marx21 Ausgabe Nummer 40 / 02-2015

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marx21 ilya Budraitskis

02/2015 | Sommer | 4,50 eUro | marx21.de

Pegida Die rechte Gefahr ist nicht gebannt

70 Jahre Kriegsende Befreit, aber nicht frei Wohnungspolitik Der Ausverkauf der Städte Olympia 2024 Hamburg ist keineswegs Feuer und Flamme

magazin für internationalen SozialiSmUS

erklärt, warum sich Russland im Umbruch befindet

christine Buchholz & Frank renken analysieren den Umbau der Bundeswehr

Daniel Kerekeš

über die Studierendenproteste in Albanien

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Kultur Kunst und Kapitalismus

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Warum ihr Spardiktat die Krise in Griechenland nicht löst und was wir tun können, um es zu stoppen.

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DESTROIKA.

Österreich 4,70 eUrO schWeiZ 7,50 chF

Musik Anti-Flag und der amerikanische Frühling


BERLIN

© Tim

Viertausend Schülerinnen, Schüler und Studierende versammeln sich am 24. April vor dem Roten Rathaus, um jenen hunderten Flüchtlingen zu gedenken, die in den Tagen zuvor im Mittelmeer ertrunken sind. Zugleich solidarisieren sie sich unter dem Motto »Unsere Freunde bleiben hier!« mit Geflüchteten, die bereits in Deutschland leben. Viele Freundinnen und Freunde der Protestierenden sind unmittelbar von Abschiebung bedroht – was unter anderem bedeutet, dass sie ihren Ausbildungsweg nicht beenden können. Am Morgen findet bereits eine von der Linksjugend [‘solid] organisierte Demonstration im Stadtteil Prenzlauer Berg statt. Junge Menschen legen sich auf die Straße vor der Vertretung der EU-Kommission und rufen: »Blut, Blut, Blut an Euren Händen«. So wollen sie auf die Verantwortung der Europäischen Union in der Flüchtlingsfrage aufmerksam machen. Auch in anderen Städten wird an diesem Tag demonstriert. In Leipzig verteilen Aktivistinnen und Aktivisten als sichtbare und bleibende Zeichen für die Opfer der Flüchtlingskatastrophen 1350 weiße Bänder in der Stadt und bringen sie an Laternen oder Pfosten an. »Die Studenten fordern einen Politikwechsel hin zu Offenheit und Solidarität«, sagt eine Mitorganisatorin der Aktion. »Eine Solidarität, die Grenzen überschreitet und keinen Unterschied zwischen Menschen macht – ganz gleich, welcher Nationalität und Herkunft.« Die große Zahl der jüngst ertrunkenen Geflüchteten sei schockierend. Die EU-Mission »Triton«, so kritisieren die Studierenden, sei kein Hilfseinsatz, sondern diene »nur noch der Grenzsicherung«.

e Lüdd mann


Liebe Leserinnen und Leser,

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IN EIGENER SACHE

ie Krise in Griechenland spitzt sich weiter zu: Die neue Regierung um die Linkspartei Syriza hat den angekündigten Bruch mit der Troika und der Austeritätspolitik bislang nicht vollzogen, sie bedient weiterhin alle fälligen Kredite und der Ausverkauf des öffentlichen Eigentums geht nahezu unvermindert weiter. Trotzdem weigern sich die EU-»Partner«, die ausstehende Tranche des letzten »Hilfsprogramms« auszuzahlen. Innerhalb von Syriza und auch in der ausländischen Linken wird immer intensiver über die richtige Strategie im Kampf gegen die Troika diskutiert. Diese Auseinandersetzung beleuchten wir in unserem Titelschwerpunkt ab Seite 18. In einem zweiten Schwerpunkt befassen wir uns anlässlich des 70. Jahrestags mit der Befreiung Deutschlands vom Faschismus. War der Zweite Weltkrieg ein antifaschistischer Krieg? Welche Rolle spielten die Alliierten? Und was machte eigentlich die Linke in Deutschland, als der Krieg vorbei war und es galt, einen neuen Staat aufzubauen? Antworten findet ihr ab Seite 36. Auch aus der Redaktion gibt es Neues zu berichten: In den letzten Wochen hatten wir Unterstützung von Caroline Tovar, die ein Praktikum bei uns machte. Von ihr stammen die Texte zum Fotofeature auf der gegenüberliegenden Seite und zu den Fotostories auf den Seiten 8 und 9. Zudem hat sie Teile des Hefts gelayoutet. Doch was das Beste ist: Sie kann auch noch hervorragend zeichnen. Das Ergebnis könnt ihr auf unserer Titelseite bewundern. Jemanden mit so vielen Talenten lassen wir natürlich nur ungern wieder ziehen und hoffen, dass Caroline uns auch bei den kommenden Ausgaben unterstützen wird. Eine weitere Änderung betrifft die Erscheinungsweise von marx21: Nach langen Überlegungen haben wir uns entschlossen, den etwas unüblichen Rhythmus von fünf Ausgaben im Jahr aufzugeben. Fortan wird marx21 einmal im Quartal erscheinen. So können wir noch mehr Zeit in die Qualität des Hefts investieren und zugleich auch den Aufbau unserer Homepage marx21.de intensivieren. Um unser Magazin noch besser zu machen, haben wir außerdem eine Leserinnen- und Leserumfrage entwickelt. Alles weitere hierzu im Kasten rechts. Es gibt auch etwas zu gewinnen. Wenn ihr uns noch darüber hinaus unterstützen wollt, dann berichtet Freunden und Bekannten von unseren kostenlosen Probeheften oder unserem Abo. Die Probeheft-Aktion hat in den letzten Monaten große Resonanz gefunden. Da wir aber nicht die Mittel für kommerzielle Werbung haben, sind wir hier auf unsere Leserinnen und Leser angewiesen. Spread the word!

MARX21LESERINNEN& LESERUMFRAGE Ihr wolltet uns schon immer mal die Meinung sagen? Jetzt habt ihr die Möglichkeit: Wie gefällt euch der Inhalt, die Gestaltung oder der Umfang von marx21? Um unser Magazin zu verbessern, haben wir eine Umfrage entwickelt. Ihr findet sie auf marx21.de und wir würden uns freuen, wenn möglichst viele von euch daran teilnehmen und uns Feedback geben! Als kleines Dankeschön verlosen wir Jahresabos, Poster und Bücher – unter anderem: • Noam Chomsky und Andre Vltchek: »Der Terrorismus der westlichen Welt« • Klaus Kordon: »Krokodil im Nacken« • Ian Birchall: »Tony Cliff – A Marxist for His Time« • Elmar Altvater: »Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik« • Dietmar Dath: »Lenin: Staat und Revolution« • Daniel Bensaïd: »Walter Benjamin. Links des Möglichen«

Eure Redaktion

Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post.

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Fotostory: Protest in Chile

NOlympia: Feuerlöscher gesucht AKTUELLE ANALYSE 10 14

Bundeswehr: Salamitaktik für mehr Krieg Von Christine Buchholz und Frank Renken Pegida bleibt gefährlich Von Jules El-Khatib

Unsere Meinung 16 17

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60 14 Aktuelle Analyse: Pegida bleibt gefährlich Titelthema: Wie kann die Troika geschlagen werden? 19

Die Troika: Macht ohne Kontrolle Von Harald Schumann

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Neue Wege gehen Von Lucia Schnell

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Hundert Tage Syriza Stimmen aus Griechenland

28 Urteil: Für das Recht, Kopftuch zu tragen Kommentar von Christine Buchholz 32 Brandenburg: DIE LINKE auf dem Weg zur Kohlepartei Kommentar von Georg Frankl

Keynes: Retter aus der Eurokrise? Von Martin Haller Poulantzas und der Eurokommunis- mus: Eine Frage der Macht Von Yaak Pabst

Schwerpunkt: Siebzig Jahre Kriegsende 37

8. Mai 1945: Ein Reich in Trümmern Von Marcel Bois

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Aufstieg in den Abgrund Von Jan Maas

40 Alliierte: »Das falsche Schwein geschlachtet« Von Stefan Ziefle 43

Stalins Antifaschismus: Unter falscher Flagge Von Boris Marlow neu auf marx21.de

Protest auf dem Gipfel Anfang Juni findet auf Schloss Elmau in Bayern der G7-Gipfel statt. Wir berichten von den Gegenprotesten.

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Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de


36 Schwerpunkt: Siebzig Jahre Kriegsende

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Arbeiterbewegung: Die Sehnsucht nach Einheit Von Arno Klönne

28 54 Recht auf Stadt: Ausverkauf der Städte Rubriken

NOlympia 60

Feuerlöscher gesucht Von Christoph Timann

Internationales Netzwerk marx21 49

Albanien: Keimzelle des Widerstands Von Daniel Kerekeš

50 Russland: »Es kann nicht so weitergehen« Interview mit Ilya Budraitskis Recht auf Stadt 54

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Wir stellen uns vor: Das Projekt marx21

Betrieb & Gewerkschaft 66

DIE LINKE muss sich einmischen Von Jürgen Ehlers und Yaak Pabst

Der Ausverkauf der Städte Kultur Von Max Manzey 71 Kreativität zu verkaufen 58 »Wir wollen unseren Kiez nicht den Von Noel Halifax Investoren und Spekulanten überlassen« Interview mit Moritz Wittler

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Briefe an die Redaktion 08 Fotostory 48 Weltweiter Widerstand 64 marx21 Online 65 Was macht das marx21-Netzwerk? 74 Review 83 Quergelesen 84 Preview

INHALT

Keynes: Retter aus der Eurokrise?

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 9. Jahrgang, Heft 40 Nr. 2, Sommer 2015 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Print & Online Nora Berneis, Marcel Bois, Clara Dirksen, Ole Gvynant, Martin Haller, David Jeikowski, Hans Krause, Ronda Kipka, Jan Maas, Yaak Pabst (V.i.S.d.P.), Caroline Tovar (Praktikantin), Stefan Ziefle Lektorat Marcel Bois, Clara Dirksen, Mona Mittelstein, David Paenson, Christoph Timann, Irmgard Wurdack Übersetzungen Lefteris Arabatzis, Rabea Hoffmann, Rosemarie Nünning, Anton Thun Layout Yaak Pabst, Caroline Tovar Covergestaltung Yaak Pabst, Caroline Tovar Redaktioneller Beirat Christine Buchholz, Michael Ferschke, Stefanie Graf, Ole Gvynant, Werner Halbauer, Rabea Hoffmann, Christoph Hoffmeier, Sven Kühn, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Heinz Willemsen, Irmgard Wurdack Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint viermal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint Ende September 2015 (Redaktionsschluss: 07.09.) 6

Nora Berneis, Onlineredakteurin

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ls Nora in Lüneburg auf das Gymnasium wechselte, merkte sie schon, dass etwas faul ist in Deutschland: All ihre Grundschulfreundinnen aus muslimischen Familien waren plötzlich verschwunden. Für ein Studium der Politikwissenschaften zog sie später nach Bremen, weil an der dortigen Universität noch kritische und marxistische Ansätze gelehrt wurden. Im Jahr 2012 ging Nora für ein halbes Jahr nach Beirut. In der libanesischen Stadt ist die krasse soziale Ungleichheit überall sichtbar. »Klassenzugehörigkeit ist ablesbar an der Anzahl der Stunden, die es Strom im Haus gibt«, berichtet Nora. Auf der anderen Seite beeindruckte sie die Solidarität der Armen untereinander und die Handlungsmöglichkeiten, die sie sich gemeinsam schaffen. In dieser Zeit beschäftigte sich Nora viel mit der Neoliberalisierung im Nahen Osten, mit Islamismus und den Arabischen Revolutionen. Ihr wurde klar, dass der Westen – inklusive Deutschlands – die Ungerechtigkeit und das Elend in der Region seit der Kolonialzeit verursachte und bis heute weiter verstärkt. Sie entschied, dass aus der theoretischen Beschäftigung mit Politik auch praktisches Handeln folgen muss. Deshalb ist sie seit ihrem Umzug nach Berlin vor einem Jahr beim SDS aktiv, wo sie sich vor allem im Kampf gegen Rassismus engagiert. Seit dem Winter 2014 unterstützt sie unsere Onlineredaktion, nicht zuletzt mit ihrem Wissen über arabische Länder. Und was macht Nora außer Politik? »Nichts«, sagt sie lachend: Zurzeit schreibt sie nämlich außerdem ihre Bachelorarbeit über die Frage, warum es im Jahr 2011 in Ägypten eine Massenbewegung gab und in Jordanien nicht.

Das Nächste Mal: stefan ziefle


Zum Artikel »Der Zionismus verweigert den Palästinensern ein normales Leben« von Ilan Pappe (marx21.de, 01.04.2015) Es ist erfrischend zu lesen, wenn ein prominenter Jude wie Ilan Pappe die BDSKampagne (»Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen« gegen Israel, Anm. d. Red.) bewirbt. Denn Kritik ohne Handlungsperspektive ist zahnlos. Aber hier hört die Übereinstimmung schon auf. Pappe bezeichnet die jüdische Bevölkerung Palästinas als »ethnische Gruppe«. Die Lösung läge in einem »Arrangement«, in das alle Beteiligten einwilligen. Das heißt, dass die verschiedenen »Ethnien« erst unter sich einig werden müssen, um dann in Gesprächen Einigkeit mit den anderen »Ethnien« zu erzielen. Das ist eine Vorstellung, die den Status quo nur zementiert. Pappe bezeichnet den Zionismus als »Kolonialismus«. Er ist aber weitaus mehr: Er ist ein imperialistisches Projekt. Bereits 1953, als die CIA den demokratisch gewählten Premierminister Irans, Mossadegh, mit der Operation »Ajax« wegen seiner Verstaatlichung der Ölkonzerne stürzte, schrieb die wichtigste israelische Tageszeitung »Haaretz«: »Die feudalen Regime des Nahen Ostens (…) sind immer weniger willens, Großbritannien und den Vereinigten Staaten ihre natürlichen Ressourcen und Militärbasen zur Verfügung zu stellen (…). Die Stärkung Israels hilft den Westmächten bei der Aufrechterhaltung (…) des politischen Gleichgewichts im Nahen Osten. (…) Israel muss der Wachhund werden.« Die »internationale Gemeinschaft«, von der Pappe spricht (meint er die Staaten oder uns Normalsterbliche?), müsste Israel als imperialistischen Staat bekämpfen. Die Staaten werden das nicht tun. Nur eine revolutionäre Bewegung in Nahost kann das. Es heißt, kleine Schritte seien realistischer als große. Aber wenn ich vor einem Abgrund stehe und auf die andere Seite will, muss ich

richtig Anlauf nehmen. Ein kleiner Schritt bedeutet den sicheren Tod. Die revolutionäre Bewegung in Ägypten wurde zurückgeschlagen, es hat sie dennoch gegeben. Sie ist gescheitert, weil die revolutionäre Linke zu klein und zu wenig in den Betrieben und Arbeitsstätten verankert war. Daher ließ sie sich von den Stimmungen auf der Straße einfach mitreißen, anstatt eine eigenständige Politik zu betreiben. Es besteht Hoffnung, dass sie das nächste Mal den großen Sprung wagen kann. David Paenson, Frankfurt am Main

Zum Kommentar »Ukraine: Eine tödliche Spirale« von Klaus Henning (Heft 1/2015) Das sehe ich anders. Die Nato will sich klar nach Osten ausdehnen und eskaliert. Das ist anders als der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion Oliver Völckers, auf unserer Facebook-Seite Das Beispiel der friedlichen Selbstauflösung der Tschechoslowakei hat bewiesen, dass es funktionieren kann – die blutigen Kriege im ehemaligen Jugoslawien (oder auch der US-Amerikanische Bürgerkrieg) dagegen haben gezeigt, wohin es führt, wenn eine Zentralmacht gewaltsam verhindern will, dass sich Landesteile abspalten. Also sollten wir mit allen Mitteln auf eine gewaltlose, demokratische Trennung der offenbar unversöhnlichen Kontrahenten hinwirken. Georg Götz, auf unserer Facebook-Seite

Zum Thesenpapier »DIE LINKE vor Ort verankern« von marx21 Hamburg (marx21-hamburg.blogspot.de, 24.03.2015)

für ihre Anwesenheit war offensichtlich die Situation in Griechenland. Blockupy hat gezeigt, dass es möglich ist, große und radikale Mobilisierungen in Solidarität mit Griechenland zu organisieren. Leider ist es bislang eine Ausnahme. Andere Demonstrationen dieser Art waren zu klein. Das müssen wir ändern. Die Gewerkschaftsdemos am 1. Mai bieten eine gute Gelegenheit, unsere Solidaritätsarbeit aufzubauen. In Berlin haben die Landesarbeitsgemeinschaften der LINKEN »Betrieb und Gewerkschaft« und »Internationales« ein gemeinsames Flugblatt produziert, das argumentiert, warum deutsche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter die Menschen in Griechenland unterstützen sollten. Wir laden auch zu einer Veranstaltung am 9. Juni ein. Bernd Riexinger wird mit Vertreterinnen und Vertretern von Syriza, Podemos und Izquierda Unida über die neue Linke in Europa diskutieren. Elf Tage später soll es eine Solidemo in Berlin geben. Bei der »Linken Woche der Zukunft« gab es lebendige Diskussionen darüber, wie wir Griechenland unterstützen können. Jetzt ist es an der Zeit, diese guten Ideen umzusetzen. Phil Butland, Koordinator der LAG »Internationales«, DIE LINKE Berlin

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

Interessante Haltung zur Regierungsbeteiligung, ich finde sie aber in einem Punkt bedenklich. Wir brauchen uns nichts vormachen, DIE LINKE ist keine revolutionäre Partei. Trotzdem müssen wir unbedingt den Diskurs innerhalb der Partei führen. Die angesprochenen Haltelinien gibt es bereits, niedergeschrieben in unserem Parteiprogramm. Wir müssen über diejenigen reden und über den Umgang mit denen, die sich offen dagegen stellen und sich dabei auch noch hinter dem Parlamentarismus (Gewissen) verstecken. Enno Drewes, auf der Facebook-Seite von marx21 Hamburg

Zu den Blockupy-Protesten in Frankfurt Die Größe der Blockupy-Proteste in Frankfurt hat uns alle überrascht. Fünftausend haben am Morgen protestiert, 25.000 am Nachmittag. Das bedeutet: Im Lauf des Tages sind 20.000 Personen gekommen, die nicht unbedingt der radikalen Linken zuzuordnen sind. Der Hauptgrund

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

Briefe an die Redaktion

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© Alle Bilder: marks21

FotoSTORY

Serbien | Seit November streiken mehr als 50.000 Beschäftigte aus 700 Schulen, es ist der längste Streik im Bildungswesen in der neueren Geschichte Serbiens. Am 17. März gehen Tausende Lehrerinnen und Lehrer in Belgrad auf die Straße. Neben mas-

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siven Gehaltseinbußen droht mehr als 5.000 von ihnen die Entlassung. Unten links: Seit einigen Monaten formiert sich Widerstand gegen die konservative-neoliberale Regierung: Das Erste Mal seit dem auseinanderfallen Jugoslawiens haben sich linke Gruppen,

Gewerkschaften und Einzelpersonen zu einem »Linken Gipfel Serbiens« zusammengeschlossen. Mitte und rechts: Sie unterstützen nicht nur den Streik im Bildungswesen, sondern kritisieren die neoliberalen Reformen, die IWF und EU vorangetrieben haben.


© Francisco Osorio / CC BY / flickr.com

FOTOSTORY

tungen. Die Polizei setzt Wasserwerfer und Tränengas ein und nimmt 137 Personen fest. Rechts: Die Proteste richten sich auch gegen die Korruption in Regierungskreisen: Der Sohn von Präsidentin Michelle Bachelet ist in einen solchen Skandal verwickelt.

© Oscar Ordenes / CC BY-NC-ND / flickr.com

2013 versprach die Regierung tiefgreifende Bildungsreformen. Doch nichts ist passiert und so gehen nun wieder über 100.000 Menschen in Santiago auf die Straße. Unten links: Auch Frauenverbände beteiligten sich an den Protesten. Mitte: Später kommt es zu Ausschrei-

© Diego Araya Corvalán / CC BY-NC-ND / flickr.com

© Francisco Osorio / CC BY / flickr.com

Chile | Gute Bildung ist in dem Andenland ein Privileg der Oberschicht. 70 Prozent der Studierenden besuchen eine private Hochschule. Ein Universitätsjahr kostet bis zu 5000 Euro. Zum Vergleich: Der monatliche Durchschnittslohn liegt bei 260 Euro. Nach Protesten im Jahr

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Aktuelle Analyse

Salamitaktik für mehr Krieg Verteidigungsministerin von der Leyen will ein neues Weißbuch der Bundeswehr erstellen lassen. Experten, Diplomaten und Militärs sollen unter der Leitung ihres Hauses diskutieren, um zu einer neuen Standortbestimmung kommen. Was steckt dahinter? von Christine Buchholz und Frank Renken ★ ★★

Christine Buchholz ist verteidigungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE und Mitglied des Verteidigungsausschusses im Bundestag.

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Frank Renken ist Mitglied im Ortsvorstand der LINKEN in Berlin-Friedrichshagen. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag.

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S

chon lange wird über die strategische Ausrichtung der Bundeswehr diskutiert. Das neue Weißbuch der Bundeswehr, das Verteidigungsministerin von der Leyen im kommenden Jahr vorlegen will, ist ein neuer Vorstoß in dieser Debatte. Angestoßen wurde diese von den westdeutschen Eliten nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990. Bis dahin hieß es, die Bundeswehr sei eine reine Verteidigungsarmee. Ihre Notwendigkeit entspringe dem drohenden Angriff aus dem sowjetisch dominierten Warschauer Pakt. Ein Einsatz außerhalb des Nato-Bündnisgebietes sei schon aus verfassungsrechtlichen Gründen undenkbar, das Grundgesetz verbiete ihn.

Deutsche Unternehmen profitierten in besonderem Maße von den neuen Absatz- und Kapitalanlagechancen in den vormals verschlossenen Märkten des Ostblocks. Doch die deutsche herrschende Klasse hatte ein Problem: Als Erbe der Niederlage im Zweiten Weltkrieg konnte sie ihre wirtschaftliche Macht nicht militärisch unterfüttern. Dieses Defizit galt es zu beseitigen. Die konservative Regierung unter Kanzler Helmut Kohl suchte Gelegenheiten, um die Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebiets zu niederschwelligen Einsätzen zu schicken. So beteiligte sie sich während des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien im Jahr 1992 an Patrouilleneinsätzen der Nato in der Adria. Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« fragte den damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe, ob sich die Bürger »eines Tages mit Kampfeinsätzen der Bundeswehr abfinden« sollen. Rühe antwortete: »Niemand« strebe Kampfeinsätze an. Aber »wir wollen so reagieren können, wie es unsere demokratischen europäischen Nachbarn auch tun.« Dieses »wie die anderen auch« bedeutete, sich Großbritannien und Frankreich zum Vorbild zu nehmen. Deutschland wollte genauso in der Lage sein, als europäische Großmacht mit militärischen Mitteln Einfluss im Mittleren Osten oder Afrika geltend zu machen. Auf den Hinweis, dass weder Bürgerinnen und Bürger noch die Bundeswehr »auf solche militärischen Ausflüge vorbereitet« seien, antwortete Rühe:

Die Bevölkerung soll an Bundeswehreinsätze gewöhnt werden

Nachdem mit dem »Ostblock« auch der Warschauer Pakt auseinanderbrach, hofften viele auf eine »Friedensdividende«: Eine allgemeine Abrüstung würde Mittel für zivile Zwecke freimachen. Doch das entpuppte sich als eine Illusion. In einem globalen kapitalistischen System, das auf nationalstaatlicher Konkurrenz beruht, ist eine dauerhafte Abrüstung unmöglich. Die Niederlage des Ostblocks führte nicht zu einer Friedensordnung, sondern nur zu einer Neuaufteilung der Einflusszonen. Die Schwäche der im Kalten Krieg unterlegenen russischen Großmacht nutzten die westlichen Mächte aus, um die Nato nach Osten auszudehnen.


© Dirk Vorderstraße / CC BY-NC / flickr.com

Ursula von der Leyen bei einem Besuch der Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne in Nordrhein-Westfalen im Sommer 2014. Noch aggressiver als ihre Amtsvorgänger wirbt die Verteidigungsministerin dafür, bei der Neuausrichtung der Bundeswehr »Tabus« zu brechen

Die von Rühe angekündigte »Salamitaktik«, den Bürgern die Aufrüstung häppchenweise zu servieren, wurde in den folgenden Jahren tatsächlich umgesetzt. Auf den Marine-Einsatz in der Adria folgte die Beteiligung an einem »humanitären« UN-Einsatz 1993 in Somalia. Der endete in blutigen Auseinandersetzungen in der Hauptstadt Mogadischu, doch die Bundeswehr blieb außen vor. Sie verharrte im Hinterland und beschränkte sich auf das Bohren von Brunnenlöchern. Erst im Jahr 1999 beteiligte sich die Bundeswehr unter der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders an der Bombardierung Jugoslawiens, aber auch dort nur indirekt, durch die Bereitstellung von Luftaufklärung. Im Herbst 2001 begann schließlich der erste eigentliche Kampfeinsatz in Afghanistan, in dem Zehntausende deutsche Soldaten eingesetzt wurden. Fünfundfünfzig ließen ihr Leben. Wie viele Afghanen die

Bundeswehr getötet hat, weiß niemand. Bekannt ist der folgenschwerste Angriff im September 2009: Auf Befehl des deutschen Oberst Klein wurden im Kundus-Flussbett steckengebliebene Tanklastwagen bombardiert. Dabei kamen über hundert Zivilisten ums Leben, darunter viele Kinder. In der ersten Phase des Afghanistaneinsatzes erschien 2006 das letzte Weißbuch der Bundeswehr. In ihm spiegelte sich das Ziel des Umbaus der Bundeswehr zu einer »Armee im Einsatz« wider. Daran anknüpfend formulierte der damalige Verteidigungsminister de Maizière: Die Bundeswehr solle in die Lage versetzt werden, gleichzeitig in zwei großen Einsätzen wie in Afghanistan kämpfen zu können. Um diesem Ziel trotz begrenzter Mittel näher zu kommen, sollte die Bundeswehr professionalisiert und umgebaut werden. So wurden die Wehrpflicht abgeschafft und der Panzerbestand reduziert. Es war den Verteidigungsministern wichtiger, offensive Einheiten wie die »Division Schnelle Kräfte« oder das »Kommando Spezialkräfte« zu stärken. Nun macht Verteidigungsministerin von der Leyen da wei-

AKTUELLE ANALYSE

»Das ist ja meine These. Deswegen müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Es geht auch nicht nur darum, die Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf diese neuen Aufgaben vorzubereiten.«

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© Bundeswehr / CC BY-ND / flickr.com

Die Bundeswehr kauft Panzer, um in einem Landkrieg gegen Russland bestehen zu können

Bundeswehrsoldaten des »Joint Fire Support Teams«, einer schnellen Eingreiftruppe in der afghanischen Provinz Kundus im Dezember 2012

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ter, wo de Maizière aufgehört hat. Im Februar sagte sie: »Unsere Interessen haben keine unverrückbare Grenze, weder geografisch noch qualitativ«. Für das internationale Engagement Deutschlands müsse gelten: »Kein Zugzwang, aber auch kein Tabu«. Aber wie schon ihre Vorgänger stößt sie mit diesem Ansinnen auf ein grundlegendes Problem. Ungeachtet der Dauermehrheit im Bundestag für die Ausweitung der Auslandseinsätze und ungeachtet der damit einhergehenden medialen Rückendeckung fehlt ihr die gesellschaftliche Zustimmung für diesen Kurs. So hat die Bundeswehr 13 Jahre in Afghanistan praktisch ohne Mehrheit in der Bevölkerung gekämpft. Militärische Hilfe für die Ukraine – sei es durch Ausrüstung, Waffen oder die Ausbildung von Soldaten – lehnen nach einer aktuellen Umfrage 82 Prozent der Deutschen ab. Diese Ablehnung hat Folgen. Die Bundeswehr hat erhebliche Rekrutierungsprobleme. In zahlreichen Einheiten fehlt schlichtweg das Personal, um die gestellten Aufgaben zu erfüllen. Dieser Mangel drückt auf die Einsatzbereitschaft und erhöht die Unzufriedenheit in der Truppe. Von der Leyen hat darauf mit einer Erhöhung der Mittel für Werbung reagiert, die gezielt auf Jugendliche ausgerichtet ist. So haben die Karriereberater der Bundeswehr im Jahr 2014 auf insgesamt tausend Jobmessen oder Berufsbildungstagen in Schulen insgesamt vor 185.000 Schüler gesprochen. Das sind doppelt so viele wie im Vorjahr. Um die generelle Akzeptanz gegenüber der auf Auslandseinsätze ausgerichteten Bundeswehr zu erhöhen, lädt von der Leyen zudem Experten zu öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen ein. Ihre Aufgabe ist es, die gewünschten Argumente zu lie-

fern, um Aufrüstung und Auslandseinsätze als alternativlos erscheinen zu lassen. Das Weißbuch-Projekt fügt sich in diese PR-Strategie ein. Es geht dabei aber auch um eine Korrektur der militärpolitischen Ausrichtung. Denn seit Erscheinen des letzten Weißbuchs haben sich die Rahmenbedingungen, unter denen die Bundeswehr agiert, verändert. Der Anspruch, an asymmetrischen Kriegen gegen Aufständische wie in Afghanistan teilzunehmen, bleibt bestehen. Neu ist, dass sich im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung in der Ukraine ein neuer Ost-West-Konflikt entwickelt. Die Nato betrachtet Russland nicht mehr als Partner, sondern als Gegner. Ursache ist die gewachsene Stärke Russlands, die der Ostausdehnung von Nato und EU eine Grenze gesetzt hat. Der Konflikt in der Ukraine ist ein Konflikt um die Neuverteilung der Einflusszonen in Osteuropa. Beide Seiten, Russland wie Nato, provozieren sich gegenseitig mit Großmanövern. Von der Leyen drängte sich dabei regelrecht nach vorn, um Führungsstärke zu zeigen. Erst übernahm die deutsche Marine die Leitung eines Nato-Flottenverbandes in der Ostsee. Dann folgte die verstärkte Beteiligung an der Luftraumüberwachung über dem Baltikum und schließlich die Übernahme der Verantwortung beim Aufbau einer »superschnellen« Eingreiftruppe im Rahmen der Nato Response Force, der sogenannten Nato-Speerspitze. Für einen möglichen europäischen Landkrieg gegen eine Großmacht ist die Bundeswehr allerdings nicht mehr gerüstet. Mit Blick auf Russland sollen deshalb die Panzerbestände wieder verstärkt werden. So kam es im vergangenen November zu einem ersten Nachrüstungsbeschluss. In den Schlussberatungen zum Haushalt 2015 war plötzlich die Beschaffung


cheinungen

UNRAST – Neuers

Das neue Weißbuch wird die Neuausrichtung der Bundeswehr widerspiegeln. Von der Leyen distanzierte sich bereits von dem bisher geltenden Prinzip »Breite vor Tiefe«, wonach Defizite bei einzelnen Waffengattungen aus Kostengründen hingenommen wurden. Die Bundeswehr müsse für ihre führende Rolle in Ausbildungsmissionen wie im Irak und in Afghanistan oder für die Nato Response Force immer »eine angemessene Breite« an Fähigkeiten vorhalten, so die Ministerin. Die Bundeswehr brauche »aber ebenso dringend bei einzelnen Schlüsselfähigkeiten mehr Durchhaltetiefe«. Mit anderen Worten: Neben der Fähigkeit zur Beteiligung an asymmetrischen Kriegen müsse die deutsche Armee mit ausreichend Waffen ausgestattet sein, die ihr die Glaubwürdigkeit verleihen, in einem Landkrieg gegen Russland bestehen zu können. Nicht allein, aber als eine führende europäische Macht im Bündnis mit anderen. Von der Leyen nennt das »Führen aus der Mitte«. Ihre Ambitionen sind teuer: Zu den 620 Millionen Euro für zusätzliche Radpanzer des Typs Boxer werden Forderungen nach mehr Mitteln für neue Leopard-2-Kampfpanzer kommen. Die Beteiligung an drei französischen Spionagesatelliten kostet rund 500 Millionen Euro. Die Entwicklung einer europäischen Kampfdrohne wird unabsehbare Kosten nach sich ziehen. Zum Vergleich: Das Kampfflugzeug Eurofighter wird nach Beendigung seiner Einsatzzeit den deutschen Fiskus rund 60 Milliarden Euro gekostet haben. Dies alles neben den bereits laufenden Beschaffungsvorhaben, die aus dem Ruder laufen. Die fünfzehn größten Rüstungsgroßprojekte sind nach aktuellem Stand 19,2 Milliarden Euro teurer als ursprünglich veranschlagt. Angesichts dieser Dimensionen erscheint es zweifelhaft, ob die bereits geplante Anhebung des Militärhaushalts um acht Milliarden Euro bis 2019 ausreichen wird. Von der Leyen braucht mehr Geld für ihre Pläne, und ein neues Weißbuchs soll ihr dafür Argumente liefern. Sie sollen überstrahlen, dass die teuren Aufrüstungsmaßnahmen zu Lasten ziviler und sozialer Infrastruktur in Deutschland gehen und diametral den Interessen der Arbeiterklasse in Deutschland entgegengesetzt sind. Deutschland müsse »mehr Verantwortung übernehmen«. So rechtfertigte Rühe 1992 seinen Kurs hin zur Beteiligung an Auslandseinsätzen. Auch von der Leyen argumentiert heute so. Die Verantwortung der Linken ist es, sich gemeinsam mit der Friedensbewegung diesem Kurs in den Weg zu stellen. ■

ter: ramm online un Das ganze Prog st-verlag.de www.unra Linksradikale Bestandsaufnahme ›Deutschlands‹ im 21. Jahrhundert

Gerhard Hanloser (Hg.)

Deutschland.Kritik 368 Seiten | 18 Euro 978-3-89771-575-2

Autor_innen der undogmatischen, antiautoritären und an der Kritischen Theorie geschulten Linken formulieren eine aktuelle Kritik der herrschenden Zustände, lassen vergangene Versuche Revue passieren, sich mit ›Deutschland‹ auseinanderzusetzen, und bieten so eine differenzierte Gesellschaftskritik aktueller deutscher Verhältnisse. Transatlantischer Diskurs zu den Arroganzen und Beraubungspraktiken

R. Stam & Ella Shohat Race in Translation 456 Seiten | 24 Euro 978-3-89771-562-2

In einer kulturgeschichtlichen Tour de Force rund um den atlantischen Raum wird die Ideologie von ›Rasse‹ dekonstruiert und auf ihre strukturellen Funktionen der Ausbeutung, Enteignung, Auslöschung zur Bereicherung Europas und der kolonialen Siedlerstaaten USA und Brasilien bezogen. Durch ›Übersetzen‹ zwischen Afrika, Amerika und Europa werden sowohl die Fixpunkte und Häfen als auch die Verkehrsströme von Sklaven, Kolonialraubgütern und Ideen sichtbar gemacht. Die kapitalistische Verwertung von Flucht und Vertreibung

Claire Rodier Xenophobie Business 144 Seiten | 13 Euro 978-3-89771-578-3

Wozu – und vor allem wem – dienen Migrationskontrollen? C. Rodier gibt einen seltenen Einblick in die Welt der privaten Sicherheitsunternehmen und deren Verstrickungen in politische Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozesse und zeigt sie die ideologische Funktion der Aufrüstung an den Grenzen auf: die Ausbeutung der Angst, um daraus politisch wie wirtschaftlich Kapital zu schlagen.

UNRAST Verlag Postfach 8020 | 48043 Münster kontakt@unrast-verlag.de Besucht unseren Büchertisch auf dem ›Marx is Muss‹-Kongress in Berlin!

AKTUELLE ANALYSE

von 131 zusätzlichen Radpanzern des Typs Boxer vorgesehen. Nun soll beim Kampfpanzer Leopard 2 aufgerüstet werden. Die Verteidigungspolitiker von SPD und Union brachten zwischenzeitlich sogar die Entwicklung eines völlig neuen Modells, des »Leopard 3«, ins Gespräch.

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Aktuelle Analyse

Pegida bleibt gefährlich Auch wenn die bundesweite Ausdehnung vorerst gestoppt wurde – die Gefahr, die von der islamfeindlichen Bewegung ausgeht, ist nicht gebannt. Pegida sucht den Schulterschluss mit der europäischen Rechten und tritt mit einer eigenen Kandidatin bei den Bürgermeisterwahlen in Dresden an Von Jules El-Khatib

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ei ihrer Kundgebung am 13. April verfehlte die islamfeindliche Pegida-Führung ihr Mobilisierungsziel von 30.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern deutlich. Es kamen nur knapp Zehntausend. Dabei hatte man sogar Geert Wilders eingeladen, den Vorsitzenden der rechtspopulistischen »Partij voor de Vriejheid« (Partei für die Freiheit) in den Niederlanden. Nach diesem Fehlschlag titelte die »Hamburger Morgenpost«: »Wilders kann Pegida nicht beleben«. Solche Aussagen sind gefährlich, denn von einem Ende der rechten Bewegung kann nicht die Rede sein. Zwar konnten die Massenproteste gegen Pegida im Januar und Februar deren bundesweite Ausdehnung vorerst verhindern. Doch die Rechte in ganz Deutschland hat Morgenluft gewittert und versucht nach wie vor, die Demonstrationen am Laufen zu halten. Erst kürzlich marschierten in Karlsruhe wieder 300 Pegida-Anhängerinnen und Anhänger. Auch in Dresden ist die Bewegung nach wie vor dynamisch. Noch immer kommen dort jede Woche etwa viertausend Personen zusammen, um gegen eine angebliche »Islamisierung des Abendlands« zu demonstrieren. Der Austritt von vier Mitgliedern aus der Führung im Januar schwächte Pegida nur zeitweise. Dass die Bewegung jüngst Wilders für einen Gastauftritt gewinnen konnte, zeigt wie ernst sie von rechtspopulistischen und antimuslimischen Strukturen auch auf europäischer Ebene genommen wird.

Es ist kein Wunder, dass die Bewegung sich gerade in der sächsischen Hauptstadt so lange hält. Sachsen hat sich seit Beginn des Jahrtausends zu einer Hochburg rechter Parteien entwickelt. So war die NPD zehn Jahre lang im Landtag vertreten. Im Jahr 2004 zog sie sogar mit fast zehn Prozent ein und auch zuletzt scheiterte sie nur äußert knapp mit einem Ergebnis von 4,9 Prozent. Zusammen mit den 9,8 Prozent, welche die AfD erzielte, entfielen also fast 15 Prozent auf rechte und nationalistische Parteien. Rassistische Parolen treffen hier auf fruchtbaren Boden. Es ist daher nicht zu erwarten, dass Pegida so schnell wieder verkümmert. Deren Führung plant schon die nächsten Monate, in denen sie weitere führende Figuren der europäischen Rechten einladen will. Sie will Dresden zu einem Zentrum der rechten Bewegung in Deutschland machen.

Die Rechte in ganz Deutschland hat Morgenluft gewittert

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Jules El-Khatib ist Mitglied im Landesvorstand der LINKEN in Nordrhein-Westfalen.

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Bei den bevorstehenden Oberbürgermeisterwahlen in Dresden tritt Pegida mit einer eigenen Kandidatin an. Die Wahl am 7. Juni wird deswegen mehr sein als nur ein Urnengang in einer Landeshauptstadt mit rund 540.000 Einwohnern. Ein Erfolg der Pegida-Kandidatin könnte der Rechten in ganz Deutschland weiter Auftrieb geben. Wie kann die Linke darauf reagieren? Eine gute Möglichkeit, den Islamhassern von links etwas entgegenzusetzen wurde durch den Verzicht der LINKEN auf eine eigene Kandidatur bei der Wahl


Lutz Bachmann, Initiator der PegidaBewegung, bei einer Kundgebung des Leipziger Ablegers Legida am 27. April. Es ist bereits der elfte Aufmarsch der Rassisten in Leipzig. Mit etwa 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmern bleibt er jedoch überschaubar. Die erhoffte Wiederbelebung der Bewegung in Leipzig ist bislang ausgeblieben

Für Pegida sind die Bürgermeisterwahlen in Dresden ein wichtiger Schritt, um ihre Bewegung weiter am Leben zu halten. Lutz Bachmann sprach auf einer Kundgebung von einer »historischen Chance«.

Festerling werde dem »rot-rot-grün versifften Stadtrat ordentlich auf die Finger schauen«. Sollten die Rechten erfolgreich sein, droht mehr: Auf Facebook hat Pegida bereits mitgeteilt, dass »eine parlamentarische Arbeit auf kommunaler Ebene ab 2016 und auf Bundesebene ab 2017« angedacht sei. Pegida wolle in Dresden ein »Zeichen setzen für kommende Wahlen in ganz Deutschland und ganz Europa«. In Leipzig, wo sich Pegida nach einigen Demonstrationen aufgrund des Widerstands zurückziehen musste, scheint DIE LINKE erkannt zu haben, dass sie als Partei des Widerstands gesehen werden muss, um reaktionäre Bewegungen zu schlagen. Ihr Kreisvorsitzender Volker Külow hat in einem gemeinsamen Papier mit seinen Leipziger Genossen Ekkehard Lieberam und Dietmar Pellmann vollkommen richtig klargestellt: »Wir sind der Überzeugung, dass ohne eine politische Offensive der Linkspartei gegen die wachsenden Kriegsgefahren und gegen die neoliberale Politik ein weiteres Anschwellen reaktionärer Bewegungen zu befürchten ist, egal unter welchem Namen diese Bewegungen künftig auch auftreten werden.« Die Angst vor Abstieg und Armut konnte von rechten Parteien und Bewegungen schon häufig missbraucht werden und auf Sündenböcke gelenkt werden. Um dies zu verhindern, braucht es eine starke und sichtbare, antifaschistische Gegenbewegung. Aufgabe der LINKEN ist es, ein wichtiger Teil dessen zu sein und den Kampf gegen Rassismus mit anderen antikapitalistischen Kämpfen zu verknüpfen. ■

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AKTUELLE ANALYSE

DIE LINKE hätte mit einer eigenen Kandidatur zeigen können, dass sie sowohl das neoliberale System als auch die Spaltung der Gesellschaft anhand von Religionen und Herkunft ablehnt. Selbst wenn sie sich unbedingt mit SPD und Grünen zusammenschließen will, wäre das noch nach dem ersten Wahlgang möglich gewesen, wo sich alle Parteien dann auf einen der beiden bestplatzierten Kandidaten festlegen müssen. Leider ist auch die Position von Sachsens LINKENLandeschef Rico Gebhardt zur Kandidatur von Pegida wenig hilfreich. Der Oppositionsführer im sächsischen Landtag sagte gegenüber dem »Tagesspiegel«, die Kandidatur stelle die »erlahmende Bewegung« Pegida vor die Herausforderung, »neben Parolen tatsächlich auch kommunalpolitische Ideen zu präsentieren«. An dieser Herausforderung werde sie scheitern und sich letztlich selbst entzaubern. »Rechtspopulismus allein ersetzt keine politische Kompetenz.« Eine solche Strategie unterschätzt die Dynamik, die von der Pegida-Bewegung ausgeht, und deren eigentliches Ziel. Der Pegida-Sympathisant Jürgen Elsässer formuliert es so: »Mit der Teilnahme an den OB-Wahlen ist Pegida einen notwendigen Schritt weitergegangen: Immer nur demonstrieren, das hätte sich totgelaufen. Und gottlob ist man nicht in die Sackgasse einer Parteigründung gegangen, das wäre aussichtslos geworden. Aber bei den OB-Wahlen in Dresden hat man Chancen auf ein zweistelliges Ergebnis.«

© Caruso Pinguin / CC BY-NC / flickr.com

verpasst. Stattdessen hat die Partei beschlossen, die Kandidatin der SPD zu unterstützen, obwohl DIE LINKE in Dresden fast doppelt so stark ist wie die Sozialdemokratie. Auch bei den letzten Landtagswahlen im Jahr 2014 erzielte die sächsische SPD nur kümmerliche 12,4 Prozent. Leider verzichtet das von LINKEN, SPD und Grünen gebildete Wahlbündnis »Gemeinsam für Dresden« in seiner jetzigen Kandidaturerklärung auf eine offensive Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus und Pegida. Beides wird nicht einmal erwähnt und auch die soziale Spaltung nur in einem Satz angesprochen. Folglich kann sich das von Pegida unterstützte, ehemalige AfD-Mitglied Tatjana Festerling als einzige Antisystem-Kandidatin darstellen. Aus der AfD musste sie austreten, weil sie der Partei mit ihren Ansichten zur gewalttätigen Kölner Hooligan-Demonstration im Oktober 2014 zu extrem war. Seitdem pöbelt Festerling offen gegen »unverschämte Minderheiten« und fabuliert über »Asylströme, die Sachsen fluten«.

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UNSERE MEINUNG

Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Für das Recht, Kopftuch zu tragen Von Christine Buchholz

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as Bundesverfassungsgericht hat im März das Kopftuchverbot an Schulen relativiert. Mit Bezug auf das Grundrecht auf Religionsfreiheit darf Lehrerinnen nicht mehr pauschal verboten werden, an Schulen das Kopftuch zu tragen. Das ist erst einmal zu begrüßen und ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings besteht für Eltern, Schülerschaft und Kollegium weiter die Möglichkeit, gegen Kopftuch tragende Lehrerinnen vorzugehen, wenn diese »den Schulfrieden stören«. Diese Einschränkung ist falsch und kann als Einladung zur Mobilisierung gegen Lehrerinnen verstanden werden, die das Kopftuch tragen. Diese Gefahr besteht, da antimuslimischer Rassismus weit verbreitet ist und Islamhasser die Rechte von Muslimen einschränken wollen. So richtig es ist, dass in einem säkularen Staat die Institutionen neutral sind, so sehr gilt die persönliche Religionsfreiheit für alle. Im Jahr 2003 hatte das Verfassungsgericht eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage auf Landesebene für ein Kopftuchverbot gefordert. Infolge dessen erließen acht Bundesländer Kopftuchverbote für Lehrerinnen, teilweise, etwa in Hessen, auch für Beamtinnen im öffentlichen Dienst. In Berlin verabschiedete der damalige rot-rote Senat im Jahr 2005 ein »Neutralitätsgesetz«, wonach sichtbare religiöse Symbole und religiös geprägte Kleidungstücke in weiten Teilen des öffentlichen Dienstes verboten sind. In der Praxis diskriminieren diese Gesetze muslimische Frauen. Und sie wirken nicht nur an Schulen und im öffentlichen Dienst, sondern auch in der Privatwirtschaft. Ehrhart Körting, ehemaliger Berliner Innensenator, der das Neutralitätsgesetz mitveranlasste, zieht selbstkritisch Bilanz. Das Gesetz »wurde von der Wirtschaft missbraucht«, schreibt der Sozialdemokrat, »obwohl es sich allein auf Staatsdiener bezieht: Supermärkte haben sich geweigert, Kassie-

rerinnen mit Kopftuch einzustellen. Das Tragen des Kopftuchs wurde ihnen mit Hinweis auf das Kopftuchurteil und das Neutralitätsgesetz verwehrt. Auch in vielen anderen Bereichen wurde Musliminnen mit Kopftuch der Zugang erschwert. Ich frage mich deshalb, ob das Gesetz nicht das Gegenteil von dem bewirkt, was wir uns erhofft hatten. Dass es nämlich nicht die Emanzipation von muslimischen Mädchen und Frauen fördert, sondern eher behindert.« Die Neutralität der Institutionen in einem säkularen Staat muss verteidigt werden. Ich bin gegen Kruzifixe und andere religiöse Symbole in Klassenzimmern und öffentlichen Gebäuden. Aber ich verteidige eben auch das Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit in diesem säkularen Staat. Mir ist egal, ob meine Kinder von einem Katholiken in Deutsch, einer Muslima in Mathematik, einer Jüdin in Erdkunde oder einem Atheisten in Kunst unterrichtet werden. Für mich ist die Qualität des Unterrichts entscheidend. Bisher haben sich die meisten Linken eher zurückgehalten, wenn es um die Aufhebung des Kopftuchverbots ging, manche haben sogar offensiv für das Verbot geworben. Ich habe das immer falsch gefunden. Angesichts von Pegida und weit verbreitetem antimuslimischen Rassismus ist es Zeit, Farbe zu bekennen: für einen säkularen Staat, für persönliche Religionsfreiheit und gegen Rassismus. Wenn auf Länderebene die Diskussion beginnt, wie das Urteil umgesetzt wird, sind Linke gefordert, Stellung zu beziehen für das Recht von muslimischen Frauen, das Kopftuch zu tragen. Überall. ■

Angesichts von Pegida ist es Zeit, Farbe zu bekennen

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★ ★★ Christine buchholz ist religionspolitische Sprecherin der LINKEN-Bundestagsfraktion.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Brandenburg

Auf dem Weg zur Kohlepartei Von Georg Frankl nichten von einem »fairen Wettbewerb der Energieträger untereinander« die Rede. Stattdessen bekennt sich DIE LINKE eindeutig zum Ziel einer hundertprozentigen Stromversorgung aus erneuer-

DIE LINKE stellt sich gegen ihr Programm baren Energien. Wörtlich heißt es: »Der Einsatz von Kohle muss sich so verteuern, dass der Betrieb laufender und die Planung neuer Kohlekraftwerke unwirtschaftlich werden.« Braunkohle ist von allen fossilen Energieträgern der umweltschädlichste. Weite Landschaften und ganze Dörfer werden durch den Tagebau komplett zerstört. Flüsse wie die Spree sind für Jahrzehnte mit giftigen Sulfaten belastet und stark

verfärbt. Statt dem Grundsatzprogramm folgt die Brandenburger LINKE aber offensichtlich lieber ihrem Koalitionspartner. Die SPD in Brandenburg ist traditionell eine Braunkohle-Partei und mit Vattenfall, dem Betreiber der Lausitzer Tagebaue, eng verbandelt. Aus der schallenden Ohrfeige bei der letzten Landtagswahl (8,6 Prozent Verlust) scheint die dortige LINKE nichts gelernt zu haben. Wenn die Partei an diesem Kurs festhält, verdient sie es, noch weiter abzustürzen.

★ ★★ Georg Frankl ist Mitglied der LINKEN in Berlin und studiert Wissenschafts- und Technikgeschichte.

UNSERE MEINUNG

»Klimaschutzanstrengungen dürfen nicht zulasten der Ziele Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und einer ganzen Region gehen«. Was klingt wie ein Positionspapier der Industrielobby, stammt tatsächlich aus einem gemeinsamen Antrag der Regierungsfraktionen von LINKE und SPD im Brandenburger Landtag. Er richtet sich gegen die Pläne von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD), eine Sonderabgabe für alte Kohlekraftwerke einzuführen. Die Brandenburger Landesregierung solle sich für den »Industriestandort Deutschland« und »stabile Rahmenbedingungen der Energiewirtschaft« einsetzen, »die einen fairen Wettbewerb der Energieträger untereinander gewährleisten«, wird im Antrag gefordert. Die Brandenburger LINKE betreibt damit den völligen Ausverkauf ihres ökologischen Profils und stellt sich gegen das eigene Grundsatzprogramm: Dort ist mit-

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TITELTHEMA Wie kann die Troika geschlagen werden?

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Neue Wege gehen Wie lässt sich die Kapitulation verhindern

Hundert Tage Syriza Stimmen aus Griechenland

Retter aus der Eurokrise? Die Ideen des John Maynard Keynes

Eine Frage der Macht Poulantzas und der Eurokommunismus


Die Troika: Macht ohne Kontrolle Sie erpressten Minister, spielten sich zum Gesetzgeber auf und machten gemeinsame Sache mit den reichen Eliten. Die als Kontrolleure eingesetzten Technokraten aus IWF, EZB und EU-Kommission hatten in den Krisenstaaten eine Macht jenseits aller demokratischen Kontrolle. Von Harald Schumann sensicher beschäftigt ist. »Thomsen wollte Angst verbreiten, damit die anderen mehr arbeiten. Er wollte uns bestrafen«, ärgert sich Manitakis. Er dagegen wollte mithilfe der eigens entsandten Experten aus den anderen Euro-Staaten, der »Task Force«, die Verwaltung tatsächlich reformieren. Die Unfähigen oder Korrupten sollten gehen, die Guten sollten belohnt werden, und das nach individueller Überprüfung. So hatten es ihm die Fachleute aus Frankreich geraten, um die Verwaltung arbeitsfähig zu halten. »Ich wollte nach Recht und Gesetz vorgehen, darum bat ich um sechs Monate mehr Zeit«, erzählt Manitakis. Doch die bekam er nicht. Stattdessen drohte Thomsen mit Kreditsperre. »Er rief mich nachts um elf per Telefon zu sich, und sagte mir, dass die Zahlung der nächsten acht Milliarden Euro nur von mir abhängig sei.« Das Geld werde nicht überwiesen, wenn er keine Entlassungsliste vorlege. »Er hat mich einfach erpresst«, erzählt Manitakis – letztlich mit Erfolg. Um Thomsens Forderung zu erfüllen, schloss die Regierung Anfang Juni 2013 den öffentlichen Rundfunk und setzte 2656 Angestellte auf die Straße, illegal, wie der Oberste Gerichtshof feststellte. Weitere Massenentlassungen von Lehrern, Ärzten und Schulinspektoren folgten. »Das sabotierte unsere ganze Arbeit, die Falschen wurden entlassen, das Projekt war tot«, erinnert sich Manitakis, der daraufhin selbst kündigte. Auf seine Verwaltungsreform wartet Griechenland noch heute.

Statt auf Reforme setzte die Troika auf Massenentlassungen

Was der Ex-Minister berichtet, ist nur eine Episode in der nun schon fünf Jahre währenden Arbeit

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HARALD SCHUMANN ist Wirtschaftsjournalist. Dieser Bericht beruht auf Recherchen für seinen Film »Macht ohne Kontrolle – die Troika«.

TITELTHEMA wie kann die troika geschlagen werden

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enn Antonis Manitakis von seiner Zeit als Minister in Athen erzählt, kann er seinen Zorn nur schwer verbergen. Er sei »erpresst« worden, von Leuten, die »Angst und Schrecken verbreiten«, sagt er dann, und spricht von »Demütigung« und »Unterwerfung«. Aber er meint keine Kriminellen. Seine Gegner waren Beamte des Internationalen Währungsfonds (IWF), der EZB und der EU-Kommission, jenen Institutionen also, die als Troika seit 2010 europäische Geschichte schreiben. 30 Jahre lang hatte der 69-jährige Jura-Professor in Montpellier, Rom und Thessaloniki Verwaltungsrecht gelehrt, bis er im Mai 2012 die größte Herausforderung seines Lebens antrat: Als unabhängiger Fachmann übernahm er in dem – jetzt abgewählten – Kabinett unter dem konservativen Premier Antonis Samaras das Ministerium für die Reform der öffentlichen Verwaltung – ein Wahnsinnsjob. Der griechische Staat müsse sparen und Personal abbauen, forderten Griechenlands Kreditgeber. Und Manitakis lieferte. Bis zum Frühjahr 2013 war der öffentliche Dienst von fast einer Million auf gut 700.000 Angestellte geschrumpft, weil frei werdende Stellen nicht mehr besetzt und befristete Verträge nicht verlängert wurden. »Wir schafften das vereinbarte Ziel ohne Massenentlassung«, freute sich Manitakis, und das wurde sein Problem. Denn die Troika forderte, weitere 15.000 Staatsdiener zu feuern, davon 4000 sofort. Treibende Kraft war der Däne Poul Thomsen, Leiter der Delegation des IWF, bei dem er seit 33 Jahren kri-

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der Troika. Doch die Willkür und die Machtanmaßung der nicht gewählten Beamten aus Washington und Brüssel, die er beschreibt, sind kein Einzelfall. Mit ihrem Einsatz als Kontrolleure ganzer Staaten erhielt eine kleine Gruppe von Technokraten eine Macht jenseits aller demokratischen Kontrolle. Und so exekutierten sie in den Krisenländern ihre Art von Wirtschaftspolitik selbst dann, wenn sie mehr Schaden als Nutzen brachte. Nicht zuletzt darum kämpft die neue Regierung in Griechenland so erbittert für das Ende dieses Regimes. Einer, der das Unheil früh kommen sah, ist Paulo Batista, Exekutivdirektor für Brasilien im 24-köpfigen Vorstand des IWF. Batista war noch nie in Griechenland. Aber seine Heimat stand selbst einst unter Kuratel des Fonds, das schärfte seinen Blick. Der brasilianische Ökonom erinnert sich noch gut an die Tage im Frühjahr 2010, als es in den Vorstandsbüros im 12. Stock der IWF-Zentrale in Washington hoch herging. Die Europäer drängten auf die Beteiligung des Fonds an den Notkrediten für Griechenland, aber die Experten des IWF selbst waren dagegen. »Sie hatten große Zweifel, ob das Land

Die wirtschaftlichen Eliten blieben überall verschont den Kredit zurückzahlen könnte, die Verschuldung war zu groß«, bestätigt Batista, was offiziell bisher verschwiegen wurde. Nach den Regeln des Fonds hätte der Antrag abgelehnt werden müssen. Gemeinsam mit den Vertretern Indiens, Russlands und der Schweiz mahnte Batista damals, die geplanten Kredite würden lediglich »private durch öffentliche Finanzierung ersetzen«. Insofern könne es »nicht als Rettung von Griechenland gesehen werden, das sich einer schmerzhaften Anpassung unterziehen muss, sondern als Rettungspaket für die privaten Gläubiger von griechischen Schulden, vor allem europäische Finanzinstitute«. Es wäre »viel besser für Griechenland, einen Schuldenerlass zu verhandeln«, forderte der IWF-Dissident. Doch das wollten die Regierungen Frankreichs und Deutschlands unbedingt verhindern. Die französischen Banken hatten 20 Milliarden Euro im Feuer, die deutschen 17 Milliarden. Und in Dominique Strauss-Kahn fanden sie einen willigen Helfer. Der damalige IWF-Chef, der später über seine Sex-Affären stürzte, wollte für das Präsidentenamt kandidieren und daher die Finanzbranche seines Landes vor Verlusten schützen. Darum ließ er in den Antrag einfügen, dass bei »hohem Risiko einer internationalen systemischen Wirkung« die Kreditvergabe doch erlaubt sei – ein Putsch, der Batista noch heute ärgert. Die Regeländerung sei »völlig intransparent« in ei-

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nem 146 Seiten langen Dokument versteckt gewesen. Mangels Mehrheit im IWF-Vorstand, den Europäer und Amerikaner dominieren, konnten die Kritiker das jedoch nicht verhindern. Mit Beschluss vom 10. Mai 2010 trat darum das erste gemeinsame Programm des IWF mit den Euro-Staaten in Kraft, das im Gegenzug für 80 Milliarden Euro Kredit die Troika als Kontrollinstanz etablierte. Fortan reisten alle drei Monate bis zu 60 Beamte nach Athen, um jeden Zug der Regierung zu überwachen. »Dabei wurde so getan, als sei Griechenland nicht bankrott, sondern nur gerade nicht flüssig«, erklärt der Ökonom Yanis Varoufakis, der nun als Finanzminister mit den Konsequenzen kämpft. »In dieser Lage dem insolventesten aller Staaten den größten Kredit der Geschichte zu geben – wie drittklassige korrupte Banker –, das war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, empört sich Varoufakis. »Damit zwangen sie Griechenland in eine Verschuldung ohne Ende.« Die Folgen waren verheerend. Weil die Zinslast extrem blieb, musste der Staatshaushalt radikal angepasst werden. Bis Ende 2013 fielen die öffentlichen Ausgaben um 30 Prozent. Übertragen auf Deutschland wären das rund 400 Milliarden Euro, so viel wie der ganze Bundeshaushalt. In der Folge verlor die griechische Wirtschaft 26 Prozent ihrer Leistung, mehr als es je zuvor einem europäischen Land in Friedenszeiten widerfuhr. Später argumentierten die Prüfer des IWF, die Wirkung des Kürzungsprogramms sei unterschätzt worden, weil Thomsen und seine EU-Kollegen mit falschen Annahmen kalkulierten. Doch das stimmt so nicht. Sie wussten, was sie taten. Schon im März 2010 schrieb der Vertreter des Fonds in Athen in einem als »Geheim« deklarierten Bericht den europäischen Direktoren im IWF-Vorstand: Würde man den EU-Sparvorgaben folgen, »würde dies eine scharfe Kontraktion der internen Nachfrage mit einer folgenden tiefen Rezession verursachen, die das soziale Gefüge schwer belasten würde«. Und genau so kam es. Das Gleiche wiederholte sich in Irland, Portugal, Zypern und Spanien, wenn auch in geringerem Umfang. In allen Fällen dienten die vergebenen Notkredite dazu, private Gläubiger auf Kosten der Steuerzahler von ihren Fehlinvestitionen freizukaufen. Und mit den zugehörigen Programmen sollten die Staaten dann »das Vertrauen der Finanzmärkte« zurückgewinnen. Dazu mussten sie Haushaltsdefizite in Überschüsse verwandeln, um wieder als zuverlässige Schuldner zu gelten. Doch das Konzept blendet aus, dass auch die privaten Haushalte und Unternehmen sparen mussten. »Wenn aber alle gleichzeitig weniger ausgeben, fallen die Einkommen und die Wirtschaft schrumpft«, erklärt der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman. So trat das Gegenteil der proklamierten Ziele ein: Die


Rezession dauerte an, die Steuereinnahmen fielen, und die Schuldenquoten wuchsen, anstatt zu sinken. Einzig Irland entkam nach zwei Jahren dieser Falle, weil es eine starke Exportindustrie hat. Elektronik- und Pharmakonzerne nutzten den Fall der Löhne und steigerten die Produktion für ihre Kunden in Übersee. So kompensierten sie den Ausfall der Binnennachfrage, der mit dem Sparprogramm einherging. Den zweiten Kardinalfehler der Troika-Programme bekamen jedoch auch die Iren hart zu spüren. Allein die Mittelschicht, die Staatsangestellten, die Rentner, Kranken und Arbeitslosen mussten die Last der Anpassung tragen. Die wirtschaftlichen Eliten hingegen blieben überall verschont. Schlimmer noch: Die Troika zwang die Regierungen, wertvolle Staatsunternehmen zu Schleuderpreisen zu verkaufen, und verhalf so den Privilegierten, sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern. In Irland verloren die Angestellten des Staates im Schnitt 14 Prozent ihres Gehaltes, der Mindestlohn wurde um zwölf Prozent gesenkt, die Renten gekürzt, die Hilfen für Behinderte gestrichen und trotz einer Arbeitslosenrate von 15 Prozent das Arbeitslosengeld um 750 Millionen Euro jährlich gesenkt. Über die extremen Einnahmeverluste, die der irischen Staatskasse durch die Steuerdeals mit ausländischen Konzernen entstehen, haben die TroikaBeamten dagegen nicht einmal verhandelt. Dabei kassieren allein US-Konzerne in Irland rund 40 Milliarden Euro jährlich steuerfrei, ermittelte der Ökonom Jim Stewart von der Uni Dublin. Wäre darauf

zumindest Irlands geringe Gewinnsteuer von 12,5 Prozent erhoben worden, »wäre uns viel Not und Armut erspart geblieben«, meint Stewart. Portugals Regierung zog unter Ägide der Troika ein noch härteres Programm durch. Binnen zwei Jahren kürzte sie die Gehälter im öffentlichen Dienst sowie die Renten um bis zu 24 Prozent und zerschlug das System der Tarifverträge in der privaten Wirtschaft. Bis 2008 galt für die Hälfte aller portugiesischen Arbeitnehmer ein von Gewerkschaften ausgehandelter Vertrag. Heute arbeiten nicht mal mehr sechs Prozent nach Tarif. Das drückte die Löhne radikal, vor allem für junge Leute. In der Altersgruppe bis 25 fiel das Entgelt um ein Viertel, selbst Akademiker erhalten oft nur noch den Mindestlohn von 565 Euro im Monat. Nur Jobs schaffte das nicht. Darum verlassen jede Woche rund 2000 Portugiesen ihre Heimat, ein Zehntel der Arbeitsbevölkerung ist schon im Exil. Doch in keinem ihrer zwölf Prüfberichte über Portugals »Fortschritte« haben die Aufseher aus Brüssel und Washington auch nur erwogen, den Staatshaushalt auch durch eine Sondersteuer auf große Vermögen zu sanieren, die in Portugal in den Händen von ein paar Dutzend Familien konzentriert sind. So habe die Troika ein »rein ideologisches Programm« befördert, das »die soziale Struktur radikal geändert hat«, bilanziert der Ökonom Francisco Louçã von der Universität Lissabon. Mit der Massenauswanderung drohe seinem Land nun eine »demografische Tragödie«. Nirgendwo fiel die Verteilung der Lasten ungerechter aus als in Griechenland. Neben der Kürzung der staatlichen Gehälter und Renten um ein Drittel

★ ★★ ZUM TEXT Dieser Text erschien erstmals in der Tageszeitung »Der Tagesspiegel« vom 24. Februar. Wir danken Verlag und Autor für die freundliche Abdruckgenehmigung.

TITELTHEMA wie kann die troika geschlagen werden

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Bauruine an der Algarve in Portugal (o.). Anstatt die Wirtschaft wiederzubeleben führte die Politik der Troika in den Krisenländern zu einer tiefen Rezession. Nicht zuletzt deswegen protestieren immer wieder Menschen wie hier in Lissabon im Herbst 2012 (u.) gegen die Maßnahmen der Troika

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© aesthetics of crisis / CC BY-NC-SA / flickr.com

stantoupoulo, machte die Troika keinen Druck. »Im Gegenteil, der IWF-Vertreter im Finanzministerium hat den Beamten sogar abgeraten, diese Fälle zu untersuchen«, erfuhr sie von Zeugen in einem Untersuchungsausschuss zum Thema. Umso härter traf es dafür jene, die sich am wenigsten wehren konnten: arbeitslose Kranke, Kinder und alte Leute ohne Rente. Sie wurden Opfer der willkürlichen Festlegung, dass die Gesundheitsausgaben sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten durften. Das forderte die Troika ab 2011, obwohl ihre Auftraggeber das in den eigenen Ländern niemals wagen würden. Deutschland leistet sich zehn Prozent, der EU-Durchschnitt liegt bei acht. Im Ergebnis mussten 40 Prozent der Krankenhäuser schließen, die Hälfte der 6000 Ärzte in den öffentlichen Polikliniken wurde entlassen und drei Millionen Menschen, ein Viertel der Bevölkerung, erhalten keine medizinische Versorgung, weil sie mit ihren Jobs auch ihre Krankenversicherung verloren.

Das Gesundheitswesen wurde nicht reformiert, sondern zerstört Street-Art im Athener Stadtteil Exarchia: Ein obdachloser Weihnachtsmann als Sinnbild für die humanitäre Krise in Griechenland

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und der weitgehenden Abschaffung der Tarifverträge verfügten die Troikaner 2012 auch die Senkung des Mindestlohns um ein Fünftel auf 3,40 Euro pro Stunde. Weil sich selbst die Arbeitgeberverbände dagegen aussprachen, verweigerte der damals zuständige Minister Giorgios Koutroumanis seine Zustimmung. Aber auch er berichtet, die Aufseher der Euro-Gruppe hätten gedroht, »die nächste Tranche zu sperren«. Die Regierung habe schließlich der »Erpressung« nachgegeben. Ganz anders dagegen gingen die heimlichen Lenker des griechischen Staates mit dem chronischen Steuerbetrug der Reichen um. Zwar war die effektive Steuererhebung ein erklärtes Ziel des TroikaProgramms. Aber der Filz zwischen den alten Parteien und der Oligarchenkaste verhinderte das, und die Troika fand sich damit ab. Exemplarisch war der Umgang mit der Liste der 2600 Schwarzgeldkonten von Griechen bei der Schweizer Filiale der Großbank HSBC, die Christine Lagarde, heute Chefin des IWF, als Frankreichs Finanzministerin schon 2010 ihrem griechischen Kollegen übergeben hatte. Bis Ende 2014 wurde nicht ein einziger der Täter vor Gericht gestellt. Doch an diesem Punkt, so berichtet die Anwältin und heutige Parlamentspräsidentin Zoé Kon-

Die Konsequenzen erlebt der Internist George Vichas jeden Tag. Gemeinsam mit 100 weiteren Ärzten betreibt er in seiner Freizeit eine provisorische Ambulanz auf dem Gelände des stillgelegten Flughafens Helenikon in Athen, wo täglich hunderte Kranke um Hilfe bitten. Aber diese und ähnliche Einrichtungen erreichen nur einen kleinen Teil der Bedürftigen. Vor allem chronisch Kranke wie Diabetiker und auch Krebskranke bleiben oft ohne Behandlung. Schon sei ein Fünftel der Kinder nicht mehr geimpft, sodass die Rückkehr der Kinderlähmung drohe, warnt Vichas. Gleichzeitig verbreite sich Tuberkulose, Hepatitis und HIV. Griechenlands Gesundheitswesen sei »nicht reformiert, sondern zerstört« worden, und der wirtschaftliche Schaden werde letztlich »größer sein als die Ersparnis«. Jeden Monat »sterben Hunderte, vielleicht mehr als tausend Menschen in Griechenland, nur weil sie keine medizinische Hilfe bekommen«, klagt der Mann, der bis zur Erschöpfung dagegen ankämpft. Er meine, sagt Vichas, »dass diejenigen, die dafür verantwortlich sind, vor Gericht gestellt werden müssen«. Die Beamten der Troika könnte auch das nicht treffen. Sie genießen diplomatische Immunität. ■


TITELTHEMA

Neue Wege gehen Die Troika stellt die griechische Regierung vor eine verhängnisvolle Wahl: Staatspleite oder Kürzungspolitik. Doch es gibt Möglichkeiten für die Linke, den Kollaps der Gesellschaft in Griechenland und die Kapitulation vor den europäischen Institutionen zu verhindern Von LUCIA SCHNELL im Mai fälligen Kredit des IWF in Höhe von 750 Millionen Euro zuzüglich 400 Millionen Euro Zinsen zu begleichen. Davon betroffen sind Krankenhäuser, Universitäten sowie staatliche und öffentlich-rechtliche Betriebe in mehr als 1400 Kommunen. Mit dem Abkommen wurde Athen auch dazu verpflichtet, laufende Privatisierungen fortzusetzen, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren und dafür Sorge zu tragen, dass »die Lohnkosten im öffentlichen Dienst nicht steigen«. Die Regierung darf keine »einseitigen« Schritte wie eine Erhöhung des Mindestlohns oder die Einführung einer Reichensteuer ohne Absprache mit der Troika unternehmen. Alles das ist der Bundesregierung und ihren europäischen Partnern aber noch nicht genug. Sogar die unmittelbaren Maßnahmen, welche Syriza als erste Schritte versprochen hatte, um denjenigen zu helfen, die von der Krise am härtesten betroffen sind, wiesen sie zurück. Die Syriza-Regierung behauptete, sie habe durch das Abkommen Zeit gewonnen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Erpressungen und Bedrohungen durch die Troika sind stärker geworden. IWF und EZB haben bereits angekündigt, die kommenden Monate zur »Öffnung« des staatlichen Sektors für weitere Privatisierungen zu nutzen. So soll nun der Hafen von Piräus mehrheitlich an chinesische Investoren verkauft werden, der Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport soll 14 Regionalflughäfen übernehmen. Die EU will die Syriza-Regierung schwächen, indem sie diese in ihre Kürzungspolitik einbindet. Die griechische Regierung hingegen setzt darauf, dass die EU es nicht auf einen Staatsbankrott und ein

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Lucia Schnell ist Sprecherin der LINKEN in Berlin-Neukölln.

TITELTHEMA wie kann die troika geschlagen werden

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ollen unsere Partner in der Eurozone uns dabei unterstützen, dass die griechische Wirtschaft wieder wächst«, fragte der griechische Außenminister Nikos Kotzias Ende April Journalisten, »oder entscheiden sie sich, Griechenland zu bestrafen und ein Exempel zu statuieren?« Es wird zunehmend deutlich, wie die Antwort der Europäischen Union darauf lautet. Seit ihrem Regierungsantritt wächst der Druck auf die griechische Linkspartei Syriza beständig. Die Bundesregierung und ihre europäischen Partner sind entschlossen, jeglichen Widerstand gegen ihre Sparpolitik zu brechen. Obwohl Millionen Menschen in Europa die Forderungen von Syriza nach einem Schuldenschnitt, dem Ende der Kürzungspolitik und der Bevormundung durch die Troika unterstützen, ist die EU in keinem dieser Punkte auf Athen zugegangen. Im Gegenteil: Schon im Abkommen vom 20. Februar gelang es Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und seinen Amtskollegen, die neue griechische Regierung in die Knie zu zwingen. Das verabschiedete »Rettungspaket« folgte den gleichen Prinzipien wie alle bisherigen: Im Gegenzug für eine Verlängerung der Kredite muss die griechische Regierung die Kontrolle an die Troika aus Internationalem Währungsfond (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB) und EU abtreten. Diese wollen Griechenland dazu zwingen, die Schulden zu bedienen statt die humanitäre Katastrophe im Land zu bekämpfen. Mitte April erließ die Syriza-Regierung eine Verordnung, die der griechischen Zentralbank Zugriff auf die Rücklagen verschiedener staatlicher Institutionen gibt. Das Geld soll verwendet werden, um einen

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Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro ankommen lassen und daher zu Zugeständnissen bereit sein wird. Doch sie überschätzt dabei das Interesse der EU an einer wirtschaftlichen Stabilisierung Griechenlands. Insbesondere für die deutschen Eliten ist die europaweite Kürzungspolitik eine Möglichkeit, ihr Wirtschaftsmodell der hohen Exporte bei niedriger Inflation aufrechtzuerhalten. Würden Schäuble & Co. nachgeben, wären Millionen Menschen in Europa in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt, ihrerseits ein Ende der Kürzungspolitik zu fordern. Ministerpräsident Tsipras hat immer wieder betont, einen »ehrlichen Kompromiss« mit der EU, der EZB und dem Internationalen Währungsfonds anzustreben. Finanzminister Varoufakis sprach davon, dass die »Institutionen« letztendlich »ihre Fehler zugeben werden«. Der Ausgangspunkt der Syriza-Führung ist, durch eine wirtschaftspolitische Neuorientierung Europas Spielräume für eine sozial gerechte und wirtschaftlich entwicklungsorientierte Politik zu erlangen. Tsipras und Varoufakis setzten von Beginn an darauf, dass sie aufgrund der offensichtlich katastrophalen Auswirkungen der Sparpolitik und eines starken Mandats ihrer Wählerinnen und Wähler der Troika einen Kompromiss aufzwingen könnten, der Griechenland sowohl eine Tilgung der Schulden als auch ein Verbeleib in der Eurozone ermöglicht. Doch die Erwartung, auf dem Verhandlungsweg die Basis für einen Politikwechsel zu schaffen, wurde binnen kurzer Zeit vor den Augen der Weltöffentlichkeit zerschlagen.

freiung von der Sparpolitik ohne einen erheblichen Bruch mit der Eurozone versprach. Leider haben uns die Ereignisse seitdem zweifellos gezeigt, dass dies unmöglich ist.« Auch die Wirtschaftswissenschaftler Jannis Milios, Spiros Lapatsioras und Dimitris P. Sotiropoulos argumentieren für eine Neuausrichtung. Sie fordern ein »Memorandum für den Reichtum« mit paralleler Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit: »Die Parole ›Die Oligarchie soll zahlen‹ war nie aktueller als jetzt. (…) Damit die Regierungspolitik hegemonial bleibt, muss sie sich klar mit den Interessen der arbeitenden Mehrheit verbünden und die Strategie des Neoliberalismus in Frage stellen.«

Tsipras Strategie ist innerparteilich umstritten

Nachdem die EU also den ersten Versuch ausgebremst hat, einen Kurswechsel zu erreichen, hat sowohl innerhalb von Syriza als auch in der europäischen Linken eine Strategiedebatte begonnen. Die Frage lautet: Wie kann die Politik der Troika beendet werden? Unter den Mitgliedern von Syriza ist die bisherige Strategie von Tsipras und Varoufakis umstritten. Vierzig Prozent der 200 Mitglieder des Syriza-Zentralkomitees stimmten gegen das Abkommen und die »Reformliste« von Februar. Der linke Parteiflügel argumentiert stattdessen für einen Strategiewechsel. So schreibt beispielsweise der Abgeordnete Costas Lapavitsas: »Der wichtigste Schritt ist, zu erkennen, dass die Strategie eines radikalen Wandels innerhalb des institutionellen Rahmens der gemeinsamen Währung Euro an ihre Grenze gestoßen ist. Diese Strategie hat uns einen Wahlerfolg beschert, indem sie der griechischen Bevölkerung eine Be-

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Um die Interessen der griechischen Bevölkerung zu vertreten und die humanitäre Katastrophe abzuwenden, muss die Syriza-Regierung auch einen Bruch mit der EU und der Eurozone riskieren. Dieser wird von der rechten Opposition und den Medien in Griechenland als eine Apokalypse dargestellt. Die Syriza-Führung setzt dieser Panikmache wenig entgegen, wodurch das Thema »Grexit« in der breiteren Öffentlichkeit nicht als Option wahrgenommen wird. Statt sich auf die Möglichkeit eines Austritts aus dem Euro vorzubereiten, schürt die Regierungsspitze die Illusion, eine akzeptable Vereinbarung mit der Troika erzielen zu können. So kritisiert die Linke Plattform in Syriza, dass Tsipras von vornherein die Möglichkeit eines Kreditausfalls und Austritts aus der Eurozone ausgeschlossen hat. Dadurch sei ein wichtiges Druckmittel verloren gegangen. Doch eines ist klar: Selbst ein solcher »Grexit« würde nichts an der wirtschaftlichen und sozialen Notlage des Landes ändern. Griechenland bleibt eine schwache Ökonomie in einer durch gnadenlose Konkurrenz geprägten Weltwirtschaft. Eine durchgreifende Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung ist deshalb nur durch einen radikalen Eingriff in die bestehenden Eigentumsverhältnisse machbar – durch die Entmachtung der Banken und Konzerne und die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums an die arbeitende Bevölkerung. Eine solche revolutionäre Veränderung ist letztendlich von einer Frage abhängig – nämlich jener, ob sich in Griechenland eine Bewegung konstituiert, die in der Lage ist, die Eliten grundsätzlich herauszufordern. Der Schlüssel für eine solche Politik liegt in der Selbstorganisation der Beschäftigten. Die arbeitenden Menschen haben in den vergangenen fünf Jahren durch mehr als dreißig Generalstreiks, diverse


Deutschland ist die wirtschaftliche Führungsmacht in Europa. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Vizekanzler Sigmar Gabriel und Finanzminister Wolfgang Schäuble sind verantwortlich für den harten Kurs der EU gegenüber Griechenland. Deswegen ist es die Aufgabe der deutschen Linken, der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen, Druck gegen die Erpressungspolitik von Merkel und Schäuble aufzubauen – und sich für einen sofortigen Schuldenschnitt einzusetzen. Symbolische Protestaktionen wie die Blockupy-Proteste in Frankfurt im Frühjahr sollten nur ein erster Auftakt sein. Gleichzeitig können wir den gemeinsamen Kampf für ein anderes Europa auch durch die Unterstützung der Kämpfe für höhere Löhne und gegen prekäre Beschäftigung hierzulande führen. Denn unsere Erfolge im Kampf gegen Merkel helfen den Menschen in ganz Europa. ■

Zeit gewonnen? Ministerpräsident Alexis Tsipras (M.) im Gespräch mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz (l.) und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Rande des EU-Sondergipfels zur Flüchtlingspolitik am im April

TITELTHEMA wie kann die troika geschlagen werden

© European Council President / CC BY-NC-ND / flickr.com

Platzbesetzungen und Massenproteste vier Regierungen gestürzt. Syriza verdankt ihren rasanten Aufstieg diesen Massenbewegungen. Die Stärke der Linken in Griechenland hängt von dem Wiederaufleben und der Ausdehnung jener Massenbewegung ab, die sich in den Jahren 2009 bis 2012 Bahn brach. Da der Kapitalismus nicht in der Lage ist, die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, beginnen die Menschen bereits damit, die Gesundheitsund Lebensmittelversorgung in sozialen Zentren selbst in die Hand zu nehmen. Elektriker haben verarmte Familien wieder an die Stromversorgung angeschlossen. Diese Maßnahmen stellen aber nicht mehr als eine Notversorgung dar. Viel mehr wäre nötig. Hunderte haben für die Schließung der Flüchtlingsgefängnisse demonstriert, in denen 4000 Menschen unter unmenschlichen Bedingungen eingeschlossen sind. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der geschlossenen öffentlichen Rundfunkanstalt ERT erklärten, dass sie von der neuen Regierung die Wiedereröffnung des staatlichen Fernsehens erwarten, wobei die Selbstverwaltung der letzten zwanzig Monate als Geschäftsgrundlage eingeführt wird. Am 11. März streikten zum ersten Mal seit Dienstantritt der linken Regierung Krankenhausbeschäftigte dafür, dass mehr Geld in das Gesundheitssystem investiert wird. Die Stärkung und Ausweitung solcher Kämpfe können die Grundlage für eine Gegenmacht sein. Die Gewerkschaft des öffentlichen Diensts hat sich gegen das neue Spardiktat und für einen Schuldenschnitt ausgesprochen. Ihr Vorschlag für das Überleben der Beschäftigten: • Abschaffung der Memoranden und der entsprechenden Ausführungsgesetze • Verstaatlichung der Banken und der strategischen Sektoren der Wirtschaft • Alle Entlassenen wieder einstellen, Wiedereröffnung des Fernsehsenders ERT und anderer öffentlicher Unternehmen, die geschlossen wurden • Lohnerhöhung • Personaleinstellung, besonders in Schulen, Krankenhäusern und Behörden, um die humanitäre Krise zu lindern Unter der demokratischen, öffentlichen Kontrolle und Verwaltung der Beschäftigen könnte die Verfügungsgewalt der Eliten über Geldkapital und Investitionsentscheidungen zunehmend eingeschränkt und schließlich gebrochen werden. Ob die SyrizaRegierung eine solche konfrontative Strategie einschlagen wird, bleibt abzuwarten. Klar ist aber jetzt schon, dass die kommenden Monate eine Zeit ständigen Kampfs sein werden. In dieser Situation kann die Linke in Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Solidarität mit den Menschen in Griechenland leisten.

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Zwei : a z yri S age T 100 riechenland G s u A en m m ti S »Kein Respekt für unseren Kampf« Irini Fotelli

ARBEITET BEI DER RUNDFUNKANSTALT ERT UND IST MITGLIED IM Vorstand der Gewerkschaft PSYP-ERT.

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© Privat

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ir fordern von der neuen Regierung die Wiedereröffnung der öffentlichen Rundfunkanstalt ERT, die am 11. Juni 2013 geschlossen wurde. Wir wollen, dass alle Fernseh- und Radiosender und die Website wieder betrieben werden. Wir wollen, dass alle Angestellten zu ihrer Arbeit zurückkehren können. Und wir wünschen uns, dass die neue ERT unseren Kampf weiterführt, also eine Stimme der Gesellschaft und nicht mehr eine Stimme der Macht. Die ERT wurde geschlossen, weil die Troika Entlassungen im öffentlichen Dienst gefordert hatte. Zudem machte die Schließung den Platz frei für den größeren Anteil an digitalen Frequenzen, den die privaten Fernsehsender schon lange gefordert hatten. Wir haben die Entscheidung der Regierung damals ignoriert. Wir haben uns entschieden, zu kämpfen, die Anlagen zu besetzen und weiter zu senden. Und das machen wir bis heute. Die einzige Anlage, die wir nicht behalten konnten, war das Zentralgebäude, das die Polizei geräumt hat. Wir haben nun genau gegenüber ein Büro gemietet. Syriza hatte im Wahlkampf versprochen, die ERT wiederzueröffnen »aus Respekt für den Kampf seiner Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer«. Aber nun hat die Regierung lediglich den Fernsehsender NERIT in ERT umbenannt. Wir werden aufgefordert, dort zu arbeiten. Aber das gilt nur für diejenigen, die einen unbefristeten Arbeitsvertrag hatten, nicht jedoch für die mit einem befristeten. Zudem würde unsere Gewerkschaft herausgedrängt, da nun das Management die Dienstvorschriften ohne Mitsprache der Arbeitnehmervertreter bestimmen kann. Wir haben 22 Monate lang den Betrieb von ERT unter Arbeiterkontrolle aufrechterhalten. Nun soll der Vorstand alles bestimmen. Ich würde nicht sagen, dass das Respekt für unseren Kampf zeigt. Daher kämpfen wir weiter, senden weiter unser Ra-

Protest der Angestellten der Rundfunkanstalt ERT im Mai 2014. Nach der Schließung besetzen die Beschäftigten den Sender und produzieren das Programm in Eigenregie dio- und Fernsehprogramm, betreiben unsere Webseite www.ertopen.gr und bringen wie bisher unseren Protest auf die Straße. In den Demonstrationen lautete unsere Parole: »Endgültige Schuldenstreichung, das ist die Lösung für die Arbeiterinnen und Arbeiter«. Ich glaube tatsächlich, dass es keine andere Lösung gibt, als Schluss zu machen mit den Memoranden und der Unterwerfung unter die Troika. Die Krankenhäuser, die Schulen und öffentlichen Einrichtungen, die geschlossen wurden, müssen wieder öffnen. Die Entlassenen müssen zur Arbeit zurückkehren, der Ausverkauf von staatlichen Unternehmen und staatlicher Infrastruktur wie Flughäfen oder Häfen muss beendet werden. Die Regierung muss die Forderungen der Bevölkerung erfüllen – und nicht die Interessen der Troika.■


»Der Kampf geht weiter« Kostas Katarachias

ist Vorsitzender des Betriebsrats des Krankenhauses »Agios Savvas« in Athen.

© Privat

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Ausstand im Athener Krankenhaus »Agios Sawas« im April 2014 gegen die Sparvorgaben der Troika. Mithilfe von Streiks üben die Krankenhausbeschäftigten auch heute noch Druck auf die Syriza-Regierung aus, um ihre Forderungen durchzusetzen. Sie verlangen die Wiedereröffnung der geschlossenen Kliniken und die Wiedereinstellung von entlassenen Pflegekräften und Ärztinnen

räte gewählt worden. Wir haben es, ausgehend vom Krankenhaus »Agios Savvas«, geschafft, ein Koordinierungsbündnis von zwanzig Betriebsräten verschiedener Krankenhäuser zu gründen. Die Vernetzung hat dazu geführt, dass wir am 11. März einen großen Streik und eine Demonstration zum Gesundheitsministerium organisieren konnten. Diese Aktion konnte auch die Untätigkeit der Gewerkschaftsführung brechen. Nun planen wir einen starken Auftritt am 1. Mai und einen weiteren großen Streik der Krankenhäuser im selben Monat. Wir fordern von der Regierung neue Einstellungen, die Erhöhung der Finanzierung des Gesundheitssystems, die Wiedereröffnung der geschlossenen Krankenhäuser und die Wiedereinführung der Grundversorgung. Außerdem muss umgehend das dringend benötigte Personal eingestellt werden. Das bedeutet mindestens eine Verdoppelung des Gelds und somit ein sofortiges Ende der Sparpolitik. Das kann nur durch die Besteuerung der Reichen und einen Schuldenschnitt erreicht werden. Es hat sich in den letzten Monaten gezeigt: Für diese Forderungen müssen wir uns organisieren, kämpfen und streiken. ■

TITELTHEMA wie kann die troika geschlagen werden

ie Kürzungspolitik hat einen Großteil der Strukturen des öffentlichen Gesundheitssystems in Griechenland zerstört. Wir stehen vor einem heillosen Chaos: Die staatliche Finanzierung ist um 60 Prozent gesunken, das Personal wurde durch Pensionierungen und Einstellungsstopp halbiert. In den vergangenen zwei Jahren wurde die gesamte Grundversorgung gestrichen. Insgesamt sind 10.000 Bettenplätze verloren gegangen, mehrere Kliniken und Labore wurden geschlossen, darunter acht Krankenhäuser in Athen und Thessaloniki. Über eine Million Menschen haben keine Krankenversicherung. Hinzu kommt die Privatisierung einiger Dienste in den Krankenhäusern. Die privaten Dienstleister haben Gebühren eingeführt, die für viele unbezahlbar sind. Dementsprechend fatal sind die Auswirkungen dieser Maßnahmen. Auch die neue Regierung konnte das Rad bisher nicht wieder zurückdrehen. Syriza hatte vor den Wahlen neues Personal, die Abschaffung der Gebühren und den freien Zugang der Nichtversicherten zu den Krankenhäusern versprochen – allerdings ohne über eine bessere finanzielle Ausstattung und die Wiedereröffnung der Krankenhäuser zu sprechen. Bisher wurde nur die Ambulanzgebühr von fünf Euro abgeschafft. Auch die Manager, die für die Situation in den Krankenhäusern verantwortlich sind, sind noch immer im Amt. Es fehlen 20.000 Krankenpflegerinnen und -pfleger sowie 8.000 Ärztinnen und Ärzte, um wenigstens einen Mindestbetrieb in den Krankenhäusern zu gewährleisten. Unter dem Druck der Streiks, die im März in vielen Krankenhäusern stattgefunden haben, hat Tsipras 4.500 Neueinstellungen angekündigt. Das sind jedoch eindeutig zu wenig, zumal es größtenteils auf ein Jahr befristete Stellen sind. Über eine Erhöhung der Finanzierung des gesamten Gesundheitswesens wird immer noch nicht gesprochen. Der Kampf geht also weiter. Der Widerstand der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die damals gegen die Zerstörung des Gesundheitssystems gekämpft haben, hat dazu beigetragen, dass die verhasste Regierung von Samaras und Venizelos gestürzt wurde. Jetzt dürfen wir nicht schlapp machen und abwarten. Wir müssen vorangehen und die Kämpfe weiter organisieren. In den letzten drei Jahren sind viele Antikapitalisten in Betriebs-

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Retter aus der Eurokrise? Viele Linke wünschen sich eine Wirtschaftspolitik nach dem Vorbild des britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Wir stellen seine Ideen vor Von Martin Haller ★ ★★

MARTIN HALLER ist Redakteur von marx21.

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n den Diskussionen über die Ursachen der Eurokrise und mögliche Lösungsstrategien fällt unter Linken vor allem ein Name – und das ist nicht der von Karl Marx. Vielmehr sind es die Ideen eines Ökonomen, der sich selbst nie als Linker ansah, die den größten Einfluss unter Kritikern der neoliberalen Wirtschaftslehre haben. John Maynard Keynes war einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts und griff Zeit seines Lebens selbst in die politische Debatte ein. Doch erst nach Keynes' Tod im Jahr 1946 begannen seine Ideen ihre volle Ausstrahlungskraft zu entfalten. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus in den 1980er Jahren wurden seine Theorien und Konzepte zwar sukzessive zurückgedrängt, doch seit dem Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 erlebt seine Kritik an der klassischen liberalen Lehre eine kleine Renaissance. Mit der Regierungsübernahme von Syriza in Griechenland stellt sich die Frage nach einer alternativen Wirtschafts- und Finanzpolitik nun ganz konkret. Erstmals führt im Europa der Krise eine Partei die Regierung, welche die neoliberale Austeritätspolitik radikal ablehnt. Und tatsächlich bilden Keynes' Ideen einen zentralen Bezugspunkt der Syriza-Führung. Insbesondere Finanzminister Yanis Varoufakis betont immer wieder den Einfluss, den Keynes'

Werk auf ihn habe. Doch woher kommt diese Bewunderung, die viele Linke für den bürgerlichen Ökonomen hegen, und was waren seine Ideen? John Maynard Keynes war der Meinung, dass der Markt – sich selbst überlassen – nicht funktionieren könne. Damit widersprach er der Volkswirtschaftslehre seiner Zeit – einer Lehre, die unter dem neuen Namen Neoliberalismus bis heute die Politik aller etablierten Parteien bestimmt. Keynes wurde am 5. Juni 1883 im englischen Cambridge als Sohn eines Ökonomieprofessors geboren. Er besuchte verschiedene Eliteschulen und studierte anschließend Philosophie, Geschichte, Mathematik und Ökonomie. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit war er immer auch stark politisch engagiert. So arbeitete er nicht nur als Hochschullehrer, sondern auch für die britische Regierung. Nach dem Ersten Weltkrieg begann er, in verschiedenen Büchern und Aufsätzen der herrschenden liberalen Wirtschaftslehre in einzelnen Punkten zu widersprechen. Aber zu dieser Zeit glaubte auch er, dass dem Kapitalismus rosige Zeiten bevorstünden. Erst die große Krise der 1930er Jahre ließ unter bürgerlichen Ökonomen die Zweifel am reibungslosen Funktionieren der Marktwirtschaft wachsen.

Keynes ist ein zentraler Bezugspunkt der SyrizaFührung


John Maynard Keynes wurde einer der bedeutendsten Kritiker eines entfesselten Markts. Sein bekanntestes Werk, »Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes«, erschien 1936 – nur wenige Jahre nach Beginn der Weltwirtschaftskrise. Hier entwickelte er eine systematische Kritik der liberalen Lehre. Für viele Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die nicht (mehr) an eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft glaubten, ersetzte zu dieser Zeit der Keynesianismus den Marxismus. Die liberalen Theoretiker gingen davon aus, dass eine »unsichtbare Hand« des Markts Angebot und Nachfrage in Einklang bringe, so dass jede produzierte Ware auch ihren Käufer finde. Die Liberalen stützten ihre Behauptung auf das sogenannte Saysche Gesetz: Das Geld, das mit jeder produzierten

Ware erwirtschaftet würde, flösse in zwei Taschen – in die der Arbeiter und in die der Unternehmer. Die Arbeiter würden von ihrem Lohn das Lebensnotwendige kaufen und die Unternehmer ihren Profit in neue Produktionsanlagen investieren. So stelle sich ein ewiges Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage ein. Krisen seien unmöglich. Keynes widersprach. Erstens würden die Arbeiter unter bestimmten Umständen einen Teil ihres Gelds sparen. Zweitens investierten die Unternehmer nur dann in neue Produktionsanlagen, wenn sie erwarteten, daraus neuen Profit ziehen zu können. So könne durchaus eine Situation entstehen, in denen die Firmen ihre Waren nicht verkaufen könnten. Eine Krise sei die Folge. Auch die liberale Schule konnte das nicht ignorieren. Ihre Vertreter forderten daher für Krisenzeiten die Senkung der Löhne, damit die Unternehmen wieder

TITELTHEMA wie kann die troika geschlagen werden

© marx21

Ikone der Ökonomie: Der Brite John Maynard Keynes gilt als einer der schärfsten Kritiker der klassischen liberalen Wirtschaftslehre

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investieren. Keynes stellte fest, dass ein Teufelskreislauf die Folge wäre. Denn niedrigere Löhne senkten die Nachfrage, schafften damit noch mehr Arbeitslosigkeit, was wiederum erneut die Löhne senke. Er forderte hingegen zur Krisenüberwindung die Schaffung einer »effektiven Nachfrage«. Der Staat müsse eingreifen und die fehlende Nachfrage durch öffentliche Aufträge ersetzen. Die Ausgaben müssten dabei durch Schulden finanziert werden, nicht durch eine Umverteilung bestehender Gelder. Nur so würde ein tatsächlicher Zuwachs entstehen.

Keynes Theorie rüttelt an den Grenzen des Kapitalismus

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Keynes' Ideen beschränken sich jedoch nicht auf eine reine Nachfrageorientierung. Seine Erklärung der Krisenhaftigkeit des Systems war tiefgehender. Er erkannte, dass die Krise des Kapitalismus so schwerwiegend sein könnte, dass er sich nicht selbst daraus befreien kann. Für diesen Fall glaubte er, »dass die Aufgabe, die laufende Menge der Investitionen zu leiten, nicht ohne Gefahr in privaten Händen gelassen werden kann.« Er kam zu diesem Schluss, weil er eine »sinkende Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals« beobachtete – eine Entwicklung, die zuvor bereits Karl Marx als »tendenziellen Fall der Profitrate« beschrieben hatte. Die Unternehmen müssten immer mehr investieren, um denselben Profit erwirtschaften zu können. Dies führe dazu, dass sie den Profit nicht in neue Produktionsstätten investierten, sondern damit spekulierten. Dieser Trend verschärfe sich, je länger die kapitalistische Wirtschaftsordnung andauere. Angesichts der unsicheren Investitionstätigkeit forderte Keynes eine »Sozialisierung der Investitionen«, um so das Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen. Für ihn lag »das richtige Heilmittel für den Konjunkturzyklus« darin, »dass wir die Stockungen abschaffen und uns somit dauernd in einem Quasi-Aufschwung halten.« Keynes starb 1946, aber seine Theorie und die mit ihr verbundene staatliche Planung feierten große Erfolge, als die Weltwirtschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in eine längere Wachstumsphase eintrat. Die Grundlage für dieses »Goldene Zeitalter« war der Kalte Krieg. Die Militärausgaben der USA und der Sowjetunion stiegen auf zehn bis fünfzehn Prozent des Bruttosozialprodukts. Der Staat schuf eine gigantische Nachfrage für einen bedeutenden Teil der Industrie. Zugleich bremste diese Verschwendung die Tendenz zur Überproduktion. Allerdings war der Nachkriegsaufschwung widersprüchlich. Als es 1974

erstmals wieder zu einem weltweiten Einbruch kam, stand die keynesianische Wirtschaftspolitik vor einer Bewährungsprobe. Aber nun zeigten sich ihre Grenzen. In Deutschland legte die sozialdemokratische Regierung ein Investitionsprogramm von über 16 Milliarden DM auf. Kurzfristig zeigte diese Politik Wirkung. Die Arbeitslosigkeit ging zurück. Aber eine erneute internationale Krise 1980/81 vernichtete diese Erfolge. Auch in anderen europäischen Ländern scheiterten die Regierungen damit, die Krise zu bekämpfen. Die staatlichen Ausgaben hatten die Krise nur hinausgezögert. Die Arbeitslosigkeit wuchs erneut – erstmals seit dem Krieg auf über zwei Millionen. Die Bundesregierung warf daraufhin die keynesianische Politik über Bord und ging zur Sparpolitik über. Auch in anderen Ländern begann der Neoliberalismus seinen Siegeszug. Wenn heute angesichts der Krise in der Eurozone Linke ein groß angelegtes staatliches Investitionsprogramm, mit dem neue Arbeitsplätze geschaffen werden können, und höhere Löhne fordern, ist das sicherlich nützlich. Aber es ist keine Gewähr für die Überwindung der Krise. Zudem bleibt die Frage, wie eine solche Politik durchzusetzen ist. Konzerne und Wirtschaftsinstitutionen haben in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass sie gegen ihre Interessen gerichtete Maßnahmen zu verhindern gedenken: In Großbritannien ließ sich die Labour-Regierung 1976 vom Internationalen Währungsfonds zu Ausgabenkürzungen zwingen, in Frankreich gab die Sozialistische Partei Anfang der 1980er Jahre ihr Programm nach einem Boykott der Unternehmen auf, in Deutschland wurde Oskar Lafontaine 1999 von einer Kampagne des Kapitals aus dem Amt gedrängt. Keynes hat die Frage, wie Maßnahmen gegen die Macht des Kapitals durchgesetzt werden können, nicht beantwortet – im Gegensatz zu Marx, der auf die potenzielle Macht der Arbeiterklasse schaute. Die Theorie von Keynes rüttelt an den Grenzen des Kapitalismus, wenngleich er selbst kein Linker war. Vielmehr setzte er darauf, dass die Herrschenden seinem Programm zustimmen würden, und hielt am Kapitalismus fest. »Wenn es zum eigentlichen Klassenkampf kommt, so hängt mein örtlicher und persönlicher Patriotismus an meiner eigenen Umwelt. (…) ein Klassenkrieg würde mich auf der Seite der gebildeten Bourgeoisie finden.« Dennoch spricht auch Keynes davon, dass die Investitionsentscheidungen vergesellschaftet werden müssen. Daran können Marxisten anknüpfen, denn so wird die Tür für eine sozialistische Perspektive geöffnet. Das bedeutet aber, die Herrschaft von einigen wenigen über den gesellschaftlichen Reichtum in Frage zu stellen und der Macht der Herrschenden zu trotzen. ■


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Eine Frage der Macht Viele führende Vertreterinnen und Vertreter von Syriza stammen aus der Tradition des Eurokommunismus. Der marxistische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas war ein wichtiger Vordenker dieser Strömung. Wir stellen seine Ideen vor und werfen einen Blick auf ihre praktische Umsetzung Von Yaak Pabst ★ ★★

Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21.

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er wissen will, wie die Führung von Syriza denkt, muss sich mit den Ideen von Nicos Poulantzas und den Erfahrungen des Eurokommunismus auseinandersetzen. Der griechische Politologe und Philosoph Poulantzas hatte sich in den 1970er Jahren im Anschluss an den französischen Theoretiker Louis Althusser eine Erneuerung der marxistischen Staatstheorie vorgenommen. Mit seiner Kritik am Stalinismus und der Vorstellung eines neuen »demokratischen Sozialismus« avancierte er zu einem wichtigen Vordenker des Eurokommunismus. Der Eurokommunismus oder auch »Reformkommunismus« entstand Mitte der 1970er Jahre als Strömung innerhalb der kommunistischen Parteien, vor allem in jenen, die sich ab 1968 zunehmend vom Stalinismus distanzierten. Es war das Jahr, in dem die UdSSR die Bewegung des »Prager Frühlings« brutal unterdrückte. Damals verurteilten eine Reihe kommunistischer Parteien im Westen die russische Invasion und kritisierten die Menschenrechtsverletzungen auf der anderen Seite des »Eisernen Vorhangs«.

linke Parteien und soziale Bewegungen nicht darauf setzen, dass staatliche Akteure Politik im Sinne der Allgemeinheit betreiben. Ebenso wenig könnte die Linke den Staat einfach »übernehmen« und in ein Instrument emanzipatorischer Politik verwandeln, wie das der traditionelle Reformismus der Sozialdemokratie seit Eduard Bernstein vertrat. In seinen Arbeiten bezeichnete Poulantzas den kapitalistischen Staat als eine »materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen«. Doch seine Analysen ließen die Interpretation zu, die kapitalistische Gesellschaft sei mit Hilfe des bürgerlichen Staates reformierbar. Das liegt unter anderem daran, dass er mit einem Kernanliegen des revolutionären Marxismus brechen wollte: der Zerschlagung des kapitalistischen Staatsapparats. Er schrieb: »Die radikale Transformation des Staatsapparats in einem demokratischen Weg zum Sozialismus impliziert, dass es nun nicht mehr um das gehen kann, was man traditionellerweise als Zerschlagung oder Zerstören dieses Apparats bezeichnet.« Poulantzas kritisierte politische Ansätze, die von einer dynamischen und durch tiefe Brüche im existierenden Machtgefüge gekennzeichneten Revolutionsphase ausgehen. Er behauptete, die klassische marxistische Vorstellung von der sozialistischen Revolution – der Zerschlagung des Staatsapparats und seine Ersetzung durch eine Form direkter Arbeiterdemokratie – führe unmittelbar zu »Dirigismus«, also zum Stalinismus. Die Annahme, dass in einer revolutionären Phase Situationen der Doppelherrschaft entstehen, in denen die Macht des kapitalistischen Staates durch die Macht einer neuen Demokratie von unten (Rätedemokratie) herausgefordert würde,

Poulantzas Theorie ist offen für reformistische Interpretationen

Nicos Poulantzas lebte zu einer Zeit, zu der sowohl die Sozialdemokratie als auch die stalinistisch geprägten kommunistischen Parteien in den westeuropäischen Staaten viele Anhänger hatten. In seinen Analysen kritisierte er die Sichtweisen beider Strömungen auf den kapitalistischen Staat. Dieser war für ihn weder eine neutrale, dem »Gemeinwohl« aller verpflichtete Instanz noch ein bloßes Instrument oder Werkzeug in der Hand der herrschenden Klasse. Dementsprechend könnten

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Poulantzas wollte also durchaus einen radikalen gesellschaftlichen Wandel. Er stellte sich diesen allerdings als langen Prozess vor – ohne, wenngleich er das so offen nicht formulierte, dynamische Brüche. Auf einem langen Weg sollten demnach die »Massen die Macht erringen« und die Staatsapparate zu ihrem eigenen Vorteil umbauen: »Der demokratische Weg zum Sozialismus ist ein langer Prozess, in dem der Kampf der Volksmassen nicht auf die Errichtung der Doppelherrschaft zielt, die parallel zum Staat und außerhalb von ihm verläuft, sondern sich auf die inneren Widersprüche des Staates richtet. (…) Die Staatsmacht zu ergreifen bedeutet, den Massenkampf so zu entfalten, dass er das innere Kräfteverhältnis der Staatsapparate verändert (…). Der lange Prozess der Machtergreifung in einem de-

mokratischen Weg zum Sozialismus besteht im Wesentlichen darin, die innerhalb der staatlichen Netzwerke verstreuten Widerstandszentren der Massen zu entfalten, verstärken, koordinieren und zu leiten, sowie neue Zentren zu schaffen und zu entwickeln.« In diesem Sinne war er ein Verfechter eines »Kampfes innerhalb des Staats«. Auf die beschriebene Weise würden die »inneren Widersprüche des Staats zugespitzt und zu einer tiefgreifenden Transformation des Staats führen, unterstützt durch Strukturen direkter Basisdemokratie«. So würde der »demokratische Sozialismus« eine innere Verwandlung des bürgerlichen Staates in eine »echte Demokratie« bewirken. In den eurokommunistischen Parteien betonten diesen Ansatz von Poulantzas je-

Der griechisch-französische Politologe und Philosoph Nicos Poulantzas suchte nach einem demokratischen Weg zum Sozialismus. Er kritisierte dabei sowohl den Stalinismus als auch die Sozialdemokratie. Doch seine Strategien stießen in der Praxis ebenfalls an Grenzen

TITELTHEMA wie kann die troika geschlagen werden

lehnte Poulantzas ab. Das brachte ihn allerdings nicht dazu, den Weg der Sozialdemokratie zu gehen. Er schrieb: »Das Dilemma, das man umgehen muss, ist also im Grunde folgendes: Entweder behält man den gegenwärtigen Staat bei und verlässt sich nur auf die repräsentative Demokratie, an der man einige zweitrangige Korrekturen anbringt – dies führt zum sozialdemokratischen Etatismus und zum angeblich liberalen Parlamentarismus. Oder aber man verlässt sich allein auf die direkte Rätedemokratie und die Selbstverwaltungsbewegung. Dies führt über kurz oder lang unvermeidlich zum etatistischen Despotismus oder einer Diktatur der Experten. Das Grundproblem eines demokratischen Wegs zum Sozialismus und eines demokratischen Sozialismus ist die Frage, wie man eine radikale Transformation des Staates in Gang setzen kann, wenn man die Ausweitung und Vertiefung der Freiheiten und der Institutionen der repräsentativen Demokratie (die auch eine Errungenschaft der Volksmassen waren) mit der Entfaltung von Formen der direkten Demokratie und von Selbstverwaltungszentren verbindet.«

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Der Staat spiegelt nicht einfach die Summe der gesellschaftlichen Kräfte wider, denen er ausgesetzt ist. Vielmehr führt seine strukturelle Abhängigkeit tendenziell dazu, dass er zugunsten des Kapitals in die Auseinandersetzungen eingreift. Den Staat als Gegner wahrzunehmen, heißt nicht darauf zu verzichten, ihm gewisse Zugeständnisse abtrotzen zu wollen. Jedoch ist es ein großer Unterschied, ob die Linke als Opposition im Parlament und auf der Straße Druck auf eine kapitalistische Regierung ausübt oder ob sie selbst staatliche Funktionen ausübt. Denn der Spielraum der Staatsbürokratie besteht nicht darin, ob sie den Bedürfnissen der

© Alle Bilder: Biblioteca del Congreso Nacional / CC BY-SA / Wikimedia

Poulantzas war Verfechter des »Kampfes innerhalb des Staats«

Oben: Der Sozialist Salvador Allende wird 1970 zum Präsidenten Chiles gewählt und leitet radikale Sozialreformen ein. Jedoch hat er versprochen, die Armee und den hierarchischen Staatsaufbau nicht anzutasten. Dies wird ihm und dem sozialistischen Experiment schließlich zum Verhängnis Unten: Am 11. September 1973 bombardieren Putschisten aus dem Militär den Präsidentenpalast. Als die Truppen das Gebäude stürmten, begeht Allende Selbstmord

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doch diejenigen, die damit ihre Orientierung auf Regierungsbeteiligungen begründen wollten. Sah der klassische Marxismus seine Aufgabe im Kampf gegen den bürgerlichen Staat, so wollten die Vertreter des Eurokommunismus nun den Kampf um diesen Staat führen. Allerdings haben wir es aber, wie auch Poulantzas in seinen Werken ausführte, nicht mit einem so neutralen Kampfplatz zu tun. Selbstverständlich ist die konkrete Ausgestaltung des Staates ein umkämpftes Terrain. Dies bleibt jedoch eine recht einseitige Feststellung, wenn man nicht auch die strukturellen Voraussetzungen betrachtet, unter denen diese Auseinandersetzungen stattfinden.

Kapitalakkumulation gerecht wird, sondern lediglich darin, wie sie dies tut. Regierungsbeteiligungen werden deswegen leicht zu Fallen. Selbst wenn eine linke Regierung unter günstigen Kräfteverhältnissen einige Reformen durchsetzen sollte, werden diese nicht dauerhaft bestehen. Der kapitalistische Staat ist keineswegs die Verkörperung des Allgemeinwohls. Er ist eine Formation von bürokratisch und hierarchisch organisierten Apparaten, die unter der Leitung von »Politikmanagern« stehen, deren Interessen eng verwoben sind mit denen des Kapitals. Sollten linke Politiker es wagen, den Interessen der Konzerne etwas entgegenzusetzen, so können Kapital und Staatsapparat ein schlagkräftiges Duo bilden. Das eindringlichste Beispiel hierfür ist der Fall des Sozialisten Salvador Allende, der 1970 zum chilenischen Präsidenten gewählt wurde. Aufgrund seiner radikalen Sozialreformen boykottierten ihn die Unternehmer. Schließlich wurde er 1973 vom Militär durch einen Putsch gestürzt und ermordet. Auch die Erfahrung der eurokommunistischen Parteien verdeutlicht die Probleme dieser Strategie. Fast alle Parteien, die sich am Eurokommunismus orientierten, erlebten Mitte der 1970er Jahre einen beeindruckenden Aufschwung.Sie gewannen neue Mitglieder und ihre Umfragewerte schossen in die Höhe. Am spektakulärsten war vielleicht der Aufstieg der Kommunistischen Partei Italiens (PCI). Während sie in den 1950er und 1960er Jahren beständig Mitglieder verlor, gelang es ihr ab 1972 rasant zu wachsen. Fast 60.000 neue Mitglieder schlossen sich ihr jährlich an, so dass sie im Jahr 1976 mit rund 1,7 Millio-


Mitte der 1980er Jahre standen die Eurokommunisten vor einem Trümmerfeld. Der Versuch, den Stalinismus abzuschütteln, endete für viele Parteien dieser Tendenz in der Regierungsverantwortung. Der Eurokommunismus war also weniger eine neue Verbindung von Sozialismus und Demokratie als die Sozialdemokratisierung von ehemals stalinistischen Parteien. Nach dem Ende des »Ostblocks« zerfielen viele der Kommunistischen Parteien in ihre Einzelteile. Aus der PCI ging nach mehreren Umbenennungen die Demokratische Partei hervor, die heute den neoliberalen Ministerpräsidenten Matteo Renzi stellt. Die PCI-Linksabspaltung Rifondazione Comunista unterstützte von 1996 bis 1998 die Regierung von Ministerpräsident Romano Prodi und stimmte im Jahr 2006 der Entsendung italienischer Soldaten in den Libanon zu. Auch in Griechenland gibt es eine Geschichte der Regierungsbeteiligung durch kommunistische Parteien. Diese sammelten sich Ende der 1980er Jahre im linken Wahlbündnis Synaspismos. Ein Vorläufer davon war die eurokommunistische KKE-Inland, zu deren Mitgliedern auch Nicos Poulantzas gehörte. Bei der Wahl im Juni 1989 gewann Synaspismos 13,1 Prozent der Stimmen und ging daraufhin eine Koalition mit der konservativen Nea Dimokratia ein, zu der einige Monate später auch die sozialdemokratische Pasok hinzukam. Diese Entscheidung enttäuschte viele Wählerinnen und Wähler. Als die Regierung 1991 zerbrach, verließen die orthodox-stalinistischen Teile das Bündnis. Die eurokommunistisch orientierten Akteure verwandelten Synaspismos daraufhin in eine Par-

tei. Auch Alexis Tsipras wurde Mitte der 1990er Jahre Mitglied von Synaspismos, die später in Syriza aufging. Alle eurokommunistischen Projekte verhielten sich, trotz anderslautender Rhetorik, an der Regierung nicht anders als die klassischen reformistischen Arbeiterparteien der Sozialdemokratie: Sie stützten überall die Kürzungspolitik der herrschenden Klasse und machten sich zum Mitverwalter der kapitalistischen Misere. Letztlich mussten sich all diese Projekte dem kapitalistischen Sachzwang beugen. Nicos Poulantzas sah diese Gefahr. Allerdings scheute er sich davor, jene Schlussfolgerung zu ziehen, für die so viele revolutionäre Marxistinnen und Marxisten vor ihm eingetreten waren: den revolutionären Bruch mit dem bürgerlichen Staat. Die einzige Möglichkeit, dessen Zwangsinstitutionen etwas entgegenzusetzen, besteht darin, dass Arbeiter im Verlauf ihres eigenen Kampfs alternative Formen der Macht aufbauen. Ihre Grundlage wäre nicht die Herrschaft einer kleinen Elite über die Mehrheit, sondern die demokratische Selbstorganisation von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie anderen unterdrückten Teilen der Bevölkerung – oder wie Rosa Luxemburg es in ihrer Schrift »Eine taktische Frage« ausdrückte: »In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.« Nicos Poulatzas konnte sich an den weiteren Diskussionen über die Erfahrungen des Eurokommunismus an der Macht nicht mehr beteiligen. In Folge von Depressionen beging er am 3. Oktober 1979 Selbstmord. Er wurde nur 43 Jahre alt. Die Erfahrungen des Eurokommunismus an der Macht zeigen die Grenzen der Strategie des »Kampfs innerhalb des Staats«. Denn jedes radikale Reformprogramm in Zeiten scharfer wirtschaftlicher Konkurrenz wird gesellschaftliche Kämpfe bis hin zur Machtfrage zuspitzen. Das Kapital wird in einer solchen Situation alles ihm zur Verfügung Stehende in Bewegung setzen, um eine linke Regierung zu stürzen. Die Eurokommunistinnen und -kommunisten entschieden sich dagegen, diese Konfrontation auszufechten. Ein fataler Irrtum. Die Syriza-Regierung steht heute vor einer ähnlichen Entscheidung. Wenn die Partei ihr Programm der radikalen Reformen wirklich durchsetzen will, muss sie neue Wege gehen: Sie muss eine Strategie entwickelt, die wachsende Unterstützung bei Wahlen auch zu Veränderungen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis umzuwandeln. Das bedeutet: Sie muss eine Bewegung zur Demokratisierung der ökonomischen Macht entwickeln, die zu einer politischen Gegenmacht zum bürgerlichen Staat werden kann. ■

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TITELTHEMA wie kann die troika geschlagen werden

nen Mitgliedern die stärkste kommunistische Partei im Westen darstellte. Auch die Wahlerfolge der Partei waren beeindruckend. Bei der Parlamentswahl 1976 erhielt die PCI zehn Millionen Stimmen, was einem Anteil von 34,4 Prozent entsprach. Damit wurde sie zur zweitstärksten politischen Kraft Italiens. Beflügelt von ihren Erfolgen strebten die eurokommunistischen Parteien in die Regierungen – mit katastrophalen Konsequenzen. Nach der Wahl von 1976 tolerierte die PCI eine christdemokratische Minderheitsregierung. Im Rahmen dieses »historischen Kompromisses« würgte die Partei Studierendenproteste und große Streikbewegungen ab, etwa bei Fiat im Jahr 1977. Gegenüber der Welle von Klassenkämpfen, die Italien seit 1969 erschütterte, nahm sie also eine ähnliche Rolle ein wie die deutsche Sozialdemokratie gegenüber der Arbeiterrevolution der Jahre 1918 bis 1923. Tatsächlich hat sich die PCI dann in den 1980er Jahren schrittweise »sozialdemokratisiert«. Die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) beteiligte sich seit 1981 an einer Regierung mit dem Sozialdemokraten François Mitterand und trug später deren scharfen neoliberalen Kurs mit.

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© Richard Peter / Deutsche Fotothek / CC BY-SA / Wikimedia

SCHWERPUNKT 70 Jahre Kriegsende

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Aufstieg in den Abgrund Die Expansionspläne der deutschen Eliten

Eine ambivalente Haltung Die »freie Welt« gegen Hitler?

Unter falscher Flagge Stalin und der Antifaschismus

Die Sehnsucht nach Einheit Arbeiterbewegung nach dem Krieg


Ein Reich in Trümmern Vor siebzig Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Doch die Befreiung von den Nazis war nicht immer gleichbedeutend mit Freiheit Von Marcel Bois

Der Zweite Weltkrieg endete ganz anders als sein Vorgänger. In den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges hatten etliche Staaten Massenproteste, Aufstände, Revolutionen erlebt. Millionen Menschen waren damals zwischen Moskau und Tokio, zwischen Barcelona und Buenos Aires auf die Straße gegangen, um gegen den Krieg und seine Auswirkungen zu protestieren. Allein vier europäische Monarchen wurden 1917/18 gestürzt, darunter der deutsche Kaiser. Im Sommer 1945 beendete hingegen keine Bewegung von unten das Massensterben, sondern das Militär: amerikanische, britische und russische Soldaten. Die deutsche Arbeiterbewegung, einstmals die größte der Welt, war nicht in der Lage, Hitler zu stürzen. Dafür hatte er selbst gesorgt: Unmittelbar nach der Machtübertragung im Januar 1933 zerschlug er ihre Organisationen. Kommunistinnen und Kommunisten, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sowie Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter waren die ersten Insassen der neu gebauten Konzentrationslager. Dennoch gab es auch unter dem

Naziregime Widerstand aus der deutschen Bevölkerung. Rote Kapelle, Gruppe Funke oder Edelweißpiraten nannten sich die zahlreichen Kleingruppen, die den Nazis bis zuletzt durch Sabotage und Gegenaufklärung die Stirn boten. Anders als im Deutschen Reich nahm der Widerstand in vielen der besetzen Länder Massencharakter an: Die französische Resistance, die polnische Heimatarmee oder die jugoslawischen Partisanen hatten einen wichtigen Anteil an der militärischen Niederlage Deutschlands. Umso bitterer musste es ihnen erscheinen, als sie nach der Befreiung selbst bekämpft wurden. In Griechenland verwickelten nun die Briten die ehemalige Partisanenbewegung in einen blutigen Bürgerkrieg. Offiziere der polnischen Heimatarmee wurden vom sowjetischen Geheimdienst erschossen oder in den Gulag verschickt. Hier wie in Deutschland selbst war Befreiung also keineswegs immer gleichbedeutend mit Freiheit. Das mussten die Arbeiterinnen und Arbeiter Ostberlins, deren Streikbewegung am 17. Juni 1953 von den Panzern der Roten Armee begraben wurde, ebenso schmerzvoll erfahren wie die Kommunisten in der Bundesrepublik, deren Partei 1956 ein zweites Mal nach 1933 verboten wurde. Zudem hatte das Ende des Dritten Reichs die Welt keineswegs auf Dauer zu einem sicheren Ort gemacht. Vielmehr erhob sich aus seinen Trümmern bald der Kalte Krieg. Dessen Begleiterscheinungen hießen: Atomare Bedrohung, Stellvertreterkonflikte und Wettrüsten. Für die deutschen Eliten endete derweil im Mai 1945 der Traum, »Lebensraum im Osten« zu erobern. Mit dem Nationalsozialismus brachen sie daraufhin ideologisch. Doch ihr Projekt, Europa unter deutsche Vorherrschaft zu bringen, haben sie niemals aufgegeben. Einzig die Instrumente haben sich verändert. Sie heißen nun Europäische Zentralbank und EU-Kommission. ■

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Marcel Bois ist Historiker und Mitglied im Gesprächskreis Geschichte der RosaLuxemburg-Stiftung.

SCHWERPUNKT 70 Jahre Kriegsende

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ai 1945: Nazideutschland liegt in Trümmern. Der Alptraum ist zu Ende. Das Tausendjährige Reich währte letztendlich nur zwölf Jahre. Doch das genügte, um unfassbare Verbrechen zu begehen und die Welt in einen brutalen Krieg zu stürzen. Das Grauen, das Hitler und seine Konsorten über die Menschheit brachten, ist nur schwer zu begreifen. Mit dem Holocaust begingen die Nazis industriellen Massenmord an Millionen Menschen. Sie löschten fast Zweitdrittel des europäischen Judentums aus, ermordeten zehntausendfach Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung und politische Gegner. Völlig zu Recht verstehen daher laut einer aktuellen Forsa-Umfrage 89 Prozent der Deutschen den 8. Mai 1945 – jenem Tag, an dem Deutschland kapitulierte – als Tag der Befreiung.

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Aufstieg in den Abgrund Die Verantwortung für den Vernichtungskrieg tragen die Nationalsozialisten. Doch mit ihren Eroberungen vollzogen sie alte Expansionspläne des deutschen Kapitals

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Jan Maas ist Onlineredakteur von marx21.de.

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Von Jan Maas

um Jahreswechsel 1942/43 herrscht Nazideutschland im Osten über ein Gebiet, das vom Polarmeer im Norden bis zur Wolga im Süden reicht. Hitler scheint so gut wie am Ziel seiner Eroberungspläne. Schon in »Mein Kampf« war zu lesen: »Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.« Kein Wunder, dass das Projekt »Lebensraum im Osten« heute meist als eine rein nationalsozialistische Wahnidee dargestellt wird. Dabei hat der Wunsch nach Besiedlung des Ostens eine lange Vorgeschichte mit tiefen Wurzeln im deutschen Kapital. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts entsteht mit dem Deutschen Zollverein der erste Binnenmarkt unter den Staaten des Deutschen Bundes. In die Diskussion über seine zukünftige Entwicklung greift unter anderem Friedrich List (1789-1846) ein, der »Vater der Nationalökonomie«, der in dieser Zeit erste Pläne für eine europäische Großraumwirtschaft unter deutscher Führung entwickelt. List grenzt sich in dieser Debatte von anderen Plänen ab, etwa Kolonialreiche nach dem Vorbild Englands oder Frankreich zu errichten. Er spricht sich vielmehr dafür aus, Ost- und vor allem Südosteuropa wirtschaftlich zu entwickeln und zu besiedeln. Er betrachtet den Raum der unteren Donau bis ans Schwarze Meer als unerschlossenes Hinterland, vergleichbar mit den noch nicht besiedelten Gebieten in Nordamerika. List verstirbt, noch bevor seine Ideen in irgendeiner Form umgesetzt werden können. Es ist der Zoologe und Geograph Friedrich Ratzel (1844–1904), der den Begriff des »Lebensraums« erstmals im Sinne eines politischen Projekts verwendet. In seinen Büchern »Politische Geographie« (1897) und »Der Lebensraum« (1901) schreibt er, dass dieser »Lebensraum« durch kontinentale Grenzkolonisation zu erreichen sei. Er überträgt Charles Darwins Theorien vom Überlebenskampf auf die Geografie und versteht Staaten als Lebewesen, die in einem

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permanenten Kampf um Lebensraum begriffen seien, von dem ihre Existenz abhänge. Der Alldeutsche Verband, Organ der Großgrundbesitzer, des Mittelstands und von Teilen der Schwerindustrie, stößt in dasselbe Horn. In den »Alldeutschen Blättern« heißt es im Jahr 1894: »Nach Osten und Südosten hin müssen wir Ellbogenraum gewinnen, um der germanischen Rasse diejenigen Lebensbedingungen zu sichern, deren sie zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte bedarf, selbst wenn darüber solch minderwertige Völklein wie Tschechen, Slowenen und Slowaken, die das Nationalitätsprinzip anrufen, ihr für die Zivilisation nutzloses Dasein einbüßen sollten.« Diese völkisch geprägte Orientierung ist innerhalb des deutschen Kapitals umstritten. Teile der Elektround Chemieindustrie und die damit verbundenen deutschen Banken befürworten eine Ausweitung und Absicherung deutscher Vormacht in Europa durch Zollbündnisse. Ihr wesentliches Vertretungsorgan ist der 1904 gebildete »Mitteleuropäische Wirtschaftsverein«. Trotz aller Differenzen besteht zwischen »Alldeutschen« und »Mitteleuropäern« Einigkeit in der Zielsetzung: eine europäische Großraumwirtschaft unter deutscher Führung, die von der Nordsee bis zum Persischen Golf reichen soll. Als die Expansion auf Widerstände und Schwierigkeiten stößt, suchen beide Fraktionen übereinstimmend den Ausweg in der gewaltsamen Durchsetzung einer mitteleuropäischen Großraumwirtschaft gegen England, Frankreich, Russland und die USA. Hierin liegt die deutsche Hauptmotivation für die Entfesselung des Ersten Weltkrieges. Der »Griff nach der Weltmacht« endet 1918 in der Niederlage durch die Revolution der Matrosen, Soldaten, Arbeiter und Arbeiterinnen. In der Weimarer Republik ist an imperiale Expansion zunächst nicht zu denken. Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 verschärft sich die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Industriestaaten allerdings erneut enorm. Sie lässt den Versuch Deutschlands scheitern, die Bedingungen des Versailler Vertrags – die eine


Propaganda-Ausstellung der Nazis »Die grosse Heimkehr« im Jahr 1942: Modell einer ländlichen Siedlung, wie sie im »Deutschen Osten« nach dem Krieg errichtet werden sollten

der Zukunft nur der Staat die Stirne zu bieten vermögen, der es verstanden hat, durch das Wesen seines inneren Lebens sowohl als durch den Sinn seiner äußeren Politik den Wert seines Volkstums rassisch zu heben und staatlich in die hierfür zweckmäßigste Form zu bringen.« Die Ausdehnung nach Osteuropa ist für ihn notwendige Bedingung, um langfristig die als unausweichlich angesehene Konfrontation mit der wirtschaftlichen Potenz der USA zu gewinnen. Im Herbst 1944 ist bereits absehbar, dass das »Großdeutsche Reich« und seine Variante »Lebensraum im Osten« zu gewinnen, vor dem Zusammenbruch stehen. Noch während die Nazis die europäischen Jüdinnen und Juden in ihren Gaskammern ermorden, entwickeln die ersten Industriekapitäne schon kaltblütig eine neue Variante des »Kontinentaleuropäischen Wirtschaftssystems«. Richard Riedl, der Aufsichtsratsvorsitzende der zur IG Farben gehörenden Donau Chemie AG, schreibt Anfang 1944 in seiner Denkschrift »Weg zu Europa«: »Wenn die Schaffung des europäischen Grossraumes, die vom Führer wiederholt als Ziel unserer Politik proklamiert wurde, in Form eines Wirtschaftsbündnisses durchgeführt werden soll, setzt dies allein schon unsere Absicht voraus, den nationalen Bestand der besetzten Gebiete und auch der kleinen Völker in ihrer staatlichen Selbständigkeit nicht anzutasten.« Nur sieben Jahre später gründen Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande die Montanunion, Keimzelle der heutigen EU. ■

SCHWERPUNKT 70 Jahre Kriegsende

Die Übergabe der Macht an Hitler 1933 stellt die Weichen für die praktische Umsetzung dieser Pläne. Zunächst unterstützen nur wenige Industrielle die Nazis, einzelne wie Fritz Thyssen bereits in den 1920er Jahren. Etablierte Großbürger wie Ernst Hanfstängel eröffnen Hitler den Zugang zu den oberen Zehntausend. Deren Unterstützung ist für die NS-Bewegung von zentraler Bedeutung. Die Geldspenden verhindern den Zerfall der Bewegung nach dem gescheiterten Putsch 1923 und ermöglichen Neuaufbau und Wachstum der Partei in den Jahren von 1924 bis 1929. Erst während der Weltwirtschaftskrise schwenken größere Teile des deutschen Kapitals langsam um. Leo Trotzki vergleicht deren Einstellung zum Faschismus damit, dass man auch vom Ziehen eines kranken Zahns nicht begeistert sei, letztlich aber trotzdem zu dieser Lösung greifen wird, wenn die Schmerzen unerträglich werden. Die Kommandozentralen des Kapitals stellen sich dementsprechend erst hinter Hitler, als mit Heinrich Brüning, Franz von Papen und General Kurt von Schleicher bereits drei Anläufe zu einer autoritären Lösung der Weimarer Krise gescheitert sind. Hitler verspricht eine riskante, aber möglicherweise profitable Expansion des deutschen Kapitals. In »Mein Kampf« hatte er die bestehenden imperialen Vorstellungen verdichtet und mit kruden Rassentheorien und Antisemitismus verknüpft. Der Historiker Adam Tooze hat in seinem Buch »Die Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus« eindrucksvoll dargestellt, wie stark Hitlers Denken durch den schnellen Aufstieg der USA zur globalen Wirtschaftsmacht geprägt war. Innerhalb weniger Jahrzehnte hatte die US-amerikanische die deutsche Wirtschaft abgehängt: Zur Zeit der Reichsgründung (1870) war bei etwa gleicher Bevölkerungszahl die Gesamtwirtschaftsproduktion der Vereinigten Staaten nur um etwa ein Drittel höher gewesen. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die amerikanische Wirtschaft auf ungefähr das Doppelte der reichsdeutschen angewachsen, zur Zeit der Machtübernahme fast auf das Dreifache. Im Jahr 1928 schreibt Hitler hierzu: »Nordamerika wird in

© Bundesarchiv / R 49 Bild-0024 / CC-BY-SA / Wikimedia

Schwächung des deutschen Kapitalismus auf dem Weltmarkt darstellen – auf dem Verhandlungsweg aufzuheben. In dieser Situation beleben die wirtschaftlichen Eliten das Projekt »mitteleuropäische Großraumwirtschaft« wieder. »Erst ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Odessa wird Europa das wirtschaftliche Rückgrat geben, dessen es zu seiner Behauptung seiner Bedeutung in der Welt bedarf«, erklärt im März 1931 Carl Duisberg, Aufsichtsratsvorsitzender der IG Farben, vor der Industrie- und Handelskammer München. Gemeint ist ein Europa unter deutscher Vorherrschaft.

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SCHWERPUNKT

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Durchsetzung imperialer Interessen: Die Staatschefs der alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945. Von links: Winston Churchill (Großbritannien), Franklin D. Roosevelt (USA) und Josef Stalin (UdSSR)

»Das falsche Schwein geschlachtet« Der Zweite Weltkrieg wird häufig als antifaschistischer Krieg bezeichnet. Doch die Haltung der Alliierten zum Faschismus war eher ambivalent Von Stefan Ziefle ★ ★★

Stefan Ziefle ist Onlineredakteur von marx21.de.

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m 8. Mai feierte die Bundesregierung gemeinsam mit ihren wichtigsten Nato-Verbündeten die Befreiung Deutschlands vom Terror des Nationalsozialismus – zu Recht. Aber anlässlich des Jahrestags propagierten sie ein Bild des Zweiten Weltkriegs, das so nicht ganz richtig ist: Die »freie Welt«, also hauptsächlich die Westalliierten, hätte sich vereint, um dem Grauen des Faschismus militärisch ein Ende zu setzen. Der Weltkrieg wird dabei zu einer Blaupause für alle gegenwärtigen Kriege stilisiert, bei denen »Demo-

kratien« gegen »Schurkenstaaten« kämpfen. Und, das ist die besondere Aussage der Bundesregierung, das neue, demokratische Deutschland gehöre jetzt zu den Guten. Die Lehre ist in dieser Lesart die Verpflichtung, sich in aller Welt auch mit kriegerischen Mitteln für Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Diese Art der Propaganda erleben wir schon lange, beispielsweise als Joschka Fischer den Krieg gegen Serbien im Frühjahr 1999 mit angeblichen ser-


bischen Konzentrationslagern rechtfertigte, Saddam Hussein zum »neuen Hitler« erklärt wurde oder, erst kürzlich, Benjamin Netanjahu den Atomdeal mit dem Iran als »Münchner Abkommen« verunglimpfte. Doch solche Analogien hinken. Ein offensichtlicher Unterschied ist, dass zum Beispiel der Iran, im Gegensatz zu Deutschland, in seiner gesamten Geschichte noch nie ein anderes Land angegriffen hat. Deutschland war in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine aufstrebende Industrienation, die wirtschaftlich die bis dahin führenden Weltmächte eingeholt hatte und nun versuchte, eine entsprechende Großmachtrolle zu erwerben – zwei Weltkriege waren die Folge. Von solch einer Rolle sind Länder wie Iran, Serbien oder der Irak weit entfernt. Eine Ähnlichkeit gibt es aber doch: Die enge Zusammenarbeit mit dem heutigen Saudi-Arabien oder dem Irak der 1980er Jahre zeigen, dass die Haltung der Großmächte zu einem Regime recht flexibel ist. Sie wird nicht dadurch bestimmt, welche Regierungsform es hat, sondern, wessen Interessen es dient. So war es auch in den 1930er Jahren: Viele »Demokraten« hegten Sympathien mit dem Faschismus. Die revolutionäre Welle in Europa, die den Ersten Weltkrieg beendet hatte, war zwar abgeebbt, aber der Schreck saß den Eliten noch tief in den Knochen. Als in Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 die soziale Spaltung von einer politischen Radikalisierung begleitet wurde, sahen viele Unternehmer und ihre konservativen und liberalen Freunde in der Politik die faschistischen Massenbewegungen als willkommenes Gegengewicht zu den stärker werdenden Kommunisten. Der britische Premierminister Winston Churchill, selbst notorischer Antisemit, war zum Beispiel ein bekennender Bewunderer des italienischen Faschisten Benito Mussolini.

In Spanien beantworteten sie beispielsweise den Putsch Francos mit einem Aufstand, der folgende Bürgerkrieg dauerte Jahre. Tausende antifaschistische Aktivistinnen und Aktivisten aus der ganzen Welt strömten auf die iberische Halbinsel, um eine weitere Niederlage zu verhindern. Die Regierungen in London, Paris und Washington hingegen hatten kaum mehr als Lippenbekenntnisse beizutragen. Auch die Regierung in Moskau war danach bestrebt, eine Radikalisierung der Bewegung gegen Franco zu verhindern, um ihre neuen Freunde im Westen nicht zu verschrecken. Die eigenen Interessen waren allen wichtiger als ein Sieg gegen den Faschismus. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verschlechterten sich die Beziehungen Frankreichs, Großbritanniens und der USA zu Deutschland keineswegs. Viele Konservative bewunderten die harte Haltung der Nazis gegen Kommunisten und Gewerkschafter. Die britische Politik war von dem Ziel geleitet, ein Kräftegleichgewicht zwischen Deutschland und der Sowjetunion herzustellen. Die USA hofften, die alten und neuen europäischen Großmächte würden sich gegenseitig neutralisieren, damit keine europäische Hegemonialmacht entstünde, die ihre Dominanz in Lateinamerika und im Pazifik gefährden würde.

In Deutschland haben diese Kreise Hitler zur Macht verholfen. Auch in anderen Industrieländern gab es aufstrebende faschistische Bewegungen, die von Teilen der Wirtschaft unterstützt wurden. Aber die soziale und politische Krise war in den meisten Ländern nicht so tief wie in Deutschland. Vor allem waren die Arbeiterinnen und Arbeiter anderer Länder nach der kampflosen Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung gewillt, sich gegen den Faschismus zu wehren.

Erst der Hitler-Stalin-Pakt im August 1939 veränderte die Situation. Schon vorher hatten Nazis und Stalinisten punktuell zusammengearbeitet, zum Beispiel in der Rüstungsforschung – während gleichzeitig Kommunisten in Deutschland in den KZs landeten. Aber nun wurde deutlich, dass die Aufteilung Mittel- und Osteuropas zwischen Deutschland und Russland im beiderseitigen Interesse war und Stalin an einem deutschen Angriff auf Frankreich und Großbritannien nichts auszusetzen hatte. Dadurch wurde der deutsche Imperialismus zu einer unmittelbaren Bedrohung für die imperialen Interessen Großbritanniens und nun setzte sich in London die Position durch, dass »der Faschismus gestoppt« werden müsse. In Washington und Moskau brauchte diese Erkenntnis noch weitere zwei Jahre. Erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde Nazideutschland in der stalinschen Propaganda aus einer »friedliebenden Nation« zu einem faschistischen Monster. Selbst im Krieg war der »Kampf gegen den Faschismus« immer den strategischen und geopolitischen

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Winston Churchill war bekennender Bewunderer Benito Mussolinis

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Michael Heinrich:

Wie das Marxsche Kapital lesen? Zielen der Alliierten untergeordnet. Großbritannien verzichtete darauf, die Kolonien in die Eigenständigkeit zu entlassen, was nicht nur erhebliche militärische Ressourcen freigesetzt hätte, sondern dort auch massenhafte Unterstützung für die Kriegsanstrengungen gegen Deutschland und Japan hätte hervorrufen können. Die französischen Eliten kooperierten größtenteils mit den Nazis. Dies ging bis hin zu Sabotage aus den Reihen des Offizierskorps. Die französische Luftwaffe beispielsweise ist beim deutschen Einmarsch praktisch nicht zum Einsatz gekommen. Viele der Luftwaffenoffiziere bevorzugten eine Besatzung durch die Nazis mit den zu erwartenden Massenverhaftungen von Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschaftern gegenüber einer Fortsetzung der Volksfrontregierung, an der auch die Kommunisten beteiligt waren. Griechische Partisanen wurden von den Westmächten nicht unterstützt, weil sie ihnen zu links waren. Als sie die Wehrmacht aus dem Land vertrieben hatten, bemühte sich Großbritannien darum, die alte Monarchie zu restaurieren. Dabei setzte es die berüchtigten faschistischen »Sicherheitsbataillone« ein, die mit der faschistischen Besatzungsmacht kooperiert hatten. Während dieser gewaltsamen Intervention starben Zehntausende Griechen. Die polnische Widerstandsbewegung hingegen war antikommunistisch und wurde entsprechend vom Westen unterstützt. Stalin aber, der an einem unabhängigen Polen kein Interesse hatte, unterband diese Hilfe im entscheidenden Moment. Beim Warschauer Aufstand 1944 stoppte die Rote Armee ihren Vormarsch, um der Wehrmacht die Niederschlagung des Aufstands zu ermöglichen. Den Westalliierten verbot sie die Lieferung von Nachschub an die Aufständischen. Die US-geführte Invasion in der Normandie fand erst statt, als offensichtlich war, dass die Rote Armee im Osten gewinnen würde. Die Westalliierten wollten nun sicherstellen, dass Stalin nicht bis zum Atlantik vorrücken würde. Der »Wettlauf auf Berlin« begann. Nach der deutschen Kapitulation und vor dem Hintergrund des entstehenden Kalten Krieges erklärte Churchill, man habe »das falsche Schwein geschlachtet«. Der Zweite Weltkrieg diente also in erster Linie nicht dem Kampf gegen den Faschismus, sondern der Durchsetzung imperialer Interessen. Zwar beendete er die Barbarei des Nazi-Regimes, aber er legte gleichzeitig die Grundlage für die kommenden Gemetzel und die drohende atomare Vernichtung der gesamten Menschheit im Kalten Krieg. Karl Liebknechts Ausspruch aus dem Jahr 1915 bleibt richtig: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land.« Doch schrieb er damals auch: »Gegen die Kriegstreiber diesseits und jenseits der Grenzen!« Auch das gilt noch heute. ■

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Hinweise zu Lektüre und Kommentar zum Anfang von «Das Kapital» Band 1: 288 Seiten, kart., 12,80 EUR ISBN 3-89657-054-4 Band 2: 250 Seiten, kart., 14,80 EUR, ISBN 3-89657-053-6

Urs Lindner:

Marx und die Philosophie Wissenschaftlicher Realismus, ethischer Perfektionismus, kritische Sozialtheorie 424 Seiten, kart., 29,80 EUR ISBN 3-89657-060-9

Alexander NeupertDoppler:

Utopie

Vom Roman zur Denkfigur Reihe theorie.org 196 Seiten, 10,00 EUR, kart., ISBN 3-89657-683-6 Wem sie mittlerweile abhanden gekommen ist, kann hier nochmal nachlesen.

Radical Pursuit Pocket-Quiz theorie.org. Der ultimative Test für linke Fragestellungen Kassette, 10,00 EUR, ISBN 3-89657-682-8 62 Karten inkl. Antworten zu Fragen, die allen Linken unter den Nägeln brennen.

Dominique Zimmermann:

Das Maß der Liebe Plädoyer für ein subversives Nein 126 Seiten, 12,80 EUR, kart., ISBN 3-89657-072-2 Neuere Gedanken über ein uraltes Thema.


Unter falscher Flagge Im Mai 1945 befreiten sowjetische Truppen Deutschland von den Nazis. Mit Antifaschismus hatte ihr Krieg nur bedingt zu tun

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Von Boris Marlow

ektisches Treiben kurz vor der Landung: In der ganzen Stadt ist keine Hakenkreuzfahne vorhanden. Schließlich wird doch noch eine gefunden, im Fundus einer Filmfirma, die auf Antinazifilme spezialisiert ist. Nun weht sie neben Hammer und Sichel auf dem Flugfeld. Derweil übt die Kapelle noch einmal das »Horst-Wessel-Lied«. Als die viermotorige Condor-Maschine aufsetzt, ist alles vorbereitet. Der seltene Gast kann angemessen empfangen werden. Sein Name: Joachim von Ribbentrop, Reichsminister des Auswärtigen, Hitlers Außenminister. Es ist Mittwoch, der 23. August 1939. Wir befinden uns in Moskau, der Hauptstadt der Sowjetunion. Nach einem kurzen Frühstück geht es umgehend in den Kreml, wo Ribbentrop mit seinem sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw Molotow zusammentrifft. Den ganzen Tag wird verhandelt. Am Ende steht ein Nichtangriffspakt zwischen HitlerDeutschland und der UdSSR, der in Anwesenheit Stalins unterzeichnet wird. Bei der anschließenden Feier erhebt der Generalsekretär als erster sein Glas: »Ich weiß, wie sehr das deutsche Volk seinen Führer liebt. Ich möchte daher auf sein Wohl trinken.«

mus zu sein. Doch hinter dem Abkommen steckten eiskalte Machtinteressen: Nur eine Woche später, am 1. September 1939, fielen die Nazis in Polen ein, am 3. September folgte die offizielle Kriegserklärung. Das war der Beginn des Zweiten Weltkriegs in Europa. Er sollte schließlich fünfzig bis siebzig Millionen Menschenleben kosten. Sowjetische Truppen rückten am 17. September 1939 in Ostpolen ein. Für Hitler hatte das Abkommen vor allem einen Zweck: Beim Überfall auf Frankreich im Mai 1940 hielt es ihm den Rücken frei. Die vereinbarten umfangreichen russischen Rohstofflieferungen waren zum Betreiben der deutschen Kriegsmaschinerie unentbehrlich.

★ ★★ Boris Marlow ist Historiker.

Für die Weltöffentlichkeit kam das später als HitlerStalin-Pakt bezeichnete Abkommen überraschend. Oberflächlich betrachtet handelte es sich tatsächlich um eine erstaunliche Kehrtwende in der Außenpolitik beider Staaten. Das Nazi-Regime hatte sich immer als Bastion gegen die UdSSR und die Bedrohung durch den Kommunismus hingestellt. Das stalinistische Regime hingegen nahm für sich in Anspruch, der unversöhnliche Feind des deutschen Faschis-

Die Interessen Stalins an dem Pakt sind weniger offensichtlich. Einige Historiker haben versucht, das Abkommen als listigen Schachzug Stalins hinzustellen, mit dem er sich Zeit für die Aufrüstung erkaufte. Diese Darstellung ist aber wenig überzeugend, denn Stalin baute zu dieser Zeit keinen Kriegsapparat auf. Im Gegenteil: Er enthauptete sowohl die Armee als auch die für Rüstungsprojekte wichtige technische Intelligenz. Im Jahr 1936 hatte die »Große Säuberung« begonnen – die systematische Auslöschung echter und vermeintlicher Oppositioneller. Im Militär nahm sie monströse Ausmaße an: Neunzig Prozent der Generäle und mehr als sechzig Prozent der Offiziere wurden hingerichtet, oftmals unter der Beschuldigung »faschistische Agenten« zu sein. Diesem Morden fielen auch alle erfahrenen Offiziere zum Opfer, die unter Stalins Gegenspieler Leo Trotzki im Bürgerkrieg (1918-1920) gedient hatten. Die

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Stalin erhob sein Glas auf den deutschen »Führer«

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© National Archives & Records Administration / Wikimedia

Oben: Unterzeichnung des »Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages« am 28. September 1939, der als Hitler-StalinPakt in die Geschichte einging. Von links: Hintergrund: Richard Schulze-Kossens (Ribbentrops Adjutant), Boris Schaposchnikow (Generalstabschef der Roten Armee), Joachim von Ribbentrop, Josef Stalin, Vladimir Pavlov (sowjetischer Übersetzer); Vordergrund: Gustav Hilger (deutscher Übersetzer) und Wjatscheslaw Molotow Unten: Soldaten des Bataillons Zośka der Polnischen Heimatarmee während des Warschauer Aufstands im August 1944. Die Männer tragen deutsche Uniformen und sind mit konfiszierten deutschen Gewehren bewaffnet. Stalin ließ den Vormarsch der Roten Armee stoppen, um der Wehrmacht die Niederschlagung des Aufstands zu ermöglichen

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»Säuberungen« gingen bis zum Kriegsbeginn weiter. Als Hitler-Deutschland den Pakt im Juni 1942 brach und die Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschierte, war die Rote Armee so schlecht aufgestellt, dass sogar Kommandeure aus dem Gulag an die Front geschickt wurden – wie der spätere Marschall Konstantin Rokossowski, der sein Kommando mit ausgeschlagenen Zähnen und gebrochenen Rippen übernahm. Zum Zeitpunkt des Überfalls der deutschen Wehrmacht hatten nur sieben Prozent der russischen Offiziere eine höhere militärische Ausbildung, 37 Prozent waren noch in der Grundausbildung – ein Umstand, der wesentlich zu den verheerenden Niederlagen der Roten Armee im ersten Kriegsjahr beitrug. Ähnlich war das Bild bei der technischen Intelligenz: Zwischen 1934 und 1941 wurden 450 Flugzeugkonstrukteure verhaftet, davon wurden fünfzig erschossen, hundert starben in Arbeitslagern. Überlebende wie Andrei Tupolev arbeiteten dann im Krieg unter strenger Aufsicht des Geheimdienstes. All dies war kaum die angemessene Antwort auf eine militärische Bedrohung. So war der Hitler-StalinPakt auch keine Kriegslist, sondern profane Großmachtpolitik – Stalin wollte mit Hitler die Interessensphären abstecken: Der Nichtangriffspakt wurde durch ein geheimes Zusatzabkommen ergänzt, das die Teilung Polens und, darüber hinaus, die Aufteilung Osteuropas zwischen den beiden Diktaturen vorsah. Der Sowjetunion wurden Finnland, das Baltikum, ein Großteil Polens und Bessarabien zugesprochen, die vormals zum Zarenreich gehört hatten, dazu die Nord-Bukowina und die Westukraine. Dieser Abgrenzung der Interessensphären folgten alsbald Vereinbarungen über militärische und geheimpolizeiliche Zusammenarbeit und über einen Austausch der Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Stalins Außenminister Molotow erklärte noch Jahrzehnte später, dass das wichtigste Ziel der sowjeti-

schen Außenpolitik dieser Zeit gewesen sei, die eigenen Grenzen so weit wie möglich auszudehnen: »Und mir scheint, Stalin und ich haben das ganz gut hingekriegt.« Erst fünfzig Jahre später gab die letzte sowjetische Regierung unter Michail Gorbatschow die Existenz des Zusatzabkommens zu, das die Aufteilung Ost- und Südosteuropas zwischen den beiden Staaten regelte. Die kommunistische Bewegung stürzte der HitlerStalin-Pakt hingegen in völlige Verwirrung. Maurice Thorez, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs, forderte beispielsweise seine Regierung auf, gleichfalls ein Bündnis mit Hitler zu schließen. Und die britische KP organisierte im Frühjahr 1940 einen Kongress für Frieden mit Hitler-Deutschland. Die deutschen Kommunistinnen und Kommunisten hingegen waren entsetzt. Fassungslos mussten antifaschistische Widerstandskämpfer mitansehen, wie sich der Mann ihres Vertrauens mit ihrem größten Feind verbündete. Hitler hatte sie verfolgt, Tausende ihrer Genossinnen und Genossen inhaftieren und ermorden lassen. Nun schloss der sowjetische Generalsekretär mit ihm einen Staatsvertrag. Etliche Kommunisten brachen daraufhin mit der Bewegung, darunter der langjährige Kominternfunktionär Willi Münzenberg. Im September 1939 verfasste er einen anklagenden Artikel, in dem es hieß: »Heute stehen in allen Ländern Millionen auf, sie recken den Arm, rufen, nach dem Osten deutend: ›Der Verräter, Stalin, bist du‹.« Wer sich illoyal zeigte und, wie Münzenberg, mit Stalin brach, fiel dessen Killerkommandos zum Opfer. Mehr noch: Um seine Bündnistreue unter Beweis zu stellen, versuchte Stalin nicht einmal, die in Hitlers Gefängnissen und Lagern inhaftierten Kommunisten freizubekommen. Zu Hitlers Überraschung forderte er in den Verhandlungen nicht einmal die Freilassung des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, der schon kurz nach der Machtübertragung an die Nazis im Januar 1933 ins KZ verschleppt worden war. Stattdessen ließ Stalin in der Zeit vom Dezember 1939 bis zum April 1941 etwa tausend deutsche Emigranten, die in der Sowjetunion Zuflucht gesucht hatten, an Deutschland ausweisen – und damit direkt in die Hände der Gestapo. Diese Politik folgte einem Muster: Schon seit Mitte der 1920er Jahre hatte Stalin die Interessen der internationalen Arbeiterbewegung denen der sowjetischen Außenpolitik untergeordnet. Und diese Außenpolitik war konservativ: Anders als in der Zeit nach der Gründung der Kommunistischen Internationalen im Jahr 1919 sollte nicht mehr die Weltrevolution vorangetrieben werden. Vielmehr war es das Interesse der sowjetischen Parteibürokratie, Klassenkonflikte im Ausland zu vermeiden, um so das


Risiko einer Intervention des Westens in der Sowjetunion gering zu halten. Dimitri Manuilski, der die Komintern seit 1929 leitete, warnte die KPD-Führung Anfang der 1930er Jahre explizit vor einer Revolution. Diese werde zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen »großen internationalen Kampf nach sich ziehen« und die Existenz der UdSSR gefährden. Wie die Politik einzelner Komintern-Sektionen der russischen Außenpolitik angepasst wurde, verdeutlicht beispielsweise die Mitte der dreißiger Jahre entwickelte »Volksfront«-Politik. In den westlichen Demokratien sollten die kommunistischen Parteien Bündnisse anstreben, die nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch konservative und liberale Kräfte einschlossen. Das »entsprach den Augenblicksinteressen der Sowjetdiplomatie«, die das Bündnis mit Großbritannien, Frankreich und den USA suchte, schreibt der Kommunist und Zeitzeuge Theodor Bergmann. Deren Regierungen »mussten die westeuropäischen Kommunisten als brave Demokraten vorgeführt werden, die auf alles revolutionäre Handeln verzichtet hatten.« Auch Stalins Haltung zum Faschismus richtete sich stets danach, wie sie den sowjetischen Interessen dienen könne. Insofern war es konsequent, dass die

Der kurze Sommer der 1990. 25 Jahre danach. Wir feiern. Trotzdem.

Knapp sechs Jahre nach Ribbentrops Landung in Moskau hissen die Sowjets erneut symbolträchtig eine Fahne – diesmal in Berlin: Weltbekannt ist das Bild des russischen Soldaten, der auf dem Dach des zerstörten Reichstages die Hammer-und-SichelFlagge über der brennenden Stadt hält. Wir schreiben den 8. Mai 1945, Nazideutschland ist besiegt und der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht kann beginnen. ■

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Komintern nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 erneut ihren Kurs wechselte. Nun rief sie zur »Mobilisierung aller Kräfte in den gegen Hitler in einem Kampf auf Leben und Tod verwickelten Nationen« auf. Hatten sich die britischen und französischen Kommunisten bislang gegen den »imperialistischen Krieg« ihrer Regierungen gegen Deutschland gewehrt, so bezeichneten sie nun den Zweiten Weltkrieg als einen gerechtfertigten Kampf für Demokratie und gegen den Faschismus. Für die Menschen in der Sowjetunion folgte ein grausamer Krieg, dessen Hauptlast sie tragen mussten. Über zwanzig Millionen Opfer hatte das Land zu beklagen – nicht zuletzt weil seine Staatsführung nicht darauf vorbereitet war.

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SOZIALISTISCHE TAGESZEITUNG

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Die Sehnsucht nach Einheit Es war eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs: Nach Kriegsende versuchten die Organisationen der Arbeiterbewegung einen demokratischen Neuanfang in Ost und West. Doch der war nicht gewollt Von Arno Klönne

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Arno Klönne ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung.

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ls nach dem Untergang des deutschen Faschismus in den vier Besatzungszonen und in Berlin das politische Leben wieder Form annahm, setzte sich binnen weniger Monate ein Parteienschema durch, das zu wesentlichen Teilen an die Verhältnisse in der Weimarer Republik erinnert: Eine kommunistische und eine sozialdemokratische Partei, in feindseliger Konkurrenz; daneben eine liberale Partei und eine christliche, diese nun allerdings – anders als die Zentrumspartei vor 1933 – nicht als nur katholische Formation, sondern als »Union«, die auch Protestanten anzog. In der sowjetischen Besatzungszone wurden dann KPD und SPD zur SED zusammengefügt und Bauernpartei sowie Nationaldemokratische Partei (NDPD) gegründet. In den westlichen Besatzungszonen entstanden etliche nationalkonservative Parteien rechts von der CDU/CSU, auch die Bayernpartei und das Rest-Zentrum mischten für eine Weile noch in der Parteienkonkurrenz mit. Vorherrschend war und blieb in der Bundesrepublik aber für lange Zeit das Spektrum »christlich/liberal/sozialdemokratisch/kommunistisch«, wobei die Kommunisten immer mehr an Bedeutung verloren. In der DDR etablierte sich über die Jahrzehnte das »Block«-System: SED, CDU, Liberal-Demokraten (LDPD), Bauernpartei, NDPD. Nach dem Anschluss Ostdeutschlands an die Bundesrepublik trat hier die SPD wieder auf, die LDPD verwandelte sich in die FDP, und aus der SED wurde zunächst einmal die PDS. Und inzwischen existiert, durch den Zusammenschluss von PDS und (im Schwerpunkt westdeutscher) WASG die Partei DIE LINKE. Lässt sich also, von der Partei Die Grünen als Neuerung abgesehen, ein historisch langfristi-

ges, dominantes deutsches Parteienschema konstatieren: zwei (mehr oder weniger) linke Parteien, eine christlich-bürgerlich-konservative Partei und eine liberale Partei? Bemerkenswerterweise war dieses Schema für kurze Zeit durchbrochen, und zwar 1945/46, in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs nach dem Zusammenbruch des deutschen Faschismus. Dieser Versuch einer neuen Konstruktion des parteipolitischen Lebens betraf in erster Linie diejenigen Kräfte, die aus der Tradition der Arbeiterbewegung kamen. Schon in den Tagen der Kapitulation der Dönitz-»Reichsregierung«, der das hitlerdeutsche System seine politische Konkursverwaltung überlassen hatte, regten sich vielerorts in der deutschen Bevölkerung erste politische Initiativen. Sie wollten einen »Neubau« der Demokratie, eine »Neuordnung« der gesellschaftlichen Entscheidungsstrukturen: »Antifaschistische Ausschüsse«, »Politische Komitees«, »Einheitsorganisationen«, »Betriebsausschüsse« und andere Ansätze politischer und sozialer Selbstverwaltung entstanden. Vieles daran hatte Ähnlichkeiten mit der Rätebewegung in Deutschland 1918/19. Dass die aus der Katastrophe des deutschen Faschismus und den Trümmern des Krieges neu zu bauende Gesellschaft nach 1945 »jenseits des Kapitalismus« ihren Ort haben sollte, schien diesen frühen demokratischen Initiativen selbstverständlich. In jener Zeit sah sich sogar die CDU genötigt, der kapitalistischen Gesellschaftsordnung abzuschwören. Interessant (und meist vergessen) ist, dass alternative Formen der politischen und sozialen Organisation angestrebt und ausprobiert wurden.

Vielerorts regten sich erste politische Initiativen


Hungerwinter 1947: Aufgrund der katastrophalen Ernährungslage legen im März 1947 in Krefeld Tausende die Arbeit nieder und versammeln sich zu einer Protestkundgebung auf dem Karlsplatz Bei aller Vielfalt der regionalen Initiativen lassen sich folgende Grundlinien erkennen: Erstens sollten die politischen und weltanschaulichen Aufspaltungen der Arbeiterbewegung überwunden werden. Dies bedeutete vor allem: keine Feindschaft mehr zwischen Sozialdemokraten, Linkssozialisten und Kommunisten, stattdessen »Aktionseinheit« zwischen ihnen und womöglich organisatorischer Zusammenschluss; Einbeziehung auch des vor 1933

Entscheidend war, dass die Besatzungsmächte das Sagen hatten und ihren jeweiligen Machtinteressen folgten. Weder die westlichen Besatzungsmächte, angeführt von den USA, noch die sowjetische Besatzungsmacht waren bereit, einer Bewegung von unten und ihren Organisationsansätzen freien Raum zu geben. Es ging ihnen dabei nicht nur um Vorsorge gegenüber befürchteten neonazistischen Unterwanderungen. Maßgeblich war der Wille, »Basisdemokratie« im besetzten Deutschland nicht zuzulassen. Die sowjetische Besatzungsmacht wollte auch die deutsche Linke strikt unter Kontrolle halten. Die westlichen Besatzungsmächte unter Regie der USA hatten nicht die Absicht, eine antikapitalistische Linke auf ihrem Terrain zu dulden. Die historischen Umstände hatten diejenigen Deutschen, die eine »andere Arbeiterbewegung« wollten, in eine Position der Schwäche gebracht. Anders als beim Systembruch 1918 war die Niederlage des deutschen Imperialismus 1945 allein durch die militärische Kraft der gegnerischen Staaten und nicht auch durch eine revolutionäre Bewegung in Deutschland zustande gebracht worden. Dies ist in der Geschichte also gescheitert – aber das heißt nicht, dass die Motive und Ideen einer »anderen Arbeiterbewegung« in Deutschland gleich nach dem 8. Mai 1945, häufig im Widerstand oder in den Konzentrationslagern schon vorgedacht, für die Linke in der Gegenwart des Nach- und Neudenkens nicht wert seien. Damals wurden Fragen aufgeworfen, die noch immer nicht beantwortet sind. ■

★ ★★ Hintergrund Dieser Artikel erschien erstmals zum 65. Jahrestag des Kriegsendes in marx21, Nr. 15 (Mai 2010).

SCHWERPUNKT 70 Jahre Kriegsende

© Bundesarchiv / Bild 183-B0527-0001-753 / CC-BY-SA

weitgehend an die Zentrumspartei gebundenen Arbeiterkatholizismus, der im Rheinland und in Westfalen stark verankert war. Zweitens sollten die Gewerkschaften »Einheitsorganisationen« werden. Dies war damals nicht nur parteipolitisch und weltanschaulich gemeint, sondern auch so, dass gesamtgewerkschaftliche Ziele Vorrang haben sollten vor besonderen Interessen in den einzelnen Wirtschaftsbereichen, Branchen und Berufen. Drittens sollte die betriebliche Interessenvertretung nicht getrennt sein von den politischen Projekten und Aktivitäten der Arbeiterbewegung. »Demokratie auch in der Fabrik, in der Zeche, im Büro«, war die Zielvorstellung. Hinter alledem stand die bittere Erfahrung, dass die deutsche Arbeiterbewegung mit ihren vor 1933 bestehenden Strukturen und Politikmustern nicht in der Lage gewesen war, dem Faschismus den Weg zu versperren. Ausgenommen die Gründung des DGB als »Einheitsgewerkschaft« (freilich nur im beschränkten Sinne) sind die Ansätze einer »anderen Arbeiterbewegung« in Deutschland unmittelbar nach dem Faschismus ohne Erfolg geblieben. Dies lag nicht nur an dem Gruppenegoismus und dem Beharrungsvermögen vieler »Altfunktionäre« aus den Organisationen der Weimarer Republik.

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WELTWEITER WIDERSTAND

©Force Ouvrière CC BY-NC-ND

Frankreich

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Gegen ein Gesetzesvorhaben des Wirtschaftsministers Emmanuel Macron kommt es am 9. April zu landesweiten Protesten. Allein in Paris gehen 60.000 Menschen gegen die »Loi Macron« auf die Straße. Das »Gesetz zur Förderung von Wachstum, Aktivität und wirtschaftlicher Chancengleichheit« erinnert stark an die deutsche »Agenda 2010« und sieht unter anderem längere Ladenöffnungszeiten, Sonntagsarbeit und mehr Konkurrenz in bisher geschützten Berufen vor. Besonders heikel sind die geplante Einschränkung der Arbeitsgerichte und ein gelockerter Kündigungsschutz in kleinen und mittelgroßen Unternehmen. Derzeit prüft der französische Senat das Gesetz.


Albanien

Keimzelle des Widerstands Die albanische Regierung plant die Privatisierung der Hochschulbildung. Studierende laufen Sturm – und setzen damit ein Zeichen gegen den Sparkurs in allen Bereichen Von Daniel Kerekeš Die Studierenden in Tirana haben in den letzten Monaten zwei Fakultäten besetzt. Zudem sammelten sie Tausende Unterschriften gegen die Erhöhung der Studiengebühren. »Për Universitetin« (»Für die Universität«), so der Name der Bewegung, fordert kostenlose Bildung für alle – vom Kindergarten bis zur Hochschule. »Die neuen Gesetze, die eine ›Expertenkommission‹ geschrieben hat, wurden von der Regierung aufgrund des Drucks der Privatwirtschaft implementiert«, heißt es in einer Pressemitteilung. »Die wahren Probleme, wie Unterbringung und Studienbedingungen, werden komplett unter den Teppich gekehrt.« Dem stellt die Studierendenbewegung vier Kernforderungen entgegen: 1. Rücknahme aller Gesetze zur Privatisierung im Hochschulbereich, 2. Stufenweise Abschaffung der Studiengebühren, 3. Erhöhung des Bildungsbudgets, 4. Erweiterung der Mitbestimmung der Studierenden. Die Universitätsleitung reagierte auf den Protest mit der Drohung, die Studierenden zu exmatrikulieren. Der Politikwissenschaftler Hysamedin Feraj wurde sogar entlassen, weil er die Forderungen der Studierenden öffentlich unterstützte. Der Widerstand von »Për Universitetin« richtet sich nicht nur gegen die Neoliberalisierung der Hochschulen. Er setzt auch ein Zeichen gegen die generelle Sparpolitik des albanischen Staats. Der Kampf um den Zugang zu Hochschulbildung könnte so zur Keimzelle des Widerstands der ausgebeuteten Klasse werden. ★ ★★ Daniel Kerekeš ist ehemaliger Landessprecher der Linksjugend [’solid] in Nordrhein-Westfalen, Redakteur des Blogs »Die Freiheitsliebe« und Gründer des Portals »Balkan21«.

Spanien Rund 15.000 Scheinselbstständige und Angestellte von Subunternehmen der Firma Telefónica haben landesweit gestreikt, um sich gegen die Lohndrückerei des Telekommunikationsunternehmens zu wehren. Die Firma, die in Deutschland unter dem Namen O2 agiert, betreibt seit ihrer Privatisierung eine systematische Politik des Outsourcings. Viele der Streikenden verdienen so gerade einmal 600 Euro netto pro Monat.

Südafrika Organisiert von zivilgesellschaftlichen Gruppen demonstrierten Ende April in Johannesburg Zehntausende Menschen gegen Fremdenfeindlichkeit. Anfang des Monats war es in mehreren Städten zu Ausschreitungen gegen Einwanderer gekommen, bei denen sieben Menschen starben.

Mexiko

Schuften für die da oben Im mexikanischen Baja California streikten Ende April noch immer 25.000 Landarbeiterinnen und Landarbeiter für höhere Löhne, Bezahlung von Überstunden und Zugang zum Gesundheitssystem. Der Großteil der ursprünglich 80.000 Streikenden hatte Anfang April nach zwei Wochen die Arbeit wieder aufgenommen, nachdem die drei großen regierungsnahen Gewerkschaften eine Lohnerhöhung auf 132 Pesos (etwa acht Euro) pro Tag erwirkt hatten – gefordert waren 300 Pesos. Die Landwirtschaft des unmittelbar südlich von Kalifornien liegenden Bundesstaats produziert fast ausschließlich für den USamerikanischen Markt.

Weltweiter Widerstand

S

eit Ende des vergangenen Jahres protestieren Studierende der größten staatlichen Universität in Tirana gegen geplante Reformen der Hochschulausbildung. Ausgelöst hatte den Widerstand die Ankündigung, die Studiengebühren um jährlich bis zu 30 Prozent zu erhöhen. Doch inzwischen geht es der Bewegung um mehr. Die bereits im Jahr 2010 von der damaligen konservativen Regierung angestoßenen Reformen, welche die heute regierenden Sozialdemokraten nahtlos fortführen, zielen letztendlich auf eine komplette Neoliberalisierung des Hochschulwesens. Neben der Erhöhung der Studiengebühren enthalten sie auch Angriffe auf die Autonomie der Hochschulen. So wurde bereits ein Numerus Clausus für Masterstudiengänge eingeführt. Zudem sieht das neue Hochschulgesetz vor, die Hälfte aller Universitäten privat zu betreiben, um die Bildung Marktgesetzen zu unterwerfen. Dies bedeutet, dass die Hälfte aller staatlichen Mittel an private Einrichtungen gezahlt würde. Öffentliche Hochschulen hätten damit das Nachsehen, während die privaten zusätzlich zu ihren Einnahmen aus Studiengebühren eine kostenlose Infrastruktur erhalten würden. Studierende und Opposition vermuten, dass so durch die Hintertür eine flächendeckende Gebührenerhöhung durchgesetzt werden soll. Denn um die fehlenden staatlichen Mittel auszugleichen, werden auch öffentliche Hochschulen gezwungen sein, Studiengebühren zu erheben oder zu erhöhen. Kinder aus Arbeiterfamilien würden so kaum noch studieren können: Laut offiziellen Angaben beträgt die Arbeitslosigkeit 23 Prozent, viele Menschen leben in Armut.

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Internationales INTERNATIONALES Ein Trauerzug für Boris Nemzow. Die 50.000 Demonstrantinnen und Demonstranten kritisierten das Vorgehen der Regierung im Ukrainekonflikt

»Es kann nicht so weitergehen« Das Wirtschaftsmodell, das sein Land in den vergangenen zwanzig Jahren geprägt hat, bricht zusammen, meint der russische Sozialist Ilya Burdraitskis. Ein Gespräch über Sanktionen, die Ukraine und einen unaufgeklärten Mord Interview: Anton Thun © Anton Thun

Ilya, wir haben uns zuletzt vor einem Jahr unterhalten. Wie hat sich die Situation in Russland seitdem verändert? Unser Land erlebt derzeit eine ökonomische Krise. Das äußert sich beispielsweise in der immer stärker zunehmenden Inflation. Nach offiziellen Angaben beträgt diese zwar weniger als zehn Prozent. Aber die Menschen, die jeden Tag in Geschäfte gehen und Nahrungsmittel einkaufen, merken die rasanten Preissteigerungen seit dem vergangenen Jahr deutlich. Zudem verlieren die Menschen ihr Gespartes, ihr Geld auf Sparkonten. Seit Beginn dieses Jahres wird immer deutlicher, welches Ausmaß das Problem der Kredite erreichen kann. Denn quasi jeder Einwohner Russlands hat einen Verbraucherkredit abgeschlossen. Sie ermöglichen es, das Monatsbudget zu erhöhen. Wenn nun aber der Verlust des Arbeitsplatzes oder drastische Lohnsenkungen drohen, kommen die Menschen in eine Stresssituation. Sie wissen nicht, wie sie diese Kredite abzahlen sollen. Im Moment gibt es einen schnell wachsenden Bereich des Kreditmarkts, der

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Ilya Budraitskis

Ilya Budraitskis ist Mitglied der »Sozialistischen Bewegung Russlands« (Rossiyskoye Socialisticheskoye Dvizheniye, RSD). Die Organisation, die in den großen Städten Russlands präsent ist, entstand Anfang des Jahres 2011 aus einer Neustrukturierung der russischen Linken und ist eine Fusion verschiedener Gruppen. Sie versteht sich als antikapitalistische, radikale linke Sammlungsbewegung und tritt für einen neuen, demokratischen Sozialismus ein.

Kredite zur Verfügung stellt, um andere Kredite abbezahlen zu können. Nahezu jede Bank bietet das an. Hier entsteht eine Blase, die irgendwann platzen wird. Und dann wird sich entweder der Staat für die Menschen einsetzen und sie vor den Gläubigerbanken schützen oder es wird zur Massenempörung kommen. Wie reagiert die Regierung bislang auf die Krise? Sie führt Kürzungsmaßnahmen durch – je länger die Krise dauert, desto mehr. Diese Kürzungen betreffen die Mittelschichten und die Beschäftigten des öffentlichen Diensts. In der ersten Märzwoche wurde hier der sogenannte unbezahlte Urlaub eingeführt. Das sind zwar keine Entlassungen, aber faktisch bedeutet es, dass die Beschäftigten für eine ungewisse Zeit nicht arbeiten dürfen. Theoretisch sollen sie danach wieder in den Dienst aufgenommen werden. Das ist in einer ganzen Reihe großer öffentlicher Unternehmen passiert: in Sankt Petersburg, im Ural und anderen Regionen. Darüber hinaus hat der Kreml zu Beginn des Jahres an-


Das klingt nach einer sehr ernsten Krise. Richtig. Und diese Krise fühlen alle. Wie tief sie geht, können natürlich die wenigsten Menschen verstehen. Denn die Regierung sagt, dass es sich lediglich um kurzfristige Schwierigkeiten handelt, dass bald wieder alles in Ordnung kommt. Putin hat Ende vergangenen Jahres angekündigt, dass das Wachstum nach maximal zwei Jahren wieder einsetzen würde. Das sei unausweichlich und in einer Marktwirtschaft üblich. Diese Beruhigungsrhetorik wirkt – einerseits weil die Menschen natürlich hoffen wollen, andererseits weil sie schon Erfahrungen mit den Krisen von 1998 und 2008 gemacht haben. Damals setzte tatsächlich nach einem ökonomischen Sinkflug das Wachstum wieder ein. Und diesmal? Die gegenwärtige Krise ist wesentlich tiefgreifender. Sie ist nicht einfach durch die schwache globale Konjunktur ausgelöst, wie es im Jahr 2008 der Fall war. Vielmehr ist sie das Resultat des Zusammenbruchs jenes Modells, das Russland die letzten zwanzig Jahre geprägt hat – eines Modells, in dem die gesamte Wirtschaft des Landes der Förderung von Öl und Gas untergeordnet wurde. Nun gelangen wir an dessen logisches Ende. Was danach kommt, ist schwer zu sagen. Aber dass die russische Wirtschaft nicht durch Protektionismus gerettet werden kann, ist offensichtlich. Das Problem ist allerdings, dass die Eliten nicht nur erzählen, die gegenwärtige Krise sei mit der von 2008 vergleichbar, sondern sie glauben das wirklich. Dementsprechend kopieren sie einfach die Krisenlösungspläne von damals. Sie

wollen riesige Währungsreserven auf den Markt schmeißen, um den Rubel und die Banken zu retten und das Wachstum anzukurbeln. Doch selbst regierungsnahe Analysten sind skeptisch, ob das funktionieren wird. Aber sind nicht vor allem die westlichen Sanktionen für die Situation in Russland verantwortlich? Natürlich führt die Regierung alle Probleme gerne auf die Sanktionen zurück. Auch die Medien unterstützen diese Haltung. Vor allem Barack Obama machen sie für Russlands Probleme verantwortlich. Doch selbst die Finanzverwalter der Regierung und auch der Finanzminister geben zu, dass die Sanktionen nur einen Anteil von zwanzig Prozent an der Krise ausmachen. Natürlich haben sie die Situation nicht verbessert, aber sie sind weder der einzige noch der bedeutendste Grund für die aktuelle Situation. Der ökonomische Fall setzte bereits Ende 2013 ein, also zu einer Zeit, als der Ölpreis noch hoch war und es keinerlei Sanktionen gab. Welche Antworten gibt die Regierung? In welche Richtung entwickelt sich ihre Politik? Im Kreml sind die antisozialen Reflexe stark ausgeprägt. Die Regierung hat bereits angekündigt, keinerlei Maßnahmen einzuleiten, um Arbeitsplätze zu retten, das Level der Einkommen einigermaßen beizubehalten oder den Preisanstieg zu dämpfen. Sie hat direkt zu Beginn der Krise gesagt: »Bereitet euch vor, es wird nicht leicht. Wir müssen den Gürtel enger schnallen«. Gleichzeitig unterstützt sie aber staatliche und private Unternehmen im großen Stil. Eines der skandalösesten Beispiele hierfür liefert Rosneft, nicht nur der größte Ölkonzern im Land, sondern einer der größten der Welt. Die Unternehmensleitung hat sich als hilfsbedürftig dargestellt – und tatsächlich kürzlich mehrere Milliarden Dollar Unterstützung von der Regierung erhalten. Erzeugt das keinen Widerspruch in der Bevölkerung? Doch. Viele fragen sich, warum Rosneft so viel Geld erhält, warum die hohen Einkommen nicht besteuert werden, warum hohe Beamten weiter so gut leben kön-

nen, während die Menschen massenhaft ihre Jobs verlieren und die Preise sich in einem unglaublichen Tempo erhöhen. Die Regierung reagiert darauf mit populistischen Gesten, aber sie kann keine populistische Politik durchführen. Putin erklärte beispielsweise vor kurzem, dass er sich seinen Lohn auch um zehn Prozent kürzen würde. Eine ganze Reihe von Regionalpräsidenten folgte ihm und betonte, sie täten das alles für das Vaterland. Das sind Gesten, aber keine Politik. Es folgen keine wirklichen Schritte auf die Masse der Bevölkerung zu, die im Moment enorm leidet. Ende Februar wurde der Oppositionspolitiker Boris Nemzow ermordet. Wie ist das in dieser Situation einzuordnen? Mit Nemzow assoziierten die meisten Russen die Epoche Jelzins in den 1990er Jahren. Zu dieser Zeit war Nemzow einige Jahre Gouverneur in Nischnij Novgorod, außerdem Vizeministerpräsident und galt sogar zeitweilig als möglicher Nachfolger von Präsident Jelzin. In den 2000er Jahren hat er dann seinen Einfluss im Machtapparat verloren und sich selber aktiv als Oppositionsakteur dargestellt, durchaus konsequent und prinzipientreu. Seine politische Ausrichtung war rechtsliberal und proamerikanisch. Dass er als Feind des Regimes galt, liegt daran, dass die Propaganda ihn zu einem der wichtigsten Vertreter der »Fünften Kolonne« gemacht hat. Er hat immer davon gesprochen, dass das Regime abgelöst werden muss, dass Putin gehen muss. Regelmäßig lieferte er Beweise für Korruption, auch in der Familie und im Umfeld des Präsidenten. Nicht zuletzt nahm er eine relativ harte Position zum Ukrainekonflikt ein. Angesichts dessen haben viele, noch bevor es irgendwelche Mutmaßungen über die Täter gab, eine Verbindung zwischen dem Mord und dieser aggressiven staatlichen Propaganda gegen die »inneren Feinde« gezogen. Dieser Mensch wurde über Jahre auf allen Fernsehkanälen als Feind dargestellt, auf Pro-Putin-Kundgebungen trampelten Demonstranten auf seinem Porträt herum und es wurden Plakate mit seinem Konterfei geklebt, auf der Stirn die Aufschrift »Verräter«. Nun wurde er ermordet. Gibt es da eine Verbindung? Ich denke: Ja.

INTERNATIONALES

gekündigt, alle staatlichen Ausgaben um zehn Prozent zu senken – mit Ausnahme der Landwirtschaft und der Landesverteidigung. Nun hat das Finanzministerium verkündet, noch weitere fünf Prozent einsparen zu wollen. Es ist durchaus möglich, dass das noch nicht das Ende ist. Denn der Haushalt wurde im Oktober beschlossen – und die staatlichen Einnahmen durch den Ölverkauf auf der Grundlage berechnet, dass das Barrel 90 Dollar kostet. Doch mittlerweile ist der Ölpreis auf unter 60 Dollar pro Barrel gesunken. Der bisherige Haushaltsplan ist also überhaupt nicht mehr realistisch.

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© Anton Thun

Keine zwei Wochen nach dem Anschlag wurden fünf Männer aus Tschetschenien als Verdächtige festgenommen. Waren sie wirklich die Mörder? Wenn man die vorhandenen Informationen analysiert, ist es tatsächlich am wahrscheinlichsten, dass sie den Mord begangen haben. Allerdings versucht die Staatsanwaltschaft, sie als Einzeltäter darzustellen: Sie wollten Nemzow umbringen und das war’s. Doch das glauben nur die wenigsten. Erstens waren die Tschetschenen nicht einfach irgendwelche Tschetschenen, sondern stammten aus dem Umfeld von Ramsan Kadyrow, dem Präsidenten der tschetschenischen Autonomieregion. Sie haben dort in Eliteeinheiten gekämpft. Solche Typen würden nicht ohne das Wissen von Kadyrow einen solch bedeutenden Mord begehen. Zweitens ist die Darstellung wenig glaubhaft, die vermeintlichen Täter seien aus Tschetschenien nach Moskau gereist, hätten Nemzow ermordet und seien dann sofort zurück nach Tschetschenien gefahren, wo sie schließlich festgenommen wurden. Denn um einen solchen Mord durchzuführen, bedarf es enormer Vorbereitung. Notwendig ist beispielsweise auch die Unterstützung durch russische Sicherheitskräfte. All das zeigt, dass es mehr Beteiligte an dem Mord gab als nur die Verhafteten. Völlig absurd ist die Behauptung, der Grund für den Mord seien islamophobe Äußerungen Nemzows gewesen. Nemzow war ein Liberaler und hat keine außergewöhnlichen islamophoben Äußerungen getätigt. Er hat auf Facebook gepostet, dass er die Mörder der »Charlie Hebdo«-Redakteure verachte. Doch solche Sätze haben sehr viele Menschen aus Russland formuliert. Außerdem gibt es in Russland wirkliche Islamhasser. Jedes Jahr finden in Moskau Nazidemonstrationen mit vielen tausend Teilnehmenden statt. Dort wird Allah sehr direkt und in einer enorm aggressiven Form beleidigt. Trotzdem bringt niemand die Initiatoren dieser Aufmärsche um. Bemerkenswert an dem Fall ist allerdings, dass die Behörden Personen aus dem Umfeld von Kadyrow festgenommen haben, was wiederum auf ihn zurückfällt – die Schlussfolgerung, dass er hinter dem Mord steckt, ist da nicht weit.

In Moskau trauern Menschen auf der Brücke nahe dem Kreml, auf der Nemzow erschossen wurde

Im Kreml sind die antisozialen Reflexe stark ausgeprägt Einen Tag nach der Ermordung Nemzows fand eine große Demonstration in Moskau statt. Eigentlich war sie als Zeichen gegen den Krieg in der Ukraine gedacht. Ist die dortige Situation nach wie vor ein großes Thema in Russland? Natürlich. Dieses Thema bleibt in den Medien, da russische Soldaten und Kämpfer in die Krise involviert sind. Es existieren viele Berichte darüber, dass wehrdienstleistenden Soldaten massenhaft vorgeschlagen wird – sagen wir: sehr

nachdrücklich vorgeschlagen wird – zu Schulungen in die Rostow-Region zu fahren. Alle, die das machen, wissen, dass sie in den Donbass geschickt werden. Oft wird die Frage gestellt, warum der Westen ständig nach Beweisen für die Anwesenheit von russischen Truppen in der Ukraine sucht, diese Beweise aber nicht liefern kann. Ich habe eine sehr einfache Antwort: In dem Moment, in dem der Westen tatsächlich solche Beweise liefert und damit zeigt, dass Russland in den Krieg involviert ist, sinkt die Möglichkeit für friedliche Verhandlungen auf null. Der Westen will Russland also zu verstehen geben, dass man eigentlich alles weiß, aber die letzte Markierung nicht übertritt, weil man damit rechnet, sich zu einigen. Das ist derselbe Grund, aus dem beispielsweise der ukrainische Präsident Petro Poroschenko nicht sagt, dass sein


Wie glaubst du, geht es in den kommenden Monaten in Russland weiter? Es wird eine schwierige Zeit. Ich erwarte aber nicht, dass das Regime morgen zusammenbricht. Allerdings wird sein Rückhalt immer geringer. Die gegenwärtigen Entwicklungen, die Ermordung Nemzows eingeschlossen, illustrieren die Krise der russischen Machthaber. Das, was Putin als vertikale Macht bezeichnet hat – nämlich die Unterordnung aller Ebenen der Bürokratie unter das Regime – funktioniert nicht mehr. Denn die Ressourcen hierfür schwinden und der Kampf um sie verschärft sich. Werfen wir noch mal einen Blick auf Kadyrows Tschetschenien. Dann sehen wir einen Teil Russlands, den Moskau überhaupt nicht kontrolliert. Es gibt dort keinerlei russische Truppen oder irgendeine Form der russischen Regierung. Die Macht liegt in Händen eines archaischen Clans. Dieser Clan hat zehntausende bewaffnete Menschen unter seiner Kontrolle, die Bärte tragen, für Allah ihre Arbeit machen und Kadyrow untergeben sind. Verstehst du? Vor einigen Monaten hat Kadyrow eine beispielhafte Aktion durchgeführt. Er hat einige Tausend bewaffnete bärtige Männer versammelt, ist vor ihnen aufgetreten und hat gesagt: »Schaut mal, diese Menschen sind echte Patrioten Russlands. Sie lieben Putin sehr. Sie unterstützen die Einheit des Landes.« Warum macht er sowas? Gegenwärtig fließt sehr viel Geld nach Tschetschenien. Kadyrow wollte mit seiner Aktion demonstrieren, was passiert, wenn Moskau seine Unterstützung einstellt. All diese Menschen, die Putin heute so sehr lieben, können schon morgen sagen: Wir sind ein islamisches Volk. Das würde den ganzen Kaukasus destabilisieren.

Denn wenn Kadyrow die Richtung wechselt, wird nicht nur Tschetschenien, sondern auch Dagestan, Inguschetien und die gesamte nordkaukasische Region explodieren. Kadyrows Position ist die eines mächtigen Erpressers. Er verfügt über die Macht, die innere Stabilität Russlands zum Wanken zu bringen. Daneben existieren andere Faktoren, die zur Destabilisierung der Lage in Russland beitragen. Das bürokratische System ist beispielsweise keineswegs einheitlich. Hinzu kommt die Armee mit ihren eigenen Interessen. Hierbei handelt es sich um eine riesige Maschinerie, in der auch die Rüstungsindustrie steckt. Russland ist nach den USA der zweitgrößte Waffenproduzent der Welt. In den vergangenen drei Jahren ist das Rüstungsbudget sogar noch gestiegen. Nachdem die Armeeführung in der Ukraine Blut geleckt hat, wird sie weitere Forderungen stellen. Sie ist nicht interessiert an einer Beendigung des Krieges, sondern will verschiedene Konflikte zuspitzen. Des Weiteren gibt es noch die nichtmilitärischen Sicherheitsdienste, die traditionell Schlüsselpositionen in der russischen Gesellschaft einnehmen. Sie halten sich für die tatsächliche Elite des Landes. Es gibt die großen Unternehmen, die mit der gegenwärtigen Situation unzufrieden sind, es gibt die Staatskonzerne, es gibt verschiedene regionale Eliten und schließlich, auch wenn sie noch stumm bleibt, die massenhafte Unzufriedenheit von unten. Das sind sehr viele Faktoren, die vor Beginn der Krise noch nicht sichtbar waren und deswegen gut nebeneinander existieren konnten. Doch jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem es so nicht weitergehen kann. Gibt es innerhalb der russischen Linken Diskussionen darüber, was nun getan werden muss? Es laufen in der Tat Diskussionen. Allerdings ist die russische Linke weit davon entfernt, einen gemeinsamen Plan zu haben. Es existieren verschiedene taktische Positionen. Die einen, zu denen auch ich mich zähle, sagen, dass wir an den Aktionen teilnehmen müssen, die von den Liberalen dominiert werden, da es die einzigen politischen Ereignisse sind, die in diesem Land stattfinden. Ein Beispiel für solche Aktionen ist der Marsch in Reaktion auf den Mord an Nemzow und gegen

den Krieg in der Ukraine. Keine andere politische Kraft kann vergleichbar viele Menschen auf die Straße bringen wie die Liberalen. Das wird sich in absehbarer Zeit wahrscheinlich auch nicht ändern. Ein anderer Teil der Linken ist eher konservativ eingestellt. Seine Vertreter behaupten, dass die gegenwärtigen Hauptfeinde irgendwelche Oppositionsführer sind. Dementsprechend argumentieren sie dafür, die Volksrepubliken in der Ostukraine zu unterstützen, und dass man sich in dieser Frage mit der Regierung verbünden müsste. Zwischen diesen beiden Positionen in der russischen Linken gibt es ernsthafte Unstimmigkeiten, die immer größer werden. Es ist nicht klar, ob sie in der nächsten Zeit gelöst werden können. Welche Rolle spielen große Demonstrationen wie die gegen den Krieg in der Ukraine? Die radikale Linke unterscheidet sich hier von den Liberalen in ihrem Blick auf diese Demonstrationen. Wir sagen, dass man daran teilnehmen muss, dass es eine wichtige Ausprägung der Straßenpolitik ist, aber solche Demonstrationen allein nicht in der Lage sind, die Politik zu verändern. Unabhängig von ihrer Größe repräsentieren diese Demonstrationen eine Minderheit der Bevölkerung. Um die Mehrheit zu gewinnen, müssen diese Aktionen die soziale Lage in ihren Mittelpunkt stellen. Wir können zwar ständig sagen, dass Demokratie und Menschenrechte wichtig sind. Tatsächlich ist das gerade in Russland sehr wichtig. Aber so werden wir nicht die Mehrheit der Bevölkerung erreichen, die immer stärker unter der ökonomischen Krise leidet und immer schärfer die Ungleichheit der russischen Gesellschaft spürt. Hier gibt es einen Dissens. Denn die führenden Figuren der liberalen Opposition kritisieren den modernen russischen Staat nicht für seine soziale Ungleichheit. Im Gegenteil: Oft sagen sie, dass sie nicht schlecht ist, dass man sie vielleicht sogar vertiefen muss. Sie vertreten ausschließlich Ziele, welche die politische Ordnung betreffen. Damit erreichst du aber nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Wenn diese Bewegung wirkliche Veränderungen erreichen möchte, muss sie nach links gehen. Das ist unsere Position. ■

INTERNATIONALES

Land einen Krieg mit Russland führt. Die Ereignisse im Osten der Ukraine hat er bis jetzt stets als Antiterroreinsatz bezeichnet. Alle versuchen also nicht die letzte Linie zu überschreiten, hinter der man Russland als Aggressor benennt und NatoKampfflugzeuge schickt. Es handelt sich um eine Frage der politischen Balance. Es geht nicht darum, ob der Westen Beweise hat. Denn die drängen sich auf.

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Recht auf Stadt

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Max Manzey ist aktiv bei Die Linke. SDS und in der Initiative Mietenvolksentscheid Berlin.

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Ü

ber 10.000 Zwangsräumungsklagen pro Jahr werden in Berlin eingereicht. Eine Studie der Humboldt-Universität macht den Gipfel des Verdrängungseisbergs sichtbar: Wer die Miete nicht mehr aufbringen kann, wird von der Staatsgewalt geräumt – und das immer häufiger. Doch meist kommt Verdrängung ohne Gerichtsvollzieher aus. Nach und nach verwandeln sich ehemalige Arbeiterviertel in Mittel- und Oberschichtsbezirke. Menschen mit geringem Einkommen finden nur noch Wohnungen am Stadtrand. Dieser »Gentrifizierung« genannte Prozess ist Teil einer umfassenden Veränderung unserer Städte. Die häufig über Jahrzehnte gewachsenen Kiezstrukturen in den Innenstädten werden mit rasender Geschwindigkeit zerstört und durch anonyme Büroanlagen, Einkaufszentren und Luxuswohnungen ersetzt. In Berlin stiegen die Angebotsmieten zwischen 2009 und 2014 um 56 Prozent – in manchen Gegenden, zum Beispiel in Kreuzberg, verdoppelten sie sich sogar. Hamburg, München und Frankfurt verzeichnen schon seit Jahren drastische Mietsteigerungen, aber auch kleinere Städte wie Augsburg oder Kassel (jeweils Steigerungen um 50 Prozent) sind betroffen. Der Deutsche Mieterbund geht da-

von aus, dass sich diese Entwicklung auch in den kommenden Jahren fortsetzen wird. In Deutschland wächst die Wohnungsnot für Geringverdienende, Transferleistungsbeziehende und Studierende. Während durchschnittlich 28 Prozent des Einkommens für die Miete ausgegeben werden, sind es bei armutsgefährdeten Haushalten 50 Prozent und bei armutsgefährdeten Ein-Personen-Haushalten sogar 59 Prozent. Die Ursache dafür liegt in der Funktionsweise des Wohnungsmarkts. Wie jede Ware hat eine Wohnung im Kapitalismus sowohl einen Gebrauchswert (Schlafen, Kochen, Rückzugsort) als auch einen Preis. Während die Mieterinnen und Mieter vor allem am Gebrauch interessiert sind, zählt für die Vermieter letztendlich nur der Gewinn, den sie durch Vermietung oder Verkauf erzielen können. Wohnungen sind für sie eine Kapitalanlage wie jede andere auch; Ziel ist es, eine möglichst hohe Rendite zu erlangen. Deshalb legen private Investoren ihr Geld in den profitträchtigsten Wohnungsmarktsegmenten an und es entsteht ein ständiger Druck, den Profit durch Mieterhöhungen und Luxussanierung zu erhöhen. Aus der Marktlogik ergibt sich, dass die Nachfrage


f u a k r e v s . u . tE Der A StÄ d der Explodierende Mieten und wachsende Wohnungsnot: Der neoliberale Umbau der Städte bedroht immer mehr Menschen. Um sich ihm wirksam entgegenzustellen, sollte man die Ursachen dieser Entwicklung kennen Von Max Manzey

nach günstigen Wohnungen nicht erfüllt wird und Wohnungsnot für Geringverdienende im Kapitalismus die Regel und nicht die Ausnahme ist. Deshalb kommt es zu Gentrifizierung und Verdrängung. Der Stadtsoziologe Andrej Holm definiert Gentrifizierung als einen »stadtteilbezogenen Aufwertungsprozess, bei dem immobilienwirtschaftliche Strategien der Inwertsetzung und/ oder politische Strategien der Aufwertung den Austausch der Bevölkerung für seinen Erfolg voraussetzt«. Das bedeutet, dass die Verdrängung der einkommensschwachen Bevölkerung bewusst vorangetrieben wird, um höhere Zinsen einzustreichen. Stadtforscherinnen und -forscher, die Gentrifizierung nur mit einem postmodernen Wandel von Lebensstilen erklären (»die Menschen wollen wieder in der Stadt wohnen«) und nicht mit den Profitinteressen der Wohnungsbesitzenden, verkennen auch, dass Gentrifizierung nicht erst ein Phänomen der sogenannten Dienstleistungsgesellschaft ist. Engels beschrieb diesen Prozess bereits Mitte des 19. Jahr-

hunderts in seiner Schrift »Zur Wohnungsfrage«: »Das Resultat ist, dass die Arbeiter vom Mittelpunkt der Städte in den Umkreis gedrängt, dass Arbeiterund überhaupt kleinere Wohnungen selten und teuer werden und oft gar nicht zu haben sind, denn unter diesen Verhältnissen wird die Bauindustrie, der teurere Wohnungen ein weit besseres Spekulationsfeld bieten, immer nur ausnahmsweise Arbeiterwohnungen bauen.« Die Lobbyorganisation Haus und Grund behauptet, dass Neubau aktuell erst ab einer Kaltmiete von zehn Euro pro Quadratmeter rentabel sei. Gleichzeitig übernimmt beispielsweise das Jobcenter für Hartz-IV-Beziehende in Berlin nur fünf Euro Miete pro Quadratmeter. Hier wird die gesamte Misere deutlich: Während auf der einen Seite bezahlbare Wohnungen in Luxusappartments umgewandelt werden, findet Neubau nur für die Mittelund Oberschicht statt. Wegen dieser vom Markt erzeugten systematischen Ungleichheit griff der Staat in der Vergangenheit immer wieder ein, um den »sozialen Frieden« auf-

Recht auf Stadt

Der Markt erzeugt systematische Ungleichheit

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rechtzuerhalten. Durch kommunale Wohnungsunternehmen, den sozialen Wohnungsbau und das Wohngeld sollte insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen Wohnraum zur Verfügung gestellt werden. Diese wohnungspolitischen Instrumente waren eine zentrale Säule der »Sozialen Marktwirtschaft« der Nachkriegszeit in Westdeutschland. In der DDR wurde die Wohnraumversorgung komplett staatlich organisiert. Auch die Genossenschaftsbewegung spielte lange Zeit eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Arbeiterklasse mit günstigem Wohnraum. Sie fand jedoch mit der Machtübergabe an die Na-

Hoch mit den Löhnen, runter mit den Mieten

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MARX21LESERINNEN& LESERUMFRAGE Ihr wolltet uns schon immer mal die Meinung sagen? Jetzt habt ihr die Möglichkeit: Um unser Magazin zu verbessern, haben wir eine Umfrage entwickelt. Ihr findet sie auf marx21.de und wir würden uns freuen, wenn möglichst viele von euch daran teilnehmen und uns Feedback geben. Als kleines Dankeschön verlosen wir Jahresabos, Bücher und Poster.

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zis 1933 ein jähes Ende und erholte sich nicht mehr davon. Ab den 1980er Jahren hielt der Neoliberalismus Einzug in die deutsche Wohnungspolitik. Der Staat zog sich aus der Wohnraumversorgung zurück. Während es im Jahr 1987 in Westdeutschland noch 3,9 Millionen Sozialwohnungen gab, waren es 2001 nur noch halb so viele. In den vergangenen zehn Jahren schrumpfte der Bestand bundesweit jährlich um 100.000 Sozialwohnungen. Auch die kommunalen Wohnungsbestände wurden stark abgebaut. Seit den 1990er Jahren wurden beispielsweise in Berlin 200.000 Wohnungen und in Sachsen 50.000 Wohnungen privatisiert. Der Ausverkauf der Stadt und das Ende der sozialen Wohnraumversorgung sind zentrale Gründe für die drastisch steigenden Mieten und die Wohnungsnot der Menschen mit geringem Einkommen. Eine zweite Ursache für die schnellen Mietsteigerungen ist die Wirtschaftskrise. Der marxistische Geograf David Harvey beschreibt in seinen Büchern, wie Spekulationen mit Immobilien ein zentraler Hebel des Kapitals sind, um niedrige Profitraten auszugleichen und krisenhafte Einbrüche hinauszuzögern. Dabei können neue Spekulationsblasen entstehen, die dann wiederum die nächste Krise auslösen. Auch hier lohnt ein Blick in die Geschichte: Als es im Jahr 1848 zu einer der ersten Überakkumulationskrisen des noch jungen Kapitalismus kam, suchte der französische Staatspräsident Charles Louis Napoléon Bonaparte nach einer Lösung für dieses Problem. Um dem überschüssigen Kapital eine Anlagemöglichkeit zu geben, veranlasste er umfangreiche staatliche Infrastrukturmaßnahmen. Bahnstrecken wurden durch ganz Europa gebaut, der Bau des Suezkanals unterstützt, neue Häfen aus dem Erdboden gestampft und vor allem die Stadt Paris einer weitgehenden Transformation unterzogen. Im Jahr

1853 beauftragte Bonaparte, der sich mittlerweile zum Kaiser Napoleon III. hatte ausrufen lassen, den Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann mit der Umstrukturierung von Paris. Die Arbeiterviertel in der Innenstadt wurden abgerissen und prachtvolle Boulevards mit Konsummöglichkeiten für die herrschende Klasse und hochklassige Wohngebiete entstanden an ihrer Stelle. Dies band gewaltige Mengen an Kapital und Arbeitskraft und war so ein zentraler Hebel zur Stabilisierung des Kapitalismus. Arbeiterinnen und Arbeiter wurden aus dem Stadtzentrum vertrieben. Engels erkannte in diesem Vorgehen das Muster kapitalistischer Stadtentwicklung. Er bescheinigte der herrschenden Klasse, sie würde die Wohnungsfrage letztendlich immer durch die »Haussmann-Methode« lösen. Während der Zeit der Pariser Kommune konnten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter einige Jahre später noch einmal für kurze Zeit ihre Stadt zurückerobern. Derselbe Mechanismus lässt sich heute beobachten: Die niedrigen Profitraten und die krisenhafte Situation des Kapitalismus sind wesentliche Faktoren für die weltweite Spekulationen mit Immobilien weltweit und die damit einhergehende eingangs beschriebene tiefgreifende Transformation der Innenstädte. Laut einer Studie von Ernst & Young wurde in Deutschland kurz vor Beginn der Krise 2007 der Rekordbetrag von 65 Milliarden Euro in den Immobilienmarkt investiert. Ein großer Teil dieser Gelder floss in den Aufkauf ehemals öffentlicher Wohnungsbestände. Auch in diesem Jahr werden voraussichtlich wieder 50 Milliarden Euro – vor allem in hochpreisige Immobilien und Umwandlungen – investiert werden (seit neuestem steigt auch das chinesische Kapital ein). Doch nicht nur die Geldmenge hat sich verändert, sondern auch die Akteure: Anstelle von regional handelnden Wohnungseigentümern sind es heute verstärkt große Immobilienfonds und Banken, die direkt auf dem Wohnungsmarkt agieren (»Finanzialisierung«) – in der Regel mit deutlich höheren Renditeerwartungen als die traditionellen Akteure. Der Rückzug des Staats aus der Wohnraumversorgung, die Privatisierung öffentlicher, günstiger Wohnungen und der Anstieg von Immobilienspekulationen im Zeichen der Wirtschaftskrise sind die zentralen Triebkräfte der aktuellen Zuspitzung auf dem Wohnungsmarkt. Da der kapitalistische Wohnungsmarkt nicht dazu in der Lage ist, der Wohnungsnot zu abzuhelfen, bietet nur die Dekommodifizierung, also der Entzug von Wohnungen aus dem privaten Wohnungsmarkt, und letztendlich die Vergesellschaftung von Wohnraum eine Lösung. Doch die neoliberale Stadtentwicklung trifft auf Widerstand. Vom Kampf der Mieteninitiative Kotti&Co am Kottbusser Tor in Berlin bis zu den Protesten ge-


Die Linke, groß und klein geschrieben, steht heute vor der Aufgabe, Teil dieser Bewegungen zu werden und auf Augenhöhe daran mitzuwirken. Der Kampf um das »Recht auf Stadt« bedeutet, zu Ende gedacht, nichts weniger als den Bruch mit dem Kapitalismus. Dieser kann jedoch nur möglich werden, wenn die unterschiedlichen sozialen Bewegungen der Arbeiterklasse zusammenwirken. DIE LINKE sollte darum Teil der gewerkschaftlichen und stadtpolitischen Auseinandersetzungen sein, einen Beitrag zur Verknüpfung dieser Bewegungen leisten und auf der Straße den Slogan »Hoch mit den Löhnen, runter mit den Miete« als Ausgangspunkt einer sozialistischen Perspektive begreifen. ■

Recht auf Stadt

© Rasande Tyskar CC BY-NC / flickr.com © Bert Verhoeff / Anefo / Dutch National Archives / CC BY-SA / Wikimedia

gen die Bebauung des Gezi-Parks mit einem Einkaufszentrum in Istanbul: Die letzten Jahre waren weltweit von urbanen Gegenbewegungen geprägt, die sich gegen Mietsteigerungen und Verdrängung, gegen den Verlust gewachsener städtischer Kultur oder gegen die Bebauung von öffentlichem Raum und Grünflächen mit Luxusklötzen wehren. Der Soziologe Henri Lefebvre analysierte bereits in den 1960er Jahren, dass die sozialen Auseinandersetzungen um das »Recht auf Stadt« – also letztendlich um das Recht, selbst bestimmen zu dürfen, wie und wo wir in der Stadt leben wollen – eine zentrale Achse für zukünftige Klassenauseinandersetzungen sein würde. Dabei stehen diese Bewegungen vor großen Herausforderungen: Während der Kampf um höhere Löhne von – zumindest potenziell – durchsetzungsstarken Organisationen, den Gewerkschaften, vorangetrieben wird, sind stadtpolitische Initiativen von einer Fragmentierung der Kämpfe und einem geringen Organisationsgrad geprägt. Dies geht einher mit fehlenden Druckmitteln gegenüber den Hausbesitzern und Immobilienspekulanten – ein »Mietstreikrecht« gibt es nicht. Dennoch können die stadtpolitischen Initiativen – gerade auch wegen des niedrigen Grads von Institutionalisierung – zu Laboratorien von Widerstands- und Organisierungsformen mit großer Bedeutung für soziale Kämpfe in anderen Bereichen werden.

Links: Henri Lefebvre schrieb schon in den 1960er Jahren, dass die Klassenauseinandersetzung anhand der Wohnungsfrage und des Rechts auf selbstbestimmtes Wohnen aufkommen werde. Rechts: »Esso-Häuser erhalten!« Performance und Aktion des Megafonchors Hamburg-St. Pauli gegen die Zerstörung der Esso-Häuser an der Reeperbahn. Kaum etwas symbolisiert den Wandel St. Paulis zum Investorenviertel so sehr wie deren Abriss. Trotz der Proteste ließ der Senat die Häuser dem Erdboden gleichgemachen

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Recht auf Stadt

»Wir wollen unseren Kiez nicht den Investoren und Spekulanten überlassen« Im April startete in Berlin die Kampagne für den »Mietenvolksentscheid«. Durch ihn soll ein »Gesetz über die Neuausrichtung der sozialen Wohnraumversorgung in Berlin« durchgesetzt werden. Moritz Wittler ist von Anfang an dabei Interview: Klaus-Dieter Heiser Moritz, wie lief der Start des Mietenvolksentscheids? Bei sonnigem Wetter hatten wir einen grandiosen Auftakt. Schon am ersten Tag gab es eine sehr große Bereitschaft, sich einzubringen, aktiv zu werden und Unterschriften zu sammeln. Die Reaktionen der Passanten waren durchweg positiv. Nahezu alle sind von steigenden Mieten betroffen oder kennen jemanden, der betroffen ist. Der Druck der Mietsteigerungen ist in den Kiezen, in denen wir unterwegs waren, geradezu greifbar. Bereits am ersten Tag der Kampagne haben sich mehr als 3000 Berlinerinnen und Berliner in die Unterschriftenlisten eingetragen. Wie habt ihr das organisiert? Zu Beginn haben wir insbesondere in den Kiezen gesammelt, die am stärksten von Mietsteigerungen betroffen sind. Bereits bevor der konkrete Gesetzestext feststand, gab es die Idee, den Volksentscheid vor Ort zu verankern und mit anderen stadtpolitischen Auseinandersetzungen zu verknüpfen. Entsprechend haben wir in Neukölln verschiedene Personen aus anderen stadtpolitischen Initiativen angesprochen und gemeinsam mit ihnen zu einem ersten Kiezgruppentreffen eingeladen. Obwohl wenig Zeit zur Mobilisierung blieb, kamen rund fünfzig

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Moritz Wittler

Moritz Wittler ist Sprecher der LINKEN in Berlin-Neukölln.

Interessierte. Dort haben wir gemeinsam Ideen gesammelt, wie wir den Kampagnenauftakt gestalten und dazu konkrete Verabredungen getroffen. Die Diskussionen fanden in Kleingruppen statt. Viele, die das erste Mal aktiv sind, haben sich eingebracht und Aufgaben übernommen. Welche Erwartungen haben Mieterinnen und Mieter, wenn sie sich in die Unterschriftenlisten eintragen? Mit ihrer Unterschrift drücken sie zunächst grundsätzlich die Haltung aus, etwas gegen die Untätigkeit der Politik gegen steigende Mieten und Verdrängung zu unternehmen. Sie fordern das Recht darauf ein, in ihren Kiezen wohnen zu bleiben, ohne dafür ihr letztes Hemd geben zu müssen. Die Wohnungen und Stadtteile sollen nicht den Investoren und Spekulanten überlassen werden. Tatsächlich würde das Gesetz auch dazu führen, dass Wohnungen dem Markt entzogen werden können. Doch ist denen, die unterschreiben, auch bewusst, dass dieses Gesetz nur ein Schritt sein kann. Ihr habt nicht nur auf der Straße Unterschriften gesammelt, sondern auch in Cafés und Kneipen. Was habt ihr dort erlebt? Auch die Kneipentour hatten wir bei dem Kiezgruppentreffen verabredet und vor-


Treffen der Kiezgruppe in Neukölln für das Mieten-Volksbegehren: Viele Menschen sind zum ersten Mal dabei, bringen sich ein und übernehmen Aufgaben

DIE LINKE muss tatkräftiger Teil des Widerstands sein

bereitet. Wir sind in kleinen Gruppen von Kneipe zu Kneipe gezogen. Dort haben wir uns stets Zeit genommen, den Wirten oder Barkeepern unser Anliegen zu erläutern und sie selbst von dem Volksentscheid zu überzeugen. In den meisten Fällen durften wir ein Klemmbrett mit Unterschriftenlisten ablegen und ein Plakat aufhängen. Dabei kam uns auch zugute, dass zumindest in den studentisch geprägten Bars schon bei anderen Volksentscheiden Listen ausgelegt waren. Dieses Mal haben wir auch die »gewöhnlichen Eckkneipen« aufgesucht. Auch hier waren wir erfolgreich. Oft mussten wir aber länger erklären, was der Volksentscheid konkret bewirkt. Am interessantesten war eine Kneipe, dessen Wirt zunächst den Flyer aufmerksam durchgelesen hat. Er fragte nach und auch einige Gäste mischten sich ein. Am

DIE LINKE unterstützt das Bündnis für den Mietenvolksentscheid, das vorwiegend von Mieterinitiativen und -organisationen getragen wird. Wie wirken Mitglieder der Partei in der Kampagne mit? Unsere Basisorganisationen haben Veranstaltungen zur Vorbereitung auf den Volksentscheid organisiert und an den Infoständen dafür geworben, sich aktiv daran zu beteiligen. Wir haben in unserer Bezirkszeitung Artikel zum Thema veröffentlicht. Jetzt sammeln wir fleißig Unterschriften. Wir planen auch noch, weitergehendes Material zu erstellen, etwa eine Broschüre, die auf die folgenden Fragen eingeht: Was haben die Mietsteigerungen in unserem Kiez mit der Banken- und Eurokrise zu tun? Wie lässt sich gesellschaftlich sicherstellen, dass ausreichend Wohnungen für alle zur Verfügung stehen? In Neukölln haben wir die Kiezgruppe mit ins Leben gerufen. Unsere Mitglieder bringen sich bei den Treffen ein, machen Vorschläge und übernehmen Aufgaben. Gerade die Erfahrungen aus den vorangegangenen Volksentscheiden, etwa »100 Prozent Tempelhofer Feld«, können hierbei fruchtbar gemacht werden. Als LINKE stellen wir in der Kiezgruppe das gemeinsame Ziel nach vorne, eine kraftvolle und breite Kampagne zu entwickeln und am Ende den Volksentscheid zu gewinnen. Hat Dir schon mal jemand vorgeworfen, dass DIE LINKE selbst an Privatisierungen von Wohnraum beteiligt war, als sie in Berlin noch mitregiert hat? Wie bist du damit umgegangen? Ja, das kommt vor. Ich sage, dass der Verkauf ein großer Fehler war, und versuche es gar nicht erst zu rechtfertigen. In der gesamten Partei hat sich diese Einsicht inzwischen durchgesetzt. So etwas darf nie wieder vorkommen. Wir können als LINKE das Vertrauen in der Stadt nur zurückgewinnen, wenn wir beweisen, dass wir ein tatkräftiger Teil des Widerstands gegen den Ausverkauf der Stadt sind. Auch beim Mietenvolksentscheid. ■ ★ ★★ Weiterlesen http://mietenvolksentscheidberlin.de www.die-linke-neukoelln.de

Recht auf Stadt

© Klaus-Dieter Heiser

Ende hat der Wirt mir ein Plakat aus der Hand genommen und eigenhändig an die Eingangstür gehängt.

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NOLYMPIA

Feuerlöscher benötigt Ganz Hamburg ist »Feuer und Flamme« für die Olympischen Sommerspiele 2024. Diesen Eindruck möchte jedenfalls der Senat erwecken. Die nächsten Monate werden entscheidend sein, um die Opposition dagegen sichtbar zu machen Von Christoph Timann

W

as sie nicht alles versprechen: Hamburg wird den »Sprung über die Elbe« schaffen, marode Sportstätten werden saniert, die Stadt bekommt ein modernes öffentliches Schwimmbad, die Wohnungsnot wird gelindert, und sowieso wird die Jugend für den Sport begeistert. Alles dank der Olympischen Spiele. Der Größenwahn, der seit einigen Jahren eigentlich immer bei der Olympia-Vergabe zu beobachten war, spricht für den Hamburger Senat nicht etwa gegen eine Bewerbung. Im Gegenteil: Er wird zu dem Argument gewendet, Hamburg könne zeigen, dass es anders geht, indem es die »nachhaltigsten Spiele aller Zeiten« veranstaltet. Das soll heißen, dass die Hansestadt nicht auf den ungenutzten Gebäuden und deren Baukosten sitzenbleiben wird, wie man es zum Beispiel aus Athen kennt: Der »Olympia-Dome« soll in ein Kreuzfahrtterminal verwandelt werden, die Schwimmhalle in ein Erlebnisbad, und das Olympiastadion soll von 70.000 auf 20.000 Plätze zurückgebaut werden, sodass es als Sportstätte für den Hochschulsport nutzbar wird.

fizit von 37 Millionen Euro beschert hat. Der Senat hatte freilich vorher mit einem Gewinn gerechnet. Es ist zwar schön, dass die Stadt die Schwimmhalle nach den Spielen in ein Erlebnisbad verwandeln will. Doch sollte hier durchaus die Nachfrage gestattet sein, warum sie überhaupt Bäder schließt – wie aktuell beim Freibad Ohlsdorf geplant. Ohnehin sind die Eintrittspreise dermaßen gestiegen, dass sich viele Familien den Besuch überhaupt nicht mehr leisten können. Nicht zuletzt ist es recht zweifelhaft, ob die angeblich durch die Spiele bewirkte Förderung des Breiten- und Schulsports überhaupt in allen Stadtteilen ankommen wird. Die drohende Verschärfung der Gentrifizierung, die in vielen Stadtteilen schon jetzt anhand steigender Mieten und der Verdrängung von alteingesessenen Geschäften spür- und messbar ist, ist ein weiterer Grund, die Bewerbung abzulehnen. In London beispielsweise hat Olympia die Mieten überproportional steigen lassen. Für den Hamburger Senat aber gilt auch hier das Gegenteil: Olympia erlaubt angeblich den Bau von 6000 zusätzlichen Wohnungen, und die sollen wiederum helfen, den Anstieg der Mieten zu bremsen. Aber ganz abgesehen von der Frage, ob die Preisfindung auf dem Wohnungsmarkt überhaupt so schlicht funktioniert, ist nicht einzusehen, warum die dringend benötigten zusätzlichen Wohnungen nur mit Olympia möglich sein sollen. Hamburg ist eine sozial tief gespaltene Stadt mit einer Armutsquote von 16,9 Prozent (Quelle: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband). Ein erheblicher Teil der Bevölkerung könnte sich also sowieso niemals die Ticketpreise leisten, die das IOC für den

NOlympia ist ein Kampf um die öffentliche Meinung

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Christoph Timann ist Mitglied im Bezirksvorstand der LINKEN in Hamburg-Nord.

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Doch in einer Stadt, in der schon die Kosten für die Errichtung eines einzigen Gebäudes explodieren, besteht wenig Grund, an die angekündigte Bescheidenheit und Nachhaltigkeit zu glauben. Schon jetzt ist klar, dass die Elbphilharmonie mehr als das Zehnfache der ursprünglich geplanten 77 Millionen Euro kosten wird. Der erhoffte »Sprung über die Elbe«, die Anbindung des Stadtteils Wilhelmsburg, war übrigens bereits im Jahr 2013 Ziel der Internationalen Gartenschau, die der Stadt Hamburg ein De-


Doch glücklicherweise lässt sich das alles noch verhindern. Die Bewerbung Hamburgs hängt an einem Referendum, das im Herbst stattfindet. Am 15. September müssen die Stadt und der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) beim IOC die Bewerbung einreichen. Allerdings ist schon jetzt klar, dass das Referendum frühestens im November stattfinden wird, denn es erfordert nichts Geringeres als eine Änderung der Verfassung, die »von oben« initiierte Volksentscheide bislang nicht vorsieht. Es spricht daher alles dafür, dass Stadt und DOSB die Bewerbung in der Hoffnung einreichen werden, sie im Nachhinein durch ein positives Referendum zu legitimieren. Das könnte allerdings ziemlich peinlich enden. Eine viel wichtigere Voraussetzung für das Referendum ist aber inhaltlicher Natur: Die Abstimmung ist nur dann sinnvoll und in einem nachvollziehbaren Sinn demokratisch, wenn die Hamburgerinnen und Hamburger vor dem Hintergrund völliger Kostentransparenz entscheiden können. Das erfordert mehr als eine in den Raum geworfene Zahl, sondern die Stadt muss ein umfassendes und überprüfbares Finanzkonzept vorlegen. An dieser Frage muss die Olympia-Opposition, in der Bürgerschaft allein durch DIE LINKE vertreten, eine doppelte Strategie verfolgen: Wenn kein Finanzkonzept vorgelegt wird oder zu spät, müssen wir diese Tatsache skandalisieren. Sobald das Konzept vorliegt, müssen wir die veranschlagten Kosten immer wieder »ins Verhältnis setzen zu den ungedeckten Bedarfen in Sozialwesen und Breitensport«, wie es in einer gemeinsamen Resolution der LINKEN in Hamburg und SchleswigHolstein formuliert wird. Beispielhaft können wir dann thematisieren, wie viele Sozialwohnungen einem Olympiastadion entsprechen oder wie viele Kita-Erzieher und Lehrer vom Budget für das »Olympische Dorf« bezahlt werden könnten. Verschärfend wird bei den Kosten hinzukommen, dass die Schuldenbremse im Olympiajahr 2024 bindend sein wird. Diese Tatsache dient dem Senat zwar als Argument pro Spiele, da so angeblich sichergestellt ist, dass sich die Stadt nicht verschulden wird. In der Konsequenz wird das aber dazu führen, dass die Kürzungen, die mit der Schuldenbremse legitimiert werden, noch deutlich zunehmen werden.

Denn Olympische Spiele belasten erfahrungsgemäß etwa zehn Jahre lang den Haushalt der Ausrichterstadt. Die Auseinandersetzung mit den Befürwortern der Spiele wird nicht einfach. Denn wir haben es mit einem breit aufgestellten Gegner zu tun. Selbst die Grünen, gegen die »Gefahrengebiete« und bei der Kampagne für den Rückkauf der Energienetze noch ein verlässlicher Partner, stehen in der Olympia-Frage auf der Gegenseite.

Der Kampf um Olympia wird daher auch ein Kampf um die öffentliche Meinung. Denn der Senat hat mit der Hamburger Sparkasse, dem Nahverkehr und öffentlichen Betrieben wie der Müllabfuhr omnipräsente Werbeträger in seine Kampagne eingespannt. Es wird ziemlich viele Plakate, Aufkleber, Flugblätter, Infostände und kreative Aktionen erfordern, um hier ein Gegengewicht zu etablieren. Das ist eine große Aufgabe, kann sich aber auch zu einer großen Chance entwickeln, wenn wir das Bewusstsein entwickeln, dass dies die Einbindung vieler Aktivistinnen und Aktivisten erfordert – weit über die Kreise der aktiven LINKE-Mitglieder hinaus. Allzu schlecht stehen unsere Chancen nicht. Die Veröffentlichung des »Host-City-Vertrags«, mit dem das IOC der Ausrichter-Stadt sämtliche Bedingungen diktiert, hat beispielsweise in Oslo zu einer kompletten Abkehr von einem möglichen OlympiaAbenteuer geführt. Zuletzt befürworteten etwa 65 Prozent der befragten Hamburgerinnen und Hamburger die Olympia-Bewerbung – ähnliche Werte gab es 2013 in München, bevor eine breit getragene Kampagne die Kandidatur für die Winterspiele im Jahr 2022 verhinderte. Auch in Boston, einem anderen potenziellen Bewerber für 2024, schwinden die Zustimmungswerte. Das erhöht zwar einerseits die Gefahr für Hamburg, andererseits vergrößert es den Spielraum für kritische Nachfragen, warum andere Städte sich diesen Irrsinn nicht gefallen lassen wollen. ■

Olympisches Gewitter: Symbol der Gegenkampagne in Boston. Die Stadt an der Ostküste der USA gilt als Favorit für die Austragung der Spiele im Jahr 2024. Doch auch hier regt sich Widerstand. Mittlerweile vernetzen sich die Aktivistinnen und Aktivisten der verschiedenen Bewerberstädten auch untereinander

★ ★★ ANKLICKEN http://nolympia-hamburg.de/ www.etwasbesseresalsolympia.org/ www.linksfraktionhamburg.de

NOLYMPIA

Besuch seiner Veranstaltungen verlangt. Zynisch wird es, wenn der Senat behauptet, alle Hamburger würden von Olympia profitieren – zur Not, indem sie ihre Wohnung während der Spiele untervermieten. Eine weitere Gefahr droht aus dem Sicherheitsbereich: Olympia würde Hamburg in eine quasi-militärische Hochsicherheitszone verwandeln. Von den Ausmaßen, die das annehmen wird, haben die Bewohnerinnen und Bewohner der Hamburger »Gefahrengebiete« im Januar 2014 bereits einen Vorgeschmack bekommen.

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Was WILL MARX21?

Das Projekt marx21 Wir sind mehr als nur ein Magazin. Hunderte Aktivistinnen und Aktivisten arbeiten zusammen, um als Netzwerk in der LINKEN die Tradition des revolutionären Sozialismus wiederzubeleben. Hier stellen wir uns vor

M

arx21 ist ein Netzwerk von Aktivistinnen und Aktivisten in der Partei DIE LINKE und im Studierendenverband Die Linke.SDS. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, die nach den sozialen und ökologischen Bedürfnissen der Menschen organisiert ist anstatt nach Profitinteressen. Wir meinen: Eine solche Gesellschaft lässt sich nicht durch Parlamentsbeschlüsse herbeiführen, da die Kapitalistenklasse und der Staatsapparat weitgehend unabhängig von demokratischer Kontrolle agieren. Um diese Klassenherrschaft herauszufordern, sind die Kämpfe der Arbeiterbewegung entscheidend. Arbeiterinnen und Arbeiter – darunter verstehen wir die große Mehrheit der lohnabhängig Beschäftigten – können dem Kapitalismus ein Ende bereiten, wenn sie ihre kollektive Stärke zur Geltung bringen. Deshalb wirkt das marx21-Netzwerk darauf hin, den klassenkämpferischen Flügel innerhalb der LINKEN zu stärken. Wir sind in der LINKEN aktiv, weil sie die erste gesellschaftlich relevante sozialistische Partei in der Geschichte der Bundesrepublik ist. Sie verfügt über das Potenzial, die Vorherrschaft der SPD und der von ihr vertretenen sozialpartnerschaftlichen Ideen in der Arbeiterbewegung herauszufordern. Zahlreiche Gewerkschaftsaktivistinnen und -aktivisten und etliche Betriebsräte sind Mitglied der Partei, deren Programm deutlich Stellung gegen die herrschenden Verhältnisse bezieht. Es ist allerdings keine Selbstverständ-

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lichkeit, dass DIE LINKE ihr Potenzial als Motor von Klassenkämpfen tatsächlich ausspielt. Denn auch sie ist vielfältigen Integrationsmechanismen in das kapitalistische Gesellschaftssystem unterworfen. Der Parlamentarismus begünstigt beispielsweise eine Stellvertreterpolitik, in der Abgeordnete und Experten das politische Geschäft fragmentiert und spezialisiert in Arbeitsbereichen und Ausschüssen betreiben. Die Partei erscheint hier als parlamentarischer Repräsentant statt als Akteur gesellschaftlicher Mobilisierung. Auch innerhalb der Anhängerschaft der LINKEN ist die Vorstellung weit verbreitet, dass sich gesellschaftliche Veränderungen wesentlich über die Parlamente vollziehen – anstatt durch außerparlamentarische Auseinandersetzungen. Dem hat DIE LINKE bisher zu wenig entgegengesetzt. Im Vorfeld der Bundestagswahl des Jahres 2007 gegründet, hat sie bis heute keine überzeugende Antwort auf die Frage gefunden, wie sich Parlamentsarbeit mit außerparlamentarischer Bewegung verbinden lässt. Es ist ein Problem, wenn die Partei nur in den Wahlkampfphasen richtig zum Leben erwacht – und nicht denselben Einsatz in Kämpfen gegen Mieterhöhungen, Privatisierungen oder Entlassungen entfaltet wie vor einer Bundestagswahl. Das bedeutet nicht, dass DIE LINKE keinen Wahlkampf führen sollte. Im Gegenteil: Die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit dieser Phasen sollte sie

Die Arbeit der LINKEN muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden

KONTAKT marx21 - Netzwerk für Internationalen Sozialismus Postfach 44 03 46, 12003 Berlin Telefon: 030 / 89 56 25 11 Mail: info@marx21.de www.marx21.de facebook/marx21.de twitter.com/marx21de


dazu nutzen, ihre Mitglieder zu aktivieren und außerparlamentarischen Widerstand aufzubauen. Wahlerfolge und parlamentarische Repräsentanz können den Klassenkampf also durchaus stärken. Doch braucht die Partei eine breite und aktive Basis, um eine kampagnenorientierte Parlamentspolitik machen zu können. Denn sie ist nur mit einem organisierten Unterbau mobilisierungsfähig. Außerdem wird sie so weniger abhängig von der (Nicht-)Berichterstattung durch die Mainstreammedien.

Zudem versteht das Netzwerk es als seine Aufgabe, seine Unterstützerinnen und Unterstützer zur Aneignung und eigenständigen Entwicklung antikapitalistischer Theorie zu befähigen. Marxistische

Das marx21-Netzwerk in Aktion: Mobilisierung für den Kongress »MARX IS’ MUSS« Grundbildung und Debatten um politische Streitfragen wollen wir beispielsweise durch Lesekreise und den jährlich stattfindenden Kongress »MARX IS‘ MUSS« fördern. Auf unserer Homepage, in unserem Magazin, in der Theoriezeitschrift theorie21 und in weiteren Publikationen beziehen wir Position zu wichtigen gesellschaftlichen Debatten. In unserem Netzwerk arbeiten Menschen zusammen, die aus unterschiedlichen marxistischen Traditionen stam-

men und dementsprechend bisweilen voneinander abweichende Sichtweisen auf die historischen Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung haben. Diese Vielfalt wollen wir nutzen, um gemeinsam wirksame Strategien für die politischen Aufgaben unserer Zeit zu entwickeln. Durch kollektive Diskussion und Intervention wollen wir als marx21 dazu beitragen, den revolutionär-sozialistischen Kern innerhalb der LINKEN weiter aufzubauen. Mach mit! ■

WAS WILL MARX21?

Das marx21-Netzwerk hat sich die Aufgabe gestellt, sich in der LINKEN für eine solche Herangehensweise einzusetzen. Wir machen uns für eine kampagnenorientierte Arbeitsweise stark: DIE LINKE muss dort handlungsfähig werden, wo sich gesellschaftliche Konflikte zuspitzen, wo Widersprüche aufbrechen, wo Bewegung entsteht. Sie darf sich nicht im parlamentarischen Alltag verzetteln. Konkret argumentieren wir dafür, dass sie zu wichtigen Protestaktionen wie Blockupy mobilisiert. Darüber hinaus wirkt marx21 darauf hin, dass DIE LINKE aktiv Verbindungen zu betrieblichen Kämpfen aufnimmt, in gewerkschaftspolitische Debatten eingreift und kämpferische Kolleginnen und Kollegen zum Parteieintritt bewegt.

© marx21

Um ihrer Rolle als sozialistischer Kraft gerecht zu werden, muss DIE LINKE ganz anders sein als die etablierten Parteien. Ihr zentrales Aktionsfeld sollte deshalb nicht das Parlament, sondern die Straßen und Betriebe sein. Selbstverständlich engagieren sich schon jetzt viele Mitglieder und ganze Parteigliederungen in außerparlamentarischen Initiativen. Doch fehlt die Ausrichtung der Gesamtpartei darauf. Inhaltlich sollte die Partei stärkere grundsätzliche Kritik am Kapitalismus äußern und diese auch in die konkreten Reformkämpfen einbringen. Die Arbeit der LINKEN muss vom Kopf auf die Füße gestellt und von Basis, Bewegung und Widerstand her gedacht werden – in der Kommune, im Land und auf Bundesebene.

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MARX21 Online Antonella Muzzupappa widerlegt gemeinsam mit Sabine Nuss Mythen über die Situation in Griechenland Holger Mueller auf unserer Website Papier ist geduldig. 0 ·26. Februar um 23:52 Uhr

TOP TEN

Februar/März/April

Thomas Ragnar auf unserer Website Ich muss wirklich sagen, dass man auch ab und zu auch bei den Linken mal etwas Sinnvolles in Erfahrung bringen kann. 1 ·5. Februar um 06:46 Uhr

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Nina Heist auf unserer Website Wehret den Anfängen. Diese scheiß Biedermänner und geistigen Brandstifter! 0·10. April 19:20 Uhr

Andreas Fischer auf unserer Facebook-Seite Also sind Pegidianer jetzt doch religiöse Nazis? 0·13. Januar 14:06 Uhr

ONLINE ANGEKLICKT marx21.de bei twitter: ★ minus 57 Follower in den letzten zwei Monaten (3941 Follower insgesamt)

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Ausblick auf das zweite Halbjahr: Ende Juli veranstaltet das Netzwerk marx21 eine Sommerakademie und lädt im Herbst alle Unterstützerinnen und Unterstützer zur bundesweiten Vollversammlung ein

D

er Kongress »MARX IS‘ MUSS« ist eines der Großprojekte unseres Netzwerks in der ersten Jahreshälfte. Ob bei den Anti-Pegida-Demonstrationen, den Blockupy-Protesten oder den Solidaritätsaktionen für die streikenden Erzieherinnen und Erzieher: Wir waren dabei und haben auch für unseren Kongress geworben. Insgesamt haben wir 115.000 Flyer verteilt, 50.000 Aufkleber gedruckt und 5000 Plakate aufgehängt. Angesichts von bereits 460 Voranmeldungen (Stand: 27. April) verspricht er ähnlich groß zu werden wie im vergangenen Jahr, wo 725 Personen teilnahmen. Unser nächstes Projekt ist dann die marx21-Sommerakademie, zu der wir euch herzlich einladen wollen. Sie findet vom 29. Juli bis zum 2. August in Klein Dammerow in Mecklenburg-Vorpommern statt und wird von Studierenden im Netzwerk organisiert. Es wird Veranstaltungen zu drei Themen geben: »Frauenbefreiung«, »Klassentheorie und Gewerkschaften« sowie »Rassismus und Faschismus«. In kleinen Workshops und gemeinsamen Abendpodien wollen wir so dem angepassten UniAlltag inhaltlich etwas entgegensetzen. Wenn du teilnehmen möchtest, dann schreib eine Mail mit dem Betreff »Sommerakademie« an info@ marx21.de. Du bekommst dann das

Programm und alle weiteren Informationen zugeschickt. Etwas später im Jahr findet die marx21-Unterstützerversammlung statt, nämlich vom 11. bis zum 13. September – und erstmals in Nordrhein-Westfalen. Sie ist das höchste beschlussfassende Gremium unseres Netzwerks. Alle Unterstützerinnen und Unterstützer sind eingeladen, daran teilzunehmen. Ziel des Treffens ist es, eine gemeinsame Einschätzung der politischen Lage und der Perspektiven für die kommenden Monate zu entwickeln. Sicherlich werden die zunehmenden außenpolitischen Konflikte, die Pegida-Bewegung, aber auch Erfreuliches wie der Wahlsieg von Syriza oder die Streikbewegung der Beschäftigten der Sozial- und Erziehungsdienste eine Rolle spielen. Außerdem wollen wir Gewerkschaftsstrategien diskutierten und uns die Frage stellen, wo DIE LINKE steht. Hier soll insbesondere die Frage geklärt werden, wie wir als Linke auf die zunehmende Zahl kleiner Konflikte reagieren können, oder auf die positive Streikentwicklung im Dienstleistungsbereich – bei gleichzeitiger Stagnation in den großen Bereichen der IG-Metall. Zum Abschluss der Versammlung wird der neue marx21Koordinierungskreis gewählt. Die wichtigsten Weichenstellungen werden wir auf marx21.de dokumentieren. ■

BadenWürttemberg Julia (Freiburg) jt.meier@gmx.de Bayern Max (München) maxsteininger@gmx.de Berlin / Mecklenburg-Vorpommern Silke (Berlin) marx21berlin@yahoo.de Brandenburg Anne (Zossen) annekathrinmueller@gmx.net Hamburg Christoph (Hamburg) marx21.hamburg@gmx.de Hessen Christoph (Frankfurt) choffmeier@hotmail.com Niedersachsen / Bremen Dieter (Hannover) dieter.hannover@email.de NordrheinWestfalen Azad (Duisburg) azad@marx21.de Rheinland-Pfalz / Saarland Mayzar (Kaiserslautern) mazyar.rahmani@gmail.com Sachsen Einde (Chemnitz) einde@gmx.de Sachsen-Anhalt Anne (Halle) anne.geschonneck@gmail.com SchleswigHolstein Mona (Lübeck) mona-isabell@mittelstein.name Thüringen Marco (Pössneck) m21@ celticlandy.de

WAS MACHT MARX21?

Gemeinsam Perspektiven entwickeln

marx21 vor Ort

Was macht Marx21?

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© Michael Bruns / CC BY / flickr.com

BETRIEB & GEwerkschaft

DIE LINKE muss sich einmischen Die Linkspartei zählt eine beachtliche Zahl aktiver Gewerkschaftsmitglieder und Betriebsräte in ihren Reihen. Doch welchen Beitrag kann sie zu einer kämpferischen Gewerkschaftspolitik beitragen? Vier Thesen Von Jürgen Ehlers und Yaak Pabst

1.

DIE LINKE interveniert bislang zu wenig in gewerkschaftliche Kämpfe. Doch ohne eine organisierte Opposition von unten, die für eine sozialistische statt korporatistische Politik eintritt, wird der Niedergang der Gewerkschaften anhalten. Dieser lähmt zudem auch DIE LINKE, die ohne außerparlamentarische Klassenkämpfe nur leere Wahlversprechungen machen kann. Die Gewerkschaften in Deutschland befinden sich in der Defensive. Die tiefen Einschnitte in den sozialen Sicherungssystemen, verbunden mit sogenannten Arbeitsmarktreformen, haben dazu geführt, dass Deutschland über den größten Niedriglohnsektor in Europa verfüg. Fast ein Viertel aller Beschäftigten sind inzwischen davon betroffen, die Tendenz

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ist weiter steigend. Während in den anderen Ländern die Wirtschaft stagniert, weist die deutsche Industrie seit vielen Jahren einen hohen Exportüberschuss aus. Der Niedriglohnsektor, die Befristung von Arbeitsverhältnissen, die Rente mit 67 und vieles mehr sind die Basis eines wirtschaftlichen Erfolgs, von dem nur wenige profitieren. Die Auseinandersetzungen um das Herzstück dieser Grausamkeiten, der Einführung von Hartz IV vor zehn Jahren, war die Geburtsstunde der heutigen LINKEN. Eine entscheidende Rolle spielten dabei Gewerkschaftssekretäre, die zum linken Flügel der SPD gehörten. Sie beteiligten sich am Aufbau einer politischen Alternative, nachdem es dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder gelang, die »Agenda 2010« gegen lautstarken Protest in der SPD und der Gesellschaft durchzusetzen.


umkrempeln. Und dabei spielt die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit eine entscheidende Rolle. Deshalb sind die Gewerkschaften für uns nicht irgendein Bündnispartner, sondern ein besonders wichtiger Bezugspunkt. Und natürlich wollen Linke einen Beitrag dazu leisten, die Konfliktorientierung und Politisierung der Gewerkschaften voranzutreiben. Ebenso wie die Sozialdemokratie ihre Aufgabe darin sieht, in den Gewerkschaften eine stärker korporatistische Politik zu vertreten.« Doch um eine solche Politik umzusetzen, muss DIE LINKE neue Wege in der Gewerkschaftsarbeit gehen.

Doch die Hoffnung, die in der propagierten These »Je stärker die LINKE, desto sozialer das Land« zum Ausdruck kam, ist enttäuscht worden. Der Sozialabbau ist trotz des Aufstiegs der LINKEN unvermindert weitergegangen. Die Aufbruchstimmung der frühen Jahre ist verflogen, weil sich die Hoffnungen auf schnelle Veränderungen der politischen Verhältnisse nach den ersten Wahlerfolgen nicht erfüllt haben. Stattdessen hat sich Ernüchterung breit gemacht. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und das niedrige Niveau der Klassenkämpfe bestimmen die Situation, in der sich DIE LINKE befindet. Aber es sind nicht allein die objektiven Verhältnisse, sondern auch die oft ausgebliebenen oder unzulänglichen Bemühungen der Partei, Motor von Veränderungen unter den vorgefundenen schwierigen Bedingungen zu sein. Das gilt besonders für die Gewerkschaftsbewegung. Denn ohne die massenhafte Aktivität von Beschäftigten wird auch DIE LINKE im Parlament kaum etwas verändern können. Eine andere, klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik ist nötig, wenn sie Wahlkampfparolen wie »Harz IV muss weg!« in die Tat umsetzen will. Genau hier setzen die Überlegungen der beiden Parteivorsitzenden an. In ihrem Strategiepapier schreiben Katja Kipping und Bernd Riexinger, ehemaliger Gewerkschaftssekretär bei ver.di in Stuttgart: »Linke Politik will die gesellschaftlichen Verhältnisse

Die DGB-Gewerkschaften verstehen sich als Einheitsgewerkschaften. Sie sind nicht an eine bestimmte Partei gebunden und werden auch nicht von politischen Parteien finanziert. Doch sie sind kein parteipolitisch freier Raum. Historisch bestehen besonders enge Beziehungen zur Sozialdemokratie. So ist der von 2002 bis 2014 amtierende DGBVorsitzende Michael Sommer seit 1981 Mitglied der SPD und war zeitweilig kooptiertes Mitglied des Parteirats. Auch fast alle Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften gehören der Sozialdemokratie an. Eine Ausnahme ist der Vorsitzende von ver.di, Frank Bsirske, der Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen ist. Seit Jahrzehnten ist die SPD der konkurrenzlose politische Bezugspunkt der Gewerkschaften im Parlament gewesen. Jede Regierung, an der die Sozialdemokratie beteiligt war, konnte im Gegenzug immer auf eine weitgehende Loyalität der Gewerkschaftsführungen bauen. Auch beim Kampf gegen die Hartz-IV-Gesetzgebung im Jahr 2004 hat das eine entscheidende Rolle gespielt, es blieb im Wesentlichen beim verbalen Protest der DGB-Gewerkschaften. Als sich die Chance zu einer Zuspitzung und damit verbunden eine Kraftprobe mit der SPD-Regierung bot, zogen sie sich zurück, weil ihre Führungen einen Kontrollverlust fürchteten. Mit Gründung der Linkspartei hat sich an der privilegierten Partnerschaft zwischen Gewerkschaften und SPD nicht viel geändert. Zwar hat die Sozialdemokratie einen Teil ihrer Kontrolle über die unteren und mittleren Funktionärsschichten verloren. Das ist schon ein wichtiger Erfolg der LINKEN. Doch wenn Teile des

★ ★★

Jürgen Ehlers ist Mitgliedder LINKEN in Frankfurt am Main.

★ ★★

Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21.

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

2.

In Deutschland gibt es zwar keine politischen Richtungsgewerkschaften. Doch zwischen SPD und DGBGewerkschaften ist historisch eine »privilegierte Partnerschaft« gewachsen. Die sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionäre wollen mehrheitlich Ordnungsfaktoren sein und eine Vermittlerrolle zwischen Kapital und Arbeit einnehmen. Diese sozialpartnerschaftliche Ausrichtung steht einer auf Streiks und Konflikte setzenden Gewerkschaftsstrategie im Weg. DIE LINKE sollte das nicht kampflos hinnehmen.

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Umorientierung der Gewerkschaften wird ohne eine Änderung ihrer inneren Struktur kaum gelingen. Ihre politische Wiederbelebung erfordert die Politisierung der Mitglieder, die Öffnung für neue soziale Gruppen, eine neue Bündnisfähigkeit und die bewusste Weiterentwicklung der innergewerkschaftlichen Demokratie. DIE LINKE sollte sich hier einmischen und für diejenigen ein Kraftzentrum darstellen, die für diese demokratische Erneuerung kämpfen.

© Stephan Röhl / Heinrich Böll Stiftung / CC BY-SA / Wikimedia

Ex-DGB Chef Michael Sommer bei einer Pressekonferenz. Der von 2002 bis 2014 amtierende DGBVorsitzende Michael Sommer ist seit 1981 Mitglied der SPD und war zeitweilig kooptiertes Mitglied des Parteirats. Die enge Bindung der Gewerkschaften an die Sozialdemokratie ist eine Herausforderung für die LINKE

DIE LINKE muss ihre Gewerkschaftsstrategie verändern Gewerkschaftsapparats bei Arbeitskämpfen keine Berührungsängste mit der LINKEN haben und Angebote zur Unterstützung aus deren Reihen gerne annehmen, ist das noch kein Signal für die Bereitschaft, weitergehende Veränderungen zu initiieren. Denn diese Funktionäre stehen selbst häufig unter starkem politischen Druck und sind oft »Gefangene« der Apparate, deren »Politik« sie vertreten müssen, selbst wenn sie diese kritisieren. In ihrem Strategiepapier beschreiben Riexinger und Kipping die Aufgaben der LINKEN in den Gewerkschaften wie folgt: »Auch in den Gewerkschaften wird um unterschiedliche Strategien gerungen. Wir sind darin nicht selbstverständlich auf der Seite der Vorstände und offiziellen Verlautbarungen: Wir stehen innerhalb der Gewerkschaften auf Seiten derer, die die Spaltungen von Prekären und Kernbelegschaften bekämpfen, die keinen Frieden mit dem Niedriglohn machen, die an den Perspektiven internationaler Solidarität festhalten und sich dem Standortwettbewerb entgegenstellen und die an Alternativen zur Rüstungsindustrie arbeiten wollen.« Dem ist zuzustimmen. Denn das vergangene Jahrzehnt war vor allem von der weitgehend kampflosen Kapitulation der Gewerkschaften vor einem sozialdemokratischen »Thatcherismus« geprägt. Eine

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3.

DIE LINKE muss ihre Gewerkschaftsstrategie verändern. Wenn sie die Sozialdemokratie herausfordern will, muss sie mehr sein als nur ein Sprachrohr der Gewerkschaften im parlamentarisch-politischen Raum. Notwendig ist ein Bruch mit der Vorstellung, dass Gewerkschaftspolitik und allgemeine Politik zwei voneinander getrennte Sphären sind. DIE LINKE hat sich durch ihre Solidaritätsarbeit vor Ort vielfach einen guten Namen gemacht. Abgeordnete sind zu den Streiks gegangen und haben sich solidarisiert. Die Partei hat im Bundestag und in den Landtagen aktuelle Stunden zur Unterstützung der Streikenden genutzt oder durch ihre Pressearbeit geholfen. Funktionäre und einfache Mitglieder haben praktische Solidarität geleistet. Manchmal führte dies auch zum Eintritt von Streikaktivistinnen und -aktivisten in der LINKEN. Allerdings interveniert die LINKE bislang viel zu wenig in diese Kämpfe. Sie diskutiert zu wenig über die Erfahrungen aus diesen Kämpfen und versucht zu selten, diese zu verallgemeinern. Woran liegt das? Ein gewichtiger Grund ist, dass manche prominente Gewerkschafter in der LINKEN die Partei leider nur als »Sprachrohr« der Gewerkschaften im parlamentarisch-politischen Raum verstehen. Genau diese Arbeitsteilung führt dazu, dass sich die Mitglieder der LINKEN nicht in den Gewerkschaften für eine Politik einsetzen, die darauf ausgerichtet ist, den Krisenkorporatismus durch eine konfliktorientierte Interessenvertretung abzulösen. So bleiben auch in der LINKEN viele Gewerkschafter in einer programmistischen Strategie verfangen. Damit ist gemeint, dass sie ihre Aufgabe vor allem darin sehen, gewerkschaftliche Forderungen in der LINKEN und durch die LINKE zu verteidigen und zu vertreten. Das ist nicht falsch, eine solche Strategie bleibt jedoch auf den parlamentarisch-politischen Raum beschränkt und schneidet sich von breiteren gesellschaftlichen Kämpfen und Kampagnen ab. So hat beispielsweise der Kampf von ver.di für eine Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste eine unmittelbare politische Dimension. Es geht um den Stellenwert der Sozial- und Erziehungsarbeit in der Bildungspolitik, es geht aber auch um die schlechte


4.

DIE LINKE kann zur Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung einen wichtigen Beitrag leisten. Sie sollte zu einem Vernetzungs- und Lernraum für kämpferische Betriebsaktivistinnen und Betriebsaktivisten werden. Bernd Riexinger schreibt, DIE LINKE sollte »Motor von sozialen Bewegungen« werden. Wenn die Partei diesen Anspruch einlösen will, dann muss sie sich nicht nur in Diskussionen einmischen, sondern vor allem auch Kämpfe unterstützen. Nur das schafft die Voraussetzung, Diskussionen über die Perspektive einer Gewerkschaftspolitik, die ohne Stellvertretertum auskommt, in einem größeren Kreis zu führen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind mehrere Schritte notwendig. Einige sind bereits erfolgreich ausprobiert worden, jedoch ohne dass die positiven Erfahrungen in der Partei eine breite Wirkung entfaltet hätten. Die beiden Konferenzen unter dem Titel »Erneuerung durch Streik« haben einen wichtigen Beitrag geleistet, um Erfahrungen auszutauschen und Anregungen zu vermitteln. Die eigentliche Arbeit allerdings muss an der Parteibasis geleistet werden, wenn es gelingen soll, praktische Solidarität mit kämpfenden Belegschaften zu leisten. Nur darüber kann die Partei zu einem Anziehungspunkt für kämpferische Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter werden, die sich vernetzen, weil sie weitergehende Perspektiven diskutieren wollen und dabei die LINKE als wichtigen Partner kennengelernt haben. Im Thesenpapier der beiden Parteivorsitzenden wird dieser Ansatz für eine grundlegende Veränderung der Parteiarbeit so beschrieben: »DIE LINKE will die politischen Verhältnisse nach links verschieben und die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft verändern, zu Gunsten von Gewerkschaften, sozia-

len Bewegungen, Bürgerinitiativen, Selbsthilfeorganisationen, usw. Sie geht dabei grundsätzlich von einem emanzipatorischen Verständnis aus, das auf die Selbstorganisation, Bewegung und Tätigkeit der Menschen selbst setzt. Die Partei DIE LINKE sieht sich so nicht als Stellvertreterpartei, sondern als Organisation, die den Menschen in ihren Kämpfen und Auseinandersetzungen für soziale, demokratische, ökologische Rechte und Forderungen nützlich ist.« DIE LINKE hat in ihren Reihen viele aktive Gewerkschaftsmitglieder, Betriebsräte, Vertrauensleute und hauptamtliche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die oft über jahrzehntelange politische Erfahrung verfügen. Aber nicht alle teilen die Vorstellung von einer anderen Gewerkschaftspolitik. Zugleich gibt es Gewerkschaftsaktive außerhalb der LINKEN, die die Gewerkschaftsarbeit der Partei genau beobachten und bisher zu der Einschätzung gekommen sind, dass sie ihnen gegenwärtig keine Hilfe sein kann. Wenn es gelingt, diese durch Solidaritätsarbeit und Diskussionsangebote davon zu überzeugen, mitzumachen, kann eine Dynamik entstehen, die den einen oder anderen Skeptiker in den eigenen Reihen zum Nachdenken bewegt. ■

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Haushaltslage vieler Kommunen. Diese ist sicherlich nicht das Ergebnis überzogener Gehälter im öffentlichen Dienst, sondern die Folge einer Steuerpolitik, die gezielt die Unternehmen entlastet hat, um sie international wettbewerbsfähiger zu machen. Die 2009 beschlossene Schuldenbremse engt die finanziellen Spielräume noch weiter ein. DIE LINKE sollte versuchen, politische Mobilisierung und die Dynamik von Tarifbewegungen miteinander zu kombinieren. Die parlamentarisch-politische Position, die sie erobert hat, sollte sie nutzen, um die außerparlamentarischen Kämpfe zu unterstützen, ohne diese zu dominieren oder zu bevormunden. Eine Taktik unserer Partei, die dieses Ziel nicht verfolgt, ist reine Zeitverschwendung. Denn sie wird uns selbst dem kleinen Ziel, die Verarmungsund Verelendungsprozesse aufzuhalten, nicht näher bringen. Die Menschen, die heute ihre Hoffnungen auf uns setzen, würden sich wieder enttäuscht abwenden.

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KULTUR

Kreativität zu verkaufen Kunst steht immer in einem schwierigen Verhältnis zum Kapitalismus. Künstlerische Bewegungen, die der Rebellion gegen die Verhältnisse Ausdruck verleihen, werden nicht selten vom Kapital vereinnahmt

D

er russische Revolutionär Leo Trotzki zeigte sich sein ganzes Leben lang an Kunst interessiert. Er nahm nach der Revolution von 1917 in Russland an Debatten über das Wesen von Kunst, Poesie, Kino und Literatur teil. Er reiste während des folgenden Bürgerkriegs kreuz und quer mit einem Panzerzug der Roten Armee durch das Land, der mit modernster Malerei versehen und mit einer Bibliothek und einem Kino ausgestattet war. Dieses mobile Kommandozentrum diente zugleich als fliegendes Agitproptheater, als Ort zur Förderung der Revolution unter Einsatz vielfältiger Kunstformen. Als Trotzki im Verlauf der Stalin’schen Konterrevolution ins Exil getrieben wurde, debattierte er mit den Surrealisten, die sich ihrerseits der von Trotzki gegründeten Vierten Internationale anschlossen. Das im Jahr 1938 verfasste »Manifest für eine unabhängige revolutionäre Kunst« des mexikanischen Malers Diego Rivera und des französischen Schriftstellers André Breton war in weiten Teilen von Trotzki verfasst worden. Trotzkis Beiträge zur Kultur sind für uns heute noch erkenntnisreich. Im Jahr 1938 schrieb er, der Mensch drücke »in der Kunst sein Verlangen nach einem harmonischen und erfüllten Leben aus«, dessen ihn »die Klassengesellschaft beraubt. Deswegen enthält jedes echte Kunstwerk immer einen Protest gegen die Wirklichkeit.« Die bürgerliche Gesellschaft verstehe es, durch Unterdrückung und Ermunterung, Boykott und Schmeichelei, »jede ›rebellierende‹ künstlerische Be-

Übersetzung: Rosemarie Nünning wegung zu kontrollieren, zu assimilieren und auf das Niveau der offiziellen ‚Anerkennung‘ zu heben«. In diesem Augenblick, so Trotzki, »erhob sich dann vom linken Flügel der legalisierten Schule her oder von unten (…) eine neue rebellierende Bewegung«. Kurz gesagt, der Kapitalismus verfügt über große Fähigkeiten, neuen Angriffen nicht nur zu trotzen und sie zu unterdrücken, sondern sie auch zu vereinnahmen und zu neutralisieren. Der schockierende Angriff des letzten Jahres ist heute der letzte Schrei und ruft morgen nur noch ein müdes Lächeln hervor. Was sich aber nie zu ändern scheint, ist die unablässige Suche des Kapitalismus nach dem Neuen. Häufig ist es eher trivial, manchmal jedoch eröffnet es neue Sichtweisen auf tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. Der Kunstkritiker John Berger sprach im Jahr 1979 für eine ganze Generation von Künstlern der 1960er Jahre, als er sagte, dass »Kunst und Privateigentum oder Kunst und Staatseigentum nicht miteinander vereinbar sind. Eigentum muss vernichtet werden, damit die Vorstellungskraft sich weiter entfalten kann«. Die Funktion der Kunstkritik bestehe »in der Aufrechterhaltung des Kunstmarkts«. Deswegen bringe er für »destruktive Künstler sehr viel mehr Toleranz auf«. Schon bald geriet diese Sichtweise wieder in Vergessenheit. Sie war ein Abgesang auf eine Zeit, als im Rahmen der größeren Revol-

Street-Art des britischen Künstlers Banksy in London: Kinder hissen an einer zum Fahnenmast umfunktionierten Kabelleitung eine Plastiktüte der Supermarktkette Tesco. In Anspielung auf deren Kampagne »Every little helps« nannte Banksy sein Werk »Very little helps«

KULTUR

Von Noel Halifax

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ten der 1960er und 1970er Jahre das Establishment mittels Kunst angegriffen wurde. Schauen wir heute zurück, nimmt es nicht Wunder, dass so viele von den damaligen Massenbewegungen wie der gegen den Vietnamkrieg, den Massenstreiks in Frankreich 1968 oder denen des italienischen »heißen Herbsts« im Jahr 1969 erfasst wurden. Fast alle Künstlerinnen und Künstler begriffen sich als Teil dieser allgemeinen Revolte. Viele versuchten, sich mit ihrem Lebensstil und ihrer Kunst dem Kapitalismus zu entziehen oder gegen den Kapitalismus gerichtete Kunst zu machen. Bohemeviertel wie in der Lower East Side in New York Ende der 1960er entstanden. Einige glaubten sogar, die Situationisten hätten mit ihren Kunstaktionen in Straßburg im Jahr 1966 den Anstoß für die Ereignisse in Paris 1968 gegeben, und sie versuchten die Revolution durch ähnliche Aktionen anzufachen. Yippies umringten das Pentagon, riefen »Weicht, Dämonen, weicht!« und wollten das Gebäude zum Schweben bringen. Im gesellschaftlichen Aufbruch der 1960er und 1970er Jahre gab es auch verschiedenste Versuche der Subversion des Markts und der Kunst als Ware. Jean Tinguely stellte Skulpturen her, die sich selbst zerstörten, und Richard Longs »Skulpturen« bestanden aus Wanderungen durch die Landschaft. »Happenings« wurden ein wesentliches Kennzeichen der Kunstszene der 1960er Jahre in New York und London, in den 1970er Jahren in Westberlin und Wien – wobei die »Wiener Aktionisten« mit unflätigen, wüsten und gewalttätigen Aufführungen Aufsehen erregten. All dies stellte bis zu einem gewissen Grad die Ablehnung der Idee von Kunst als Ware dar. Und doch wird diese Kunst heute gehandelt, aufbewahrt und konserviert von dem riesigen und noch wachsenden Kunstmarkt. Das scheinbar Unmögliche ist möglich geworden. Das »Happening« wurde eingefroren und für den Markt konserviert. Karl Marx und Friedrich Engels schrieben im »Manifest der Kommunistischen Partei«: »Alles Ständische und Stehende verdampft.« Dem Kunstmarkt ist das Gegenteil gelungen: Er hat alles Verdampfende in eine feste Form und in eine Ware verwandelt.

Über ihn wurden britische Künstler wie Paolozzi mit der Collage bekannt. Unter anderem Peter Blake und Pauline Boty griffen diesen Stil auf. Britische Pop Art versuchte, die Barrieren zwischen Hoch- und Populärkultur einzureißen, indem sie auf satirische Weise Werbung und Kommerz aufs Korn nahm, war jedoch beschränkt auf die visuelle Kunst und Skulptur. In den USA war Pop Art größer und mutiger angelegt – wie ein Vergleich der Arbeit Roy Lichtensteins mit der von Blake zeigt. Andy Warhol bezog außerdem Poesie, Film, Musik, Tanz, Happenings mit ein – im Prinzip das ganze Leben. Warhol schuf in The Factory (Die Fabrik) eine alternative Welt für Außenseiter. In der Factory ließ Warhol massenhaft Druckkopien von Teams herstellen, die an seiner Stelle signierten – die Reproduktion ist per se potenziell subversiv gegenüber einer Vorstellung von Kunst als einem einmaligen Werk. The Factory war Heimat für die Außenseiter der Gesellschaft in doppeltem Sinn: Warhols Ausstellung »Ten Most Wanted Men« bestand aus riesigen Porträts der vom FBI meistgesuchten Männer. Es war gleichzeitig ein Wortspiel, da »wanted« auch sexuell attraktiv bedeutet. Mit den Transvestiten, Drogenabhängigen, Strichjungen als Helden seiner Filme verhöhnte Warhol den Kapitalismus und seine Kunst. Warhols Film »Lonesome Cowboys« ist ein Western mit bekifften Transvestiten und Strichjungen – eine Parodie auf den damaligen Westernfilmhelden John Wayne. Der Großteil von Warhols frühen Arbeiten hatte diese subversive Note des Straßenlebens in New York in einer Zeit der Revolte. Die Factory hatte aber immer auch etwas von einer Freakshow – das Kunstestablishment begibt sich in die Niederungen des einfachen Lebens. Nachdem diese Kunst zunächst ignoriert und dann angenommen wurde, geriet sie in den 1980er Jahren in die Fänge des Kunstmarkts. Das ironische Spiel mit Hollywood verwandelte sich in das wahre Hollywoodleben: Jetzt spielte es sich im Nachtclub der Prominenten ab, dem Studio 54. Warhol machte sich gelegentlich immer noch lustig über das Kunstestablishment, zum Beispiel mit seinen Pissbildern, hergestellt durch Urinieren auf Kupferplatten – womit er den Postexpressionismus verarschen wollte. Dennoch war seine Kunst jetzt zahmer und spiegelte neue Zeiten wider – das Zeitalter eines Ronald Reagans und des neuen Kalten Kriegs. Diese Kunst wurde von vornherein für den Markt produziert. Das galt noch viel mehr für spätere Popkünstler wie Jeff Koons.

Der Kunstkapitalismus ist in seine imperialistische Phase getreten

★ ★★ Zum text Der Artikel erschien erstmals im Januar 2014 in der englischen Zeitschrift »Socialist Review«. Wir veröffentlichen eine leicht gekürzte Version.

Das zeigt die Geschichte der Pop Art. Sie hatte gleich zwei Geburtsstätten: Anfang der 1950er Jahre in Großbritannien und Mitte der 1950er Jahr in den USA. In Großbritannien gab es Verbindungen zur radikalen Kunsttradition der Weimarer Republik in der Person Kurt Schwitters’, der dort im Exil lebte.

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nen satirischen Angriff auf die Supermarktkette Tesco mit ihrer Kampagne »Every little helps« (Jedes bisschen hilft) dar. Es war eine Sensation. Der Eigentümer der Mauer hinderte die Verwaltung daran, die Mauer gleich zu säubern, während Kunstexperten Interviews zur Echtheit der Arbeit gaben. Dann schützte der Mauerbesitzer das Werk mit einer Kunststoffscheibe, die zehn Tage später von einem konkurrierenden Künstler, der meinte, Banksy habe sich verkauft, verunstaltet wurde. In den Lokalmedien gab es heiße Debatten über die Eigentumsfrage. Auf diese Weise entwickelte sich das Ganze zu einer wunderbaren Kunstperformance über den Irrsinn der Kunstwelt. Derzeit versucht der Kunstmarkt »Außenseiterkunst« aufzusaugen. Dabei geht es nicht nur um »naive« Kunst von »Amateuren«, sondern um Leute mit Lernschwierigkeiten, Verhaltens- oder psychischen Auffälligkeiten, die nicht selten in Pflegeheimen leben. Jetzt hat sich ein blühender Markt zur Ausbeutung dieser neuen Projekte entwickelt. Der Kunstkapitalismus ist in seine imperialistische Phase eingetreten und auf der Suche nach neuen lukrativen Feldern.

Dennoch können wir nicht von einem uneingeschränkten Siegeszug des Geldes sprechen. Es Erst ignorierte Freakshow, später Kunstmarktikone. Andy Warhols Kunst im gibt Anzeichen dafür, dass sich Wandel das Zeitalter der »Sensation« (so lautete der Titel der YBAAusstellung von 1997) dem Ende zuneigt. Selbst in der müden alten Welt der Insgesamt gesehen beschäftigt sich Kunst nur noch Pop Art zeigen sich neue subversive Formen. Mike mit sich selbst: Der Künstler ist das Kunstwerk. Der Kelley versah seine Themen mit einer sehr viel düsGroßteil des Werks Anthony Gormleys besteht aus tereren und grimmigeren Note. Im Jahr 2013 nahm Gipsabdrücken seines eigenen Körpers. Manchmal er sich das Leben, aber die Künstlerszene von Los handelt es sich um den Künstler als Kommentator Angeles, der er angehörte, greift ähnliche Themen der Gesellschaft – wie Gilbert und George – oder es auf, wie die Arbeiten von Ron Athey, Paul McCarthy werden Aspekte von Unterdrückung im heutigen Leund anderen zeigen. ben dargestellt – wie Tracy Emins Bett. Viele Künstler denken wieder über ihren eigenen Mit dem ausufernden Kunstmarkt gibt es das BestreKörper hinaus, wie der chinesische Dissident Ai ben, alles zu vereinnahmen. Ab den 1990er Jahren Weiwei oder Jeremy Deller, der andere und ihren fochten Straßenkünstler einen Guerillakrieg mit der Kampf und die Kritik an den Reichen in den MittelPolizei, der Stadtverwaltung und ihren speziellen punkt stellt. Graffitibekämpfungsteams aus, während gleichzeiAuch der Arabische Frühling hat einen Reichtum an tig die Kunstgeier über diesem Schlachtfeld kreisten, widerständiger Kunst hervorgebracht. Trotzki sagum sich die Kunstwerke anzueignen, ehe sie weggete einst, Kunst kann keine Revolution vollziehen, sie schrubbt werden. kann jedoch wie eine Schwalbe den Frühling ankünDer Graffitikünstler Banksy hat auf witzige und subdigen, und wir könnten an der Schwelle zu einem versive Weise auf der Klaviatur dieses Systems geAufstand gegen »offiziell anerkannte Kunst« stespielt. Im Jahr 2008 erschien über Nacht ein Graffihen. Die Herrschaft der Ironie und des allwissenden to von ihm auf einer Mauer in London mit dem Titel Spotts befinden sich auf dem Rückzug. ■ »Very little helps« (Sehr wenig hilft). Es stellte ei-

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MARX21LESERINNEN& LESERUMFRAGE Ihr wolltet uns schon immer mal die Meinung sagen? Jetzt habt ihr die Möglichkeit: Um unser Magazin zu verbessern, haben wir eine Umfrage entwickelt. Ihr findet sie auf marx21.de und wir würden uns freuen, wenn möglichst viele von euch daran teilnehmen und uns Feedback geben. Als kleines Dankeschön verlosen wir Jahresabos, Bücher und Poster.

KULTUR

In Großbritannien kamen Ende der 1980er Jahre die Young British Artists (YBAs) zu Ruhm. Unter diesem Sammelbegriff wurden Künstler unterschiedlichster Stile zusammengefasst. Aber einiges verband sie doch miteinander: Der Markt wurde nicht mehr infrage gestellt, sondern angenommen. Das Ziel lautete nunmehr: Werde reich und berühmt! Idealismus war out, Ironie war in. Mit Damien Hirst verwandelte sich die Ironie des 20. in den Zynismus des 21. Jahrhunderts. Kunstakademien lehrten jetzt Kunst als Aufstiegsmöglichkeit. Gleichzeitig kam die Figur des Kurators auf, der darüber entscheidet, was Kunst ist und wie sie zu verstehen sei – also Kunstkauderwelsch über Kunstwerke.

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© Leo Kofler Gesellschaft e.V.

Review


Buch

Christoph Jünke | Leo Koflers Philosophie der Praxis

Ein sozialistischer Wanderprediger Leo Kofler war einer der innovativsten marxistischen Theoretiker der Nachkriegszeit. Ein neues Buch lädt dazu ein, sein vielfältiges Werk wiederzuentdecken Von Alexander Schröder Wie diese Vertreter des »westlichen Marxismus« bewies auch Kofler in Opposition zur Sozialdemokratie und der Bürokratie im Ostblock Originalität. Dies stellt Jünke in einem Kapitel wunderbar dar. Kofler formulierte eine »reformkommunistische« Kritik des Stalinismus als einer bürokratischen Praxis und Herrschaftsideologie, die den Marxismus ebenso wie den Menschen entstelle. Entstanden sei er als Folge der Rückständigkeit und Isoliertheit Sowjetrusslands – und nicht etwa aus der Theorie des Marxismus, wie liberale Kritiker unterstellten. Auch Koflers Lehre vom Menschen ist beachtenswert. Trotz aller Rückschläge versteht er die Geschichte als ein Erklimmen immer höherer Stufen von Freiheit. Ohne einen humanistischen Maßstab fehle der Gesellschaftskritik ein fester Boden und sie könne nur schwer gegen ein zynisches Menschenbild argumentieren. Denn wozu Ungerechtigkeiten bekämpfen, wenn Rassismus und Ausbeutung zur Natur des Menschen gehören? Koflers Anthropologie erklärt, warum die »Utopie« kollektiver Selbstverwirklichung im Sozialismus gar nicht so utopisch ist. Mit seiner Theorie der »progressiven Elite« nahm Kofler

bereits in den 1950er Jahren die Entstehung der Neuen Linken vorweg. Ihm zufolge gab es auch im »Katastrophenjahrhundert« immer vereinzelte Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler und Unangepasste, die zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankend der Gesellschaft den Spiegel vorhielten. Darüber hinaus entwickelte Kofler die marxistische Ästhetik von Georg Lukács weiter und problematisierte den Pessimismus bei Sartre oder den Optimismus bei Brecht. Koflers gesamtes Werk zeugt von seinem Glauben an die Menschheit und die historische Mission der Sozialistinnen und Sozialisten. Jünke ist mit »Leo Koflers Philosophie der Praxis« eine knapp gehaltene Einführung gelungen. Zusammen mit dem Sammelband »Zur Kritik bürgerlicher Freiheit« ist sie eine gute Wahl, um Koflers Marxismus zu entdecken. Angesichts der Dominanz pessimistischer Ideen (auch in der Linken) kommt dieses Buch zur rechten Zeit. ■

★ ★★ Buch | Christoph Jünke | Leo Koflers Philosophie der Praxis | Laika Verlag Hamburg 2015 | 232 Seiten | 18,90 Euro

REVIEW

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er Historiker Christoph Jünke hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Werk des Sozialphilosophen Leo Kofler vor dem Vergessen zu retten. Mit seinem neuen Buch will er den marxistischen Denker einem breiteren Publikum vorstellen. »Leo Koflers Philosophie der Praxis« führt in das Marxismusverständnis und die Stalinismuskritik Koflers ein und stellt seine Theorien zur Ästhetik und Anthropologie vor. Dabei geht Jünke auch auf den zeit- und lebensgeschichtlichen Kontext ein. Im Jahr 1907 als Sohn jüdischer Eltern geboren, wurde Kofler im »Roten Wien« zum Anhänger der Marxismus. Nachdem er den Nazis knapp entkommen war, erhielt er für kurze Zeit eine Professur in der DDR. Wegen seiner Kritik an der Bürokratie musste er jedoch bald nach Köln ausweichen und betätigte sich nun als eine Art sozialistischer Wanderprediger. Für SDS-Gruppen, an Volkshochschulen und bei den Gewerkschaften wurde Kofler zur gern gesehenen Koryphäe eines undogmatischen Marxismus. Erst in den 1970er Jahren konnte er an der Universität Bochum erneut akademisch Fuß fassen, jedoch ohne den Bekanntheitsgrad eines Lukács, Bloch oder Marcuse zu erreichen.

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ls ich meiner Großmutter auf dem Feld half, konnte ich die Drohne sehen und hörte sie über unsere Köpfe schwirren, aber ich machte mir keine Sorgen. Warum sollte ich? Weder meine Großmutter noch ich waren Kämpfer. Als die Drohne dann das erste mal schoss, bebte die ganze Erde und schwarzer Rauch stieg auf. Wir rannten, aber nach einigen Minuten schoss die Drohne erneut. Inzwischen mag ich bewölkte Tage lieber. Wenn der Himmel aufklart und blau wird, kommen die Drohnen zurück und mit ihnen die Angst.« Aussagen wie die des 13-jährigen Pakistani Zubair Rehman, der an jenem Tag seine Großmutter verlor, führen vor Augen, wie bereitwillig der Westen in seinem globalen »Krieg gegen den Terror« zivile Opfer in Kauf nimmt. Und wenn man jenen Bericht im Booklet des neuen Anti-Flag-Albums »American Spring« liest, bekommt die Singleauskopplung »Sky Is Falling« eine ganz neue, grausige Bedeutung. Nicht Zukunftspessimismus oder die gallische Angst, einem könne der Himmel auf den Kopf fallen, sind hier gemeint, sondern die für viele Menschen in Pakistan, Afghanistan, Somalia und Jemen ebenso allgegenwärtige Angst vor Angriffen durch »unmanned aircraft systems«, sogenannte Kampfdrohnen. Die seit über zwanzig Jahren bestehende Punkband Anti-Flag aus Pittsburgh hat mit ihrem zehnten Studioalbum quasi gleich zwei, sich ideal ergänzende Werke geschaffen. Neben der Musik begeistert das erwähnte Beiheft zum Album: eine Collage aus Hintergrundinformationen, Buchtipps, Songtexten, Zeitungsartikeln und Polemiken. Das Cover ziert auf der Vorderseite eine mit dunklem

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Anti-Flag | American Spring

ALBUM DES MONATS Kämpfen für einen amerikanischen Frühling: Anti-Flag zeigen sich auf ihrem zehnten Studioalbum weiterhin durchweg politisch Von David Jeikowski

★ ★★ ALBUM | Anti-Flag | American Spring | Spinefarm Records 2015 Hidschab verschleierte Frau, die Rückseite ein US-Soldat in Kampfmontur. Bei beiden verbirgt sich das Gesicht hinter einer rosafarbenen Blume, die zerspringt und sich quer über das Bild verteilt. So wie ein Arabischer Frühling lange unmöglich schien und dann doch gelang, ist auch ein amerikanischer machbar, scheinen uns Cover und Albumtitel zu sagen. Musikalischer Aufmacher ist dann »Fabled World«, ein insgesamt sehr eingängiger PopPunk-Song nach bekanntem Anti-Flag-Rezept. Kurze Riffs und ein voranpreschendes Schlagzeug reißen einen in Sekundenschnelle mit, lange Mitgröhl-Passagen im Refrain bleiben im Ohr – bei Zeilen wie »Wir leben in einer sagenhaften Welt / in der die Armen und Schwachen /

nur Schachfiguren der Profite willen sind« aus agitatorischen Gründen gar nicht so unclever.Im nächsten Song wird dann noch weniger lange gefackelt: »Du hattest nie eine Chance, du warst bereits tot, als du kamst / (...) und sie kommen, um uns zu holen und all die, denen wir vertrauen«. Dabei drischt ein Schlagzeug auf etwas unvorbereitete Trommelfelle. Nicht nur metaphorisch zwischen den Zeilen krächzt ein Stimme sowohl Analyse als auch Ausweg aus der Misere: »Class war to the n’th degree« – grenzenloser Klassenkampf. Die nötige Verschnaufpause folgt dann im gleichnamigen Track unter dem »Brandenburg Gate«, hier Sinnbild für globale wie persönliche Wiedervereinigung. Tatkräftige Unterstützung bekommt An-

ti-Flag in diesem, nach heiterer Vorfreude klingendem Lied von Punk-Legende Tim Armstrong von der Band Rancid. Spannend ist auch »The Debate Is Over (If You Want It)«, ein Song, der maßgeblich von Naomi Kleins Buch »Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima« inspiriert ist. Ähnlich musikalisch euphorisiert wie unter der Berliner Quadriga beschreibt Sänger Justin Sane das sich ihm bietende Naturspektakel: »Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich wirklich frei / durch die sauber gerodeten Wälder das vergiftete Meer zu sehen / zu sehen, wie das Wasser die Ufer von Jersey übertritt«. Er konterkariert damit den Begriff der Freiheit, wie er von neoliberalen Denkfabriken und sogenannten Klimaskeptikern gerne genutzt wird und doch nur eine wirtschaftliche Freiheit meint und so die Klimaerwärmung immer weiter voran treibt. Auch dem »grünen Kapitalismus« wird eine Absage erteilt: »Kauf einfach eine andere Lampe / oder fahr ein anderes Auto / aber verändere nichts am Aufbau dieser Wirtschaft.« Ein weiterer Anspieltipp ist das aufrührerische »Break something«, in dem den in den Strophen beschrieben Machenschaften des Finanzkapitals im Refrain regelmäßig ein herrlich destruktives »I’m gonna break something today« (heute mache ich was kaputt) entgegen geschrien wird. Warum auch immer so kompliziert? Anti-Flag haben mit »American Spring« ein weiteres solides Pop-Punk-Album geschaffen, das sich durchweg gut hören und teilweise besonders gut mitsingen lässt. Auch der Eindruck, dass viele der Lieder sich im ersten Moment recht ähnlich anhören, erlischt sofort, setzt man sich mit ihnen mithilfe des kreativen Booklets auseinander. ■


BUCH

Sebastian Friedrich | Der Aufstieg der AfD - Neokonservative Mobilmachung in Deutschland

Die Sarrazin-Partei Die AfD versucht, die Lücke zwischen den bürgerlichen Parteien und der NPD zu schließen. Ein neues Buch zeichnet ihren Aufstieg nach Von Phil Butland bei den jüngsten Landtagswahlkämpfen nahezu identische Parolen wie die NDP. Anders als noch bei der Europawahl thematisierte sie hier »Ausländerkriminalität« und »Sicherheit«. Im Januar 2014 wurde innerhalb der AfD eine »Patriotische Plattform« gegründet. Diese positioniert sich gegen die multikulturelle Gesellschaft und den »falsch eingestellten Sozialstaat«. Damit steht sie in deutlicher Nähe zu Forderungen der Pro-Bewegung. Der sächsische Landesverband fordert Volksabstimmungen gegen den Bau von Minaretten und eine Quote für deutschsprachige Musik im Radio. Die Spitzenkandidatin Frauke Perry verlangt eine Drei-Kinder-Politik und möchte Eltern minderjähriger Kinder ein zusätzliches Stimmrecht gewähren. Auch Bernd Lucke, der sich sonst eher bedeckt hält, unterstützt die Pegida-Demonstrationen. Wer wählt die AfD? Auch dieser Frage geht Sebastian Friedrich nach und zitiert Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung: »Bildungsbürgertum, FreiberuflerInnen und Familienunternehmen«. Demnach sind die Anhänger der AfD tendenziell besserverdienende Männer, die den traditionellen Unterstützern der Nazis ähneln: Angehörige der Mittelschicht mit »Abstiegsängsten«, die weder Kapital noch Gewerkschaften haben, um sich gegen wirtschaftliche Krisen zu verteidigen. So einfach ist es aber nicht. Die AfD ist (noch) keine Nazipartei und Deutschland steckt (noch)

nicht in einer tiefen Krise. Klar ist aber, dass sie eine »populäre Anti-Parteien-Stimmung« bedient. Sie erreicht viele, die sich nicht mehr vom System vertreten fühlen. Es dürfte kein Zufall sein, dass sie zuletzt ihre besten Ergebnisse dort erzielte, wo DIE LINKE entweder in der Regierung saß oder wie eine »Regierungspartei in Wartestellung« agierte. Die kommenden Jahre könnten entscheidend für die AfD sein. Sollte sie »nicht einen ähnlichen Sturzflug wie die FDP oder die Piraten erleiden, kann sie auf den Einzug in fünf Landtage im Jahr 2016 hoffen und gestärkt in den Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017 ziehen, sofern die ›große‹ Koalition bis dahin durchhält.« Wir haben also ein gewisses Zeitfenster, sie zu stoppen. Laut Friedrich wird es »nicht ausreichen, das rechte Hegemonieprojekt zu analysieren und zu kritisieren. Vielmehr muss dem die Perspektive einer egalitären Gesellschaft, die auf weitreichender Solidarität basiert, entgegengesetzt werden.« Recht hat er. Sein Buch liefert einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer solchen Perspektive. ■

★ ★★ BUCH | Sebastian Friedrich | Der Aufstieg der AfD - Neokonservative Mobilmachung in Deutschland | Bertz + Fischer | Berlin 2015 | 112 Seiten | 7,90 Euro

REVIEW

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ur zwei Jahre nach ihrer Gründung ist die Alternative für Deutschland (AfD) in vier Landtagen vertreten. Zudem sitzen sieben ihrer Abgeordneten im Europaparlament. In Sachsen ist die Partei laut der LINKEN-Vorsitzenden Katja Kipping »quasi zum parlamentarischen Arm von Pegida geworden«. Sie spielt zudem eine führende Rolle in konservativen Bewegungen, wie jener der selbsternannten »Lebensschützer«. Die Zeit ist also reif, genauer zu analysieren, woher die AfD kommt und wohin sie sich entwickelt. Auf knapp hundert Seiten beschreibt Sebastian Friedrich den schnellen Aufstieg der rechten Partei, den er als Reaktion auf die »Krisen im konservativen und im nationalneoliberalen Lager« versteht: Während die FDP implodiert und die CDU sich »modernisiert«, versucht die AfD, diverse rechte Kräfte zu sammeln und so den Raum zwischen den bürgerlichen Parteien und der NPD zu füllen. Sie spricht jene 18 Prozent an, die sich laut einer Umfrage aus dem Jahr 2010 vorstellen konnten, eine »Sarrazin-Partei« zu wählen. Innerhalb dieser Sammelbewegung gab es immer Spannungen zwischen Wirtschaftsliberalen wie Hans-Olaf Henkel und dubiosen Gestalten wie jenem Lübecker, der behauptet, die Dachauer Gaskammern seien von den Alliierten gebaut worden. Diese radikaleren Kräfte gewinnen seit der Bundestagswahl von 2013 die Oberhand in der AfD. So plakatierte die Partei

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Buch

Noam Chomsky, Andre Vitchek | Der Terrorismus der westlichen Welt

Eine andere Perspektive Die Bedrohung durch Terroranschläge ist ein Dauerthema in westlichen Ländern. Ein neues Buch lenkt den Blick darauf, wer in Wahrheit den größten Schrecken auf der Welt verbreitet Von Lea Kramer

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★ ★★ BUCH | Noam Chomsky, Andre Vltchek | Der Terrorismus der westlichen Welt. Von Hiroshima bis zu den Drohnenkriegen. Ein Gespräch | Unrast Verlag | Münster 2014 | 176 Seiten | 13 Euro

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pätestens durch die Berichterstattung über die Gräueltaten des »Islamischen Staats« und die jüngsten Anschläge in Europa und Afrika muss doch auch der Letzte begreifen, dass der Islam die größte Gefahr für den Weltfrieden darstellt – diesen Eindruck erzeugen jedenfalls aktuell die Medien. Will man sich dieser Schlussfolgerung nicht anschließen, kommt das neue Buch von Noam Chomsky und Andre Vltchek gerade recht. Angesichts des vielversprechenden Titels »Der Terrorismus der westlichen Welt« erwarten gespannte Leserinnen und Leser, anhand von Beispielen erläutert zu bekommen, wer in Wirklichkeit der größte Terrorist ist und wie dieser Terrorismus funktioniert. Sie erhoffen sich eine faktenreiche Darstellung von Konflikten, in die der Westen verwickelt war und ist, und welche Rolle er dabei spielt. Sie erwarten Unterstützung dabei, der unsäglichen Mainstreammeinung, der Islamismus sei der größte Feind von Demokratie und Menschenrechten, etwas entgegen zu setzen: konkrete Beispiele, Zahlen, Geschichten. Bei allem Respekt vor der Leistung der beiden Autoren und größter Sympathie für ihre Haltung ist das Buch jedoch dabei leider nicht wirklich hilfreich. Es handelt sich um die Dokumentation eines ausführlichen, zwei Tage andauernden Ge-

sprächs zwischen Noam Chomsky und Andre Vltchek aus dem Jahre 2012. Die beiden weitgereisten, belesenen und erfahrenen Schriftsteller betrachten darin die Weltereignisse seit dem Zweiten Weltkrieg aus einer Perspektive, die nicht der verbreiteten Erzählung entspricht, Menschenrechte und Freiheit seien stets die Motive des Westens gewesen. Die Autoren bestreiten dabei einen Parforceritt durch 70 Jahre Weltgeschehen und über sechs Kontinente. Bereits der Klappentext bringt ihre These auf den Punkt: »Die Politik des Westens stellt jeden Terrorismus weit in den Schatten«. Dabei erörtern Chomsky und Vltchek auch die Rolle der medialen Berichterstattung, welche die Gräueltaten des Westens verschleiert, Kritik zensiert und die Propaganda der Mächtigen verbreitet. Die geschilderten Ereignisse und Zusammenhänge machen ohnmächtig wütend und sind zutiefst empörend – besonders aufgrund der widerlichen Doppelmoral, der schamlosen Lügen und der unmenschlichen Grausamkeit, mit der die selbsternannten »Guten« vorgehen. Die Autoren erwähnen zwar zahlreiche Beispiele für ihre Thesen, setzen dabei allerdings voraus, dass man sich mit den historischen Begebenheiten weitgehend auskennt. Die Zusammenhänge werden behauptet, nicht argumentativ hergeleitet und schon gar nicht

belegt. So können sie nur diejenigen überzeugen, die ohnehin derselben Meinung sind. In der politischen Auseinandersetzung eignet sich das Buch höchstens zur Erweiterung der eigenen Polemik, nicht zur Präzisierung der Argumentation. Beispielhaft ist dieser Satz von Chomsky: »(Im Kongo, Erg. d. Red.) wurden drei bis fünf Millionen Menschen getötet. Doch wer ist dafür verantwortlich? Milizen begingen die Morde, doch hinter den Milizen standen unsichtbare Regierungen und multinationale Konzerne.« Das glaubt man ihm, weil er sich so etwas nicht ausdenkt. Es fehlt aber jegliche weitere Argumentation, genauere Information, jeglicher Hinweis darauf, wer die »unsichtbaren Regierungen« waren und womit das bewiesen werden kann. Einen Menschen, der von der fortschrittlichen Rolle des Westens überzeugt ist, wird dies kaum umstimmen. Für Chomsky-Kenner und alle, die seine kritische Weltsicht kennenlernen wollen, bleibt das Buch dennoch lesenswert. ■


Marcel Bois | Kommunisten gegen Hitler und Stalin

BUCH DES MONATS Nach der Machtübernahme Stalins versuchte Moskau, die Kommunistische Partei Deutschlands auf Linie zu bringen – und stieß dabei auf erheblichen Widerstand. Eine spannende Darstellung dieser weitgehend unbekannten Geschichte ist nun erschienen Von Stefan Bornost

★ ★★ BUCH | Marcel Bois | Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik. Eine Gesamtdarstellung | Klartext Verlag | Essen 2014 | 614 Seiten | 39,90 Euro

400.000 Mitgliedern im Jahr 1920 waren sieben Jahre später nicht einmal mehr 40.000 in der Partei verblieben. Die Geschichte der Linken Opposition ist keine einfache Heldengeschichte des Kampfes der »guten Aufrechten« gegen die »böse Parteiführung«. Viele Akteurinnen und Akteure der Linken Opposition, zum Beispiel Ruth Fischer, waren selbst einst in der Parteiführung gewesen und hatten – relativ unabhängig von den Entwicklungen in der Sowjetunion – ihre innerparteilichen Gegner auf autoritäre Weise kaltgestellt. Dies bescherte der Linken Opposition ein Glaubwürdigkeitsproblem

in ihrem Kampf um eine demokratischere KPD, das sie bis zum Schluss verfolgte. Gleichzeitig war der politische Kurs der Parteiführung nicht durchgängig schlecht – 1925/26 initiierte sie mit dem Volksentscheid zur Fürstenenteignung eine der erfolgreichsten Kampagnen der KPD-Geschichte. Diese schlug auch bei den Mitgliedern der SPD derart ein, dass sich deren Führung schließlich gezwungen sah, den Entscheid zu unterstützen. Große Teile der Linken Opposition lehnten die Initiative hingegen ab, weil sie, gemäß ihren linksradikalen Wurzeln, prinzipiell gegen jede Zusammenarbeit mit der

SPD waren – eine Haltung, die sie erst angesichts der Gefahr durch das Erstarken der Nazis aufgaben. Spannend ist die Verzahnung des innerparteilichen Kampfs mit der internationalen Diskussion, insbesondere über die Entwicklungen in der Sowjetunion. Konstituierend für die Linke Opposition war die Forderung, die Parteiführung solle eine offene Debatte über die offensichtlichen Fehlentwicklungen im nachrevolutionären Russland erlauben. Rund 700 Parteifunktionäre, darunter zahlreiche Abgeordnete und sowohl aktuelle als auch ehemalige Mitglieder des Zentralkomitees, lancierten im Jahr 1926 eine »Erklärung zur russischen Frage«. Darin sympathisierten sie offen mit der innerparteilichen Opposition in der KPdSU gegen Stalin. Der russische Geheimdienst telegrafierte nach Moskau, dass seiner Einschätzung nach in bedeutenden Parteibezirken wie Berlin, Thüringen und Sachsen ein Viertel bis ein Drittel der KPD-Mitglieder die Opposition gegen Stalin unterstützte – und das, bevor der stalinistische Terror überhaupt begonnen hatte. Solche spannenden Einblicke gibt es in dem Buch zuhauf: Etwa die bisher ungeschriebene Geschichte der »Weddinger Opposition«. Anders als die Hetze der Parteiführung gegen die »kleinbürgerlichen Intellektuellen« behauptete, versammelten sich in ihr gestandene Arbeiterkader. Wegen ihrer tiefen Verwurzelung im revolutionären proletarischen Milieu konnten sich die Weddinger lange als organisierte Oppositionskraft halten. Oder der 1928 gegründete Leninbund, der 1930 an der Frage zerbrach, ob er weiter als Oppositionsgruppe innerhalb der KPD oder als eigenständige Organisation agieren sollte. Neugierig geworden? Dann bitte tief vergraben in diesen Wälzer, es lohnt sich wirklich. ■

REVIEW

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n der Geschichtsschreibung gilt: Menschen können verloren gehen, auch große Gruppen von Menschen – wenn sich niemand findet, der ihre Taten aufschreibt. So geschehen mit der sogenannten Linken Opposition in der KPD, die 20.000 bis 50.000 Anhänger zählte. Sie war zersplittert in verschiedene Gruppen und Fraktionen, aber geeint in ihrer Ablehnung der zunehmend von Moskau diktierten Politik der Parteiführung: der rapiden Entdemokratisierung der Partei ab Mitte der 1920er Jahre und später dem Katastrophenkurs der KPD-Führung gegenüber den immer stärker werdenden Nazis. In der Vergangenheit sind zwar einzelne Gruppen und Personen aus der »Linken Opposition« erforscht worden, eine Gesamtdarstellung aber fehlte. Bis jetzt. Der Historiker Marcel Bois hat sich ihr in seiner Doktorarbeit angenommen. Nun ist die Arbeit im Klartext Verlag unter dem Titel »Kommunisten gegen Hitler und Stalin« erschienen. Gleich vorweg: Das Buch ist spannend, stellenweise deprimierend, wenn es die Animositäten der linken Grüppchen untereinander beschreibt, und wirklich zugänglich geschrieben – eher ungewöhnlich für akademische Arbeiten. Bei der Lektüre kommt spontan der Wunsch auf, jeder Wissenschaftler möge eine journalistische Grundausbildung durchlaufen, bevor er sein Material in Buchform herausbringt. Die bloße Existenz des Forschungsgegenstandes widerlegt ein gängiges Klischee über die KPD: Nämlich, dass die Partei von Anfang an eine undemokratische moskauhörige Truppe war, die folgerichtig die Schussfahrt in die Stalinisierung angetreten hat. Doch die Degeneration der KPD in den 1920er Jahren war ein langer und widerspruchsvoller Prozess, der mit einem weitgehenden Austausch der Mitgliedschaft durch Austritte und Ausschlüsse verbunden war. Von den 350.000 bis

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Mein Lieblingsbuch

ls Louis-Ferdinand Célines erster Roman im Jahr 1932 erschien, überschlug sich die französische Linke vor Lob. Die »Reise ans Ende der Nacht« schilderte schonungslos die sozialen Zustände der Zeit, das Elend der Armen und Unterdrückten, und erkannte hellsichtig die Mechanismen, die das System am Laufen hielten. Das alles in einer ganz neuen, lyrischen und zugleich radikal modernen Sprache. Wenige Jahre später bekannte sich der Autor als Bewunderer Hitlers und verfasste vier ekelhafte antisemitische Pamphlete, von denen er sich auch später nicht distanzierte. Bis heute rätseln Literaturkritiker über diese Entwicklung. Ich finde sie, im Nachhinein betrachtet, eigentlich gar nicht so erstaunlich. Der Grund dafür liegt in der Perspektive, die Céline bereits in der »Reise ans Ende der Nacht« einnimmt. Er beschreibt das Elend aus den Augen eines Kleinbürgers, der keinerlei Ausweg aus der »Verratztheit des Daseins und des Lebens« für möglich hält und den Kampf der Arbeiterbewegung für einen Umsturz der Verhältnisse einfach ausblendet. Ein klassisches Profil für einen Anhänger des Faschismus. Trotzdem ist das Buch eines der beeindruckendsten, die ich je gelesen habe. Die »Reise« führt den Protagonisten Ferdinand Bardamu, der nicht nur den Vornamen mit dem Autor teilt, im ersten Teil des Buchs mitten hinein in drei der prägendsten Phänomene des frühen 20. Jahrhunderts. Nachdem sich der Medizinstudent begeistert als Soldat gemeldet hat, erfüllt ihn die Realität des Ersten Weltkriegs mit Todesangst und Entsetzen. Mehr noch als das Grauen des Kriegs kuriert ihn die menschenverachtende Hierarchie beim Militär schnell von jeglichem Patriotismus: »Ich hingegen, wenn man mir was von Frankreich erzählte, musste unweigerlich daran denken, wie ich meinen Arsch retten sollte (…) Man verliert nicht viel, wenn das Haus des Mietsherrn abbrennt. Dann kommt für ihn eben ein anderer, oder es bleibt

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Von MARX21-REDAKTEURIN Clara Dircksen

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es alle einmal gelesen haben sollten? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Reise ans Ende der Nacht« von Louis-Ferdinand Céline

★ ★★ Louis-Ferdinand Céline | Reise ans Ende der Nacht | Reinbek bei Hamburg 2004 | Rowohlt Taschenbuch Verlag | 671 Seiten | 12,99 Euro

ohnehin derselbe, ein Deutscher oder Franzose, Engländer oder Chinese, und präsentiert pünktlich seine Rechnung ...« Um dem Kriegsdienst zu entkommen, wird Bardamu Handelsangestellter in einer französischen Kolonie. Er erlebt ein verfaultes koloniales Milieu, das sich nur durch krasse Ausbeutung und sinnlose Grausamkeit gegenüber der afrikanischen Bevölkerung am Leben erhält. Im Dschungel zieht sich der Ich-Erzähler eine malariaartige Krankheit zu, die es dem Autor fortan erlaubt, phantastische Elemente in seine Erzählung einzuflechten. Abermals rettet sich Bardamu, diesmal in das Land seiner Träume von Sicherheit und Wohlstand, die USA. In Detroit heuert er bei Ford an, der damals modernsten Fabrik der Welt, in der das Fließbandsystem erfunden wurde. Nur wenige Tage hält er es aus: »Man ergibt sich dem Lärm wie dem Krieg, Man liefert sich den Maschinen aus mit den drei Gedanken, die sich noch irgendwo oben hinter der Stirn bibbernd haben halten können. Vorbei.« Mit Bardamus Rückkehr nach Frankreich beginnt der zweite Teil des Buchs, der sein Leben als Armenarzt, Gelegenheitskuppler und Psychiatriewärter beschreibt. Diese Reise in die Tiefen der Pariser Vorstädte ist nicht weniger dicht und alptraumhaft erzählt als die Abenteuer in Krieg, Kolonialismus und Kapitalismus. Beständig versucht Bardamu, dem eigenen Elend und dem der anderen zu entkommen: »Gegen das widerwärtige Gefühl, arm zu sein, muss man einfach alles versuchen, geben wirs zu, das ist eine Pflicht, man muss sich egal womit betäuben, mit Wein, keinem teuren, mit Masturbation, mit Kino.« Natürlich vergeblich. Die »Reise ans Ende der Nacht« ist hoffnungslos, misanthropisch und gemein. Aber jeder Schlag Célines ins Gesicht der Menschheit trifft und das Buch ist so fesselnd und wortgewaltig, dass ich die Lektüre trotzdem allen empfehlen möchte. Man darf nur nicht vergessen, dass man Armut wirksamer bekämpfen kann als mit Wichsen und Wein. ■


BUCH

Louis Althusser | Das Kapital lesen

Marx in der Geschichte des Wissens In den marxistischen Diskursen Frankreichs gilt das Buch seit Jahrzehnten als Klassiker. Jetzt liegen die von Louis Althusser herausgegeben Schriften zum »Kapital« als Übersetzung vor. Eine Anregung für Debatten sind sie immer noch Von Rhonda Koch und Jasper Stange

den Gründungsakt einer neuen Wissenschaft. Althusser zeigt in seinem Beitrag »Vom Kapital zur Philosophie von Marx« auf, dass Marx’ Fragestellungen sich von denen anderer Ökonomen seiner Zeit unterscheiden. Deshalb sei »Das Kapital« keine bloße Weiterentwicklung der klassischen Ökonomie, sondern eine Analyse der Gesellschaft, die eine fundamental neue »Produktion von objektiven Erkenntnissen« ermöglicht. Etienne Balibar versucht daraufhin, die Besonderheit dieser Wissenschaft darzustellen. Die marxʼsche Methode bezeichnet er dabei als »Periodisierung von Produktionsweisen«: Neue Produktionsweisen entstehen aus der Veränderung der Beziehung zwischen den grundlegenden Elementen, wie zum Beispiel Arbeitenden, Nicht-Arbeitenden und Produktionsmitteln. Letzten Endes ist dies der Versuch, Marx als Vordenker des Strukturalismus, der damals vorherrschenden sozialphilosophischen Methode, zu verstehen. Jacques Rancière treibt diese Lesart auf die Spitze: Für ihn ist die »Struktur des Prozesses« der Gegenstand jener neuen Wissenschaft. Der Mensch ist nicht mehr handelndes Subjekt der Geschichte, sondern erfüllt nur noch Funktionen, die ihm durch die Produktionsverhältnisse als

bestimmende Struktur vorgegeben sind. Hier zeigt sich die politische Ambivalenz von »Das Kapital lesen«. Natürlich ist die Analyse gesellschaftlicher Strukturen unverzichtbar, auch um unseren politischen Handlungsspielraum auszuloten. Das Buch hinterlässt allerdings den Eindruck, dass diese Strukturen unveränderlich seien. Marx sah die handelnden Menschen als Motor gesellschaftlicher Verhältnisse und deren Veränderung. Dies scheint für Althusser und seine Koautoren kaum eine Rolle zu spielen. »Das Kapital lesen« bietet keine Strategien für unsere revolutionäre Praxis. Es ist auch keine einführende Lektürehilfe für Marx’ »Kapital«. Vielmehr zeigt das Buch, »welcher Platz dem Kapital in der Geschichte des Wissens zukommt«, und führt uns auf beeindruckende Weise durch die philosophische Welt des »Kapitals«. Wer sich von 764 Seiten komplizierter Lektüre und einem sehr wissenschaftlichen Duktus nicht abschrecken lässt, Zeit und Ausdauer investieren will, und schließlich noch an einer tiefgreifenden philosophischen Interpretation des marxʼschen »Kapitals« interessiert ist, dem sei dieser Brocken guten Gewissens empfohlen. ■

★ ★★ BUCH | Louis Althusser, Étienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey, Jacques Rancière | Das Kapital lesen | Verlag Westfälisches Dampfboot | Münster 2015 | 764 Seiten | 49,90 Euro

REVIEW

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ieses Werk bietet nichts weniger als einen ersten Anlauf zu genau denjenigen Fragen, die wir heute stellen müssen, um den wissenschaftlichen Durchbruch von Marx für eine radikale Politik der Befreiung wieder nutzbar zu machen.« So beschreibt der Herausgeber Frieder Otto Wolf den politischen Mehrwert des von ihm neu übersetzten Werks »Das Kapital lesen« von Louis Althusser. Gerade in Zeiten, in denen eine Krise die andere ablöst und die Zuspitzung von Widersprüchen eine neue Dimension erreicht, ist die Marx-Lektüre wieder wichtiger geworden. Obwohl Althussers Buch erstmals 1965 erschien, kann es die heutige Debatte um die Aktualität der marxʼschen Theorie bereichern. Louis Althusser profilierte sich in den 1960er und 1970er Jahren als einer der bedeutendsten marxistischen Philosophen Frankreichs. »Das Kapital lesen« entstand in Zusammenarbeit mit seinen damaligen Schülern, die auch als Koautoren genannt werden. »Es handelt sich eben um unfertige Texte, um ganz einfache Anfänge einer Lektüre.« Das Ergebnis ist eine Textsammlung, in der die Autoren um Althusser verschiedene philosophische Aspekte des »Kapitals« beleuchten. Die Autoren verstehen Marx’ »Kapital« als

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BUCH

Lisa Herzog und Axel Honneth | Der Wert des Marktes

In aller Gegensätzlichkeit Steckt hinter dem Markt eine Moral? Auf diese Frage liefert ein neuer Sammelband Antworten aus drei Jahrhunderten. Das ist lesenswert – und trotzdem manchmal nur schwer zu ertragen

Von Jens Winter

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er Wert des Marktes« haben Lisa Herzog und Axel Honneth vom Frankfurter Institut für Sozialforschung ihren neuen Sammelband genannt. Sie möchten den Diskurs über die Stärken und Schwächen der Marktwirtschaft sowie deren (Spannungs-)Verhältnis zur Moral historisch nachzeichnen und differenziert darstellen. Vierundzwanzig Autorinnen und Autoren kommen in Form von Textauszügen oder kurzen Essays zu Wort. So wird das Buch nicht nur zu einem richtigen Schinken, sondern auch zum Versuch, die ideologische Spannweite und die Gegensätzlichkeit zum Ausdruck zu bringen, die den Diskurs über Markt und Moralität prägen. Um dem eine Struktur zu geben, ist das Buch in drei Teile gegliedert: Rechtfertigung, Kritik und Vermittlung. Sie werden jeweils von der Herausgeberin und dem Herausgeber eingeleitet. Leicht verständlich und auf den Punkt stellen sie das politische und ökonomische Denken dar, auf dem die jeweilige Art der Positionierung gegenüber dem Markt basiert. Zudem geben sie einen historischen Überblick und ordnen die nachfolgenden Theoretikerinnen und Theoretiker darin ein. Die einleitenden Texte avancieren so zum Prunkstück des Readers. Der erste Teil, die Rechtfertigung, ist nicht nur aus normativer Sicht der schlechteste. Auch

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die Auswahl der Texte hätte leserfreundlicher gestaltet werden können. Die Textauszüge von Adam Smith und David Ricardo vermitteln grundsätzliche Funktionsmechanismen des Marktsystems, die man sich jedoch leichter aneignen kann. Die darauffolgenden Texte von Friedrich August von Hayek und Gary S. Backer strotzen nur so vor neoliberaler Ideologie und zeigen einmal mehr, dass das Menschenbild des »homo oeconomicus«, das die moderne liberale Ökonomie prägt, dem Menschen als soziales Wesen nicht gerecht wird. Vor allem der Text von Backer steht für den Versuch, die Methoden und Erklärungsansätze der Volkswirtschaftslehre auf alle Gesellschaftsbereiche zu übertragen, und ist deshalb schwer erträglich. Lesenswert ist der Text von Rose und Milton Friedman, die Vorteile der Marktwirtschaft, wie die Informationsfunktion von Preisen und die dezentrale Güterverteilung aufführen. Im zweiten Teil, der Kritik, dürften Marxistinnen und Marxisten mit den Texten von Karl Marx und Rosa Luxemburg auf bekannte Lektüre stoßen. In dem Auszug aus Marx’ »Kapital« geht es um Ware und Mehrwert, bei Luxemburg um den Zusammenhang zwischen Imperialismus und Kapitalismus. Louis Blanc, ein französischer Frühsozialist, argumentiert, warum freie Konkurrenz zu Preisanstiegen führt. Besonders hervorzu-

heben ist der Aufsatz von Gerald A. Cohen, der auf einer extrem von Logik geprägten Argumentationsebene den liberalen Freiheitsbegriff widerlegt. Durch ein Gedankenexperiment zeigt er, warum das Proletariat in der kapitalistischen Gesellschaft nicht frei ist. Der dritte und letzte Teil, die Vermittlung, weist mit Hegel, John Stuart Mill, Amartya K. Sen, Samuel Bowles oder Eric Olin Wright eine große Bandbreite von Autoren auf. Sie decken alles, vom Liberalismus bis zum (Neo-)Marxismus, ab, was diesen Teil zum spannendsten des Buches macht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Herzog und Honneth ein guter und großer Überblick über den Diskurs zu Markt und Moral gelungen ist. Ihr Buch stellt mehr als nur eine Einarbeitung in diesen Themenkomplex auf akademischem Niveau dar und regt zu weiterführender Lektüre an. Ist man nicht durch einen Lesekreis oder wissenschaftliche Arbeit zur Lektüre gezwungen, wird das Buch wohl eher daheim im Bücherregal stehen und darauf warten, dass bei unregelmäßiger Lektüre immer wieder Neues entdeckt wird. Wer mit dem akademischen Schreibstil nichts anfangen kann, sollte sich allerdings anderweitig umsehen. ■

★ ★★ BUCH | Lisa Herzog, Axel Honneth (Hrsg.) | Der Wert des Marktes – Ein ökonomisch-philosophischer Diskurs vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart | Suhrkamp Verlag | Berlin 2014 | 670 Seiten | 25 Euro


D

»Luxemburg« (Nr. 1/2015) auf. Normalerweise trauen sich nur einige wenige, solch einen »verrückten Kampf« zu führen, und sie brauchen Durchhaltevermögen, bis sie ihre Kolleginnen und Kollegen hinter sich haben. Das gelinge nur, wenn sie bei ihnen ein Ungerechtigkeitsempfinden wecken können. Zudem müssten sie als »vertrauenswürdige und durchsetzungsfähige SprecherInnen auftreten«.

Im Vorfeld der Zukunftswoche der LINKEN meldete sich der Journalist David Bebnowski in der Wochenzeitung »Der Freitag« (25.03.2015) zu Wort. Unter dem Titel »Kleiner Mann, was tun?« plädiert er angesichts der wachsenden Kluft zwischen »Volk und Elite« für eine LINKE mit mehr »Mut zum Populismus«. Dabei bezieht er sich beispielsweise auf die Entwicklung von Syriza, welche gerade in scharfer Abgrenzung zum politischen Establishment stark wurde. Nüchtern benennt Bebnowski auch die Probleme, die sich im Umgang mit rechten Populismus-Strategien ergeben. Er sieht dennoch keinen Widerspruch zwischen dem Kampf gegen die rechtspopulistische AfD und seinem Plädoyer für eine »Gegen-die-da-oben«-Rhetorik. Im Gegenteil: Die »staatstragende Zurückhaltung« der LINKEN sei viel eher ein Hindernis im Kampf gegen rechtspopulistische Formierungen. Die Ausgangsbedingungen für prekär Beschäftigte sind schwierig, wenn sie ihre Interessen und Rechte verteidigen wollen und deshalb versuchen, einen Betriebsrat zu gründen. Das zeigt die Gewerkschaftsforscherin Ingrid Artus in der Zeitschrift

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21-Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Publikationen

★ ★★ WEBLINKS Die Zeit: www.zeit.de Freitag: www.freitag.de Luxemburg: www.zeitschrift-luxemburg.de Jacobin: www.jacobinmag.com Moving the Social:http://moving-the-social.ub.rub.de

Beim Amerika-Gipfel haben sie Hände geschüttelt: der US-amerikanische Präsident und der kubanische Staatschef. Zum ersten Mal seit über fünfzig Jahren. Während sich die Regierungen näher kommen, stellt der linke Exilkubaner Samuel Farber in der Onlineausgabe des englischsprachigen Magazins »Jacobin« (22.04.2015) die Frage, was dies für die Einwanderungspolitik der USA bedeutet. Bisher bot diese Kubanerinnen und Kubanern weitaus bessere Möglichkeiten als Menschen aus anderen Ländern Lateinamerikas. Er meint: Anstatt diese Regelungen als »Privilegien« zu streichen, sollte man fordern, diese für alle zu übernehmen – als einen ersten Schritt hin zu offenen Grenzen. Nicht nur für Historikerinnen und Historiker interessant: Die Redaktion der Zeitschrift »Moving the Social. Journal of Social History and the History of Social Movements« öffnet ihr Archiv und stellt alle seit 1977 erschienen Ausgaben kostenlos ins Netz. Im Programm: die Geschichte der »alten« Arbeiterbewegungen ebenso wie der »neuen« sozialen Bewegungen. Ihren Namen trägt die Zeitschrift erst seit 2012. Zuvor hieß sie »Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen«. In den älteren Ausgaben finden sich überwiegend deutschsprachige Artikel. ■

REVIEW

ie Krise zwingt viele junge Griechinnen und Griechen, ins Ausland zu gehen. Das gilt auch für Mitglieder der regierenden Linkspartei Syriza. Die Wochenzeitung »Die Zeit« (16.03.2015) hat nun festgestellt, dass englische Universitäten das »Trainingslager« der »griechischen Rebellen« sind. Vor allem der linke Parteiflügel um Costas Lapavitsas und Stathis Kouvelakis sei stark an den britischen Hochschulen verwurzelt. »Weshalb«, fragt sich Autor Caspar Shaller in einem lesenswerten Text, »produziert ausgerechnet London, das Herz des globalen Finanzkapitalismus, eine neue europäische Linke?«.

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© Concorde Filmverleih GmbH

Preview


Film

Michael Winterbottom | Die Augen des Engels

Die Wahrheit bleibt im Dunkeln Schuldig oder nicht? Michael Winterbottoms neuer Film »Die Augen des Engels« basiert auf einem realen Kriminalfall. Doch statt des Verbrechens steht die Frage im Mittelpunkt, wie wir mit solchen Ereignissen umgehen Von Phil Butland

Winterbottom hat sich hier weit entfernt von seinem früheren Film über einen Justizirrtum, »The Road to Guantánamo«. Dieser Film über drei britische Muslime, die in Guantánamo Bay inhaftiert wurden, ist ein Plädoyer für ihre Unschuld gegen einen allmächtigen Staatsapparat. Ich finde, »Road to Guantánamo« ist der bessere Film, aber man muss anerkennen, dass Winterbottom nicht nur einfach seine früheren Erfolge wiederkäut. Thomas beschließt, dass es keine Wahrheit gibt. Winterbottoms Position scheint hingegen raffinierter: Wahrheit existiert sehr wohl, aber wir können sie oft nicht erkennen. Journalistinnen und Journalisten (und Filmschaffende) haben selten Interesse daran, nach der Wahrheit zu suchen. Ihnen reichen oberflächliche Geschichten, die sich gut verkaufen lassen. Wir erfahren dann mehr über das Sexualleben der möglichen Täterinnen und Täter (und der Opfer) als Informationen, die dazu beitragen könnten, sich eine fundierte Meinung über die Tat zu bilden. Die Reaktionen auf »Die Augen des Engels« waren bisher gemischt. Am kritischsten waren die Rezensenten, die auf eine Aufklärung des realen Mordfalls Amanda Knox (auf dem der Film basiert) gehofft hatten. Doch Winterbottom macht deutlich: Ohne den fehlenden investigativen Journalismus kann er nicht mehr über diesen Fall erzählen, als alle ohnehin schon wissen. Stattdessen bietet er uns die Geschichte eines Filmemachers in der Midlife-Crisis. Das mag nicht allen ausreichen, aber ich fand es durchaus erhellend. Der Film hat einige Schwächen – nicht zuletzt die ausufernden Traumsequenzen. Doch insgesamt ist er sehr ambitioniert und wirft interessante Fragen über Kunst, Wahrheit und Liebe auf. Dass er nicht immer Antworten gibt, bedeutet nicht, dass sich der Versuch nicht gelohnt hätte. ■

★★★

Die Augen des Engels | Regie: Michael Winterbottom | Großbritannien/ Italien/ Spanien 2014 | Kinostart: 21. Mai 2015

PREVIEW

I

m italienischen Siena wurde eine engelhaft schöne englische Studentin ermordet. Angeklagt sind ihre ebenfalls engelsgleich wirkende US-amerikanische Mitbewohnerin und deren italienivscher Freund. Oder war ein schwarzer Kellner der Mörder? Oder ein anderer Schwarzer, wie die Beklagten behaupten? Die Antworten auf diese Fragen interessieren Filmemacher Michael Winterbottom nicht wirklich. Ihn beschäftigt vielmehr, warum sie gestellt werden. Der Protagonist in »Die Augen des Engels«, der Regisseur Thomas Lang (Daniel Brühl), soll einen Film über diesen Mordfall drehen. Seine Produktionsfirma verlangt einen Kassenschlager mit eindeutigen Tätern und Opfern. Thomas aber beharrt auf seiner künstlerischen Vision. In einer der lustigsten Szenen des Films versucht er den Produzentinnen und Produzenten sein Drehbuch zu erläutern, das von Dantes »Göttlicher Komödie« inspiriert ist. Diese interessieren sich jedoch ausschließlich dafür, welche gerade beliebte Schauspielerin sie besetzen könnten. Die gewünschte simple Geschichte von Gut und Böse zu erzählen, gestaltet sich umso schwieriger, weil der Mordfall nicht gelöst ist. Ein Journalist veröffentlicht Auszüge aus dem Tagebuch der beschuldigten Jessica, die belegen, dass sie sexuell aktiv (und deswegen schuldig) ist. Eine andere Journalistin plädiert vehement für Jessicas Unschuld – ohne irgendwelche Nachforschungen anzustellen. Im Internet wird die Debatte weiter befeuert. Während der ersten Gerichtsverhandlung wirkt Jessica frech und unsympathisch und wird deshalb verurteilt. In der Berufungsverhandlung kleidet sie sich seriös, sagt wenig und wird freigesprochen. Offensichtlich gab es ein Fehlurteil, weil sich die Geschworenen vom Anschein statt vom Inhalt haben leiten lassen – aber welches war es?

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Demonstration | Gegendemonstation gegen selbsternannte Lebensschützer in Berlin

Sexuelle Selbstbestimmung für alle! Hinter dem Ruf nach einem radikalen Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen verbirgt sich ein genereller Angriff auf Frauenrechte. Deshalb müssen wir uns den selbsternannten »Lebensschützern« entschieden entgegenstellen Interview: Clara Dircksen

Jeden September findet in Berlin ein »Marsch für das Leben« statt. Worum geht es dabei und wer steckt dahinter? Die »Lebensschützer« fordern die vollständige Kriminalisierung jedes Schwangerschaftsabbruchs. Sie wollen Frauen das Recht auf Selbstbestimmung über ihren Körper und ihre Lebensplanung nehmen. Sie sind Verfechter der konservativen kirchlichen Ehe mit dem Mann als Oberhaupt der Kleinfamilie und der Frau als dienender Gebärerin. Entsprechend sind sie auch Feinde jeder anderen Art selbstbestimmter Lebensweise. Das Spektrum der Abtreibungsgegner reicht von katholischen und protestantischen fundamentalistischen Gruppen über die CDU bis hin zur weit rechts stehenden AfD, die kürzlich erst die Verschärfung des Paragrafen 218 forderte und vom »Schutz des eigenen Volkes« schwadroniert. Warum ist es wichtig, sich gegen diese Bewegung zu engagieren? Weil der »Marsch fürs Leben« ganz und gar nicht für das Leben steht! Stattdessen gefährdet es das Leben von Frauen, wenn sie kriminalisiert und in den »Abtreibungsuntergrund« gedrängt werden. Insbesondere Frauen der Arbeiterklasse sind betroffen, die kein Geld für Privatkliniken oder Auslandsreisen haben. Weltweit stirbt alle zehn Minuten eine Frau an einem illegalisierten Abbruch. Der Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland unter bestimmten Bedingungen straffrei. Auch ansonsten gibt es Fortschritte: Homoehe, nun auch die rezeptfreie Abgabe der »Pille danach« ... Müssen wir uns da wirklich noch mit diesen Ewiggestrigen befassen? Die »Lebensschützer«-Bewegung baut sich weltweit auf und organisiert Lobby86

silke stöckle & RoSI Nünning

Silke Stöckle und Rosemarie Nünning sind Mitglieder der LINKEN in Berlin und arbeiten im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung mit. Silke ist zudem eine der Autorinnen der neuen Ausgabe von theorie21 zum Thema Frauenbefreiung. ★ ★★ DIE Demonstration Am 19. September 2015 wollen Abtreibungsgegnerinnen und -gegner durch Berlin marschieren. Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung ruft zu bundesweiten Gegenaktionen und einer zentralen Demonstration in Berlin auf. Informationen, Kontakt und aktuelle Termine unter www.sexuelle-selbstbestimmung.de.

gruppen, die auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen. In den USA entstand sie gleich nachdem in den 1970er Jahren das Recht auf Schwangerschaftsabbruch liberalisiert worden war. Erst im Januar marschierten mehrere Zehntausend in Washington. In etlichen Bundesstaaten der USA wurden die Gesetze verschärft und viele Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, geschlossen. Auch hierzulande zählen die Märsche inzwischen mehrere Tausend Teilnehmende.

Nein, die ewiggestrigen Ansichten werden in unserer Gesellschaft nicht einfach verschwinden. Gerade in Zeiten der Krise, der Abstiegsängste und der politischen Polarisierung können reaktionäre Ideologien, die ein vermeintlich stabiles System anbieten, Fuß fassen ‒ wenn ihnen nicht auf breiter Front etwas entgegengesetzt wird. In Frankreich haben christliche Fundamentalistinnen und Fundamentalisten und der faschistische Front National zu Hunderttausenden gegen die Einführung der Homoehe demonstriert. Auch in Deutschland protestierten im letzten Jahr Tausende gegen Aufklärungsunterricht an Schulen über Homound Transsexualität. In Spanien versuchte die christlich-konservative Regierung, den Schwangerschaftsabbruch komplett zu illegalisieren, und konnte nur durch eine breite Massenbewegung gestoppt werden. Wir können die bisherigen Errungenschaften für Frauenrechte und für LGBTI* (Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle, Anm. d. Red.) nicht für gesichert nehmen. Sie müssen verteidigt werden. Und wie sollen wir das angehen? Zur Vorbereitung der Proteste gegen den Marsch durch Berlin gründet sich derzeit ein breites Aktionsbündnis für sexuelle Selbstbestimmung und arbeitet an einer bundesweiten Mobilisierung. Wir wollen am 19. September zeigen, dass das Programm der »Lebensschützer« in höchstem Maße lebensfeindlich ist. Wir freuen uns auf eine große, bundesweite Demonstration und vielfältige Aktionen. Ihr könnt euch jederzeit noch einbringen, bei den Bündnistreffen vorbeikommen, Veranstaltungen zum Thema in eurem Umfeld organisieren und die Mobilisierung unterstützen. ■



theorie21 | Nr. 1/2015 180 Seiten | 8,25 Euro frei Haus bestellbar Ăźber: www.marx21.de


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