in die Schweiz transportierten, um es dann mit Wissen der US-Militäradministration für den Aufbau pro-kapitalistischer Parteien in den westlichen Besatzungszonen einzusetzen. Und es war kein Geringerer als der damalige Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, der nach der Finanzkrise der asiatischen Tigerstaaten Ende der 1990er Jahre sein Amt mit der Begründung aufgab, er habe Zweifel, ob die Rettungsmaßnahmen der globalen Finanzinstitutionen tatsächlich den betroffenen Staaten haben helfen sollen oder nicht eher Bankhäusern aus den OECD-Staaten. Eine britische Untersuchungskommission und der damalige US-Außenminister, Colin Powell, haben bestätigt, dass der Irakkrieg, den die USA und Großbritannien im Jahr 2003 begannen, tatsächlich nicht dem Weltfrieden, der Demokratie und dem Wohlergehen der irakischen Bevölkerung dienen sollte. Und auch wenn dabei niemand ums Leben gekommen ist: Die Abläufe, die zur Einführung der RiesterRente geführt haben, lassen sich im Grunde genommen ebenso als Verschwörung beschreiben. Gregor Gysi hat argumentiert, dass es sich bei der Werbung der Regierung für dieses Konstrukt im juristischen Sinne um Anlagebetrug handele. Parlament, Versicherungswirtschaft und Medien haben jahrelang mitgezogen. Doch Verschwörungstheorien bauen und bauschen eine aus marxistischer Sicht eher banale Erkenntnis auf: Die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen. Regierungen und Verwaltungen handeln nicht für das Allgemeinwohl. Sie sagen der Öffentlichkeit nicht die Wahrheit. Und wenn es um viel Geld und Macht geht, setzen sie sich über Gesetze und Verfassungen hinweg. Leider beschränken sich die meisten Verschwörungstheorien auf einen winzigen Teilaspekt, oder sie bauen ein (paranoides) Weltbild zusammen, das aus lauter solchen Teilaspekten besteht. Setzt man diese Teilaspekte – das vermeintliche Fehlfunktionieren der einen Behörde oder des anderen Unternehmens – zusammen und verallgemeinert, ergibt sich ein recht ernüchterndes Bild: Bäckereien sind nicht in erster Linie dazu da, die Menschen mit Backwaren zu versorgen. Armeen dienen nicht in erster Linie dem Schutz der Bevölkerung. Das Unternehmensziel der Pharmaunternehmen ist nicht die Herstellung und Verbreitung heilender Medikamente. In der kapitalistischen Wirtschaft spielen die Gebrauchswerte, die produziert werden, eine untergeordnete Rolle. In erster Linie geht es um die

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Theorie | Verschwörungstheorien

Schlüssen. Zum Beispiel wird mitunter behauptet, dass die herrschenden Klassen die Wirtschaftskrisen herbeiführen, um Sozialkürzungen durchsetzen und die arbeitende Klasse disziplinieren zu können. Das Chaos in der Welt ist mit einer marxistischen Herangehensweise dagegen viel besser zu verstehen: Der Kapitalismus ist eine krisenbehaftete Klassengesellschaft. Er gerät auf Grund von Überproduktion und fallenden Profitraten immer wieder in Krisen, und die Herrschenden in Wirtschaft und Staat versuchen, diese Krisen gegeneinander und auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit zu überwinden. Lenin fragt während eines Konflikts, wem welche Aussage, welche Handlung nützt – und das zu fragen ist richtig und hilfreich.

Präsident Richard Nixon trifft sich im März 1970 mit Chefberatern im Oval Office. Während seiner Amtszeit kam es zu »Missbräuchen von Regierungsvollmachten«. So brachen während des Präsidentenwahlkampfs 1972 Beauftragte des Wahlkomittees der Republikaner im Hauptquartier der Demokratischen Partei im Watergate Building in Washington ein und installierten dort Abhörgeräte. Die Täter wurden gefasst. Durch journalistische Nachforschungen stellte sich heraus, dass Vertraute Nixons von der Aktion gewusst hatten und nach ihrer Aufdeckung gemeinsam mit Nixon versucht hatten, ihre Beteiligung zu vertuschen. Nach dem »Watergate-Skandal« musste Nixon zurücktreten

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Verschwörungen gehören zum Alltagsgeschäft im Kapitalismus

Vermehrung des Kapitals. Und der Staat und seine Organe schützen und erhalten diese Wirtschafts-, Eigentums- und Gesellschaftsordnung. In gewissem Sinn gehören Verschwörungen zum Alltagsgeschäft des globalen Kapitalismus: Ständig finden irgendwo mehr oder weniger geheime Treffen statt, bei denen unternehmerische, politische oder militärische Strategien besprochen werden, bei deren Umsetzung das Leid oder auch der Tod von Menschen und ebenso der Bruch von Gesetzen und Verträgen billigend in Kauf genommen werden. Alles, was in unserer gesellschaftlichen Welt passiert, ist interessengeleitet. Aber das passiert in der Anarchie des Marktes und der internationalen Politik: Interessen und Interessengruppen stoßen aufeinander, und meist müssen alle Beteiligten – alle »verfeindeten Brüder«, wie Marx sie nannte – am Schluss akzeptieren, dass sie nicht alle ihre Ziele erreicht haben. Verschwörungstheorien wenden Lenins völlig richtige Frage »Cui bono? Wem nützt es?« falsch an, indem sie sich einen beliebigen Endzustand anschauen und dann schlussfolgern, dass diejenigen, denen er am meisten nutzt, ihn auch herbeigeführt haben. Aber diese Logik führt, wenn man sie konsequent anwendet, in vielen Fällen zu absurden

Erklärungen, die das Chaos und den Klassencharakter unserer Gesellschaftsordnung übersehen, indem sie alles auf Verschwörungen zurückführen, verfehlen das Wesentliche und verhindern so eine effektive Kritik an den herrschenden Verhältnissen: Zum einen bleiben die Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung strukturell von Kritik verschont. Alles wäre vermeintlich gut, wenn nur die Verschwörer aus dem Verkehr gezogen würden. Sie sind die Störfaktoren in einer Welt, die ansonsten reibungslos funktionieren könnte. Die Verschwörer werden zu Personifizierungen der Unordnung in dieser Welt gemacht. Die Vorstellung, dass es in den Hinterzimmern der Macht Strippenzieher gibt – ob man sie sich als Illuminaten, die Weisen von Zion oder Momos Männer mit den Zigarren vorstellt –, die die Geschicke der Welt leiten, scheint für manche beruhigender als die Einsicht, dass niemand das System des globalen Kapitalismus kontrollieren kann. Die meisten Verschwörungstheorien stellen berechtigte Fragen. Manche liefern plausible Antworten. Viele sind ein Sammelsurium weltfremder, oft rassistischer Hirngespinste. Aber alle zusammen sind sie vor allem beschränkt und zur Erklärung der Welt eher ungeeignet. Selbst die schlimmsten Albträume der Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker kommen nicht an den Alltag der globalen Kapitalreproduktion heran, an das alltägliche, völlig legale Elend und die Gewalt und Unterdrückung, in der Milliarden Menschen leben. Selbst wenn allen Verschwörungszirkeln das Handwerk gelegt würde, wäre die Welt keinen Deut besser. Das eigentliche Problem ist nicht, dass einige geheime Verschwörer sich illegal Macht und Reichtum aneignen, sondern dass eine winzige Minderheit ganz legal die Welt als ihr Privateigentum behandelt. Wer Verschwörungen ein Ende setzen will, muss die Welt demokratisieren. In der marxistischen Tradition sagt man dazu: den Sozialismus erkämpfen. ■


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Grit Wolf berichtete vom erfolgreichen Streik der Charité-Beschäftigten

TOP TEN

AUGUST BIS OKTOBER Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de

1. Pflegestreik: Ein heißer Herbst

(1.257)

René Neumann auf unserer Facebook-Seite Der Autor spricht sich de facto für eine Toleranz der Burka aus. Da sollte man schon stärkere Argumente anführen, als »rassistische Hetze«, denn sonst wird es schwierig zu begründen, weshalb der deutlich überwiegende Teil der Muslime weltweit die Burka im Gegensatz zum Hidschab ablehnt. 3 ·8. August um 13:15 Uhr

im Krankenhaus 2. Was sind die Ursachen des isla-

(795)

mistischen Terrorismus? 3. Fakten gegen die islamfeindliche

(626)

Hetze der AfD 4. Indien: 180 Millionen

(580)

Beschäftigte streiken 5. Türkei: Alles über den geschei-

(513)

Harald Matschke auf unserer Facebook-Seite Ist es nicht schlimm, wie viel von den verschrobenen Gedanken des 19. Jahrhunderts noch heute in den Köpfen ist!? So viel technische Weiterentwicklung, insbesondere der für Gewalttätigkeiten »notwendigen« Gerätschaften, aber geistig immer noch auf einer Stufe, wie damals 0 · 18. August um 15:41 Uhr

terten Putsch und seine Folgen 6. Der falsche

(497)

Säkularismus 7. Wie weiter im Kampf gegen

(489)

Rassismus und die AfD? 8. Lohn, Preis, Profit: Marx

(473)

verstehen leicht gemacht 9. Das Phänomen

(454)

Corbyn 10. Die Grenzen

(413)

Lang Werner auf unserer Facebook-Seite Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt, Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeiten gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es. 0 ·15. August um 12:14 Uhr

ONLINE ANGEKLICKT marx21.de bei twitter: ★ plus 14 Follower in den letzten drei Monaten (4084 Follower insgesamt)

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des Kapitalismus Insgesamt gab es im Oktober 10.682 Aufrufe der Seite marx21.de (13.470 im August / 11.582 im September)

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Weihnachten | War jesus ein roter?

War Jesus ein Roter? Alle Jahre wieder: Langsam kehren die Weihnachtskrippen in die Auslagen der Einkaufszentren zurück. Für marx21 ein Anlass, einen Blick auf das Urchristentum zu werfen Von Klaus-Dieter Heiser

KlausDieter Heiser ist in der Partei DIE LINKE in Berlin-Neukölln aktiv. Seit vielen Jahren ist er engagiert in der Friedensbewegung und im Dialog von Marxisten und Christen.

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nfang November las Ármin Langer, der Rabbinerstudent am Abraham-GeigerKolleg in Berlin war, bei der Neuköllner LINKEN aus seinem Buch »Ein Jude in Neukölln. Mein Weg zum Miteinander der Religionen«. Er beschreibt dort eine Szene aus dem Dezember 2015: Bei einer Veranstaltung wurden verdiente Neuköllner mit der Ehrennadel des Bezirks ausgezeichnet. »Ist dieser Weihnachtsbaum nicht wunderschön?« fragte in ihrer Rede die Neuköllner Bürgermeisterin Franziska Giffey. Es war natürlich eine rhetorische Frage, denn lächelnd machte sie den Weihnachtsbaum samt seiner Dekoration zum Aufhänger ihrer Ansprache, über Gemeinsamkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner ihres Bezirks. Sie übersah, dass das Weihnachtsfest samt Weihnachtsbaum Symbol eines christlichen Festes ist, aber die Mehrheitsbevölkerung nicht mehr christlich, sondern eher christo-normativ säkular ist. Weihnachten ist gerade dafür ein Ausdruck, ebenso, dass wir unser Kalenderjahr als »2016 nach Chris-

tus« bezeichnen, statt schlicht von »unserer Zeitrechnung« zu sprechen. Jenseits aller direkt-religiösen Bedeutungen spielt also das Christliche in unserem Leben normativ eine Rolle und wird im Alltag reproduziert. In gewissem Maße gilt das ebenso für den Christus-Mythos, der nun schon über 2000 Jahre wirkt und von den christlichen Kirchen je nach Konjunktur unterschiedlich gepflegt wird. Gegenwärtig wird mit großem Aufwand das 500. Jubiläum der Reformation vorbereitet, das mit dem Wittenberger Prediger Martin Luther verbunden ist und eine Scheidelinie zwischen Mittelalter und Neuzeit in Europa markiert. Auch das ist ein Grund, einen Blick auf Ursprünge und Entwicklung des Christentums zu werfen.

Der Reiche kommt in die Hölle

Über die Person des Jesus von Nazareth ist von zeitgenössischen Geschichtsschreibern wenig übermittelt worden. Für viele Historiker ist Jesus ein Mythos. Christliche Schriftsteller, vor allem die Verfasser der Evangelien, haben die ihnen zugänglichen mündlichen Überlieferungen erst Jahrzehnte nach seinem


Weihnachten | War jesus ein roter?

Tod aufgeschrieben. Unsicherheiten gibt es zudem in der Quellenlage für die Anfänge der Jesusbewegung. Trotzdem hat der Ursprung des Christentums und die Spiritualität der vermittelten Gleichnisse und Lehren die menschliche Gesellschaft immer wieder zu neuer Beschäftigung herausgefordert – und das seit mehr als 2000 Jahren. Palästina war im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine römische Kolonie, in der herodianische Vasallenkönige von Gnaden Roms mit brutalen Herrschaftsmethoden regierten, zum Beispiel mit Massenkreuzigungen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, für sich selbst und für Rom vom jüdischen Volk hohe Abgaben abzupressen. Eine Grundlage war der Zensus, die Registrierung von Personen und Besitzstand, der im Jahr 6 stattfand. Hierauf basierte die Besteuerung, die von der Bevölkerung als ungerecht empfunden wurde. Der Evangelienautor Markus berichtet von einer Schlüsselszene, in der Jesus von etablierten Juden und Anhängern des König Herodes gefragt wurde, ob es recht sei, dem Kaiser Steuern zu entrichten, oder nicht. Als »Wort Jesu« wird der Konflikt so aufgelöst: »Reicht mir einen Denar, damit ich ihn ansehe.« Er fragte: »Wessen Bild und Aufschrift ist das hier?« Sie antworteten: »Des Kaisers.« Da sagte Jesus zu ihnen: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« (Markus 12,13-17).

Galiläa offenbar nicht mehr. Wenn von Landwirtschaft die Rede ist, dann von Großgrundbesitzern, Sklaven, Tagelöhnern, Arbeitern und Pächtern. In diesem Zusammenhang sind Frondienst, Pfändungen, Schuldgefängnis, Folterungen, Arbeitslosigkeit, Hunger, sogar der Verkauf ganzer Familien überliefert. In diesem Spannungsfeld entstand die Jesus-Bewegung. Jesus selbst soll ein Sohn eines Zimmermanns gewesen sein, zwar nicht zur Landbevölkerung gehörend, aber aus prekären Verhältnissen stammend. Das gilt auch für seine Anhänger. In den Evangelien finden sich Zeugnisse eines starken Klassenhasses, besonders im Lukasevangelium, das wahrscheinlich zwischen dem 60. und 70. Jahr unserer Zeitrechnung verfasst wurde. In der Erzählung über Lazarus, die in den anderen Evangelien nicht enthalten ist, kommt der Reiche in die Hölle und der Arme in Abrahams Schoß, nicht etwa, weil jener ein Sünder und dieser ein Gerechter war – davon

Dieser Dialog ist der wohl am meisten strapazierte Text für die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat im Sinne der Dienstbarmachung für staatliche Interessen. Im historischen Kontext betrachtet lässt die Jesus-Position auch anders interpretieren: Wir sind ein unterdrücktes Volk, wie der Umlauf römischer Münzen zeigt. Aber es gibt eine Grenze, ab der Widerstand zu leisten ist, wenn nämlich als Unterwerfung unter die Besatzungsmacht die Frage anderer Götter, hier der römischen Götter, ins Spiel kommt. Damit wird die Frage der religiösen Autonomie als Frage der kulturellen Identität aufgeworfen. Hinzu kommt für die Jesusbewegung die soziale Frage. Zu jener Zeit gab es viele Großgüter, die dem König gehörten. Die Evangelien berichten von der Landbevölkerung vor allem im Zusammenhang mit Unterdrückungserfahrungen. Kleine Bauern, die von ihrem eigenen Land leben konnten, gab es in

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Weihnachten | War jesus ein roter?

wird gar nichts berichtet. Auf dem Rostocker Parteitag der LINKEN im Jahr 2010 hielt mit dem nicaraguanischen Dichter Ernesto Cardenal einer der bekanntesten Vertreter der Befreiungstheologie eine weithin beachtete Rede. »Vom Kommunismus kommen wir her. Kommunistisch sind unsere Wurzeln«, rief er aus. »Ich bekenne mich als Kommunist und als Christ, doch eigentlich waren die ersten Christen die ersten Kommunisten. Bei Lukas heißt es, dass es unter ihnen keine Armen gab, und jedem wurde nach seinen Bedürfnissen gegeben (Apostelge-

Weiterlesen John Rose: Jesus – der berühmteste Vermisste, online unter: www.marxists. de/religion/rose/ jesus-d.htm.

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schichte 4, 34-35). Das ist dieselbe Art und Weise, in der viele Jahrhunderte später Marx den Kommunismus definierte.« Ernesto Cardenal erläutert, dass in der Bibel Reichtum als durch Diebstahl, durch Raub angehäuft verstanden wird, deshalb bedeutet »reich« »ungerecht«. »Deswegen verurteilt die Bibel den Reichen allein deshalb, weil er reich ist, ohne dass er unbedingt ein schlechter ›Reicher‹ sein muss. Deswegen ist ›reich‹ auch ganz einfach dasselbe wie ›ungerecht‹.« Es sind diese proletarischen Wurzeln der JesusBewegung, die Marxisten immer wieder angeregt haben, sich im Zusammenhang mit Gesellschaftsanalysen der Antike mit den Ursprüngen des Christentums zu beschäftigen. Karl Marx kam in »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« zu der Einschätzung: »Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. (…) Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.« Friedrich Engels vermittelt in seiner Artikelfolge »Zur Geschichte des Urchristentums«, die 1894/95 in der Neuen Zeit erschien, dass das Urchristentum »merkwürdige Berührungspunkte« mit der modernen Arbeiterbewegung habe. »Wie diese war das Christentum im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: Es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder zersprengten Völker. Beide, Christentum und Arbeitersozialismus, predigen eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft und Elend; das Christentum setzt diese Erlösung in ein jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel, der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft. Beide

© Giotto, wikipedia.commons

Die JesusBewegung hat den Marxismus angeregt

werden sie verfolgt, ihre Anhänger geächtet und unter Ausnahmegesetze gestellt (…).« Von Lenin ist bekannt, dass er sich gründlich mit den Arbeiten des deutschen Sozialdemokraten Josef Dietzgen zum wissenschaftlichen Sozialismus beschäftigt hat, und dabei insbesondere mit dessen Auseinandersetzung mit dem Urchristentum. Karl Kautsky, dessen Buch »Der Ursprung des Christentums«1908 erschienen ist, bestimmte lange Zeit die Debatte in der deutschen Sozialdemokratie. Neben den politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen, aus denen die Jesusbewegung entstanden ist, sind ihre zentralen Ziele interessant. Sie ging von einer Endzeiterwartung aus, das Ende von Armut und Unterdrückung »im kommenden Reich Gottes«. Dafür bereit zu werden, war ihr Credo. Wanderprediger verbreiteten die Botschaft von der Erlösung und bildeten Gemeinden. Um ihre Wirkungsweise zu verstehen, schreibt die Theologin Luise Schottroff, »ist es notwendig zu betrachten, wie diese Wanderprediger mit Konflikten umgingen.« Sie trafen häufig auf Widerstand und Verfolgung. Die Verhaltensweise der Jesusanhänger war dagegen: Feindesliebe und Angstüberwindung. Im Hintergrund steht dabei die lange Tradition der Märtyrer des jüdischen Volkes. Schottroff hierzu: »Der Mut der überwundenen Angst hat ihnen geholfen, auch in Konfliktsituationen ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.« Durch die Verfolgungen ist die Jesus-


Weihnachten | War jesus ein roter?

Eines der berühmtesten Fresken der Frührenaissance vom italienischen Maler Giotto: Judas küsst Jesus im Garten Gethsemane. Es ist der Bibel zufolge das verabredete Zeichen, mit dem er ihn für seine Gegner zur Gefangennahme identifiziert. Über Judas Motiv ist sich die Theologie uneins. Einer Deutung zufolge, habe Judas Jesus durch seinen Verrat zwingen wollen, sich als Messias zu offenbaren, weil er erwartete, dass er Israel in den bewaffneten Befreiungskampf gegen die Römer führen würde

bewegung nicht gescheitert. Die Ursachen liegen wesentlich in der Bewegung selbst, als neben den armen Leuten der römischen Städte auch Reiche und Wohlhabende christlich wurden. »Vom Ende des 1. Jahrhunderts an wurden die Christen als Christen von römischen Kaisern verfolgt. Aber im 4. Jahrhundert waren Christen bereits römische Kaiser, die mit demselben Herrschafts- und Unterdrückungsapparat arbeiteten wie ihre nichtchristlichen Vorgänger.« Christentum als Staatsreligion, das war das Scheitern der Jesus-Bewegung. Jedoch gab es eine Nachwirkung der Jesusbewegung durch die Jahrhunderte in Form staats- und kirchenkritischer Bewegungen neben den Staatskirchen. Erinnert sei beispielsweise an die Kartharer, die Waldenser, die mittelalterliche Frauenbewegung der Beginen, die Hussiten als sozialrevolutionäre Bewegung in Böhmen, Thomas Müntzer und die Bauernkriege, die Herrnhuter Brüdergemeinen, an schwarze Christen in den USA und Südafrika, an die Befreiungstheologie, die insbesondere in Südamerika zu einer Massenbewegung in der Kirche geworden ist. Für den Vordenker der Theologie der Befreiung, Leonardo Boff, steckt das offizielle Christentum mit der Kultur der Unterdrückung unter einer Decke. Von ihm erwartet er nicht viel. Boff greift, zum Beispiel in seiner Schrift »Eine neue Erde in einer neuen Zeit« (erschienen 1994), die Ursprünge des Christentums auf, wenn er von den Christen die Solidarität mit den

Ausgegrenzten und Unterdrückten fordert. Für ihn ist der »entscheidende Punkt«, zur Schaffung einer sozialen Demokratie, einer neuen Wirtschaftsordnung und einer anderen Politik beizutragen: »Wir müssen den Weg freimachen von einer Wirtschaft des unbegrenzten Wachstums hin zu einer Wirtschaft des ausreichenden Maßes für alle.« Nun trommeln Pegida und die AfD für die »Rettung des christlichen Abendlands«. Mit diesem Etikett maskieren die Rechtsextremisten ihren Rassismus, der gegenwärtig vor allem als antimuslimischer Rassismus daherkommt. Mit Christentum und christlichen Werten hat ihr Treiben nichts zu tun. Ihre Funktion ist das Teilen in der kapitalistischen Gesellschaft, um das Herrschen des Kapitals abzusichern. Deshalb ist es ein richtiger Schritt, dem scheinbar religiös verbrämten Rassismus entgegenzutreten und die Vielfalt religiöser und säkularer Motive und Lebensweisen der Menschen anzuerkennen, ebenso wie die unterschiedlichen Feiertage. DIE LINKE kann das, denn sie ist keine religiöse, aber auch keine anti-religiöse Partei. Vielmehr ist sie eine Partei, in der alle Menschen Platz haben, die für soziale Gerechtigkeit und gegen Krieg streiten wollen – unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion. In der LINKEN organisieren sich Atheistinnen und Atheisten und Anhängerinnen und Anhänger unterschiedlicher Religionen gemeinsam. Darin liegt Hoffnung. ■

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Weihnachten | Geschenktipps der Redaktion

Geschenktipps der marx21-Redaktion Die Ruhe vor dem Sturm: 2017 erwarten uns der G20-Gipfel in Hamburg, eine Bundestagswahl und der neue US-Präsident Trump. Da sollten auch eingefleischte Aktivistinnen und Aktivisten über die Feiertage mal abschalten. Wir empfehlen die dazu passenden Geschenke ★ ★★ Martin Haller empfiehlt das Buch »Weihnachten« »Advent ist, wenn der Pfarrer schreit: Besinnlichkeit! Besinnlichkeit!« Die wenigsten wollen es, aber die meisten tun es, ob gläubig oder nur der Kinder – später dann der Eltern – wegen. Wer sich darauf einlässt, die Festtagssuppe aber nur mit Humor gewürzt ertragen kann, der lese dieses Buch unterm Baum oder lege es darunter. Hier erfährt man nicht nur, warum Jesus keinen Charakter hat, sondern auch alles über Karpfen, Weihnachtsgans und die Alchemie des Schmorbratens – der wahren »braunen Schande deutscher Nation«. Dann noch reichlich Most in die rote Rübe und das Fest wird ein Erfolg. Buch Wiglaf Droste, Nikolaus Heidelbach, Vincent Klink Weihnachten Dumont Buchverlag Köln 2007 160 Seiten 14 Euro

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★ ★★ Lisa Hofmann empfiehlt das Brettspiel »Ein Fest für Odin« Wie bekomme ich alle Wikinger ernährt, wie puzzle ich die Minuspunkte auf meinem Spielplan zu, wo bekomme ich Siegpunkte her und warum habe ich keine Aktionen mehr? Wenn man diese Probleme alle besser als seine Mitspieler lösen möchte, können die grauen Zellen schon mal heiß laufen. »Ein Fest für Odin« vereint unterschiedliche Spielmechaniken und ist sehr abwechslungsreich spielbar. Auch nach vielen Partien wird das Spiel nicht langweilig. Genau das Richtige für lange Winterabende. BRETTSPIEL Uwe Rosenberg Ein Fest für Odin Feuerlandverlag 1-4 Spieler ab 12 Jahre etwa 70 Euro

★ ★★ Tilman von Berlepsch empfiehlt den »Huggy Buddha« Gegen Schlankheitswahn, die Beschleunigung im Alltag und anhaltende Traurigkeit hilft (neben Klassenkampf, Anm. d. R.) nur eines: Huggy Buddha. Das kleine, immerzu grinsende Stoffdickerchen aus niederländischer Produktion macht allein durch seine Anwesenheit gute Laune. Sobald man von Buddhas Glück und Gelassenheit angesteckt wurde, will man ihn so schnell nicht wieder abgeben. Deswegen sollte Huggy Buddha auch nur an Familienangehöre oder Freunde verschenkt werden, mit denen man sich eine Wohnung teilt. Sonst kauft man womöglich gleich noch einen Zweiten. STOFFFIGUR Huggy Buddha Maße: 19 x 12 x 19 cm etwa 27 Euro Zu beziehen unter: www.huggybuddha.com

Unsere Anregungen, falls kurz vor knapp noch ein Geschenk fehlt


Weihnachten | Geschenktipps der Redaktion

★ ★★ Yaak Pabst empfiehlt das Album »1992« von Princess Nokia Weihnachten ohne fette Beats ist auch keine Lösung. Abhilfe kann das ziemlich unglaubliche und basslastige Debütalbum der New Yorker Rapperin Princess Nokia schaffen. Es heißt: »1992«. Auf den neun Tracks textet die 24-jährige Künstlerin selbstbewusst, politisch und derb. Sie sagt: »Ich habe die Radikalität in meinem Blut. Meine Vorfahren sind Sklavinnen und Kämpferinnen. Meine Großmütter haben gegen Kolonisatoren und Unterdrücker rebelliert, weil diese sie geschwängert und ihre Kultur geraubt haben. Ich wurde schreiend und tretend geboren, wissend, dass diese Welt mich nicht fair behandeln wird.« Die gewaltigen Beats und kraftvollen Raps gibt es kostenfrei zum Download. ALBUM CD / MP3 / VINYL Princess Nokia 1992 Kostenfreier Download unter: http://princessnokia.org/

★ ★★ Boris Marlow empfiehlt das Buch »Damaged Goods« Mitte der 1970er Jahre ertönt ein neuer Sound in den verrauchten, kleinen Clubs von New York und London. Punk ist laut, dreckig und vor allem: ein Lebensgefühl. Jugendliche färben sich die Haare und rebellieren gegen die bestehende Ordnung. Zum vierzigsten Geburtstag veröffentlicht der Ventil-Verlag nun die Geschichte dieser Musikrichtung – und zwar nicht als große Erzählung, sondern in 150 kleinen Anekdoten. Von Velvet Underground über Hüsker Dü und Nirvana bis zu den Goldenen Zitronen stellen mehr als hundert Autorinnen und Autoren ihre Lieblingsalben vor. BUCH Jonas Engelmann (Hrsg.) Damaged Goods. 150 Einträge in die Punk-Geschichte Ventil Verlag Mainz 2016 394 Seiten 20 Euro

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David Jeikowski empfiehlt das Buch »Bildbefragungen« »Bildbefragungen« ist ein ganz schöner Ritt durch die, vor allem westliche, Kunstgeschichte. Von antiken Wandgemälden über Botticelli und Géricault bis Diego Rivera werden berühmte Gemälde umrissen, besondere Details herausgepickt und durch sie der historische Rahmen erklärt. Das kommt natürlich nicht so klassenkämpferisch daher wie »Die Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss und erzählt nicht die Weltgeschichte von unten wie Chris Harmans »Wer baute das siebentorige Theben« – nebenbei bemerkt zwei ebenfalls sehr gute Geschenkideen. Dafür ersetzt es mühelos jede Museumsführung, wenn der Weihnachtsschmaus schon im Magen und der Weg zur nächsten Kunsthalle zu weit oder zu kalt ist.

Jan Maas empfiehlt das Puzzle »IQ-Fit«

»Die Hand war frei«, schreibt es Friedrich Engels in seinem Buch über den »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen«: Die Fähigkeit zum Greifen hängt eng mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen und der Hirnentwicklung zusammen. Das Puzzle IQ-Fit besteht aus einem Satz dreidimensionaler Kugelhaufen, die in einen zweidimensionalen Lochrahmen eingesetzt werden müssen. Ein Aufgabenheft bietet Schwierigkeitsgrade von kinderleicht bis nahezu unlösbar. Perfekt, um offline gegen Langeweile zu kämpfen. SPIEL IQ-Fit Smartgames 1 Spieler Ab 6 Jahre 10 Euro

BUCH Rose-Marie und Rainer Hagen Bildbefragungen – 100 Meisterwerke im Detail Taschen Verlag Köln 2016 788 Seiten 14,99 Euro

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Kultur | Die besten TV-Serien, die keiner kennt

e e Noch auf der Suche nach einem guten Geschenk oder nach einem Zeitvertreib fĂźr lange, dunkle Winterabende? Unser Autor stellt vier Fernsehserien vor, die fast vĂśllig unbekannt sind. Zu Unrecht, wie er findet Von Alban Werner

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Kultur | Die besten TV-Serien, die keiner kennt

The Americans

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he Americans« ist einfach die beste TV-Serie der letzten zehn Jahre. Zwar ist noch kein abschließendes Urteil möglich, weil noch zwei Staffeln bevorstehen. Aber bereits in ihren ersten vier Jahren hat »The Americans« besser als jede Konkurrentin Emotionen und menschliche Abgründe wie Liebe, Eifersucht, Loyalität, Verrat oder Trauer in serieller Erzählform verdichtet. Die Serie beginnt mit der Präsidentschaft von Ronald Reagan in den USA der 1980er Jahre, im Mittelpunkt steht das Ehepaar Philip und Elisabeth Jennings (Matthew Rhys und Kerri Russell), die an der Oberfläche ein Reisebüro leiten, tatsächlich aber seit 15 Jahren ein Doppelleben als KGB-Agentin und -Agent führen. Die einzige Unglaubwürdigkeit, die man in der Serie akzeptieren muss, besteht darin, dass ihr neuer Nachbar Stan Beeman (Noah Emmerich) ausgerechnet bei der Spionageabwehr-Abteilung des FBI arbeitet. Während Philip immer häufiger Zweifel an ihrer Mission und der Unbescholtenheit der UdSSR aufkommen, ist Elisabeth trotz schlimmster Erfahrungen während ihrer Agentinnen-Ausbildung eine treue Soldatin des Staatssozialismus – zumindest am Anfang… Der Serienschöpfer Joel Weisberg ist tatsächlich ehemaliger CIA-Angestellter und muss jedes seiner Skripte vom Geheimdienst daraufhin absegnen lassen, dass es keine sensiblen Informationen preisgibt. Dennoch erscheint die Serie durchweg realistisch und scheut nicht davor zurück, den Finger in die Wunden des Kalten Krieges zu legen: Dass die USA die rechten Contras in Nicaragua sowie Apartheid-Südafrika unterstützten wird genauso deutlich gezeigt, wie die Sowjetunion in wenig rosigen Farben gezeichnet wird, ohne dass die Serie jemals in Schwarzweißmalerei abgleitet. Wie ein US-amerikanischer Rezensent bemerkte, gelingt »The Americans« das fast Unmögliche, nämlich das Publikum zugleich mit beiden Seiten mitfiebern zu lassen. Der Mut zur Uneindeutigkeit, zum kompromisslosen Bruch mit etlichen Erzählkonventionen und die unübertroffene emotionale Tiefe machen die Serie zu einem zeitlosen Fernseherlebnis. ■

Ein amerikanisches Traumpaar: Nicht einmal die eigenen Kinder von Philip und Elisabeth Jennings wissen von deren Doppelleben als KGB-Agenten

DIE SERIE

Von »The Americans« (USA, seit 2013) sind bislang 52 Folgen in vier Staffeln erschienen. In Deutschland läuft die Serie bei ProSiebenMaxx und ist auf DVD erhältlich.

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Kultur | Die besten TV-Serien, die keiner kennt

The Good Wife

D DIE SERIE

Von »The Good Wife« (USA 2009-2016) sind 156 Folgen in sieben Staffeln erschienen. Die Serie läuft in Deutschland bei Sixx und Fox und ist auf DVD erhältlich.

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ie beste und kürzest mögliche Beschreibung der Serie »The Good Wife« stammt von der »New Yorker«-Serienrezensentin Emily Nussbaum. Anlässlich der vorletzten, sechsten Staffel schrieb sie, dass die Serie am Anfang »erschienen sein mag als allwöchentliche Ermächtigungsserie für Frauen, ein Wohlfühl-Märchen über eine starke Frau, die ihren Weg schon finden wird. Stattdessen wurde daraus eine raffinierte Verurteilung so ziemlich aller Institution unterm Kapitalismus. Eine dieser Institutionen ist natürlich die Ehe. Eine andere ist das Fernsehen«. Im Zentrum dieser Serie steht Alicia Florrick, die – ähnlich wie Hillary Clinton während der LewinskyAffäre – ihrem Ehemann, dem Chicagoer Staatsanwalt Peter Florrick öffentlich die Treue hält, als er wegen eines Prostitutions- und Korruptionsskandals zurücktritt. Alicia, die nach ihrem Jura-Studium immer Hausfrau und Mutter war, beginnt also notgedrungen in einer Kanzlei zu arbeiten, die ausgerechnet von ihrer alten heimlichen Flamme Will Gardner und der toughen und zugleich karrierebewussten Feministin Diane Lockhart geführt wird. Die Serie bringt das Kunststück fertig, sich mindestens einmal pro Staffel neu zu erfinden und das komplette Setting umzuwerfen. Zudem gelang es, einen spannenden roten Faden durch die Serie zu ziehen

Im Mittelpunkt der Serie steht die Anwältin Alicia Florrick. Doch es geht um weit mehr als die Geschichte einer starken Frau und zugleich brillante Einzelepisoden hinzulegen. Obwohl man die Vorgeschichte und die Charaktere kennt, weiß man nie genau, womit man bei der nächsten Episode rechnen muss. Außerdem wird die Serie bevölkert von glaubwürdigen und brillant gespielten Charakteren, von denen selten einer ganz gut oder ganz böse ist. Stattdessen werden alle erdenklichen Grauzonen persönlicher Beziehungen ausgelotet. Unbedingt erwähnenswert ist Michael J. Fox, der in der wiederkehrenden Figur des hinterlistigen Anwalts Louis Canning nach »Zurück in die Zukunft« die wahrscheinlich beste Rolle seiner Karriere spielt. »The Good Wife« behandelt immer wieder aktuelle politische Streitthemen, ohne dabei jemals in Schwarzweißmalerei zu verfallen (mit Ausnahme der inakzeptablen Verballhornung von Hugo Chavez in einer Episode). Die im Gefolge der tödlichen Polizeigewalt gegen schwarze Amerikaner in Ferguson & Co. gedrehte Folge in Staffel 6 gehört zum Brillantesten, was jemals in der Geschichte des Serienfernsehens ausgebreitet worden ist. Wie unter einem Brennglas werden Rassismus, Untreue, die unerträglich selbstbezügliche und heuchlerische US-Wahlkampfmaschinerie, die ethnisch und sozial gespaltenen sozialen Verhältnisse in einer maximal spannenden und emotional aufreibenden Episode serviert. ■


Kultur | Die besten TV-Serien, die keiner kennt

Friday Night Lights

The Missing

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berflächlich betrachtet geht es in dieser Serie um einen Footballtrainer und seine Mannschaft in der fiktiven Stadt Dillon in Texas. Aber selbst wenn man für Football oder Fernsehsport im Allgemeinen nichts übrig hat, ist sie sehenswert. Die Mannschaft dient nur als Aufhänger, um Geschichten über das Erwachsenwerden, über Freundschaft, die Schwierigkeiten und Kompromisse des Ehelebens, aber auch über soziale Probleme wie Alkoholismus, Rassismus und Behinderungen zu erzählen. Gleich in der ersten Folge bleibt der Quarterback Jason Street der Dillon Panthers nach einem Zusammenstoß während eines Footballspiels querschnittsgelähmt. Mit bisweilen schmerzhaftem Realismus folgt ihm die Serie dabei, wie er selbst und sein Umfeld mit der neuen Situation umgehen. Die Serie geht außerdem mutig mit kleinen und großen Ungerechtigkeiten um: Nach drei Staffeln wird die Hauptfigur Coach Taylor (Kyle Chandler) auf Geheiß reicher Sponsoren ersetzt. Er bekommt nun das Team der East Dillon High School zugewiesen, deren Mitglieder fast ausschließlich aus ärmeren Verhältnissen stammen. Seine Frau Tami wird als Schulrektorin abgesetzt, nur weil sie (völlig regelkonform) eine schwangere Schülerin auf ihr Recht auf Abtreibung aufmerksam macht. Es gibt zudem ein Wiedersehen mit Jesse Plemons (bekannt durch seine Rolle in »Breaking Bad«), Taylor Kitsch, Michael B. Jordan (der Titelheld im Rocky-Nachfolger »Creed«) und Adrianne Palicki (»Agents of Shield«). ■

DIE SERIE

ie Besten unter den neueren Serien aus dem angelsächsischen Raum trauen sich, das Publikum herauszufordern und ihm nicht immer das zu geben, was es erwartet oder sich wünscht. Genau so eine Serie ist »The Missing«, deren erste Staffel 2014 eine in sich geschlossene Handlung bietet, die auf zwei Zeitebenen spielt. Während 2006 die Fußball-WM läuft, macht das britische Paar Tony und Emily Hughes (brillant: James Nesbitt und Frances O’Connor) mit seinem fünfjährigen Sohn Oliver Urlaub in Frankreich. Wegen einer Autopanne müssen sie im Kaff Chalons du Bois halten, wo ihr Sohn nachts verschwindet. Trotz großer Bemühungen von Polizei und Einwohnerschaft wird der Junge nicht gefunden. Acht Jahre später kehrt Tony in die Kleinstadt zurück, weil er sich weigert, das Verschwinden seines Sohns zu akzeptieren. Als er tatsächlich auf eine Spur stößt, kehrt der bereits verrentete französische Polizeibeamte Julien Baptiste aus dem Ruhestand zurück, um die Suche zu unterstützen… Nicht ganz realistisch ist die Tatsache, dass die Bewohner einer französischen Kleinstadt wie Chalons du Bois in der Originalfassung grammatikalisch einwandfreies Englisch sprechen – aber ansonsten muss man sich vor dem Team wirklich verneigen: »The Missing« schafft es, mehrere Zeitebenen, Schauplätze und durchweg glaubhafte Figuren zu einer packenden Geschichte zu verbinden. Man kann dem Geschehen immer folgen, dennoch wird die Spannung meisterlich aufgebaut und aufrechterhalten, und – nur so viel sei verraten – die Serie findet einen absolut konsequenten Schluss, der mit Sicherheit nicht jedem gefallen wird. ■

Alban Werner ist Politikwissenschaftler aus Aachen und filminteressiert, seitdem er 1994 ehrenamtlich im kommunalen Kino mitarbeitete.

DIE SERIE

Von »Friday Night Lights« (USA 2006-2011) sind 76 Folgen in fünf Staffeln erschienen. Die Serie ist in Deutschland vollständig auf DVD erhältlich.

Die erste Staffel von »The Missing« (Großbritannien 2014) hat acht Folgen. Auf Deutsch ist sie auf Sky Atlantic HD, im Original bei BBC One oder auf DVD verfügbar.

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Review


REVIEW | Buch

Unsichtbar hinter der ›großen Politik‹ Seit Jahren sammelt die Historikerin Gisela Notz Porträts von Frauen, die sich für eine bessere Zukunft engagiert haben. Ihr Kalender »Wegbereiterinnen« erscheint nun schon zum fünfzehnten Mal Von Peter Streiff

G

ibt es Gemeinsamkeiten zwischen der Philosophin Hannah Arendt, der Sozialistin Emmy Scholem und dem »Spatz von Berlin«, der Kabarettistin und Sängerin Claire Waldoff? Auf den ersten Blick wohl nicht, doch alle drei und noch neun weitere Frauen sind im aktuellen »Wegbereiterinnen«-Kalender für das kommende Jahr zu finden. Die Historikerin und Herausgeberin Gisela Notz hat darin Porträts von Frauen versammelt, »die sich in Politik, Gewerkschaften, im Widerstand, in der Literatur, Musik, Photographie oder im Sport für die Rechte der Frauen, für Freiheit, Gleichheit und eine friedlichere Welt eingesetzt haben«. So wird die wohl bedeutendste politische Philosophin Hannah Arendt unter dem Titel »Denken ohne Geländer« vorgestellt, die auf Grundlage ihrer »Ethik des selbstverantwortlichen Handelns« zur Vordenkerin zivilgesellschaftlicher und direktdemokratischer Aktionsformen wurde. Sie verbrachte die Nazizeit im Exil in Paris und später zusammen mit ihrem Mann, dem antistalinistischen Kommunisten Heinrich Blücher, in den USA, wo sie die »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« als eines ihrer zentralen Werke verfasste. Auch Claire Waldoff floh vor den herrschenden Nazis, allerdings vom lebendigen Berlin in

die bayrische Provinz und damit in bittere Armut. Der »Spatz von Berlin« war auf ihre Art ebenso eine eigenständige Protagonistin, die sich ihre Freiheiten nahm – allerdings war ihr Metier der öffentliche Auftritt auf der Bühne, wo sie es »verstand, den Ton zu treffen, der die Menschen berührte.« Emmy Scholem als Bildungsarbeiterin und Stenotypistin der Kommunistischen Partei Deutschlands hingegen »steht für eine Generation von Frauen in Angestelltenberufen, die die Arbeiterbewegung am Laufen hielten, jedoch oft hinter der ›großen Politik‹ unsichtbar blieben.« Als ihr Mann Werner 1926 als Gegner Stalins aus der KPD ausgeschlossen wurde, wurde Emmy für seine Ansichten in Sippenhaft genommen und entlassen. Nach Verhaftung durch die Nazis 1933 konnte sie ein Jahr später zusammen mit ihren Töchtern nach England fliehen. Allen Wegbereiterinnen ist gemeinsam, dass sie zu einer Zeit, in der Frauen sehr stark benachteiligt waren, gelebt haben und sich für das »gute Leben« in einer besseren Zukunft für alle eingesetzt haben. Die Porträtierten stammen nicht nur aus Deutschland des letzten und vorletzten Jahrhunderts, sondern auch aus Ungarn, Österreich, den USA sowie aus der Türkei des frühen 20. Jahrhunderts – wie Zabel Yesayan, eine bedeutende armenische Schriftstellerin und Zeit-

zeugin des Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern. Die von historisch arbeitenden Frauen und Männern individuell geschriebenen Porträts sind informativ und haben dennoch keinen lexikalischen Charakter. Ausdrucksstarke Bilder und ein zurückhaltendes Layout machen den Kalender zum Platz für wertvolle Erinnerungen an Frauen, die vor unserer Zeit schon am Weg in eine andere Welt gearbeitet haben. Seit mittlerweile 15 Jahren erscheint der WegbereiterinnenKalender, der sich zum Sammelobjekt entwickelt hat und aus vielen Wohn- und Arbeitszimmern nicht mehr wegzudenken ist. Erstmals erscheinen die Porträts zusätzlich als Postkartenset. ■

★ ★★ Buch | Gisela Notz (Hrsg.) | Wegbereiterinnen XV – Kalender 2017 | AG SPAK Bücher | Neu-Ulm 2016 | 15 Seiten (DIN A3) 14,50 Euro (Postkartenset mit allen Frauenporträts, DIN A6: 9 Euro)

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REVIEW | Album des Monats

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slamismus, AfD, Zuwanderung – die deutsche Gesellschaft scheint heute gespalten wie nie. Die Grenzziehung verläuft dabei allzu oft nicht zwischen oben und unten, sondern fatalerweise innerhalb der eigenen Klasse. Prekär Beschäftigte schimpfen auf Geflüchtete, Studierende verdrängen Alteingesessene, Marginalisierte verteidigen die »deutsche Leitkultur«, die sie selbst seit jeher ausschließt. Wer jedoch regelmäßig mit dem Zug fährt, hat vielleicht schon einmal erlebt, dass es ein Thema gibt, das die hiesige Bevölkerung wie kein zweites zu vereinen vermag: die Inkompetenz der Deutschen Bahn. Ob ausgefallene Klimaanlage, defekte Reservierungsanzeigen oder 120 Minuten Verspätung aufgrund einer »Verzögerung im Betriebsablauf« – Wildfremde werfen sich plötzlich über ihre Smartphones hinweg verbrüdernde Blicke zu, Frauen mit Kopftuch tauschen sich mit bayerischen Rentnern über ihre schlimmsten Bahn-Fiaskos aus. Wäre die britische Rapperin Kate Tempest aus Deutschland, so gäbe es keinen geeigneteren Ort als diesen, um ihr neues Konzept-Album »Let them eat chaos« zu inszenieren. Doch der Reihe nach. Die 30-jährige Kate Tempest ist keine gewöhnliche Rapperin. Sie wuchs im ärmlichen Süden Londons auf, verbrachte nach eigenen Angaben ihre Jugend damit, »an Streikposten abzuhängen und DemoBullen anzurappen«. Mit 16 schmiss sie die Schule, fand über den Rap ihren Weg zu Poetry-Slam und Spoken Word, schrieb später Gedichtbände und Theaterstücke. In Großbritannien wird sie mit Auszeichnungen überhäuft, Zeitungen wie der »Guardian« überschlagen sich regelmäßig vor lauter Lobpreisungen. »Let them eat chaos« ist nun Tempests zweites Solo-Album. Mit einem beispiellosen Gespür für atmosphärische Dichte führt sie nacheinander in die Welt von sieben Protagonisten (und einer Naturgewalt)

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Kate Tempest | Let them eat chaos

ALBUM DES MONATS Weltgeist trifft Esther von nebenan: Kate Tempest verbindet auf ihrem Hörbuch-RapAlbum Individualschicksale mit der großen Weltpolitik

Von David Jeikowski

★ ★★ Kate Tempest | Let them eat chaos | Caroline (Universal Music) 2016 ein, um daraufhin jeweils für einen Song deren Perspektive einzunehmen. Die mal offen benannte, mal implizit mitschwingende Quintessenz ist die allgegenwärtige Symbiose von Großem und Kleinem, von Weltpolitik und Individualschicksal, die Tempest mit beeindruckender Leichtigkeit immer wieder aufzuzeigen vermag. Es beginnt mit einer kosmischen tabula rasa: »Stell dir ein Vakuum vor. Eine endlose und bewegungslose Dunkelheit / Frieden oder, zumindest, die Abwesenheit von Terror«, instruiert uns Tempest in die Stille hinein. Wir nähern uns unserem Sonnensystem, staunen über die elegante Schönheit von Mutter Erde, nur um

im nächsten Moment hart auf ihr aufzuknallen. Sirenen heulen rhythmisch auf, wie eine unheilvolle Vorahnung eines Instrumentals. Wir sind in London gelandet, vermutlich im Süden. Es ist 4:18 Uhr morgens, doch die Protagonisten finden keinen Schlaf. Sie wälzen Probleme, sorgen sich um die Zukunft. Sie wissen nichts voneinander, obwohl sie doch in derselben Straße leben, fragen sich, ob sie die einzigen sind, die kein Auge zukriegen. Gemma (»Ketamine for breakfast«) macht sich beispielsweise Vorwürfe, sich trotz aller Bemühungen immer den falschen Leuten anzuschließen: »Versuche dagegen anzukämpfen, aber ich bin mir sicher / wenn du schlecht für

mich bist, mag ich dich noch mehr/«, rappt Tempest in ihrer Rolle kraftvoll über übellaunige Grime-Synthesizer. Zur selben Zeit sitzt Zoe (»Perfect coffee«) zwischen gepackten Umzugskartons und malt sich die kommenden Tage aus. Ihre Wohnung wird aufgewertet, die Miete verdreifacht. »London ist eine ummauerte Festung, es ist alles für die Reichen / Wenn du finanziell zurückfällst, fällst du, und du weißt, wo die Tür ist /«. Schon bald wird sie selbst »der Eindringling in einer anderen Gegend sein /«, perfekten Kaffee in eben eröffneten Szene-Cafés trinken und ihren neuen Nachbarn selbst die Gentrifizierung bringen. Ein definitiver Anspieltipp ist auch der Monolog von Esther (»Europe is lost«), einer Krankenschwester, die grade erst ihre Nachtschicht beendet hat. Über ein vor Coolness strotzendes E-Gitarren-Sample lässt sie richtig Dampf ab: wie oberflächliche Ideale geschaffen und Jugendliche kriminalisiert werden, wie über Migranten hergezogen wird und die Herrschenden mit jedem Skandal davonkommen – »doch schau, der Verkehr geht immer weiter/ das System ist zu ausgefuchst, um nicht mehr zu funktionieren / (...) außerdem gibt es im Club grade zwei Drinks zum Preis von einem/«. Am Ende des Albums zieht ein gewaltiger Sturm auf. Zuckende Blitze lassen die sieben aufschrecken und sie erst ihre Stadt neu und sich dann plötzlich gegenseitig erkennen. Erstaunt laufen sie auf die Straße, lösen erst ihre körperliche Habachtstellung und dann die geistige. In einer erlösenden Katharsis ist ihre Vereinzelung plötzlich aufgehoben. Nun wäre es sicherlich zu viel verlangt, dass sich bei jeder Verspätung der Deutschen Bahn alle Passagiere gleich solidarisch in den Armen liegen. Einen Versuch wäre es jedoch zumindest wert, Wetter und Deutsche Bahn sind ja bekanntermaßen immer für eine Überraschung gut. ■


REVIEW | BUCH

Anpfiff Die Linken verachten die Arbeiter, findet Christian Baron. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit Von Jan Maas

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hristian Baron verpasst der deutsche Linken einen ziemlichen Anpfiff. Nicht nur, dass sie die Arbeiterklasse, deren täglichen Kampf ums Überleben und deren Interessen aus den Augen verloren habe. Nein, in großen Teilen der Linken habe sich gar Verachtung gegenüber der Arbeiterklasse breit gemacht – deren Befreiung sie sich doch eigentlich auf ihre Fahne geschrieben habe. Das ist eine These, die Streit hervorrufen wird – was allerdings auch die erklärte Absicht des Autors ist. Baron arbeitet als FeuilletonRedakteur bei der Tageszeitung »Neues Deutschland«. Diese Position wurde ihm nicht in die Wiege gelegt. Baron stammt aus einem von Gewalt und Drogen geprägten Elternhaus und schaffte den Ausweg über Abitur und Studium nur dank engagierter Lehrerinnen. In seinem Buch erzählt er etwa vom herablassenden Verhalten sowohl der Professoren als auch der linken Gruppen, in denen er sich engagieren wollte. Die Überheblichkeit besonders letzterer lässt ihn ratlos zurück. Baron nimmt die Leserin und den Leser in einer Art Reportage mit zu den Stätten seiner Kindheit in einem armen Stadtteil Kaiserslauterns. Dort spricht er mit ehemaligen Nachbarn über seine Erlebnisse und die Ansichten der Uni-Linken über

die Unterschicht. Diese lebendigen Szenen gehören zu den besten Stellen in Barons Buch. Sie veranschaulichen, dass sich ein Teil der Arbeiterklasse nicht nur vom Wohlstand abgehängt, sondern auch von der Linken im Stich gelassen fühlt. Doch die größte Stärke von Barons Buch ist zugleich seine größte Schwäche: Seine Erfahrungen zeigen einen Ausschnitt aus der Klassengesellschaft und der Linken, aber eben nur einen Ausschnitt. Zwar liefert er auch Zahlen und Zitate, beispielsweise vom ehemaligen Berliner Finanzsenator und Armenhasser Thilo Sarrazin. Doch diese Versatzstücke reichen nicht aus. Stattdessen wäre eigentlich eine Einbettung in die Geschichte des Klassenkampfs in Deutschland zum Verständnis hilfreich gewesen wäre. So bleiben zu viele Fragen offen. Wer, zum Beispiel, ist »die Linke« heute? Baron bezieht sich auf Milieus »vom anarchistischen Hausbesetzer bis zum staatstragenden Sozialdemokraten« – alles akademisch gebildete Angehörige der Mittelschicht in seinen Augen. Wer hingegen kaum auftaucht, sind zum Beispiel die Menschen, die 2004 gegen die Agenda 2010 auf die Straße gingen, deren Proteste zur Gründung der WASG führten, und deren Weg schließlich in DIE LINKE führte – Arbeitslose, Arbeite-

rinnen und Arbeiter. Das führt zur zweiten offenen Frage: Wer sind »die Arbeiter« heute? Baron weist am Rande darauf hin, dass es nie so viele Lohnabhängige in Deutschland gab wie heute. Aber in seinem Buch tauchen vor allem weiße Menschen in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen auf. Zur Arbeiterklasse gehören aber auch Migrantinnen und Migranten, Facharbeiterinnen und Facharbeiter. Und die Kämpfe, die sie zum Teil erfolgreich für ihre Interessen führen. Solche Erfahrungen, die ein anderes Verhältnis zwischen Linken und Arbeitern zeigen könnten als das der Entfremdung, bleiben leider außen vor. Trotzdem ist das Buch wichtig: Es kann auch der Anpfiff einer überfälligen Diskussion sein. Denn Christian Baron hat in einem wichtigen Punkt recht: Der Aufstieg der Rechten ist auch ein Symptom der linken Krise. In Zeiten von Trump, Le Pen und Petry ist es höchste Zeit, Wege zu ihrer Überwindung zu finden. ■

★ ★★ BUCH | Christian Baron | Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten | Verlag Das neue Berlin | Berlin 2016 | 288 Seiten | 12,99 Euro (ebook 9,99 Euro)

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REVIEW | BUCH

Ein zeitloser Prozess Migration ist fast so alt wie die Menschheit. Ein neuer Sammelband zeigt, dass auch das Schlepperwesen keineswegs erst im 21. Jahrhundert entstanden ist Von Gesine Goldammer

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★ ★★ BUCH | Gabriele Anderl, Simon Usaty (Hg.) | Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung | Mandelbaum Verlag | Wien 2016 | 568 Seiten 24,90 Euro

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er Sammelband »Schleppen, Schleusen, Helfen« präsentiert die Ergebnisse einer gleichnamigen Tagung, bei der Flucht und Fluchthilfe über mehrere Epochen hinweg betrachtet wurden. Die beiden Wiener Historikerinnen Gabriele Anderl und Simon Usaty haben ihn herausgegeben. Die insgesamt 40 Beiträge, davon vier in englischer Sprache, reichen von der historischen Entstehung der Fluchthilfe über selbstorganisierte Grenzübertritte im Rahmen des Spanischen Bürgerkrieges und Fluchtbewegungen in der Zeit des Nationalsozialismus, bis hin zur aktuellen Migration. Ihr Hauptaugenmerk legen die Autorinnen und Autoren dabei auf Österreich und Mitteleuropa. In den ersten Texten stellen sie dar, wie das Schlepperwesen bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert den Charakter von Kleinunternehmen entwickelte. Seither geht es nicht selten mit sexualisierter Gewalt und Frauenhandel einher. Mehrere Artikel befassen sich mit der NS-Zeit. Vor allem Fluchtrouten und -netzwerke von Verfolgten werden genauer vorgestellt. Einige Abschnitte gehen auf die verschärften Asylgesetze ein, welche die Nachbarstaaten von Nazideutschland als Folge der großen Flüchtlingszahlen verabschiedeten. Daneben porträtieren die Artikel aber auch, wie die Geschleusten die Fluchthelfer selbst wahrnahmen. Zwei Beiträge stellen die sehr unter-

schiedlichen Folgen dar, die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene bei einem Fluchtversuch zu befürchten hatten. Weiterhin zeigen die Autorinnen und Autoren, wie Fluchthelfer in der Retrospektive behandelt werden. DDRFluchthelfer beispielsweise wurden zunächst glorifiziert, später jedoch zunehmend negativ dargestellt. Auch Fluchthelfer aus der NS-Zeit mussten lange auf ihre öffentliche und rechtliche Rehabilitierung warten. In den Beiträgen mit aktuellerem Bezug werden Transitländer vorgestellt und die jeweiligen Autoren nehmen kritisch Stellung zu der undifferenzierten, negativen Darstellung der Fluchthilfe in den Medien. Andere wiederum analysieren die »Festung Europa« im völkerrechtlichen Kontext. Sie werten das Abweisen von Flüchtlingen noch vor den Grenzen als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, da Schutzbedürftige dadurch keine Chance auf eine angemessene Prüfung haben. Derweil geben die letzten Artikel des Buchs aufschlussreiche Einblicke in Empirie und die heutige Gesetzeslage. Nicht zuletzt bringen einem zahlreiche Personenberichte von damals und heute die tragischen Situationen der Geflüchteten lebhaft nahe. Trotz gewisser Unterschiede lassen sich durchaus auch Parallelen zwischen vergangenen und heutigen Fluchtbewegungen ziehen. »Man wollte

nicht helfen, aber man musste so tun als ob.« Diese traurige Aussage des in dem Band zitierten Ralph Weingarten scheint gegenwärtig genauso wahr zu sein wie damals, als die Länder sich darin übertrafen, jüdische Flüchtlinge abzuweisen, die aus Deutschland flohen. Zusammenfassend lässt sich nach Lektüre des Bands festhalten, dass Flucht ein zeitloser sozialer Prozess ist. Hilfe zum illegalen Grenzübertritt ist in der Regel finanziell und/oder humanitär motiviert. Auf größere Migrationsbewegungen reagieren Länder stets mit verschärften Asylgesetzen und verstärkten Grenzkontrollen. Diese völkerrechtswidrigen Maßnahmen führen jedoch lediglich zu gefährlicheren Fluchtrouten und größerem Leid der Flüchtenden. Echte Abhilfe gegen illegale Grenzübertritte können nur legale Einreisemöglichkeiten liefern. Obwohl die Texte sich mitunter in ihrer fachlichen Qualität unterscheiden und manchen ein klarer Bezug zu Schlepperei fehlt, lohnt sich die Lektüre des gesamten Bands. Die mannigfaltigen Herangehensweisen der Autorinnen und Autoren ermöglichen es, neue Blickweisen auf die komplexe Thematik zu gewinnen. ■


REVIEW | BUCH Des Monats

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er Kapitalismus verwandelt sich in eine Abstiegsgesellschaft. Das zeichnet der Soziologe Oliver Nachtwey eindrücklich am Beispiel der Bundesrepublik nach. Hintergrund für diese Entwicklung ist gewissermaßen der Abstieg des globalen Kapitalismus. Weltweit sinken die Wachstums- und Profitraten. Trotz »Shareholder-Value« und Finanzkapitalismus lassen die Investitionen nach. Die Wachstumskritiker haben, so Nachtwey, ihr Nullwachstum bekommen, aber die ökologische Lage verschlechtert sich trotzdem weiter. Die mit der weltweit kränkelnden Wirtschaft einhergehenden sinkenden Beschäftigungs- und steigenden Arbeitslosenzahlen schwächen die Gewerkschaften, konstatiert der Autor. Das Modell der Nachkriegszeit, die »soziale Moderne«, wich der »regressiven Moderne«. Arbeitslose verschwanden statistisch im Niedriglohnsektor und im Prekariat. Normalarbeitsverhältnisse und Kernbelegschaften weichen zunehmend Teilzeitjobs, Werkverträgen, Leiharbeit. Die Mittelschicht trifft es ebenfalls. Ihre Kinder werden es nicht mehr automatisch »besser haben«. Nachtwey, der am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätig ist, zeigt in seinem Buch auch die ideologischen Manöver der Herrschenden auf dem Weg in die regressive Moderne auf. Bei »horizontalen« Widersprüchen habe es zum Teil Fortschritte gegeben: Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder sexueller Präferenz nahmen in den letzten Jahrzehnten ab. Dafür verschärfte sich der vertikale Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Hier könnte man kritisch fragen, in welchem Verhältnis die von Nachtwey als »vertikal« und »horizontal« bezeichneten Widersprüche zu den früher innerhalb der marxistischen Linken diskutierten »Haupt«- und »Nebenwidersprüchen« ste-

Oliver Nachtwey | Die Abstiegsgesellschaft

BUCH DES MONATS Der Soziologe Oliver Nachtwey hat ein über linke Kreise hinaus beachtetes Buch zur »Abstiegsgesellschaft« in Deutschland vorgelegt Von Thomas Walter

★ ★★ BUCH | Oliver Nachtwey | Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne | Edition Suhrkamp | Berlin 2016 | 260 Seiten | 20 Euro

hen. Gibt es hier eine strategische Hierarchie oder sind Kämpfe bezüglich »horizontaler« Widersprüche von gleicher Wichtigkeit wie jene zum »vertikalen« Widerspruch? Nachtwey zeigt des Weiteren auf, dass Teile der Mittelschicht für eine »neoliberale Komplizenschaft« gewonnen werden konnten. Teure internationale Bildungsprogramme und Karriereleitern stünden formal jedem, in der Realität jedoch nur den Besserverdienern offen. Die Abschottung gegen Konkurrenz von unten funktioniert also immer noch. Nachtwey stellt außerdem fest, dass entgegen der gepredigten Marktideologie der Staat mit »marktbereitender Staatlichkeit« sehr aktiv blieb. So mancher Pseudo-Markt könnte ohne Staat gar nicht existieren. Letztlich hat die Propaganda für die regressive Moderne nicht verfangen. Parteien verlieren an Zustimmung, Widerstand regt sich. Wutbürger protestieren, aber auch Populisten kommen hoch. »Neues Aufbegehren«, wie es Nachtwey nennt, überrascht. Betriebsräte werden gegründet, wo man es nicht erwartet. Gewerkschaften streiken, teilweise erfolgreich. Nachtwey hofft, dass dieser oft noch zaghafte Widerstand zu einer »solidarischen Moderne« führt. Man kann sich fragen, weshalb Nachtweys kapitalismuskritisches Werk auch in bürgerlichen Medien Widerhall findet. Möglicherweise liegt es daran, dass er einen wunden Punkt des Kapitalismus anspricht. Wenn sich in einer Abstiegsgesellschaft soziale Ungerechtigkeit und Abstiegsgefahr verbreiten, verbreitet sich darüber hinaus Resignation. Das ist schlecht für die »Leistungsbereitschaft«, wie beispielsweise die neoliberale Bertelsmann-Stiftung klagt. Am besten vertreiben wir diese Sorgen der Herrschenden, indem wir dem Vorschlag von Oliver Nachtwey folgen und die regressive Moderne des Kapitalismus durch eine »solidarische Moderne« ersetzen. ■ marx21 04/2016

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REVIEW | BUCH

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Mein Lieblingsbuch

ie Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean« ist keine Autobiografie, aber Manès Sperber verarbeitet darin viele eigene Erfahrungen: So spielt die Handlung vor allem an Orten, an denen der Autor selbst lebte, und die Parallelen zwischen der Hauptfigur Dojno Faber und dem Autor sind deutlich. Sperber studierter in Wien Psychologie und zog 1927 nach Berlin, wo er sich der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) anschloss. Er trat offensiv für eine marxistische Ausrichtung der Psychologie ein, was ihm – neben seinen jüdischen Wurzeln – nach der Machtübernahme der Nazis zum Verhängnis wurde. Nach kurzer Inhaftierung floh er über Österreich und Jugoslawien nach Paris. Dort stieg er zu einem wichtigen Intellektuellen der Kommunistischen Partei Frankreichs auf. 1937 brach Sperber wegen der stalinistischen Säuberungen mit der Sowjetunion und der Kommunistischen Partei und fing an »Wie eine Träne im Ozean« zu schreiben. Der erste und stärkste Teil, »Der verbrannte Dornbusch«, erzählt die Geschichte verschiedener Revolutionäre Anfang der 1930er Jahre. Sie geraten durch die Stalinisierung der Sowjetunion und der KPD in immer tiefer werdende Widersprüche zwischen ihren Idealen und den Befehlen der Partei. Es ist eindrücklich, wie detailliert Sperber die Mechanismen der Stalinisierung innerhalb Partei und den antifaschistischen Kampf im Untergrund beschreibt. Er schuf Charaktere, die stellvertretend für bestimmte Positionen stehen: die Linientreuen und diejenigen, die immer mehr ins Zweifeln geraten, aber nicht aufhören zu hoffen, die Zyniker und diejenigen, die sich gegen die Parteiführung stellen und dafür mit dem Leben bezahlen. Die Hauptperson der Trilogie, Dojno Faber, einer der Cheftheoretiker der KPD, ist

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Von marx21-Leser Max Manzey

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es alle einmal gelesen haben sollten? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Wie eine Träne im Ozean« von Manès Sperber

★ ★★ Manès Sperber | Wie eine Träne im Ozean. Romantrilogie | dtv | München 1980 | 1040 Seiten | 19,90 Euro

erschüttert, dass es mit der Machtübernahme der Nazis nicht zum Generalstreik kommt. - Resultat einer verhängnisvollen Einstellung der SPD und der »Sozialfaschismus«-Theorie der KPD, die eine Einheitsfront verhinderte. Als aus Moskau trotz der Bedrohung durch die Nazis der Befehl kommt, diesen Kurs beizubehalten, verzweifelt Dojno. Der zweite Teil der Trilogie, »Tiefer als der Abgrund«, beschreibt Dojnos Aufenthalt im Exil in Wien und Paris und die Frage, wie sich Kommunisten in Frankreich angesichts des anstehenden Krieges verhalten sollten. Dojno schließt sich der französischen Armee an und kämpft gegen die Nazis. Im letzten Teil, »Die verlorene Bucht«, erzählt Sperber die Geschichte einer kleinen Partisanentruppe, bestehend aus Revolutionären, die man im Laufe der Trilogie kennengelernt hat und die in Opposition gegen die Sowjetunion, die Alliierten und die Faschisten stehen. Die Erzählung wird immer düsterer und die hoffnungslose Lage der Truppe spiegelt die Lage des revolutionären Sozialismus wider, der zwischen den Mühlsteinen der unterschiedlichen Herrschaftssysteme zerrieben wird. Dojno erkennt die Hoffnungslosigkeit, besteht aber darauf weiterzukämpfen, da nur so die Idee am Leben gehalten werden kann. Der Roman endet nach dem Zweiten Weltkrieg und lässt einen im ersten Moment mit einer gewissen Hoffnungslosigkeit zurück. Doch er zeigt auch, wie einige Wenige die Idee des revolutionären Sozialismus »von unten« unter schwierigsten Bedingungen am Leben halten konnten. Manès Sperbers Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean« ist ein beeindruckendes Zeitdokument, eine schonungslose Schilderung des fast aussichtslosen Kampfs gegen Stalinismus und Faschismus und eine Liebeserklärung an die Revolutionärinnen und Revolutionäre, die trotz alledem ihrer Idee treu geblieben sind. ■


REVIEW | BUCH

Zwischen Sabotage und Gewaltfreiheit Das neueste Buch aus der Reihe Bewegungslehre des Unrast Verlags gibt einen Überblick über die vielfältigen Umweltschutzbewegungen und ihre teils einfallsreichen Aktionsformen Von Peter Oehler

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adikale Ökologie« beginnt mit der Geschichte von John Hanna, einem der ersten bekannten militanten Öko-Aktivisten der USA. Im Jahr 1977 zerstörte er in Kalifornien zusammen mit ein paar Freunden mithilfe selbstgebauter Brandsätze sieben Flugzeuge, die Pestizide versprühten. Solche illegalen und gewalttätigen Aktionen kommen im Buch noch häufiger vor. Doch zunächst gibt Mackinger eine Einführung in den Kontext des Widerstands: Die ökologische Krise werde durch unsere imperiale Lebensweise hervorgerufen, wobei jedoch der Einzelne nur begrenzt etwas dagegen tun könne, weil »die industrielle Komponente der Umweltverschmutzung viel gewichtiger ist als individuelle Verhaltensund Konsummuster«. Mit dem Kapitalismus muss gebrochen werden, fordert der Autor, weswegen eine Green Economy keine Lösung darstellt, da sie der gleichen Wachstumslogik folgt. In den anschließenden 14 kurzen Kapiteln werden – für meinen Geschmack ziemlich durcheinander – verschiedenste Gruppierungen samt ihrer Aktionsformen und ideologischen Basis vorgestellt. Für den US-amerikanischen Raum beschreibt Mackinger die »Sea

Shepherd Conservation Society«, die für den Meeresschutz kämpft, »Earth First!«, die auf die Macht der Sabotage setzen und die »Earth Liberation Front«, der es um maximalen ökonomischen Schaden als Antwort auf Umweltzerstörung aus Profitgier geht. Mit der »Moccasins on the Ground«-Bewegung wird beispielhaft auch auf indigene Gruppen eingegangen. Für den deutschsprachigen Raum werden die radikalen Aktionsformen von AKW-Gegnern sowie der Gruppen »Hüttendörfer gegen Autowahnsinn«, »Gendreck weg!« und »Castor schottern!« behandelt. Viele dieser Gruppen sehen die Anwendung von Gewalt als legitimes Mittel in ihrem Kampf. Dabei herrscht Konsens darüber, dass sich Gewalt gegen Sachen richten darf, aber nicht gegen Menschen. Wohltuend hebt sich davon das aus Indien stammende Konzept der »Erd-Demokratie« ab, das auf Gewaltfreiheit setzt. Allerdings gilt es dabei auch als Gewalt, »wenn die Wirtschaftsordnung den ökologischen Raum anderer Spezies und Menschen an sich reißt und einhegt«. Dadurch kann das gewalttätige Vorgehen anderer Gruppen als Notwehr legitimiert werden. »Radikale Ökologie« bietet auch einen Einblick in die theoretischen Grundlagen.

Sie werden entweder zusammen mit den entsprechenden Gruppen oder in eigenständigen Kapiteln vorgestellt und sollen »Anknüpfungspunkte für eine linke Theoriebildung sein«. Neben der bereits erwähnten Erd-Demokratie wird etwa der Biozentrismus vorgestellt, der von der Natur als Ganzheit ausgeht und nicht den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Der AnarchoPrimitivismus hingegen sieht Technologie sehr kritisch, da sie dazu tendiere, uns zu beherrschen, sobald wir sie benutzen. Außerdem trenne sie den Menschen nicht nur von der Natur, sondern auch von seinesgleichen. Bei der sozialen Ökologie, die unter anderen von Murray Bookchin geprägt worden ist, wird die ökologische Frage immer mit der sozialen verbunden. Bookchins Vision, die »freiwillige kontrollierte oder geplante Schrumpfung von wirtschaftlicher Aktivität«, ist unter dem Namen »Degrowth« inzwischen sehr bekannt. Mackingers kleines Buch ist gut geeignet, um sich einen Überblick über mögliche radikale Widerstandsformen und den Kampf für die Umwelt zu verschaffen. ■

★ ★★ BUCH | Christof Mackinger | Radikale Ökologie | Unrast Verlag | Münster 2015 | 88 Seiten | 7,80 Euro

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Preview


PREVIEW | FILM

Was wirklich zählt Der finnische Film über einen ungewöhnlichen Weltklasse-Boxer hat schon viele Preise erhalten. Am 5. Januar kommt er auch in deutsche Kinos Von Phil Butland

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in Film in schwarzweiß übers Boxen? Kommt einem irgendwie bekannt vor. Vor bald vierzig Jahren drehte Martin Scorsese »Wie ein wilder Stier«, mit Robert de Niro als flegelhaftem, gewalttätigem Jake LaMotta – einer der Archetypen des Genres Sportfilm. Eins steht fest: Der finnische Boxer Olli Mäki (Jarkko Lahti), der im Jahr 1962 um die Weltmeisterschaft kämpfen soll, ist und wird kein Jake LaMotta. Der schüchterne gelernte Bäcker vom Dorf boxt, weil es sein Job ist. Weder die Schlägerei noch die dazugehörige Berühmtheit machen ihn glücklich. Lieber verbringt Mäki Zeit mit seiner neuer Freundin Raija (Oona Airola). »Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki« ist insofern ein außergewöhnlicher Sportfilm, als er fast keinen Sport zeigt. Im »echten Leben« gibt es tatsächlich den Boxer Olli Mäki, der 15 Jahre gekämpft hat. Im Film sehen wir aber nur einen Kampf – und dann nur wenige Minuten gegen Ende des Films. Der Rest des Films konzentriert sich auf die sorgfältige und oft langweilige Vorbereitung des Boxkampfs: lange Joggingeinheiten und Versuche, das richtige Gewicht zu erreichen (inklusive selbst herbeigeführtem Erbrechen). Selten wurde der Alltag eines Sportlers so realistisch – und so reizlos – dargestellt.

Warum also ist 17. August 1962 der glücklichste Tag in Ollis Leben? Weil er sich an diesem Tag des Titelkampfs mit Raija verlobt. Am Ende des Films versuchen sie sich Arm in Arm ihre gemeinsame Zukunft vorzustellen. Als sie ein altes Paar sehen, fragt Raija: »Denkst du, wir werden mal wie sie?« Olli fragt: »Meinst du alt?« – »Ja, und glücklich.« – »Aber sicher!« Das alte Paar spielen die echten Olli und Raija Mäki. Das soll jetzt auf keinen Fall so klingen, als wäre der Film irgendwie schmalzig. Olli ist ein Kämpfer und die wenigen Kampfszenen sind hervorragend gefilmt. Es ist nur so, dass dies nicht der wichtigste Teil von Ollis Leben ist. Der Film zeigt den Boxer als Arbeiter – er geht in den Ring, um Geld zu verdienen, damit er anderswo ein sinnvolles Leben führen kann. Ollis Geschichte hat nichts zu tun mit dem Heldenkult, dem Abfeiern von Konkurrenz und dem Nationalismus, die viele Sportfilme (und den Sport insgesamt) vergiften. Die Geschichte lebt von der eindrucksvollen Darstellung von Airola und besonders von Lahti als einfache Menschen, deren Leben plötzlich große öffentliche Bedeutung bekommen. Mäki spielt für den Medienzirkus ohne Begeisterung, aber auch ohne zu meckern – weil er ein netter Kerl ist, der versucht, es allen Recht zu machen. Allerdings war der echte Olli Mäki

nicht nur ein angenehmes Individuum – er war auch ein Kommunist, der sich geweigert hat, seine Gegner k.o. zu schlagen, weil weiterer Schaden unnötig ist. Seine fehlenden Ambitionen lagen zumindest teilweise an seinem Verständnis von Solidarität. Ollis politische Überzeugung wird zwar im Film erwähnt, aber nicht weiter vertieft. Dabei wäre es vielleicht interessant zu erfahren, inwiefern Mäkis natürliches Auftreten Ausdruck seiner politischen Überzeugung war. Regisseur Juho Kuosmanen hat sich jedoch entschieden, in seinem Debütfilm eine andere Geschichte zu erzählen, auch wenn er in Mäki einen »Held der Arbeiterklasse« sieht. Das ist sein gutes Recht – und die Geschichte, die er erzählt, stellt ohnehin wichtige Fragen über die Relevanz von Sport und die Wirkung der permanenten Konkurrenzsituation auf Sportler. »Der glücklichster Tag im Leben des Olli Mäki« ist ein Sportfilm wie kein anderer und ein würdiger Nachfolger von Scorseses Meisterwerk. ■

★ ★★ FILM | Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki | Regie: Juho Kuosmanen | Finnland, Deutschland, Schweden 2016 | Camino Filmverleih | Im Kino ab 5. Januar 2017

marx21 04/2016

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PREVIEW | Proteste gegen G20-Gipfel

Heiligendamm goes Hamburg Am 7. und 8. Juli 2017 findet der G20-Gipfel in Hamburg statt. Schon jetzt formiert sich ein breites Protestbündnis. Florian Wilde engagiert sich im Bündnis und erklärt, was passieren soll und wo man sich beteiligen kann Interview: Lisa Hofmann Florian, was erwartet uns beim G20-Gipfel? Die Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg werden die größten Gipfelproteste in Deutschland seit dem G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 werden. Das liegt zum einen am Ort: Bisher versteckten sich die Herrschenden weit abgelegen auf Inseln oder im Gebirge. Jetzt wagen sie sich mitten in eine Großstadt. Es liegt zum anderen auch an den Teilnehmern: Der neue US-Präsident Donald Trump und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan werden anreisen. Was ist das Besondere an diesem G20Gipfel? Inmitten einer tiefen Vielfachkrise des kapitalistischen Systems versuchen die globalen Eliten, sich durch ein neues, softeres Herrschaftsprojekt zu legitimieren, in das sie Teile der sogenannten Zivilgesellschaft integrieren können. Darum findet der Gipfel auch im Stadtzentrum statt. Für die Linke bietet der Gipfel die Möglichkeit, inmitten einer tiefen Systemkrise und im 100. Jahr nach der Oktoberrevolution ein weltweit wahrgenommenes Zeichen des antikapitalistischen Protestes in einer imperialistischen Metropole zu setzen – und damit zugleich von links in den Bundestagswahlkampf zu intervenieren. Gerade in einer Situation, die von einer starken Polarisierung zwischen liberaler Mitte und Rechtspopulisten geprägt ist, bietet das eine wichtige Gelegenheit, einen alternativen Pol gesellschaftlich sichtbar zu machen. In Hamburg hat sich bereits ein Bündnis formiert, das den Staats- und Regierungschefs mit Protest entgegentreten will. Wie sehen dessen Pläne aus? 82 | marx21 04/2016

FLORIAN WILDE

Das bundesweite Bündnis, das sich zurzeit formiert, ist erfreulich breit. Es reicht von entwicklungspolitischen und kirchlichen Initiativen bis hin zu antikapitalistischen Gruppen. Geplant ist ein Dreiklang der Proteste: ein Alternativgipfel, eine Großdemonstration und Gipfelblockaden im Geiste eines massenhaften zivilen Ungehorsams. Die Stadt Hamburg ist ja nicht gerade für ihren zuvorkommenden Umgang mit Protest berühmt. Was erwartet uns im Vorfeld und während des Gipfels?

Florian Wilde arbeitet als gewerkschaftspolitischer Referent in der RosaLuxemburg-Stiftung und ist im Bündnis gegen den G20-Gipfel aktiv.

★ ★★ MEHR INFORMATIONEN Infos zum Bündnis und zu den Protesten findet ihr auf http://www.g20-hamburg.mobi/.

Der Gipfel wird in den Messehallen stattfinden, direkt im Karoviertel und unmittelbar neben dem Schanzenviertel, den klassischen Hochburgen der Hamburger Linken. Vor und während des Gipfels ist mit massiven Einschränkungen der Bürgerrechte zu rechnen. Aber die Hamburgerinnen und Hamburger sind auch für ihren Widerstandsgeist und ihre robuste Demonstrationskultur bekannt. Es dürfte also spannend werden. Bis Juli ist noch etwas Zeit. Gibt es Möglichkeiten, sich schon jetzt zu beteiligen? Neben einer Teilnahme am Bündnis ist es wichtig, sich frühzeitig Gedanken über die Mobilisierung in der eigenen Stadt zu machen: Bündnispartner finden, Mobilisierungsveranstaltungen durchführen, gemeinsame Anreise organisieren. Damit der Gipfelprotest nicht als isoliertes Ereignis verpufft, sollte er mit konkreten Fragen wie Miete, Umweltschutz oder Antimilitarismus verknüpft werden. So kann er auch zur Stärkung der eigenen Strukturen genutzt werden. ■




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