marx21 Ausgabe Nummer 45 / 03-2016

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marx21 03/2016 | HERBST 2016 | 4,50 EURO | maRx21.dE

Die türkei nach dem Putsch Erdogans Spiel mit dem Feuer

60 Jahre Aufstand in Ungarn Die ausgeblendete Geschichte der Räte

magazin füR inTERnaTiOnalEn SOzialiSmUS

Griechenland

Die Syriza-Regierung stürzen?

Antisemitismus

Von der SPD im Kampf gegen Rassismus lernen

Krieg in syrien

Schlachtfeld der Imperialisten

Bundestagswahl Mit Antirassismus zum Erfolg

Us-Wahl Trumps Aufstieg und die Linke

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195906

204501

01

Österreich 4,70 eUrO schWeiZ 7,50 chF

reichtum ohne Gier? Wo Sahra Wagenknecht falsch liegt


Fotofeature | Frankreich

Indien Es soll der größte Generalstreik der Geschichte des Landes und damit möglicherweise der größte Streik in der Menschheitsgeschichte überhaupt gewesen sein: Bis zu 180 Millionen Beschäftigte beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben am Freitag, den 2. September 2016 an einem Ausstand im öffentlichen Dienst in Indien. Die Gewerkschaften hatten einen Katalog mit zwölf Forderungen aufgestellt, darunter eine Erhöhung des monatlichen Mindestlohns, eine Mindestrente, Preiskontrollen und ein Stopp der Privatisierungen. Der Ministerpräsident Narendra Modi hatte nach dem Wahlsieg seiner hindunationalistischen BJP-Partei 2014 umfangreiche Privatisierungsmaßnahmen in bisher staatlichen Unternehmen eingeleitet. © IndustriALL Global Union.


EDITORIAL | Herbst 2016

Liebe Leserinnen und Leser,

A

ngesprochen auf den Erfolg der AfD, verkündete Bundeskanzlerin Merkel: »Wir werden daran arbeiten, den Wählern ein Angebot zu machen«. Wie dieses Angebot aussieht, ist mittlerweile klar: schnellere Abschiebungen, weitere Asylrechtsverschärfungen, mehr Polizei, mehr Überwachung. Die Liste repressiver Maßnahmen ließe sich lange fortsetzen. Doch damit nicht genug: Während in Dresden Rechtsterroristen Moscheen angreifen und in Bautzen ein rassistischer Mob Geflüchtete durch die Straßen jagt, diskutiert das Land über ein »Burka-Verbot« und die Ausweisung von »Integrationsverweigerern«. Ein Jahr vor der Bundestagswahl spitzt sich die Polarisierung der Gesellschaft immer weiter zu. Auch DIE LINKE bleibt davon nicht unberührt. Wie soll sie mit dem Aufstieg der AfD umgehen? Wie kann sie den berechtigten Protest gegen die neoliberale Politik der Bundesregierung in antirassistische Bahnen lenken? Wie soll sie sich im Vorfeld der Bundestagswahl aufstellen – Lagerwahlkampf oder Fundamentalopposition? Im Titelthema ab Seite 26 analysieren wir die politische Lage in Deutschland und geben Antworten, wie DIE LINKE gewinnen kann. Doch nicht nur in Europa gerät die etablierte Politik zunehmend in Bedrängnis. Der Aufstieg Donald Trumps hat das politische Establishment der USA schockiert. Nun sammelt es sich hinter Hillary Clinton, die auch vielen Linken als das »kleinere Übel« gilt. In einem Schwerpunkt zur US-Wahl ab Seite 8 fragen wir führende Aktivistinnen und Aktivisten aus den USA, vor welchen Herausforderungen

die Linke nun steht. Außerdem analysiert Bill Crane für uns das Phänomen Donald Trump. Auch bei marx21 drehten sich trotz Sommerpause die Räder weiter: Zwischen Aktionen gegen die AfD, Anti-TTIP-Demo, Wahlkampf in Berlin und Streikkonferenz in Frankfurt war aber auch mal ein bisschen Freizeit und Erholung nötig. Die darf gerne auch unpolitisch sein, muss sie aber nicht, wie unsere marx21-Sommerakademie nun bereits zum dritten Mal bewiesen hat. Vier Tage lang zogen wir uns in die mecklenburgische Pampa zurück, um zu entspannen, aber auch um uns gemeinsam, abseits vom politischen Alltag, Theorie anzueignen. Mit den Schwerpunktthemen marxistische Staatstheorie und Migration hatten wir uns einiges vorgenommen. Trotzdem blieb auch genügend Zeit zum Abschalten. Und selbst den Genossinnen und Genossen, denen das Smartphone ansonsten angewachsen zu sein scheint, hat es gut getan, zumindest mal ein paar Tage ohne Internet und Handyempfang auszukommen. Angesichts des Wahlerfolgs der AfD in Mecklenburg-Vorpommern, kann einem aber selbst die Lust am Baden im See verloren gehen. Deshalb heißt es jetzt wieder alle Kraft in den Kampf gegen Rassismus zu stecken. Dafür wollen wir uns im Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« nun in das Projekt der Ausbildung von Stammtischkämpferinnen und Stammtischkämpfern stürzen. Worum es dabei geht und wie ihr mitmachen könnt, erfahrt ihr auf Seite 82.

IN EIGENER SACHE

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inhalt

MARX21 #45 | Herbst 2016

Titelthema: Rassismus Interview Achim Bühl über die Teile-und-Herrsche-Politik der Eliten

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US-Wahl Das Phänomen Trump

Burkaverbot Der heraufbeschworene Kulturkampf 30 Bundestagswahlen Mit Antirassismus zum Erfolg

34

Praxistipp Wie die LINKE in Neukölln ihr Ergebnis verdoppelt hat

38

Kaiserreich Was wir von der SPD im Kampf gegen Rassismus lernen können 42 Antiziganismus Mechanismen des Rassismus gegen Sinti und Roma

76

Aktivismus Den Stammtisch erobern

82

Inland Kommentar Wie weiter im Kampf gegen TTIP und CETA

25

Streiks Die Rückkehr der Arbeitskämpfe nach Deutschland?

66

Digitalisierung Ein Buch untersucht die »schöpferische Zerstörung der Tageszeitung«

79

Internationales

marx21.de

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marx21 03/2016

Beyond Bernie Aktivisten über die Herausforderungen für die Linke in den USA

08

US-Wahl Das Phänomen Trump

12

Türkei Erdogans Spiel mit dem Feuer

16

Syrien Warum Washington und Moskau den Krieg weiter anheizen

20

Russland Weshalb der Erfolg Putins kein Ausdruck von Stabilität ist

24

Polen Die Pro-Choice-Bewegung gewinnt Zulauf

47

Griechenland Ein Aktivist erklärt, wie Geflüchtete den sozialen Protest stärken

48

Großbritannien Wie sich die Linke nach dem Brexit aufstellt

51

Österreich FPÖ: Anatomie einer lang unterschätzten Partei

54

20

Syrien Warum Washington und Moskau den Krieg weiter anheizen


48 16

Griechenland Ein Aktivist erklärt, wie Geflüchtete den sozialen Protest stärken

Geschichte

Türkei Erdogans Spiel mit dem Feuer

Ungarn 1956 Die ausgeblendete Geschichte der Räte

58

Kommunistisches Amerika Zwischen freier Liebe und strikter Arbeitsethik

73

Kolonialismus Ausstellung über ein verdrängtes Kapitel deutscher Geschichte

81

Theorie Reichtum ohne Gier? Wie sich Sahra Wagenknecht vor den wichtigen Fragen drückt 63 Umweltbewegung Eine Biografie widmet sich der Pionierin Rachel Carson 78 Kultur

68

Jim Jarmusch Der Altmeister fesselt mit Themen, die niemanden interessieren

68

Album des Monats Hamburger Rapperin Haiyti gewährt kurzen Blick durchs Schlüsselloch

74

»Havarie« Merle Krügers Roman beschreibt die Flucht übers Mittelmeer

75

Guerilla-Roman Die Prosa des kurdischen Widerstands

77

Rubriken

Jim Jarmusch Der Altmeister fesselt mit Themen, die niemanden interessieren

58

Ungarn 1956 Die ausgeblendete Geschichte der Räte

30

Burkaverbot Der heraufbeschworene Kulturkampf

Editorial Impressum Betriebsversammlung Briefe an die Redaktion marx21 Online Weltweiter Widerstand Review Preview

03 06 06 07 23 46 72 80

marx21 03/2016

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IMpressum | Herbst 2016

marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 10. Jahrgang, Heft 45 Nr. 3, Herbst 2016 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Print & Online Yaak Pabst (leitender Redakteur/V.i.S.d.P.), Martin Haller (stellv.), Clara Dirksen, David Jeikowski, Jan Maas, Boris Marlow, Estela García Priego (Praktikantin) Lektorat Clara Dirksen, David Paenson, Christoph Timann Übersetzungen David Maienreis, David Paenson, Anton Thun Layout Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara, Carsten Schmidt Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat Stefan Bornost, Christine Buchholz, Michael Ferschke, Werner Halbauer, Christoph Hoffmeier, Rhonda Koch, Sven Kühn, Julia Meier, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Fanni Stolz, Oskar Stolz, Ben Stotz, Anton Thun, Heinz Willemsen, Luigi Wolf Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint viermal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 68 23 14 90 Fax: 030 – 68 22 97 35 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint Anfang Dezember 2016 (Redaktionsschluss: 15.11.)

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marx21 03/2016

Estela Garcia Priego, Praktikantin

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as Wichtigste ist, ein besseres Leben für alle zu schaffen«, sagt Estela mit großer Selbstverständlichkeit. Dann führt sie weiter aus: Es geht nicht nur um den Kampf gegen materielle und soziale Ungleichheit, sondern auch darum, neue Formen des Zusammenlebens zu finden, die auf Solidarität und Zusammenarbeit statt auf Konkurrenz basieren. Welche Macht Menschen entfalten können, wenn sie ihre Vereinzelung überwinden, erlebt Estela zum ersten Mal im Jahr 2011, als sie ihre Heimatstadt Madrid besucht. Plötzlich findet sie sich mitten in der Bewegung 15M, die sich gegen die herrschenden Verhältnisse auflehnt. Zurück in Berlin, wo die studierte Geigerin seit 2008 lebt, verfolgt sie gespannt, welche Veränderungen die Bewegung in Spanien erkämpft. Als sich die Partei Podemos gründet, ist Estela von Anfang an dabei. Und so wie ihr geht es vielen: »Unabhängig davon, was wir jetzt oder in der Zukunft im Parlament und in den Institutionen machen können, war Podemos ein sehr wichtiges Werkzeug, Leute zu politisieren, die nie zuvor in Parteien, sozialen Bewegungen oder Gewerkschaften aktiv waren«. Zum Magazin marx21 kam sie wegen ihres Zweitstudiums der Sozialwissenschaften. Das ergibt für Estela nur Sinn, wenn sie damit dazu beitragen kann, die Welt zu verändern – zum Beispiel durch journalistische Arbeit. Mit dieser Einstellung ist sie in unserer Redaktion natürlich genau richtig. Dabei profitiert auch das Magazin von ihren vielseitigen Begabungen: Estela recherchiert nicht nur und schreibt Artikel, sondern bringt für uns auch ihren künstlerisch geschulten Blick bei der Bebilderung zum Einsatz.

Das Nächste Mal: Christoph Timann


Briefe an die Redaktion | Herbst 2016

Briefe an die Redaktion

Zum Artikel »SPD: Eine bürgerliche Arbeiterpartei?« von Stefan Bornost (Heft 2/2016) Der Artikel über die SPD ist gut recherchiert. Er endet mit der Empfehlung, von einem reinen Beschimpfungskurs gegenüber der Sozialdemokratie abzukehren. Dies würde Führung und Basis der SPD enger zusammenschweißen. Aber was sonst als heftige Kritik soll man an dieser SPD äußern? Was soll man tun, wenn der berühmt berüchtigte wirtschaftsnahe Seeheimer Kreis die Machtpositionen in dieser Partei besetzt? Soll man die Bürger nicht davor warnen, dass diese SPD nur das kleinere Übel im Kapitalismus ist? Sollte man nicht deutlich sagen, die SPD ist mehrheitlich eine reine kapitalistische Partei? Sie vertritt die Interessen des Kapitals und nicht die des Proletariats! Sollte man nicht DIE LINKE davor warnen, sich dieser mehrheitlich kapitalistischen Partei politisch zu nähern oder gar mit ihr zu koalieren? Eine Linke, die aus der Vergangenheit dieser SPD gelernt hat, wird vorbereitet sein und ihr kritisch gegenüberstehen. Werner Bischoff, Reinheim

Zum Artikel »Die Wurzeln der Islamfeindlichkeit in Frankreich« von Nick Riemer (marx21.de, 01.09.2016) marx21 hat sich hier selbst total disqualifiziert. Faschismus und Rassismus von muslimischer Seite wird nicht nur ignoriert, sondern man nimmt solche Organisationen auch noch in Schutz. Erst kürzlich wieder die DITIB. Davor hattet ihr bereits Polizeirazzias gegen die salafistischen Organisationen »Die Wahre Religion« und »Milliatu Ibrahim« als »Polizeiaktion gegen Muslime« bezeichnet und allgemein Salafisten als arme, diskriminierte Opfer dargestellt. Younes Zhour, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Ernst Thälmann: Der Politiker hinter dem Mythos« von Marcel Bois (marx21.de, 19.08.2016) Wer hat den Text geschrieben? Ein Antideutscher? Natürlich sind die Sozialdemokraten auch Faschisten, wenn sie ihre ursprüngliche Ideologie als eine internationale Arbeiterpartei aufgeben und Kriegskredite für den deutschen Imperialismus absegnen. Letzten Endes ist auch die SPD für ein kapitalistisches System und Friedrich Ebert war verantwortlich für den Tod von Liebknecht und Co. Von der Zusammenarbeit mit den alten rechten Eliten des Kaiserreichs will ich erst gar nicht reden. Und auch heute ist die SPD nicht mehr als der linke Flügel der CDU. Johnson Guerillero Loco, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Der falsche Säkularismus« von Ian Birchall (marx21.de, 18.08.2016) In einer so sexualisierten Gesellschaft wie der unseren denkt der europäische Mann, er hätte ein Recht auf nackte Titten. Das nennen wir dann gerne europäische Leitkultur. Enno Drewes, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Die Grenzen des Kapitalismus« von Martin Haller (marx21.de, 09.08.2016) Dieser Text trägt meines Erachtens zur Diskussion über die realen Problemlagen und die Bedeutung des (National)staats wenig bei. Der Knackpunkt ist, dass der Staat und sein Territorium eben auch das Feld sind, auf dem die arbeitenden Klassen ihre demokratischen und sozialen Errungenschaften durchgesetzt haben und in dem so etwas wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und bürgerliche Freiheiten und Sozialstaat und soziale Rechte existieren. Der reale kapitalistische Staat ist sicherlich »ideeller Gesamtkapitalist« (Engels) und Interessenvertretung der mächtigsten Kapitalfraktionen, insbesondere in der internationalen Politik. Aber er ist in seiner konkreten Ausformung auch das Ergebnis historischer Klassenauseinandersetzungen und Entwicklungen und so »materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse« (Poulantzas). So unperfekt und kapitalistisch deformiert das auch sein mag, für die Lebensbedingungen und Interessen der lohnabhängigen Klassen und der sozial Benachteiligten ist das von zentraler Bedeutung. Ihre Kämpfe spielen sich hier und heute ab und gehen um diese aktuellen Lebensbedingungen und Interessen. Diese

sind nun mal eng mit dem Staat verbunden. Die Bildung von moderner territorialer Staatlichkeit und von Konzepten der Staatsbürgerschaft sind sicherlich mit dem Kapitalismus verbunden, aber eben auch in dem Sinne, dass sich zivilisatorische Fortschritte durchgesetzt haben. Darauf hat gerade Marx immer wieder hingewiesen. Staatsbürgerschaft bedeutet, dass auch die Angehörigen der unterdrückten Klassen Rechte haben, selbst gegenüber den Herrschenden und dem Staat, während sie vorher weitgehend rechtlos und deren Willkür ausgesetzt waren. Das sind zivilisatorische Errungenschaften der bürgerlichen Epoche, die Linke verteidigen müssen. Es geht darum, diese Rechte auszuweiten – auch für Zugewanderte. Aber es ist auch klar, dass sie nur auf dem jeweiligen Territorium durchgesetzt werden können (wenn man wie die USA den Anspruch vertritt, sie sollten weltweit gelten, läuft das auf übelsten Imperialismus hinaus) und dass sie nur für diejenigen gelten, die dort leben oder ihre Verankerung haben. Den Menschen, die wir für linke Politik gewinnen wollen, sind ihre Lebensbedingungen und vom Sozialstaat gesicherten Rechte jedenfalls wichtig. Es ist Aufgabe der Linken, diese Interessen ernst zu nehmen und den Leuten nicht erklären zu wollen, sie hätten den Kapitalismus und die reaktionäre Funktion von Grenzen noch nicht verstanden (womit ich das nicht als Sinn des Textes unterstellen will, aber er könnte so verstanden werden). Der einzige Effekt einer solchen Herangehensweise wäre die Isolierung der Linken von der realen lohnabhängigen Klasse. Zugespitzt gesagt: Damit triebe man die Leute den Rechten geradezu in die Arme. Ralf Krämer, auf unserer Facebook-Seite

Zum Cover der letzten Ausgabe (Heft 2/2016) Die AfD wurde als Gefahr für den inneren Frieden gesehen in Deutschland, in Wahrheit jedoch zerlegt sich diese Partei unverkennbar von selbst. Der innere Frieden ist vielmehr von jenen Kräften gefährdet, die das Zusammenleben von Kulturen durch die rosarote Brille sehen und Warnungen aus verschiedensten Richtungen in den Wind schlagen. Gary Rann, per E-Mail

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

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US-Wahl | Wie weiter für die Linke?

Die Präsidentschaftskampagne von Bernie Sanders endete mit dem Aufruf, Hilary Clinton zu unterstützen. Trotzdem hat sie einen bleibenden Effekt auf Millionen, die durch sein offenes Eintreten für Sozialismus elektrisiert wurden. Wir fragten führende Aktivistinnen und Aktivisten in den USA, vor welchen Herausforderungen die Linke nun steht

KeeangaYamahtta Taylor

Keeanga-Yamahtta Taylor, International Socialist Organisation, Professorin für African-American Studies an der Princeton University und Autorin des Buches »From #BlackLivesMatter to Black Liberation«.

it jeder weiteren Woche erreicht Donald Trumps Kampagne ein neues Tief und die Koalition des liberalen Establishments für Hillary Clinton wird immer stabiler. Natürlich ist eine mögliche Wahl Trumps eine beängstigende Perspektive, die wir unermüdlich bekämpfen sollten, aber der überwältigende Fokus in der öffentlichen Debatte auf seine Person birgt die Gefahr, dass Clinton einen Blankoscheck als Präsidentin bekommt. Noch problematischer als Clintons Umgarnen von Republikanern, die Trumps sinkendes Schiff verlassen, ist,

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wie sie die Krise innerhalb des republikanischen Parteiapparats nutzt, um die Linke zu disziplinieren und zu passiven Komplizen ihres kraftlosen und in Teilen reaktionären politischen Programms zu machen. Der Zwang, Trump aus dem Präsidentenamt zu halten, wird missbraucht, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, die eigentlich scharfe Kritik an Clintons neoliberaler Agenda haben. Dieses Problem besteht nicht nur während des Wahlkampfs. Die Passivität wird sich, wenn Clinton gewinnt, direkt auf ihre Präsidentschaft übertragen. Die Führung der Demokraten wird schnell die Aufmerksamkeit auf die Zwischenwahlen des Kongresses legen und vor dem Entstehen einer neuen Garde republikanischer Schreckgespenster waren – quasi als Erinnerung daran, dass, welche Mängel Clinton auch immer haben mag, wir uns erneut hinter ihrer leidenschaftslosen Kampagne sammeln müssen, um das »größere Übel« zu verhindern. Die entscheidende Aufgabe, soziale Bewegungen und Kämpfe aufzu-

bauen, würde dadurch in den Hintergrund geraten. Stattdessen würden wir daran arbeiten, Demokraten in Ämter zu bringen, weil es sich ja wie immer um die »wichtigsten Wahlen unseres Lebens« handelt. Das ist ein Teufelskreis, der die Linke lähmt und daran hindert unabhängige Organisationen und Parteien aufzubauen, welche die Hochs und Tiefs der Wahlperioden überdauern können. Zu oft beschränken sich unsere Politikkonzepte auf die Frage, welcher politische Kandidat den geringsten Schaden bedeuten würde, während die eigentliche Frage lautet, wie wir uns von diesem System befreien können. Das bedeutet nicht, dass Wahlen unwichtig sind, aber wir sollten ihren Einfluss auch nicht überschätzen. Der Grund, warum die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner nicht wählen, ist, dass dies nahezu keinerlei Einfluss auf ihr alltägliches Leben hat. Millionen Menschen in diesem Land leben bereits heute in jener alptraumhaften Welt, von der wir erzählt bekommen, sie würde über uns hereinbrechen, wenn Trump

Präsident würde. Schon heute leben Millionen in Armut, schinden sich in unterbezahlten Dienstleistungsjobs, können sich keine Krankenversicherung leisten, erleiden die Erniedrigung von Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit, leben in Angst vor Misshandlungen durch die Polizei. Die Aufgabe für die Linke ist der Aufbau von Bewegungen und Kämpfen gegen den Polizeiterror, für die Rechte von Arbeiterinnen und Migranten, für Bildungsgerechtigkeit und vieles mehr. Diese Bewegungen müssen nicht nur gestärkt und ausgeweitet, sondern miteinander in Verbindung gebracht werden, um zu zeigen, wie diese Probleme sich überschneiden und gegenseitig beeinflussen.


US-Wahl | Wie weiter für die Linke?

Bhaskar Sunkara

Politik als unabhängige Klassenorganisation. Ich meine, es gibt eine reale Möglichkeit – insbesondere auf lokaler Ebene in Städten wie New York und Chicago – die Demokraten herauszufordern. Und hier müssen wir die Vorstellung offensiv zurückweisen, dass die Demokratische Partei nicht in irgendeiner Art und Weise transformiert werden könnte. Zu Recht hinterfragen wir oft jene Versuche, die Demokraten auf nationaler Ebene von innen heraus zu verändern. Auch kritisieren wir richtigerweise Sanders' Unterstützung für Hillary Clinton. Aber ich denke, wir sollten unsere Anstrengungen darauf fokussieren, auf lokaler Ebene unabhängige politische Initiativen und Kampagnen zu organisieren. Denn wir haben tatsächlich an vielen Orten realistische Chancen, Kampagnen für Stadträte oder Staatssenatoren Erfolg zu gestalten – und so die Demokratische Partei unter Druck zu setzen.

ch habe Bernie Sanders von Beginn an unterstützt, weil ich davon überzeugt bin, dass ein Kandidat, der sich selbst als demokratischer Sozialist beschreibt und ein sozialdemokratisches Reformprogramm propagiert, einen neuen politischen Raum und neue Möglichkeiten für die Linke eröffnen kann. Ich bin der Meinung, dass dies erreicht wurde. Zum einen haben wir gezeigt, dass es langfristig eine reale Mehrheit für unsere Politik gibt und bereits auf kurze Sicht eine Mehrheit für ein sozialdemokratisches Programm. Zum anderen hat sich gezeigt, dass es innerhalb der Demokratischen Partei einen Bruch zwischen dem Establishment und der Parteibasis gibt – insbesondere den jungen Menschen, die Sanders unterstützten. Es ist offensichtlich, dass viele der offenen Wunden innerhalb der Partei geheilt werden, einerseits durch den unerbittlichen Drang, Clinton als das »kleinere Übel« zu unterstützen, andererseits wegen der Panikmache vor einer möglichen Präsidentschaft Trumps. Dennoch denke ich, dass sich die Dinge in eine Richtung verschoben haben, die linken Kritikerinnen und Kritikern Clintons eine gewisse Basis innerhalb der Demokratischen Partei verschafft. Diese Basis ist unser zukünftiges Potenzial für jegliche Art von linker Politik

© DonkeyHotey / flickr.com / CC BY

Bhaskar Sunkara, Buchautor und Herausgeber des Magazins »Jacobin«..

Die Präsidentschaftskampagne des 75-jährigen Bernie Sanders hat gezeigt, dass es gerade unter jungen Menschen in den USA eine Mehrheit für ein sozialdemokratisches Programm gibt in den USA. Wenn man dies verbindet mit den Entwicklungen sozialer Bewegungen wie »Black Lives Matter« und anderen Aktivitäten wie den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, ergibt sich ein ermutigendes Bild. Daher denke ich, dass die Aussichten eine linke und sozialistische Opposition in den USA aufzubauen, heute wesentlich besser sind als noch vor einem Jahr. Der Erfolg, Millionen mit der Sanders-Kampagne mo-

tiviert und mobilisiert zu haben, wird sich nicht unmittelbar darin niederschlagen, all diese Leute für die Linke und die diversen außerparlamentarischen Kämpfe zu gewinnen. Aber die Linke hat nun die Möglichkeit, mit ihnen in den nächsten Jahren zu arbeiten und sie zu überzeugen. Wir müssen zu all diesen Menschen in Beziehung treten, während wir gleichzeitig unsere Vision von Politik aufrechterhalten müssen:

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Howie Hawkins

Howie Hawkins, Mitglied der Green Party und ehemaliger Gouverneurskandidat in New York.

ie Sanders-Kampagne hat auf zweierlei Weise gezeigt, dass die sozialistische Linke eine unabhängige Massenpartei aufbauen kann. Erstens belegt die große Zustimmung für Sanders, dass progressive Sozial- und Wirtschaftspolitik massenhafte Unterstützung finden kann. Zweitens haben die zweieinhalb Millionen Spenderinnen und Spender, die mit kleinen Beiträgen 230 Millionen US-Dollar für die Sanders-Kampagne gesammelt haben, verdeutlicht, dass gewöhnliche Menschen eine politische Bewegung für progressive Veränderungen in einem ausreichenden Ausmaß finanzieren können, um mit den konzernfinanzierten Kandidatinnen und Kandidaten des Zweiparteiensystems zu konkurrieren. Die Demokratische Partei ist ein Friedhof für Sanders' Forderungen. Sie ist nicht nur in ideologischer Hinsicht eine kapitalistische Partei, sondern auch strukturell. Die wirkliche Machtstruktur der Demokratischen Partei ist eine Koalition von Kandidaten aus dem Unternehmerlager und ihren Kampagnenorganisatoren, die um Spenden von Konzernen und Reichen konkurrieren. Diese Kampagnenorganisatoren haben die wirkliche Macht, nicht die Parteikomitees und -plattformen. Demokratische Kandidaten und Politiker sind in erster Linie ihren Investoren gegenüber

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verantwortlich, nicht den Parteistrukturen. Wenn die Unterstützerinnen und Unterstützer von Sanders diesen Sumpf betreten, werden sie ihre eigene Identität als Kämpferinnen und Kämpfer für eine Systemalternative verlieren. Der andere Sumpf, den es zu vermeiden gilt, ist ein Rückzug auf einzelne Bewegungen, die lediglich versuchen Druck aufzubauen, anstatt die Politikerinnen und Politiker des neoliberalen Zweiparteiensystems selbst zu ersetzen. Die Sanders-Kampagne hat gezeigt, dass eine Massenbasis für eine andere Politik existiert – nämlich für eine Partei mit Massenmitgliedschaft, in der Kandidatinnen und Kandidaten verantwortlich gegenüber der Mitgliedschaft und der Plattform sind, der sie angehören, und nicht den Geldgebern aus den Konzernen. Solch eine Partei kann in Bewegungen mitwirken oder sie sogar initiieren und für weitreichende Reformen kämpfen. Sowohl die Republikaner als auch die Demokraten sind nach dem alten Top-Down-Modell organisiert, welches den Konzerneliten in die Hände spielt. Es ist Zeit, hiergegen eine demokratische Massenpartei zu organisieren. Der nächste Schritt um eine solche Partei aufzubauen, ist die Unterstützung der Präsidentschaftskampagne der Green Party von Jill Stein und Ajamu Baraka. Das ist auch der nächste Schritt für die Anhängerinnen und Anhänger von Sanders, die dessen »politische Revolution« fortsetzen wollen. Die Kampagne der Green Party erfüllt die bedeutende Rolle einer dritten Partei in der US-Politik, welche die Bedürfnisse der Massen auf die politische Agenda setzt, die von den beiden

© Communications Workers of America

US-Wahl | Wie weiter für die Linke?

Streik beim US-Telefonriesen Verizon: Im Frühjahr legen zehntausende Beschäftigte die Arbeit nieder, um sich gegen geplante Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zu wehren. Damit treten sie einen der größten Arbeitskämpfe der vergangenen Jahre in den USA los anderen Parteien ignoriert werden. Die Stein-BarakaKampagne sorgt dafür, dass die innenpolitischen Forderungen von Sanders weiterhin eine Rolle in der nationalen Debatte spielen und erweitert sie um ein entscheidendes fehlendes Element: eine antiimperialistische Außenpolitik. Die meisten Wahlbezirke in den USA sind Einparteienbezirke, da sowohl Demokraten als auch Republikaner die Grenzen der Bezirke so zuschneiden, dass ihnen die absolute Mehrheit sicher ist. Die jeweils schwächere Partei tritt in diesen Bezirken oft nicht ernsthaft an, wenn sie es überhaupt tut. Eine dritte, linke Partei kann daher mit

einem relativ kleinen Kern von Aktivistinnen und Aktivisten schnell die zweitstärkste lokale politische Kraft werden. Als wichtigste Oppositionskraft kann sie in diesen Bezirken die politische Debatte prägen und dazu beitragen, lokale Bewegungen und Parteistrukturen aufzubauen.


US-Wahl | Wie weiter für die Linke?

Amy Muldoon

Amy Muldoon, Mitglied der Communications Workers of America und Vertrauensfrau beim Telekommunikationskonzern Verizon in New York.

er Streik von 39.000 Beschäftigten bei Verizon im April und Mai dieses Jahres bekam einen großen Aufschwung durch die Aufmerksamkeit, die ihm Bernie Sanders in seiner Präsidentschaftskampagne entgegenbrachte. Aber der Streik trug im Gegenzug

auch dazu bei, ein entscheidendes Element in die Diskussion über Sozialismus einzubringen, die durch Sanders' Kampagne ausgelöst wurde: den Klassenkampf. Der Sanders-Wahlkampf hat die progressive Rolle gezeigt, die Regierungspolitik dabei spielen könnte, die Macht der Konzerne zu beschneiden und die Wohlstandskluft zu schließen. Aber unser Streik hat verdeutlicht, wie gewöhnliche Menschen die Angriffe der Bosse auf unseren Lebensstandard stoppen können. Seit dem Streik hatte ich Gelegenheit, vor verschiedenem Menschen darüber zu sprechen, wie wir die Auseinandersetzung gewinnen konnten. Dabei ist mir das große

Interesse an gewerkschaftlicher Klassenpolitik aufgefallen, insbesondere unter jungen Menschen, die auch den Kern der Anhängerschaft von Sanders ausmachen. Jedoch haben sie, die heute beginnen politisch aktiv zu werden, nicht mehr die Erfahrung von Streiks und Klassenauseinandersetzungen wie noch die Generationen vor ihnen. Leider erleben wir keine Welle von Nachahmerstreiks, welche die Diskussion über Klassenmacht vorantreiben könnten. Ich glaube nicht, dass die Radikalisierung, welche die Sanders-Kampagne angetrieben hat, sich in Luft auflösen wird, aber sie könnte in viele verschiedene Richtungen gehen. Innerhalb der Arbeiterbewegung ist auf Ebene der nationalen Führungen die bedingungslose Loyalität zur Demokratischen Partei so groß wie immer. Meine Gewerkschaft, die Communications Workers of America, war wahrscheinlich die größte Arbeiterorganisation, die Sanders unterstützt hat. Es gab bei uns großen Rückhalt für Sanders, teilweise wurde er enthusiastisch gefeiert. Das Gefühl, dass endlich jemand über Klassenpolitik spricht und tatsächlich bereit ist, den Weg der Auseinandersetzung zu gehen, hat der Nominierungskampagne große Aufmerksamkeit beschert. Nachdem Clinton die Nominierung gewonnen hatte, waren viele über die Entscheidung der Gewerkschaftsführungen frustriert, nun Clinton zu unterstützen. Clinton ist schon vor der Wahl extrem unbeliebt. Angesichts dessen bezweifele ich, dass sie irgendeine Art Schonzeit bekommen wird. Unser Streik und die Sanders-Kampagne haben die Erwartungen der Menschen erhöht. Den Geist,

den sie geweckt haben, wird man nicht so einfach wieder in die Flasche bannen können. Der Nominierungsprozess mag den großen Optimismus, den die Sanders-Kampagne ausstrahlte, geschwächt haben, aber gleichzeitig hat er den Zorn und die Klarheit unter einem Teil von Bernies Anhängern geschärft. In den lokalen Gewerkschaftsführungen hat es in den letzten fünf Jahren eine Welle von Veränderungen gegeben, doch noch haben die Demokraten die Hegemonie, sogar unter den progressiven Reformern. Wenn Clinton gewinnt, erwartet sie keine einfache Amtszeit. Die Frage ist, ob die Gewerkschaften bei den kommenden Protesten abseits stehen werden oder diese unterstützen. Die gestiegenen Erwartungen können zu wirklichen Veränderungen führen, wenn die Linke es schafft, die Erfahrungen von Auseinandersetzungen, wie dem Streik bei Verizon, für ein möglichst breites Publikum zu verallgemeinern.

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US-Wahl | Trumps Aufstieg

Das Phänomen Trump Von Bill Crane

Der Präsidentschaftskandidaten der Republikaner stellt eine Gefahr dar. Doch seine politische Strategie ist alles andere als neu – und die Lage in den USA längst nicht so aussichtslos, wie es scheinen mag

© Thomas Hawk / flickr.com / CC BY-NC

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onald Trumps Wahlkampf hat das politische Establishment schockiert. Die Republikaner, traditionell die Partei des USKapitals, müssen einen Präsidentschaftskandidaten ertragen, der regelmäßig über ihre Führung herzieht und wichtige Parteimitglieder als keine »echten Konservativen« heruntermacht. Der Öffentlichkeit ist der Milliardär bekannt als Star seiner langjährigen Fernsehserie »The Apprentice«, in der er in jeder Folge einen Jobbewerber »durchfallen« ließ. Weltweit hat er vor allem für Aufmerksamkeit gesorgt, weil er fordert, Geflüchteten aus dem Nahen Osten die Einreise in die USA zu verwehren, die Grenze zu Mexiko mit einer Mauer zu verstärken, um vermeintliche Drogenhändler und Vergewaltiger aus dem Land zu halten,

und weil er immer wieder krude frauenfeindliche Bemerkungen zu Protokoll gibt. Und wie stehen wir Linken zu Trump? Sein hysterischer Rassismus gegen Geflüchtete aus dem arabischen Raum und gegen lateinamerikanische Zuwanderer brachten viele, nicht nur auf der Linken, sondern aus dem ganzen politischen Spektrum – seine eigene Partei eingeschlossen – dazu, ihn als »Faschisten« zu bezeichnen. Denn er stehe für eine wachsende extrem rechte Bewegung, die mit unmittelbarer Gewalt gegen Unterdrückte und jegliche fortschrittliche Bewegung drohe. Auf der anderen Seite haben Trumps hinlänglich bekannter Opportunismus, wenn es um Rassismus geht, ebenso wie seine Offenheit für protektionistische Positionen, die auch Gewerkschaften vertreten, manche


US-Wahl | Trumps Aufstieg

Immobilien-Tycoon und US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump: Nicht wenige sehen in ihm einen Faschisten. Aber wie gefährlich ist er tatsächlich und was steckt hinter seinem Erfolg?

auf der Linken argumentieren lassen, dass er keine so große Bedrohung darstelle, wie es zunächst erscheine. Trumps politischer Schlingerkurs stellt eine Art des Rechtspopulismus dar, die in der Geschichte der USA schon früher üblen Rassismus mit Kritik an der »Elite« verbunden hat. Trump ist eine reale Bedrohung. Aber diese muss im Kontext der US-amerikanischen Politik und ihrer historischen Vorläufer verstanden werden. Trump schwimmt nicht auf derselben Welle der »Anti-Politik« wie sie in den Platzbesetzungen in Südeuropa, Occupy in den USA oder Parteien wie Podemos in Spanien, aber auch in rechten Parteien wie der UK Independence Party und Beppe Grillos Bewegung der Fünf Sterne in Italien zum

Ausdruck kommt. Alle diese Bewegungen stützen sich auf die weit verbreitete Ablehnung des etablierten Politikapparats und haben es so in manchen Fällen geschafft, selbst in politische Ämter gewählt zu werden. Unzufriedenheit mit dem repräsentativen politischen System ist zwar ein Grund für Trumps Erfolg. Er verurteilte die Kriege in Afghanistan und im Irak mit der Begründung, dass dafür Milliarden ausgegeben wurden, die besser in die Wirtschaft und Infrastruktur der USA investiert worden wären. Bis vor kurzem unterstützte er das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, stellte sich gegen die Mehrheit in der Republikanischen Partei gegen Freihandelsabkommen und vieles mehr. Aber Trumps Wahlkampf deswegen als »Anti-Politik« zu verstehen

Bill Crane ist Anthropologe und Mitglied von Revolutionary Socialism in the 21st Century.

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US-Wahl | Trumps Aufstieg

tisch motivierten Bewegung, die letztlich eine Legalisierung von Lynchjustiz forderte. Diese Phase prägte seine späteren politischen Aktivitäten. Vor nur fünf Jahren führte Trump die »Birther«-Kampagne an, die sich dafür einsetzte, dass nur in den USA Geborene Präsident werden können. Er zweifelte Barack Obamas US-Staatsangehörigkeit an und behauptete,

und zu meinen, die Unterstützung für ihn speise sich aus einer progressiven Ablehnung des Status quo statt aus fremdenfeindlicher und rassistischer Reaktion, wäre falsch. Trump spricht vielen aus der Seele, die vom bestehenden politischen System frustriert sind. Aber eine solche Stimmung ist nicht notwendigerweise progressiv. Im Gegenteil: Sie kann auch

© Ken Shin / flickr.com / CC BY-NC-SA

Trump ist kein Faschist

© Stephen Melkisethian / flickr.com / CC BY-NC-ND

Oben: Gegenproteste bei einer Rally von Donald Trump in Orange County im April 2016: In zahlreichen Städten, in denen Trump auftritt, kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen seinen Gegnern und Anhängern Unten: »Dump Trump« (deutsch: »Trump auf den Müll«): Aktivistinnen protestieren vor dem verschlossenen Lafayette Park in Washington D.C. gegen einen dort stattfindenden Aufmarsch von Trump-Anhängern

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eng mit reaktionären und rassistischen Traditionen verbunden sein, die immer knapp unter der Oberfläche der US-amerikanischen Politik schwelen. Zu glauben, dass Trump ein »anti-politischer« Kandidat sei, dessen Rassismus im Dienste seines Aufbegehrens gegen das Establishment steht, hieße, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Wie Trump selbst immer wieder erklärt hat, steigen seine Zustimmungswerte regelmäßig nach besonders krassen rassistischen Äußerungen. Das sind keine Abweichungen. Zu Beginn seiner Immobilienkarriere in den 1990er Jahren freundete Trump sich mit verschiedenen Wortführern des Neoliberalismus in der Demokratischen Partei an und übernahm viele ihrer liberalen Positionen. Doch sein politischer und geschäftlicher Mentor war der konservative Rechtsanwalt Roy Cohn, einst enger Vertrauter des berüchtigten Präsidenten Joseph McCarthy. In den späten 1980er Jahren ließ Trump Zeitungsanzeigen schalten, die für die Todesstrafe warben, und setzte sich an die Spitze einer rassis-

dieser dürfe das Amt des Staatsoberhaupts gar nicht innehaben. Trump investierte einen Großteil seines politischen Kapitals in diese Kampagne, bis Obama dem Druck schließlich nachgab und seine Geburtsurkunde öffentlich vorlegte. Seit dem Jahr 2000 nutzt Trump den stärker und radikaler werdenden Nativismus (eine Ideologie, die Vorrechte für in den USA Geborene fordert) des rechten Flügels der Republikaner aus, um sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu manövrieren. Dennoch ist es ihm, anders als anderen Kandidaten seiner Partei, gelungen, sich als glaubwürdiger Opponent der politischen Klasse zu profilieren. Es kann kaum überraschen, dass in den USA, einer Nation, die auf der Versklavung Schwarzer und der gewalttätigen Enteignung der einheimischen Bevölkerung begründet ist, Rassismus im politischen Leben immer wieder eine Rolle spielt. Das Land wurde aber eben auch als Republik gegründet, also als Gemeinschaft, die die politischen Rechte und Freiheiten einer bestimmten Gruppe, nämliche weißer Männer, zur ihrer Grundlage erklärt. Rassismus kann in diesem Kontext ohne weiteres mit Aufbegehren gegen die »Eliten« und mit radikalen demokratischen Ansätzen gekoppelt werden. Diese unselige Verbindung lässt sich bis zum Wahlkampf des Präsidenten Andrew Jackson in den 1820er Jahren zurückverfolgen. Jackson zog gegen eine vermeintliche politisch-wirtschaftliche Aristokratie zu Felde und forderte zugleich, aggressiver Land von den Ureinwohnern zu erobern. Weiter ging es mit der »Know-Nothing«(Nichtwisser-) oder American Party, die ebenso auf Hass gegen Immigranten wie auf die politische Klasse gründete. Der rechte Populismus setzte sich fort in Übergriffen gegen chinesische Einwanderer in den 1890er und 1920er Jahren, wiederkehrenden Wellen des Ku-Klux-Klan-Mördertums, der rechtsradikalen John Birch Society mit ihren Verschwörungstheorien, dem Präsidentschaftswahlkampf des


US-Wahl | Trumps Aufstieg

Die Republikaner haben viele Jahre lang das Feld bestellt, das Trump nun aberntet. Nichtsdestotrotz unterscheidet er sich deutlich vom Stammpersonal der Partei. Obwohl Trump selbst Teil der herrschenden Klasse ist, repräsentiert er doch keinen Flügel des US-Kapitals. Kein Mitglied der herrschenden Klasse will ihn im Weißen Haus sehen. Trumps Größenwahn und sein Opportunismus und Wankelmut in wesentlichen Fragen wie dem Freihandel bedeuten, dass seine Präsidentschaft für sie in einem Desaster enden könnte. Erst die Krise des politischen Establishments und besonders der Republikaner hat für einen mögliche Sieg Trumps den Weg geebnet. Deshalb stellt sein Aufstieg einen Wendepunkt in der amerikanischen Politik dar, der die Rolle der Republikaner als führende politische Kraft des US-Kapitals in Frage zu stellen beginnt. Sollte Trump die Wahl gewinnen, würde sein antagonistisches Verhältnis zur Führung der Republikanischen Partei wahrscheinlich dazu führen, dass er nach nur einer Amtszeit abtreten müsste. Die Partei wäre zu diesem Zeitpunkt in den Augen der herrschenden Klasse der USA und aller anderen wahrscheinlich ernsthaft diskreditiert. Seine Wahl würde andererseits auch die revanchistische Rechte stärken und zu einem Anwachsen der Angriffe auf Hispanics, Muslimas und Muslime und Schwarze führen. Von Clinton gehen derweil andere Gefahren aus. Sie will die besondere Beziehung der USA mit Israel stärker in den Vordergrund stellen

© Wikimedia

Verfechters der Rassentrennung, George Wallace, im Jahr 1968 und den Versuchen des erzreaktionären Pat Buchanan in den 1990er Jahren, mit elitenkritischen Parolen Präsidentschaftskandidat der Republikaner zu werden. Die Tea Party und Donald Trump sind nur die jüngsten Auswüchse einer alten Tradition der amerikanischen Politik. Die Ideologie des rechten Populismus ist nicht einheitlich, aber sie hat zwei feste Konstanten. Die erste ist Rassismus, der sich in letzter Zeit vor allem gegen zwei Gruppen richtet: illegale Einwanderinnen und Einwanderer aus Südamerika und seit dem 11. September 2001 muslimische oder arabische Einwanderer. Die zweite sind Ressentiments gegen die politische Elite. Mit der »Elite« ist dabei allerdings nicht die Kapitalistenklasse oder die Führung des Staatswesens gemeint, sondern die liberale mittlere und obere Mittelschicht, die angeblich die Regierungsgeschäfte bestimmt und die einfachen Menschen (weiße Männer und Frauen) »verrät«, indem sie feindselige Ausländer ins Land lasse. Trump repräsentiert eine Radikalisierung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, aber er ist kein Faschist. Seine Unterstützer bilden keine Straßenewegung wie Mussolinis Schwarzhemden oder die SA der Nazis.

Andrew Jackson, von 1829 bis 1837 der siebte Präsident der USA und Gründer der Demokratischen Partei: Auch er verband Rassismus mit einem Aufbegehren gegen die »Eliten« und hat die BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen die Besatzung palästinensischer Gebiete) wie auch jegliche Solidarität mit den Palästinensern als antisemitisch gebrandmarkt. Das lässt erahnen, wie es unter ihrer Regierung Muslimas, Arabern und Linken ergehen wird. Die Wahlen dieses Jahr sind aber nicht nur wegen des Aufstiegs von Donald Trump bemerkenswert, sondern auch wegen des Erfolgs von Bernie Sanders. Auch wenn wir in vielem anderer Meinung sein mögen als er: Sanders hat es zum ersten Mal seit vielen Jahren geschafft, massenhaft Menschen für ein Programm der Wirtschaftsreformen und gesellschaftlicher Veränderung zu begeistern, und das in einer der undemokratischsten Gesellschaften mit den krassesten sozialen Ungleichheiten, die der moderne Kapitalismus hervorgebracht hat. Wie es mit Sanders und der Bewegung weitergeht, die er angeregt hat, ist ungewiss. Aber das Potenzial für eine Politik jenseits von Donald Trump und Hillary Clinton hat sich deutlich gezeigt. ■

zum Text Eine längere Version dieses Artikels erschien in englischer Sprache mit dem Titel »The Rise of Donald Trump, ›Anti-Politics‹ and the Left« im Onlinemagazin »rs 21« am 6. Juni 2016. Wir bedanken uns für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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Türkei | nach dem Putsch

Ausgangssperren, Anschläge, Korruption, Säuberungen und Krieg: Nicht erst seit dem Putschversuch im Juli 2016 steht die Türkei Kopf. Aber wer denkt, dass Erdogan fester im Sattel sitzt denn je, täuscht sich Von Erkin Erdogan

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Türkei | nach dem Putsch

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er Putschversuch stellte die bei weitem größte politische Krise für die regierende konservative AKP und ihren Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan dar. Die Regierung konterte mit drakonischen Maßnahmen. Seit dem 20. Juli gilt in der Türkei ein dreimonatiger Ausnahmezustand. Erdogan kann als Staatspräsident per Dekret regieren. Es folgte die größte »Säuberungswelle« in der türkischen Geschichte: Zehntausende wurden verhaftet, entlassen, suspendiert oder mit Ausreiseverbot belegt. Mehr als 130 regierungskritische Medienhäuser wurden geschlossen, darunter mehrere Fernsehsender und Radiostationen, 45 Zeitungen, 29 Buchverlage und 15 Magazine. Und die Angriffe auf die Pressefreiheit gehen weiter. Gleichzeitig setzt die Regierung den Krieg gegen die kurdische Minderheit im Osten mit aller Brutalität fort. Mit dem Einmarschbefehl für die türkische Armee in Syrien mit dem Namen »Schutzschild Euphrat« ist sie auch dort zur Kriegspartei geworden. Welche Bedeutung haben die Ereignisse für das politische System der Türkei? Der Politikwissenschaftler Burak Copur erklärte gegenüber dem »Spiegel«: »Faktisch ist die Türkei eine Diktatur«. Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk meinte gegenüber der italienischen Zeitung »La Repubblica«: »Die Gedankenfreiheit existiert nicht mehr. Wir bewegen uns mit großer Geschwindigkeit von einem Rechtsstaat zu einem Terrorregime«. Manche sehen die Türkei sogar »auf dem Weg in den Faschismus«, wie die Abgeordnete der LINKEN Sevim Dagdelen. Klar ist: Nach dem Putschversuch befindet sich die Regierung Erdgans in der Offensive. Aber ist die Türkei wirklich auf dem Weg zu einem faschistischen Staat?

rale und nationalistische Kraft. In der Regierung ist sie repressiver Verwalter der Interessen der türkischen herrschenden Klasse, während sich ihre Wählerbasis allerdings eher aus den sozial schwächer gestellten Schichten rekrutiert. Sogar in den kurdischen Provinzen, wo die Regierung im Allgemeinen schlecht abschneidet, genießt sie Rückhalt in der Bevölkerung. Während die Oberschichtbezirke Ankaras und Istanbuls alle von der – angeblich sozialdemokratischen – Republikanischen Volkspartei (CHP) regiert werden, stehen alle anderen unter Verwaltung der AKP, die den höchsten Stimmenanteil in den ärmsten Bezirken verzeichnen kann. Die Arbeiterviertel waren und sind AKP-Hochburgen. Allerdings täuscht das Bild, Erdogan säße fester im Sattel denn je. Erdogan musste erkennen, dass die Machtstellung der AKP in Zeiten politischer und ökonomischer Instabilität leicht ins Wanken geraten kann. Um das zu verhindern, brauchte die AKP neue Koalitionspartner, besonders in Bezug auf die politischen »Säuberungen« gegen die realen und vermeintlichen Anhänger und Anhängerinnen der GülenBewegung im Staatsapparat. Um die drastischen Angriffe auf die demokratischen Rechte durchzusetzen, musste Erdogan innenpolitisch einen Kurswechsel einleiten. Seit Jahren versucht er, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, um die Gewaltenteilung des kemalistischen Staatsapparats abzuschaffen. Dieser Versuch, ein Präsidialsystem einzurichten, hat jedoch die Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse vertieft. Hier hat Erdogan vorerst einen Rückzieher gemacht. Der Vorschlag zur Verfassungsänderung und der Plan eines auf Erdogan zugeschnittenen Präsidialsystems ist auf unbestimmte Zeit vertagt. Stattdessen begann die AKP unter dem Slogan der »Nationalen Aussöhnung« mit den zwei anderen großen Parteien des Establishments zusammenzuarbeiten: der kemalistischen CHP und der faschistischen MHP, die bisher in der Opposition waren.

Innenpolitisch vollzog das Regime eine Kehrtwende

Das Vorgehen der Erdogan-Regierung ist ohne Zweifel demokratiefeindlich und Ausdruck eines autoritären Regimes. Aber sie ist nicht die einzige demokratisch gewählte Macht, die den Ausnahmezustand ausgerufen hat und per Dekret regiert: In den USA herrscht seit 16 Jahren der Ausnahmezustand. In Frankreich hat die sozialdemokratische Regierung ihn gerade bis Januar 2017 verlängert und Ministerpräsident François Hollande hat gegen Massenprotest eine neoliberale Arbeitsmarktreform per Dekret durchgesetzt. Es ist absolut irreführend, in Bezug auf die Türkei vom Faschismus zu sprechen. Denn das würde letztendlich auch bedeuten, die Unterstützerinnen und Unterstützer Erdogans, also die Hälfte der Bevölkerung, als »faschistisch« zu sehen. Doch die AKP ist keine faschistische Partei. Die AKP ist eine religiös-konservative, neolibe-

Nach dem Putschversuch kam es zu mehreren Treffen zwischen den Spitzen der CHP, der MHP und dem AKP-Führer und Premierminister Yıldırım. Als nächsten Schritt durften die Politikerinnen und Politiker der Opposition – ausgenommen die linke HDP – wieder im staatlichen Fernsehsender TRT auftreten, nachdem ihnen dies viele Jahre verwehrt wurde. Aber nicht nur das: Gemeinsam mobilisierten die Parteien AKP, CHP und MHP, im Einklang mit Teilen des Militärs, die Bevölkerung zur Unterstützung ih-

Erkin Erdogan ist KoVorsitzender des HDK (Demokratischer Kongress der Völker) Berlin-Brandenburg, eines Bündnisses aus Bewegungen, NGOs und Parteien, darunter auch die türkische Linkspartei HDP. Außerdem ist er Mitglied der LINKEN in Berlin.

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Türkei | nach dem Putsch

rer politischen Agenda. Anfang August versammelten sich in Istanbul mehrere Millionen Menschen zu einer Massenkundgebung gegen den Putschversuch unter dem Motto »Demokratie und Märtyrer«. Als Redner traten Staatspräsident Erdogan, Kemal Kılıçdaroglu (CHP), Devlet Bahçeli (MHP) sowie der Militärchef und der Ministerpräsident Yıldırım auf. Die drei Parteien repräsentieren mehr als 85 Prozent des türkischen Wählervotums. Ziel dieser Koalition ist es, einen neuen herrschenden Block der »nationalen Interessen« zu bilden. Die politische Agenda dieses Blocks fußt auf drei Säulen: Erstens soll der Staatsapparat umstrukturiert werden mit dem Ziel, die Politik des Neoliberalismus weiter voranzutreiben. Zweitens wird die Außenpolitik mit Blick auf Syrien und den Nahen Osten neu ausgerichtet. Die dritte Säule ist die Kriegspolitik gegen die Kurdinnen und Kurden in der Türkei.

dass die Türkei immer an Russland orientiert. Im Gegenteil: Die wirtschaftliche und geostrategische Abhängigkeit vom Westen erlauben dem Regime Erdogans nicht, zu weit zu gehen. Umgekehrt ist die Türkei für die EU und die USA ein wichtiger strategischer Partner. Mit seinen 78 Millionen Einwohnern liegt das Land am Schnittpunkt zwischen Europa und Asien und ist damit ein Schlüsselmitglied des imperialistischen Nato-Bündnisses. Innerhalb der Nato verfügt die Türkei über das zweitstärkste Militär nach den USA. Sie ist die sechstgrößte Volkswirtschaft in Europa. Das Land ist zwar kein Mitglied der Europäischen Union, aber es ist eng in die wirtschaftlichen und politischen Strukturen der EU integriert. Die Türkei und der Westen brauchen einander. Rhetorische Angriffe und in den Medien ausgetragene Streitigkeiten können irreführend sein. In Wirklichkeit steht die NATO fest an der Seite der Türkei und unterstützt ihre Aktivitäten in Syrien. Auch Deutschland hat sich nach kurzen Auseinandersetzungen dazu entschlossen, Millionen Euro in die deutsche Militärbasis Incirlik in Adana zu investieren.

Die Türkei und der Westen brauchen einander

Die »Neustrukturierung des Staats« ist in vollem Gange. Seit dem 15. Juli wurden mehr als 40.000 Personen ins Gefängnis gesteckt und über 150.000 aus dem öffentlichen Dienst geworfen. Gleichzeitig haben der gescheiterte Putschversuch und die Umbrüche danach gezeigt, dass fast das gesamte Kapital die AKPRegierung als seine Interessenvertretung betrachtet und deren Maßnahmen unterstützt. Enteignungen von Unternehmern, die als »Gülenisten« beschuldigt werden, wird nicht widersprochen. TÜSIAD, die Vereinigung des türkischen Großkapitals, die 85 Prozent des Außenhandels kontrolliert (inklusive Energie) und 80 Prozent der Körperschaftssteuer bezahlt, hat sich von dem Putsch distanziert. Zehn Tage nach dem Putschversuch veröffentlichte sie ein Statement, in dem steht, dass »Interventionen gegen die Demokratie nur dadurch unterbunden werden können, dass demokratische Strukturen und die Rechtsstaatlichkeit ausgebaut werden«. TÜSIAD bezieht sich dabei auf die EU-Beitrittsverhandlungen und sieht daher die demokratischen Standards der EU als den Weg, den es zu verfolgen gilt. Das Verhältnis der AKP zur EU und den USA hatte Höhen und Tiefen, weil die Türkei ihre eigenen Interessen als imperialistische Regionalmacht verfolgt. Aber die Türkei muss sich mit den konkurrierenden imperialen Blöcken arrangieren. Um beispielsweise den Konflikt mit Russland nach dem Abschuss eines russischen Jets zu lösen, traf die Regierung eine Übereinkunft mit Russland. Aber das bedeutet nicht,

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Die neue Verbindung zwischen der türkischen herrschenden Klasse und ihren politischen Repräsentanten hat bittere Konsequenzen für die Opposition, insbesondere für die Kurdinnen und Kurden. Es ist eine Anti-HDP-Koalition und sie ist bereit, die türkischen nationalen Interessen im türkischen Teil von Kurdistan und in Rojava zu verteidigen. Das heißt, dass die kemalistische Kriegspolitik gegen die Kurden fortgesetzt wird. Über 11.000 Lehrerinnen und Lehrer wurden Anfang September entlassen mit der Behauptung, sie würden der PKK nahestehen. Die meisten von ihnen waren Mitglieder der linken Gewerkschaft KESK. Ebenso hat die Regierung 28 Stadtund Kommunalverwaltungen, darunter 24 von der linken HDP geführte, unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Trotz staatlicher Unterdrückung und der einschüchternden und erstickenden Atmosphäre, die der nationalistische Block der AKP schafft, gibt es aber noch Möglichkeiten für die Linke. Selahattin Demirtas verkündete nach dem Putsch zu Recht, dass der zivile Widerstand gegen die Panzer die Macht der Straße bewiesen hat. Das erste Mal seit den Terroranschlägen auf die Friedensdemonstration in Ankara am 15. Oktober letzten Jahres hatte die HDP und die Lin-


Türkei | nach dem Putsch

Seit dem versuchten Militärputsch herrscht vor allem Verwirrung in der türkischen Linken. Aufgrund einer falschen Analyse der Bedeutung des politischen Islam war die Mehrheit der Linken von den Anti-Putsch-Protesten auf der Straße verängstigt und verfolgte die Entwicklungen nur passiv. Die Linke hat nicht genug eingegriffen und konnte die Massenbewegung auf der Straße nicht in Richtung Demokratieausbau und der Forderung nach Frieden beeinflussen, was eigentlich die einzige Lösung der momentanen Krise darstellt. Das liegt teilweise daran, dass die Strukturen der Linken im letzten Jahr stark angegriffen und beschädigt wurden. Auf der einen Seite wurden Gewerkschaften und linke Strukturen Ziel von Selbstmordanschlägen, wie in Suruç und Ankara, faschistische Mobs haben kurdische Menschen in westlichen Städten angegriffen und es gab unzählige Angriffe auf die Büros der HDP. Auf der anderen Seite hat der Krieg in den kurdischen Gebieten und die Verschärfung der Verfolgung von kurdischen Aktivistinnen und Aktivsten überall im Land die Linke stark geschwächt. Allein von der HDP wurden 2000 Mitglieder festgenommen, ebenso wie viele kritische Journalistinnen und Journalisten. Dennoch bleibt das Hauptproblem der Linken ihre falsche Analyse der Situation. Viele in der Linken versuchten, den Putsch durch Verschwörungstheorien zu erklären. Aber ein erfolgreicher Putsch hätte auch für die Linke in der Türkei brutale Repression bedeutet. Erdogans Antwort auf den Putschversuch war das Verhängen des Ausnahmezustands, wodurch grundlegende demokratische Rechte komplett ausgesetzt sind. Eine effektive Strategie der Linken dagegen sollte darauf zielen, die politische Atmosphäre zu verändern und das Vertrauen der Arbeiterklasse und der Unterdrückten zu gewinnen, die im Moment noch für die AKP stimmen. Der HDP ist dies bei den Wahlen im Juni 2015 in vielen kurdischen Städten gelungen. Die Linke in der Türkei kann den gleichen Weg einschlagen und sollte versuchen, die Verbindungen zu den Massen wieder aufzubauen. Wenn Erdogans linke Kritiker vor allem auf die Religion abzielen, machen sie einen großen Fehler: Opposition gegen die AKP auf Grundlage ihres »Islamismus« führt lediglich dazu, den Widerspruch zwischen ihrer neoliberalen Politik und ihrer Basis in der Arbeiterklasse zu kaschieren und so die gläubigen Bevölkerungsteile noch näher an die Partei zu binden. Der Widerspruch erscheint dann als einer zwischen Muslimen und Säkularen und die Klassenfrage ge-

© Myigitdocumenter / Public Domain Mark 1.0

ke allgemein die Chance, Massen gegen den Putsch und gegen die schmutzige Politik der AKP zu mobilisieren. Aber leider wurde diese Chance, mit Ausnahme der kurdischen Gebiete, nicht wirklich genutzt.

Zehntausende Menschen stellen sich in der Nacht vom 15. Juli in Istanbul den Panzern in den Weg und verhindern den Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs rät in den Hintergrund. Statt in erster Linie ihren »Islamismus« zu kritisieren und sich so gegenüber der gläubigen Bevölkerung zu isolieren, sollten Linke die AKP für ihre antidemokratische und prokapitalistische Politik angreifen und auf die gegensätzlichen Interessen der wirtschaftlichen und politischen Eliten und der Mehrheit der Bevölkerung hinweisen. Auch viele Wählerinnen und Wähler der AKP sehen den autoritären und repressiven Kurs von Erdogan kritisch. Die Linke kann diese Menschen erreichen, wenn sie nicht an alten Fehlern festhält. ■

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© Ottavia Massimo

Syrien | Analyse

Schlachtfeld der Imperialisten Der Krieg in Syrien eskaliert weiter. Die Bilder von der Zerstörung Aleppos durch russische und syrische Bomber sind erschütternd. Doch die Hoffnung, dass eine Vereinbarung zwischen den USA und Russland das Morden beenden wird, ist trügerisch Von Frank Renken

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m September vereinbarten die Regierungen in Moskau und Washington eine Waffenruhe in Syrien, die in den Medien als Hoffnung für den Frieden dargestellt wurde. Nichts hätte weiter von der Wirklichkeit entfernt sein können. Die sogenannte Waffenruhe war von vornherein lediglich eine auf sieben Tage angelegte Frist, in der sich die russischen und amerikanischen Streitkräfte auf gemeinsame Ziele festlegen wollten. In der nächsten Phase ihres Plans sollten dann diejenigen Gruppen unter den Aufständischen koordiniert angegriffen werden, die sie einvernehmlich als »Terroristen« kategorisieren können.

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Unmittelbares Ziel Washingtons war es, zusammen mit Moskau die Gruppe »Fatah asch-Scham« anzugreifen. Zu dem Zweck hätten sich die anderen bewaffneten Gruppen ruhig verhalten sollen. Der so gespaltene Widerstand wäre dann leichter zu besiegen gewesen. Kein Wunder, dass sich keine der bewaffneten Gruppen in Aleppo auf diesen Plan des Teilens und Herrschens eingelassen hat. Die zwischen dem amerikanischen Außenminister John Kerry und seinem russischen Kollegen Sergei Lawrow ausgehandelte Vereinbarung ist über die Köpfe der betroffenen Menschen hinweg getroffen worden. Keine der bewaffneten Parteien war ein-


Syrien | Analyse

Das vollkommen zerstörte Aleppo im Januar 2013. Zurzeit sind im Osten der Stadt etwa 250.000 Menschen eingeschlossen. Es gibt keinen Zugang zu Medikamenten und fließendem Wasser

Hintergrund

Von der Revolution zum Krieg Im Jahr 2011 kam es in Syrien zu einem Massenaufstand gegen das Regime Assads. Er war inspiriert von den Revolutionen, die in Tunesien und Ägypten zum Sturz der dortigen Diktatoren führten. Doch die unmittelbaren Ursachen für den syrischen Aufstand waren hausgemacht: Baschar Assad, und vor ihm sein Vater Hafiz Assad, beherrschten seit über 35 Jahren das Land mit eiserner Faust. In den zehn Jahren vor der Revolution wurden neoliberale Reformen durchgeführt, die die Assads und einige wenige andere Familien superreich machten, während der Lebensstandard der Masse immer weiter absank. Im Jahr 2007 kam es zu einer verheerenden Dürre. Tausende verarmte Landbewohner strömten in die Städte.

Washington und Moskau koordinieren ihre Angriffe

Der Aufstand wurde durch eine Routineaktion der Polizei ausgelöst. In der Stadt Dera‘a kam es am 6. März 2011 zur Verhaftung und Misshandlung von Jugendlichen, die regimefeindliche Parolen auf Häuserwände geschrieben hatten. Dies löste Massenproteste aus, die sich explosionsartig über das ganze Land verbreiteten. Im Sommer 2011 demonstrierten jeden Freitag Millionen in verschiedenen Städten im ganzen Land. Wie in Tunesien und Ägypten zuvor forderten sie die Freilassung von Gefangenen, die Aufhebung des Ausnahmezustands und die Demokratisierung des Lands. Das Regime verurteilte die Demonstranten pauschal als »islamistisch-inspirierte Terroristen« und reagierte mit brutaler militärischer Gewalt. Doch immer mehr Soldaten weigerten sich, auf das eigene Volk zu schießen. Zehntausende begingen Fahnenflucht. Deserteure bildeten in der zweiten Jahreshälfte 2011 einen lockeren Zusammenschluss unter dem Namen »Freie Syrische Armee«. Nachdem das Regime im folgenden Jahr die Kontrolle über viele Ortschaften verlor, ging es dazu über, sie kollektiv zu bestrafen und aus der Luft zu bombardieren. Regionalmächte wie Saudi-Arabien, Katar und die Türkei begannen, mit eigenen Interessen in den Konflikt zu intervenieren. Bestimmte sunnitisch geprägte Oppositionsgruppen wurden finanziert und mit Waffen ausgestattet. Das Regime holte sich massive Unterstützung von Verbündeten aus Iran, Irak und Libanon. Was als Volksaufstand begann, wandelte sich so in einen zunehmend militarisierten Konflikt. Ab dem Jahr 2014 traten dann die USA und ihre Verbündeten, darunter Deutschland, und später Russland offen militärisch in den Konflikt ein. Aus der Revolution wurde ein Bürgerkrieg, aus dem Bürgerkrieg ein komplexer Stellvertreterkrieg.

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Syrien | Analyse

gebunden. Dies wäre allerdings die Voraussetzung gewesen, wenn man einen dauerhaften Waffenstillstand wollte. Es ging um koordinierte Bombardierungen durch amerikanische und russische Streitkräfte in einem gemeinsamen Operationsgebiet im Nordwesten des Landes. Bislang bombardieren amerikanische und russische Streitkräfte unterschiedliche Ziele – die einen vornehmlich im Osten, die anderen vornehmlich im Westen Syriens. Die Vereinbarung sollte die Grundlage für ein dauerhaftes Arrangement zwischen den imperialistischen Mächten auf syrischem Boden legen. Seit Monaten schon treffen amerikanische und russische Streitkräfte in einem gemeinsamen Lagebesprechungszentrum vor Ort militärische Absprachen. Das US-Außenministerium war offenbar gewillt, nun weiterzugehen und eine Lösung mit Moskau zu finden, die auf die Stabilisierung des Regimes von Bashar Assad in der bevölkerungsreichen Westhälfte des Landes hinausgelaufen wäre.

zu brechen. Vor dem UN-Sicherheitsrat bezeichnete US-Botschafterin Samantha Power das russische Vorgehen als »barbarisch«. Mehr Heuchelei geht nicht. Die US-Streitkräfte selbst bombardieren, unterstützt von der Bundeswehr durch Luftbetankung und Zieldefinierung, seit Herbst 2014 unablässig Ortschaften in Syrien und Irak. Die US-Bomber hinterlassen ihrerseits Ruinen, auch ihre Angriffe kosten unzählige Menschen das Leben. Doch weil es sich um Gebiete handelt, die der Islamische Staat (IS) kontrolliert, wird kaum darüber berichtet. Im Kampf gegen den IS unterstützen die US-Streitkräfte kurdische und arabische Aufständische. Sie sind nicht viel mehr als Kanonenfutter für die Planer im Pentagon. So halfen die USA im August zunächst kurdischen Aufständischen der mit der PKK verbündeten YPG, um den vom IS gehaltenen Landkorridor an der türkisch-syrischen Grenze um die Ortschaften Dscharablus und Manbidsch zu erobern. Eine Woche später rückten türkische Bodentruppen mit Panzern in das Gebiet vor, um die Etablierung eines befreiten kurdischen Gebiets zu verhindern. Aus Sicht Washingtons hatte die YPG mit der Niederlage des IS in dem Gebiet ihre Aufgabe erfüllt. Die US-Regierung ließ in dem Konflikt die eben noch mit ihnen verbündeten kurdischen Rebellen fallen. Washington forderte die YPG ultimativ auf, den türkischen Panzern das Gebiet zu räumen und sich auf die andere Seite des Euphrats zurückzuziehen.

Kanonenfutter für die Planer im Pentagon

Frank Renken ist Mitglied im Ortsvorstand der LINKEN in Berlin-Friedrichshagen. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag.

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Doch die Regierung in Washington ist in ihrer Syrienpolitik gespalten: Anders als das Außenministerium war das Verteidigungsministerium gegen diese Absprache, weil es die russische Position gestärkt hätte. Dieser Riss innerhalb der Regierung führte zum Zusammenbruch der Vereinbarung. Wenige Tage nach ihrer Unterzeichnung griffen USLuftstreitkräfte eine Einheit der mit Moskau verbündeten syrischen Armee an, weitab von Aleppo im amerikanischen Operationsgebiet, bei Dair as-Saur. Die Bomben töteten mehr als 60 Soldaten. Umstände und Dauer des Angriffs ließen wenig Zweifel daran, dass er gezielt durchgeführt wurde. Offenbar verfolgte die vom Pentagon geführte Luftwaffe der USA das Ziel, die zwischen Kerry und Lawrow getroffene Vereinbarung zu torpedieren. Mit Erfolg: Als Erwiderung griffen zwei Tage später russische oder syrische Flugzeuge einen Hilfskonvoi nahe Aleppo an und töteten rund zwanzig UN-Mitarbeiter. Die Vereinbarung zwischen Washington und Moskau brach zusammen. Die syrische Armee startete daraufhin eine Offensive gegen die von den Rebellen gehaltenen Stadtteile im Osten Aleppos. Dort sind 250.000 Menschen eingeschlossen. Wichtige Grundnahrungsmittel wie Zucker fehlen, ebenso Medikamente. Es gibt keinen Zugang zu fließendem Wasser. Es werden Fassbomben, Splitterbomben und bunkerbrechende Bomben eingesetzt. Offenbar ist das Regime gewillt, den Osten Aleppos notfalls komplett zu vernichten, um den Widerstand

Die Bevölkerung in Syrien hat von keiner der intervenierenden Mächte etwas zu erwarten. Auch für die kurdischen Befreiungskräfte werden weder Assad noch Russland oder die USA Garanten national-demokratischer Selbstbestimmung sein. Keiner der intervenierenden Staaten spielt eine fortschrittliche Rolle. Sie haben Syrien zu einem Schlachtfeld gemacht, auf dem sie ihre eigenen regionalen Interessen durchzusetzen versuchen. Angeblich kämpfen sie alle gegen den »Terror«. Doch unter dem Strich kommt es zur Aufteilung Syriens in verschiedene Einflusszonen, die militärisch abgesichert werden. Der Krieg, den die internationalen Mächte auf diese Weise anfachen, ist selbst nichts anderes als Terror. Die Linke muss deshalb den sofortigen Abzug aller ausländischen Truppen aus Syrien und den Stopp aller Waffenlieferungen nach Syrien fordern. Eine Zukunft hat das Land nur, wenn es zu einer Erneuerung der revolutionär-demokratischen Kräfte kommt, die zu Beginn des arabischen Frühlings auch das neoliberale Assad-Regime erschütterten. ■


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UNSERE MEINUNG | RUSSLAND

Dumawahl in Russland

Apathie und Abstieg

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Von Ilya Budraitskis

ährend bei der letzten Dumawahl im Jahr 2011 die Wahlfälschungen noch massenhaften Protest auslösten, blieb es diesen September auffallend ruhig. Die von Präsident Wladimir Putin unterstützte Partei Einiges Russland erzielte ein Rekordergebnis und konnte sich 345 der 450 Parlamentssitze sichern. Drei weitere Parteien werden in der neuen Duma vertreten sein: die rechte LDPR, die Kommunisten und die links-zentristische Partei Gerechtes Russland. Sie sind alle Teil des »Krim-Konsens«: Sie unterstützen den Kreml in den allermeisten Fragen der Außenund Innenpolitik und sind in ihrer politischen Linie komplett von der präsidialen Administration abhängig. Die beiden Parteien der liberalen Opposition, Jabloko und die Partei der Volksfreiheit, sind hingegen gescheitert. Sie erhielten zusammen weniger als drei Prozent der Stimmen und haben damit den Einzug in die Duma verpasst. Es scheint als sitze Putin fester im Sattel denn je. Allerdings wäre es ein Fehler, den Wahlsieg als Zeichen der Zustimmung für die Politik des Kreml oder für politische Stabilität in Russland zu interpretieren. Vielmehr ist er Ausdruck einer politischen Apathie, die das Land in Zeiten der sozialen Krise fest im Griff hält. Die Wahlbeteiligung war mit 48 Prozent die geringste der postsowjetischen Geschichte. In Großstädten wie Moskau und Sankt Petersburg gingen nur noch 35 bzw. 32 Prozent zur Urne. Bei der Wahl 2011 hatten landesweit noch zwei Drittel ihre Stimme abgegeben. Die politische Apathie ist nicht nur Folge des verbreiteten Pessimismus in Bezug auf die Möglichkeiten, das bestehende System zu verändern, sondern auch Ausdruck der Überzeugung, dass jegliche Alternative zu Putin das Land ins Chaos und in einen Bürgerkrieg führen würde. Das Spiel mit dieser Angst stellt auch das Hauptmotiv der staatlichen Propaganda der letzten Jahre dar. Es ist der zentrale Grund dafür, dass die Unzufriedenheit über den allgemeinen Fall des Lebensstandards und die wachsende soziale Spaltung der Gesellschaft nicht in Pro-

Übersetzung: Anton Thun test und Widerstand umschlägt. Der Hintergrund, vor dem sich die Wahlen abgespielt haben, ist eine sich vertiefende ökonomische und soziale Krise, die zunehmend auch eine Gefahr für das Regime Putins darstellt. Allein zwischen Januar und August sind die Löhne und Gehälter um durchschnittlich 8,3 Prozent gesunken. Mehr als zwanzig Millionen Menschen leben mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze. Und die Regierung plant weitere Angriffe, wie etwa eine Erhöhung des Renteneintrittsalters. Einer der bedeutendsten neoliberalen Berater Putins, der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin, forderte, die neue Duma müsse »Verantwortung« übernehmen und zu einem »Motor« weiterer Reformen werden. Die Wahlen zur machtlosen Duma hängen vollständig vom Willen des Kremls ab. Sie sind allerdings auch als Probe für die anstehenden Präsidentschaftswahlen 2018 zu verstehen, die Putin mit einem triumphalen Ergebnis gewinnen möchte. Dafür ist es notwendig, die Wahlen zu entpolitisieren und zu einem alternativlosen Volksentscheid über das Vertrauen in die existierende Ordnung zu machen. Hierzu setzt der Kreml nicht nur auf die Propaganda der Alternativlosigkeit, sondern auch auf Repression. So wurde zu Beginn dieses Jahres eine neue »Nationalgarde« eingerichtet, deren Hauptfunktion es sein soll, Massenproteste wie im Jahr 2011 zu unterdrücken. Zurzeit wird in der russischen Presse zudem über einen Plan zur Stärkung der Geheimdienste durch die Bildung eines neuen »Ministeriums für Staatssicherheit« diskutiert. Allein dessen Name ruft alarmierende Assoziationen zur Behörde aus der Zeit Stalins hervor. Die aktuelle Vorhersehbarkeit der Ergebnisse bei Wahlen in Russland sollte jedoch niemanden täuschen. Vor uns liegt ein langfristiger Abstieg, ebenso ein ökonomischer wie einer des politischen Modells des postsowjetischen Kapitalismus. Stabilität sieht anders aus.

Stabilität sieht anders aus

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Ilya Budraitskis ist Mitglied der »Sozialistischen Bewegung Russland« und Redakteur von Openleft.ru.


© Klaus Stuttmann

STUTTMANN

UNSERE MEINUNG | FREIHANDELSABKOMMEN CETA

Freihandelsabkommen CETA

SPD und Grüne entlarven VON Jules El-Khatib

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ie Entscheidung des SPDKonvents, CETA zuzustimmen, und das Schweigen der Landesregierungen Baden-Württembergs, Hessens und Hamburgs, an denen die Grünen beteiligt sind, ist ein Schlag ins Gesicht für die hunderttausenden Menschen, die gegen die Freihandelsabkommen auf die Straße gegangen sind. Schon jetzt hat die NGO Campact, eine der maßgeblichen Kräfte hinter den Antifreihandelsprotesten, angekündigt, den Widerstand fortzusetzen. Nun sollen auch die Grünen verschärft ins Visier genommen werden. Ich meine: DIE LINKE sollte sich dem anschließen. Sie kann in den kommenden Monaten deutlich machen, dass sie die einzige Partei im Bundestag ist, die das neoliberale Freihandelsabkommen uneingeschränkt ab-

lehnt. Denn die Parteiführungen von SPD und Grünen wollen den multinationalen Konzernen offenbar nicht weh tun. Nur DIE LINKE sagt: Menschen vor Profite! Dafür muss die Partei ihr bisheriges Wahl-

Nur DIE LINKE sagt: Menschen vor Profite! kampfkonzept ändern, das auf möglichst schöne und viele Plakate und Flugblätter setzt. Stattdessen muss sie die Position von SPD und Grünen zum Freihandelsabkommen scharf angreifen. DIE LINKE sollte zusammen mit Gewerkschaften, Umweltiniativen und NGOs versuchen, die Bundestagswahl auch zu einer Abstimmung über TTIP, CETA und das in-

ternationale Dienstleistungsabkommen Tisa und somit über das neoliberale Wirtschaftsmodell zu machen. Eine Linkspartei, die an der Seite der Arbeitnehmerorganisationen gegen den Neoliberalismus aller anderen Parteien kämpft, muss ihren Fokus stärker auf Aktions- und weniger auf Regierungsbündnisse legen. Gleichzeitig kann eine solche Schwerpunktsetzung weitere Räume eröffnen. Denn diejenigen, die gemeinsam mit uns gegen Freihandelsabkommen streiten, können zu Verbündeten werden in den Kämpfen um Rekommunalisierung und für die Durchsetzung einer sozialeren Politik. Jules El-Khatib ist Autor des Onlineportals »Die Freiheitsliebe« und Mitglied im Landesvorstand der LINKEN in NordrheinWestfalen.

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TITELTHEMA | Rassismus

Titelthema Rassismus

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Burkaverbot Der heraufbeschworene Kulturkampf

Bundestagswahl Mit Antirassismus zum Erfolg

Praxistipp Wie die LINKE ihr Ergebnis verdoppelt hat

Kaiserreich Von der SPD lernen


TITELTHEMA | Rassismus

»Ein zutiefst rassistisches Land« »Burkaverbot«, »Obergrenzen«, »Terrorgefahr«, »Asylmissbrauch«: Während die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet, haben rassistische Ressentiments Hochkonjunktur. Wir trafen uns mit dem Soziologen Achim Bühl, um über die Teile-und-HerrschePolitik der Eliten, die Ursachen von Rassismus und linke Gegenstrategien zu sprechen Achim, du hast gerade ein Buch mit dem Titel »Rassismus« veröffentlicht. Warum gerade jetzt? Der Herbst 2016 verdeutlicht: Wir leben in einem zutiefst rassistischen Land. Die Ausschreitungen wie jüngst in Bautzen, Heidenau oder Freital sind ja nur die Spitze des Eisberges. Inwiefern? Eine Tatsache wird systematisch ausgeblendet: Der Rassismus ist eine Erscheinung aus der Mitte der Gesellschaft, der von oben nach unten wirkt und von rechts bis links reicht. Es herrscht ein regelrechter Überbietungswettbewerb der etablierten Politikerinnen und Politiker sowie der Medien, wer die schärferen Töne in der »Flüchtlingsfrage« anschlägt. Sie fordern Kapazitätsgrenzen und das Image als »Flüchtlingspartei« gilt als schädlich. Manche sagen, kriminelle Flüchtlinge verwirkten ihr Gastrecht, so als gebe es kein Asylrecht. Andere wieder fordern die Bevorzugung christlicher Flüchtlinge und agitieren gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Debatte über ein Burkaverbot wurde lanciert, obwohl keinerlei Zusammenhang zu den Attentaten in Deutschland existierte. Dies alles ist politischer Rassismus, der den Rechtsextremismus befeuert, ihn zu gewaltförmigen Taten ermuntert und rassistischen Parteien wie der AfD nutzt. Aber die Bundesregierung warnte doch in ihrem kürzlich veröffentlichten Jahresbericht vor der zunehmende »Fremdenfeindlichkeit« in Ostdeutschland. Was soll daran falsch sein? Falsch ist und bleibt zunächst einmal der Terminus »Fremdenfeindlichkeit«. Der

Achim Bühl

Achim Bühl lehrt seit 2004 Soziologie an der Beuth Hochschule für Technik Berlin und forscht derzeit vor allem über Rassismus. Er ist Autor von »Rassismus. Anatomie eines Machtverhältnisses« (Marix Verlag 2016).

DAS BUCH Achim Bühl Rassismus. Anatomie eines Machtverhältnisses Matrix Verlag Wiesbaden 2016 320 Seiten 15,00 Euro

Begriff ist als unwissenschaftlich zurückzuweisen, insofern »der Fremde« per se nicht existiert. Rassismus umfasst auch immer die Dimension unmittelbarer körperlicher Gewalt in Form von Pogromen, Anschlägen, körperlichen Übergriffen. Der Terminus »Fremdenfeindlichkeit« verschleiert dies euphemistisch und blendet den Sachverhalt aus, dass die Ursache in den gesellschaftlichen Strukturen liegt. In dem Jahresbericht heißt es, Rassismus sei vor allem ein ostdeutsches Problem... Der strukturelle Rassismus in Gestalt ungleicher Ressourcenverteilung, biologistischer Vergabe der Staatsbürgerschaft, völkischer Regulierung der Einbürgerung, diskriminierender Einschränkung des Wahlrechts sowie migrantenfeindlicher Gesetze ist kein Ostspezifikum. Das Gerede von einer zunehmenden Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland lenkt ferner davon ab, dass »rassistisches Wissen« in Gestalt angstproduzierender Diskurse maßgeblich von Teilen der politischen Elite produziert wird, deren Gros derzeit von »Westpolitikern« gestellt wird. Statt im Jahresbericht klar und unmissverständlich zu formulieren, dass unser Land hochgradig rassistisch ist, sind es in subjektivierender Weise »die Ossis«, die den Anschluss nicht geschafft haben. Dies vertieft die Spaltung in unserem Land und ist nicht hilfreich. Das Gerede vom »fremdenfeindlichen Osten« reproduziert die Legende vom »rassismusfreien Westen«, so als habe es die Mordanschläge von Mölln und Solingen nie gegeben. Rassismus wird auf diese Weise ein weiteres Mal geleugnet.

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TITELTHEMA | Rassismus

Was ist deiner Meinung nach Rassismus? Die längst überfällige Debatte über Rassismus in unserem Land muss mit vielfältigen Mythen aufräumen. Rassismus ist kein Vorurteil und keine Phobie, wie es noch immer viele Psychologen und Kulturwissenschaftler behaupten. Rassismus ist weder ein Missverständnis noch ein Bildungsproblem und darf ebenso wenig auf Einstellungen der Bevölkerung reduziert werden, die mittels quantifizierender Erhebungen erfasst werden. Gut, aber was ist er dann? Rassismus ist ein Macht- und Herrschaftsverhältnis, welches auf die Spaltung der menschlichen Gemeinschaft setzt. Auf der Basis eines ebenso belanglosen wie beliebigen Differenzkriteriums werden eine Wir-Gruppe und eine Fremdgruppe konstruiert, die einander antagonistisch gegenübergestellt und ihrem Wesen nach als unvereinbar konstruiert werden. Der Rassismus besitzt sowohl eine strukturelle als auch eine institutionelle Seite und offenbart sich in Denkmustern, rassistischen Ideologemen und in offen gewaltförmigen Erscheinungen wie Pogromen. Muss es sich beim Rassismus überhaupt um biologische Differenzkriterien handeln? Setzt Rassismus die Annahme von »Menschenrassen« voraus? Das Unterscheidungsmerkmal kann eine biologische, aber ebenso auch eine kulturelle, soziale, religiöse oder sonstige Größe sein. Das Differenzkriterium kann real oder auch fiktiv sein. Insofern ist es falsch, wenn beispielsweise »Wikipedia« nur den biologistisch konstruierten Rassismus definitorisch erfasst. Da sich Rassismus auch auf kulturelle oder religiöse Merkmale stützen kann, spreche ich vom antimuslimischen Rassismus. Die Annahme von »Menschenrassen« ist also keineswegs zwingend. Wäre ein Burkaverbot also auch rassistisch? Die Debatte über ein Burkaverbot ist rassistisch, weil sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt gezielt Stimmung gegen Muslime machen soll. Ein auf Burkaträgerinnen bezogenes Verbot, den öffentlichen Raum zu betreten, wäre ein eklatanter Verstoß gegen die Freiheits- und Menschenrechte der betroffenen Frauen. Es würde Musli-

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ma zum Tragen einer Kleidung zwingen, welche die Verbotsbefürworter als liberaler und fortschrittlicher interpretieren. Hier kommt ein rassistisches »Sendungsbewusstsein« zum Ausdruck, welches den Protagonisten als kulturell höherwertig, als emanzipierter, als moralischer konstruiert. Das Motto des Kolonialimperialismus: »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen« dient hier als legitimatorische Berechtigung eines unmittelbaren körperlichen Zwangs. Per Kleidungsmarkierung wird »der Andere« entpersonalisiert und zugleich als Bedrohung konstruiert, um ihn angstschürend mit Terrorismus und Gewalt in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise werden alle Muslime im Sinne einer Pars-pro-toto-Strategie (ein Teil für das Ganze, Anm. d. Red.) kriminalisiert.

Rassismus ist kein Vorurteil und keine Phobie

Haben sich in Deutschland rassistische Ideen in den letzten Jahrzehnten verändert? Die Sarrazin-Debatte hat gezeigt, dass es einen Trend gibt, kulturalistische Elemente des Rassismus wieder verstärkt mit biologistischen Elementen zu verkoppeln. Im Sinne des französischen Philosophen Michel Foucault gewinnt so der Sexualitätsdiskurs derzeit wieder ein stärkeres Gewicht. Die zur »Fremdgruppe« konstruierte Personengruppe wird einer narrativen Rassifizierungstechnik unterworfen, die sie in kollektivierender Weise als Vergewaltiger der »weißen Frau« erscheinen lässt. Beispielhaft hierfür sind die antinegrid-rassistischen Titelbilder des Focus sowie der Süddeutschen Zeitung nach der Silvesternacht von Köln, die zentrale Elemente der sogenannten »Schwarzen-Schmach-Kampagne« der Weimarer Republik aufgriffen. Dies belegt auch der Satz des CSU-Generalsekre-

tärs Andreas Scheuer: »Das Schlimmste ist ein Fußball spielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist. Weil den wirst du nie wieder abschieben«. Dies genau ist politischer Rassismus in der Tradition antinegrid-biologistischer Rassetheorien. In deinem Buch sprichst du auch vom »institutionellen Rassismus«. Was verstehst du darunter? Der institutionelle Rassismus ist in vielfältiger Weise den Abläufen, Logiken und Schemata diverser gesellschaftlicher Einrichtungen eingeschrieben. Er prägt das gültige Regelsystem von Ämtern und besitzt gravierende Auswirkungen auf den Bildungs- und Ausbildungssektor, auf Justiz und Polizei sowie das Gesundheitssystem in Gestalt institutionalisierter Vorgaben, behördlicher Abläufe und Verfahrensvorschriften, die ihrerseits das Verhalten der beteiligten Akteure lenken und die Rassifizierung als solche exekutieren. Kannst du ein Beispiel nennen? Ein Beispiel für den institutionellen Rassismus bei der Polizei stellt der Paragraf 22 Absatz 1a des Bundespolizeigesetzes dar. Dieser legt die Grundlage für rassistische Polizeikontrollen und ist eindeutig als »Rassismus per Gesetz« zu werten. Opfer »verdachtsunabhängiger Polizeikontrollen« sind derzeit vor allem »schwarze Menschen« sowie Personen, denen ein »muslimisches Aussehen« attestiert wird. »Racial profiling« gehört in Deutschland zwingend abgeschafft und wird bereits seit Jahren von internationalen Komitees wie dem Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung der Vereinten Nationen gerügt. Trotz massiver internationaler Kritik kann die Bundesregierung in dieser Praxis bis heute keinen »institutionellen Rassismus« erblicken. Auch dies ist ein Beispiel für die offene Leugnung des Rassismus in Deutschland. Begründeter Verdacht für institutionellen Rassismus liegt auch dann vor, wenn Sprecher der sächsischen Polizei gewalttätige Neonazis, die den Hitlergruß offen zeigen, verharmlosend auf Pressekonferenzen als »eventorientierte Personen« bezeichnen. Gibt es noch weitere rassistische Gesetze?


TITELTHEMA | Rassismus

© Wikimedia / Olaf Tampier / CC BY-NC

prekären Lagen gegeneinander auszuspielen. Seine Aufgabe ist es, Entsolidarisierungsprozesse zu forcieren, indem er die einen gegen die anderen aufhetzt. Im Kolonialrassismus waren dies die kolonisierten Ethnien, die einem diffizilen Ranking unterworfen wurden, das vom Gegensatz zwischen Kolonialherren und Kolonisierten ablenken sollte.

Oben: Rassismus tötet - Brandanschlag von Neonazis im nordrheinwestfälischen Solingen. Am frühen Morgen des 29. Mai 1993 brennt ein Zweifamilienhaus. Fünf Menschen sterben, weitere 17 erleiden zum Teil bleibende Verletzungen

Unten: Noch am selben Tag demonstrieren Hunderte am Tatort gegen Rassismus und Gewalt

In Deutschland existiert eine Vielzahl von Gesetzen bzw. Paragraphen, die entweder rassistisch sind, in rassistischer Traditionslinie stehen oder rassistische Tatbestände begünstigen. Zuallererst ist die Regulierung der Staatsbürgerschaft zu nennen, die trotz erfolgter Novellierung noch immer dem völkischen Abstammungsprinzip folgt. Zudem sind diverse Paragraphen im Asyl- und Ausländerrecht sowie die Regulierung des Wahlrechts rassistisch. Geht es um das Arbeitsleben, so ist etwa die sogenannte Vorrangprüfung zu nen-

nen, welche in Deutschland lebende Nicht-EU-Bürger systematisch in prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie etwa der Leiharbeit abdrängt, da deutsche Arbeitnehmer und EU-Bürger Anspruch auf einen vorrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Während sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, hat der Rassismus Konjunktur. Ist das Zufall? Nein, sicherlich nicht. Rassismus besitzt immer auch eine ablenkende Funktion. Er dient auch dazu soziale Kräfte in

Wie kann Rassismus bekämpft werden? Der Kampf gegen den Rassismus darf nicht ökonomistisch als Sozialkampf verkürzt werden. Sätze wie »Kapitalismus ohne Rassismus ist nicht möglich« laufen zwangsläufig darauf hinaus, die Relevanz des Rassismus zu verkennen. Auch ignorieren sie die Notwendigkeit des Antirassismus, welcher hauptsächlich als eigenständiger Kampf geführt werden muss. Der Widerstand gegen den antimuslimischen Rassismus in unserem Land ist nicht identisch mit dem Kampf gegen Niedriglöhne und Leiharbeit – auch wenn er mit vielfältigen sozialen Dimensionen verknüpft sein mag. Der Kampf gegen ein drohendes Burkaverbot ist kein Kampf gegen unsichere Beschäftigungsverhältnisse. Unstrittig ist indes, dass der Rassismus in der kapitalistischen Wirtschaft stets auch der Spaltung der Arbeitskräfte dient. Er soll dazu beitragen, die schwächsten Kettenglieder zu erpressen, damit diese die schlechteste Arbeit unter unzumutbaren Bedingungen annehmen. In Mecklenburg-Vorpommern wählten 21 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder die AfD, in Berlin 15 Prozent. Sind das alles überzeugte Rassistinnen und Rassisten, die die Linke nicht mehr gewinnen kann? Das glaube ich natürlich nicht. Die Wählerinnen und Wähler setzen indes ihrerseits – und zwar durchaus bewusst – auf die »rassistische Karte«. Sie haben die trügerische Hoffnung, für sich selbst mehr herausholen zu können, wenn sie sich am gegeneinander Ausspielen beteiligen. Dies offenbart auch die gegenwärtige Schwäche der Linken, die Menschen in prekären oder gefährdeten sozialen Lagen nicht abschreiben darf. Vielmehr muss sie sich aktiv anbieten, mit ihnen gemeinsam soziale Kämpfe für eine gerechte Gesellschaft im Interesse aller zu führen. ■

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TITELTHEMA | Rassismus

Terror, Islam und die Emanzipation der Frau: In der Debatte um das »Burkaverbot« verbinden sich alle Aspekte eines absichtlich heraufbeschworenen Kulturkampfs, der letztlich nur den Rassisten nützt Von Martin Haller

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TITELTHEMA | Rassismus

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ass es bei der Debatte um das »Burkaverbot« nicht um die Burka geht, dürfte mittlerweile allen klar sein. Selbst die Innenminister der Union haben inzwischen gemerkt, dass das, was sie verbieten wollen, in Deutschland überhaupt nicht existiert. Und auch konservative Kommentatoren scheinen sich endlich einmal die Mühe gemacht zu haben, den Begriff zu googlen und sprechen heute vom »Nikab-Verbot« oder einem »Verbot der Vollverschleierung«. Zwar ist es ehrenwert, dass sich die Damen und Herren – es handelt sich fast ausschließlich um Herren – neuerdings mit islamischer Frauenmode befassen, jedoch bleiben ihre Argumente die gleichen rassistischen Phrasen. Nach anfänglichem Streit haben sich Bundesinnenminister Thomas de Maizière und seine Länder-Amtskollegen von der Union in einer »Berliner Erklärung« nun auf ein Teilverbot der Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit geeinigt. Gelten soll es in Schulen, Hochschulen, Kindertagesstätten, im gesamten Öffentlichen Dienst, bei Gericht, den Melde- und Standesämtern, bei Pass- und Verkehrskontrollen, Demonstrationen, im Straßenverkehr sowie in allen Situationen, in denen Menschen identifizierbar sein müssen. Die Ausnahmen vom Verbot halten sich also in Grenzen. Aber welches Ziel verfolgen die Unionsminister mit ihrem Feldzug gegen ein Kleidungsstück, dem man in Deutschland so gut wie nie begegnet? Als Begründung für die Maßnahme führte de Maizière an, die Vollverschleierung passe nicht zu »unserer weltoffenen Gesellschaft«. Aber was ist das für eine weltoffene Gesellschaft, die Frauen aus anderen Kulturen oder Religionen einen bestimmten Kleidungsstil aufzwingt? Eine demokratische, sichere und freie Gesellschaft sollte sich genau dadurch auszeichnen, dass Frauen, genau wie Männer, das tragen können, was sie wollen, ohne dabei belästigt oder sanktioniert zu werden, egal ob es um Hotpants oder Gesichtsschleier geht. De Maizière beteuert nun, es gehe nicht um ein Kopftuchverbot, sondern um Verhüllungen, die das Gesicht der Trägerinnen verbergen. Angesichts der wochenlangen Verwirrung in Medien und Politik über Burka, Nikab, Tschador, Chimar oder sonst irgendwelche muslimischen Kleidungsstücke wirkt das fast lächerlich. Von Beginn an war klar: Sie sagen »Burka«, meinen aber alle Arten der islamischen Verschleierung. Selbst wenn erst einmal nur sehr wenige von den neuen Gesetzesplänen betroffen

wären, da kaum eine Muslima in Deutschland ihr Gesicht vollständig verschleiert, sind alle muslimischen Frauen gemeint. Es ist nicht das erste Mal, dass die »westlichen Werte« gegen die islamische Verschleierung ins Feld geführt werden. Schon im 19. Jahrhundert wurde der Schleier zu einem zentralen kulturellen Symbol des Konflikts zwischen den Kolonialmächten und den kolonialisierten islamischen Gesellschaften. Während die europäischen Kolonisatoren das Kopftuch zum Sinnbild für die angebliche Rückständigkeit letzterer erklärten, wurde es für diese zum Symbol des Widerstands gegen die Unterdrücker. Die Kampagne der britischen Kolonialmacht zur Entschleierung der ägyptischen Frauen war ein Herrschaftsinstrument, um diesen Widerstand zu brechen. Das Gleiche galt für die Entschleierungskampagne der französischen Besatzer in Algerien. Der Theoretiker der Entkolonialisierung Frantz Fanon hat eindrucksvoll dargestellt, wie durch die Wechselwirkung von Unterdrückung und Widerstand der Schleier zum zentralen Symbol der Differenz zwischen Herrschenden und Unterdrückten wurde: »Auf die Offensive der Kolonialisten gegen den Schleier reagiert der Kolonisierte mit einem Kult um den Schleier.« Das Ziel der Entschleierungskampagnen war die Beherrschung der kolonialisierten Gesellschaften und die Legitimation ihrer Unterdrückung. Nicht viel anders verhält es sich heute, wenn der Westen Kriege im Namen der Frauenrechte führt, aber eben auch, wenn kopftuchtragende Muslima hierzulande diskriminiert oder gar kriminalisiert werden. Die freiheitlichen westlichen Werte werden in Stellung gebracht, um die Unterdrückung von Frauen in primitiven Gesellschaften zu unterbinden. So lautet zumindest die Botschaft. Doch genau wie im 19. Jahrhundert steht dahinter nichts anderes als Rassismus. Dass es nicht darum geht, verschleierte Frauen aus ihrer Unterdrückung zu befreien, offenbart allein die Tatsache, dass sie zwar als Opfer, zugleich jedoch auch immer wieder als Störerin oder gar als Bedrohung dargestellt werden. So fragte das ARD-Kulturmagazin »Titel, Thesen, Temperamente«: »Wir können sie nicht zu ihrer Freiheit zwingen, die Frauen, die sich bei uns verhüllen wollen, auf welche Art auch immer, aber müssen wir es aushalten, dass politische Symbole am Körper der Frau in der Öffentlichkeit getragen werden?« Immerhin ginge es um »Kleidungsstücke, die den Islamismus symbolisieren. Mit Religion haben sie vielleicht etwas zu tun, viel mehr aber mit politischem Fanatismus«.

Sinnbild für die angebliche Rückständigkeit des Islam

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© https://de-de.facebook.com/MuslimaPrideIntl

TITELTHEMA | Rassismus

Aktivistinnen der Gruppe »MuslimaPride« wehren sich gegen Bevormundung und Diskriminierung

Mit dieser Deutung des Schleiers als einem politischen Symbol wird nicht nur geleugnet, dass der Islam als religiöses Bekenntnis nicht zwangsläufig von jedem und jeder Gläubigen zugleich als politische Ideologie gelebt wird. Darüber hinaus wird der gesamte politische Islam zum Feindbild erhoben, dass es zu bekämpfen gelte. Ali Ertan Toprak, Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände, bezeichnete Burka und Nikab in der ARDSendung als »Kampfanzüge« und »Uniformen des politischen Islam«. Dieser habe »gegen unsere Zivilisation den Krieg erklärt« und »wir wollen das nicht wahrhaben und ducken uns«. Muslimische Frauen, die sich verschleiern, sind also Opfer eines gnadenlosen rückständigen Patriarchats und zugleich Kriegerinnen in einem »Kampf der Kulturen«. Die Parallelen zur Propaganda der Kolonialisten des 19. Jahrhunderts sind nicht zu übersehen. Natürlich ist die Vollverschleierung ein Ausdruck von Geschlechterungleichheit – allerdings nur einer von vielen. Im Jahr 2012 gaben beispielsweise in

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Rahmen einer Studie 22 Prozent der befragten Frauen ab 15 Jahren an, im vorausgegangenen Jahr in irgendeiner Form sexuell belästigt worden zu sein. Über ein Drittel aller Frauen in Deutschland haben ab ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Noch immer verdienen Frauen in Deutschland bei gleicher Arbeit und Qualifikation 23 Prozent weniger als Männer. Es stellt sich also mit gutem Recht die Frage, ob bei der extrem niedrigen Anzahl vollverschleierter Frauen die Diskussion darüber tatsächlich die dringlichste in Sachen Sexismus ist. Um die betroffenen Frauen und ihre Perspektive geht es dabei zumindest so gut wie überhaupt nicht. Stattdessen geht es darum, wer hierzulande über Frauen bestimmt: das westlich-patriarchale Kulturmodell oder das muslimisch-patriarchale. Denn Sexismus und Frauenunterdrückung sind in unserer Gesellschaft genauso allgegenwärtig wie in mehrheitlich islamischen Ländern, wenn auch teilweise unter anderen Vorzeichen. Auch in Europa gibt es eine jahrtausendealte Geschichte von Vorschriften, gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen, wie sich Frauen zu kleiden und in der Öffentlichkeit zu präsentieren haben. Die einzige Konstante ist, dass sie dabei auf Sexualobjekte reduziert werden, die es wechselweise zu verhüllen oder zu entblößen gilt. So ist auch die Debatte um das »Burkaverbot« – oder noch offensichtlicher um das »Burkini-Verbot« in Frankreich – Teil des Versuchs einer patriarchal geprägten Gesellschaft, zu regulieren, was Frauen tragen dürfen und was nicht. Kleidungsvorschriften für Frauen sind Ausdruck von Geschlechterungleichheit. Das gilt aber genauso für Kleidungsverbote. In Frankreich wurde im April 2015 eine muslimische Schülerin wegen ihres zu langen Rocks vom Unterricht ausgeschlossen. In Deutschland wiederum wurde im Sommer 2015 die Debatte um ein »Hotpants-Verbot« an Schulen geführt, weil die kurzen Hosen angeblich zu aufreizend seien und »den Schulfrieden stören«. Weibliche Kleidung wird mit den haarsträubendsten Argumenten durchreguliert und eigentlich macht frau es immer irgendwie falsch. Margarete Stokowski hat das in ihrer Kolumne in der »taz« auf den Punkt gebracht: »Falls ihr eine Burka tragen wollt: bloß nicht! Zeigt mehr Haut! Falls ihr gerade nackt seid: Zieht euch gefälligst was an, ihr Schlampen!« Ein sehr bezeichnendes Bild dafür, wie es in unserer Gesellschaft um die Gleichberechtigung von Frauen bestellt ist, gaben die acht Innenminister der Union – allesamt Männer – ab, als sie vor die Kameras traten, um stolz grinsend im Namen der Emanzipation neue Kleidungsvorschriften für Frauen zu verkünden. Wenn Männer Frauen über ihren Kopf hinweg verbieten wollen, bestimmte Sachen zu tragen, weil sie Ausdruck von Unfreiheit seien, ist das schlicht ab-


TITELTHEMA | Rassismus

surd. Die Befreiung der vermeintlich unterdrückten muslimischen Frau hat derweil nichts mit der Lebensrealität der meisten Musliminnen in Deutschland zu tun. Was selbige denken, wollen und vorhaben, spielt in der Diskussion so gut wie keine Rolle. Frauen, die angeben sich freiwillig zu verschleiern, wird schlicht nicht geglaubt. Anstatt sich die Mühe zu machen, zu verstehen, warum es muslimische Frauen gibt, die sich aus freien Stücken einen Schleier anlegen, wird ihnen die eigene Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit abgesprochen. Der Studie »Muslimisches Leben in Deutschland« von 2009 zufolge tragen 72 Prozent der in Deutschland lebenden Musliminnen überhaupt kein Kopftuch. Eine andere Studie kommt zu dem Schluss, dass es sich »bei den Kopftuch tragenden Musliminnen mehrheitlich um selbstbewusste, religiöse Frauen handelt«. Frauen, die sich verschleiern, verbinden damit also nicht zwangsläufig Unfreiheit oder Unterordnung unter den Mann. Es gibt viele Gründe, warum eine Frau sich in Deutschland dazu entscheidet, ihre Haare oder ihr Gesicht zu verhüllen. Für nicht wenige ist es sogar ein Akt der Emanzipation, auch wenn sich das die westlichen Vorkämpfer für die Gleichberechtigung der muslimischen Frau nicht vorstellen können. Viele Frauen, die den Nikab tragen, verstehen sich selbst ausdrücklich als emanzipierte, religiöse Frauen. Einen antireligiösen Feminismus lehnen sie freilich ab. Doch genau wie der westliche Feminismus besteht eben auch der muslimische Feminismus aus vielen verschiedenen Strömungen, die teilweise sehr unterschiedliche Positionen vertreten – auch zum Kopftuch. Und manche vertreten eben auch die Meinung, dass das Tragen des Kopftuches für sie ein feministisches Statement ist. Gerade in Europa ist für viele muslimische Frauen die Verschleierung aber vor allem eines: ein Zeichen des Protests. Es ist einerseits eine Protestreaktion gegen die allgegenwärtige sexuelle Verfügbarkeit der Frau, aber auch gegen den wachsenden antimuslimischen Rassismus. Eine vollverschleierte Frau ist der Inbegriff der Ablehnung des westlichen Geschlechtermodells, deshalb wird sie auch so vehement bekämpft. Die individuellen Gründe, sich für ein Kopftuch oder sogar eine Vollverschleierung zu entscheiden, spielen aber im Grunde keine Rolle, denn der entscheidende Punkt ist, dass eine muslimische Frau sich fast immer – entgegen der vorherrschenden Stereotype – entscheidet. Und damit geht es ganz einfach niemanden mehr etwas an, was sie auf dem Kopf

oder vor dem Gesicht trägt oder eben nicht. Wohin ein Verbot führt, zeigt das Beispiel Frankreichs, wo die Vollverschleierung seit etwa fünf Jahren mit Geldbußen und einem Zwangskurs in Staatsbürgerkunde geahndet wird. Tatsächlich haben einige der lediglich 1900 Frauen, für die das Gesetz extra maßgeschneidert wurde, ihren Nikab abgelegt. Jedoch nicht unbedingt aufgrund der Sorge, vom Staat belangt zu werden, sondern vielmehr aus Angst vor rassistischen Übergriffen. »Ich habe angefangen, den Nikab zu tragen, als ich 16 war. Nach dem Gesetz habe ich es noch für weitere sechs Monate getan. Aber dann habe ich aufgehört. Ich fühle mich nicht mehr sicher, wenn ich ihn trage«, so eine Muslima aus Paris gegenüber dem Deutschlandfunk. »Die Polizei kontrolliert bloß die Identität oder verhängt das Bußgeld. Danach sind sie wieder weg. Aber die Leute können aggressiv werden.« Muslimische Verbände beklagen seit Verabschiedung des Gesetzes, die Aggressionen gegenüber verschleierten Frauen hätten generell zugenommen. Das Gesetz biete inzwischen vielen einen »legalen Deckmantel, verschleierte Frauen anzupöbeln«. Nahezu zynisch erscheint vor diesem Hintergrund Innenminister de Maizières Begründung, es ginge beim Vorstoß der Union um den »gesellschaftlichen Zusammenhalt«. Während auch in Deutschland der antimuslimische Rassismus seit Jahren auf dem Vormarsch ist, wöchentlich Anschläge auf Moscheen verübt werden und die AfD immer unverhohlener gegen Muslime hetzt, möchte der Minister den »gesellschaftlichen Zusammenhalt« stärken, indem er mit staatlicher Repression gegen eine diskriminierte Minderheit vorgeht.

Das Kopftuch kann auch feministisches Statement sein

Das Kalkül ist offensichtlich: Die Unionsminister versuchen sich mit einer rassistischen Kampagne gegenüber der erstarkenden AfD zu behaupten. Doch statt sie zu schwächen, wird es der AfD nur noch größeren Zulauf bescheren, wenn der Rassismus gegen Muslime immer weiter geschürt wird. Linke sollten für das Recht eintreten, die Religion zu kritisieren, genauso wie für das Recht, sie auszuüben. Sie sollten sich für das Recht einsetzen, den Schleier nicht tragen zu müssen, wie für das Recht von Frauen, ihn doch zu tragen, wenn sie das wünschen. Vor allem aber sollten wir die Vorstöße der Kulturkämpfer der Union, die unter dem Deckmantel der Emanzipation daherkommen, als das enttarnen, was sie sind: rassistische, autoritäre und frauenfeindliche Politik. ■

Martin Haller ist Redakteur von marx21.

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TITELTHEMA | Rassismus

Im nächsten September wird ein neuer Bundestag gewählt. Die ehemals großen Parteien SPD und CDU verlieren an Zustimmung. Doch konnte die Linkspartei davon bisher kaum profitieren, stattdessen feierte die rechte AfD Erfolge. Sechs Thesen, wie DIE LINKE das ändern kann Vom Netzwerk marx21

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Krisen, Kriege, Verarmung – die Welt gerät aus den Fugen. DIE LINKE muss als Opposition gegen die herrschenden Verhältnisse und den Politikbetrieb erkennbar werden und sich neben konkreten Reformvorschlägen deutlicher mit Antikapitalismus profilieren. Ein wichtiger Grund für die abnehmende Bindekraft der großen Volksparteien und des parlamentarischen Systems ist die Erfahrung, dass unterschiedliche Regierungskonstellationen die Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in einer »Abstiegsgesellschaft« vorangetrieben und dafür gesorgt haben, dass die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Verstärkt wird dies durch die zunehmende Instabilität: Ökonomisch durch eine Abfolge von Krisen seit 2008 – Bankenkrise, Schuldenkrise, Eurokrise. Politisch durch die Verschärfung der Staatenkonkurrenz um Rohstoffe und Märkte, die ihren Ausdruck findet im Säbelrasseln der Nato mit Russland und im Krieg in Syrien mit der damit einhergehenden humanitären Katastrophe. DIE LINKE muss diese Missstände mit einem antikapitalistischen Profil anklagen – als Auswirkungen eines Systems, in dem die Profitinteressen der Wenigen den Bedürfnissen der Vielen entgegengesetzt sind. Das Profil der LINKEN muss schärfer und kämpferischer werden als in den Wahlkämpfen in Sachsen-Anhalt (»Wirtschaftskenner«, »Frauenversteher«) und Mecklenburg-Vorpommern (»Aus Liebe zu M-V«, »Heimat ist dort, wo Familie ist«), wo die Partei selbst aus der Opposition heraus Wählerstimmen verlor. Hier können wir von den Linkspolitikern Bernie Sanders aus den USA und Jeremy Corbyn aus Großbritannien lernen. Deren Kampagnen haben gezeigt, wie man mit linkspopulistisch zugespitzter antikapitalistischer Ansprache ausgreifen und mobilisieren kann.

gen Law and Order und Ressentiments gegen Geflüchtete und Muslime das Auftreten der Regierung und geben den rechten Hetzern der AfD Aufwind. In diesen Fragen ist DIE LINKE noch nicht auf klarem Kurs. Besonders problematisch war das Eintreten von Sahra Wagenknecht für Obergrenzen und gegen offene Grenzen. Auch wenn sie damit das Ziel verfolgte, an die Unzufriedenheit mit Merkels Flüchtlingspolitik anzuknüpfen und sich Gehör für linke Positionen in der sozialen Frage zu verschaffen, ist diese Position gefährlich, weil sie der AfD in Teilen vermeintlich Recht gibt. Nicht Geflüchtete oder offene Grenzen sind das Problem, sondern dass Milliarden für Bankenrettungen ausgegeben wurden und der Reichtum ungleich verteilt ist. Geflüchtete zu Sündenböcken zu machen – wie es AfD, Pegida und Konservative tun –, ist ein Ablenkungsmanöver. Rassismus als »Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse« (Karl Marx) ist kein Nebenthema, sondern muss von der LINKEN als eine Ideologie der Spaltung angegriffen werden. Diese Ideologie der Spaltung richtet sich insbesondere gegen Muslime. Die islamfeindliche Hetze ist nach wie vor der wichtigste Antrieb für den Aufstieg der AfD. DIE LINKE muss dem entgegenhalten: Ja zur Religionsfreiheit – ohne Wenn und Aber: Keine Diskriminierung des islamischen Glaubens. Selbst wenn alle Muslime in Deutschland heute zum Christentum konvertieren würden, gäbe es morgen noch niedrige Löhne, Armutsrenten, schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit und Hartz IV. Der Kampf gegen Rassismus und der Kampf um soziale Gerechtigkeit gehören zusammen. Rassistische Vorstellungen behindern den gemeinsamen Kampf gegen prekäre Verhältnisse. Derzeit sehen wir aber, wie Rassismus aufgrund des niedrigen Niveaus der Klassenkämpfe bis in die organisierte Arbeiterschaft ausgreifen kann – in Mecklenburg-Vorpommern haben 21 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder AfD gewählt. Antirassistische Aufklärungskampagnen, wie die des Bündnisses Aufstehen gegen Rassismus, sind auch für die weitere Entwicklung der betrieblichen und sozialen Kämpfe entscheidend.

Von Sanders und Corbyn lernen

2.

Wir können nur gewinnen, wenn wir in der Debatte um Maßnahmen gegen Geflüchtete und Muslimas und Muslime klar Position beziehen. Tun wir es nicht, wird die Bundesregierung das Thema weiter nutzen, um von den wirklichen Problemen abzulenken und die Bevölkerung zu spalten. Das müssen wir ansprechen, auch wenn wir uns damit nicht nur Freunde machen. In der Flüchtlingspolitik ist die Zeit des »freundlichen Gesichts« (Merkel) offenbar vorbei. Nun prä-

3.

DIE LINKE steht für eine radikale Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und ein Ende der imperialistischen Außenpolitik statt für einen stärkeren Staat und mehr Polizei. Nach den jüngsten terroristischen Anschlägen in Europa ist der Ruf nach schärferen Sicherheitsge-

Links: Wahlplakat der LINKEN in Berlin-Neukölln für die Abgeordnetenhauswahl im September

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Straße gingen, war die Polizei zur Stelle und ging mit brutaler Härte gegen die Protestierenden vor.

4.

© BUND / Jörg Farys / flickr.com / CC BY-NC

DIE LINKE muss eine offene Strategiedebatte darüber führen, wie sie auf den Aufstieg der AfD reagiert.

Am 17. September gehen 320.000 Menschen in sieben Großstädten gegen CETA und TTIP auf die Straße. Die Bundesregierung wird das Thema nicht aus dem Wahlkampf heraushalten können – eine gute Gelegenheit für DIE LINKE

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setzen lauter geworden. Polizei und Geheimdienste sollen größere Befugnisse und mehr Mittel erhalten. Dabei sind die Geheimdienste unbeliebter denn je. Laut einer Umfrage haben zwei Drittel der Bevölkerung kaum oder gar kein Vertrauen in den Bundesnachrichtendienst. Die Linkspartei darf sich hier auf keinen Fall kompromissbereit zeigen. Stattdessen muss sie die Ursachen von Terrorismus benennen – ohne Rücksichtnahme auf rot-rot-grüne Regierungsoptionen: Interventionskriege, Waffenlieferungen und die Besatzung im Nahen Osten durch den Westen bieten immer neuen Nährboden für Terrorismus. Zudem ist die Forderung nach mehr Polizei, der sich auch einige LINKEN-Politiker angeschlossen haben, die falsche Antwort: Mehr Polizei schützt nicht vor Anschlägen. Nach den Terroranschlägen in Brüssel schickte Frankreich weitere 1600 Polizistinnen und Polizisten auf die Straße. Den Anschlag von Nizza hat dies nicht verhindert. Aber als dann hunderttausende Französinnen und Franzosen gegen die neoliberalen Arbeitsmarktreformen auf die

Immer wieder wird die Idee eines Lagerwahlkampfs mit SPD und Grünen ins Feld geführt, welcher der rechten Hetze ein positives Projekt entgegenstellen soll. Dafür haben sich zuletzt Bodo Ramelow, Gregor Gysi und Klaus Lederer stark gemacht. Gysi vertritt die These, dass die »Sozialdemokratisierung der CDU« unter Merkel für den Erfolg der AfD verantwortlich sei. Es sei deshalb Aufgabe der LINKEN, die Union durch ein rot-rotgrünes Regierungsbündnis in die Opposition zu drängen, wo sie dann die AfD als zweite rechte Kraft überflüssig machen würde. Das ist doppelt falsch: Erstens bedeuten Asylrechtsverschärfung, Überwachungsmaßnahmen und Integrationsgesetze keinen Linkskurs der Union. Zweitens wird eine Regierungsbeteiligung der LINKEN nur zum Preis der Anpassung an den neoliberalen Kurs von SPD und Grünen zu haben sein. Wenn sie aber zentrale linke Positionen aufgibt, wird sie nur als weitere »Systempartei« angesehen werden. Und dies spielt der AfD in die Hände. Vertreterinnen und Vertretern des linken Flügels halten dem Reformerflügel zu Recht entgegen, dass SPD und Grüne als Verantwortliche für Hartz IV und die Agenda 2010 den Nährboden für Rassismus und den Aufstieg der AfD selbst geschaffen haben. Diese Kritik ist richtig. Aber es greift zu kurz, den Aufstieg der AfD lediglich als Konsequenz einer neoliberalen Politik der etablierten Parteien zu erklären. Der Erfolg der AfD beruht darauf, dass sie die diffuse Unzufriedenheit auf Geflüchtete und Muslime lenkt. Darauf muss DIE LINKE mit einem klar antirassistischen Profil reagieren. Sie darf diesem Problem nicht ausweichen, indem sie lediglich soziale Forderungen in den Raum stellt. Die AfD wird nur durch breite antirassistische und antifaschistische Initiativen und eine konfrontative Strategie zu stoppen sein, die den stärker werdenden Naziflügel in der Partei demaskiert und die AfD so in innere Widersprüche treibt. Die Demonstration vom Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« am 3. September mit 6000 Teilnehmern war ein Anfang.

5.

DIE LINKE braucht ein eigenständiges Profil statt eines Lagerwahlkampfs. Für r2g fehlen die Grundlagen: Mit der SPD ist kein Politikwechsel absehbar.

Führende Vertreter der SPD fordern von der LINKEN immer wieder ein Bekenntnis zur Nato, zu Aus-


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landseinsätzen der Bundeswehr und zum Kürzungszwang, den die Europäische Union auf Krisenländer wie Griechenland ausübt. Der Philosoph Michael Brie hat vor diesem Hintergrund jüngst in einem Beitrag zur Strategie der LINKEN im »Neuen Deutschland« darauf hingewiesen, dass auf Bundesebene derzeit weder SPD noch Grüne für einen grundlegenden Politikwechsel zu haben sind. Unter diesen Umständen würde DIE LINKE mit einer Regierungsbeteiligung »die Rechten weiter stärken und zugleich ihren eigenständigen politischen Gebrauchswert verlieren.« Wie aber soll DIE LINKE damit umgehen, dass sich die Mehrheit ihrer Wählerinnen und Wähler und auch viele Anhänger der Grünen und der SPD eine rot-rot-grüne Regierung wünschen? Sie muss Mindestbedingungen für einen grundlegenden Politikwechsel gegenüber ihren potenziellen Koalitionspartnern formulieren. Die Orientierungspunkte stehen im Grundsatzprogramm von 2011: »An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt, die Privatisierungen der Daseinsvorsorge oder Sozialabbau betreibt, deren Politik die Aufgabenerfüllung des Öffentlichen Diensts verschlechtert, werden wir uns nicht beteiligen.« Dazu müssen aktuelle Forderungen kommen, wie beispielsweise die Reichensteuer, die Rücknahme von TTIP und CETA, der Kampf gegen Altersarmut, eine Ende der Erpressung der von der Krise besonders betroffenen EU-Länder und die Beendigung der Massensterbens im Mittelmeer durch die Öffnung der Fluchtrouten. Solche Mindestbedingungen sind unabdingbar, weil eine Beteiligung der LINKEN ohne Politikwechsel die Glaubwürdigkeit der Partei zunichtemacht. Die Verantwortung für die enttäuschten Hoffnungen der Wählerinnen und Wähler trägt hingegen die SPD, wenn sie (wie absehbar) die Mindestbedingungen ablehnt und so eine andere Politik verhindert. Knackpunkt ist die Ablehnung der Militarisierung der Außenpolitik: Die Pläne des Bundesverteidigungsministeriums, die Bundeswehr milliardenschwer aufzurüsten, die Debatte über zukünftige Bundeswehreinsätze innerhalb Deutschlands oder die Auslandseinsätze, an denen die Bundeswehr sich heute schon beteiligt – und nicht zu vergessen die Waffenlieferungen. DIE LINKE steht als einzige Partei für eine Abkehr von dieser Politik.

6.

Der Kampf um wirkliche Veränderung findet vor allem außerhalb der Parlamente statt. Statt auf eine Regierungsbeteiligung zu hoffen, sollte DIE LINKE sich mehr dafür einsetzen, gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen.

Die Bundesregierung steht nicht nur von rechts unter Druck. Mitte September gingen erneut 320.000 Menschen in sieben Großstädten gegen CETA und TTIP auf die Straße. Kanzlerin Angela Merkel wollte ebenso wie der Vizekanzler und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel vermeiden, dass die Verhandlungen bei den Bundestagswahlen zum Thema werden. Doch das Thema »rauszuhalten« wird schwierig: Ist das weitere Verfahren bei TTIP noch ungewiss, so

Menschen ermutigen, selbst aktiv zu werden

müssen die Koalitionsparteien bei CETA Farbe bekennen. Schon jetzt laufen Volksbegehren, um das Freihandelsabkommen mit Kanada im Bundesrat zu stoppen. Die Diskussion bietet für DIE LINKE im Wahlkampf eine gute Gelegenheit, die konkreten Alltagssorgen der Menschen aufzugreifen und die Zusammenhänge imperialer Staatenkonkurrenz aufzuzeigen. Entscheidend wird auch sein, dass DIE LINKE sich stärker mit den gewerkschaftlichen Kämpfen verbindet. Eine der Auseinandersetzungen, die bundesweit anstehen, sind die Kämpfe an den Krankenhäusern. Ver.di wird im Jahr 2017 Druck für eine bessere Personalausstattung in der Pflege machen. Diese Auseinandersetzung ist hochpolitisch: Es geht um die Krankenhausfinanzierung, um die Aufwertung von Pflegeberufen und um eine Gesundheitsversorgung, die weniger vom Geldbeutel abhängt. DIE LINKE kann diesen Konflikt zusammen mit ver.di und den Beschäftigten in die Öffentlichkeit tragen. Damit macht sie die Auseinandersetzung zu einem Wahlkampfthema und unterstützt zugleich die Beschäftigten. Die Kampagne der Partei »Das muss drin sein« bietet die Möglichkeit, schon jetzt aktiv zu werden. Genauso, wie die »Das muss drin sein«-Kampagne das soziale Profil der LINKEN schärft und mit echten Auseinandersetzungen verbindet, sollten die Aktivitäten im Rahmen von »Aufstehen gegen Rassismus« das zentrale Moment für unseren Kampf gegen die Demagogen und Brandstifter der AfD sein. Es gilt, beide Elemente in einem bewegungsorientierten Wahlkampf zu bündeln und damit die Menschen zu ermutigen, selbst aktiv zu werden. So kann ein anderes »Lager« sich formieren: in einem Lagerwahlkampf »unten gegen oben«, der aus mehr besteht als alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen, nämlich selbst für eine bessere Welt zu kämpfen. ■

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Partei in Aktion: DIE LINKE Neukölln im Wahlkampfendspurt

Kopftuch und Klassenkampf Bei den Berliner Wahlen holte DIE LINKE in Neukölln besonders viele Stimmen. Das Erfolgsrezept: ein antikapitalistischer und antirassistischer Wahlkampf Von Lucia Schnell und Yaak Pabst

Lucia Schnell ist Sprecherin der LINKEN in Berlin-Neukölln.

Yaak Pabst ist Redakteur von marx21.

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s war der bisher stärkste Wahlkampf, den DIE LINKE in Neukölln auf die Beine gestellt hat: eine wirkliche Herausforderung. Unser Bezirksverband hatte zu Beginn der Wahlkampagne 380 Mitglieder. Während die Neuköllner SPD 9.950 Euro für den Wahlkampf vom Baulöwen und Spekulanten Klaus Groth und die Berliner Grünen 270.000 Euro von einem Finanzhai überwiesen bekamen, war unser Budget klein. Unser Pfund war eine scharfe politische Ausrichtung, unsere Verankerung und unsere Aktivitäten auf der Straße. Uns war klar, dass der Rassismus von AfD und Co. im Wahlkampf eine große Rolle spielen würde, aber auch die soziale Misere durch Niedriglöhne, Hartz IV und hohe Mieten. Unser Bezirksplakat zielte auf Solidarität gegen den vorherrschenden antimuslimischen Rassismus und den gemeinsamen Kampf

für soziale Gerechtigkeit: »Neukölln solidarisch. Menschen vor Profite«, lautete der Slogan. Auf dem Bild reckten eine Genossin mit Kopftuch und ein Genosse gemeinsam die Fäuste. Die Wahlergebnisse können sich sehen lassen: Der Anteil bei den Zweitstimmen für das Abgeordnetenhaus von 13,6 Prozent bedeutet einen Zugewinn von 8 Prozentpunkten gegenüber dem Jahr 2011. In absoluten Zahlen haben wir unser Ergebnis fast verdreifacht. Das gilt auch für die Stimmen, die wir bei der Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung (BVV) erreicht haben. Dort gewannen wir 7,5 Prozentpunkte dazu und kommen jetzt auf 12,2 Prozent. Statt drei Bezirksverordneten hat DIE LINKE jetzt sieben. Wir konnten junge Leute zur Wahl der Linkspartei bewegen und auch Zugewanderte. Besonders stark sind wir im Norden des Bezirks, wo viele Menschen von Niedriglöhnen und Hartz IV be-


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© Klaus-Dieter Heiser

machen, wenn sich immer mehr Menschen engagieren und ihre Interessen selbst in die Hand nehmen. DIE LINKE wird auch nach der Wahl im Parlament und auf der Straße für bessere Lebensverhältnisse kämpfen. Sie steht für eine Gesellschaft, in der nicht der Profit das Maß aller Dinge ist, sondern die Bedürfnisse der Menschen. Sie ist die Partei für den Alltag und nicht nur für den Wahltag.«

Das absolute Ergebnis fast verdreifacht

troffen sind. Die AfD hat vor allem im Süden Neuköllns sehr stark gewonnen, wo wir unsere Ergebnisse zwar auch fast verdoppeln konnten, aber wenig verankert sind. Zentrales Wahlkampfmittel war unsere Bezirkszeitung »Neu-Köllnisch«. Wir verteilten 20.000 Exemplare der Septemberausgabe vor den S- und U-Bahnhöfen, auf zentralen Plätzen, vor dem Jobcenter oder freitags vor verschiedenen Moscheen, wo wir besonders gut ankamen. In der achtseitigen Zeitung stellten wir unsere »Sieben Sofort-Maßnahmen für Neukölln« vor. Außerdem kamen unsere Direktkandidaten zu Wort. Aber auch Artikel zur Situation von Geflüchteten im Kiez, gegen hohe Mieten und Verdrängung im Bezirk oder ein Aufruf zur Demo gegen TTIP und CETA waren in der Zeitung zu finden. Im Editorial heißt es: »DIE LINKE kann den Unterschied

Zum ersten Mal kämpften wir auch um die Direktmandate im Norden Neuköllns. Jede Kandidatin und jeder Kandidat hatte ein eigenes »Schwerpunktthema«: Ihre Slogans lauteten »Millionäre zur Kasse«, »Löhne rauf, Mieten runter«, »Solidarität statt Rassismus«, oder »Kriege und Waffenexporte stoppen«. In diesen Forderungen kommt zum Ausdruck, dass wir den Wahlkampf nicht nur auf lokale Themen begrenzen wollten. Wir klebten auch »wild« eigene Papierplakate wie »Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten«, »Das Tempelhofer Feld bleibt frei. Nein zu Privatisierung und Spekulation« und »Weg mit dem Hartz-IV-System und Niedriglöhnen«. Leider hat die Landespartei die niedrigen Löhne kaum thematisiert, obwohl es entsprechende Bewegungen in den ausgegliederten Tochterunternehmen der Krankenhäuser, anderer öffentlicher Betriebe und auch bei den angestellten Lehrkräften gibt. Unsere Kandidaten in den drei Wahlkreisen des Neuköllner Nordens, Sarah Moayeri, Irmgard Wurdack und Ruben Lehnert, haben mit diesem Profil jeweils mehr als zwanzig Prozent der Erststimmen gewinnen können. Besonders interessant: Der Abstand zwischen SPD, Grünen und LINKEN beträgt im Wahlkreis 3, in dem vierzig Prozent HartzIV-Betroffene leben, weniger als 150 Stimmen (von 16.000), so dass man kaum mehr von einem »SPDWahlkreis« sprechen kann. Auch im Wahlkreis 2, wo Irmgard Wurdack antrat, konnten wir Anhänger der SPD überzeugen, DIE LINKE zu wählen. Das lag neben unserem Eintreten für soziale Gerechtigkeit auch daran, dass der Direktkandidat der SPD religionsfeindlich gegen Muslime auftrat. Mit dieser Linie blieb er hinter unserer Direktkandidatin zurück, die gegen die Islamfeindlichkeit klar Stellung bezog. Organisiert haben wir den Wahlkampf in einem »offenen Wahlaktiv«. Das war wichtig, um neue Leute zu integrieren, Aktionsideen zu entwickeln und über die einzelnen Basisorganisationen (BOs) hinweg Kräfte zu bündeln. Das Rückgrat des Wahlkampfs waren die BOs mit ihren Aktionen und der Unterstützung der jeweiligen Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten. So konnten wir den Wahlkampf nutzen, um auch unsere lokalen Strukturen und die Verankerung im Kiez zu stärken. Das hat sich bewährt. In den vergangenen Wochen waren zwischen 100 und 130 Mitglieder und Sympa-

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thisanten aktiv. Allein zur Wahlkampfauftaktveranstaltung kamen fast achtzig Leute. Die Sprüche für Plakate und Aufkleber entwickelten wir selbst. Die Beteiligung der Mitglieder an der Gestaltung des Wahlkampfs war ein Schlüssel für das große Engagement. Gemeinsam mit Sympathisantinnen entwickelten wir Flugblätter speziell zum Verteilen beim muslimischen Freitagsgebet, die auch ins Türkische und Arabische übersetzt wurden. Darin stellten wir unsere zentralen Forderungen vor, sprachen aber auch Geflüchtete und Menschen an, die nicht wählen dürfen. Unsere Aktivitäten wurden auf diese Weise genauso vielfältig wie die Bedürfnisse und Vorlieben unserer Wahlkämpfenden. Ob Kneipentouren, Straßentheater, Steckaktionen, Lautsprecherfahrten, Lesungen unter freiem Himmel oder der klassische Infostand – für alle gab es die passende Aktivität. Das Selbstbewusstsein und die Überzeugungskraft der Aktiven wuchsen im Straßenwahlkampf, bei LautiTouren, die mit Fahrradbegleitung unsere politischen Botschaften und gute Musik verbreiteten.

nem zentralen Platz ihr Buch: »Wer flüchtet schon freiwillig?« vor und Bernd verstärkte uns bei einer Kundgebung für mehr Personal beim Vivantes-Klinikum in Neukölln. Auf unserer großen Kundgebung am 3. September auf dem Hermannplatz sprachen neben Gregor Gysi, Klaus Lederer und unseren Kandidatinnen und Kandidaten auch Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter über ihren Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne: Der Betriebsrat des Vivantes-Klinikum in Neukölln, wo für mehr Personal und gegen Niedriglöhne gekämpft wird, ein Berliner Lehrer und ein Kandidat der LINKEN, der selbst von Leiharbeit betroffen ist. Auch dabei waren der Sprecher der Britzer Flüchtlingshilfe und der Initiative »Hufeisern gegen rechts«, ein Vertreter des Volksentscheids Fahrrad und der Initiative »Volksentscheid retten«. Damit bekommt DIE LINKE für die Menschen eine praktische Bedeutung – nicht zuletzt, weil wir uns auch mit eigenen inhaltlichen Positionen in die verschiedenen Bewegungen eingebracht haben. Zum Schluss riefen wir alle Teilnehmenden dazu auf, sich der Demonstration von AgR anzuschließen, die direkt im Anschluss stattfand.

Bündnisarbeit mit einem eigenen scharfen Profil

Dazu kam unsere Bündnisarbeit gegen rechts. Auch während des Wahlkampfs waren Genossinnen im »Bündnis Neukölln – Miteinander für Demokratie, Respekt und Vielfalt« aktiv. Für uns war es kein Widerspruch, gemeinsam mit SPD und Grünen im Rahmen von »Aufstehen gegen Rassismus« (AgR) gegen die AfD oder NPD zu demonstrieren und trotzdem ein eigenständiges scharfes Profil zu entwickeln. So meldeten wir mit dem »Bündnis Neukölln« eine Kundgebung gegen die Teilnahme eines AfDlers an einer öffentlichen Podiumsdiskussion an. Auf der Kundgebung sprachen eine Muslimin mit türkischen Wurzeln, ein Mitglied der kurdischen Linkspartei HDP und die Wahlkreiskandidatinnen der Grünen und der LINKEN. Ein Erfolg: Mehr als 150 Menschen kamen zur Kundgebung – und den Protest setzten wir auch im Saal fort. Auch gegen die NPD waren wir stets vor Ort sichtbar und haben den Nazis die Tour vermasselt. Immer mit von der Partie: ein Aufklärungsflugblatt über die AfD. Toll war, dass auch die LINKEN-Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger unseren Wahlkampf unterstützten. Katja stellte in einer Lesung auf ei-

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Unsere Geschäftsstelle im Kiez glich einem Bienenstock: Den ganzen Tag kamen Mitglieder und Sympathisanten herein und schwärmten, ausgestattet mit Material, wieder aus. Der »48 Stunden-Wahlkampf« bot mit Frühstück, Kinderbetreuung, gemeinsamen Erlebnissen im Straßenwahlkampf und hinterher einem Erfahrungsaustausch den Rahmen für den Endspurt. Für die letzten Tage druckten wir ein Extra-Flugblatt »DIE LINKE macht den Unterschied: gegen steigende Mieten, Rassismus und für die Millionärssteuer«. Davon haben wir 35.000 Flugblätter an Haustüren geklebt oder verteilt und waren in Nord-Neukölln am Wahlwochenende sehr präsent. Wichtig war auch, dass wir ausreichend Flugblätter auf Arabisch und Türkisch produzierten. Der Wahlkampf in Neukölln zeigt, dass DIE LINKE mit einem aktiven antirassistischen und antikapitalistischen Profil weit ausgreifen kann. In diesem Jahr konnten wir bisher fünfzig neue Mitglieder gewinnen – die meisten während des Wahlkampfes. Sie sind so bunt wie unser Bezirk: Arbeiterinnen, junge Leute, Geflüchtete. ■


LAIKA VERLAG NEUERSCHEINUNGEN

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CHRIS HARMAN

WER BAUTE DAS SIEBENTORIGE THEBEN? Wie Menschen ihre Geschichte machen

Wer baute das siebentorige Theben ist ein beeindruckendes Werk über die Entstehung von Klassengesellschaften und die Bewegungen zu deren Überwindung. Harmans Weltgeschichte zeigt die wirklichen Triebkräfte der Geschichte auf. »A People’s History of the World ist für mich ein unersetzliches Nachschlagewerk.« Howard Zinn, Autor von Eine Geschichte des amerikanischen Volkes

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Ellen Meiksins Wood DAS IMPERIUM DES KAPITALS »Ein großartiges Buch«, so Eric Hobsbawm über Das Imperium des Kapitals, in dem die wichtige marxistische Denkerin der Frage nachgeht, was Imperialismus bedeutet, wenn es keine Kolonialherrschaft gibt. Das heutige kapitalistische Imperium, so analysiert Wood eindrucksvoll, hat eine neue militärische Doktrin eines Krieges hervorgebracht, der sowohl zeitlich als auch in Bezug auf seine Ziele keine Grenzen kennt.

Daniel Bensaïd EIN UNGEDULDIGES LEBEN Eine packende politische Autobiografie des Aktivisten und Philosophen. Persönlicher Werdegang und politisches Zeitgeschehen verbinden sich bei Bensaïd, der aus der doppelten Perspektive des Akteurs und klugen Beobachters erzählt. Die Schilderung der Entwicklung der Neuen Linken in Frankreich und Lateinamerika macht dieses Werk für deutsche Linke besonders spannend.

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Robert Lanning GEORG LUKÁS UND DIE ORGANISIERUNG VON KLASSENBEWUSSTSEIN Der marxistische Begriff des Klassenbewusstseins ist weiterhin wichtig, so Lanning, weil er das Verhältnis zwischen Individuen und politischen Bewegungen der Klassenorganisierung zu fassen vermag. Damit bietet das Buch einen wichtigen Beitrag, um neu über die Organsiationsfrage nachzudenken. Mit einem Vorwort von Rüdiger Dannemann, Vorsitzender der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft. 288 Seiten / € 29 ISBN 978-3-944233-70-3

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Das 1886 vollendete Gemälde »Der Streik« von Robert Koehler zeigt die Konfrontation eines Unternehmers mit einer Gruppe streikender Arbeiter. Die frühen 1870er Jahre sind sowohl die Zeit der ersten großen Massenstreiks im Deutschen Reich als auch des Aufkommens des modernen Antisemitismus. Die SPD kämpfte gegen Antisemitismus und unterstützte die Streiks

»Von Judenfresserei wollten sie nichts wissen« Von der SPD lernen, heißt siegen lernen? Ja! Allerdings müssen wir dafür ganze 140 Jahre zurückblicken. In der Frühphase des Antisemitismus stürzte sich die damals junge und noch revolutionäre Sozialdemokratie offensiv in den Kampf gegen Rassismus Von Volkhard Mosler

Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

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tuttgart im Februar 1873: In einem Einkaufsladen ohrfeigt ein Offizier einen jüdischen Geschäftsmann. Dieser ruft die Polizei, die den Offizier aus dem Laden schmeißt. Daraufhin entwickeln sich tagelange antisemitische Ausschreitungen in der Innenstadt, bei denen jüdische Geschäfte zerstört und geplündert werden. Die Stuttgarter Krawalle sind der Vorbote einer sich langsam formierenden und dann gegen Ende des Jahrzehnts rasch ansteigenden ersten Welle des modernen Antisemitismus in Deutschland. Der Aufstieg des Antisemitismus fällt zusammen mit der

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Gründerkrise von 1873 und ihr Einmünden in eine über zwanzigjährige lange Depression der Wirtschaft. Doch die Krise führte politisch mit ihren enormen sozialen Verwerfungen auch zum Anwachsen und zur Radikalisierung der 1875 aus zwei Strömungen vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), der späteren SPD. Nach dem Außerkrafttreten des Sozialistengesetzes im Herbst 1890 änderte die Partei ihren Namen in Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Die SAP erhielt bei der ersten Reichstagswahl im Jahr 1871 3,2 Prozent der Stimmen, 1874 kam sie auf neun Prozent und 1877 trotz einsetzender Verfolgung auf 9,7 Prozent. Reichskanzler Bismarck und


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Judentum«) gelang es Stoecker, große Massen anzuziehen. Paul Massing schreibt in seinem Buch »Vorgeschichte des politischen Antisemitismus« über die damalige Zeit: »Von 1879 bis in die Mitte der achtziger Jahre hielt die so genannte Berliner Bewegung (von Stoecker, Anm. d. Red.) (...) die Hauptstadt in Aufruhr. Ihr Gedankengut war ein Gemisch aus christlichsozialen, konservativen, orthodox-protestantischen, antisemitischen, sozialreformerischen und staatssozialistischen Elementen.« Den größten Teil ihrer Anhängerschaft stellten Handwerker, Büroangestellte, Studenten, untere Beamte, kleine Geschäftsleute und andere Mittelständler. An Adolf Stoeckers regelmäßigen Massenversammlungen nahmen in den frühen 1880er Jahren durchschnittlich 2000 bis 3000 Menschen teil. Themen waren die »Judenfrage«, »Unfallversicherung« oder »Das Handwerk gestern und heute«.

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Eine tödliche Gefahr für Monarchie und Kapital

der Kaiser sahen in der neuen Partei eine potenziell tödliche Gefahr für die Monarchie und das Kapital. Es war daher kein Zufall, als 1878 der Hofprediger des Kaisers, Adolf Stoecker, eine neue Christlich-Soziale Arbeiterpartei (CSAP) gründete. Stoecker genoss die stillschweigende Zustimmung und Förderung höchster Kreise. Die neue Partei trat zunächst mit einem sozialen Reformprogramm auf, das Proletariat sollte wieder vertrauen in Kirche und Staat gewinnen. Nach einem Attentat auf den Kaiser ließ Bismarck die SAP verbieten und schrieb Neuwahlen aus. Die Partei durfte noch bei Wahlen kandidieren, jegliche Organisationstätigkeit war ihr aber verboten. Trotz einer Hetzkampagne gegen den »roten Terror« ohnegleichen verlor die SAP nur geringfügig (von 9 auf 7,6 Prozent), die CSAP konnte in ihre Hochburgen in Berlin nicht einbrechen, Stoeckers Versuch, die SAP zu spalten, war gescheitert. Daraufhin änderte er seine Taktik, den Namen (Christlichsoziale Partei) und das Programm der Partei. Mit einer offen antisemitischen Rede (»Unsere Forderungen an das

Unterstützung erhielt er vom Establishment. Der bekannteste Historiker seiner Zeit, Heinrich von Treitschke, hatte 1879 in einem Artikel geschrieben: »Die Juden sind unser Unglück« und damit eine zwei Jahre andauernde »Antisemitismus-Debatte« in Deutschland ausgelöst. Zwischen 1873 und 1890 erschienen über 500 Bücher, Broschüren und Artikel, die sich ausschließlich der »Judenfrage« widmeten. Und so wie es im Kampf gegen Merkels »verfehlte Flüchtlingspolitik« keine »bessere« Waffe gibt als die islamfeindliche AfD, so gab es damals keine bessere Waffe gegen den »jüdischen Liberalismus« als Stoeckers Christlich-Sozialen, die sich in die Rechtspartei DKP (Deutsche Konservative Partei) eingegliedert hatten – mangels parlamentarischer Erfolgsaussichten als selbständige Organisation. Bald kam es dann auch zu anderen, uns heute nicht unbekannte »Nebenwirkungen«. In verschiedenen Städten wurden Synagogen angezündet, jüdische Geschäfte geplündert – das waren Auswüchse von Stoeckers Agitation, von denen dieser sich freilich »distanzierte«. In der Silvesternacht 1880 kam es in Berlin erstmals seit Stuttgart 1873 wieder zu judenfeindlichen Krawallen. Vorausgegangen war eine antisemitische Massenveranstaltung in der Berliner Innenstadt. Der Sozialdemokrat Eduard Bernstein schrieb: »Organisierte Banden zogen (...) vor die besuchteren

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Cafés, brüllten (...) taktmäßig immer wieder ›Juden raus!‹ (...) und provozierten auf diese Weise Prügelszenen, Zertrümmerung von Fensterscheiben und ähnliche Wüstheiten mehr. Aber natürlich unter der Phrase der Verteidigung des deutschen Idealismus gegen jüdischen Materialismus und des Schutzes der ehrlichen deutschen Arbeit gegen jüdische Ausbeutung.«

Oben: Die Reichstagsfraktion der SPD von 1889 (sitzend, von links nach rechts): Georg Schumacher, Friedrich Harm, August Bebel, Heinrich Meister, Karl Frohme; (stehend, von links nach rechts): Johann Dietz, August Kühn, Wilhelm Liebknecht, Carl Grillenberger, Paul Singer Unten: Der Theologe und Begründer der »Berliner Bewegung« Adolf Stoecker hetzte sowohl gegen den »verjudeten« Großkapitalismus als auch gegen die »verjudete« Linke

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Der Wahlkampf von 1881 stellte alle vorangegangenen in den Schatten. Stoecker ließ am Vorabend der Wahl ein Flugblatt verteilen, in dem er vor dem sozialdemokratischen »Umsturz« warnte und dagegen »soziale Reformen auf christlicher Grundlage« forderte und gegen die »Ansammlung des mobilen Kapitals in wenigen, meist jüdischen Händen« wetterte. Das Flugblatt endete mit dem Satz: »Ich will keine Kultur ohne Deutschtum und Christentum, deshalb bekämpfe ich die jüdische Übermacht.« Bismarck hielt zwar offiziell weiter Distanz zu Stoeckers Antisemiten. In einem privaten Brief an seinen Sohn schrieb er allerdings »Stoeckers Wahl ist dringend zu wünschen« und in einem Zeitungsinterview sagte er: »Die Juden tun was sie können, um mich zum Antisemiten zu machen.« Bismarck war kein überzeugter Antisemit, aber er nutzte den Antisemitismus für seine Zwecke des Machterhalts. Gestützt auf Stoeckers antisemitische Agitation stieg der Stimmanteil der DKP bei den Reichstagswahlen 1881 auf 23,7 Prozent (1874: 14,1 Prozent), die SAP fiel unter Bedingung des Parteiverbots auf 6,1 Prozent. Später ging Bismarck wieder auf Distanz zu Stoecker. Treitschke, Stoecker und Richard Wagner waren Männer der gehobenen Gesellschaft, sie erst machten den Antisemitismus gesellschaftsfähig, der in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre eine radikalere, nämliche völkisch-rassistische Gestalt annahm und für die Ausweisung aller Juden aus Deutschland eintrat. Einen Masseneinfluss gewann der völkische Antisemitismus allerdings erst nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Hitlers.

Dass es Stoeckers Bewegung auf den damals allerdings noch sehr großen und sozial gewichtigen Mittelstand oder Kleinbürgertum beschränkt blieb, ist allein der Tatsache geschuldet, dass seine Bewegung mit der Sozialistischen Arbeiterpartei auf einen unüberwindlichen politischen Konkurrenten traf. In einem Bericht über die erste Reichstagwahl unter dem Sozialistengesetz stellte die Partei fest: »Der Skandal des Antisemitismusunfuges war erst nach dem Sozialistengesetz möglich; dass er nicht die Ausdehnung einer allgemeinen Judenhetze annahm, ist einzig das Verdienst der Sozialdemokratie, welche die Arbeiterklasse vor diesem schmachvollen, den niedrigsten Motiven entsprungenen Treiben warnte.« Die SAP sah in der Stoecker-Bewegung von Beginn an eine ernste Gefahr. Eine der ersten Maßnahmen gegen den »christlich-sozialen« Antisemitismus war ein Aufruf an die Arbeiter, aus der evangelischen Landeskirche auszutreten, in deren Reihen Stoecker an prominenter Stelle wirkte. Nach den antisemitischen Krawallen vom Silvester 1880 beriefen die Sozialdemokraten eine Massenversammlung ein, »um die Stellung der Arbeiter zur Judenfrage« zu klären. Zugelassen waren nur Personen, die sich als Lohnempfänger ausweisen konnten. Der Erfolg der Versammlung übertraf alle Erwartungen. In einer Resolution sprach sich die Versammlung »gegen eine Schmälerung der den Juden verfassungsmäßig garantierten staatsbürgerlichen Gleichstellung« aus, zumal die Lohnabhängigen »unter dem Druck von Ausnahmegesetzen gegenwärtig selber« litten. Ähnlich erfolgreiche Versammlungen fanden in einer Reihe von anderen Städten statt. Die Arbeiter gingen zum Gegenangriff über. Oft erschienen sie massenweise auf antisemitischen Versammlungen, übernahmen die Versammlungsleitung und verwandelten die Kundgebung in eine Demonstration für die geächtete Sozialdemokratische Partei. Auch in den Gewerkschaften versuchten die Antisemiten Einfluss zu gewinnen und fanden mit ihren Forderungen nach Mindestlohn, Arbeiterschutzgesetzgebung, Normalarbeitstag und »Verbot einer halsabschneiderischen Konkurrenz« viel Beifall. Paul Massing bilanziert: »Aber von Judenfresserei wollten die Gewerkschaften nichts wissen.« Im Jahr 1884 stellte die SAP bei der Berliner Stadtverordnetenwahl den jüdischen Kandidaten Paul Singer gleichzeitig in zwei Wahlbezirken auf – obwohl er ein sehr erfolgreicher Kleiderfabrikant war. Vergleichbar wäre dies heute mit der Kandidatur einer muslimischen Kopftuchträgerin zur Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Bundestag. Er wurde im ersten Wahlgang mit einer absoluten Mehrheit gewählt. Im folgenden Jahr wurde er Reichstagsmitglied, 1885 Fraktionsvorsitzender und 1886 unter dem Sozialistengesetz aus Berlin ausgewiesen. »Aber je mehr er den Zorn der Regierung und der Antisemiten auf


TITELTHEMA | Rassismus

sich zog, desto mehr verehrten ihn die sozialistischen Arbeiter«. Bei seiner Ausweisung aus Berlin kam es zu einer illegalen Demonstration gegen Bismarck und den preußischen Innenminister. Um 1885 hatte die Berliner Bewegung unter Stoeckers Führung ihren Auftrieb verloren. Der Sozialdemokratie aber gelang es ihren Stimmenanteil in Berlin fast zu verdoppeln, im Reich erzielten sie 1887 – immer noch unter Bedingungen der Illegalität – zum ersten Mal über zehn Prozent der Stimmen.

Die heroische Zeit der Sozialdemokratischen Partei, die Jahre des Sozialistengesetztes, war die Zeit ihres aktivsten Kampfes gegen den politischen Antisemitismus. Und es sei »das Verdienst der orthodoxen Marxisten (gewesen), dass die Partei jedes Bündnis mit sozialreformerischen Strömungen ablehnte, die gewöhnlich zum Antisemitismus tendierten oder ganz auf ihm fußten«, schreibt Massing. Welche Lehren kann die Linke daraus für heute ziehen? Wir erleben erneut einen Aufschwung rassistischer Ideen und Manifestationen. Und es drängen sich Parallelen zu damals auf. Der Historiker und ehemalige Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung Wolfgang Benz schreibt über den antimuslimischen Rassismus: »Die Parallelen zu Antisemitismus und Judenfeindschaft sind unverkennbar: Mit Stereotypen und Konstrukten, die als Instrumentarium des Antisemitismus geläufig sind, wird Stimmung gegen Muslime erzeugt. Dazu gehören Verschwörungsfantasien ebenso wie vermeintliche Grundsätze und Gebote der Religion, die mit mehr Eifer als Sachkenntnis behauptet werden. Die Wut der neuen Muslimfeinde gleicht dem alten Zorn der Antisemiten gegen die Juden. Die Verabredung einer Mehrheit gegen das Kollektiv der Minderheit, das ausgegrenzt wird (einst und immer noch ›die Juden‹, jetzt zusätzlich ›die Muslime‹), ist gefährlich, wie das Paradigma der Judenfeindschaft durch seine Umsetzung im Völkermord lehrt.« Der Aufschwung des antimuslimischen Rassismus fällt wie der damalige Antisemitismus in eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation und Krise. Wie damals finden sich honorige Leute der »guten Ge-

© Wikimedia

Der Sündenbock trägt heute einen neuen Namen

sellschaft«, die den Rassismus hoffähig machen. Der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin kam 2010 mit seiner Hetzschrift gegen Muslime (»Deutschland schafft sich ab«) kurz nach Ausbruch der größten Wirtschaftskrise (2008) seit den dreißiger Jahren auf den Markt. Auch er stellte bewusst den Zusammenhang zur »sozialen Frage« her. »Deutschland« werde »immer dümmer und ärmer« infolge der muslimischen Zuwanderung, zitierte »Bild« damals Sarrazin. Die Linke kann aus den Erfahrungen der damaligen Sozialdemokratie lernen. Die SPD klärte die Arbeiterinnen und Arbeiter auf, dass nicht die Juden an der Krise und der Verelendung schuld waren, sondern der Kapitalismus. Und sie hat keinen Zweifel in Theorie und Praxis gelassen, dass sie die einzige Partei war, die den Krisen und der sozialen Verelendung des Kapitalismus und ihrem politischen System unerbittlich und entschlossen entgegentritt. Der Antisemit Stoecker hatte als Reichstagsabgeordneter der Konservativen zahlreiche Gesetzesinitiativen zum Arbeiterschutze (Unfallschutz), zum Mindestlohn und anderen sozialen Themen eingebracht. Die Sozialdemokraten haben in all den Jahren keinem einzigen dieser Anträge zugestimmt, obwohl viele ihre Anhänger und Wähler sich in diesen Anträgen mit ihren Nöten wiederfanden. DIE LINKE steht heute in zahlreichen Kommunal- und Landesparlamenten vor der Herausforderung, sich ebenso klar von den heutigen Rassistinnen und Rassisten abzugrenzen. Der Sündenbock trägt heute einen neuen Namen. Doch es ist die Aufgabe der LINKEN, es der damals noch marxistischen Sozialdemokratie gleichzutun: Sie muss die Menschen über Rassismus aufklären und sich offensiv in den Kampf dagegen stürzen. ■

»Bild« vom 23. August 2010: Thilo Sarrazins Hetze gegen Muslime und die sie begleitende Medienkampagne haben große Ähnlichkeit mit den antisemitischen Schriften der Kaiserzeit. Genau wie der moderne Antisemitismus des 19. Jahrhunderts erst durch einflussreiche Persönlichkeiten salonfähig wurde, wird auch der antimuslimische Rassismus des 21. Jahrhunderts von oben geschürt

Weiterlesen Paul W. Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, mit einem Vorwort von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1959 285 Seiten antiquarisch erhältlich

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Internationales | weltweiter widerstand

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Frankreich

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Im ganzen Land wird seit Monaten gegen die im Juli verabschiedete Arbeitsmarktreform protestiert. Auch an der Demonstration Mitte September in Paris nehmen nach Angaben der Gewerkschaften wieder 40.000 Menschen teil, zeitgleich finden Kundgebungen in Marseille, Rennes, Le Havre und Lyon statt. Laut Medienberichten wollen die Gewerkschaften jedoch in Zukunft vor allem auf juristische Mittel setzen, um die Reform noch zu stoppen. Grund hierfür seien unter anderem Ausschreitungen bei den jüngsten Demonstrationen. Die »Loi El Khomri« genannte Reform sieht eine Erhöhung der Arbeitszeiten sowie eine Lockerung des Kündigungsschutzes vor.


Internationales | weltweiter widerstand

Polen

Widerstand in Schwarz Warschau will die restriktive Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen weiter verschärfen. Aber der Widerstand gegen die gefährliche Bevormundung wächst

Z

Von David Jeikowski

u Tausenden protestierten Frauen und Männer Mitte September in Warschau und anderen polnischen Städten für ein Recht auf Abtreibung. »Stoppt diesen Krieg gegen Frauen« war auf einigen Plakaten zu lesen, auf anderen formte eine aufrechte Gebärmutter mit dem Eileiter einen Mittelfinger, darunter der Slogan »Mein Körper, meine Entscheidung«. Eine Woche später stimmt der Sejm, eine der beiden Kammern der Nationalversammlung, in einer ersten Lesung mit mehrheitlich 267 zu 154 Stimmen für einen Gesetzesentwurf, der Schwangerschaftsabbrüche in beinahe allen Fällen unter Strafe stellen würde. Der Umgang mit Abtreibungen ist ein hart umkämpftes Thema in Polen. Eine im britischen »Guardian« zitierte Umfrage bestätigt dies: Während sieben von zehn Befragten Abtreibungen zwar für grundsätzlich »unmoralisch« halten, spricht sich aber nur eine kleine Anzahl für ein komplettes Verbot aus. Doch ziemlich genau das steht derzeit zur Diskussion. Ein von der rechten Bürgerbewegung »Stop Aborcji« (Stoppt Abtreibungen) initiiertes Bürgerbegehren, das zum aktuellen Gesetzesentwurf geführt hat, konnte mühelos mehr als viermal so viele Unterschriften sammeln wie nötig. Schützenhilfe bekam die Initiative dabei nicht nur von der regierenden PiS-Partei, die ebenfalls einen Großteil der Abgeordneten im Sejm stellt, sondern auch von der katholischen Kirche. So veranlasste die nationale Bischofskonferenz beispielsweise, dass Anfang April in allen katholischen Gotteshäusern des Landes ein Hirtenbrief verlesen wurde, der sich für die Initiative aussprach. Dabei verfügt Polen bereits jetzt über eines der strengsten Abtreibungsgesetze Europas. Seit 1993 ist ein Schwangerschaftsabbruch nur möglich, wenn der Embryo

durch Vergewaltigung oder Inzest zustande gekommen ist, wenn zu erwarten ist, dass das Kind schwer erkrankt zur Welt kommt oder wenn das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet ist. Falls das Gesetz wie vorgeschlagen in Kraft treten sollte, wäre nur noch die Lebensbedrohung der Mutter ein ausreichender Grund für einen Abbruch. Sollte dennoch der »Tod eines empfangenen Kindes« herbeigeführt werden, müssten sowohl die Frau als auch die ausführenden Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal mit Haftstrafen von bis zu fünf Jahren rechnen. Derzeit werden in Polen laut Gesundheitsministerium weniger als tausend Abtreibungen pro Jahr vollzogen. Unabhängige Gruppen gehen jedoch davon aus, dass sich jährlich zwischen 80.000 und 190.000 Frauen Schwangerschaftsabbrüchen unterziehen, entweder in illegalen Kliniken oder im Ausland. Doch es regt sich Widerstand. Unter dem Hashtag #CzarnyProtest – schwarzer Protest – organisiert sich über die sozialen Medien derzeit ein breites Bündnis, das sich stark macht für eine umfassende Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Auf Demonstrationen tragen die Protestierenden schwarz und kleben sich teilweise den Mund mit schwarzem Klebeband zu. Fotos einer dieser Aktionen wenige Tage nach der Abstimmung im Parlament zeigen eine Frau mit schwarzem Plakat, auf den ein spitzer Kleiderbügel aus Draht geklebt ist. Eine grausige Erinnerung daran, wie verzweifelte Frauen sich in der Vergangenheit bei ungewollter Schwangerschaft immer wieder selbst helfen mussten und in vielen Teilen der Welt immer noch müssen. ■ David Jeikowski ist Redakteur vom marx21.

Italien Im süditalienischen Foggia streikten Ende August etwa 400 Arbeiter und blockierten Produktions- und Vertriebsketten. Der Ort ist ein wichtiges Zentrum der europäischen Obst- und Gemüseindustrie, ein Großteil der 20.000 Erntehelfer stammt aus Afrika und arbeitet für etwa 2,50 Euro pro Stunde. Die Streikenden forderten Aufenthaltspapiere und Unterkünfte, sowie die Einhaltung von Vertragsrechten.

Belgien Der US-Konzern Caterpillar verkündete Anfang September die endgültige Schließung ihrer Niederlassung in der Nähe der Stadt Charleroi. Nachdem drei Jahre zuvor bereits 1500 Mitarbeiter auf die Straße gesetzt und der Restbelegschaft harte Verzichtsmaßnahmen auferlegt wurden, sollen die verbliebenen 2200 Arbeiter nun ebenfalls ihren Job verlieren. Dagegen demonstrierten Mitte September rund 10.000 Menschen. Unter ihnen befand sich auch eine Delegation des französischen Caterpillar-Werks, das in Zukunft die Arbeit des wegfallenden Betriebes übernehmen soll.

USA

gröSSteR Gefängnisstreik der Geschichte Mit vierzig bis fünfzig beteiligten Gefängnissen in insgesamt 24 Staaten fand Anfang September der größte Gefängnisstreik der Geschichte der USA statt. Grund für die Arbeitsniederlegungen und Hungerstreiks sind neben den Haftbedingungen und der oft katastrophalen Überbelegung, vor allem die Arbeit selbst: In den staatlichen Anstalten bekommen die Insassen zwischen 17 und 40 Cent pro Stunde fürs Kochen oder Putzen, in privaten Gefängnissen produzieren sie für ähnliche Löhne für Konzerne wie Walmart und McDonalds. Etwa 2,4 Millionen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner sind derzeit inhaftiert, darunter überproportional viele Schwarze und Hispanics.

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Internationales | Griechenland

»Die Syriza-Regierung zu stürzen wäre falsch« In Griechenland treffen zwei Krisen Europas aufeinander: Tausende Geflüchtete erreichen täglich die Inseln. Gleichzeitig halten EU und Internationaler Währungsfonds an der brutalen Kürzungspolitik fest. In Athen erklärt der Aktivist Petros Constantinou, wie die Linke trotzdem stärker werden kann Interview: Klaus Henning Deutsche Zeitungen berichten, in der griechischen Krise sei langsam ein Licht am Ende des Tunnels erkennbar. Kannst du diese Einschätzung bestätigen? Das ist eine Verdrehung der Tatsachen. Insgesamt ist die griechische Wirtschaft im Verlauf der Krise um über dreißig Prozent geschrumpft und ein Ende ist nicht in Sicht. Im zweiten Quartal 2016 ist das Bruttoinlandsprodukt um 0,9 Prozent gesunken, im ersten Quartal um ein Prozent. Trotz einer Steigerung in der Tourismusbranche ist die Arbeitslosigkeit im Sommer weiter gestiegen. Und das, obwohl 500.000 Arbeitnehmer, vor allem junge Menschen, ausgewandert sind – das sind fast fünf Prozent der Bevölkerung. In dieser Zahl sind noch gar nicht die vielen Wanderarbeiter enthalten, die das Land verlassen haben. Sie hinzugerechnet ist der Bevölkerungsrückgang noch gewaltiger. Diese Beispiele zeigen, dass die krasse Sparpolitik nicht funktioniert. Angesichts dieser Zahlen kann ich mir vorstellen, dass die Bevölkerung frustriert ist.

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PETROS CONSTANTINOU

Petros Constantinou ist nationaler Koordinator von KEERFA (Gemeinsame Bewegung gegen Rassismus und die faschistische Bedrohung) in Griechenland. Er ist Abgeordneter von Antarsya, dem Wahlbündnis der antikapitalistischen Linken, im Athener Stadtparlament.

Nein, Frustration ist nicht die vorherrschende Stimmung, sondern Wut. Wut über den Verrat der von der Linkspartei Syriza geführten Regierung, die die Vorgaben der Troika akzeptierte, obwohl das Volk kurz zuvor »Oxi« (»Nein«) gesagt hatte. Der Widerstand gegen die Austeritätspolitik ist auch nicht vorbei: Eisenbahner, Busfahrerinnen, Beschäftigte der Müllabfuhr und der Flughäfen, Journalisten und Rechtsanwälte, Ärztinnen und Ärzte haben gestreikt. Die Bauern haben Straßen blockiert. Seit Syriza regiert, hat es bereits vier Generalstreiks gegeben. Die Arbeitskämpfe haben zwar noch nicht wieder das Niveau der Zeit davor erreicht, aber es werden immer mehr. Pünktlich zum Beginn des neuen Schuljahres wird es einen Streik der Lehrerinnen und Lehrer geben. Es rollt eine neue Streikwelle heran, die sich gegen die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur richtet, zum Beispiel den Verkauf der Flughäfen an den deutschen Konzern Fraport. Im Januar 2015 feierte die griechische Bevölkerung den Sieg Syrizas und hoffte auf ein Ende der Austerität. Dann akzep-


tierte Ministerpräsident Alexis Tsipras das dritte Memorandum, in dem Griechenland weitere Reformen zusichert. Profitiert jetzt die Rechte? Die Konservativen sind schwach und zerstritten, obwohl sie eine neue Führung gewählt haben. Es gelingt ihnen nicht, eine günstige Atmosphäre für sich zu schaffen. Die Menschen erinnern sich gut, wer ihnen die ersten Memoranden mit den EUInstitutionen und dem Internationalen Währungsfonds eingebrockt hat. Vor allem aber gelingt es glücklicherweise auch der radikalen Rechten nicht, Kapital aus der Situation zu schlagen. Die Nazipartei Goldene Morgenröte hat bei den letzten Wahlen ihren Stimmenanteil von sieben Prozent zwar verteidigt, die Anzahl ihrer tatsächlichen Stimmen ist jedoch gesunken. Umfragen ergeben eher eine weitere Entwicklung nach links. Syriza ist immer noch stark, weil weitere Teile der gesellschaftlichen Mitte sich nach links bewegen und die Verluste durch jene Menschen ausgleichen, die Syriza wegen des Memorandums den Rücken gekehrt haben. Diese Menschen fühlen sich zum Teil angezogen von der Linken links von Syriza: von der linken Syriza-Abspaltung »Volkseinheit«, der kommunistischen Partei KKE und dem Bündnis der antika-

© Ekosystem / The r€volt by absent

Internationales | Griechenland

Streetart in Athen: Die Eurokrise ist alles andere als gelöst. Doch trotz der Kapitulation der Syriza-Regierung vor der Troika ist die griechische Linke noch lange nicht geschlagen

Die Linke ist nicht demoralisiert pitalistischen Linken, Antarsya. Ich schätze, gemeinsam machen wir zehn Prozent aus. Es gibt auch keine Demoralisierung innerhalb der Linken. Aber es wird heiß debattiert, wie es dazu kommen konnte, dass Syriza den Kompromiss mit der Troika eingegangen ist. Was hat verhindert, dass die Situation in Frustration und einen Aufstieg der Rechten umgeschlagen ist? Es gibt viele Gründe, wie die Tradition sozialer Kämpfe und die Existenz einer starken radikalen Linken. Unsere Stärke darf man nicht nach parlamentarischen Wahlergebnissen beurteilen. Bei den Wahlen erhielt Antarsya nur 1,8 Prozent. Aber in den Gewerkschaften und Bewe-

gungen sind wir viel stärker verankert. Viele unserer Unterstützerinnen und Unterstützer haben bei Parlamentswahlen Syriza gewählt, weil sie dachten, dass es sonst eine verlorene Stimme wäre. Aber sie folgen den Aufrufen der radikalen Linken und wählen unsere Vertreterinnen und Vertreter in den Gewerkschaften. Auch die KKE ist dort weiterhin eine starke Kraft. Im Vorstand der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes hat Syriza zwei von drei Sitzen an die »Volkseinheit« verloren. Wir, die antikapitalistische Linke, haben auch zwei Sitze. In einigen Gewerkschaften sind wir noch stärker, etwa in der Lehrergewerkschaft. In einigen lokalen Gewerkschaftsorganisationen, vor allem hier in Athen, haben wir die Mehr-

heit. In der Ärztegewerkschaft haben wir mehr als dreißig Prozent bei den Wahlen erhalten. Über unsere Stärke in den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes können wir politisch Einfluss nehmen und Kämpfe und Streiks vorantreiben. So konntet ihr den Rechten das Wasser abgraben? Dafür waren vor allem Bewegungen gegen Rassismus und Faschismus entscheidend. Hätte es diese nicht gegeben, wären der Widerstand und die Linke schwächer. Ein Beispiel: In den letzten Wochen hat die Zahl der Geflüchteten wieder zugenommen. Trotz der hohen Arbeitslosigkeit unterstützen mittlerweile 85 Prozent der Bevölkerung den Slogan »Geflüchtete willkommen«. Mit unserer Forderung nach einer Öffnung der Grenzen waren wir noch bis vor kurzem isoliert, selbst innerhalb der griechischen Linken. Jetzt wird sie von der gesamten Linken und darüber hinaus unterstützt. Im Sommer haben sich Tausende Menschen an Akti-

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Internationales | Griechenland

onen an der Grenze zur Türkei beteiligt, um eine Öffnung der Grenzen zu fordern. Der überwiegende Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war gewerkschaftlich organisiert. Die Geflüchteten selbst wurden wiederum Teil des sozialen Protests und haben diesen gestärkt. Das ist kein guter Ausgangspunkt zum Aufbauen für die Rechte. Wie habt ihr das erreicht?

gingen sie dazu über, gezielt Mitglieder der Kommunistischen Partei und Gewerkschafter anzugreifen, etwa in Perama. Im September 2013 ermordete ein Neonazi den Rapmusiker und Aktivisten Pavlos Fyssas. Für den folgenden Tag hatten die Gewerkschaften zu einem 48-stündigen Generalstreik gegen Austeritätsmaßnahmen aufgerufen. Wir von KEERFA ha-

Die Nazis gingen zum offenen Straßenterror über Unmittelbar nach Ausbruch der Finanzkrise begann die radikale Rechte, stärker zu werden. Ein Großteil der Linken hat die Gefahr zunächst nicht erkannt und argumentierte, dass man sich auf den Aufbau des sozialen Protestes konzentrieren sollte. Wir haben darauf beharrt, dass der Kampf gegen Austerität und Rassismus Hand in Hand gehen muss. Im Jahr 2009 übernahmen wir die Initiative und gründeten KEERFA, ein breites Bündnis gegen Rassismus und Faschismus. Es gelang uns, Prominente wie den Komponisten Mikis Theodorakis, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und Zugewanderte zu gewinnen. Hier in Athen beteiligte sich beispielsweise die pakistanische Gemeinde sehr aktiv. Aber es war ein langer Kampf und der Durchbruch gelang erst im Sommer 2012. Damals, als die Nazis ins Parlament gewählt wurden, gingen sie zum offenen Straßenterror über. Sie verübten mehr als 2000 Anschläge auf Zugewanderte, Moscheen und Linke. Die Polizei führte zeitgleich eine Großoperation gegen Flüchtlinge durch und Verhaftete 100.000 Menschen, 6000 sperrte sie in ein Lager. In dieser Zeit gelang es KEERFA, gemeinsam mit den Geflüchteten, 100.000 Menschen auf lokaler Ebene zu mobilisieren. Dies war ein erster Erfolg. Und wie regierte die radikale Rechte darauf? Die Nazis begannen Sturmtruppen aufzubauen und einzelne Nachbarschaften zu kontrollieren. Im Jahr 2013 organisierten sie quasi-militärische Aufmärsche, bei denen nur die Gewehre fehlten. Dann

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ben darum gekämpft, den ersten Tag des Generalstreiks dem Naziterror zu widmen. Wir haben den Kampf gewonnen. Am Ende marschierten 50.000 Menschen zur Parteizentrale der Goldenen Morgenröte. Eine weitere Demonstration mit 20.000 Teilnehmern fand in der Gegend statt, in der Fyssas ermordet wurde. In diesen Tagen war die Polizei noch auf der Seite der Nazis, doch nach dem Generalstreik stand die Regierung unter Druck, etwas gegen die Goldene Morgenröte zu unternehmen. Sie verhaftete die Hälfte ihrer Führung und 68 ihrer Mitglieder wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die Prozesse gegen die Führung laufen immer noch, aber die Nazis hatten seitdem wegen der Stärke der antifaschistischen Bewegung keine Chance mehr, auf der Straße aufzumarschieren. Das ist wirklich beeindruckend. Aber wie ist denn die Situation der Linken? Auch wenn die Linke mit ihren vielen Parteien und Organisationen zersplittert erscheint, auf der Straße steht sie zusammen. Allerdings werden die strategischen Debatten weitergehen. Syriza ist in einer Krise, viele Mitglieder haben die Partei verlassen, einige sind zur »Volkseinheit« gewechselt. Das Niveau der politischen Diskussionen ist hoch. Zentrale Fragen sind das Verhältnis von Parlamentarismus und Bewegung und die Strategie im Kampf gegen Austerität. Teile der Linken vertreten die Meinung, man müsse Syriza nicht nur wegen ihrer Kompromisspolitik kritisieren, sondern auch, weil Tsipras kein Pro-

gramm für eine nationale Entwicklung aufstellt. Das ist das Argument vom »produktiven Wiederaufbau«, das die »Volkseinheit« und ihr Vorsitzender Panagiotis Lafazanis (der ehemalige Industrieminister) vertreten. Die »Volkseinheit« will, dass Griechenland aus der Eurozone austritt aber in der EU bleibt. Wir wollen stattdessen die Verstaatlichung der Banken und eine Arbeiterkontrolle der Wirtschaft auf antikapitalistischer und internationalistischer Grundlage. Und wie soll das erreicht werden? Es wird darüber debattiert, ob wir den Sturz der Syriza-Regierung fordern sollten. Das ist die Position der »Volkseinheit«. Diese Forderung kann in der jetzigen Situation aber nur wieder in parlamentarische Bahnen führen. Und wer kann auf parlamentarischer Ebene Syriza stürzen? Nur die Konservativen. Das ist kein Weg nach vorne. Wir sind daher dagegen, Tsipras zu stürzen, und treten stattdessen für den Aufbau einer auf Bewegungen gestützten linken Alternative zu Syriza ein. Diese Debatten gehen weiter und ich denke, wir können sie stark beeinflussen. Das zeigt unsere Forderung nach einer Öffnung der Grenzen, die vor einem Jahr noch von der »Volkseinheit« kritisiert wurde, mittlerweile aber von ihr unterstützt wird. Was werden die kommenden Auseinandersetzungen sein? Die nächsten Termine sind gesetzt. Die Eröffnung der Internationalen Messe in Thessaloniki im September ist traditionell ein wichtiges Ereignis. Denn dort hält der Ministerpräsident eine Rede, in der er seine Politik der nächsten Monate vorstellt. Wie in jedem Jahr sind Proteste geplant. Zudem wird es anlässlich des Todestages von Fyssas im September drei Tage lang antifaschistische Aktionen geben. Mitte Oktober wird in Athen ein europaweites Treffen gegen Rassismus und Faschismus stattfinden, im letzten Jahr wurde auf einem ähnlichen Treffen ein internationaler Aktionstag beschlossen. Die Arbeitskämpfe werden fortgesetzt – vor allem gegen die geplanten Privatisierungen der Häfen, der Elektrizitäts- und der Wasserwerke. Der Kampf geht also weiter. ■


Internationales | GROSSBRITANNIEN

Der Brexit und die Corbyn-Bewegung Die Abstimmung über den Austritt aus der EU war auch ein Aufbegehren gegen die neoliberale Politik der Eliten. Aber wie geht es nun weiter für die Linke in Großbritannien? Von Charlie Kimber

Übersetzung: Rosemarie Nünning

S

owohl in der englischen als auch in der europäischen Linken gab es heftige Auseinandersetzungen darüber, wie man sich zum Brexit verhalten sollte. Ich habe das Ergebnis der Abstimmung in Großbritannien freudig aufgenommen. Denn das neoliberale Projekt EU wurde geschwächt. Gleich nach der Abstimmung über den Austritt wagte die Union es nicht, der spanischen und portugiesischen Regierung Geldbußen aufzuerlegen, weil diese gegen die europäischen Schuldenregeln verstoßen hatten. Die portugiesische Linke drohte mit einem eigenen Referendum.

letzten Kommunalwahlen stagnierte UKIP oder verlor sogar Stimmen. Auch die britischen Konservativen befinden sich in einer Krise. Zwar erfreut sich ihre neue Premierministerin, Theresa May, derzeit großer Zustimmung, aber die Tories stehen vor zwei großen Problemen: Das erste betrifft die Notwendigkeit, die Sparpolitik durchzusetzen. Das zweite Thema betrifft die EU selbst. Von zwei Seiten werden die Konservativen unter Druck gesetzt. Auf der einen Seite stehen das Großkapital und die Banken, die uneingeschränkten Zugang zu einem gemeinsamen Markt wünschen. Sie sind deshalb zu Zugeständnissen bezüglich der von der EU geforderten »Arbeitnehmerfreizügigkeit« bereit. Auf der anderen stehen der rechte Flügel der Tories, UKIP und ähnliche Kräfte, die die Zuwanderung beenden wollen. Vermutlich wird der Lack bei den Konservativen und May bald ab sein und sie werden vor schwierigen Entscheidungen stehen. Vielleicht setzt May auf Neuwahlen, aber das birgt Risiken. Denn es gibt kein Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung. Die europäische Ökonomie macht keine großen Sprünge; die britische Volkswirtschaft stagniert schon seit Langem wegen der niedrigen Produktivität und fehlender Investitionen.

Die EU hat eine Niederlage erlitten

Die EU zwingt den Mitgliedstaaten zwar weiterhin ihre Sparpolitik auf, aber sie hat eine deutliche Niederlage erlitten. Das ist eine positive Entwicklung und wir werden hoffentlich noch mehr Beispiele für Widerständigkeit gegen die EU erleben. Der Brexit war ein Aufstand der einfachen Leute gegen die Elite. Aber die Abstimmung hatte auch eine andere Facette: die Zunahme rassistischer Angriffe. Doch der Rassismus gegen Geflüchtete, Muslime und Arbeiter aus Polen kam nicht erst am 24. Juni auf, dem Tag nach der Abstimmung. Die Tories und die noch weiter rechts stehende UKIP (Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs) hatten ihn, im Verbund mit den Medien, schon lange vorher geschürt. Anstatt von dem Brexit-Votum zu profitieren, befindet sich UKIP nun allerdings in einer schweren Krise. Ihr Parteichef Nigel Farage ist zurückgetreten. Bei den

Charlie Kimber ist führendes Mitglied der Socialist Workers Party in Großbritannien.

Die Linke begleitete die Brexit-Abstimmung mit eigenen Forderungen. Zwar war die »Lexit«-Kampagne (Left Exit, linker Austritt) klein, aber wir

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konnten zeigen, dass es möglich ist, auf einer antirassistischen, antikapitalistischen und internationalistischen Grundlage gegen die EU zu sein. Die ganze Linke sollte die demokratische Abstimmung respektieren und jetzt eine gemeinsame Plattform finden. Solange die Arbeiterklasse jedoch gespalten ist zwischen denen, die das Votum rückgängig machen wollen, und denen, die es umgesetzt sehen möchten, wird das schwierig sein. Deutlich wird das an der Wahl der Führung der Labour Party: Der vom Labour-Apparat nominierte Kandidat Owen Smith trat für eine zweite Abstimmung oder für eine Neuwahl ein, die zur Entscheidungsschlacht über den Vollzug des Austritts aus der EU würde. Gleichzeitig haben Sozialistinnen und Sozialisten, die für den Brexit waren, mehr mit denen gemeinsam, die den linken Parteichef von Labour, Jeremy Corbyn, unterstützen, aber für den Verbleib in der EU gestimmt haben, als mit denen, die für den Austritt stimmten, aber Tories oder Schlimmeres gewählt haben. Wir müssen dafür eintreten, dass EU-Bürger in Großbritannien gleiche Rechte haben. Auch wenn nicht alle, die sich an der linken Austrittskampagne beteiligt haben, diese Forderung teilen, müssen wir für Freizügigkeit in der EU und generell offene Grenzen eintreten. Wir müssen für die Festschreibung von Gewerkschaftsrechten im Rahmen der Austrittsverhandlungen eintreten und für die Rücknahme der im Jahr 2015 durchgesetzten Einschränkung des Streikrechts kämpfen.

Die Labour-Rechte hatte gehofft, dass diese Art von Politik der Vergangenheit angehört. Deshalb arbeitet sie jetzt mit Verunglimpfungen wie der Behauptung, es handele sich um trotzkistische Infiltrationspolitik, oder all die neuen Mitglieder seien lediglich CorbynFans, aber keine echten Labour-Anhänger. In Letzterem liegt ein Kern Wahrheit: Viele junge Leute begeistern sich für das, was Corbyn sagt, und wurden deshalb Parteimitglieder. Sie sind gegen Sparpolitik, gegen Rassismus und Krieg. Sie sind nicht unbedingt mit dem Parteiapparat von Labour verbunden. Das Corbyn-Phänomen trägt die Züge einer sozialen Bewegung. Die Kundgebungen und Veranstaltungen bilden nicht das normale Parteileben ab. Hunderttausende unterstützen Corbyn wegen seiner Politik und nicht die Labour Party an sich. Aber diese Bewegung stößt auch an die Grenzen der rein auf Wahlen ausgerichteten Strukturen der Partei. Eine echte soziale Bewegung muss offen sein für alle Linken – erinnert sei an die Antikriegsbewegung, die mit wichtigen Personen der Linken verbunden, aber viel breiter als ein Labour-Projekt war. Jetzt, nach der Wahl des Parteichefs, werden wir uns wieder den anderen drängenden Fragen widmen müssen: Was wird die Labour Party tun, um die drohende Privatisierung des öffentlichen Gesundheitswesens, des NHS, zu stoppen und Angriffe rückgängig zu machen? Was wird Labour gegen Rassismus tun oder gegen den Abbau öffentlicher Dienstleistungen auch in von Labour regierten Bezirken? Was wird mit den Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern werden, die für den Austritt gestimmt haben und sehr widersprüchliche Vorstellungen haben? Die Rechten wie die Linken versuchen, diese Leute für sich zu gewinnen. Corbyn ist zurzeit ein wichtiges Hindernis für die Rechte, weil er eine Alternative darstellt. Doch die Frage ist, welche Organisationsform die Radikalisierung in der Labour Partei annimmt. Wenn die Corbyn-Bewegung den Rahmen einer reformistischen Partei mit ihrer Fixierung auf Wahlen und das Parlament nicht sprengt, dann wird daraus nicht die Bewegung entstehen, die wir brauchen. Sozialistinnen und Sozialisten müssen dazu beitragen, dass die Corbyn-Bewegung sich weiter radikalisiert.

Wir müssen die Corbyn-Bewegung weiter radikalisieren

Wir stehen vor einer weiteren und wichtigen Herausforderung für die Linke: Der rechte Flügel der Labour Party hatte einen neuen Angriff auf die Parteiführung eingeleitet. Seitdem hat Jeremy Corbyn im ganzen Land vor Tausenden begeisterter Anhänger gesprochen, was ein Ausdruck für eine schon lange in der britischen Gesellschaft gärende Stimmung ist. Die Verbitterung über die Herrschaft der Reichen und der politischen Elite war der Nährboden für die Entstehung neuer linker Parteien wie Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland. In Großbritannien kristallisiert sie sich in der Person Corbyn. Jeremy Corbyn ist erfolgreich aus der Wahl zum Parteichef am 24. September hervorgegangen. Aber wie die Labour-Rechte jetzt reagieren wird, ist unklar. Die Frage ist, ob Corbyn den Kompromiss mit den Rechten sucht oder ob er die Demokratisierung der Labour Party weiter vorantreibt. Dazu muss er die soziale Bewegung in der Partei stärken, um die Rechten zu vergraulen. Entscheidend wird aber die Mobilisierung auf der Straße und in den Betrieben sein.

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Ein Problem für die Linke sind die seit vielen Jahren historisch niedrigen Streikzahlen und der sehr niedrige Organisationsgrad in den Betrieben. Im Jahr 2015 war der »Verlust« durch Streiktage der zweitniedrigste seit dem Jahr 1891. Dabei sind die Reallöhne seit dem Jahr 2007 um etwa 10 Prozent gesunken.


© duncan c / flickr.com / CC BY-NC

Internationales | GROSSBRITANNIEN

Ein Grund für die wenigen Streiks liegt in der Rolle der Gewerkschaftsführungen, die viele Gelegenheiten verstreichen ließen, Arbeitskämpfe auszuweiten und zu radikalisieren. Das heißt nicht, dass Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter nur darauf warten, auf Streikposten zu stehen – es gibt ein mangelndes Selbstbewusstsein in der Arbeiterklasse. Aber die Gewerkschaftsführer haben Ansätze von Widerstand nicht gefördert, sondern gebremst. Auch die Labour-Führung, mit der die meisten Gewerkschaftsführer verbunden sind, übte Druck aus, Streiks zu vermeiden. Deshalb ist es erfrischend, dass Corbyn die meisten neu entstehenden Arbeitskämpfe unterstützt. Wenn sich aber die betrieblichen Kämpfe nicht ausweiten, dann sind der politischen Radikalisierung und der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung Grenzen gesetzt. Deshalb muss die Linke aktiv Widerstand von unten mit aufbauen. Dabei dürfen wir uns aber nicht auf die unmittelbaren Forderungen und die Solidarität mit anderen Beschäftigten beschränken, sondern müssen auch politische Fragen wie Rassismus oder die Auseinandersetzung in der Labour Party

ansprechen. Die Gefahr besteht, dass die Hoffnung auf Corbyn zu einem Ersatz für den gemeinsamen Kampf wird. Einige Gewerkschaftsführer werden versuchen, allein auf die Parlamentswahlen spätestens im Jahr 2020 zu orientieren. Bis dahin aber werden die Tories noch mehr Sozialabbau betrieben und den Rassismus geschürt haben. Corbyn und seine Anhänger sagen: »Sparzwang ist eine politische Entscheidung.« Das ist in gewisser Hinsicht wahr. Es ist aber auch wahr, dass der krisengeschüttelte Kapitalismus nicht einfach zusehen wird, wenn das Geld den Reichen und Konzernen genommen wird. Das haben wir in der Geschichte oft genug erlebt. Die fortgesetzten politischen und wirtschaftlichen Krisen können zur Entstehung neuer Bewegungen und Kämpfe von unten führen. Lange Zeit sah es so aus, als wenn der Klassenkampf nur von einer Seite ausging. Wenn nun die Hunderttausenden, die in die Labour Party eingetreten sind, auch an Bewegungen und Arbeitskämpfen teilnehmen, könnte das eine wirkliche Wende in Großbritannien einleiten. ■

Graffiti im Londoner Stadtbezirk Camden: Jeremy Corbyn hat eine politische Bewegung losgetreten, die hunderttausende, vorwiegend junge Menschen begeistert

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INTERNATIONALES | ÖSTERREICH

Die blaue Kornblume am Revers

© Martin Juen

Bei seinem ersten Auftritt im Nationalrat trägt Norbert Hofer, Präsidentschaftskandidat der FPÖ, das Erkennungszeichen der österreichischen Nazis während ihrer Illegalität zwischen 1933 und 1938: die blaue Kornblume

Jürgen Ehlers ist Mitglied der LINKEN in Frankfurt am Main.

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Die Freiheitliche Partei Österreichs befindet sich im Aufwind. Die AfD sieht in ihr ein Vorbild. Doch was für eine Partei ist das eigentlich? Von Jürgen Ehlers

D

ie politische Entwicklung in Österreich wird aus Deutschland derzeit besonders aufmerksam beobachtet. Der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) ist im Mai ihr bisher größter politischer Erfolg gelungen. Im zweiten, entscheidenden Wahlgang der Bundespräsidentenwahl stimmten mehr als zwei Millionen Menschen für ihren Kandidaten Norbert Hofer. Das entsprach 49,7 Prozent aller Wählerinnen und Wähler. Hofer unterlag nur denkbar knapp dem grünen Kandidaten Alexander van der Bellen. Nach erfolgreicher Klage der FPÖ, wird die Wahl nun im Dezember wiederholt. FPÖ und AfD sind politische Geschwister. Die kleine Schwester, vertreten durch die AfD-Vorsitzende Frauke Petry, hat sich kurz nach dem Wahlerfolg mit ihrem großen Bruder Heinz-Christian Strache, dem Parteivorsitzenden der FPÖ, auf der Zugspitze getroffen, um die enge Beziehung demonstrativ zur Schau zu stellen. Auf der Internetseite der FPÖ wurde Petry am folgenden Tag mit den Worten zitiert: »Wir sind bereit, von den Erfahrungen der FPÖ zu profitieren.« Denn schließlich habe die FPÖ einen

zeitlichen Vorsprung und betreibe seit sechzig Jahren erfolgreich Politik. »Aber wir haben gezeigt, dass wir in der Lage sind, den zeitlichen Rückstand aufzuholen.« Doch was für eine Partei ist die FPÖ – das große Vorbild der AfD – eigentlich? Die FPÖ ist nicht irgendeine konservative Partei wie die CSU. Dann wäre sie für die AfD als Modellprojekt völlig uninteressant. Was die wenigsten wissen: Die FPÖ ist 1955 von ehemaligen führenden NSDAPMitgliedern gegründet worden und war seitdem ein Sammelbecken für alte und junge Nazis. Sie spielte lange Zeit in Österreich als potentieller Regierungspartner keine Rolle und kam bis Anfang der 1980er Jahre bei den Wahlen nie über einen Stimmanteil von sechs oder sieben Prozent. Vor allem der Nachkriegsboom, dessen Ende sich erst Mitte der 1970er Jahre abzuzeichnen begann, erschwerte es der FPÖ, an Bedeutung zu gewinnen. Denn der größte Teil der ehemals 500.000 NSDAPMitglieder in Österreich arrangierte sich mit den neuen politischen Verhältnissen, um unbehelligt vom kleinen Wirtschaftswunder profitieren und


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Karriere machen zu können. Dabei halfen die Sozialdemokraten (SPÖ) und Konservativen (ÖVP) kräftig mit. So verteidigte der sozialdemokratische Vizekanzler Adolf Schärf im Jahr 1955 die Einstellung eines ehemaligen Nationalsozialisten in den Staatsdienst. Seine Partei sei auf die Wählerstimmen aus diesem Lager angewiesen: »…wir brauchen diese Stimmen, weil das Potential der ehemaligen KZ-ler, Emigranten und überlebenden Juden nicht sehr groß ist. Keine Partei kann es sich leisten auf die Stimmen der ›Ehemaligen‹ zu verzichten. Daher sind Konzessionen an dieses Lager unerlässlich.« Schärf begründete eine unselige Tradition, die seine Nachfolger fortsetzen. Der international sehr angesehene Sozialdemokrat Bruno Kreisky, der unter Schärf Staatssekretär war und der während des Dritten Reiches vor den Nazis nach Schweden fliehen musste, ließ sich, als er 1970 Bundeskanzler wurde, von der FPÖ tolerieren. Zudem holte er gleich vier ehemalige Mitglieder von NSDAP, SS und SA als Minister in seine Regierung. Das führte noch nicht zum Aufstieg der FPÖ. Doch es schwächte die Kritikerinnen und Kritikern dieser Partei. Zudem setzte es die Hemmschwelle von potentiellen Wählerinnen und Wählern herab, für eine Partei zu votieren, in der Nazis von Anfang an eine entscheidende Rolle gespielt haben. Inzwischen ist die Gründergeneration der FPÖ tot, aber hat sich die Partei deswegen gewandelt? Die Antwort ist: Nein. Auch heute ist sie ein Sammelbecken von alten und neuen Nazis. Der jetzige Kandidat für die Bundespräsidentenwahl Norbert Hofer trägt beispielsweise häufig bei öffentlichen Auftritten, sogar im Parlament, eine blaue Kornblume am Revers. Diese Kornblume ist ein Erkennungszeichen, das zuletzt von den bis 1938 in Österreich illegalen Nazis benutzt worden ist. Es geht auf die Alldeutschen um Georg von Schönerer zurück. Der Österreicher Schönerer war im Kaiserreich ein glühender Verfechter des Anschlusses von Österreich an das Deutsche Kaiserreich unter Wilhelm I., dessen Lieblingsblume die blaue Kornblume gewesen war. Auch für Adolf Hitler war Schönerer ein großes Vorbild, nicht nur weil er für eine großdeutsche Lösung kämpfte, sondern auch weil er ein ausgewiesener Antisemit gewesen ist. Das Tragen der blauen Kornblume ist in jedem Fall eine Provokation, denn in der Verfassung Österreichs ist das Verbot jeder großdeutschen Propaganda ausdrücklich festgeschrieben. Vor allem aber ist es ein politisches Signal an die Nazis im Land. Denn um seine großdeutschen Phantasien zur Schau zu tragen, ist die Kornblume nicht nötig. Dazu würde die schwarz-rot-goldene Fahne im Emblem der Bur-

schenschaft Marko Germania vollkommen ausreichen. Dieses Emblem trägt Hofer ebenfalls gerne am Revers, weil er Mitglied dieser Burschenschaft ist. Hofer galt trotzdem lange Zeit als liberales Aushängeschild der FPÖ, ohne den Makel einmal Mitglied einer Wehrsportgruppe gewesen zu sein, über Kontakte in die Neonazi-Szene zu verfügen oder auf Veranstaltungen die Hand zum so genannten Kühnen-Gruß erhoben zu haben. Durch letzteres fielen der jetzige Parteichef und Hofers engster Vertrauter Heinz-Christian Strache und sein Büroleiter im Parlament René Schimanek in der Vergangenheit auf. Bereits vor längerem ist durch Recherche von Journalistinnen und Journalisten bekannt geworden, dass Hofer persönlichen Kontakt zu NPD-Mitgliedern hatte und Mitglied einer Internet-Community ist, von der Parolen wie diese ins Netz gestellt werden: »Trau keinem Fuchs auf grüner Heid – und keinem Jud bei seinem Eid.« Auch in der Diskussion um die Aufhebung des Verbotsgesetzes, das die nationalsozialistische Wiederbetätigung und die Verharmlosung der NS-Verbrechen unter Strafe stellt, ist Hofers geistige Nähe zu den Nazis in Österreich deutlich geworden, indem er deren Argumentation, es gehe ihm lediglich um Meinungsfreiheit, übernommen hat.

Burschenschaftler stellen den Parteikader

Aber nicht nur an Hofer lässt sich zeigen, welche Gesinnungen in der FPÖ schlummern. Die Burschenschaft Marko Germania, die in einer ihrer Festschriften 1994 die Republik Österreich als »geschichtswidrige Fiktion« verschmäht, hat neben Hofer auch andere FPÖ-Mitglieder in ihren Reihen. Aus dieser und anderen deutschnationalen Burschenschaften rekrutiert die FPÖ große Teile ihres Führungspersonals. Im Bundesparlament sind 40 Prozent der FPÖ-Abgeordneten Mitglied so einer Verbindung, und in Wien ein Drittel der FPÖ-Gemeinderatsmitglieder. Die Burschenschaftler verfügen über eine seit Jahrzehnten gewachsene Struktur und ein dichtes Netzwerk an Beziehungen untereinander. Sie bilden heute den in jeder Hinsicht verlässlichen Kaderstamm der Partei. Der österreichische Publizist Hans-Henning Scharsach, der die FPÖ seit Jahrzehnten sehr aufmerksam beobachtet und zahlreiche Bücher über ihre Entwicklung veröffentlicht hat, charakterisiert in seinem letzten, sehr empfehlenswerten Buch mit dem Titel »Strache – im braunen Sumpf« die Burschenschaften wie folgt: »Die burschenschaftlichen Traditionslinien haben vor allem fünf Konstanten: Deutschtümelei, Antisemitismus, Demokratiefeind-

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SPÖ und ÖVP. Haider fühlte sich stark genug, um mit der ÖVP 2000 unter Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler eine Koalition einzugehen und die Partei trotzdem zusammenzuhalten. Doch er unterschätzte die Sprengkraft einer Regierungspolitik, die von Haushaltskürzungen und Einschnitten in der Sozialgesetzgebung und dem Arbeitsrecht bestimmt war. Die Wählerbasis seiner Partei bestand eben nicht nur aus kleinbürgerlichen Gewerbetreibenden und Freiberuflern, die sich von den nationalliberalen Karrieristen in der FPÖ um Haider gut vertreten sahen, sondern vor allem aus abhängig Beschäftigten.

Strache kommt aus der gewaltbereiten Neonaziszene

© Thomas Prenner / flickr.com / CC BY-SA

Die FPÖ verlor bei der vorgezogenen Nationalratswahl 2002 mehr als die Hälfte ihrer Stimmen.

»Wien wehrt sich«: Trotz des Versagens der etablierten Parteien gibt es aus der Bevölkerung nennenswerten Widerstand gegen die Rassisten und Nazis der FPÖ

lichkeit, Verleugnung des Gleichheitsprinzips (›Rassen‹ wie Geschlechter betreffend) und Gewaltbereitschaft. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges ist in Österreich eine sechste hinzugekommen: die revisionistische Geschichtsschreibung, braune Geschichtsfälschung…« Unter dem Vorsitzenden Strache und mit den Burschenschaften als Basis hat die FPÖ einen Wandel vollzogen, mit dem sie an die alten Erfolge des verstorbenen Jörg Haider anknüpfen konnte. Unter Haiders Führung war die Mitgliederzahl der FPÖ von 37.000 auf 51.000 angewachsen. Parallel zu den Mitgliederzahlen stiegen in den 1990er Jahren auch die Wählerstimmen. Mit 26,9 Prozent erzielte die Partei 1999 ihr bisher bestes Ergebnis bei Nationalratswahlen und lag damit vor

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Der Niederlage folgte 2005 die Abspaltung durch das von Haider gegründete Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ). Nun war in der FPÖ der Weg frei für einen Neuanfang unter der Führung von Strache. Mit ihm wurde jemand an die Spitze gewählt, der aus der gewaltbereiten Neonaziszene kommt und der an Wehrsportübungen teilgenommen hat. Zugleich hat er aber verstanden, dass es mehr bedarf als dumpfer Gewaltbereitschaft, um politisch erfolgreich zu sein. Das macht ihn so gefährlich. Auf dem Neujahrstreffen 2013 seiner Partei brachte er seine Vorstellungen so auf den Punkt: »Mit 18 Prozent habe ich nicht die Macht die Interessen der Österreicher durchzusetzen. Ich brauche Macht.« Die FPÖ ist im Kern immer eine faschistische Partei gewesen, die in Abhängigkeit von den vorgefundenen politischen Rahmenbedingungen versucht hat, ihren Kaderstamm zusammenzuhalten und auszubauen. Sie ist dabei Kompromisse eingegangen, um ihr bürgerliches Umfeld zu halten, das sie zur Tarnung so dringend benötigt. Die schwere Niederlage der FPÖ bei der Präsidentschaftswahl von 2010 war ein Beleg dafür, dass es sich rächt, wenn man den Bogen überspannt. Damals war Barbara Rosenkranz für die Partei angetreten. Sie hatte in der Vergangenheit offen mit dem Nationalsozialismus sympathisiert. Noch sind die politischen Verhältnisse zu stabil und die soziale Situation ist nicht mit dem Massenelend in der Weimarer Republik vergleichbar, um ernsthaft einen Umsturz ins Auge fassen zu können. Die Burschenschaft »Olympia« gab 2010 deswegen


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die Parole aus: »Wir müssen uns durch mentale und politische Vorbereitung rüsten, um dann, wenn es darauf ankommt, unsere Handlungsfreiheit bewahren zu können und uns zum Wohle unseres Volkes mit aller Kraft in die Waagschale werfen zu können!« Die Auseinandersetzung über den wahren Charakter der FPÖ ist von großer Bedeutung. Denn die Gefahr, die von dieser Partei ausgeht, ist real. Bei der von einem Gericht angeordneten Wiederholung der Bundespräsidentschaftswahl kann es ihrem Kandidaten gelingen, die Mehrheit zu erlangen. Die österreichische Verfassung von 1929 gibt dem Bundespräsidenten die Macht, Regierungen zu entlassen und so Neuwahlen zu einem seiner Partei genehmen Zeitpunkt anzusetzen. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Er hat als formeller Oberbefehlshaber den Zugriff auf die Armee. Der FPÖ-Kandidat Hofer hat bereits bei der Wahl im Mai damit gedroht, die Regierung zu entlassen, sollte diese seinen Ideen als Staatsoberhaupt nicht folgen. »Wenn die Regierung bei ihrem Kurs bleibt, in der Flüchtlingsfrage, bei der Pflege, der Wirtschaft und den Spitälern, würde ich ein Gespräch mit ihr führen. Wenn das nicht taugt, steht am Ende die Entlassung an«, sagte Hofer damals den »Vorarlberger Nachrichten«. Eine solche Machtoption wäre für die FPÖ ein Durchbruch. Dass sie sich überhaupt so weit etablieren konnte, liegt auch an dem Versagen der etablierten Parteien in Österreich, insbesondere der Sozialdemokratie. Für SPÖ und ÖVP ist die FPÖ immer ein möglicher Koalitionspartner gewesen und braune Spuren sind ständig als Randerscheinung verharmlost worden. Aber nicht nur das. Die Politik der Großen Koalition von SPÖ und ÖVP rollte der FPÖ den roten Teppich aus. Alleine im letzten Jahr hat die Regierung das umgesetzt, was die FPÖ seit langem fordert – eine Politik der Obergrenzen, der Abschottung der Außengrenze und der Panikmache vor »Flüchtlingsflut« und »Überfremdung«. Das hat die FPÖ salonfähig gemacht. Denn bei Wahlen entscheiden sich viele für das Original, die FPÖ, und nicht für die Kopie. Besonders schlimm: Auch weil eine echte linke Alternative fehlte, gelingt es der neofaschistischen FPÖ Stimmen von Arbeiterinnen und Arbeitern und Angestellten zu bekommen. Der Wahlkreis mit dem höchsten Stimmenanteil der FPÖ liegt im Wiener Arbeiterstadtteil Simmering. Dort kam die Partei schon im letzten Jahr auf 49 Prozent. Zwar sind bei weitem nicht alle Wählerinnen und Wähler der FPÖ Nazis. Aber der dramatische Vormarsch der FPÖ ist auch eine Warnung an alle deutschen Sozialdemokraten und Linken, die meinen, sie könnten den Rechten das Wasser abgraben, indem sie die Forderungen und Themen der radikalen Rechten übernehmen. Wehret den Anfängen! ■

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GESCHICHTE | UNGARISCHE Revolution

»Demokratischer als der Westen und sozialistischer als der Osten« Vor sechzig Jahren, im Oktober 1956, erhoben sich die ungarischen Arbeiterinnen und Arbeiter gegen ihre Regierung. In der Ungarischen Revolution vertrieben sie zunächst sogar die sowjetischen Truppen Von Klaus Henning

I

m Oktober 1956 greifen Arbeiterinnen und Arbeiter im »kommunistischen« Ungarn nach der Macht. Während im Westen der Aufstand als »nationaler«, »antikommunistischer« Widerstand gefeiert wird, spricht die herrschende stalinistische Bürokratie von »Konterrevolution«. Doch die Ereignisse waren viel bedeutsamer. Während der stalinistische Staatsapparat implodierte, gründeten die Protestierenden ein System von Arbeiterräten und organisierten bewaffnete Organe, um den Weg zu einer gerechten, sozialistischen Gesellschaft frei zu machen. Wochenlang sah es so aus, als könnten die Menschen ihren Wunsch nach Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie verwirklichen. Dann schickte Moskau seine Panzer nach Ungarn und ließ den Aufstand blutig niederschlagen. Aber

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die Geschichte des Kampfs von Arbeiterinnen und Arbeitern für einen echten Sozialismus hat es verdient, erzählt zu werden. Der Eintritt der revolutionären Situation erfolgte am Vormittag des 23. Oktober 1956 für alle Beteiligten unerwartet. In den Monaten davor hatte es einen scharfen Machtkampf zwischen zwei Flügeln der herrschenden kommunistischen Partei Ungarns, der MDP (»Partei der Ungarischen Werktätigen«), gegeben. Auf der einen Seite standen die traditionellen Stalinisten um den ehemaligen Staatschef Mátyás Rákosi, die das hohe Maß an Repression, dem sie das Land seit seiner Gründung unterzogen hatten, aufrecht erhalten wollten. Auf der anderen Seite standen die Anhänger des »Reformkommunisten« Imre


Geschichte | UNGARISCHE Revolution

Mátyás Rákosi Stalinistischer Staats- und Parteichef in den 1950er Jahren Ernö Gerö Stalinistischer Vertrauter Rákosis, sein Nachvolger 1956 bis zur Revolution im Oktober Imre Nagy Reformkommunist, in der Revolution Vorsitzender der neuen Regierung, nach ihrer Niederschlagung vom neuen Regime hingerichtet János Kádár Staats- und Parteichef 1956-1988, Kopf des Regimes, das mit Unterstützung der Sowjetunion durch die Konterrevolution 1956 an die Macht kam György Lukacs Marxistischer Philosoph und Unterstützer der ungarischen Reformkommunisten vor 1956, nach 1956 Repression und Vertreibung von der Universität MDP Partei der Ungarischen Werktätigen herrschende stalinistische Staatspartei in Ungarn von 1949 bis 1956 MSZMP Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei von 1956 bis 1989 herrschende Staatspartei in Ungarn, Rechtsnachfolgerin der MDP, während der blutigen Niederschlagung der Ungarischen Revolution von János Kádár gegründet AVH nach dem Muster des sowjetischen NKGB gebildete politische Polizei in Ungarn zwischen 1948 und 1957 Petöfi-Kreis Diskussionskreis junger Literaten in der Partei der ungarischen Werktätigen, Sammlungsort der Reformkommunisten 1956 Pál Maléter Führer der militärischen Verteidigung der Revolution gegen die sowjetischen Truppen Béla Kiraly Führer des Militärischen Widerstands der Revolution und Vorsitzender der revolutionären Nationalgarde Sándor Rácz 1956 Führer des zentralen Arbeiterrates in Budapest, langjährige Haftstrafen und Repressionen unter Kádár, nach der Wende Politiker der nationalkonservativen Bauernpartei Transdanubischer Nationalrat Zentraler Ausschuss aller Revolutionsausschüsse und Arbeiterräte in Westungarn mit Sitz in Györ. Erwog zeitweise, eine Parallelregierung zu Imre Nagys Regierung in Budapest zu gründen, da sich diese in der ersten Phase zu passiv verhielt Bezirksarbeiterrat Borsod Zentraler Ausschuss aller Arbeiterräte in der nordöstlich gelegenen Industrieregion Miskolc

© Alle Bilder: wikimedia

Glossar

Nagy. Im Sommer 1956 wurde der Druck auf Rákosi so groß, dass er zurücktreten musste und einem anderen Mitglied des stalinistischen Führungskreises, Ernö Gerö, die Regierungsgeschäfte übergab. Die »Reformkommunisten« stellten zwar den Stalinismus als System nicht grundsätzlich in Frage, wollten ihn jedoch wie Chruschtschow in der Sowjetunion vom schweren Ballast der stalinistischen Verbrechen befreien. Aber die Taktik, die in der Sowjetunion funktionierte, erwies sich in vielen Satellitenstaaten für die dortigen Herrscher als Bumerang. Historiker sprechen in diesem Zusammenhang von der »Entstalinisierungskrise«: Der Versuch, den Stalinismus zu reformieren, um ihn zu retten, war verbunden mit tiefen Spaltungen in den herrschenden Klassen und der Entstehung von Freiheitsbewegungen, die den Stalinismus grundsätzlich in Frage stellten.

Von der Solidaritätsdemo zum Aufstand

So auch in Ungarn. Innerhalb der herrschenden Partei hatte sich die Jugendorganisation zum Träger der Reformbewegung entwickelt. Die öffentlichen Veranstaltungen ihres »Petöfi-Kreises«, auf dem der bekannte marxistische Philosoph György (Georg) Lukacs Partei für die Reformer ergriff, hatten in den Wochen vor Ausbruch der Revolution Tausende angezogen. Anfang Oktober 1956 war das Regime zudem gezwungen, ein prominentes Opfer der Schauprozesse unter Rákosi, Laszlo Rajk, posthum zu rehabilitieren. Seine zeremonielle Umbettung entwickelte sich zu einer Massendemonstration von 200.000 Menschen gegen die Machthaber, die für seine Hinrichtung verantwortlich waren. Am 23. Oktober schließlich brachte eine von Studierenden organisierte Solidaritätsdemonstration mit Polen Hunderttausende in Budapest auf die Straße. In Polen hatte ein Arbeiteraufstand es ermöglicht, dass der radikale Reformkommunist Władysław Gomulka das alte stalinistische Regime stürzen und sich gegen den sowjetischen Druck an der Macht halten konnte. Im Verlauf der Demonstration der Parteijugend strömten zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter aus den Fabriken und schlossen sich den Studierenden an. Der Charakter der Demonstration änderte sich: Was als Solidaritätskundgebung mit den polnischen Reformern geplant war, verwandelte sich in eine Massenaktion gegen das herrschen-

Klaus Henning ist Politologe und forscht unter anderem zu sozialen Bewegungen in Mittel- und Osteuropa.

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GESCHICHTE | UNGARISCHE Revolution

17.07. Rákosi wird auf sowjetischen Druck gestürzt

23.10. Nach Schüssen auf eine Demonstration entwickeln sich Massenproteste im ganzen Land. Die Revolution beginnt.

26.10.

Gründung von Arbeiterräten in den Fabriken und Bergwerken. Generalstreik. Straßenkämpfe gehen weiter.

1956

de System. Innerhalb der nächsten Stunden kamen immer mehr Beschäftigte aus den Fabriken. Sie rissen ein Stalin-Denkmal herunter, belagerten Rundfunkgebäude und das Parlament und lieferten sich Straßenkämpfe mit den Truppen des Innenministeriums. Sich des Potenzials des beginnenden Aufstands völlig bewusst, bat die ungarische Regierung die Sowjetunion um militärische Unterstützung. Schwere Kämpfe brachen aus, bei denen die Staatssicherheitspolizei AVH – die wichtigste Stütze des Regimes – und russische Truppen Massaker an Zivilisten verübten. Um sich gegen die AVH zu verteidigen, kam es zur spontanen Volksbewaffnung. Angehörige der regulären Armee und der Polizei verbrüderten sich mit den Arbeitern und übergaben die Waffen an die Revolutionäre. Die Straßenkämpfe in Budapest wurden von 15.000 Menschen, hauptsächlich Arbeiterinnen und Arbeitern, teils Jugendlichen, geführt. Im Laufe der nächsten Tage, in der durch das Anwachsen der revolutionären Selbstaktivität das alte Regime stündlich an Zustimmung verlor, sollte sich auch die herrschende Partei MDP, die noch wenige Wochen vorher 900.000 Mitglieder umfasste, vollständig auflösen. Am 28. Oktober gab sich die russische Armee schließlich geschlagen und zog sich zurück. Ein Etappensieg für die Bewegung.

UNGARNS

REVOLTE

30.10. Die Sowjetunion beschließt, die ungarische Revolution niederzuschlagen. Einmarsch sowjetischer Truppen. Kämpfe im ganzen Land. Die Arbeiterviertel leisten den stärksten Widerstand.

1.11. Der gezielte Terror der Geheimpolizei AVH und der sowjetischen Truppen beginnt. Massenhinrichtungen von Aufständischen. 200.000 Ungarn fliehen in den Westen.

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Parallel zu den Straßenkämpfen gründeten sich flächendeckend Arbeiterräte in den Fabriken und Nachbarschaften Budapests. Ein Generalstreik wurde ausgerufen. Daraufhin entstanden auch in den Fabriken und Bergwerken anderer Bezirke Arbeiterräte. Schwerpunkte waren die Industriezentren Miskolc, Salgotarjan, Györ und Sztalinvaros. Ab dem 25. Oktober bauten die Räte Kommunikationsnetze untereinander auf, aus denen Zentralräte entstanden. Die bekanntesten waren der »Transdanubische Nationalrat« in Györ und der Bezirksarbeiterrat von Borsod mit dem Zentrum in Miskolc. Ab dem 28. Oktober übernahmen fast überall revolutionäre Arbeiterräte und Nationalkomitees die Staatsgewalt. Auch in der Armee und der Polizei wurden Revolutionskomitees gewählt. Unter Führung des Generalmajors Béla Kiraly wurde am 29. Oktober aus Teilen der alten Armee, der Polizei und bewaffneten Arbeitern eine Nationalgarde gebildet, die sich den Arbeiterräten unterstellte. Als Gerüchte über eine bevorstehende Konterrevolution in Budapest die Runde machten, teilte der Bezirksarbeiterrat von Borsod etwa dem zentralen Arbeiterrat in der Hauptstadt mit: »Ihr müsst nur zum Telefon greifen und in drei Stunden sind wir bei euch, die Arbeiter von Ozd, Diósgyör, Miskolc – insgesamt 20.000 und bewaffnet.« Nach dem Ausbruch der Revolution wurde erneut eine Regierung unter dem Reformkommunis-


Geschichte | Spanische Revolution

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Der Westen ließ die Sowjetunion gewähren

ten Imre Nagy gebildet. Verhielt sich diese zunächst passiv, war sie unter dem Druck der Ereignisse am 30. Oktober gezwungen, auf die Forderungen der Revolution einzugehen: Nagy verkündete die Abschaffung des Einparteiensystems, erklärte den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt, proklamierte die Neutralität Ungarns und bat die UNO gegen die absehbare zweite sowjetische Invasion um Hilfe. Die Revolution entwickelte sich zu einem ernsthaften Problem für die herrschende Bürokratie, nicht nur in Ungarn. Das sowjetische Politbüro beschloss am gleichen Tag, die ungarische Revolution mit aller Härte niederzuschlagen Die zweite sowjetische Intervention ab dem 4. November war massiver als die erste und erfolgte von zwei Ländern (Sowjetunion und Rumänien) gleichzeitig. Kämpfe eskalierten im ganzen Land und dauerten fast zwei Wochen. Die Industriestädte und Arbeiterviertel leisteten den stärksten Widerstand. Doch der Übermacht der russischen Truppen konnten sie sich nicht mehr erwehren. Die Kämpfe forderten auf ungarischer Seite etwa 2500 Tote, die sowjetischen Truppen verloren nach eigener Darstellung 720 Soldaten. Einzelne Schätzungen gehen von höheren Zahlen aus. Trotz des Einmarsches der Sowjetarmee leisteten immer noch einzelne Gruppen Widerstand.

Die sowjetische Regierung hatte die Regierungen des Westblocks über den geplanten Einmarsch in Kenntnis gesetzt. Daraufhin ließen die Regierungen der USA und Großbritanniens die Sowjetunion gewähren, da sie selbst freie Hand wollten beim Überfall auf Ägypten (Suez-Krise). Die russische Besatzungsmacht setzte eine konterrevolutionäre Marionettenregierung unter Janos Kádár ein, der eine neue stalinistische Partei gegründet hatte, die er »Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei« (MSZMP) nannte. Nachdem der bewaffnete Widerstand der Arbeiter durch russische Truppen gebrochen war, zog sich die Revolution in die Betriebe zurück. Es folgten Wochen einer eigenartigen Form von Doppelherrschaft, bei der das konterrevolutionäre Kádár-Regime die Straßen und die Arbeiterklasse die Fabriken kontrollierte. In dieser Phase kam es erneut zur Ausrufung eines Generalstreiks, in dessen Folge die Industrieproduktion im November auf 17,6 Prozent des Werts vom September sank. Auf Grundlage dieses Generalstreiks verfestigte sich die Kontrolle der Arbeiter über die Wirtschaft noch. Ein Journalist, der für die Zeitung Observer in Großbritannien berichtete, beschrieb die Situation Mitte November folgendermaßen: »Die Arbeiterräte in den Industriegebieten haben die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Gütern übernommen, um sie am Leben zu erhalten. Die Bergarbeiter liefern täglich genau so viel Kohle, die notwendig ist, um die Kraftwerke in Gang zu halten und die Krankenhäuser in Budapest und anderen Großstädten mit Strom zu versorgen. Eisenbahner organisieren Züge zu genehmigten Zielorten für genehmigte Zwecke…« Trotz der wachsenden Repressionen weitete sich die Rätebewegung aus. Gleichzeitig zentralisierte sie sich. Sándor Racz, der neugewählte Vorsitzende des Zentralen Arbeiterrates in Budapest beharrte darauf: »Wir sind die Führer in Ungarn und wir werden sie bleiben«. Die Fabrikräte wurden so stark, dass das Kádár-Regime gezwungen war, sie zeitweise offiziell anzuerkennen, während es gleichzeitig erfolglos ver-

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GESCHICHTE | Spanische Revolution

suchte, sie nach jugoslawischem Vorbild zu zähmen und als Arbeiterselbstverwaltung in das stalinistische System zu integrieren.

Das Regime verübte Massaker und Massenhinrichtungen Keine Arbeitermacht kann sich auf Dauer halten, wenn sie lediglich die Betriebe kontrolliert. Seit dem ersten Tag der russischen Invasion hatte das KádárRegime daran gearbeitet, sich eine Machtbasis in Form eigener Truppen aufzubauen. Anfang Dezember fühlte es sich stark genug, die Arbeiterräte anzugreifen. Massaker und Massenhinrichtungen wurden verübt, die Bezirks- und Nationalräte – zunächst noch nicht die Fabrikräte – verboten und mit Hilfe russischer Panzer aufgelöst. Trotzdem hielten Streiks und Demonstrationen noch bis 1957 an. Nach vergeblichen Versuchen, die Fabrikräte für sich zu gewinnen, ließ Kádár sie schrittweise verbieten und ihre Anführer verhaften. Die letzten Arbeiterräte wurden erst am 17. November 1957 verboten und aufgelöst. Die Beteiligten am Aufstand, insbesondere die Arbeiterinnen und Arbeiter, wurden zu langen Haftstrafen verurteilt und häufig hingerichtet. Auch Imre Nagy wurde hingerichtet. Selbst vor Minderjährigen machte die Exekutionsmaschine nicht halt. Die blutigen Rachejahre nach 1957 waren nicht weniger grausam als andere Konterrevolutionen. Dass die Konterrevolution erst nach 1957 ihren Höhepunkt erreichte, als die Revolution längst besiegt war, ist auch keine Besonderheit der ungarischen Revolution: Die Gewalt einer Konterrevolution hat vorrangig die Aufgabe, der Arbeiterklasse nach ihrer Niederlage für mehrere Generationen die Lektion zu erteilen, dass ein Aufbegehren zwecklos ist. Welche Bedeutung hat die ungarischen Revolution? Der ungarische Politiker und Dissident Istvan Bibo spricht von einem der »spannendsten sozialistischen Experimente des 20. Jahrhunderts«. In seiner Studie »Ungarn 1956« spricht der britische Sozialwissenschaftler Bill Lomax von einer Revolution, die das Ziel hatte, eine neue demokratische Ordnung zu etablieren – »demokratischer als der kapitalistische Westen und sozialistischer als der kommunistische Osten.« Die ungarische Revolution von 1956 besaß drei wesentliche Besonderheiten. Die erste war ihre Radikalität. Zwar gab es in der gesamten Epoche des Stalinismus Arbeiteraufstände und Massenstreiks (1953 in der DDR, 1956 in Polen, 1962 in der Sowjetunion, 1968 in der Tschechoslowakei, noch einmal Polen

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1980). Doch keine dieser Bewegungen ging so weit wie in Ungarn, wo auf den Trümmern des alten stalinistischen Staates ein wirklicher Arbeiterstaat entstand. Eine zweite Besonderheit war die unglaubliche Geschwindigkeit, in der sich die neue Ordnung entwickelte. Dies ist nur mit dem Wissen und der Erfahrung der ungarischen Arbeiterklasse (und ihrer Mütter und Väter) erklärbar, die sie knapp 40 Jahre zuvor in der ungarischen Räterepublik gesammelt hatte. Die dritte Besonderheit war die Tatsache, dass sie in einem Staat ausbrach, der für sich beanspruchte, ein »Arbeiter- und Bauernstaat« zu sein. Und dies ist sicherlich der Grund dafür, warum sich viele Linke mit Ungarn so schwer tun – selbst Linke, die den Stalinismus ablehnen, ihn aber als Real- oder Staatssozialismus relativieren. Doch die ungarische Gesellschaft war kein bürokratisch deformierter »Realsozialismus«, sie war die Negation von Sozialismus: Der »Arbeiter- und Bauernstaat« verdankte sein Bestehen der Zerschlagung jeder Selbstaktivität der Arbeiterinnen und Arbeiter. Zwar waren wesentliche Teile der ungarischen Volkswirtschaft bis in die 1980er Jahre verstaatlicht und nach den Rachejahren war das Kádár-Regime bestrebt, die Bevölkerung mit sozialen Zugeständnissen für sich zu gewinnen. Manche führen dies als Argumente an, um die ungarische Gesellschaft doch irgendwie als sozialistisch zu qualifizieren. Allerdings bedeuten Verstaatlichung und soziale Absicherung noch keinen Sozialismus. Beide Phänomene sind durchaus vereinbar mit der Existenz eines kapitalistischen Systems. Die kapitalistischen Gesellschaften in Westeuropa und Amerika waren in den 1960er Jahren auch von der Ausweitung der Rolle des Staats in der Wirtschaft, vom Ausbau des Sozialstaates und von Vollbeschäftigung geprägt. Selbst Mitbestimmung der Beschäftigten auf betrieblicher Ebene ist im Kapitalismus möglich und auch in vielen Ländern gesetzlich verankert (siehe die Betriebsräte in Deutschland). Soziale Beteiligung und Mitbestimmung der Arbeiterinnen und Arbeiter ist jedoch etwas ganz anderes als die Kontrolle über die Gesellschaft. In der Erinnerung an die ungarische Revolution wird die Rätebewegung der ungarischen Arbeiterinnen und Arbeiter ausgeblendet. Doch die Geschichte von 1956 ist eine Geschichte des Kampfs für Selbstermächtigung und radikale Demokratie. Sie ist eine Inspiration für alle, die heute für eine bessere Zukunft eintreten. Die ungarische Revolution zeigt vor allem, dass eine Gesellschaft möglich ist, in welcher mittels Betriebs-, Gebietsund Nationalräten alle gesellschaftlichen Entscheidungen durch die Bevölkerung demokratisch getroffen werden. ■


BUCHBESPRECHUNG | REICHTUM OHNE GIER

Soziale Gerechtigkeit durch »echten Wettbewerb«? In der bürgerlichen Presse hoch gelobt, in der Linken kritisiert: Das neue Buch der promovierten Volkswirtin und führenden Politikerin der Linkspartei Sahra Wagenknecht wird kontrovers diskutiert. Tatsächlich enthält es viele interessante kapitalismuskritische Details – doch die Gesamtanalyse hat Schwächen Von Thomas Walter

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n »Reichtum ohne Gier« stellt Sahra Wagenknecht ein Wirtschaftsmodell mit ehrgeizigen Zielen vor. Sie fordert eine »moderne Wirtschaftsordnung, (…) in der Eigentum tatsächlich nur noch durch eigene Arbeit entstehen kann (…) und in der (…) leistungslose Einkommen der Vergangenheit angehören.« Ihre Vision klingt verlockend: »Niemand wäre mehr in der Lage, von fremder Arbeit und zulasten anderer reich zu werden. (…) Unsere Gemeinwesen wären wieder demokratisch gestaltbar.« Wagenknecht will keinen Kapitalismus und keine Ausbeutung mehr.

Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag: Sie ist die wohl prominenteste Vertreterin der Partei, aber ihre Positionen sind alles andere als unumstritten

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Folgerichtig beginnt die Analyse mit Marx. Dessen Profittheorie beschreibe »korrekt«, weshalb Gewinn möglich ist, so Wagenknecht. Wenn abhängig Beschäftigte nur für einen Teil ihrer Arbeitszeit bezahlt werden, schaffen sie während der restlichen Zeit Mehrwert für die Kapitalisten. Das ist die Grundlage des Gewinns. Im Folgenden weicht die Autorin aber von Marx ab. Sie behauptet, Ausbeutung würde auf diese Weise nur »möglich« und realisiere sich erst dadurch, dass Konzerne den freien Wettbewerb manipulieren. Nach Marx ist das jedoch nicht nur »möglich«, sondern im Kapitalismus ist das so. Kapitalisten besitzen die Fabriken, während die Arbeiterinnen und Arbeiter nur ihre Arbeitskraft haben. Um von etwas leben zu können, müssen sie diese an die Kapitalisten verkaufen. Kapitalisten kaufen die Arbeitskraft nur unter der Bedingung, dass für sie ein Mehrwert herausspringt, unbezahlte Mehrarbeit. Andernfalls bleiben die Arbeiter eben

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arbeitslos. Marx folgerte daraus, dass die Arbeiterklasse die Kapitalisten enteignen und die Fabriken und damit die Produktion gemeinschaftlich unter eigene Kontrolle bringen müsse, um ihre Ausbeutung zu beenden. Wie kann das aussehen? Soll Planung Märkte ersetzen? Müssen Bestandteile des Kapitalismus auch in einem Sozialismus oder Kommunismus fortbestehen? Im »Kommunistischen Manifest« scheinen Marx und Engels noch von Märkten, Geld und Preisen auszugehen. So schlagen sie eine monopolistische Nationalbank mit Staatskapital und eine »starke Progressivsteuer« vor. Auch der britische Marxist Alex Callinicos hält es in seinem »Anti-Kapitalistischen Manifest« für möglich, dass »Preise und Geld weiterhin eine Rolle als bequemes Zahlungsmittel spielen«. Callinicos betont freilich die Unterordnung der Märkte unter demokratische Entscheidungsprozesse. Das sei dann keine Marktwirtschaft mehr: »Die Übel des Kapitalismus können nur überwunden werden, wenn der Markt nicht gerettet, sondern ersetzt wird.« Im Gegensatz dazu lobt Wagenknecht in ihrem Buch ausdrücklich »echten Markt« und »echten Wettbewerb« als Schlüssel für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung. Wie kommt sie dazu?

abgeschafft sind. Kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) gehören aber für sie nicht zum Kapitalismus. KMUs machen keine großen Gewinne. Zwischen ihnen herrsche ja Wettbewerb. Wagenknechts steile These lautet: »Langfristig gibt es im harten Wettbewerb auf einem offenen Markt keinen Grund, weshalb ein Unternehmer mehr als seine eigene unternehmerische Leistung bezahlt bekommen sollte.« Sie folgt hier einer Ideologie, die Marx im dritten Band des Kapitals kritisiert. Im »Hirnkasten« des Unternehmers (und offensichtlich auch in Wagenknechts) kann die Illusion entstehen, dass Unternehmer eine Art Arbeiter höherer Qualität seien. Es gibt einfache Arbeiter, Facharbeiter, Meister und eben auch die leitenden Unternehmer. Dann gibt es auf der Gegenseite das Geldkapital mit seinem »leistungslosen Kapitaleinkommen«, das Wagenknecht vom »dauerhaften Gewinn« der Konzerne unterscheidet. Solche Unterschiede können für eine marxistische Analyse sinnvoll sein, doch ändert dies bei Marx nicht den Klassencharakter des Kapitalismus. Die »fungierenden Kapitalisten«, die also in einem Unternehmen eine Aufgabe erfüllen, gehören genauso zur Kapitalistenklasse wie die Eigentümer des Geldkapitals. So sind KMUs keine idyllischen Inseln. Gerade weil sie in der Konkurrenz um ihr Überleben kämpfen müssen, nimmt die Ausbeutung dort für die Arbeiterinnen oft schlimmere Formen an als in manchem Großkonzern.

Wagenknecht lobt Markt und Wettbewerb

DAS BUCH

Sahra Wagenknecht Reichtum ohne Gier – wie wir uns vor dem Kapitalismus retten Campus-Verlag Frankfurt/New York 2016 290 Seiten 20 Euro

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Bei Marx hat die Form der Konkurrenz auf den Arbeits- und Gütermärkten des Kapitalismus keinen grundsätzlichen Einfluss auf die Ausbeutung. Es gibt Ausbeutung, gleichgültig, ob die Arbeiterinnen sich in Gewerkschaften organisieren, ob auf den Gütermärkten viele (Polypol) oder wenige (Oligopol) Unternehmen miteinander konkurrieren oder gar nur ein Kapitalist (Monopol) herrscht. Bei Wagenknecht hingegen kann Ausbeutung nur von der Möglichkeit zur Wirklichkeit werden, wenn die Konkurrenz, der »Wettbewerb«, eingeschränkt wird. Sie folgt der bürgerlichen Theorie, wonach ausreichend Wettbewerb dafür sorgt, dass die Unternehmen sich die Profite gegenseitig wegkonkurrieren. Im Konkurrenzkampf um Arbeitskräfte zahlen die Unternehmen hohe Löhne und im Konkurrenzkampf um Kunden senken sie die Preise. Gestört wird diese heile Welt ohne Profite von Konzernen, die künstlich den Wettbewerb verhindern. Sie vertritt hier die Linie der Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft. Diese haben nicht nur vor der Macht des Staats, sondern auch vor der Macht der Konzerne gewarnt. Wagenknecht konstruiert gemäß dieser Analyse eine Welt, in der privatwirtschaftliche Großkonzerne

Kann sich nun ein KMU im Wettbewerb nicht halten, wird es in Wagenknechts Modell in eine »Mitarbeitergesellschaft« umgewandelt. Diese werden, ähnlich heutigen Genossenschaften oder Kooperativen, von den Beschäftigten selbst geführt. Bei größeren Mitarbeitergesellschaften sollen Vertreter der Kommunen oder der Länder mit entscheiden. Marx erörtert die Kooperativen der Arbeiter und die Aktiengesellschaften der Kapitalisten im dritten Band des Kapitals. Die Entwicklung der Produktivkräfte innerhalb des Kapitalismus führt zu kollektiven Unternehmensformen, eben den Kooperativen und Aktiengesellschaften. Einerseits betrachtet Marx diese als »Übergangsformen« auf dem Weg zu einer sozialistischen Produktionsweise. Andererseits können auch die Kooperativen innerhalb des Kapitalismus den »Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital« nur innerhalb des Betriebs aufheben. Gesamtwirtschaftlich betrachtet müssen sie »natürlich überall (…) alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren«. Die Erfahrung mit dem jugoslawischen Modell der Ar-


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gewinnorientiert arbeiten, sollen einen öffentlichen Versorgungsauftrag erfüllen. Die Autorin übersieht hier, dass auch solche sogenannten gemeinnützigen Unternehmen dazu neigen, versteckt Profit zu machen, beispielsweise in Form von höheren Managergehältern.

beiterselbstverwaltung hat denn auch gezeigt, dass selbstverwaltete Betriebe unter dem Konkurrenzdruck des Markts kapitalistischen Unternehmen ähnlich werden. Die von den Arbeitern gewählten Unternehmensleitungen müssen Arbeitszeiten verlängern und Löhne drücken, sollen die Unternehmen »wettbewerbsfähig« bleiben. Die Unternehmensleiter verwandeln sich im Konkurrenzkampf der Betriebe untereinander früher oder später in Kapitalisten. In Südeuropa gibt es mehr Kooperativen als in Deutschland, oft mit linkem Anspruch. Dort zeigt sich die Schwierigkeit, dass diese Kooperativen das Lohnniveau der Arbeiterinnen in den herkömmlichen kapitalistischen Betrieben drücken. Um auf dem kapitalistischen Markt konkurrenzfähig zu bleiben, betreiben die Kooperativen Selbstausbeutung. Es mag sein, dass eine Kooperative aus jungen Idealisten, die von Luft und Liebe leben, sich am Markt halten kann. Für die Beschäftigten in den herkömmlichen kapitalistischen Betrieben wird es so aber schwerer ihre Lohnforderungen durchzusetzen. Wichtige Wirtschaftsbereiche schließlich – zum Beispiel Telekommunikation, Soziales, Finanzwesen, Großindustrie – will Wagenknecht weder Privatkapitalisten noch Mitarbeitergesellschaften anvertrauen: »Gemeinwohlgesellschaften«, die nicht

Letztlich lässt Wagenknecht die Rolle der Märkte und des Wettbewerbs offen. Die KMUs konkurrieren untereinander. Aber wie konkurrieren Mitarbeitergesellschaften, bei denen Kommunal- und Landesvertreter mit bestimmen? Was passiert, wenn eine Mitarbeitergesellschaft aus Konkurrenzgründen von Bonn nach Hamburg umziehen will, der Gemeinderat von Bonn dies aber untersagt? Und kann hier der Senat von Hamburg mitreden? Gibt es übergeordnete Stellen? In gewisser Hinsicht wirken Wagenknechts Vorschläge radikal. Konzerne werden abgeschafft und durch selbstverwaltete oder Gemeinwohlgesellschaften ersetzt. Für die Deutsche Bank, so Wagenknecht, gibt es in ihrem Modell keinen Platz. Man könnte ihr unterstellen, dass ihre Taktik darin besteht, viel von Markt und Wettbewerb zu reden, dann aber Institutionen vorzuschlagen, die eben dies wieder in Frage stellen. Wenn an Schlüsselstellen der Wirtschaft die »öffentliche Hand« mitbestimmt und Schlüsselindustrien dem »Gemeinwohl« anvertraut werden, dann bleibt ja vom Markt nicht so viel übrig. Wagenknecht erklärt aber nicht, was sie mit Öffentlichkeit oder »öffentlicher Hand« meint.

Ludwig Erhard im Jahr 1957 mit seinem Buch »Wohlstand für Alle«. Erhard, von 1949 bis 1963 Bundeswirtschaftsminister und von 1963 bis 1966 Bundeskanzler, gilt als »Vater der Sozialen Marktwirtschaft«. Immer wieder beruft sich Wagenknecht auf seine ordoliberalen wirtschaftspolitischen Konzepte, in denen dem Staat die Aufgabe zukommt, einen Ordnungsrahmen für freien Wettbewerb zu schaffen

Bleibt außerdem die Frage, wie sie ihr Projekt gegen Widerstände (zum Beispiel der Deutschen Bank) durchsetzen will. Dazu schreibt sie nichts. Vielleicht ist es ihre Hoffnung, dass die Lektüre ihres Buchs viele Menschen überzeugt und diese die Linkspartei in die Parlamente wählen. DIE LINKE setzt dann das Wagenknecht-Modell um. Der Putsch gegen Chiles sozialistischen Präsidenten Salvador Allende im Jahr 1973 ist allerdings ein klassisches Beispiel dafür, wie die herrschenden Mächte mit einer demokratisch gewählten Regierung umgeht, die ihre Interessen gefährdet. Insgesamt hinterlässt das Buch den Eindruck, dass Wagenknecht sich vor wichtigen Fragen drückt: Sie will sich nicht festlegen. Selbst ihre eigenen Vorschläge sind nicht zu Ende gedacht. Es gibt keine Abgrenzung zwischen »Markt« und »Öffentlichkeit«. Öffentlichkeit wird nicht näher bestimmt. Indem sie die Klassengegensätze des Kapitalismus nicht anspricht, weckt sie Illusionen. Sie kennt keine Arbeiterklasse als entscheidende Kraft, die mit ihren Kämpfen – dabei können linke Parteien unterstützen – den Kapitalismus überwinden kann. Ihr Buch ist zu konfus, um für politisches Handeln eine Orientierung bieten zu können. ■

Thomas Walter ist Ökonom und Mitglied der LINKEN in Berlin.

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Streikrepublik Deutschland!? Im letzten Jahr streikten Beschäftigte aus den unterschiedlichsten Bereichen. Nur einige waren erfolgreich. Ihr Beispiel muss Schule machen Von Heinz Willemsen Heinz Willemsen arbeitet in einem diakonischen Sozialkonzern. Er ist Mitglied von ver.di und der LINKEN.

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treikrepublik Deutschland« lautete Anfang 2015 die Schlagzeile im »Spiegel«. Unter dem Beifall der Delegierten verkündete der Vorsitzende der LINKEN, Bernd Riexinger, auf dem Bielefelder Parteitag im Juni des selben Jahres: »Wir erleben die größte Streikbewegung seit Jahrzehnten. Briefträgerinnen und Lokführer, Schaffnerinnen und Erzieherinnen – sie alle wehren sich endlich!« Angefangen hatte es bereits Ende 2014 mit dem Streik der Lokführergewerkschaft GDL, ein Konflikt, der sich über Monate hinzog. Die GDL war für Arbeitszeitverkürzung, mehr Lohn und Begrenzung der Überstunden in den Streik gegangen. Im Mai 2015 trat ver.di im Sozial- und Erziehungsdienst in einen vierwöchigen Streik. Die Beschäftigten forderten für Erzieherinnen und Erzieher in Kitas eine materielle Aufwertung von 15 bis 20 Prozent. Bei der deutschen Post dagegen wurde ver.di von einem massiven Angriff der Geschäftsführung in den Streik getrieben. Mit neu gegründeten Zustellfirmen sollte der Haustarifvertrag ausgehöhlt werden. Schließlich gingen im Juni auch die Beschäftigten an der Berliner Universitätsklinik Charité für mehr Personal in den Ausstand. Und bei Amazon führte ver.di seit zwei Jahren eine Auseinandersetzung. Alle diese Streiks hatten eine starke politische Komponente. Die GDL wehrte sich gegen die Einschränkung des Streikrechts, die mit dem Gesetzt der Tarifeinheit durchgesetzt werden sollte. Das Anliegen der Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst stand im Konflikt mit der Schuldenbremse in den Kommunen. Bei der Deutschen Post AG trug die Bundesregierung als Anteilseignerin – und damit

auch die SPD – Mitverantwortung dafür, einen großen Niedriglohnsektor im Konzern zu schaffen. Der Streik der Charité-Beschäftigten war ein Angriff auf das Herzstück des neoliberalen Umbaus im Gesundheitswesen, die sogenannten Fallpauschalen.

Ver.di wich der zentralen Frage aus

In der zweiten Jahreshälfte hatte sich das Bild jedoch grundlegend gewandelt. Es waren die beiden großen Streiks von ver.di, deren Ausgang, eine Niederlage bei der Post und ein mageres Ergebnis im Sozial- und Erziehungsdienst, zur Ernüchterung führte. Nach vier Wochen Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst wurden die Streikenden von der Anrufung der Schlichtung überrumpelt. Auf die totale Weigerung der kommunalen Arbeitgeber, überhaupt über die Forderungen der Gewerkschaft zu verhandeln, hatte ver.di keine strategische Antwort. Wie die Gewerkschaft Durchsetzungsfähigkeit entwickeln kann, wenn der ökonomische Druck gering ist, wurde nicht diskutiert. Der zentralen Frage, dass dieser Streik zugleich ein Kampf gegen die politisch gewollten kommunalen Sparzwänge ist, wich ver.di aus. Die politische Darstellung des Streiks glich eher einer Kampagne, in der die ideologischen Widerstände gegen eine Aufwertung von Frauenarbeit überwunden werden sollten, als einem Kampf gegen die materiellen Interessen hinter der Schuldenbremse. Kurz, sie richtete sich eher an das Familienministerium von Manuela Schwesig als gegen das Finanzministerium von Wolfgang Schäuble. Der Abbruch des Streiks durch Schlichtung, nachdem ver.dis Streikstrategie gescheitert war, führte zu


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einem Aufruhr unter den Streikenden. In einer Urabstimmung der GEW stimmten 68,8 Prozent gegen den Schlichterspruch. Bei ver.di lehnten 69,1 Prozent der befragten Mitglieder das Ergebnis ab. Diese große Ablehnung bezeichnete der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske als einmalig in der Geschichte und als großen Arbeitsauftrag. Dennoch wurde der Streik nicht fortgesetzt. Die Gewerkschaftsbasis hatte keine strategische Alternative zur Führung. Eine Vernetzung an der Basis hatte es nicht gegeben. Unter diesen Umständen wurden die Streikkonferenzen zu Orten, an denen Frust abgelassen, aber nicht strategisch diskutiert wurde. Ein demokratisierendes Element wie eine Streikkonferenz gab es beim Poststreik überhaupt nicht. Dort herrschte unter den Aktiven aber von Anfang an großes Unverständnis über die Streikstrategie der Fachbereichsführung. Das Ergebnis, das gerade in dem wichtigsten Anliegen, der Verhinderung der neuen Delivery-Gesellschaften, eine Niederlage bedeutete, war für viele ein totaler Schock. Nicht selten richtete sich der Frust über das Ergebnis gegen die Gewerkschaft an sich. Diese beiden großen Flächentarifauseinandersetzungen haben einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Der Ausgang dieser Konflikte hat in den Hintergrund gedrängt, dass zwei Auseinandersetzungen mit einem Erfolg endeten, bei der GDL und an der Charité.

hatte eine Signalwirkung für andere Krankenhäuser, es den Berlinern gleichzutun. Anders als bei der Post oder im Sozial- und Erziehungsdienst hatte die Belegschaft in der jahrelangen Auseinandersetzung Erfahrungen gesammelt und trat als selbstbewusstes Subjekt der Auseinandersetzungen auf. Die Beschäftigten haben das übliche Top-downMuster, das den Gewerkschaftssekretären bei Tarifauseindersetzungen einen Wissens- und Machtvorsprung vor der streikenden Basis gibt, erfolgreich durchbrochen. »Damit kommende Auseinandersetzungen erfolgreicher geführt werden können«, zog Bernd Riexinger Resümee aus dem Streikfrühling 2015, »müssen die Beschäftigten selbst zu den bestimmenden Subjekten bei der Planung und Durchführung der Organisierung und der Streiks werden«. Mit dem Modell der Tarifberater/Stationsdelegierten haben die Aktiven an der Charité den Anspruch auf Demokratisierung der Streiks mit Leben gefüllt. Denn ohne eine Demokratisierung der Streiks, das zeigt die Erfahrung von 2015, wird es schwierig, Erfolge zu erzielen.

Um den Erfolg der GDL zu verstehen, muss man die unterschiedliche Reaktion der GDL und der größeren Bahngewerkschaft EVG (früher Transnet) auf die Privatisierungsstrategie der Bahn betrachten. Die fest in die sozialdemokratische Tradition der »Sozialpartnerschaft« eingebundene EVG setzte auf ein enges Verhältnis zur DB-Konzernleitung. Im Gegenzug dafür, dass sie die Privatisierungsstrategie der Bahn unterstützte, hoffte sie auf Konzessionen für die Belegschaft. Ganz anders dagegen die GDL: Dem Druck auf die Arbeits- und Lohnbedingungen der Lokführer, der durch die neuen privaten Bahnen entstand, begegnete sie durch eine Organisierungsoffensive unter den Beschäftigten dieser Bahnen. Heute ist die GDL bei vielen privaten Bahnen weitaus stärker als die EVG. So schaffte sie es, die Konkurrenz privater Eisenbahnunternehmen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen einzudämmen. Auf dieser Basis konnte sie den Streik bei der Bahn erfolgreich führen. Der Streik an der Charité im Juni 2015 war Teil einer jahrelangen Auseinandersetzung, die schließlich im Frühjahr 2016 zum Abschluss eines Tarifvertrags führte. Erstmals seit über 15 Jahren wurde das Unternehmen auf einen verbindlichen Personalschlüssel in der Pflege festgelegt. Der Arbeitskampf

In den Gewerkschaften findet eine Richtungsauseinandersetzung statt, wie mit der Offensive der Unternehmer umzugehen ist und wie die Gewerkschaften sich für diese Auseinandersetzung aufstellen müssen. In diesem Konflikt darf die Linkspartei nicht auf der Zuschauertribüne verharren. Sie muss in der entscheidenden Phase, wenn betriebliche Unzufriedenheit in Aktion und Streik umschlägt oder wieder in Passivität verfällt, anwesend sein und eine Orientierung bieten. DIE LINKE kann Ressourcen bereitstellen, um die Vernetzung der gewerkschaftlichen Basis zu organisieren. Mit Ratschlägen zum Einzelhandel oder zu Amazon hat die Part e i einen ersten wichtigen Schritt g e macht. Ohne eine organisierte Opposition von unten, die für eine sozialistische statt für eine korporatistische Politik eintritt, wird der Niedergang der Gewerkschaften weitergehen. ■

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Kultur | Film »Paterson«

Seit mehr als dreißig Jahren dreht Jim Jarmusch Filme, die die Welt in einem anderem Licht erscheinen lassen. Auch der neueste Streifen »Paterson« hält das Publikum mit Ereignissen in Atem, die eigentlich niemanden interessieren Von Phil Butland

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aterson (Adam Driver) ist Busfahrer und Dichter und lebt nicht ganz zufällig auch in Paterson, New Jersey. »Paterson« ist auch der Name einer Gedichtsammlung von William Carlos Williams, einem Schriftsteller der Moderne, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in New Jersey lebte. Seine Gedichte erscheinen im Film in unterschiedlicher Form. In Carlos Williams Lyrik, die wie Haikus wirkt, geht es eher um Rhythmus und Stimmung als um den Inhalt. Eins der bekanntesten Gedichte lautet: »so viel hängt ab / von einer roten Schubkarre / glänzend vom Regenwasser / bei den weißen Hühnern« Der Ton ähnelt Jim Jarmuschs bedächtigen Filmen mit ihrem Anspruch von Allwissenheit. Im Film »Paterson« passiert nichts. Immer wieder. Paterson, der Mann, steht jeden Morgen früh auf

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Es geht um Rhythmus und Stimmung


Kultur | Film »Paterson«

und fährt seinen Bus. Seine Mittagspause verbringt er an einem Wasserfall und arbeitet an seinem aktuellen Gedicht. Am Ende seiner Schicht übergibt er den Bus an den immer mürrischen Donny (Rizwan Manji). Paterson geht nach Hause, hängt den Briefkasten gerade und schaut nach, welchen Teil des Hauses seine Freundin, die Künstlerin Laura (Golshifteh Farahani) heute schwarz-weiß angemalt hat. Später nimmt er Lauras Mops Marvin mit in die Kneipe und beobachtet das Leben anderer Leute. Der Film spielt in einem unspektakulären aber ethnisch gemischten Arbeiterviertel. Es gibt keine Verfolgungsjagden oder große Explosionen – so ein Film ist es nicht. In »Paterson« geht es um das alltägliche Leben. Und wie in den meisten Leben passiert meistens nichts. Bis auf ein untypisches Aufflammen von Aufregung am Ende des Films ist das größte Ereignis eine Buspanne.

© 2016 Window Frame Films Inc. Photo by Mary Cybulski

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Links: Der Gesichtsausdruck des störrischen Mops Marvin spricht Bände: Viel passiert in Jarmuschs neuestem Film »Paterson« nicht

Die Beziehung zwischen Paterson und Laura ist beinahe völlig frei von Konflikten oder sogar Erregung. Wenn sie sich dazu entschließen, am Freitagabend ins Kino zu gehen, ist das eine Riesensache. Die restliche Zeit verbringen sie mit liebevollem, aber banalem Geplänkel. Im echten Leben würde man wahrscheinlich tunlichst jeden unnötigen Kontakt mit ihnen vermeiden – aber im Film erscheinen sie als sympathische Menschen. Die spärliche Aufregung im Film spielt sich in den Hintergrundgesprächen ab. In Patersons Bus erzählt ein schwarzes Kind seinem Kumpel die Geschichte des schwarzen Boxers Ruben »Hurricane« Carter, der in den 1960er Jahren Opfer eines rassistischen Justizskandals wurde. Bauarbeiter verarschen sich gegenseitig wegen verpasster Flirtchancen und ein paar Studenten diskutieren über italienische Anarchisten. Diese Geschichten driften in unser Bewusstsein und werden danach nie wieder erwähnt. Ähnlich schlägt auch Patersons normalerweise ereignisloses Leben manchmal bizarre Volten: Eine

Rechts: Als Jugendlicher schlich sich Jim Jarmusch mit gefälschtem Ausweis in Undergroundfilme wie Andy Warhols »The Chelsea Girls« oder Robert Downeys »Putney Swope«. Heute zählt er selbst zu den bekanntesten Vertretern des amerikanischen Independentfilms

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Gruppe schwarzer Jugendlicher belehrt ihn aus ihrem Auto heraus über sicheren Umgang mit Hunden, er trifft zufällig den bekannten Rapmusiker Method Man, welcher in einem Waschsalon probt, Laura überrascht ihn mit der kulinarischen Innovation eines Rosenkohl-Käse-Kuchens. Unser Mitgefühl ist ihm sicher, als er das Gebäck mit sichtlichem Unbehagen verzehrt. »Paterson« wird als Komödie präsentiert, allerdings hat man es nicht mit Humor zum laut Lachen zu tun, sondern eher mit trockener Beobachtung. Uns begegnen weniger Witze als vielmehr schrullige Persönlichkeiten – vom Schauspieler Everett (William Jackson Harper) mit seinem katastrophalen Liebesleben bis zu Doc, dem Wirt (Barry Shabaka Henley), der eine Galerie aus Zeitungsausschnitten von Prominenten mit einer vagen Verbindung mit der Stadt angelegt hat.

Jarmusch vergleicht seine Filme mit Punkrock Gelegentlich beschleicht einen das Gefühl, dass Jarmusch es übertreibt und die Figuren eher kitschig als charmant sind. Manche sind vielleicht ergriffen von einer zehnjährigen Dichterin, die »die Gedichte, die sich nicht reimen« bevorzugt, und überrascht angesichts eines Busfahrers, der Emily Dickinson mag. Mich schüttelt es. Und wenn dann der stereotype, undurchschaubare japanische Tourist auftaucht… na ja, davon später.

Film Paterson Regie: Jim Jarmusch USA 2016 115 Minuten ab 17. November im Kino

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Erst einmal ist es Zeit für einen Rückblick. Schon mehr als dreißig Jahre sind vergangen, seit Jim Jarmusch mit »Stranger than Paradise« als einer der interessantesten Regisseure der »Neuen Welle« bekannt wurde, die sich in den frühen 1980er Jahren entwickelte. Teils als Reaktion auf die (für damalige Verhältnisse) teuren Blockbuster wie »Krieg der Sterne« und »Der weiße Hai« drehten die Filmemacher mit unbekannten Schauspielerinnen und Schauspielern und einem kleinen Budget (die Produktion von »Stranger than Paradise« kostete 110.000 Dollar). Jarmusch ging noch weiter und beschäftigte als Darsteller Musiker wie Tom Waits (»Down By Law«), Joe Strummer (»Mystery Train«) oder verschiedene Mitglieder des Wu-Tang Clan (Method Man ist einer davon). Der Filmemacher ist selbst auch Sänger und Musiker – der Soundtrack von »Paterson« stammt von seiner Band Sqürl. Seine Art des Filmemachens hat Jarmusch häufig mit Punkrock verglichen, wegen

seiner Bevorzugung des Stils vor naturgegebenem Talent. Im Gegensatz zu einigen seiner Zeitgenossen war Jarmusch nie explizit politisch – er drehte keine Filme über Rassismus oder Klassenkampf wie Spike Lee und John Sayles. Teils als Folge davon, wann und wie sie gemacht wurden, sind seine Filme aber dennoch letztendlich politisch. So argumentiert auch der Kulturjournalist Peter Biskind in seinem Buch »Down and Dirty Pictures« über die »Neue Welle«. Nachdem er ausdrücklich Jarmusch erwähnt, schreibt er: »Independent-Filme waren nie programmatisch links oder überhaupt ›politisch‹, außer vielleicht mal in ganz schwacher Form, aber viele waren durchdrungen von einer ›wir gegen die‹Haltung gegenüber den großen Filmstudios und anderen US-amerikanischen Institutionen (…) sie waren quasi per Definition Außenseiterfilme und deshalb – mehr oder weniger ausgeprägt – grundsätzlich oppositionell.« Jim Jarmuschs Helden sind nicht nur Außenseiter und Underdogs, sondern auch sozial Ausgestoßene, die wenig Verbindungen zur Gesellschaft haben. Ob William Blake in »Dead Man« oder der gleichnamige Charakter in »Ghost Dog – Der Weg des Samurai«, Jarmuschs Protagonisten (normalerweise Männer) sind sich meist selbst genug und dem modernen Leben nur vorübergehend verbunden. Gleichzeitig gelang Jarmusch, woran viele andere Indie-Filmemacher scheitern: Er zeigte eine funktionierende Gesellschaft, die nicht ausschließlich von weißen Mittelklasse-Akademikern bevölkert wird. Auch wenn wir ihm vielleicht nicht ganz abnehmen, dass Busfahrer regelmäßig mit Schauspielern trinken gehen, sind Jarmuschs Charaktere deutlich interessanter als die wohlhabenden weißen Leuten, die in kuscheliger Arthouse-Athmosphäre mit ihren Erste-Welt-Problemen ringen (»Maggies Plan« steht mir besonders vor Augen, aber es gibt wahrlich genügend »alternative« Filme, auf die das zutrifft). Durch Jarmuschs Filme läuft nicht nur gelegentlich eine Person, die nicht der elitären weißen Gesellschaft angehört. Weil die Handlung in einfachen Arbeitervierteln spielt, sind nicht-weiße Charaktere individuelle Persönlichkeiten und nicht unfreiwillige Sprecherinnen und Sprecher für alle Leute ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Die meisten Figuren in »Paterson« sind nur zufällig People of Colour – mit der unglücklichen Ausnahme des japanischen Touristen stehen sie nicht stellvertretend für etwas anderes als sich selbst. Obwohl nur wenige Zuschauerinnen und Zuschauer sich in Paterson und Laura, oder ihrer nervtötend friedlichen Beziehung, wiedererkennen dürften, fühlen wir doch mit ihnen – zwei arbeitende Menschen, die trotzdem kreativ und intelligent sind. Laura ist manchmal anmaßend, was man ihr verzeihen kann, da sie nicht versucht, jemanden zu beeindrucken. Ihre Begeisterung und Lust auf neue Er-


Kultur | Film »Paterson«

© 2016 Window Frame Films Inc. Photo by Mary Cybulski

Der Busfahrer Paterson, gespielt von Adam Driver, lebt jeden Tag in derselben Routine. Trotzdem kommt bei Jarmuschs lebensnaher Charakterstudie nie Langeweile auf

Auch wenn beabsichtigt ist, ihrer Weisheit zu huldigen, kann das bedeuten, dass wir sie als etwas sehen, was kritiklos verehrt statt ernst genommen wird. (Man könnte hier die Meinung vertreten, dass der Film Laura ähnlich behandelt. Laura wird nicht nur von einer Person mit iranischem Hintergrund gespielt, sondern auch von einer Frau.) fahrungen machen gleichermaßen abhängig (auch wenn ihr Charakter nicht ganz gut ausgearbeitet ist und hier manchmal ins Klischee abdriftet). »Paterson« zeigt uns ein in sich geschlossenes Universum und ist vielleicht am schwächsten, wenn diese Welt von anderen Menschen besucht wird. Ziemlich am Ende taucht ein japanischer Tourist auf, verwickelt Paterson in ein Gespräch und bedenkt ihn mit Weisheiten, die sein Leben für immer verändern könnten. Das ist typisch für Jarmusch, den die gerechtfertigte Wut über die Oberflächlichkeit der modernen kapitalistischen Gesellschaft manchmal dazu verleitet, in wohlklingender östlicher Philosophie nach Lösungen zu suchen. Das kann uns den Auftritt von Personen von außerhalb des weißen US-amerikanischen Kulturkreises bescheren, die weise Ratschläge anbieten. Bis man darüber nachdenkt, was sie gerade gesagt haben, und es sich als sinnloses Geschwafel entpuppt. Letztendlich kann das zu einer Art von »Othering« führen – Leute aus anderen Kulturen so zu behandeln, als wären sie irgendwie anders als du oder ich.

Doch »Paterson« macht am meisten Spaß, wenn man nicht allzu viel darüber nachdenkt. Der Film kommt ohne den Stress des modernen Lebens aus – Paterson verweigert sich dem Smartphone und speichert nicht einmal seine Gedichte im Computer. Am besten funktioniert der Film, wenn man sich einfach berieseln lässt. Wenn man den Fluss unterbricht und anfängt, unangenehme Fragen zu stellen, kann ich verstehen, dass man auf Probleme stoßen könnte. Aber warum sollte man das tun? Mit seinen heiteren Routinen und den Gedichten über Streichhölzer der Marke Ohio Best Tip eröffnet »Paterson« ein gelasseneres Universum, das für uns nicht mehr existiert – wenn es denn jemals Wirklichkeit war. Er ist das genaue Gegenteil zu einem Actionfilm von Michael Bay, der einen ständig am Ärmel zerrt und unsere Aufmerksamkeit beansprucht. Das allein ist Grund genug, sich über »Paterson« zu freuen. Jarmusch ist es gelungen, das Banale interessant, sogar aufregend zu machen. Vielleicht bleibt am Ende wenig übrig, aber manchmal ist die Reise wichtiger als das Ziel. ■

Phil Butland hat Philosophie und Literatur studiert und schreibt regelmäßig über Kunst und Kultur für marx21. Er ist Gründungsmitglied der Gruppe KünsterInnen gegen Krieg Berlin.

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Review


REVIEW | Buch

Zwischen freier Liebe und strikter Arbeitsethik Sie wünschten sich ein Zusammenleben ohne Besitz, Rang und materielle Not: US-amerikanische Siedler gründeten im 19. Jahrhundert an verschiedenen Orten Kommunen. Doch diese waren keineswegs nur Inseln der Glückseligkeit Von Loren Balhorn

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udolf Stumbergers Buch liest sich wie ein Reiseführer. Für »Das kommunistische Amerika« reiste der Journalist durch die Vereinigten Staaten und besuchte die Orte von acht ehemaligen »utopischen Kommunen« des 19. Jahrhunderts. Er stellt ihren Aufstieg und Niedergang dar und beschreibt, was von ihnen übriggeblieben ist: Museen, Pensionen und Aktiengesellschaften. Auf diese Weise möchte er »die Geschichte dieses anderen Amerikas« vor dem Vergessen bewahren. Einer der interessantesten Fälle sind die »Shakers«. Diese wurden nach den Schüttelbewegungen benannt, die sie beim kollektiven Gebet machten. Sie lehnten jede Form von Liebe und sexuellem Kontakt ab (weshalb sie vermutlich irgendwann ausstarben). Im Gegensatz dazu handelte es sich bei den »Perfektionisten« um eine Kommune, in der alle Gemeindemitglieder in einem riesigen Haus zusammenwohnten und regelmäßig die Sexualpartner wechselten. Ihr Ziel war es, das Ego des Individuums und die individuelle Liebe in eine Art gemeinschaftlicher Gruppenpartnerschaft aufzulösen. Manche ihrer Praktiken wirken heute durchaus fortschrittlich, wie die Etablierung einer Verhütungspflicht für die männlichen Mitglieder der Kommune, die zeitgenössischen Berichten zufolge die Freude der weiblichen Hälf-

te der Kommune an Sex erheblich steigerte. Gleichzeitig gab es jedoch eine ritualisierte Form der Vergewaltigung, denn der Gründer John Humphrey Noyes behielt sich das Recht vor, jedes Mädchen der Kommune zu entjungfern. Daher ist es etwas unglücklich, wenn Stumberger die Perfektionisten als »Sex-Kolonie« bezeichnet. Denn sie hatten genauso viel mit sexueller Gewalt und Kontrolle in einer männlich dominierten Gesellschaft zu tun wie mit dem sexuallibertären Utopismus, den der Autor auf sie zu projizieren versucht. So spannend solche mikrosoziologischen Fundstücke sein mögen, muss man doch bezweifeln, ob die Bezeichnung »kommunistisch« der Natur der vorgestellten Kommunen gerecht wird. Stumberger stützt sich auf den Journalisten Charles Nordhoff. Der hatte im Jahr 1875 einen Bericht über diese Kommunen unter dem Titel »The Communistic Societies of the United States« (»Die kommunistischen Gesellschaften der USA«) veröffentlicht. Doch Stumberger vermutet selbst, dass sie eher eine Art des »utopischen Sozialismus« waren, den Marx und Engels vehement kritisierten. Er verweist immer wieder auf den scheinbaren Widerspruch, dass diese egalitären, »kommunistischen« Gemeinden im kapitalistischen Wettbewerb oft extrem erfolgreich waren. Doch eigentlich ist es wenig erstaunlich, dass

streng hierarchische Arbeitskollektive, die keine Löhne auszahlten und auf der Autorität eines charismatischen Führers und einer strikten Arbeitsethik basierten, auf dem Markt besonders konkurrenzfähig waren. Wenn die Ware Arbeit durch ideologische Verblendung künstlich billig gehalten wird, lässt sich die Profitrate durchaus steigern. Tatsächlich basierten diese Kolonien auf einer der effektivsten Methoden zur kurzfristigen Profitsteigerung überhaupt – nämlich der Enteignung, Vertreibung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung. Diese Tatsache kommt in dem Buch leider viel zu kurz. Dennoch wäre es mehr als 150 Jahre später zu einfach, die Kommunen aufgrund ihrer Verstrickung in die Kolonisierung Nordamerikas als besonders patriarchal oder rassistisch zu verteufeln. Denn viele ihrer Angehörigen strebten wirklich nach einem freien Zusammenleben ohne Besitz, Rang und materielle Not. Doch die beschränkte Reichweite dieser Experimente und auch die Gräueltaten, die in ihrem Namen verübt wurden, machen es schwierig, von einem frühen, US-amerikanischen Kommunismus zu sprechen. Dennoch ist Stumbergers Buch eine interessante und etwas kuriose Lektüre über oftmals surreale Gepflogenheiten. Es erinnert daran, wie widersprüchlich, verworren und vielschichtig die menschliche Geschichte oft ist. ■

★ ★★ Buch | Rudolf Stumberger | Das kommunistische Amerika. Auf den Spuren utopischer Kommunen in den USA | Mandelbaum | Wien 2015 | 240 Seiten | 19,90 Euro

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REVIEW | Album des Monats

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ie SmartphoneApp »Snapchat« gehört seit geraumer Zeit zum digitalen Standardrepertoire vor allem jüngerer Handy-Nutzer. Als sogenannter »Instant-Messaging-Dienst« lassen sich hierüber selbstgemachte Fotos und Videos verschicken, die nach einer vorher verfügten Anzahl an Sekunden selbstständig vom Handy des Empfängers verschwinden. Im April 2016 sollen so 100 Millionen aktive User täglich insgesamt 10 Milliarden Clips angeschaut haben. Verschickt werden vor allem Selbstportraits und Videobeweise der Freizeitgestaltung. Gerne wird das ganze noch mit Symbolen, Schriftzügen oder Masken verziert. Ich beim Konzert meines Idols (ein tiefrotes Herzchen dazu), ich auf der langen Rückfahrt, ich als Hund mit herausgestreckter Zunge – in einer Nachricht gebündelt, ergäbe das beispielsweise ein 15-Sekunden-Filmchen mit drei Szenenwechseln. An solche Hör- und Sehgewohnheiten appelliert auch die derzeit von den verschiedensten Seiten so hoch gelobte Hamburger Rapperin Haiyti. Liedtexte, Video-Clips, AlbumCover, Fan-T-Shirts, sie alle bedienen sich einer gemeinsamen Bildsprache: eine Abfolge greller, unterschiedlichster Szenen und Symboliken, die einander so schnell abwechseln, dass sie sich einer detaillierten Analyse erst mal entziehen. Diese wäre auch enttäuschend, verkauft Haiyti doch keine stringenten Geschichten, keine Songs, bei denen das Nachlesen der Texte für mehr Klarheit sorgt oder zum philosophieren anregt. Stattdessen rotzt sie in Windeseile Bilder hin, die vor allem Lifestyle vermitteln, uns einen kurzen Blick durch das Schlüsselloch gewähren. Dahinter sehen wir alles, was »das Milieu« so hergibt: Drogenexzesse und –abstürze, fahr- und tragbare Statussymbole, Diskussionen mit Wörtern und Handfeuerwaf-

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Haiyti & KitschKrieg | Toxic

ALBUM DES MONATS Das Internet-Phänomen Haiyti veröffentlicht eine neue EP mit dem Produzenten-Team KitschKrieg – und deren Name hält was er verspricht

Von David Jeikowski

★ ★★ Haiyti & KitschKrieg | Toxic SoulForce Records | 2016

fen – aber auch Verzweiflung und Wut, Trauer und Selbstverletzung. Die Stärke des Gesamtkonzepts Haiyti liegt in ihrer Komplexität und Ungeschminktheit. In Videoclips sieht man sie häufig in wechselnden Outfits, die allesamt aussehen, als habe sie hierin drei Tage durchgeravt. Dazu rappt sie Zeilen wie »Mir ist scheißegal, was du verdienst/ Moneyclip zu breit für meine Jeans/ (...) Bruder, glaub mir, dass ich auch schieß’«, gefolgt von mit dem Mund erzeugten Gewehrsal-

ven-Sounds. Tief im Internet lassen sich unter ihrem bürgerlichen Namen Kunstausstellungen und Acryl- Gemälde (»Meine Muse raucht Blech 2«) finden. Musikalisch lässt sich Haiyti klar bei der elektronischen Hip-Hop-Variante Trap verorten. Tiefe, tragende Bassfundamente werden von schnellen Hi-Hats durchschnitten, Synthesizer-Melodien geben die Stimmung vor. Die zum Markenzeichen gewordene Adlibs (untermalende Laute oder Wörter) der Rapperin fügen sich organisch in das Arrangement, ihre Parts

changieren zwischen sanftem Auto-Tune- Singsang und hochfrequentem Kriegsgeschrei. Anspieltipp ihrer aktuellsten EP »Toxic« ist definitiv der Song »Ein Messer«. Es beginnt gruselig: heulende Synthies und Haiytis verzerrte Rufe stapeln sich zu einer Geister-Melange. Plötzlich bricht das Gebilde ein, Haiyti kreischt wie im Heulkrampf immer wieder »Tätowiere mir ein Messer/...«, während ein mächtiger Bass sich um unseren Hals schnürt und die Hi-Hat unvermittelt draufprügelt. »Tätowiere mir ein Messer/ direkt unter’s Herz/« - unter anderen Umständen nach Teenie-Theatralik klingend, gewinnen diese Zeilen durch ihre szenische Umsetzung die morbide Faszination einer manifesten Psychose. »Kopf in der Schlinge/ Cops kommen klingeln?/ Badewanne voll, in der Hand ein paar Pillen/«. »KitschKrieg« nennt sich das für die Instrumentals der EP verantwortliche ProduzentenKollektiv – kein Name hätte besser ausdrücken können, was hier dargeboten wird. In »Akku«, »Zeitboy« und »Träne« dominiert der Kitsch-Anteil dieser fast schon dialektischen Gegenüberstellung. Es geht um verschwundene Freunde, männliche und weibliche Bindungsängste und Einsamkeit. In »Sergio« und »Garçon« hingegen wird wieder rücksichtslos rumgeballert. Besonders radiotauglich klingt das weder in der einen noch in der anderen Song-Gattung – zu große Anteile der Gegenseite stecken in den einzelnen Liedern, viel zu kantig bleiben Sound und Wortwahl. Eine solche Impuls- Musik, wie Haiyti sie betreibt, fordert naturgemäß ständig Nachschub. Und so stammen die oben beschriebenen Stücke zwar von ihrer aktuellsten Veröffentlichung »Toxic«. Doch noch kurz vor Redaktionsschluss kündigte die Künstlerin bereits ein weiteres Mixtape an. Mal schauen, welchen Einblick uns Haiyti dann gewährt. ■


REVIEW | BUCH

Die Welt auf dem Mittelmeer Täglich setzen Menschen ihr Leben aufs Spiel, um auf dem Seeweg nach Europa zu gelangen. Merle Krögers Roman über das Zusammentreffen zweier Schiffe, die unterschiedlicher nicht sein könnten, hat daher nichts von seiner Aktualität verloren Von Lisa Hofmann

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in syrischer Arzt, der sich illegal im Bauch eines Luxuskreuzfahrtschiffs versteckt und den seine Albträume aus dem Krieg nicht mehr loslassen. Ein ukrainischer Tankerkäpitän, der auf seinem Schiff nicht über Politik reden will, aber in den Krieg gegen Russland ziehen wird. Ein spanischer Fischer, der jeden Tag Menschen aus dem Mittelmeer zieht, die auf ihrer Flucht mit dem Schlauchboot gekentert und ertrunken sind. Eine junge Frau, die illegal in Frankreich lebt, ihren Verlobten, der Menschen von der afrikanischen Küste nach Cartagena bringt, wiedersehen möchte und deshalb ohne Papiere nach Spanien fährt. Ein Mitarbeiter der spanischen Seenotrettung, der die Insassen gekenterter Flüchtlingsboote rettet und sie an die Guardia Civil übergibt, die deren Abschiebung vornimmt. Und die Mitarbeiter der Security des Kreuzfahrtschiffs, die dafür Sorge tragen, dass sich niemand illegal an Bord schleicht. Sie alle treffen in Merle Krögers Roman »Havarie« in zwei stürmischen Nächten auf dem Mittelmeer aufeinander. Sie werden angetrieben von dem Wunsch nach Würde und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ein plötzlicher Stopp in voller Fahrt unterbricht jäh die teure Idylle einer Kreuzfahrt: Beina-

he wäre der Luxusdampfer mit einem Schlauchboot voll Geflüchteter zusammengestoßen. Diese, sind für die Kreuzfahrtspassagiere eine willkommene Abwechslung zu den Delphinen, an denen sie sich schon lange sattgesehen haben. Völlig ohne Scham und Distanz schießen sie Fotos von den Verdurstenden und veröffentlichen diese in sozialen Netzwerken im Internet. Derweil bricht in der Wäscherei des Schiffs der als blinder Passagier reisende syrische Arzt zusammen, ein Sturm zieht auf und die spanische Küstenwache, die sich um die Geflüchteten kümmern soll, lässt seit Stunden auf sich warten. Die Security des Luxusdampfers hat zunehmend Probleme, die Situation weiter unter Kontrolle zu halten. Merle Kröger, Regisseurin und Autorin, erhielt für »Havarie« den Deutschen Krimipreis 2016. In ihrem Buch schildert sie das Leben von elf Menschen in eindringlichen kleinen Portraits, die eher an Filmsequenzen als an einen Kriminalroman erinnern. Die Biografien der Figuren kreuzen sich auf dem Mittelmeer. Jede ist auf eine besondere Art mit der Geschichte Europas verbunden und alle Charaktere sind auf eine individuelle Weise durch diese Geschichte beschädigt: Der Kreuzfahrtpassagier aus Ir-

land, der immer wieder mit einem toten Jungen spricht, der während des Nordirlandkonflikts starb. Oder der Kapitän der Küstenwache, dessen Heimatdorf durch einen Chemieunfall unbewohnbar wurde. Wie in einem Kaleidoskop entfaltet sich ein vielschichtiges Bild der aktuellen politischen Situation Europas. Der Fokus der Szenerie ist das Mittelmeer, dieser Ort der Sehnsucht, der immer stärker zur Burgmauer der Festung Europa und zum Massengrab tausender Geflüchteter wird. Kröger gelingt es durch die schlaglichtartige Darstellung der einzelnen Personen mit ihren Erlebnissen und Motiven, die politischen und gesellschaftlichen Prozesse im heutigen Europa nachzuzeichnen. Dabei bleiben die Charaktere stets glaubwürdig und wirken weder konstruiert noch aufgesetzt. »Havarie« ist eine spannende Momentaufnahme des immer stärker abgeschotteten Europas und der Menschen, die trotz ihrer oftmals ausweglosen Situation den Kampf um ein besseres Leben nicht aufgeben haben. ■

★ ★★ BUCH | Merle Kröger | Havarie | Argument Verlag | Hamburg 2015 | 240 Seiten |15 Euro

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REVIEW | BUCH

Eine unerwünschte Minderheit Für viele gelten sie als Sozialbetrüger und Kriminelle. Sinti und Roma sind so stark von Rassismus betroffen wie kaum eine andere Personengruppe. Ein neues Buch erklärt die dahinterliegenden Mechanismen Von Reuven Neumann

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★ ★★ BUCH | Wolfgang Benz | Sintiund Roma: Die unerwünschte Minderheit | Metropol | Berlin 2014 | 348 Seiten | 22 Euro

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ine repräsentative Umfrage der Universität Leipzig kam im Jahr 2014 zu dem Ergebnis, dass 55 Prozent der Befragten ein Problem damit hätten, wenn sich Sinti und Roma in ihrer Gegend aufhalten würden. Gleichzeitig waren 47 Prozent der Meinung, dass sie aus den Innenstädten vertrieben werden sollten. 56 Prozent vertraten die Auffassung, dass diese Gruppe grundsätzlich zu Kriminalität neige. Dies verdeutlicht: Es gibt noch immer starke Ressentiments gegen Sinti und Roma in Deutschland. In seinem Buch geht Wolfgang Benz, langjähriger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, diesem Antiziganismus nach, also dem Rassismus gegen Sinti und Roma. In verschiedenen Artikeln beschreibt er dessen Entwicklung sowie die unterschiedlichen Erscheinungsformen, die auf eine lang zurückgehende Tradition dieses Ressentiments verweisen. Die aktuelle Situation zeige, dass insbesondere im Rahmen der 2014 erfolgten Öffnung der Grenzen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien massiv Ängste vor einer Armutszuwanderung in die Sozialsysteme geschürt wurden. Diese wendeten sich gegen jene, die aus ärmsten Verhältnissen stammten und regelmäßiger staatlicher Diskriminierung ausgesetzt waren, nämlich den Sinti und Roma. Häufig bringen die Medien diese Per-

sonengruppe mit Begriffen wie »Sozialbetrug«, »Bettelei« und »Kriminalität« in Zusammenhang und erwecken so den Eindruck, eine Welle von Armutsmigranten plündere die deutschen Sozialkassen. Die Tatsache, dass viele aus elenden Bedingungen stammen, wird dabei nicht selten als ein Beleg dafür gesehen, dass Sinti und Roma selbst für ihre Lage verantwortlich seien und zugleich diese Elendsverhältnisse auch nach Deutschland einführten. Hier zeige sich der Anknüpfungspunkt zu den tradierten Vorstellungen über die Sinti und Roma, die als eine immer umherfahrende und zu antisozialem Verhalten neigende Gruppe betrachtet werden. Tatsächlich ist der Anteil derjenigen Sinti und Roma, die in Deutschland Sozialleistungen erhalten, im Vergleich zu anderen Migrantengruppen jedoch am geringsten. Auch die Arbeitslosenquote von Migranten aus Bulgarien und Rumänien liegt unter dem Durchschnitt der gesamten ausländischen Bevölkerung. Benz stellt in seinem Buch auch den Völkermord der Nazis an den Sinti und Roma dar, dem vermutlich eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen. Bereits Mitte der 1930er Jahre erfolgten erste Maßnahmen zur »Bekämpfung der Zigeunerplage«, die schließlich in der planmäßigen, rassisch begründeten Ermordung von Zehntausenden mündeten. Hierbei schildert er auch den skandalösen erinnerungspo-

litischen Umgang mit diesen Verbrechen und die Auseinandersetzungen über Wiedergutmachung in der Nachkriegszeit. Jahrzehntelang mussten Sinti und Roma für die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus kämpfen, da sie in der NSZeit als »Asoziale« und »Kriminelle« verfolgt wurden und die Vernichtung daher angeblich keine rassenpolitischen Gründe hatte. Positiv hervorzuheben ist, dass Benz den Ansatz der »vergleichenden Vorurteilsforschung« verfolgt. Auf diese Weise zeigt er Parallelen zwischen verschiedenen Formen des Rassismus auf und stellt den Antiziganismus in einen sinnvollen Kontext mit antimuslimischem Rassismus und mit Antisemitismus. Eine Trennung mache keinen Sinn, denn »dies gerät unweigerlich zum Nachteil des größeren Zusammenhangs, aus dem Einsicht zu gewinnen ist nicht nur über Feindschaft gegen eine bestimmte Gruppe, sondern über die allgemeine Mechanik von Feindbildern und ihre Wirkung in der Gesellschaft«. Dies ist eine durchaus zutreffende und wichtige Aussage und hier liegt neben dem vermittelten Wissen über den Rassismus gegen Sinti und Roma der Gewinn des Buches. Leider verweist Wolfgang Benz letztlich nur auf Bildung und Aufklärung als Mittel, dem Problem zu begegnen, und gibt somit keine wirkliche Handlungsanleitung für den unmittelbaren Kampf gegen Rassismus. ■


REVIEW | BUCH Des Monats

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er kurdische Freiheitskampf hat nicht nur wichtige Beiträge zur politischen Theorie und Praxis, sondern auch einen reichen musikalischen Schatz und zahlreiche literarische Werke hervorgebracht, darunter auch viele Werke der Genre Guerilla- und Gefängnisliteratur. Wenig davon wurde bisher auf Deutsch übersetzt. Nun liegt mit »Zeit der Brombeeren« zum zweiten Mal überhaupt ein kurdischer Guerillaroman in deutscher Sprache vor, dessen einfühlsame Übersetzung Meral Zin Cicek besorgte. In der autobiografisch gefärbten Erzählung schildert Murat Türk das Leben des Protagonisten Servan in den Reihen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Seine kleine Einheit zieht auf nächtlichem Marsch durch die Berge. Als er und seine Genossen ein Camp türkischer Soldaten entdecken, schleichen sie sich in die Zelte und entwenden die Gewehre. Dann aber nimmt die Gruppe eine falsche Abzweigung: »Ein kleines Detail hatte unseren ganzen Plan durcheinander gebracht. Hätte unser Wegweiser Mahir an der Gabelung nicht gezögert, wäre all dies vielleicht gar nicht geschehen. Bei Nachtmärschen ist es nicht ungewöhnlich, dass der Erste in der Reihe an manchen Stellen zögert. Aber diesmal hatte dieses Zögern länger als sonst gedauert. In dem Moment konnte ich es nicht wissen, aber die Gabelung dieses schmalen Pfads sollte auch den Verlauf meines weiteren Lebens verändern. Dabei wäre alles anders gekommen, hätten wir nur die untere Abzweigung genommen. Aber wir hatten uns für den nach oben führenden Weg entschieden. Das sollte uns zum Verhängnis werden.« Denn die Gruppe gerät in einen Hinterhalt. Nach stundenlangen Kämpfen muss sie sich zu-

Murat Türk | Zeit der Brombeeren

BUCH DES MONATS Ein PKK-Kämpfer schlägt sich schwer verletzt durch die Berge – und erfährt die Solidarität seiner Mitmenschen. Murat Türks »Zeit der Brombeeren« gehört zu den wenigen kurdischen Guerillaromanen, die in deutscher Sprache vorliegen Von Florian Wilde

★ ★★ BUCH | Murat Türk | Zeit der Brombeeren | Mezopotamien Verlag | Neuss 2016 | 225 Seiten | 11,90 Euro

rückziehen – und den schwer verletzten Servan unter einem Brombeerbusch zurücklassen. Von dort aus muss sich dieser alleine zu seinen Genossen durchschlagen. Einsam durchstreift er die Berge und macht dabei immer wieder Erfahrungen mit der großen Solidarität aus der Bevölkerung. Obwohl sie damit ihr Leben und ihr ganzes Dorf in Gefahr bringen, verstecken und versorgen einfache Menschen immer wieder den verletzten Kämpfer, geben ihm Medikamente, Kleidung und Schuhe. Doch nicht jedem ist zu trauen: Der Staat hat sich mit den »Dorfschützern« ein Netzwerk bewaffneter Infor-

manten und Verräter aufgebaut. Dörfer, deren Bewohner den Guerilleros halfen, werden niedergebrannt. Und trotzdem findet Servan immer wieder Menschen, die seinen Kampf unterstützen und ihm helfen, bis er seine Gruppe schließlich wiederfindet. Leider verlässt die Erzählung kaum die Ebene unmittelbaren Erlebens, eingeflochten in die detailliert-blumige Schilderung der Berglandschaft. Der Leser oder die Leserin erfährt wenig über Servans Hintergrund, seine Motive, in die Berge zu gehen, seine politische Ausbildung, seine Entwicklung. Auch der politisch-historische Kon-

text wird kaum thematisiert. An den Klassiker des autobiografisch gefärbten Guerillaromans, Omar Cabezas »Die Erde dreht sich zärtlich, Companera« (vor dem Hintergrund des Guerillakrieges im Nicaragua der 1970er Jahre), der eine spannende Schilderung des Guerillaalltages in einen mit dem historischen, sozialen und politischen Geschehen verbundenen Entwicklungsroman einflicht, kann »Zeit der Brombeeren« daher nicht heranreichen. Aber das Buch legt ein plastisches Zeugnis der Selbstwahrnehmung eines kurdischen Kämpfers über das Leben in den Bergen ab. Murat Türk ist so alt wie ich. Wir beide begannen 1992, uns politisch zu organisieren. Er in der Arbeiterpartei Kurdistans, ich in der Sozialistischen Arbeitergruppe (SAG) Kiels. Während ich mit einer Zeitung unter dem Arm vor Infotischen stand, ging er mit einem Gewehr über der Schulter in die Berge. Im Jahr 1995, Murat war 19, ich ging noch zur Schule, wurde er verhaftet. Die vergangenen 21 Jahre verbrachte er in türkischen Gefängnissen, darunter auch den berüchtigten »Typ F«Isolations- und Folterknästen. Dort schrieb er »Zeit der Brombeeren« mit Stift und Zettel. Es ist das erste Buch einer Trilogie über seine Zeit bei der Guerilla. Ob der zu lebenslanger Haft verurteilte Murat wohl jemals wieder in Freiheit Brombeeren pflücken kann? Ob es wohl jemals eine Autorenlesung mit ihm geben wird? Wohl nur, wenn es gelingt, die Türkei zu einer Wiederaufnahme des Friedensprozesses zu bewegen, und dieser dann auch eine Amnestie der tausenden kurdischen politischen Gefangenen beinhaltet. Bücher wie dieses tragen dazu bei, dass die Geschichte und das Schicksal dieser Gefangenen nicht in Vergessenheit geraten. ■ marx21 03/2016

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REVIEW | BUCH

Ökologie - subversiv und wirtschaftsfeindlich Rachel Carson war eine Begründerin der modernen Umweltbewegung. Die jüngst erschienene Biografie zeigt, warum sie auch für heutige Aktivistinnen und Aktivisten ein Vorbild sein kann – und lässt erkennen, warum Wissenschaft und Poesie zusammengehören

Von Peter Oehler

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★ ★★ BUCH | Dieter Steiner | Rachel Carson. Pionierin der Ökologiebewegung. Eine Biographie | Oekom Verlag | München 2014 | 360 Seiten | 19,95 Euro

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ie »Pionierin der Ökologiebewegung« Rachel Carson ist heute vor allem für ihr 1962 erstmals erschienenes Buch »Der stumme Frühling« bekannt, in dem sie vor den Gefahren des Einsatzes von Pestiziden warnte. Dabei hatte die studierte Meeresbiologin bereits zuvor mit drei Werken über das Leben im Ozean Bekanntheit erlangt. Ihre meereskundliche Trilogie wieder mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, war für den Autor Dieter Steiner eine Motivation, Carsons Biografie zu schreiben. Für ihn stellen die Bücher ein »Zeugnis für die Einheit des Lebens« dar: Carson zeige darin ein Verständnis für vernetzte ökologische Zusammenhänge. Als Wissenschaftlerin verfolgte Carson dabei selbst einen ganzheitlichen Ansatz, führt Steiner aus, indem sie sich auch der Poesie bediente: »Das Emotionale im Poetischen und das Verstandesmäßige im Wissenschaftlichen, konnten, nein mussten kombiniert werden, (...) wollte man der Wahrheit der Dinge näher kommen, (war) Poesie ein notwendiges Medium.« Die Biografie widmet sich jedoch auch ihrem bekanntesten Werk über die Pestizidproblematik der flächendeckenden Sprühprogramme, zum Beispiel mit DDT. Ihre Entscheidung, sich diesem »unappetit-

lichen Thema« zuzuwenden, entsprang einer »feierliche(n) Verpflichtung (...) zu tun was ich konnte – wenn ich es nicht zumindest versuchte, hätte ich nie mehr glücklich in der Natur sein können.« Carson hatte den Zusammenhang zwischen dem Einsatz gefährlicher Chemikalien und der Zunahme krebsartiger Erkrankungen klar erkannt. Es ist gewissermaßen eine Ironie der Geschichte, dass sie selbst 1964 mit nur 56 Jahren an Krebs starb. Der Ökosozialist John Bellamy Foster bezeichnet Carson in seinem Buch »Die ökologische Revolution« als eine »Frau der Linken«. Sie sei »Teil einer größeren Rebellion unter Wissenschaftlern und linken Denkern in den 1950er- und 1960er-Jahren« gewesen, aus der dann die moderne Umweltbewegung hervorging. Steiner beschreibt Carson als »Teil eines Netzwerks (…), das sich aus Leuten zusammensetzte, die nicht wirtschaftliche Erfolge im Auge hatten, sondern sich echte Sorgen über eine wachsende Vergiftung der Umwelt machten«. Carson nahm sich selbst wahrscheinlich nicht als Linke im eigentlichen Sinne wahr, sondern als eine Frau, die durch ihre Erkenntnisse ein kritisches Bewusstsein entwickelte. Aus heutiger Sicht sind ihre Argumente aber klar als links zu bewerten. Sie äußerte sich kapitalismuskritisch, beispielsweise: »Es ist

(...) ein Zeitalter, das von der Industrie beherrscht wird, in dem das Recht, um jeden Preis Geld zu verdienen, selten angefochten wird.« Überdies war zu ihrer Zeit die Ökologie noch eine »subversive, wirtschaftsfeindliche Wissenschaft«. Aber was bringt ihre Biographie für Aktivistinnen und Aktivisten heute? Sie zeigt, dass auch ein einzelner Mensch etwas erreichen kann, selbst im Kampf gegen die Großindustrie. Sie zeigt aber auch (in ihrem Scheitern), dass immer nur die krassesten und offensichtlichsten Fehlentwicklungen der Industrie behoben werden. Die schleichende Vergiftung durch Pestizide und ähnliche Chemikalien wurde durch strengere Gesetzgebungen zwar abgemildert, aber auch in geordnete Bahnen gelenkt und geht so munter weiter. Das war aber auch Carson bewusst: »Legt man Höchstmengen fest, bedeutet dies im Endergebnis, dass man es gutheißt, wenn die Lebensmittel, mit denen das Volk versorgt wird, mit giftigen Chemikalien verunreinigt werden.« Letztendlich ist es nicht das Entscheidende, ob man sich als links bezeichnet, es kommt auf das Engagement an. In Carsons Worten: »Es genügt nicht, einer sogenannten Autorität zu trauen. Was dringend benötigt wird, ist ein Sinn für persönliche Verantwortung.« ■


REVIEW | BUCH

»Die schöpferische Zerstörung der Tageszeitung« Der Wandel der Medienwelt hat weitreichende Konsequenzen für die Funktionsweise unserer Gesellschaft, so die These eines neuen Buchs. Auch für die politische Arbeit bietet die Analyse dieser Veränderungen neue Denkanstöße Von Theodor Sperlea

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ir erleben einen medialen Umbruch. Ähnlich wie zur Zeit der Erfindung des Buchdrucks stehen wir zwischen zwei Epochen: Zeitung und Fernsehen verlieren zugunsten des Internets an Bedeutung. Dass diese Umwälzung großen Einfluss auf unser Weltbild hat, ist selbstverständlich. Was aber genau passiert und wie wir mit diesem Umbruch gesellschaftlich umgehen sollten, versucht Stefan Schulz in seinem Buch »Redaktionsschluss« zu ergründen. Im ersten Kapitel »Das Ende der Zeitung« stellt der Autor den seiner Ansicht nach wichtigsten Mann im globalen Nachrichtengeschäft vor: Greg Marra, der Softwareentwickler, der bei Facebook den Newsfeed mitentwickelt hat und betreut. Um die Entwicklung der Medienwelt zu beschreiben, stellt Schulz mehrere zentrale, aber unbekannte Akteure vor und zeigt damit, wie wenig wir von dieser Welt wissen. So schafft er es immer wieder, zu überraschen, denn wenn er behauptet, dass Facebook und Google die Zeitung ersetzen, dann ist dies bei den meisten Leserinnen und Lesern wahrscheinlich bereits geschehen. Der Newsfeed von Facebook ist dabei symptomatisch und zentral für die Veränderun-

gen der Gesellschaft, die der Medienwandel bringen wird. Denn das Internet ist individualisierter als die alten Medien: Die Algorithmen der sozialen Netzwerke stellen den Nutzerinnen und Nutzern automatisch eine personalisierte Zusammenfassung der Themen des Tages zusammen, angepasst an das bisherige Surfund Leseverhalten. Zu Ende ist die Zeit, in der man sich durch Zeitungslektüre darüber informieren konnte, was die anderen wussten. Wir leben nun im Zeitalter der Echokammer, aus der nur das schallt, was in sie hineingerufen wird. Das stärkt Extreme und kann zur Zerrüttung von Gesellschaften führen. Philosophisch-soziologisch gesprochen lebt jede Person nun in einer eigenen Welt, hat unterschiedliches Wissen über das »draußen«. Es stellt sich dann die Frage, auf welcher Basis in der Öffentlichkeit Diskussionen stattfinden. Das Buch ist stark geprägt von der Person und dem Lebenslauf des Autors. Hier schreibt ein systemtheoretisch denkender Soziologe mit großem Interesse an digitaler Technik, der bei der »FAZ« unter Frank Schirrmacher selbst ein Teil der Zeitungsbranche war. Im geschärften Stil eines Kolumnisten stellt er höchst interessante Beobachtungen an.

Was geschieht, wenn die Illusion der Objektivität des Mediums im Sprung von der Redaktion zum einzelnen Blogger verloren geht? Wie verändert sich die Gesellschaft, wenn das Zeitungslesen, »ein Moment der bewusst gewählten intellektuellen Konzentration«, verschwindet und durch Push-Nachrichten auf dem Smartphone ersetzt wird? Wir gelangen zur momentanen Diskussionskultur, einer »Politik ohne Debatte«, die laut Autor funktioniert wie ein Pferderennen zwischen den regierenden Parteien und Personen: Wem verschafft diese Neuigkeit gerade einen Vorteil? Wer gewinnt? Wer hat mehr Macht? Stefan Schulz untermalt den Untergang der »alten Medien« mit einem Feuerwerk von einem Buch. Das Thema wird von allen Seiten angegangen: Beobachtungen über die Technik haben einen gleichberechtigten Platz neben Politik und der Redaktionsarbeit in Printund Internetpublikationen, das Geflecht der Ursachen und Wirkungen wird in seiner ganzen Komplexität dargestellt und untersucht. »Redaktionsschluss« bietet einen wunderbaren Einstieg zum Nachdenken über ein Thema, das uns auch in der Partei DIE LINKE viel stärker interessieren sollte. ■

★ ★★ BUCH | Stefan Schulz | Redaktionsschluss. Die Zeit nach der Tageszeitung | Hanser Verlag | München 2016 | 304 Seiten | 21,90 Euro

marx21 03/2016

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Š Deutsches Historisches Museum in Berlin

Preview


»Wir zeigen die alltägliche Gewalt deutscher Kolonialherrschaft« Erstmals gibt eine Ausstellung tiefe Einblicke in ein lange verdrängtes Kapitel deutscher Geschichte. Mehr als 500 Exponate enthüllen nicht nur koloniale Ideologie und Herrschaftspraxis, sondern auch deren Einfluss auf die Gegenwart Interview: Clara Dirksen Am 14. Oktober eröffnet die Ausstellung »Deutscher Kolonialismus« im Deutschen Historischen Museum. Gibt es einen Grund dafür, gerade jetzt eine Ausstellung über dieses Kapitel der deutschen Geschichte zu machen? Deutschlands koloniale Vergangenheit wird erst seit einigen Jahren breiter in der Öffentlichkeit diskutiert. Das Deutsche Historische Museum zeigte zu diesem Thema die Ausstellungen »Tsingtau – ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China. 1897–1914« im Jahr 1998 und 2004/05 »Namibia – Deutschland. Eine geteilte Geschichte« in Zusammenarbeit mit dem Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln. Seitdem gab es in unserem Haus entsprechende Überlegungen, eine Ausstellung zum Deutschen Kolonialismus zu präsentieren. Im Vorfeld unserer Ausstellung zum Ersten Weltkrieg wurde die Idee konkret, die deutsche Kolonialgeschichte vor und nach 1914 in einer Sonderausstellung zu thematisieren, um auch noch einmal auf die Folgen des Krieges einzugehen. Wie hängt das miteinander zusammen? Mit der Niederlage des Deutschen Reichs endete dessen Kolonialmachtstatus, nicht aber die kolonialen Ambitionen. Die Ausstellung gibt deshalb dem Umgang mit der kolonialen Vergangenheit in Deutschland und in den betroffenen Ländern Raum, um das Spektrum von Erinnerungspraktiken wie strukturellen Folgen des Kolonialismus aufzuzeigen und somit einen Gegenwartsbezug zu schaffen. Wir hoffen natürlich auch, damit einen Beitrag zu einer aktuellen und längst fälligen Diskussion zu liefern. Weshalb ist das Medium Ausstellung besonders geeignet für die Beschäfti-

Arnulf Scriba

wollen. Durch ihre körperliche Präsenz eröffnen sie Besucherinnen und Besuchern einen unmittelbaren Zugang zum Thema, machen es fassbar. Wie ist die Ausstellung aufgebaut?

Arnulf Scriba ist Leiter des Fachbereichs Sonderausstellungen und Projekte am Deutschen Historischen Museum (DHM) und Projektleiter der Ausstellung »Deutscher Kolonialismus«. Im DHM kuratierte er unter anderem die Ausstellungen »Deutsche und Polen. Abgründe und Hoffnungen« (2009) oder »1914-1918. Der Erste Weltkrieg« (2014). ★ ★★ Ausstellung Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart | 14. Oktober 2016 bis 14. Mai 2017 | Deutsches Historisches Museum in Berlin

gung mit dem deutschen Kolonialismus? In der Ausstellung enthüllen mehr als fünfhundert Exponate aus einem breiten Spektrum von Sammlungen und Archiven die Ideologie des Kolonialismus ebenso wie die deutsche Herrschaftspraxis mit ihrer alltäglichen Gewalt, ihrer brutalen Niederschlagung von Aufständen – bis hin zum Genozid. Objekte sind authentische Zeugnisse der Vergangenheit, die wir zum Sprechen bringen

Der Zeitraum der Ausstellung erstreckt sich in den ersten Kapitelräumen vornehmlich auf die 1880er-Jahre bis 1918, anschließend widmen sich die Kapitel der Zeit von 1918 bis 1945 sowie der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Die Ausstellung ist thematisch gegliedert, nicht geografisch. Jede ehemalige deutsche Kolonie wird aber immer wieder stellvertretend und beispielhaft für ein bestimmtes Thema in der Ausstellung behandelt. Die Ausstellung ist somit nicht als eine Überblicksausstellung gedacht, vielmehr erlaubt sie Einblicke in die deutsche Kolonialgeschichte und gibt Auskunft über deren noch vorhandene Spuren und Relikte bis in die Gegenwart. Gibt es ein Exponat, das Sie persönlich besonders interessant finden? Jedes Exponat in der Ausstellung gibt Auskunft über einen bestimmten Aspekt der Kolonialgeschichte. Einzelne herauszustellen ist deshalb schwierig. So thematisieren wir beispielsweise die Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85, die unter Ausschluss afrikanischer Vertreter stattfand und auf der unter anderem über Einflussgebiete der Europäer verhandelt worden ist. Sie gilt als imperiale Anmaßung und als ein zentraler Erinnerungsort deutscher wie europäischer Kolonialgeschichte. Die originale Schlussakte der Konferenz vom 26. Februar 1885 steht daher gleich zu Beginn der Ausstellung und verortet den deutschen Kolonialismus in einen europäischen Gesamtzusammenhang. ■ marx21 03/2016

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PREVIEW | Stammtischkämpferinnen und -kämpfer

Rassisten in die Schranken weisen Jetzt ist die AfD in mehreren Landesparlamenten vertreten und auch im Alltag sind rechte Vorurteile immer öfter zu hören. Workshops des Bündnisses »Aufstehen gegen Rassismus« trainieren, wie man darauf reagieren kann

Von Ronda Kipka

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★ ★★ Näheres zu den Schulungen für Stammtischkämpferinnen und Stammtischkämpfer unter: www.aufstehen-gegen-rassismus.de/ kampagne/stammtischkaempferinnen/ Nach- und Anfragen per Mail an: stammtisch@aufstehen-gegen-rassismus.de

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st ja klar, dass du gegen die AfD bist, wo doch die Lügenpresse immer nur Falsches über diese Partei verbreitet!« Bei so einer Ansage ist man oft erstmal völlig perplex. Natürlich ist das Schwachsinn – aber was kann man darauf entgegnen? »Alle dürfen stolz sein auf ihr Land, nur wir Deutschen nicht!« Auch den Spruch hat man schon einmal gehört und könnte mit etwas Zeit viel erwidern. Doch im entscheidenden Moment zögert man. Das verstärkt sich noch, wenn es sich beim Gegenüber um die Arbeitskollegin, den Chef oder den Onkel handelt. Man will ja nicht das Klima verderben oder den gemütlichen Familienabend stören. Doch oft bleibt das flaue Gefühl zurück, es wäre besser gewesen, etwas zu sagen. Hier setzt das Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« (AgR) mit der Kampagne zur Ausbildungen von »Stammtischkämpferinnen und Stammtischkämpfern« an. Die Idee ist einleuchtend: Stammtische befinden sich nicht nur in der Kneipe, sondern auch im Pausenraum, in der Universität, beim familiären Kaffeetrinken oder im Vereinshaus. Überall begegnet man rassistischen Vorurteilen und rechten Parolen. Sie kommen oftmals als ein Wirrwarr aus Behauptungen und Verallgemeinerungen daher. Die Schulungen des Bünd-

nisses sollen Menschen dazu ermutigen, diese Orte wieder zurückzuerobern und den Parolen etwas entgegenzusetzen. Das kann auf unterschiedlichste Art und Weise geschehen, je nach Situation und Beteiligten. An welcher Stelle greife ich ein? An wen wende ich mich? Lohnt es sich, in dem Moment eine Diskussion anzufangen? Reicht es, sich selbst deutlich zu positionieren oder brauche ich schnell Argumente und Fakten? Sechs Stunden dauert eine Standardschulung zur Stammtischkämpferin. In dieser Zeit werden gängige Parolen auseinandergenommen, Erfahrungen ausgetauscht und vor allem wird viel ausprobiert, geübt und nachgespielt. Die gemeinsame Praxis und das Austesten verschiedener Handlungsmöglichkeiten bestärkt darin, einzuschreiten, wenn es sinnvoll ist, und rüstet mit einem Repertoire an Möglichkeiten, wie man dies anstellt. Widersprechen, kritisch nachfragen, andere Beteiligte ansprechen – wichtig ist: Unser Eingreifen verändert etwas. Die Schulungen sind natürlich auch eine perfekte Gelegenheit für Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund, voneinander zu lernen. Ein Pfarrer bringt andere Erfahrungen und Argumente in die Runde als eine Studentin oder ein Gewerkschafter. Diese unterschiedlichen

Sichtweisen sind eine wichtige Ressource der Schulungen, die systematisch mit eingebunden wird. Ausgangspunkt sind dafür real erlebte Situationen, die die Teilnehmenden mit Methoden des Forumtheaters gemeinsam umgestalten und zu einem neuen Ergebnis bringen. Das breit aufgestellte Bündnis aus Parteien, NGOs und Gewerkschaften will bis zur Bundestagswahl 2017 mindestens 10.000 Menschen ausbilden, die sich dem rechten Diskurs im Alltag widersetzen. Wer bereits Bildungserfahrung hat, kann sich bei AgR melden und sich als Trainer ausbilden lassen. Alle anderen sind herzlich eingeladen, Schulungen zu organisieren und die Trainer beim Bündnis anzufragen. Das Angebot bietet auch eine gute Gelegenheit, mit Leuten aus eurem Umfeld gemeinsam aktiv zu werden. Dafür müsst ihr nur 10 bis 25 Leute überzeugen, mit euch an einem solchen Workshop teilzunehmen. Außerdem braucht es pro Gruppe zwei Räume (einer davon kann auch klein sein). Dann kontaktiert ihr das Bündnis und schickt ihm den Ort, mögliche Termine und die voraussichtliche Zahl der Teilnehmenden. Nach Möglichkeit vermittelt AgR dann zwei Teamerinnen und Teamer aus eurer Nähe, die die Schulung leiten. ■


NEUERSCHEINUNGEN

Prostitution - Sexarbeit, Kriminalisierung und Frauenunterdrückung | Rosemarie Nünning und Sheila McGregor | 76 Seiten | 3,50 Euro | ISBN 978-3-9816505-3-2 | 2016

Staat, Regierung, Revolution: Marxistische Aufsätze | 270 Seiten | 6,50 Euro | ISBN 978-3-39816505-6-3 | 2016

Der »islamische Staat« IS: Woher er kommt, wer ihn unterstützt und wie er gestoppt werden kann | Anne Alexander | 76 Seiten | 3,50 Euro | ISBN 978-3-9816505-4-9 | 2016

Marxismus und Partei | John Molyneux | 180 Seiten | 6,50 Euro | ISBN978-3-9816505-2-5 | 2016

Bestellungen an: marx21 | Edition Aurora, Postfach 44 03 46, 12003 Berlin info@marx21.de; Versandkosten: 1,00 Euro (Inland)



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