marx21 Ausgabe Nummer 44 / 02-2016

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marx21 02/2016 | Sommer 2016 | 4,50 EURO | marx21.de

Prostitution

Magazin für internationalen Sozialismus

Aufstand im Krankenhaus Wie Beschäftigte sich gegen den Pflegenotstand wehren

Soll Sexkauf verboten werden?

Imperialismus

Bricht der Dritte Weltkrieg im Pazifik aus?

Sozialdemokratie

Grenzen des Kapitalismus Der geplatzte Traum von der Globalisierung

Mehr als eine rotlackierte CDU?

Fußball-EM Unsere Jungs?

80 Jahre Spanische Revolution Vom roten Barcelona zum Sieg des Faschismus

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Warum der Anti-Islam-Kurs der AfD eine Bedrohung für alle ist und wie wir die Rassisten jetzt stoppen können.

195906

zur Hetze gegen Muslime

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NO! hayır! !

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Nein!

Österreich 4,70 EURO SCHWEIZ 7,50 CHF

Stahlkrise Kein Händchenhalten mit den Bossen


Fotofeature | Frankreich

Frankreich Im Frühjahr 2016 streiken in Frankreich Tausende Beschäftigte bei der Eisenbahn und den Ölraffinerien. Landesweit fällt unbefristet die Hälfte des Bahnverkehrs aus und Öl und Benzin sind knapp. Die CNT und andere Gewerkschaften haben zum Ausstand aufgerufen, um die Regierung von François Hollande dazu zu zwingen, über die geplante Arbeitsmarktreform zu verhandeln. Die Besetzung des Pariser Platzes der Republik am 31. März ist der Ausgangspunkt einer Widerstandsbewegung, die sich innerhalb weniger Tage in 30 Städten Frankreichs und 300 Städten weltweit verbreitet: die Bewegung Nuit Debout (»Die Nacht auf den Beinen«). Zwei Monate nach Beginn der Proteste hat Nuit Debout es geschafft, die Parlamentsdebatte über das neue Arbeitsgesetz aufzuhalten. Landesweit organisieren Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter zahlreiche Widerstandsaktionen, um das neoliberale Paradigma in Frankreich und Europa anzufechten und soziale Ungerechtigkeit wieder zum Thema der Politik zu machen. © Jean-Claude Saget


EDITORIAL | Sommer 2016

Liebe Leserinnen und Leser,

E

s ist jedes Jahr das Gleiche: Die schwierigste Magazinerstellung ist immer diejenige nach »MARX IS‘ MUSS«. Auf ein paar Tage Regeneration folgt der erschrockene Blick in den Kalender und die Erkenntnis, dass es bis zum Drucktermin keine drei Wochen mehr sind. Doch mit dem Erfolg unseres größten Kongresses aller Zeiten im Rücken lässt sich auch diese Hürde nehmen. Eigentlich wollten wir uns in dieser Ausgabe mit linken Strategien, die Welt zu verändern, befassen. Dazu geben nicht nur das Phänomen Bernie Sanders, der Aufstieg von Podemos in Spanien oder die Niederlage Syrizas in Griechenland ausreichend Anlass, sondern auch der Ausbruch massiver Kämpfe in Frankreich und Belgien. Doch dann holte uns die politische Entwicklung hierzulande ein: »AfD! Nein zur Moschee!« ruft Björn Höcke auf einer Kundgebung in Erfurt in die Menge. Diese antwortet mit: »Widerstand! Widerstand!« Dann gibt Höcke die Richtung für die kommenden Monate vor: »Und wenn ein Muslim in diesem Land dieses Nein nicht akzeptieren will, dann steht es ihm frei, seinen Gebetsteppich einzurollen, ihn sich unter den Arm zu klemmen und dieses Land zu verlassen!« Seit Jahren ist die Islamfeindlichkeit auf dem Vormarsch und Hetze gegen Muslime gehört leider zum Alltag. Doch Töne wie diese haben uns trotzdem schockiert. Erstmals seit 1945 spricht eine Partei in Deutschland einer ganzen Religionsgemeinschaft ab, sich gleichberechtigt zu entfalten. Und im Gegensatz zu bürgerlichen Rassisten belassen es Höcke und Co. nicht bei Worten. Für uns war das Grund genug, die bisherigen Pläne noch einmal über Bord zu werfen und uns im Titelthe-

ma auf über 25 Seiten erneut mit der AfD zu befassen. Los geht’s ab Seite 16. Aber der Titel ist nicht das Einzige, was sich in dieser Ausgabe geändert hat: Auch am Design haben wir ein wenig geschraubt, das Inhaltsverzeichnis neu gestaltet und die Rubrizierung überholt. Dabei hatten wir professionelle Unterstützung von unserer Leserin Ulrike, die viele Jahre als Stellvertretende Programmchefin einer großen deutschen Zeitschrift gearbeitet hat und uns wertvolle Hinweise geben konnte. An dieser Stelle noch einmal vielen Dank dafür. Von Ulrike kommt auch der Vorschlag, mehr kontroverse Debatten im Magazin abzubilden. Dem sind wir gefolgt: Auf den Seiten 36 und 37 diskutieren Sebastian Friedrich von »analyse & kritik« und unser Redakteur Jan Maas darüber, ob die AfD einen faschistischen Flügel hat. Auf den Seiten 60 und 61 streiten Katharina Sass und Rosemarie Nünning über den richtigen Umgang mit Prostitution. Wenn auch ihr mit uns diskutieren wollt oder Vorschläge habt, wie unser Magazin noch besser werden kann, schreibt uns. Unter allen Zuschriften verlosen wir drei DVDs des Kinofilms »Familienbande«. Auch falls ihr Lust habt, selbst einmal bei unserem Magazin und der Homepage mitzuarbeiten, dann meldet euch. Ihr seid herzlich in der Redaktion willkommen. Bei dieser Ausgabe erhielten wir tatkräftige Unterstützung von unserer Praktikantin Estela. Von ihr stammt unter anderem das Fotofeature auf der gegenüberliegenden Seite.

IN EIGENER SACHE

ABONNIERE 21! M WAirRX INKE STIMME Lsuchen GEGEN R.ECHTE dich HETZE

Die Welt verstehen, um sie zu verändern. marx21 möchte eine laute Stimme gegen rechts und gegen den neoliberalen Mainstream in der deutschen Presselandschaft sein. Wir wollen die Welt verstehen, um sie zu verändern. Wenn dir unser Magazin gefällt, dann unterstütze uns und abonniere es. Ein Abo hilft uns, weil es uns finanzielle Planungssicherheit gibt. Du bist schon Abonnentin oder Abonnent? Dann erzähle in deinem Freundes- und Bekanntenkreis von marx21 – vielleicht findet sich jemand, die oder der das Magazin kennenlernen möchte. Wir schicken Interessierten gerne kostenfrei eine Ausgabe zu. Mehr Informationen auf marx21.de/abo oder marx21.de/probeheft.

Viel Spass beim Lesen! Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 68 23 14 90 marx21 02/2016

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inhalt

MARX21 #44 | Sommer 2016

Titelthema: Kampf gegen die AfD Thesen Was wir tun können, um den Rechtsruck zu stoppen 17 Aufgespießt Hetzzitate aus der AfD 21 Rechte Strategie Warum die AfD jetzt auf das Feindbild Islam setzt 22 FAQ Argumente gegen sieben zentralen Anti-Islam-Forderungen der AfD 26 Statement Ein Berliner Jude aus Neukölln erklärt, was er von »Islamkritik« hält 30 Erfolg Wie in Katalonien die Rechten geschlagen wurden 33 Pro/Contra Hat die AfD einen neofaschistischen Flügel? 36 Linke Strategie Wie DIE LINKE als Protestpartei die AfD schwächen kann 38 Aktivismus Was du vor Ort gegen rechts tun kannst 41

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Grenzen des Kapitalismus Der geplatzte Traum von der Globalisierung

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Imperialismus Bricht der Dritte Weltkrieg im Pazifik aus?

Inland

marx21.de

Stahlkrise Kein Händchenhalten mit den Bossen 14 Aufstand im Krankenhaus Wie Beschäftigte sich gegen den Pfelgenotstand wehren 52 Linke Wie die Erfahrung von Rot-Rot in Berlin verklärt wird 56 Pro/Contra Sollte Sexverkauf verboten werden? 60 Wirtschaft Ein neues Buch über die Entwicklung des deutschen Nachkriegskapitalismus 76 Frauenrechte Nein zur Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs 82 Internationales Kommentar Die Krise der Linken in Lateinamerika Mexiko Warum Lehrkräfte auf die Barrikaden gehen Imperialismus Bricht der Dritte Weltkrieg im Pazifik aus? Gewerkschaften Theorie und Praxis grenzüberschreitender Gewerkschaftsarbeit

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Sozialdemokratie Mehr als eine rotlackierte CDU??

Theorie 80 Jahre Spanische Revolution Vom roten Barcelona zum Sieg des Faschismus

Grenzen des Kapitalismus Der geplatzte Traum von der Globalisierung Sozialdemokratie Mehr als eine rotlackierte CDU? Buch des Monats Das Märchen von der Nachhaltigkeit Nina Power Aufsätze zur kritischen Philosophie

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Geschichte 80 Jahre Spanische Revolution Vom roten Barcelona zum Sieg des Faschismus 62 Sammelband Welchen Blick auf die Geschichte hat die Linke? 75 Menschheitsgeschichte Wer baute das siebentorige Theben? Chris Harmans Buch zur Weltgeschichte erscheint erstmals auf Deutsch 81 Kultur Fussball-EM Warum sich unser Autor kein Schwarz-Rot-Gold auf die Wange malt Krimi In der dritten Staffel der skandinavischen Krimiserie »Die Brücke« geht es um Frauenbilder und Geschlechterrollen Album des Monats Die Vertonung des Anarchisten Erich Mühsam

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Geschichte Wer baute das siebentorige Theben? Chris Harmans Buch zur Weltgeschichte erscheint auf Deutsch

Panama Papers Warum Protestierende in London den Rücktritt des Ministerpräsidenten fordern

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Rubriken Editorial 03 Impressum 06 Betriebsversammlung 06 Briefe an die Redaktion 07 Fotostory 08 Weltweiter Widerstand 42 marx21 Online 59 Review 72 Preview 80

Berlin Wie LINKE-Mitglied und Ex-Senator Harald Wolf das Scheitern der rot-roten Regierungskoalition erklärt marx21 02/2016

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IMpressum | Sommer 2016

marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 10. Jahrgang, Heft 44 Nr. 2, Sommer 2016 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Print & Online Yaak Pabst (leitender Redakteur/V.i.S.d.P.), Martin Haller (stellv.), Clara Dirksen, David Jeikowski, Hai-Hsin Lu, Jan Maas, Boris Marlow, Estela García Priego (Praktikantin) Lektorat Clara Dirksen, Brian E. Janßen, David Paenson, Rosemarie Nünning Übersetzungen David Paenson, Marion Wegscheider Layout Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara Covergestaltung Yaak Pabst, Carsten Schmidt Redaktioneller Beirat Stefan Bornost, Christine Buchholz, Michael Ferschke, Werner Halbauer, Christoph Hoffmeier, Rhonda Koch, Sven Kühn, Julia Meier, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Fanni Stolz, Oskar Stolz, Ben Stotz, Anton Thun, Heinz Willemsen, Luigi Wolf Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint viermal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 68 23 14 90 Fax: 030 – 68 22 97 35 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint Ende September 2016 (Redaktionsschluss: 16.09.)

Jan Maas, rEDAKTEUR

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ie schleswig-holsteinische Kleinstadt, in der Jan aufwuchs, erlangte im November 1992 traurige Berühmtheit: Neonazis ermordeten bei einem Brandanschlag drei Menschen. Seitdem gilt Mölln zusammen mit Rostock und Solingen als Symbol für die Welle rechter Gewalt in den 1990er Jahren. Wenig verwunderlich also, dass Jans erste politische Aktivität die Teilnahme an antifaschistischen Demonstrationen war. Als Redakteur der Schülerzeitung ließ er Antifaschistinnen und Antifaschisten selbst zu Wort kommen. »Danach war die Schülerzeitung endgültig als linkes Kampfblatt verschrien«, erinnert er sich. Nach dem Abitur ging Jan »mangels Alternative« zu den Jusos, deren Politik der Änderungsanträge, Presseerklärungen und Lesekreise ihn jedoch bald frustrierte. Kurz bevor er im Jahr 1995 für seine Ausbildung zum Bootsbauer nach Hamburg zog, lernte er auf einem JusoKongress die Zeitung »Linksruck« kennen. Sie stand für einen aktivistischeren Jugendverband und stellte die Frage nach grundlegender gesellschaftlicher Veränderung. Deren Redaktion wurde Jans neue politische Heimat: »Hier festigte sich mein Eindruck zur Gewissheit, dass sich Sozialismus weder durch das Parlament noch mit der SPD erreichen lässt.« Bis zur Auflösung von Linksruck im Jahr 2007 war er an der Erstellung und Verbreitung der Zeitung beteiligt. Seit der Gründung von marx21 übernimmt er Redakteursaufgaben für Homepage und Magazin. Gleichzeitig arbeitet Jan als freier Journalist. Das Thema Antifaschismus begleitet ihn bis heute. Warum der Kampf gegen Nazis gerade jetzt wieder besonders wichtig ist, beschreibt er auf Seite 37.

Das Nächste Mal: Estela García Priego

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Briefe an die Redaktion | Sommer 2016

Briefe an die Redaktion

Ich sehe das Ergebnis der Konferenz sehr kritisch. Ich halte einfach nichts von der Strategie, ein breites Bündnis aufzubauen, das inhaltlich keine Positionen vertritt außer der Ablehnung der AfD und deren Rassismus. Schade, dass wir nicht mehr zu bieten haben. Marco La Licata, auf unserer Facebook-Seite

nicht als vollständig indiskutable Partei außerhalb des demokratischen Spektrums angesehen. Ihre Anhängerinnen und Anhänger sind gesellschaftlich größtenteils integriert, sind Richter, Polizistinnen und Oberstaatsanwälte. Methoden wie Straßenblockaden gegen dieses Klientel sind in der Öffentlichkeit weitaus schwieriger zu vermitteln als bei der Anwendung gegen radikale Neonazis, unabhängig davon, ob man gemeinsam mit Jusos und dem DGB handelt oder nicht. Die AfD könnte so die Rolle einer unrechtmäßig verfolgten Partei einnehmen, während wir Linke undemokratisch wirken würden. André Paschke, Hamburg

Zum Artikel »Strategien gegen die rechte Gefahr« von Martin Haller und Yaak Pabst (Heft 1/2016)

Zum Artikel »AfD: Tierschutz im Dienste der Menschenfeindlichkeit« von Volkhard Mosler (marx21.de, 04.05.2016)

Die in dem Artikel skizzierte Strategie, mit der AfD eine ähnliche Auseinandersetzung zu suchen wie beispielsweise mit der NPD (Entzug von Einfluss durch zivilen Ungehorsam) ist in meinen Augen sowohl kurz- als auch langfristig falsch. Schon bei der NPD besteht bei einer solchen Taktik die Gefahr, langfristig autoritäre Tendenzen in Staat und Gesellschaft zu verstärken: Es könnte ein Zustand normalisiert werden, in dem Versammlungs- und Meinungsfreiheit nur unter dem Vorbehalt gelten, dass sie nicht durch das Recht des Stärkeren entzogen werden. Auch wenn wir Marxistinnen und Marxisten den bürgerlichen Rechtsstaat nicht für die letzte Weisheit der Menschheitsgeschichte halten, so wissen wir doch auch, dass sich die Kampfmöglichkeiten für uns durchaus verschlechtern können. Wichtiger scheint mir aber, dass bei der AfD auch kurzfristig mit dieser Taktik kein Blumentopf zu gewinnen ist. Durch Massenblockaden kann man sicher ein paar tausend europaweit zusammenmobilisierte organisierte Neonazis in Dresden einmal im Jahr stoppen, aber keine relevante Opposition gegen AfD-Aktivitäten entfalten. Keine Verzögerung eines Parteitags kann aufwiegen, dass Vertreterinnen und Vertreter der AfD regelmäßig in quotenstarken Talkshows sitzen und somit massenmedial vertreten sind. Ein verhinderter Auftritt von Frauke Petry gleicht die umfangreiche Presseberichterstattung über die AfD-Fraktionen in Landtagen nicht aus. Der Damm ist längst gebrochen, er wird durch Blockaden auf den Straßen nicht zu reparieren sein. Schlimmer: Die AfD wird, anders als die NPD, (noch?)

Lassen wir mal beiseite, dass es kaum einen Unterschied macht, ob man das Tier mit einem Bolzen erledigt oder durch Schächten. Und nehmen wir mal an, Schächten sei um ein vielfaches qualvoller: Würdet ihr trotzdem gegen ein Verbot stimmen, einfach nur weil die AfD dafür ist? Younes Zhour, auf unserer Facebook-Seite

Wann sollte er zu einer eigenen Meinung kommen? Spätestens in der Schule hat er sie verloren. Rene Wolf, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Aufstehen gegen Rassismus: 10.000 StammtischkämpferInnen« von Daniel Kerekeš (marx21.de, 25.04.2016)

Zum Cover der letzten Ausgabe (Heft 1/2016) Im März konnte ich in Köln auf der sehr bunten und vielfältigen Demonstration »Reclaim Feminism from the Racists« hunderte Einladungen zu unserem Kongress »MARX IS' MUSS« verteilen. Sie kamen sehr gut an. Das Gleiche kann ich zum Magazin leider nicht vermelden. Es gelang mir gerade, zwei Exemplare zu verkaufen – bei 4000 Demonstrationsteilnehmenden. Das ist enttäuschend. Daraufhin habe ich nochmals die Titelseite unter die Lupe genommen. Auf dieser A4Fläche stehen sage und schreibe zwölf verschiedene Themen. Die Zahl der Worte summiert sich auf 95. Die Hauptüberschrift ist zu lang, um in einem Zug auf der Schnelle aufgefasst zu werden: »Strategien gegen die rechte Gefahr«, gefolgt von einem noch längeren Untertitel. Warum nicht einfach schreiben: »Stoppt die AfD«? David Paenson, Frankfurt am Main

Zum Interview »Niederlande: Wie wir Geert Wilders aus Maastricht verjagt haben« mit Janneke Prins (marx21.de, 06.04.2016) Die Zukunft linker Parteien und Gruppierungen darf nicht so aussehen, dass die Publikation und Vertretung eigener politischer Inhalte und Ideen zu kurz kommt, weil man nur damit beschäftigt ist, der Öffentlichkeit beweisen zu wollen, dass Rassisten, Faschos und Nazis Arschlöcher sind. Das Ziel heißt ja nicht, aus RechtswählerInnen NichtwählerInnen zu machen, sondern LinkswählerInnen. Don’t forget, please! Martinus Sprenzilus, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »AfD: ›Partei der kleinen Leute‹?« von Klaus Weiherer und Martin Haller (marx21.de, 12.04.2016) Solange der »kleine Mann« hauptsächlich mit Arbeit und Konsum beschäftigt ist, fällt er immer wieder auf Rattenfänger herein.

Zum Artikel »DIE LINKE hat es der AfD zu einfach gemacht« von Vincent Streichhahn (marx21.de, 16.03.2016) Wir Linke sind uns über das Potenzial der AfD durchaus bewusst. Nur kann man unsere Hauptklientel, die Armen in unserem Land, nicht mit einem Kampf gegen Rassismus und schon gar nicht mit dem Kampf gegen eine konkurrierende Partei an die Wahlurne locken, sondern eher durch das Ansprechen der sozialen Missstände. Außerdem muss die Linke viel mehr aufzeigen, wie sie das Ganze bekämpfen will. Wichtig ist auch, sich nach außen von den anderen Parteien zu distanzieren, besonders gegenüber der CDU. Die AfD als rechtsextreme Partei zu brandmarken ist meines Erachtens ein Fehlschlag gewesen, da es für die Armen in der Regel egal ist, wer ihnen Besserung gelobt, solange es irgendjemand macht. Auch hier ist Linken bekannt, dass die AfD eine unsoziale Partei ist. Jedoch wird das auch nur ersichtlich, wenn man sich mit ihrem Programm auseinandersetzt. Das aber machen nur wenige. Silvias Dencleros, auf unserer Facebook-Seite

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

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© Alle Bilder: Break Free / CC-BY / flickr.com

Fotostory | GROSSBRITANNIEN

GroSSbritannien | Hunderte Aktivistinnen und Aktivisten stürmen am 3. Mai im südlichen Wales die größte Kohlemine Großbritanniens. Die Aktion der Gruppe »Reclaim The Power« ist eine der bisher größ-

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ten Besetzungen im Vereinigten Königreich. Unten links: Zahlreiche Menschen beteiligen sich an der Aktion, um den fortgesetzten Abbau von fossilen Brennstoffen anzuprangern.

Mitte: Binnen Stunden gelingt es ihnen, den Betrieb lahmzulegen. Unten rechts: Die Stimmung unter den Protestierenden ist gut, sie vereint der gemeinsame Kampf für eine lebenswerte Umwelt.


© Alle Bilder: Photographers in solidarity / Facebook

Fotostory | DEUTSCHLAND

Deutschland | Am 22. Mai besetzen etwa siebzig akut von Abschiebung bedrohte Roma in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas.

Unten links: Mit ihrer Aktion wollen sie auf die deutsche Abschiebepraxis in sogenannte sichere Herkunftsländer aufmerksam machen, in denen Roma jedoch massiver Diskriminierung ausgesetzt sind. Mitte: Unter

den Protestierenden sind zahlreiche Familien mit Kleinkindern Unten rechts: Nach längeren Verhandlungen werden die Besetzerinnen und Besetzer gegen Mitternacht gewaltsam von der Polizei geräumt.

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THeorie | Kapitalismus und Grenzen

Stacheldraht und Militär: Der griechisch-mazedonische Grenzort Idomeni ist zum Symbol der europäischen Abschottungspolitik geworden. Monatelang spielte sich hier eine humanitäre Katastrophe ab. Mittlerweile wurde das Lager geräumt

© Fotomovimento / CC BY-NC-ND / flickr.com

Die Grenzen des Kapitalismus

Während Staatsgrenzen über Jahrzehnte an Bedeutung zu verlieren schienen, sind sie im Zuge der »Flüchtlingskrise« wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt. Aber welche Rolle spielen sie für das Funktionieren des Kapitalismus? Eine Spurensuche

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Martin Haller ist Redakteur von marx21.

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Von Martin Haller

och vor Kurzem sah es so aus, als würde die Globalisierung alle Grenzen überwinden und die Menschheit zusammenrücken lassen. Angesichts eines weltweit vernetzten Kapitalismus schwand die Bedeutung der Nationalstaaten. Grenzen erschienen als ein Relikt aus der Vergangenheit, die Bewegungsfreiheit von Waren und Menschen die unaufhaltsame Zukunft. Obwohl diese Wahrnehmung schon immer an den »richtigen« Pass und die entsprechende Zahlungskraft gebunden war, führen erst die Ereignisse der letzten Monate sie offensichtlich ad absurdum. Nicht nur, dass die EU ihre Außengrenzen immer schärfer gegenüber den vor Krieg und Elend flüchtenden Menschen abriegelt, auch innerhalb des Schengenraums stehen plötzlich wieder Zäune und Stacheldraht. Die Frage des »Schutzes« der Staatsgrenzen ist wieder aktuell. Die Strategien der Herrschenden in Europa unterscheiden sich zwar im Detail, was sogar teilweise zu offenem Streit führte. Doch ihnen ist

letztendlich das Ziel gemein, die Flüchtenden von Europa fern halten zu wollen: »Grenzen dicht« lautet das Motto. Die Frage ist lediglich, ob in der Ägäis, auf dem Balkan oder im Berchtesgadener Land. Selbst manchen Linken gilt plötzlich die territoriale Integrität wieder als schützenswertes Gut. So schreibt etwa der slowenische Philosoph und Popstar der europäischen Linken Slavoj Žižek, natürlich müsse Europa helfen, es könne aber nicht einfach seine Grenzen öffnen: »Wir müssen dafür sorgen, dass die Flüchtlingsströme in geordneten Bahnen verlaufen.« Die unkoordinierte Zuwanderung gefährde den Kern Europas, so Žižek. Die EU müsse daher klare Regeln für ihr Migrationsregime schaffen, den Geflüchteten die Erlaubnis verweigern, sich in dem Land ihrer Wahl niederzulassen, und darauf bestehen, dass sie sich der »westeuropäischen Lebensweise« anpassen. Was bringt einen linken Philosophen dazu, solch reaktionäre Maßnahmen zu fordern? Die Antwort findet sich in seinen Überlegungen zu den Widersprüchen des modernen Kapitalismus: Geflüch-


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tete, so schreibt er, seien »der Preis, den wir für eine globalisierte Wirtschaft zahlen, in der Waren – aber nicht Menschen – die freie Zirkulation erlaubt ist«. Der ungebundenen und grenzenlosen Bewegung von Kapitalströmen stehen die restriktiven Gesetze der Nationalstaaten bezüglich der Bewegung der Arbeitskräfte gegenüber. Da die Bewegung des Kapitals diejenige der Arbeitskräfte stimuliere, liege eine möglichst großen Mobilität der Lohnabhängigen im Interesse der Kapitalisten, im Interesse der Arbeitskräfte liege hingegen der Schutz des nationalstaatlichen Rahmens. Doch stehen die Interessen eines zunehmend globalen Kapitalismus und der historisch gewachsenen Nationalstaaten tatsächlich im Widerspruch? Hinter dieser These stecken falsche Vorstellungen: Obwohl Staatsgrenzen heute als in Stein gemeißelt erscheinen, sind sie erst ein relativ junges Phänomen. Während es Migration schon immer gegeben hat, entstand das Konzept moderner Nationalstaatlichkeit und eines territorial fest begrenzten Staatsgebiets erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus. Scharfe Grenzziehungen, wie sie auch historische Karten suggerieren, waren bis in die Neuzeit weitgehend unbekannt.

Auch die Grenzanlagen der frühen Imperien taugen nicht als Vergleich zu den modernen Staatsgrenzen. Sowohl die Befestigungswälle und Palisaden des Römischen Reichs als auch die Chinesische Mauer erfüllten vor allem eine militärische Funktion. Zwar stellten sie längst keine undurchdringliche Verteidigungslinie dar und gerade der römische Limes hatte auch eine Funktion als bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Steuerungs- und Kontrolllinien, jedoch war es keine feststehende Grenze. Imperien wie das Römische Reich oder das Kaiserreich China besaßen keine klaren Grenzen, sondern einen beweglichen, verschwommenen Grenzraum. Die römischen Herrscher zögerten lange, überhaupt Grenzanlagen zu errichten, mussten sie dafür doch ihren universalen imperialen Anspruch aufgeben. Die Ein- und Auswanderung ins Römische Reich dürfte trotzdem nicht allzu problematisch gewesen sein. Generell galten alle Bewohner des Reichs, die nicht den Status eines römischen Bürgers hatten, sowie auch die gesamte Provinzbevölkerung in den eroberten Gebieten als Peregrine, »Fremde«. Sie konnten jedoch recht unbehelligt leben und weitgehend ihre eigene Kultur und Religion ausüben.

Den Großteil der Menschheitsgeschichte über herrschte eine nomadische Lebensweise vor. Migration war nicht Ausnahme, sondern Regel. Die Menschen mussten ständig weiterziehen, um ihre Lebensgrundlage erwirtschaften zu können. Erst vor etwa 10.000 Jahren wurden die ersten dauerhaft sesshaft und gründeten kleine Siedlungen. Aus Jägern und Sammlern wurden nach und nach Ackerbauern und Viehzüchter. Erst mit der Etablierung längerfristiger Besitzansprüche auf ein Gebiet begann Migration von außen zu einem Problem zu werden. Doch bis es zu einer vollständigen Aufteilung des Lands und zu entsprechenden Grenzziehungen kam, vergingen noch viele Jahrtausende. Auch die ersten Staaten der Antike verfügten nicht über Grenzen, wie wir sie heute kennen. Zwar war es nicht jedem erlaubt innerhalb der Stadtmauern zu siedeln, dennoch herrschte für alle »freien« Menschen eine weitgehende Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit. Im antiken Athen genossen Metöken (Ansiedler) zwar nicht die Bürgerrechte der gebürtigen männlichen Athener, niederlassen ließ man sie dennoch. Allerdings betraf dies nur eine Minderheit der Gesamtbevölkerung, denn die übergroße Mehrheit waren »unfreie« Sklaven. So ergab eine Volkszählung in Attika im vierten Jahrhundert vor Christus, dass 21.000 Bürgern und 10.000 Metöken 400.000 Sklaven gegenüberstanden. Sklaven waren Eigentum ihres Herrn, Migration war für sie keine Option. Für Grenzen im heutigen Sinn gab es daher in den antiken Sklavenhaltergesellschaften keine Notwendigkeit.

Nach dem Zerfall des Weströmischen Reichs und dem Aufkommen der mittelalterlichen Ständegesellschaften in Europa wandelten sich die politischen Landkarten. Allerdings trügt das Bild des entstehenden Flickenteppichs von Kleinststaaten. Die Herzog-, Fürsten- und Königtümer des Mittelalters waren keine Staaten im heutigen Sinn mit festem Staatsgebiet. Herrschaft beruhte nicht auf dem Anspruch auf ein klar umrissenes Territorium, sondern auf einem gegenseitigen, persönliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lehnsherrn und Vasallen. Zudem konnten diese unmittelbaren Abhängigkeiten unterschiedlichen Obrigkeiten gelten: Wem etwa der Zehnt abzuliefern, Kriegsdienst zu leisten oder geistige Gefolgschaft zu erbringen war, konnte sich durchaus unterscheiden. In Deutschland lebten diese komplexen Rechts- und Herrschaftsverhältnisse bis zum Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation Anfang des 19. Jahrhunderts fort. Vor allem hierzulande war der Feudalismus durch eine Dezentralisierung politischer Macht gekennzeichnet, die von einer großen Zahl regionaler Fürsten ausgeübt wurde, die ihrerseits lediglich einem sehr schwachen Machtzentrum unterworfen waren. Daneben bestanden die wirtschaftlich unabhängigen mittelalterlichen Städte, in denen sich allmählich einflussreiche Zünfte und Gilden entwickeln konnten. Sie entschieden auch darüber, wer sich in ihrem Einflussraum niederlassen durfte. Der großen Masse der leibeigenen Bauern, die von einem Adligen abhingen, war es in den feudalen Ständege-

Territoriale Integrität ist kein schützenswertes Gut

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THeorie | Kapitalismus und Grenzen

sellschaften jedoch verboten, ihr Land zu verlassen. Die Herausbildung von Nationalstaaten mit klaren Grenzen begann in Europa erst mit dem Aufkommen des Absolutismus und dem Niedergang der ständischen Ordnung. Karl Marx beschrieb diesen Prozess in seinem Werk »Bürgerkrieg in Frankreich«: »Die grundherrlichen Vorrechte der mittelalterlichen Feudalherren, Städte und Geistlichkeit wurden in Attribute einer einheitlichen Staatsgewalt verwandelt.« Die bürgerlichen Revolutionen trieben diesen Prozess der Herausbildung von Nationalstaaten voran. »Die erste französische Revolution mit ihrer Aufgabe, die nationale Einheit zu begründen (eine Nation zu schaffen), mußte jede lokale, territoriale, städtische und provinzielle Unabhängigkeit beseitigen. Sie war daher gezwungen, das zu entwickeln, was die absolute Monarchie begonnen hatte, die Zentralisation und Organisation der Staatsmacht«. Im Lauf des 19. Jahrhunderts setzte sich nach und nach der Verfassungsstaat als Personenverbund von formell gleichen Bürgern mit bestimmten Rechten und Pflichten unter Ausschluss der »Ausländer« durch und mit ihm das Konzept der Staatsangehörigkeit. Erst im Zuge der Entstehung bürgerlicher Gesellschaften entwickelten sich moderne Staaten, in denen das Territorialprinzip vollständig verwirklicht wurde und die Staatsbürgerschaft die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse ersetzte.

veräußert und gekauft werden kann. Marx nannte dies den »doppelt freien Lohnarbeiter«, der einerseits frei von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen ist, andererseits aber auch »frei« von Produktionsmitteln und damit angewiesen auf den Verkauf seiner Arbeitskraft. Anders als Sklaven oder leibeigene Bauern sind Lohnarbeiterinnen und -arbeiter also nicht an irgendeinen Herrn und Ort gebunden, sondern müssen dorthin gehen, wo sie Arbeit finden. Die kapitalistische Produktionsweise beruht auf der Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln. Diese Trennung geschah im Europa des 19. Jahrhunderts in erster Linie durch die Vertreibung der Bauernschaft und die Einfriedung von Gemeindeland. Die Vertriebenen flüchteten in die Städte und bildeten dort die neu entstehende Klasse der Lohnabhängigen. Die Entstehung der Arbeiterklasse war ein gewaltsamer Prozess, der mit großen Flucht- und Migrationsbewegungen einherging. Allerdings war der Zwang zur Arbeitsmobilität nicht mit der Durchsetzung kapitalistischer Strukturen erschöpft. Kapitalismus basiert auf Konkurrenz und ist ein zutiefst krisenhaftes System. Anhaltende und immer wiederkehrende Wirtschaftskrisen führen bis heute zum Niedergang ganzer Regionen oder Wirtschaftszweige und zwingen Menschen immer wieder in großen Zahlen zur Migration. Da sich der Kapitalismus zudem ungleichmäßig entwickelt, ist er immer wieder in bestimmten Regionen auf die Einwanderung von Arbeitskräften angewiesen, während in anderen Gegenden Arbeitskräfte freigesetzt werden. So gab es von der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutende Wanderungsbewegungen über den Atlantik. Die ungleiche Entwicklung des Kapitalismus führte zur Verarmung und Vertreibung von Massen von Landarbeitern in Europa, die für das explosive Wachstum des Kapitalismus in Nord- und Südamerika gebraucht wurden. Allein zwischen 1870 und 1914 verließen etwa 50 Millionen Menschen den »alten Kontinent«. Mit der Krise des globalen Kapitalismus nach dem Ersten Weltkrieg gingen diese Ströme zurück. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg brauchten die entwickelten kapitalistischen Wirtschaften, allen voran in Europa, Arbeitskräfte und warben diese aktiv an. Während Großbritannien, Frankreich und die Niederlande Arbeitskräfte aus ihren alten Kolonien heranzogen, rekrutierte Deutschland sie aus dem Süden Europas, der Türkei und Nordafrika. Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen etwa 14 Millionen Arbeitskräfte nach Deutschland, etwa elf Millionen von ihnen kehrten wieder in ihre Herkunftsländer zurück.

Staatsgrenzen sind ein junges Phänomen

Der Grund für diesen Wandel der Herrschaftsordnung war das Entstehen eines neuen Systems der gesellschaftlichen Organisation der Produktion: Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise führte nicht nur zu einem raschen Anstieg der Produktivkräfte, also der technischen, organisatorischen und geistig-wissenschaftlichen Ressourcen einer Gesellschaft, sondern veränderte auch die ökonomischen und schließlich die politischen Herrschaftsbeziehungen. Damit einher ging eine Veränderung der Gründe für Migration: Waren es in früheren Gesellschaftsformen insbesondere die Schranken der Produktivkräfte, die Menschen zur Migration zwangen, so bedeutete das Aufkommen kapitalistischer Produktionsverhältnisse, dass prinzipiell alle Menschen überall eine ausreichende Lebensgrundlage erwirtschaften konnten. Dennoch bedeutete das Entstehen des Kapitalismus keine Abnahme von Migrationsbewegungen. Ganz im Gegenteil: Die Auflösung der alten persönlichen Herrschaftsbeziehungen setzte Massen an Arbeitskräften frei, für die Migration in die Städte häufig die einzige Alternative zum Verhungern darstellte. Die Grundlage des kapitalistischen Systems ist die beständige Akkumulation von Kapital durch die Ausbeutung von Arbeitskraft. Sie setzt voraus, dass Arbeitskraft die Form einer Ware annimmt, die frei

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Kapitalismus stützt sich nicht nur auf die Ausbeutung von Arbeitskraft, sondern auch auf Nationalstaaten. Deren Machtausübung erstreckt sich, anders als in vorigen Herrschaftsformen, über ein bestimmtes, fest abgegrenztes Staatsgebiet. Gren-


zen dienen jedoch nicht generell dazu, Menschen von der Einwanderung abzuhalten. Im Zentrum der Einwanderungspolitik der kapitalistischen Staaten stand immer das Ziel, die Migration zu kontrollieren, um sie für die wirtschaftlichen Interessen des jeweiligen Lands nutzbar zu machen. Kapitalistische Staaten haben die Aufgabe, »ihrem Kapital« gute Verwertungsbedingungen zu sichern. Das kann während eines Wirtschaftsbooms die Förderung von Einwanderung bedeuten, während einer Flaute Begrenzungen bis hin zur Totalabschottung. Meist ist es eine Mischung aus beidem, indem ökonomisch verwertbare Arbeitskräfte hineingelassen und nichtverwertbare draußen gehalten werden. Das nationale Kapital hat jedoch auch ein Interesse daran, dass mehr potenzielle Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, als es unmittelbar braucht. Marx nannte dies die »industrielle Reservearmee«. Ihre Existenz dient dem Kapital einerseits dazu, Schwankungen im Bedarf an Arbeitskräften abzufedern, andererseits dazu, die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen zu verstärken und damit das Lohnniveau insgesamt zu drücken. Die Kontrolle der Bevölkerungsbewegungen stellt einen Grundpfeiler moderner Staatsgewalt dar. Der Kapitalismus braucht Grenzen, um die Bevölkerungsbewegungen zu managen. Kapitalisten sind einerseits auf die ständige Bewegung von Arbeitskräften angewiesen, zugleich brauchen sie aber auch einen gewissen Grad an Stabilität und einen gesicherten Zugang zu Qualifikationen. Zudem schafft die Trennung der Menschen in Staatsbürger und »Ausländer« die Möglichkeit letztere verstärkt auszubeuten und damit die Löhne aller Beschäftigten zu drücken. Grenzkontrollen sind ein Mechanismus, der die Ausbeutung von billiger Arbeit erleichtert, indem einem Teil der Arbeiterklasse der Status illegaler Einwanderer zugeschrieben wird. »Illegal« ist, wer formal nicht berechtigt ist, sich im Staatsgebiet aufzuhalten. Das heißt jedoch nicht, dass diese »Illegalen« real nicht im Land erwünscht wären. Im Gegenteil: Ganze Wirtschaftszweige, wie die Bauindustrie oder die Landwirtschaft, würden ohne deren billige Arbeitskraft zusammenbrechen. In den USA befinden sich Schätzungen des Arbeitsministeriums zufolge mehr als die Hälfte der 2,5 Millionen landwirtschaftlichen Arbeiterinnen und Arbeiter illegal im Land. Auf den riesigen Gemüseplantagen im Süden Spaniens oder den Baustellen in deutschen Großstädten dürfte das Verhältnis ähnlich sein. Der Einsatz illegaler Beschäftigter lohnt sich nicht nur wegen der erhöhten Ausbeutungsrate, sondern auch, weil man sich ihrer leicht entledigen kann, sollten sie nicht mehr gebraucht werden. Die Einteilung der Bevölkerung in Staatsbürger, Ausländer und »Illegale« ermöglicht eine verschärfte Ausbeutung, indem sie die Einheit der Klasse untergräbt. Da sich auch der Kampf der Arbeiterbewegungen zu großen Teilen im nationalen Rahmen abspielt und der Staat Adressat sozialer und politischer Forderungen ist, sind auch die meisten sozialen Errungenschaften auf den Nationalstaat beschränkt und

© Alle Bilder: John Perivolaris / CC BY-NC-ND / flickr.com

THeorie | Kapitalismus und Grenzen

damit an die Staatsbürgerschaft gebunden. Daher gab es auch in der Linken von Beginn an Auseinandersetzungen über den Umgang mit Migration und der Frage des Schutzes der Grenzen. Genau wie Slavoj Žižek trat auch schon vor über einhundert Jahren der rechte Flügel der Sozialdemokratie für eine Begrenzung der Zuwanderung ein und begründete dies mit der Verteidigung des »Fortschritts« und des erreichten Lebensstandards der Arbeiter der fortgeschritteneren Industrieländer. So wie für Žižek unregulierte Migration heute ein neoliberales Projekt darstellt, waren auch für einen Teil der Sozialdemokratie damals die Bewegungs- und Migrationsfreiheit ein Projekt der Herrschenden. Der linke Flügel argumentierte dagegen. Karl Liebknecht schrieb: »Die völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in Bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande ist die erste Voraussetzung dafür, dass die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein.« Seine Worte haben bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Noch immer ist das kapitalistische Interesse, trotz der allgegenwärtigen Globalisierungsrhetorik, nicht die vollständige Bewegungsfreiheit der Arbeiterklasse, sondern deren Kontrolle und Spaltung. Das Interesse der »Proletarier aller Länder« hingegen ist noch immer ihre Einheit und der gemeinsame Kampf über alle Grenzen hinweg. ■

Oben: Ende eines harten Arbeitstags: Zwei Landarbeiter aus Mali und Marokko in der andalusischen Provinz Almería befinden sich auf dem Heimweg. »Illegale«, die auf den spanischen Plantagen und in den Gewächshäusern beschäftigt sind, erhalten keinen Mindestlohn, arbeiten häufig ohne Schutzkleidung mit gefährlichen Chemikalien und leben in behelfsmäßigen Unterkünften ohne fließendes Wasser und Elektrizität Unten: Im Mai 2015 demonstrieren Migrantinnen und Migranten für ihre Rechte im schweizerischen Lausanne

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UNSERE MEINUNG | STAHLKRISE

Aktionstag der IG Metall

(K)ein Herz für die Stahlbarone Von Jürgen Ehlers

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hina überschwemmt den Weltmarkt mit billigem Stahl, um seine Anteile auf Kosten der Konkurrenz zu erhöhen. Die deutschen Stahlproduzenten wollen diese Situation zu ihrem Vorteil nutzen, indem sie die Rolle hilfloser Opfer einer schmutzigen Konkurrenz aus Asien spielen. Sie fordern Schutzzölle und verlangen von der EU-Kommission, die Pläne aufzugeben, beim Handel mit CO2-Emissionsrechten einzugreifen. Die EU will Zertifikate vom Markt nehmen, um sie zu verteuern. Denn deren Preis ist schon lange so niedrig, dass er keinen Anreiz bietet, den CO2Ausstoß zu verringern. Im letzten Sommer betrug der Preis pro Tonne CO2 7,50 Euro – zu Beginn des Emissionshandels 2005 lag er mit 29 Euro deutlich höher. Die IG Metall hat sich vor den Karren der Stahlbarone spannen lassen und im April einen pressewirksamen Aktionstag veranstaltet. Im Aufruf der Gewerkschaft heißt es: »Am Montag gehen Deutschlands Stahlarbeiter bundesweit auf die Straße. Sie fordern Hilfe im Kampf gegen Dumping-Konkurrenz und CO2Auflagen. (...) Die deutsche Stahlindustrie ist in ihrer Existenz bedroht. Geht sie unter, verlieren 85.000 Menschen ihren Arbeitsplatz.« Um die eigenen Profitinteressen durchzusetzen, spielen die Stahlkonzerne zynisch die Angst vor Arbeitslosigkeit aus – und die Führung der IG Metall trägt dies kritiklos mit. Dabei führt sie Zahlen der Konzerne an, die den Untergang der Stahlindustrie belegen sollen, falls die EU ihre Pläne umsetzt. Zweifel daran sind dringend geboten. Nach Angaben der EU-Kommission wurden in den letzten Jahren rund 40.000 Arbeitsplätze in der europäischen Stahlindustrie abgebaut, obwohl die Zertifikate für den CO2Ausstoß so billig waren. Von 1980 bis 2015 hat sich allein in der deutschen Stahlindustrie die Zahl der Beschäftigten um 70 Prozent verringert, während die produzierte Stahlmenge etwa gleich geblieben ist. Vor über dreißig Jahren hatte die Gewerkschaft noch einen klareren

Blick auf die sich widersprechenden Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern: Der Kampf um eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich begann in der deutschen Stahlindustrie. Die Kampagne war das Ergebnis einer Diskussion vor allem unter den Vertrauensleuten in der Stahlindustrie, ausgelöst durch die große Ernüchterung durch die Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit nach den Jahren der Vollbeschäftigung. Alle Hoffnungen, dass die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus endlich überwunden sei, stellten sich damals als Illusion heraus. Der Kampf um die 35-Stundenwoche war der Versuch, einen Weg einzuschlagen, der die Profitlogik in Frage stellte, um endlich ein Leben frei von Existenznöten führen zu können. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, über Angebot und Nachfrage eine krisenfreie Wirtschaftsentwicklung sicherzustellen, weil es nicht darum geht, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern möglichst hohe Profite zu machen. Deswegen entstehen Überkapazitäten, wenn die Gewinne sprudeln, und bei Absatzflauten werden selbst modernste Anlagen verschrottet. Das geht zu Lasten der Umwelt und der Menschen, während gleichzeitig der Bedarf nach Stahl in armen Ländern, um Wasserleitungen, Brücken und Häuser zu bauen, nicht befriedigt wird. Händchenhalten mit der Stahlindustrie hat noch nie einen einzigen Arbeitsplatz gesichert. Nur wenn die Profitlogik in Frage gestellt wird, wie beim Kampf um die Arbeitszeitverkürzung oder den Umweltschutz, eröffnen sich Handlungsperspektiven, die über die nationale Standortpolitik hinausweisen und zu besseren Lebensbedingungen für alle Menschen führen können.

Händchenhalten mit den Bossen sichert keine Arbeitsplätze

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Jürgen Ehlers ist aktiv in der Arbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft der hessischen LINKEN.


© Klaus Stuttmann

KARIKATUR

UNSERE MEINUNG | LATEINAMERIKA

Lateinamerika

Die dritte Alternative

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Von Felipe Magnus Carvalho Schmidt und Nicole Möller-González

ür viele Sozialistinnen und Sozialisten stellten die linken Regierungsexperimente in Lateinamerika die große Hoffnung auf eine Alternative zum Neoliberalismus dar. Dort entstand während des letzten Jahrzehnts eine Vielzahl demokratischer Prozesse, die mehr oder weniger Widerstand repräsentierten, sowohl gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik als auch gegen die imperialistischen Einflüsse der USA. Doch trotz der Unterschiede zwischen diesen Projekten, wiesen sie dennoch eine ähnliche Inkonsequenz gegenüber den großen kapitalistischen Mächten auf. Lula da Silva in Brasilien und das Ehepaar Kirchner in Argentinien versuchten, ohne jegliche grundlegende strukturelle Veränderung die Idee einer Klassenversöhnung durchzusetzen. In Venezuela wiederum, setzte spätestens mit dem Amtsantritt von Nicolás Maduro eine Stagnation des bolivarischen Prozesses ein. Wirtschaftskrise,

Korruptionsskandale und der Druck der bürgerlichen Medien führten in den vergangenen Jahren zur allgemeinen Unzufriedenheit der Bevölkerungen und sogar der Regierungsunterstützer. Das öffnete der Bourgeoisie einen Weg, ihre Interes-

Der »Sozialismus von oben« ist gescheitert sen wieder direkt durchzusetzen. Das Ergebnis war ein konservatives Parlament in Venezuela, die Wahl Mauricio Macris zum Präsidenten in Argentinien und ein institutioneller Putsch in Brasilien. Der Aufstieg dieser konservativen Kräfte entstand aber nur durch das absehbare Versagen der Klassenversöhnungspolitik. Nun stellt sich die Frage, welchen Weg die Linke in der Region nehmen soll, um dieser Lage zu entkommen. Es braucht eine

vereinte Front als dritte Alternative, die die Kämpfe aller Unterdrückten zusammenbringt. Zudem muss sie die Massen und die ehemaligen Unterstützer der gescheiterten Regierungen in diesen gemeinsamen Kampf einbeziehen. Dies kann aber nur gelingen, wenn zugleich eine klare Trennlinie zu den alten Regierungen gezogen wird und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Versagen des »Sozialismus von oben« erfolgt. Die dritte Alternative muss zeigen, dass die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Bauernbewegungen und der Jugend nur durch Organisierung und Widerstand von unten zu vertreten und durchzusetzen sind. Nicole Möller-González ist aktiv bei Die Linke.SDS in Berlin. Felipe Magnus Carvalho Schmidt ist Mitglied der brasilianischen Partei Partido Socialismo e Liberdade (P-SOL, Partei für Sozialismus und Freiheit).

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TITELTHEMA | KAMPF GEGEN DIE AFD

Titelthema KAMPF GEGEN DIE AFD

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Strategie Warum die AfD gegen Muslime hetzt

Statement Ein Berliner Jude gegen Islamophobie

Debatte Hat die AfD einen neofaschistischen Flügel?


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Eine Bedrohung für alle Die ersten drei Landtagswahlen des Jahres endeten mit einem Schock: Die rassistische AfD räumte ab, während DIE LINKE hinter den Erwartungen blieb. Was können wir tun, um den Rechtsruck zu stoppen und aus der Defensive zu kommen? Neun Thesen zum Aufstieg der AfD

1.

Vom Netzwerk marx21

Der Aufstieg der AfD folgt keinem Naturgesetz, das sich aus der kapitalistischen Krise ableitet. Keineswegs muss Verelendung automatisch nach rechts führen. Ebenso wenig ist Rassismus ein bloßes Produkt sozial unsicherer Lebensbedingungen. Der Rassismus wird von oben geschürt: Von den Sarrazins, den Seehofers und den de Maizières. Sie setzen permanent Vorurteile gegen Muslime und Geflüchtete in die Welt, um von der eigenen Verantwortung für »Flüchtlingskrise« und soziale Spaltung abzulenken. Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht vertreten – zumindest indirekt – die Ansicht, dass soziale Not plus Zuwanderung zu einem Erstarken von Rassismus und entsprechender Parteien führen. Da die Not in absehbarer Zeit nicht nachlassen wird, stehen sie der Zuwanderung skeptisch gegenüber. Doch das ist kein brauchbarer Ansatz für DIE LINKE. Vielmehr müssen wir sozialpolitische Forderungen (beispielsweise nach Wohnraum für alle, dem Recht auf Kitaplätze und für Mindestrenten) verbinden mit der Forderung nach radikaler Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Selbstverständlich muss die gesellschaftliche Kraft noch wachsen, die diesen Forderungen mit realen Bewegungen Nachdruck verleihen kann. Doch wird das nur gelingen, wenn wir uns nicht auf den Abschottungs- und Begrenzungsdiskurs einlassen.

2.

Es gibt eine europaweite Polarisierung – zwischen Rechtsruck und Revolte. Kampf lautet auch das Stichwort zur Beurteilung der gesamteuropäischen Situation. Wichtig ist, den Aufstieg der AfD in eine Entwicklung einzuordnen, zu der auch die Erfolge des Front National (FN) in Frankreich und der FPÖ in Österreich gehören. Doch sollten wir uns davor hüten, die Situation in Europa lediglich als Rechtsruck

zu deuten. Beispielsweise gibt es in Frankreich eine gegenläufige Entwicklung zum Aufstieg des Front National: Der Massenwiderstand der Jugend gegen das Arbeitsmarktgesetz, die daraus folgende »Nuit debout«-Bewegung und die Streiks in den Raffinerien haben den FN aus den Schlagzeilen verdrängt und die wirklichen Frontlinien in der Gesellschaft verdeutlicht, nämlich jene zwischen Reich und Arm. Ähnlich ist die Situation in Griechenland: Wenn die Kombination aus sozialem Elend und Zuwanderung automatisch zu einem Anstieg des Rassismus führen würde, dann müsste das Land kurz vor einer faschistischen Machtübernahme stehen. Hier trifft das größte Elend des Kontinents auf den größten Migrationsschub. Hinzu kommen der Schock und die Paralyse vieler Linker nach dem Einknicken von Syriza vor den europäischen Institutionen. Trotzdem leben momentan soziale Kämpfen wieder auf, teilweise unter Einbeziehung von Geflüchteten – und schwächen so die Nazis der Goldenen Morgenröte. Klassenkampf ändert offensichtlich die Dynamik einer gesellschaftlichen Situation. Deshalb muss die Antwort der LINKEN auf den Aufstieg der AfD diese Dimension miteinbeziehen.

3.

Der Rassismus der AfD richtet sich insbesondere gegen den Islam. Wir müssen deshalb klare Kante zeigen: Religionsfreiheit verteidigen – Nein zur Hetze gegen Muslime! Nachdem die inhumane und rassistische Abschottungspolitik der Bundesregierung Früchte trägt und kaum noch Geflüchtete nach Deutschland kommen, schwenkt die AfD von einer allgemeinen Antiflüchtlingsrhetorik auf die Hetze gegen Muslime um. Auf ihrem Programmparteitag beschloss sie einmütig, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Die AfD will Minarette, Schleier und Muezzinrufe verbieten. Frauen und Mädchen mit Kopftüchern sollen nicht mehr die Schule besuchen dürfen. Die Partei bezeichnet den Islam als »Fremdkörper«, den man

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»nicht in Deutschland haben« will. Eine ganze Reihe von Maßnahmen soll das muslimische Leben in Deutschland einschränken und letztlich unmöglich machen. DIE LINKE muss hier unmissverständlich Stellung beziehen: Nicht islamische Symbole bedrohen das friedliche Zusammenleben, sondern soziale Ungerechtigkeit, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung. Die AfD hetzt gegen den Islam und meint alle, die für eine offene, solidarische und plurale Gesellschaft stehen.

5.

Wir müssen den Naziflügel der AfD demaskieren, um die Partei in eine Krise zu treiben. Der Aufstieg der AfD ist noch aufzuhalten, dafür bedarf es aber einer Kraftanstrengung. Notwendig ist es, mit Argumenten und auf der Straße gegen die Partei vorzugehen. Die 24 Prozent, die in Sachsen-Anhalt AfD gewählt haben, verfügen größtenteils über kein geschlossenes rassistisches oder gar faschistisches Weltbild. Die AfD selbst ist keine geschlossene Einheit, son-

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© Metropolico.org / CC BY-SA / flickr.com

4.

Die AfD ist keine faschistische Partei, hat jedoch einen faschistischen Flügel, der immer stärker wird. »Spiegel Online«-Kolumnist Jan Fleischhauer meint, die Gefahr, die von der AfD ausgehe, werde übertrieben. Wie einst bei den Grünen würden die »radikalen« Elemente in der Partei irgendwann gezähmt. Doch eine solche Sichtweise ignoriert, dass gegenwärtig eher das Gegenteil der Fall ist und sich ein neofaschistischer Flügel in der AfD festsetzt. Angeführt von Björn Höcke und Alexander Gauland öffnet er rassistischen und faschistischen Kräften die Tore. So gab es bereits massenhafte Übertritte aus der rechtsextremen Partei Die Freiheit zur AfD, auch ehemalige Mitglieder der NPD haben ihr Tätigkeitsfeld auf die AfD verlagert. Abgeordnete der AfD verbreiten Naziparolen und hetzen gegen Andersdenkende. So zeigte Gauland beispielsweise Verständnis dafür, dass Nazis eine Maikundgebung des DGB in Zwickau sprengten. Bei einer Kundgebung in Erfurt am 18. Mai forderte der Berliner AfD-Kandidat Andreas Wild, Flüchtlinge in entlegenen Regionen in Lagern aus Bauholz unterzubringen »wo nicht jeder rein oder raus darf«. Er fügte hinzu, es genügten »ein paar Quadratkilometer Heide«, was eine unverhohlene Anspielung auf ein Barackenlager in der Lüneburger Heide während der NS-Zeit war. Die Partei ist mittlerweile zu einem Sammelbecken von Nazikadern geworden. Sie verfolgen das Ziel, die verschiedenen, bisher eher auseinanderstrebenden Teile des rechtsextremen Spektrums in einer neuen Partei zu bündeln, sie zum parlamentarischen Erfolg zu führen und so die gesamte rechte Bewegung zu stärken.

dern ein Amalgam aus vielen Mitläufern und einem sich zunehmend radikalisierenden Kern. Hier können wir mit guten Argumenten den Keil ansetzen: Wir müssen den neofaschistischen Kräften die konservative Maske abreißen und sie so von Mitläufern und Wählern isolieren. Voraussetzung für eine effektive und breite Mobilisierung gegen die AfD ist, dass die Gefahr verdeutlicht wird, die von dieser Partei für eine solidarische Gesellschaft ausgeht. Die AfD darf nicht einfach als eine besonders rechte Partei angesehen werden, die aber zum neoliberalen Spektrum gehört. Wir müssen aussprechen, welche Gefahr tatsächlich von ihr ausgeht: Durch zunehmende Straßenmobilisierungen versucht der faschistische Flügel eine Bewegung aufzubauen, die zu einer Bedrohung für alle werden kann, die nicht in sein völkisches Weltbild passen.

6.

Aufstehen gegen Rassismus: Breit aufgestellte Aktionsbündnisse gegen AfD und neue Nazis sind nötig – auch unter Beteiligung von SPD und Grü-

nen. Allein als Linkspartei werden wir die Kraftanstrengung, die AfD zu stoppen, nicht bewältigen können. Wir benötigen ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen die rassistische Partei. Das Potenzial dafür ist durchaus vorhanden. Es speist sich unter an-


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7.

Mitglieder der neofaschistischen »Identitären Bewegung«, einer Strömung innerhalb der sogenannten Neuen Rechten, beteiligen sich im März an einer Demonstration der AfD im oberbayerischen Geretsried. Die Grenzen zwischen organisierten Nazis und der AfD verschwimmen immer mehr derem aus einer antifaschistischen Haltung, die in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs besteht. Getragen wird sie von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wie den Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften, Flüchtlingsorganisationen, Vereinigungen von Künstlerinnen und Künstlern, verschiedenen ASten sowie Schülerinnen- und Schülervertretungen. Auch reformistische Parteien wie SPD und Grüne stehen hinter diesem Konsens. Bei allen sonstigen Differenzen wünschen sich viele Mitglieder und Anhänger der Sozialdemokratie ein entschlossenes Vorgehen gegen die rassistische Welle und wären bereit, sich aktiv daran zu beteiligen. Das gilt insbesondere für den gewerkschaftlichen Bereich, in dem die Sozialdemokratie nach wie vor hegemonial ist. Größere Teile der Gewerkschaften werden wir aber nur für eine Aktionseinheit gewinnen, wenn wir nicht gleichzeitig versuchen, die Sozialdemokratie auszugrenzen. Zudem werden wir das sozialdemokratische Milieu nur in Aktivität einbeziehen können, wenn wir ein solches Aktionsangebot auch an die Führung der SPD richten. Wir haben die Pflicht, alle unsere Kräfte zu mobilisieren, um den Nazis auch dieses Mal den sicher geglaubten Zwischensieg, nämlich den Einzug in den Bundestag im Jahr 2017, zu verstellen.

Eine sozialistische Antwort auf die rechte Gefahr kann sich nicht in einer Mobilisierung gegen die AfD erschöpfen. Viele Anhänger der LINKEN mahnen, dass zum Kampf gegen die AfD auch die Beantwortung der »sozialen Frage« gehört, also der Kampf gegen Verelendung und den Abbau der sozialen Sicherheitssysteme. Den daraus folgenden Unmut und die nachlassende Unterstützung für das politische System lenken die Nazis auf vermeintliche Sündenböcke ab: Muslime und Zuwanderer. Daher ist es wichtig, hier an die Wurzel zu gehen. Auf dem Papier vertritt DIE LINKE viele richtige Forderungen. Doch das ändert an der realen Situation erst mal wenig. Die entscheidende Frage ist daher, wie sie umgesetzt werden können. Das hat die Partei bislang weder in Regierungsverantwortung noch in Opposition geschafft. Stattdessen müssen hinter den Forderungen der LINKEN reale Kräfte gruppiert werden, also jene Menschen, die sich schon jetzt für besseren Wohnraum, einen guten öffentlichen Dienst oder andere soziale Verbesserungen einsetzen. DIE LINKE muss sich also in die sozialen Kämpfe werfen – auch gegen die Verantwortungsträger bei der SPD, gegen die eine solche Politik durchzusetzen ist. Ein linkes Bonmot lautet: »Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten.« Wirklich sichtbar wird das aber erst im Kampf, in der Bewegung, wenn oben und unten aufeinanderprallen. Dieser Kampf ist zurzeit in Deutschland nicht sehr ausgeprägt, aber es gibt ihn. Beispielsweise versuchen Belegschaften verschiedener Krankenhäuser nach dem Vorbild der Berliner Charité bessere Pflegebedingungen zu erkämpfen. Diese Bewegungen nach Kräften zu unterstützen, ist schon aus sich heraus wichtig, stellt aber auch einen Beitrag im Kampf gegen rechts dar.

8.

Aktions- statt Regierungsbündnis: DIE LINKE muss in unterschiedlichen Bündniskonstellationen agieren und gleichzeitig den antirassistischen Kampf mit der sozialistischen Perspektive verbinden. In der gegenwärtigen Debatte über das Verhältnis von Antirassismus zu sozialer Frage existieren in der LINKEN zwei Extrempositionen. Die eine wird unter anderem von Sevim Dagdelen vertreten. Sie spricht sich gegen Anti-AfD-Bündnisse mit SPD und Grünen aus, weil es gelte, der Rechten durch ein »Bündnis gegen Neoliberalismus« den Nährboden zu entziehen. Diese Orientierung unterschätzt zum einen die Gefahr, die von den Rechten ausgeht. Zum anderen bleibt sie abstrakt, weil weder konkrete Ansatzpunkte noch Partner für das Bündnis gegen Neoliberalismus benannt werden. Die zweite Extremposition setzt auf eine Anpassung an die etab-

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tirassistische Argumente hereintragen. Wir müssen also lernen, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen.

© DonkeyHotey / CC BY / flickr.com

9.

Bernie Sanders, Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei in den USA, zeigt, wie es geht: Mit populären linken Forderungen und einem Aufruf zur Selbstaktivität kann er im Vorwahlkampf Millionen Menschen begeistern

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lierten Parteien. Exponiertester Vertreter dieser Strategie im Kampf gegen rechts ist Gregor Gysi. Nach den Landtagswahlen vom März sprach er sich dafür aus, dass sich DIE LINKE für Regierungsbündnisse mit der CDU öffnen solle. Aktuell schlägt er vor, die Partei solle sich mit SPD und Grünen auf einen gemeinsamen Kanzlerkandidaten einigen. Während Sevim den Antirassismus dem Kampf gegen den Neoliberalismus unterordnet, plädiert Gregor quasi für das Gegenteil: Er möchte das soziale Profil der LINKEN zugunsten einer Regierungskoalition gegen rechts schwächen. Doch eine Beteiligung der LINKEN an solchen parlamentarischen Bündnissen würde die gesellschaftliche Rechtsentwicklung eher noch verschärfen. Wir meinen hingegen: Die Ablehnung des Neoliberalismus darf nicht Vorbedingung für ein Bündnis gegen die AfD sein. In den gemeinsamen Aktivitäten gegen die AfD müssen wir jedoch auch unsere Argumente zum Zusammenhang von Kapitalismus und Rassismus ebenso vorbringen wie unsere Kritik an der Regierungspolitik der anderen Parteien. Umgekehrt müssen wir in soziale Bewegungen auch an-

DIE LINKE muss sich Rechenschaft darüber ablegen, warum ihr die AfD mit so großer Leichtigkeit die Planstelle der Anti-Establishment-Opposition abnehmen konnte. Sie muss wieder als radikale Opposition gegen Kapital und herrschenden Politikbetrieb erkennbar werden. Die Repräsentanten unserer Partei können für ihre öffentliche Auftritte viel von zwei waschechten Sozialdemokraten lernen, nämlich dem US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders und dem neuen Vorsitzenden der britischen Labour Party, Jeremy Corbyn. Sanders artikuliert von links die große Unzufriedenheit, die Millionen Amerikaner mit dem Status quo haben. Auf diese Weise ist er jener Anti-Trump, der Hillary Clinton als Teil des Establishments nie sein kann. Corbyn wiederum hat in seiner jahrzehntelangen politischen Biografie stets an der Seite von Bewegungen und Kampagnen gestanden. Dementsprechend war seine Glaubwürdigkeit der wesentliche Faktor für seine Wahl als neuer Labour-Parteivorsitzender. Seitdem hat die Partei 190.000 neue Mitglieder gewonnen und die Mitgliederschaft fast verdoppelt. Die Kernaussage von Corbyn und Sanders an ihre jeweiligen Anhänger lautet: Verlasst euch nicht auf Parteien und Parteiführer, sondern werdet selbst für eure Interessen tätig. Wie auch immer sich ihre politischen Projekte entwickeln werden, steckt in den Appellen die richtige Idee, dass Parteien nicht stellvertretend für die Menschen Veränderung erwirken können. Die linken Parteien, die wir brauchen, müssen vielmehr Katalysatoren für gesellschaftliche Kämpfe sein und Hilfe zur Selbsthilfe beim Aufbau von Widerstand leisten. Es müssen also Protestparteien sein – aber nicht in dem Sinne, dass sie passiv die bestehende Unzufriedenheit widerspiegeln, sondern in jenem, dass sie Organisatoren eines Protests werden, der kapitalistische Ungerechtigkeit bekämpft. Genau diesen Gedanken haben Katja Kipping und Bernd Riexinger in ihrem jüngsten Strategiebeitrag aufgenommen. »Die Partei DIE LINKE sieht sich nicht als Stellvertreterpartei, sondern als Organisation, die den Menschen in ihren Kämpfen für höhere Löhne und soziale Rechte, mehr Demokratie und Klimagerechtigkeit nützlich ist«, schreiben sie. »Unser Ziel ist es, schrittweise zu einer kampagnenfähigen und aktiven Mitgliederpartei zu wachsen. Also nicht nur Menschen eine Stimme zu geben, sondern sie zu ermutigen, selbst die Stimme zu erheben.« Das ist auch unseres Erachtens die richtige Grundlinie. Es gilt, sie jetzt mit Leben zu füllen. ■


TITELTHEMA | KAMPF GEGEN DIE AFD

»Ich stehe weiterhin zu dem Begriff des schleichenden Genozids an der deutschen Bevölkerung durch die falsche Flüchtlingspolitik der Grünen.« Christina Baum, Landtagsabgeordnete der AfD in Baden-Württemberg

»Die größte Bedrohung für Demokratie und Freiheit geht heute vom politischen Islam aus.« Beatrix von Storch, AfD-Vizevorsitzende

Eine stinknormale Partei? Jüngst bezeichnete Bundesjustizminister Heiko Maas die AfD als »eine langweilige, stinknormale, miefige Partei«. Sie solle nicht dauerhaft dämonisiert werden. Aha! Dann lassen wir doch die vermeintlichen Engel mal selbst zu Wort kommen – bitte schön (Achtung: Kotzalarm!)

Dubravko Mandic, Vorstandsmitglied der Patriotischen Plattform in der AfD

Oliver Kirchner, Landtagsabgeordneter der AfD in Sachsen-Anhalt

»Bereits in Deutschland lebende Menschen können wir derweil in spärlich besiedelte Landstriche Deutschlands bringen und sie dort geschützt unterbringen. Dafür genügen ein paar Quadratkilometer Heide. Wir brauchen dafür – für die vorübergehenden Flüchtlingslager – wir brauchen dafür Bauholz, Hämmer, Sägen und Nägel. Und natürlich darf da nicht jeder raus oder rein, wie es ihm gefällt.« Andreas Wild, stellvertretender Vorsitzender AfD Berlin-Steglitz-Zehlendorf

Uwe Junge, Landesvorsitzender der AfD Rheinland-Pfalz, Landtagsabgeordneter und ehemaliges Mitglied in der islamfeindlichen Partei Die Freiheit

»Ich sage diesen linken Gesinnungsterroristen, diesem Parteienfilz ganz klar: Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk und nur für das Volk gemacht – denn wir sind das Volk, liebe Freunde.«

»Von der NPD unterscheiden wir uns vornehmlich durch unser bürgerliches Unterstützerumfeld, nicht so sehr durch Inhalte.«

»Der Islam hat eigentlich recht wenig mit einer Religion gemeinsam. Über 100-mal Tötungsabsichten im Koran zeigen, welch Geistes Kind diese Fehlgeleiteten sind. Diese Nichtsnutze mit ihren Koranständen sollte man aus den Innenstädten verjagen.«

»Der Islam ist keine Religion des Friedens. Er wendet sich gegen alles, was unsere Werte ausmacht. Er befürwortet Gewalt und verhindert Toleranz und Gleichberechtigung. Und wir bleiben dabei – der Islam gehört weder zu Deutschland noch zu Europa.«

Björn Höcke

Alexander Gauland

»Die Soziale Frage der Gegenwart ist nicht primär die Verteilung des Volksvermögens von oben nach unten, unten nach oben, jung nach alt oder alt nach jung. Die neue deutsche Soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach der Verteilung des Volksvermögens von innen nach außen.«

»Die AfD möchte das gesellschaftliche Gleichgewicht wiederherstellen und die in der Folge der 68er eingetretene Ideologisierung aller Lebensverhältnisse zurückdrängen. Dafür muss sie auf allen politischen Ebenen des föderalen Staates präsent sein.«

»Wir haben nun 70 Jahre lang Mahnmale in diesem Land gebaut. Es ist an der Zeit, endlich wieder Denkmäler zu errichten!« »Ich meine, dass es in einer freien Gesellschaft möglich sein muss, auch über das Dritte Reich unorthodoxe Meinungen zu äußern.« Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag

»Es wird Zeit, dass wir das Schicksal des deutschen Volkes, damit es ein deutsches Volk bleibt, aus den Händen dieser Bundeskanzlerin nehmen.« »Noch ist unsere Rolle die einer Fundamentalopposition. Von dieser Stellung aus muss es unsere Aufgabe sein, Tag für Tag, Sitzung für Sitzung, Antrag für Antrag, Anfrage für Anfrage die etablierten Parteien zu entlarven und dem Volk deutlich aufzuzeigen, wer für die aktuelle Lage unseres Landes verantwortlich ist.«

Markus Frohnmaier, Vorsitzender der Jungen Alternative für Deutschland und Pressesprecher der AfD-Chefin Frauke Petry

»Unsere Aufgabe ist nicht, irgendeinen Konsens mit dieser Lobby (gemeint ist der Zentralrat der Muslime, Anm. d. Red.) auszuloten. Unsere Aufgabe ist, diese Lobby mit allen Mitteln, die uns die Politik und das Recht an die Hand geben, zu bekämpfen.« Hans-Thomas Tillschneider, Landtagsabgeordneter in Sachsen-Anhalt und Sprecher der Patriotischen Plattform in der AfD

»Sind wir die Anti-Euro-Partei oder die Pegida-Partei? Wir sind beides und noch viel mehr.« Marcus Pretzell, AfD-Abgeordneter im Europaparlament

Alexander Gauland, AfD-Vizevorsitzender

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TITELTHEMA | KAMPF GEGEN DIE AFD

Die AfD befindet sich in guter Gesellschaft: Auch der französische Front National, die NPD und die Bürgerbewegung Pro-NRW aus Deutschland, die Schweizerische Volkspartei und die Freiheitliche Partei Österreichs hetzten auf ihren Plakaten gegen Muslimas und Muslime

Eine wohl kalkulierte Strategie Der islamfeindliche Kurs der AfD stößt auf breite Kritik. Doch über eins wird geschwiegen: Der antimuslimische Rassismus der bürgerlichen Mitte gibt den Islamhassern von Pegida und AfD Rückenwind. Wird die Partei nun zur Speerspitze rechter Mobilisierung gegen den Islam? Von Jules El-Khatib und Yaak Pabst

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ls Björn Höcke, Sprecher der AfD in Thüringen und Fraktionsvorsitzender der Partei im Thüringer Landtag, vor dem Dom in Erfurt die Rednerbühne betritt, wird er gefeiert wie ein Star. »Höcke, Höcke, Höcke«, schallt es über den Platz. Es ist Mitte Mai und die AfD demonstriert unter dem Motto »Unser Land, unsere Kultur, unsere Entscheidung!« gegen den geplanten Bau einer Moschee. Bereits im April hatte die AfD auf ihrem Parteitag offiziell beschlossen: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland«. Jetzt testet sie den Anti-Islam-Kurs in der Praxis. Vor 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern hetzt Höcke 25 Minuten lang gegen den Islam. Er skandiert: »AfD! Nein zur Moschee!« Die Menge antwortete mit: »Widerstand! Widerstand!«. Im letz22 |

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te Satz seiner Rede gibt er die Richtung für die kommenden Monate vor: »Und wenn ein Muslim in diesem Land dieses Nein nicht akzeptieren will, dann steht es ihm frei, seinen Gebetsteppich einzurollen, ihn sich unter den Arm zu klemmen und dieses Land zu verlassen!« Die islamfeindliche AfD ist im Aufwind: Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, SachsenAnhalt und in Rheinland-Pfalz wählten mehr als 1,3 Millionen Menschen die Partei. Mittlerweile verfügt die AfD über 102 Abgeordnete in acht Landesparlamenten sowie zwei Europaabgeordnete. Auch die Mitgliederzahlen sind stetig gewachsen, im April waren es 20.706. Aktuellen Umfragen zufolge hat die Partei das Potenzial, sich bundesweit als drittstärks-


TITELTHEMA | KAMPF GEGEN DIE AFD

schale Verunglimpfung aller friedlichen Muslime« vor. So richtig die Kritik an dem Anti-Islam-Kurs der AfD ist, wird dabei meist verschwiegen, dass der antimuslimische Rassismus der bürgerlichen Mitte den Gruppierungen wie Pegida und der AfD immer noch Rückenwind gibt. Zwar betonte Kanzlerin Angela Merkel in der Auseinandersetzung mit der AfD noch einmal: »Der Islam gehört zu Deutschland.« Doch an ihrer islamfeindlichen Politik änderte die Bundesregierung wenig. Meistens traten in der Vergangenheit beide Unionsparteien dafür ein, eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu Christen oder Juden rechtlich zu verankern – dazu gehörte beispielsweise das Kopftuchverbot oder das Festhalten am Verbot der Erdbestattung für Muslime.

Jeden zweiten Tag wird eine Moschee geschändet te politische Kraft zu etablieren – der Einzug in weitere Parlamente bei den Wahlen im Herbst in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin gilt als sicher. Mit der Festlegung auf das Thema Islam will die Partei ihren Aufstieg fortsetzen und an den europaweiten Erfolgen der radikalen Rechten anknüpfen. Vom Front National in Frankreich, der FPÖ in Österreich über die Lega Nord in Italien oder den Vlaams Belang in Belgien – alle diese Parteien konnten mit einem scharfen Anti-Islam-Profil Wahlerfolge feiern. Die Reaktionen der etablierten Parteien auf den Anti-Islam-Kurs der AfD waren heftig. CDU-Generalsekretär Peter Tauber sagte der »Bild am Sonntag«: »Die AfD will zurück in eine Bundesrepublik, die es so nie gab«. Das sei »nicht konservativ, sondern reaktionär«. Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Thomas Oppermann, warf der AfD eine »pau-

Die Entstehung der Islamfeindlichkeit als neuer Spielart des Rassismus erfolgte in Deutschland in zwei Phasen: Die erste, »außenpolitische Phase« begann nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem anschließenden Eintritt Deutschlands in den Afghanistankrieg. Sie diente der Legitimation der weiteren Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Die zweite, »innenpolitische Phase« fällt mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 und den daraus entstehenden sozialen Konflikten zusammen. Sie diente in erster Linie dem Zweck, die in Deutschland lebende muslimische Minderheit als Sündenbock für einen vermeintlich drohenden Niedergang Deutschlands zu stigmatisieren. Die AfD und die rechte Szene kann darauf setzen, dass Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien, ebenso wie ein Großteil der Medien, das Feindbild »Islam« weiter aufbauen, indem sie ihn gezielt mit negativen Schlagworten wie Terrorismus, Frauenunterdrückung, Homophobie oder Antisemitismus in Zusammenhang bringen. Eine Studie des Schweizer Auswertungsdiensts Media Tenor kam 2014 zu dem Schluss, dass das Bild des Islam in den Medien auf einem neuen Tiefpunkt angelangt sei. Die Studie wertete 2,6 Millionen TV-Sendungen in Deutschland, Großbritannien und den USA aus. Deutsche Medien berichteten der Studie zufolge besonders negativ, wie die Untersuchung von 266.000 Berichten über religiöse Akteure aus 19 deutschen TV-, Radio- und Printmedien innerhalb eines Jahres ergab. Wahlweise wechseln sich hier »moderne«, die kulturelle Differenz betonende Formen des Rassismus mit »klassischen« Theorien des Sozialdarwinismus ab. Die Produzenten dieses neuen Rassismus kommen aus der Mitte der Gesellschaft: von SPDMitglied Thilo Sarrazin über den Autor Henryk M. Broder bis zu Alice Schwarzer, Herausgeberin des Monatsmagazins »Emma«. Ihre Bücher tragen Titel wie: »Die Krankheit des Islam«, »Der islamische Faschismus«, »Mekka Deutschland: Die stille Isla-

Jules El-Khatib ist Autor des Onlineportals »Die Freiheitsliebe« und Mitglied im Landesvorstand der LINKEN in NordrheinWestfalen.

Yaak Pabst ist Redakteur von marx21.

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misierung« oder »Der Islam, der uns Angst macht«. Diverse Titelgeschichten auflagenstarker Magazine wie »Spiegel«, »Stern« oder »Fokus« wirken an der Stimmungsmache mit. Der Fall des SPD-Mitglieds Thilo Sarrazin ist besonders lehrreich – sowohl, was den Inhalt seines Buches betrifft, als auch den Umgang mit seinen Thesen in der veröffentlichten Diskussion. Kein anderes politisches Buch seit Hitlers »Mein Kampf« erzielte eine so hohe Auflage: 1,5 Millionen bis Juli 2012. Sarrazins Thesen machten die Islamfeindlichkeit in Deutschland weiter salonfähig. Mit verheerenden Auswirkungen: Eine Studie der BertelsmannStiftung aus dem Jahr 2015 zeigt, dass die Ablehnung des Islam in der Bevölkerung wächst. Mehr als die Hälfte der Befragten stufte die Religion als Bedrohung ein. Auf die Frage, ob der Islam in die westliche Welt passe, antworteten 61 Prozent mit »eher nicht« oder »gar nicht«. Antimuslimischer Rassismus ist in Deutschland mehrheitsfähig. Die Folge des zunehmenden Rassismus ist der Anstieg von Angriffen auf Moscheen. Zwischen Anfang 2001 und März 2016 gab es nach Angaben des Bundesinnenministeriums 416 politisch motivierte Angriffe gegen muslimische Gebetsräume und Moscheen. Und die Zahlen steigen: Waren es 2010 »nur« 23 Angriffe gegen Moscheen, sind es fünf Jahre später schon 75, davon 27 im letzten Quartal. Alleine im ersten Quartal dieses Jahres soll es zu über 40 Angriffen auf Moscheen gekommen sein – das bedeutet jeden zweiten Tag.

tionale Opposition ist also wahltaktisch gut beraten, die Ausländerfrage auf die Moslemfrage zuzuspitzen (ohne sie freilich darauf zu beschränken) und die Moslems als Projektionsfläche für all das anzubieten, was den Durchschnittsdeutschen an Ausländern stört. Die populäre Moslemkritik kann so zum Türöffner für die viel weitergehende Ausländerkritik der nationalen Opposition werden.« Das Mittel dazu waren in den letzten Jahren vor allem Kampagnen gegen Moscheebauten und Aktionen gegen eine Minderheitenströmung im Islam, nämlich die Salafitinnen und Salafiten. Federführend im rechten Spektrum war vor allem die NPD, die diversen Pro-Parteien in Westdeutschland und Netzwerke von rechten Hooligans. Die Pegida-Aufmärsche reihen sich in diese Strategie ein, verbesserten jedoch die Lage für die Rechten: Erstmals konnten die Islamfeinde mit ihren Mobilisierungen weit ins bürgerliche Spektrum ausgreifen.

Das Feindbild »Islam« wurde jahrelang aufgebaut

Diese Zahlen machen deutlich, wie gefährlich, der Kurs der AfD ist. Björn Höcke ist neben dem sachsen-anhaltinischen AfD-Landtagsabgeordneten Hans-Thomas Tillschneider und den stellvertretenden Vorsitzenden Alexander Gauland und Beatrix von Storch einer der Vordenker des Islamhasses. In internen E-Mails des AfD-Parteivorstands, die CORRECTIV und dem »Spiegel« vorliegen, schreibt AfD-Vizechefin Storch an die Vorstandskollegen, dass »der Islam das brisanteste Thema des Programms überhaupt« und für die »Außenkommunikation« am besten geeignet sei. »Asyl und Euro sind verbraucht, bringen nichts Neues«, so Storch weiter. »Die Presse wird sich auf unsere Ablehnung des politischen Islams stürzen wie auf kein zweites Thema des Programms.« Diese Strategie ist wohl kalkuliert. In der rechten Szene wird die Fokussierung auf das Thema »Islam« als ein »Gewinnerthema« bewertet. Jürgen Gansel, zwischen 2004 und 2014 für die SPD im sächsischen Landtag saß, drückt die dahinterstehenden strategischen Überlegungen folgendermaßen aus: »Die na-

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Zwar konnte bisher die bundesweite Ausbreitung von Pegida weitestgehend verhindert werden. Aber mit der AfD droht neue Gefahr, denn die Partei stärkt der gesamten rechtsextremen und neonazistischen Szene den Rücken. Der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent meint: »Durch den verfassungswidrigen Anti-Islam-Kurs der AfD verwischen die Grenzen zum gewaltbereiten Rechtsextremismus ideologisch und politisch zunehmend. Das ist für Neonazis und Rechtspopulisten eine Win-win-Situation. Neonazis finden für ihre Positionen ein öffentliches Sprachrohr mit hoher medialer Resonanz und die Rechtspopulisten profitieren davon, dass ihre Teilnehmerzahlen auch durch dieses Klientel nicht noch weiter sinken.« Der neofaschistische Flügel in der AfD forciert diese Annäherung. Dafür ist der Streit in der AfD-Führung um das Verhältnis der Partei zu Pegida ein Beispiel: Während der Bundesvorsitzende Jörg Meuthen eine Allianz immer wieder ausgeschlossen hat, bezeichnete Gauland diese Bewegung schon im vergangenen Jahr als »natürliche Verbündete« der Partei. Der jetzt beschlossene Anti-Islam-Kurs verleiht dem neofaschistischen Flügel neues Selbstbewusstsein. Die Landesverbände Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen organisieren den Schulterschluss mit Pegida vor Ort. Auf der Kundgebung der AfD in Erfurt sprach mit Siegfried Däbritz erstmals auch einer der Pegida-Wortführer aus Dresden. Däbritz gilt zusammen mit Pegida-Chef Bachmann als einer der radikalsten Vertreter der Anti-Islam-Bewegung. In seiner geschlossenen Facebook-Gruppe


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beschimpfte er nach Recherchen des Magazins »Der Spiegel« einst Muslime als »mohammedanische Kamelwämser« und »Schluchtenscheißer«. Umgekehrt hielt der Magdeburger Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider eine Woche zuvor als erster Mandatsträger der AfD auf einer Pegida-Kundgebung in Dresden eine Rede. Bei seinem Auftritt dankte er der Bewegung denn auch dafür, dass sie »den Boden für die neue Islampolitik der AfD bereitet« habe. Den wegen Volksverhetzung verurteilten Pegida-Chef Lutz Bachmann schlug Tillschneider für das Bundesverdienstkreuz vor. Solche »Tabubrüche«, werden von der AfD-Führung zwar wieder relativiert, aber ernsthafte Konsequenzen hat Tillschneider nicht zu befürchten, ebensowenig wie Björn Höcke. Figuren wie der thüringische Franktionsvorsitzende grenzen sich nicht von der radikalen Rechten ab. Im Gegenteil: An den Demonstrationen der AfD in Erfurt und Magdeburg beteiligten sich Neonazis und rechte Hooligans völlig offen. Mit Reden, in denen er die tausendjährige deutsche Geschichte beschwor, sprach Höcke genau solch ein Publikum an. Unter Höckes Führung ist auch die Partei und Landtagsfraktion zum Sammelbecken für Rechtsradikale geworden. Der Focus schreibt: »Paul Latussek, wegen der Verharmlosung des Judenmordes als Volksverhetzer verurteilt, war schon ein Mitglied der ersten Stunde. Rüdiger Schmitt, Chef des Gothaer AfD-Kreisverbands, rühmt sich heute damit, Ausländer in Arnstadt zu fotografieren und bei der Polizei zu melden. Torben Braga, Sprecher der Deutschen Burschenschaft, die überlegte, den Ariernachweis wieder einzuführen, arbeitet befristet in Höckes Landtagsfraktion. Auch Höckes heutiger Wahlkreisbüroleiter Jürgen Pohl steht Rechtsextremen nahe. Im Mai 2014 beschwert er sich schriftlich, weil AfD-Mitglieder in Erfurt eine Demonstration gegen die NPD unterstützt hatten.« Oskar Helmerich, der einst Höckes Fraktion im Erfurter Landtag angehörte, inzwischen aber aus der AfD ausgetreten ist, zeichnet ein bedrohliches Bild: »Höcke will die Demokratie in ihrer heutigen Form abschaffen, eine vollständige Änderung der Gesellschaft. Er will einen Führer-Staat«, sagte Helmerich im Interview mit »Focus Online«. Zweifellos wird die Partei ihre Hetze gegen den Islam zum Mittelpunkt der kommenden Wahlkämpfen machen. Der neofaschistische Flügel arbeitet jedoch daran, dass die AfD sich außerdem als Protestpartei auf der Straße etabliert. Auf dem thüringischen Landesparteitag im April sprach Björn Hocke von der AfD als einer »fundamentaloppositionellen Bewegungspartei«. Konkret bedeute dies, zwar »nicht den Parlamentarismus« abzulehnen, aber aus seiner Sicht müssen

»Abgeordnete so viel Zeit wie möglich außerhalb des Parlaments verbringen und aufklären, aufklären, aufklären!«. Höcke bezeichnete deswegen Demonstrationen als wichtiges Instrument für die Partei: »Wir müssen auf die Straße, wir müssen auf die Plätze«, zitiert ihn der antifaschistische Informationsdienst »blick nach rechts«. Ob die AfD zur Speerspitze großer rechter Mobilisierungen gegen den Islam werden kann, ist offen und hängt auch vom Handeln der Linken ab. Der HöckeFlügel arbeitet jedoch mit Hochdruck daran, die AfD als »fundamentaloppositionellen Bewegungspartei« aufzubauen. Einen Tag nach der Kundgebung in Erfurt gibt er auf Facebook bekannt: »Ich versichere Euch, die AfD in Thüringen wird im Rahmen der rechtsstaatlichen Möglichkeiten alles tun, um den Bau der Moschee in Erfurt zu verhindern. Parlamentarisch, außerparlamentarisch und als Partner einer etwaigen Bürgerinitiative: AfD – nein zur Moschee!«. Die Partei bleibt brandgefährlich. ■

Ob »Spiegel«, »Focus« oder »Stern«: Über den Islam und Muslime wird in Deutschland fast ausschließlich negativ berichtet. Der Tenor ist immer derselbe: Vom »Islam« geht eine große Gefahr aus

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Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD in Thüringen und Frontmann des neofaschistischen Flügels seiner Partei, spricht auf einer Veranstaltung in München im Oktober 2015 zum Thema »Asyl-Chaos«

Der Ruf der Rassisten Die AfD erklärt den Gebetsruf des Muezzins zu einer Gefahr für Deutschland. Dabei sind es ganz andere Parolen, die eine konkrete Gefahr für Menschen in diesem Land darstellen. Unsere Autorin liefert antirassistische Argumente gegen sieben zentrale Anti-Islam-Forderungen der AfD

© Metropolico.org / CC BY-SA / flickr.com

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Von Christine Buchholz

uf ihrem Programmparteitag verabschiedete die AfD als Parteiposition, was ihre Führungsriege bereits im Vorfeld mehrfach geäußert hat: Der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Sie will Minarette, Schleier und Muezzin-Rufe verbieten. Frauen und Mädchen mit Kopftüchern sollen nicht mehr die Schule besuchen dürfen. Der Bau von Moscheen dürfte nicht durch Spenden aus dem Ausland finanziert werden. Damit spricht eine Partei in Deutschland erstmals seit 1945 einer Religionsgemeinschaft ab, sich gleichberechtigt zu entfalten. Auch Politiker der Regierungsparteien wollen die Rechte von muslimischen Gemeinden einschränken. Der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) prägte 2011 den Satz »Der Islam gehört nicht zu Deutschland.« CSU-Generalsekretär Scheuer fordert ein Islamgesetz und der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, will Moscheen staatlich kontrollieren. Doch nicht Minarette, Muezzin-Rufe oder Schleier bedrohen ein friedliches Zusammenleben in Deutschland, sondern soziale Ungerechtigkeit und Rassismus. Hier die Forderungen der AfD und linke Gegenargumente:


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1.

Sollen Minarette als »Herrschaftssymbole« verboten werden? Die AfD schreibt in ihrem Programmentwurf: »Das Minarett lehnt die AfD als islamisches Herrschaftssymbol ebenso ab wie den Muezzinruf, nach dem es außer dem islamischen Allah keinen Gott gibt.« Es gibt derzeit in Deutschland etwa 200 klassische Moscheebauten, davon 175 mit Minaretten. Die Mehrheit der gläubigen Muslimas und Muslime betet in den etwa 2600 einfachen Gebetsräumen. Zum Vergleich: Es gibt etwa 45.000 Kirchen in Deutschland. Kirchen, Moscheen, Synagogen, Pagoden waren immer und in allen Religionen architektonische Darstellungen der Größe und Erhabenheit von Gottesvorstellungen. Gotische Kirchen mit ihren hohen Spitztürmen waren Demonstrationen des Führungsanspruchs des Klerus. Die Aussonderung der Moscheen als »Herrschaftssymbole« des Islam ist durch nichts gerechtfertigt. Verbote religiöser Symbolik in Kleidung oder Architektur sind nur Ausdruck rassistischer Intoleranz derjenigen, die sie fordern. Die AfD knüpft mit ihrer Forderung nach einem Minarettverbot an die Volksinitiative in der Schweiz an, die 2009 ein Bauverbot für Minarette durchsetzte. In der Schweiz gibt es nur vier Minarette. Die rechte Partei SVP schürte mit der Volksinitiative eine rassistische Stimmung, von der sie selbst profitierte.

Ginge es der AfD um die Lärmbelästigung, müsste sie vor allem Kirchenglocken in Frage stellen. Warum sollen christliche Gläubige mit Glocken zum Gebet gerufen werden und muslimische den Gebetsruf nur im Gebäude zu Ohren bekommen? Dies widerspricht der Gleichbehandlung der Religionen.

3.

Sollen die Ausnahmen des Schächtungsverbots aufgehoben werden? Schächten ist in Deutschland seit 1933 verboten. Es gibt heute jedoch Ausnahmeregelungen für Juden und Muslime. Die AfD will diese Ausnahmen aufheben. »Die AfD lehnt das qualvolle betäubungslose Schächten von Tieren als unvereinbar mit dem Staatsziel Tierschutz ab.« Die AfD sucht sich gezielt einen einzelnen Aspekt der Schlachtindustrie heraus, weil sie damit antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus stärken kann. Es ist ein Mythos, dass andere Schlachtmethoden weniger Schmerzen und Angstzustände für die Tiere bedeuten. Besonders in der Kritik steht die CO2Betäubung von Schweinen, die in Deutschland millionenfach angewandt wird. Damit hat die AfD keine Probleme. Die AfD bekennt sich in ihrem Grundsatzprogramm auch sehr positiv zur Jagd – obwohl Jäger nicht betäuben und Tiere häufig nur angeschossen werden und qualvoll verenden. Für die meisten islamischen und jüdischen Gemeinden in Deutschland ist die betäubungslose Schächtung wesentlicher Bestandteil ihrer Religionsausübung. Von daher sind die Ausnahmeregelungen für jüdische und muslimische Schlachter zu verteidigen. Im Übrigen erinnert die Forderung nach einem kompletten Schächtverbot an das Vorgehen der NSDAP, die den Tierschutz für ihre antisemitischen Ziele missbrauchte. So verboten die Nazis 1933 das Schächten und bestraften es mit Gefängnis – später auch mit Haft im Konzentrationslager.

Tierschutz im Dienst der Menschenfeindlichkeit

2.

Sollen Muezzinrufe mit Kirchengeläut gleichgestellt werden? Der AfD-Co-Vorsitzende Jörg Meuthen erklärte in seiner Rede auf dem Parteitag: »Der Ruf des Muezzin darf nicht die gleiche Selbstverständlichkeit beanspruchen wie das Geläut von Kirchenglocken.« Die Evangelische Kirche sieht das anders: »Der öffentliche islamische Gebetsruf gefährdet das Christentum in Deutschland nicht. Als Einladung zum Gebet seien der Ruf des Muezzin und christliches Glockengeläut vergleichbar.« Derzeit gibt es in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen rund zwei Dutzend Moscheegemeinden, in denen einmal wöchentlich oder bis zu fünf Mal täglich der Ruf des Muezzins zu hören ist. Der Gebetsruf mit Lautsprechern ist durch die Religionsfreiheit gedeckt. Genehmigungspflichtig durch die Kommune sind die Lautstärke und die Häufigkeit der Rufe. Der erste Muezzin-Ruf über Lautsprecher wurde in Deutschland 1985 in Düren genehmigt, wo es seitdem keinerlei Beschwerden darüber gibt.

4.

Soll das Tragen von Burka und Niqab verboten werden? Im AfD-Programm steht: »Die AfD fordert ein allgemeines Verbot der Vollverschleierung durch Burka und Niqab in der Öffentlichkeit und im öffentlichen Dienst. Burka und Niqab errichten eine Barriere zwischen der Trägerin und ihrer Umwelt und erschweren damit die kulturelle Integration und das Zusammenleben in der Gesellschaft.« Die AfD behauptet auch: »Der Integration und Gleichberechtigung von Frauen und Mädchen sowie der freien Entfaltung

Christine Buchholz ist religionspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

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45.000 Kirchen

freiheit oder Berufswahl eingeschränkt. Durch ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst werden die Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe von vielen Muslimas erschwert. In Berlin hatte das Verbot eine Signalwirkung für andere Bereiche. Auch in der Privatwirtschaft wurde es als Vorwand verwendet, kopftuchtragende Muslimas nicht einzustellen. Diejenigen, von Ehemännern oder Familie gezwungen werden, den Schleier zu tragen, haben es mit dem Verbot dann noch schwerer, Beratungsangebote oder Hilfe zu finden. Indem man ihnen eine beruflichen Existenz verwehrt, macht man sie von Ehemann, Familie oder Sozialhilfe abhängig. Das Kopftuchverbot für Schülerinnen ist die Spitze der Diskriminierung von Muslimas durch die AfD und das Gegenteil von Gleichberechtigung. In Frankreich führt es zum Ausschluss aus öffentlichen Schulen. Ein Kopftuchverbot widerspricht dem Recht auf Bildung für alle und dem Recht auf freie Religionsausübung.

5. Bundesweit gibt es gerade einmal 175 Moscheen, die über ein Minarett verfügen. Dem stehen 45.000 christliche Kirchen gegenüber. Obwohl viele noch nie ein Minarett zu Gesicht bekommen haben, fühlen sich Umfragen zufolge 32 Prozent der deutschen Bevölkerung davon gestört

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175 Moscheen mit Minaretten der Persönlichkeit widerspricht das Kopftuch als religiöspolitisches Zeichen der Unterordnung von muslimischen Frauen unter den Mann.« Es ist grotesk, dass sich die AfD die Verteidigung von Frauenrechten auf die Fahnen schreibt. Denn eine soziale und gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen lehnt die Partei ab. Sie verbreitet ein ultra-konservatives Frauenbild und möchte deutsche Frauen aus der Berufstätigkeit wieder an »Heim und Herd« drängen: Sie sollen im Zeichen des »völkischen« Ideals der AfD möglichst viele Kinder bekommen. Sexuelle Selbstbestimmung und Schwangerschaftsabbrüche sollen eingeschränkt werden. Das Verbot der Vollverschleierung ist eine Scheindebatte. Frauen, die Burkas oder Niqabs (Schleier mit Augenschlitz) tragen, sind, ebenso wie Minarette und Muezzinrufe, sehr selten. Nicht die Frauen, die sich verschleiern, sind das Problem, sondern ihre gesellschaftliche Stigmatisierung. Die Erfahrungen aus Frankreich und Belgien zeigen, dass das Burkaverbot die betroffenen Frauen aus der Öffentlichkeit drängt und ins Haus verbannt. Die Frauen, die aus freien Stücken Burka oder Nikab tragen, werden durch ein Verbot in ihrer Selbstbestimmung bevormundet und in ihrer Bewegungs-

Soll die Finanzierung von Moscheen aus dem Ausland verboten werden? Die AfD fordert, die Finanzierung von Moscheen aus dem Ausland zu unterbinden: »Islamische Staaten wollen durch den Bau und Betrieb von Moscheen den Islam in Deutschland verbreiten und ihre Macht vergrößern. Die wachsende Einflussnahme des islamischen Auslands ist mit dem freiheitlichen Verfassungsstaat und der Integration von hier lebenden Muslimen nicht vereinbar.« In dieselbe Richtung hat auch Andreas Scheuer, Generalsekretär der CSU, argumentiert, als er ein »Islamgesetz« forderte. Die AfD ist nur vorgeblich für die Integration, die sie sich auf die Fahnen schreibt: Die Integration von Muslimen sei »weder möglich noch wünschenswert«, rief der Sprecher der neofaschistischen »Patriotischen Plattform« in der AfD Hans-Thomas Tillschneider unter großem Beifall des Parteitags aus. Die Forderung nach einem Verbot von Auslandsfinanzierung religiöser Bauten oder Dienste muss zurückgewiesen werden. Die katholische Kirche in Deutschland unterstützt in vielen Ländern ihre Glaubensgeschwister finanziell. Niemand würde die Auslandsfinanzierung von christlichen oder jüdischen Einrichtungen in Frage stellen, auch die AfD nicht. Ein solches Verbot würde den Bau von Moscheen erschweren, denn die muslimischen Gemeinden sind weniger finanzstark als beispielsweise die christlichen Kirchen. Außerdem ist es heuchlerisch von Politikern der CSU und auch der CDU, die Verwendung von Geldern aus der Türkei oder Saudi-Arabien für den Bau von Moscheen verbieten zu wollen, aber gleichzeitig Waffenlieferungen in diese Länder zu befürworten.


Es ist auch falsch, den Muslimen zu unterstellen, dass sie die Staatsform von Saudi-Arabien befürworten, nur weil sie in einer von dort gespendeten Moschee beten. Was die AfD und Scheuer den Muslimen unterstellen, ähnelt dem Vorgehen von Reichskanzler Bismarck gegen die Katholiken im 19. Jahrhundert. Bismarck warf den Katholiken vor, sie seien nicht ausreichend staatstreu, ihre Loyalität gelte vielmehr dem Papst. Im Mittelpunkt von Bismarcks Vorgehen stand das Verbot politischer Äußerungen durch Geistliche von der Kirchenkanzel herab. August Bebel, der Gründer der Sozialdemokratischen Partei, wandte sich im Jahr 1872 im Reichstag gegen Bismarck und bezog Position gegen ein Verbot des reaktionären Jesuitenordens. Nur sechs Jahre später verbot Bismarck die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Das Beispiel zeigt, wie erst die einen unliebsamen Kräfte vom Staat verboten werden und dann die linken Kräfte folgen. Auch heute sollten wir die Religionsfreiheit gegenüber jeder staatlichen Repression verteidigen.

len nun begonnen hat. Die Forderung der AfD, die Imame ohne die Einbeziehung der muslimischen Verbände auszubilden, ist absurd. Die AfD fordert nicht, die universitäre Ausbildung der Pfarrer und Priester ohne die Kirchen zu vollziehen. Die muslimischen Imame werden hier mit einem Pauschalverdacht belegt und stigmatisiert. Die AfD kann hier an die staatlichen Repressionen gegen Moscheegemeinden in Deutschland in den letzten 15 Jahren anknüpfen. Der Verfassungsschutz beobachtet ganze Moscheen und religiöse Vereinigungen und stigmatisiert sie damit in der Öffentlichkeit – ebenso wie er es mit vielen so genannten Linksextremisten tut. Dass hier doppelte Standards gelten, sieht man daran, dass der Verfassungsschutz es ablehnt, die AfD zu beobachten, obwohl die AfD einen starken neofaschistischen Flügel hat, der ganze Landesverbände dominiert.

Religionsfreiheit gegen Repression verteidigen

6.

Sollen Imame in Moscheen deutsch sprechen? Sind Imame eine Gefahr? Die AfD fordert: »Imame sollen in deutscher Sprache an deutschen Universitäten ausgebildet werden, unabhängig von Weisungen des islamischen Auslands und von muslimischen Verbänden. Von aus dem islamischen Ausland entsandten Imamen geht die Gefahr rechts- und verfassungswidriger Indoktrination der Moscheebesucher aus.« Auch hier sprang CSU-Generalsekretär Scheuer auf den antimuslimischen Zug der AfD auf, als er forderte, dass Imame zukünftig nur in deutscher Sprache predigen dürften. Selbstverständlich wenden sie sich nicht gegen die lateinische Liturgie in der katholischen Kirche oder gegen andere Sprachen in anderen Gottesdiensten. Der Staat hat keine Vorschriften für Gottesdienste zu machen – ob in der Kirche, in der Moschee oder in der Synagoge. Es ist sinnvoll, dass Migranten – egal welcher Herkunft – Gottesdienste in ihrer Muttersprache hören können. Viele Imame predigen übrigens auf Deutsch. Die muslimischen Verbände fordern seit Jahren die Ausbildung von Imamen und islamische Theologie als Studiengang in Deutschland, die in vier Hochschu-

7.

Sollen muslimische Gemeinden als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden? »Die AfD lehnt es ab, islamischen Organisationen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu verleihen, weil sie die rechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllen. Islamische Organisationen erstreben den Körperschaftsstatus mit seinen Privilegien, um ihre Macht zu stärken.« Die AfD erweckt den Eindruck, als ob Muslime besondere Privilegien erhalten würden. Dies ist nicht der Fall. Es geht darum, dass die Muslime endlich die Rechte erhalten, die andere Religionsgemeinschaften selbstverständlich haben. In Deutschland können diese den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts anstreben. Das bedeutet, dass sie Religionsunterricht erteilen und Steuern auf ihre Mitglieder erheben können. Körperschaften des öffentlichen Rechts sind unter anderem die christlichen Kirchen und die jüdische Gemeinde. Die Anerkennung der muslimischen Gemeinden als Körperschaft des öffentlichen Rechts in den Bundesländern wäre ein wichtiger Schritt der öffentlichen Anerkennung. Solange andere Religionsgemeinschaften das Recht haben, Religionsunterricht zu erteilen, müssen auch die Muslime dieses Recht haben. Dies ist kein Privileg, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wenn ein Recht einer bestimmten Gemeinde verwehrt wird, ist das Diskriminierung. ■

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Eine No-go-Area für Rassismus Er lebt als Jude in Berlin-Neukölln und kämpft gegen antimuslimische Vorurteile. In seinem Gastbeitrag zeigt Armin Langer, woran ihn die »Argumente« der Islamfeindinnen und -feinde erinnern: an antisemitische Hetze im 19. Jahrhundert

Armin Langer ist Koordinator der Salaam-Shalom Initiative für jüdisch-muslimischen-Dialog und gegen Diskriminierung und antimuslimische Vorurteile. Er studiert jüdische Theologie an der Universität Potsdam.

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Von Armin Langer

mmer wieder höre ich von allen Seiten, dass ich als Jude nicht in der Nähe einer Moschee, schon gar nicht in einem sogenannten Problemkiez leben könne. Zur »No-go-Area« wurde für mich der Berliner Stadtteil Neukölln erklärt, obwohl ich dort seit mehr als zwei Jahren gerne und gut wohne. Muslimas und Muslime, Migrantinnen und Migranten schaden meiner körperlichen Unversehrtheit, darf ich immer wieder in Internetforen lesen, in Fernsehbeiträgen hören. Obwohl täglich über Antisemitismus berichtet wird, sind wir, Jüdinnen und Juden, nicht mehr die Hauptzielgruppe von Diskriminierung und Hass. Egal, wie allgegenwärtig Antisemitismus in Deutschland ist. In den meisten Bundesländern ist es nicht erlaubt, Tote den islamischen Ritualen gemäß zu beerdigen. Der Muezzin darf die Gläubigen nicht zum Freitags-

gebet rufen. Muslimische Gemeinden sind vom Privileg der Kirchensteuer ausgeschlossen. Es gibt keine muslimische Vertretung in den Rundfunkräten. Und bisher haben wir noch nicht von alltäglichen Diskriminierungen gesprochen. Uns Jüdinnen und Juden kommen die Benachteiligungen, vor denen viele muslimische Deutsche stehen, bekannt vor. Einst mussten wir für Anerkennung kämpfen, einst waren viele, zeitweise alle gegen uns, einst war unser Leben in Europa gefährdet. Der Hass gegen uns wurde immer stärker, schließlich wurde unsere Vernichtung minutiös geplant. Wir stehen natürlich nicht vor einem »neuen« Holocaust: Zum Glück hat die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer aus der Geschichte gelernt. Trotzdem muss die Sorge der Muslime und Musli-


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© Gregor Zielke

oder dass »Muslime schon immer auf einer Mission gewesen sind«. Ich habe dann das Gefühl, dass ich das alles kenne, nur mit »Juden« an Stelle von »Muslimen«. Dieses Gefühl ist für mich verstörend. Und glauben Sie mir, dass niemand die Atmosphäre von damals besser nachvollziehen kann als wir Jüdinnen und Juden. Wir saugen diese Sensibilität mit der Muttermilch auf. Jahrhundertelang waren wir fremd in Europa – wir haben es nur dann in die Schlagzeilen geschafft, als es um Ritualmorde, internationale jüdische Verschwörungen und »Judenbolschewismus« ging. Heute, wenn ich beim Frühstück das Radio einschalte, geht es um jüdische Traditionen und Ikonen. Über Juden und jüdische Kultur wird oft so lobend und freundlich gesprochen, dass es schon nervt. Wenn es aber um den Islam und seine Anhängerinnen und Anhänger geht, handeln die Beiträge fast immer von Terroranschlägen (da kommt der IS einigen wie gerufen), Gewalt (die Salafisten aus Bonn oder die arabische Prügeltruppen in den Berliner Sommerbädern) oder Integrationsdefizite (Kopftuch). Wir bekommen das Bild einer gewalttätigen Religion geliefert.

Flashmob in Berlin-Neukölln im Juli 2014: Unter dem Motto »Wir sind keine Feinde – Stoppt die Hetze!« demonstrieren über einhundert Menschen gegen antimuslimischen und antisemitischen Rassismus

Die gleichen »Argumente« wie die alten Antisemiten mas ernst genommen werden. Es waren schließlich Muslime, die vom »Nationalsozialistischen Untergrund« in Deutschland ermordet wurden, und die NSU-Morde haben uns gezeigt, dass bei türkischen und muslimischen Toten so genau nicht hingeschaut wird. Denn – wenn ein Türke stirbt, dann hat‘s doch einer aus der Sippe gemacht. Medien, Politik, Polizei und Geheimdienste gingen davon aus, dass da »Dönermörder« ihresgleichen töteten. Klar, Mohammed ist ja per se kriminell, ist halt so bei »denen«. Wer bei Google die Kombination »Muslime sind« eingibt, dem liefert die Suchmaschine folgende Vorschläge für »verwandte Suchanfragen«: 1. gefährlich, 2. intolerant 3. Abschaum 4. Dreck. In Blogs lese ich, dass »Muslime überall mit gleicher Wildheit agieren«

Ich übertreibe? Keineswegs: Um die vermeintliche Gewalttätigkeit des Islam zu beweisen, zitieren »Islamkritikerinnen« und »-kritiker« wie Björn Höcke, Thilo Sarrazin, Matthias Matussek oder Alice Schwarzer gerne kriegerische Koranverse. Doch dabei geht es lediglich um die Stigmatisierung einer Minderheit: meiner muslimischen und »migrantischen« Nachbarn. Ich lasse mich aber nicht täuschen, weil ich dieselben Argumente schon einmal gehört habe: Als Antisemitismus. Der deutsche Politiker Otto Böckel, der bei der Reichstagswahl 1887 für den Wahlkreis MarburgKirchhain als erster unabhängiger Antisemit in den Reichstag gewählt wurde, sah, wie heute die Politikerinnen und Politiker der AfD, in den Migranten eine Gefahr. Nur waren damals diese Migranten jüdischen Glaubens, keine Muslime. Herr Böckel schrieb damals: »Die Juden haben sich besonders stark auch durch die Einwanderung vermehrt. Bekanntlich sitzen sie in großer Zahl in Polen, Litauen, Weiß- und Rotrußland, in Podolien und der Ukraine. Dort wohnt beinahe die Hälfte aller europäischen Juden. Hier befindet sich die große vagina judaeorum, aus welcher die übrigen Juden Europas Auffrischung und neuen Zuwachs erhalten. Stets in Bewegung, strömen diese polnischen Juden nach Rumänien, Österreich und Deutschland ein.« Der berühmte Spruch »Deutschland den Deutschen«, der heute in Agitation gegen Muslime und Geflüchtete verwendet wird, stammt übrigens von diesem professionellen Antisemiten. In den 1880er Jahren nahm die Betonung kultureller und religiöser Differenzen zu: Parteien wurden ge-

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gründet, deren einziges Ziel es war, die »Juden« auf einer politischen Ebene zu bekämpfen. So wie heute die AfD, die ihre Stimmen großteils mit Agitation gegen Muslime und Geflüchtete gewinnt. Teile der intellektuellen Elite wurden davon auch angesteckt, so der Historiker Heinrich von Treitschke. Er schwadronierte: »Über unsere Ostgrenze (…) dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen.« Genau wie die AfDler behauptete auch Treitschke, dass er im Namen des Volkes spreche, dessen Stimme sonst nicht gehört würde, und gab sich als Tabubrecher: »Täuschen wir uns nicht. (…) Bis in die Kreise höchster Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen müssen, ertönt es heute wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück.«

mehr als ein Prozent, die muslimische Bevölkerung ist mit unter fünf Prozent weiterhin eine kleine Minderheit. Dennoch brennen Flüchtlingsheime, dennoch spaziert Pegida in Dresden, dennoch kann die AfD mit bis zu 20 Prozent der Wählerstimmen bei der nächsten Bundestagswahl rechnen. Um zu beweisen, dass die Juden qua Religion gewalttätig seien, zitierten die Antisemiten des 19. Jahrhunderts Passagen aus dem Talmud. Laut dem katholischen Theologieprofessor Konrad Martin sei der ganze Talmud ein Zeugnis des Hasses der Juden gegen die Nichtjuden, insbesondere gegen Christen. Martin bezog sich auf Sätze im Talmud, die er aus dem Kontext riss oder falsch übersetzte. Als der AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen bestritt, dass der Koran Basis einer friedlichen Religion sein könnte, setzte er nur die gute alte europäische Tradition des Aufbaus von Vorurteilen fort. Denken Sie nicht, dass sich Meuthen im Koran und in den Hadithen auskennen würde.

Wir Juden waren damals die Parasiten, jetzt sind es die Muslime

ZUM TEXT Dies ist eine erweiterte und aktualisierte Version von Armin Langers Artikel »Nie wieder, egal wen es trifft«, der in marx21, Nr. 1/2015 erschien.

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Wir Juden waren damals die Parasiten, jetzt sind es die türkisch- und arabischstämmigen Deutschen und die Geflüchtete aus Syrien. Seit dem Mittelalter wird der jüdische Broterwerb durch Geldverleih als Parasitentum eingeordnet. Juden durften nicht Bäcker, Schmiede, Richter oder Lehrer werden. Es gab Juden, die andere Berufe als Geldverleiher ausübten, und Christen, die als Banker an Geld kamen: Vorurteile kennen aber keine Logik, der Jude wurde zum Schmarotzer. Die Judenverfolgungen des 20. Jahrhunderts waren logische Folgen dieser Stigmatisierung: Wenn die Juden Schmarotzer sind, gehören sie ausgerottet. Heute rufen bei den AfD-Kundgebungen und Demonstrationen die »besorgten« Bürgerinnen und Bürger vor den Flüchtlingsheimen »Schmarotzer raus!« und es ist stets von »Wirtschaftsflüchtlingen« die Rede. So wie vor 100 Jahren über Berlin als die »verjudete« Stadt gesprochen und gegen neu gebaute Synagogen protestiert wurde, wird heute über eine angebliche Islamisierung des Abendlandes schwadroniert. Gegen den Bau von Moscheen gehen Pegida und die AfD auf die Straßen. Die verjudete Bevölkerung bilde einen »Staat im Staate«, wie die Antisemiten vor hundert Jahren feststellten. Heute ist es eine »Parallelgesellschaft« von Muslimen, die »uns« bedrohe und die Rassisten auf den Plan bringt. Die jüdische Bevölkerung des deutschen Reichs stellte nie

Die Antisemiten und Rassisten finden leider schnell auch Verbündete unter Juden und Muslimen. Dieser Hass auf die eigene Herkunftsgruppe ist nichts Neues, schon im Mittelalter gab es Juden, die nach ihrer Konversion zum Christentum den Inquisitoren bei den Judenverfolgungen halfen. Hamed Abdel-Samed spricht bei AfD-Veranstaltungen über mögliche Auswege aus der Islamisierung des Abendlandes. Der Schriftsteller Akif Pirinçci, der auf seiner Facebookseite gern AfD-freundliche Beiträge postet, verglich bei einer Rede in Dresden sich und seine Mitstreiter mit KZ-Insassen. Sie dürften nicht mehr die Wahrheit aussprechen, dass Muslimen die »Ungläubigen mit ihrem Moslemsaft vollpumpen« würden und dass Deutschland zu einer »Moslemmüllhalde« geworden sei. Diese Menschen nützen nur den Rechtsradikalen, die währenddessen ihren Hass gegen Geflüchtete und Migranten ausleben. Islamfeindliche Aktivistinnen und Aktivisten und Publizierende sind mir zu unkreativ. Sie benutzen dieselbe Sprache und ähnliche »Argumente« wie die Antisemiten des 19. Jahrhunderts, die es heute freilich auch noch gibt. So wie es damals nicht um eine »Kritik der jüdischen Religion« ging, geht es heute auch nicht um eine »Islamkritik«, sondern um antimuslimischen Rassismus. Wir sollen daran arbeiten, Deutschland in eine No-go-Area für Rassismus zu verwandeln. ■


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»Diese Leute sind Faschisten, wählt sie nicht« In Spanien erzielt die rechtsextreme Plattform für Katalonien einen Wahlsieg nach dem anderen. Doch als Linke sich der Partei und ihrem Rassismus entgegenstellen, sinkt der Stern der Rechten. David Karvala ist einer der Initiatoren des am Widerstand beteiligten Bündnisses UCFR. Wir sprachen mit ihm über antifaschistische Strategien, die Bedeutung kleiner Erfolge und Geduld Interview: Miguel Sanz Alcántara

Übersetzung: Marion Wegscheider

D David Karvala

ist Gründungsmitglied von En lucha, einer revolutionärantikapitalistischen Organisation in Spanien. Zudem gehört er zu den Initiatoren und führenden Aktivisten des Bündnisses UCFR.

avid, du bist Mitbegründer der UCFR – Unitat Contra el Feixisme i el Racisme (Vereinigung gegen Faschismus und Rassismus). Dem im Jahr 2010 gegründeten Bündnis gehören mittlerweile mehr als 500 Organisationen an, darunter sämtliche linke Parteien – von der Sozialdemokratie bis zur radikal-antikapitalistischen Linken – sowie alle Gewerkschaften, verschiedene Verbände von Migrantinnen und Migranten als auch religiöse Organisationen. Wie habt ihr es geschafft, ein solch breites Bündnis aufzubauen? Unser Konzept ist denkbar einfach (lacht). Auf der Linken gibt es zwar verschiedene Erklärungen und Gründe dafür, den Faschismus zu bekämpfen. Doch wenn wir gewinnen wollen, müssen wir trotz der Unterschiede zusammenarbeiten. Der Kampf gegen den Faschismus kann nicht einer kleinen linksradikalen Minderheit, einer antirassistischen NGO oder den Migrantinnen und Migranten alleine überlassen werden. Wir wollten alle diese Gruppen und noch viele weitere zusammenbringen – nicht nur für einzelne Protestaktionen, sondern eine stetige Bewegung gegen rechts. Anscheinend ist es relativ einfach, beim Aufbau breiter Bündnisse gegen Rassismus und Faschismus die formelle

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Unterstützung großer Organisationen außerhalb der radikalen Linken zu erhalten... Nein, leider war es überhaupt nicht einfach. Selbst für die bloße Unterstützung auf dem Papier mussten wir kämpfen. Ein Schlüsselfaktor war die Überzeugung von Aktivistinnen und Aktivisten der lokalen Organisationen. Diese haben dann wiederum Druck auf ihre Spitzen ausgeübt, sich der UCFR anzuschließen. Aber was bringt ein breites Bündnis, das viele Organisationen zusammenbringt, ohne gemeinsame Praxis? Wie habt ihr die Organisationen dazu gebracht auch ihre Mitglieder tatsächlich für konkrete Aktivitäten zu mobilisieren? Du hast Recht: Formelle Unterstützung eines Bündnisses oder Aufrufs ist eine Sache, echte Mobilisierung eine andere. Für uns war die Arbeit an der Basis der Schlüssel. Nachdem wir die Unterschriften der Führungsspitzen unter unsere Aufrufe bekommen haben, beginnt die eigentliche Arbeit: Die UCFR-Gruppen vor Ort müssen auf die Parteimitglieder zugehen und sagen: »Eure Organisation unterstützt die UCFR, also engagiert euch bitte hier.« Und das macht den Unterschied? Naja... manche ignorieren das natürlich. Aber in der Regel gibt es in jeder Organisation Mitglieder, denen Antirassismus und Antifaschismus Anliegen sind und die sich betätigen wollen. Die formelle Unterstützung ihrer Organisation hilft solchen Aktivistinnen und Aktivisten bei der Mobilisierung ihrer Gliederungen vor Ort. Die Stärke von UCFR sind die Basisgruppen. Wie entstehen diese Gruppen? Gruppen werden gegründet, weil jemand in der Gegend uns zustimmt und sich am Aufbau der UCFR beteiligen will. Wir fragen also über unseren E-Mail-Verteiler, der aktuell über 2000 Menschen und Organisationen umfasst, sowie auf Facebook oder Twitter (12.000 Freunde und 14.000 Follower) andere Menschen aus der Gegend an und bitten sie, sich zu melden. Zusätzlich bitten wir die großen Organisationen, ihre Aktivisten vor Ort einzuschalten. Dann organisieren wir in der jeweiligen Ortschaft ein Treffen die-

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Aktivismus gegen rechts: Am 20. Februar nehmen etwa 400 Menschen in Barcelona am »Sozialforum gegen Islamhass und Rassismus jeder Art« teil

Die Arbeit an der Basis war der Schlüssel zum Erfolg

ser Menschen und stellen vor, wie UCFR funktioniert. Und wenn alles gut geht, bildet sich daraus eine funktionsfähige lokale Gruppe. Was machen diese Gruppen? Ein erster Schritt ist, die UCFR bekannter zu machen. Dafür verteilen die Gruppen unsere Broschüren in der Stadt. Wichtig ist zu Beginn aber auch, öffentliche Veranstaltungen zu organisieren. Wir bieten an, bekanntere Referentinnen und Referenten zu vermitteln, die neben Vertreterinnen und Vertretern lokaler Organisationen sprechen können. In Orten, in denen es konkrete Probleme mit Ras-

sismus oder Faschisten gibt, entwickeln UCFR-Gruppen eigene Initiative und versuchen, sich mit Aktiven anderer Gegenden austauschen. Dadurch, dass wir ein Netzwerk sind – keine getrennten, isolierten Gruppen – können die Erfolge einer Gruppe als Inspiration für andere dienen. Es ist außerdem sehr einfach, Solidarität aus anderen Gegenden für eine Gruppe zu erhalten, die mit besonderen Problemen konfrontiert ist. Was habt ihr damit erreicht? So ein Prozess vollzieht sich nicht über Nacht, aber er zeigt Ergebnisse. Die Demonstration der UCFR am 19. März dieses Jahres, dem internationalen Tag gegen Rassismus, war unsere bisher größte überhaupt. 15.000 Menschen sind in Barcelona auf die Straße gegangen. Dieses Jahr haben die großen Organisationen ihre Mitglieder tatsächlich mobilisiert. Das wäre so nicht passiert, wenn wir nicht mit kleineren Erfolgen über die letzten Jahre mit ihnen zusammengearbeitet hätten.


© UCFR / facebook.com

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Was meinst du mit kleineren Erfolgen? Wir haben das Bündnis in Katalonien gegründet, weil die rechtsradikale Partei Plattform für Katalonien (Plataforma per Catalunya, PxC) einen Wahlerfolg nach dem anderen feierte. Im Oktober 2010 wäre sie fast ins katalanische Parlament eingezogen und nach den Kommunalwahlen im Jahre 2011 hatte die Partei 67 Stadt- und Gemeinderäte in 39 Kommunen. Doch parallel zum Wachstum des Bündnisses UCFR ist die PxC immer schwächer geworden. Das lag vor allem an der Arbeit der lokalen UCFR-Gruppen, die in den größeren und kleineren Städten Kataloniens die PxC konfrontiert haben. Ist die PxC denn eine faschistische Partei? Die PxC ist ein Klon des französischen Front National (FN) von Marine Le Pen. Ihre Repräsentanten tragen Anzüge, lassen sich zu Wahlen aufstellen und leugnen, faschistisch zu sein. Geführt wird die Partei jedoch von altbekannten Faschisten.

Die Seriosität ist Fassade. Sie wollen eine Organisation aufbauen, die nicht nur darauf abzielt, rassistische Politik umzusetzen, sondern tatsächlich die (höchst mangelhafte) Demokratie abzuschaffen, die wir aktuell haben. Sie wollen also nicht nur Stimmen gewinnen, sondern auch eine Organisation auf der Straße aufbauen. Aktuell beschränkt sich das vielleicht noch auf das Aufstellen von Tischen, an denen für Essen »nur für spanische Familien« gesammelt wird, und die ein oder andere Demonstration. Doch Mitglieder der PxC waren auch schon an Neonazi-Übergriffen beteiligt. Sie haben auch direkte Verbindungen zur offen faschistischen Partei Goldenen Morgenröte in Griechenland.

haben. Gruppen wie SOS Racisme, die gegen Rassismus kämpfen, ohne sich auf die Faschisten zu konzentrieren, machen nützliche Arbeit – gegen den FN allerdings haben sie versagt. Andere Gruppen in Frankreich haben es mit klassischen Antifa-Aktionen gegen die Faschisten versucht und waren damit auch wenig effektiv. Der Schlüsselfaktor ist nicht die Taktik – Veranstaltungen blockieren oder nicht – sondern die Strategie.

Kann man die PxC mit der AfD vergleichen? Die AfD war ja zunächst eine rechtspopulistische und keine faschistische Partei. Solche Parteien wollen Stimmen gewinnen, aber sie organisieren nicht den »Kampf um die Straße«. Und doch gibt ihr Rassismus den Faschisten Bewegungsspielraum. Die Niederlage des ehemaligen Vorsitzenden Bernd Lucke im vergangenen Jahr und die Verlagerung hin zu noch rechteren und fremdenfeindlicheren Positionen ist ein Einschnitt. Noch relevanter finde ich die Zusammenarbeit mit der rassistischen Straßenbewegung Pegida, die sich selbst auch weiter in Richtung offener Faschismus bewegt zu haben scheint – und den Versuch, auf der Straße zu mobilisieren. International hat die AfD offen den Schulterschluss mit anderen europäischen Faschistenparteien im Anzug gesucht – darunter auch mit der PxC und, viel wichtiger, mit der FN und der FPÖ aus Österreich.

Was hat die UCFR in dieser Hinsicht gegen die PxC für Erfahrungen gemacht? In der UCFR gab es Debatten als wir das erste Mal vorgeschlagen hatten, vor PxCWahlversammlungen zu protestieren. Aber wir haben uns darauf verständigt, es auszuprobieren und wir haben unter Beweis gestellt, dass wir friedliche Proteste abhalten, laut sein und Transparente hochhalten können, auf denen die Partei als faschistisch angeprangert wird. Für uns war in der Debatte das Beispiel der Bürgerblockaden gegen den Naziaufmarsch in Dresden sehr hilfreich. Außerdem haben wir im Wahlkampf hunderttausende Flugblätter und Broschüren produziert, die eine einfache Botschaft hatten: »Diese Leute sind Faschisten, wählt sie nicht.« Einige Aktivistinnen und Aktivisten haben sich beschwert, dass wir damit doch nur Werbung für die PxC machen würden. Andere meinten, die Botschaft sei zu simpel, und dass wir ein politisches Programm als Alternative zu den Faschisten anbieten sollten.

In der antifaschistischen Linken herrscht eine heftige Auseinandersetzung darüber, wie solchen Organisationen zu begegnen ist. Manche sagen, dass die direkte Konfrontation ihnen nur Öffentlichkeit und damit mehr Zulauf verschafft. Sollen wir ihre Veranstaltungen aktiv blockieren? Wir sollten auf jeden Fall versuchen, sie zu konfrontieren. Der FN konnte in Frankreich wachsen, weil ein Großteil der Linken und der sozialen Bewegungen keine direkte Gegenbewegung aufgebaut

Wie ist die Debatte ausgegangen? Ich würde sagen: Der Erfolg hat unsere Strategie bestätigt. Bei den Kommunalwahlen im Mai 2015 hat die PxC fast alle Ratssitze (bis auf acht) eingebüßt. Interessant ist: Überall dort, wo es eine stabile UCFR-Gruppe gab, hat die PxC jeden einzelnen Ratsposten verloren. Unsere Strategie ist aufgegangen. In den zwei Wahlen Ende letzten Jahres gab es keine einzige faschistische Liste mehr in ganz Katalonien. Zum ersten Mal seit 20 Jahren! ■

Was meinst du damit? Wir müssen eine breite Bewegung aufbauen, an der eine große Bandbreite an Menschen längerfristig beteiligt ist. Diese Bewegung kann dann lernen und besprechen, was die beste Taktik ist.

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Von Sebastian Friedrich

CONTRA

Hat die AfD einen neofaschistischen Flügel?

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Sebastian Friedrich ist Autor des Buches »Der Aufstieg der AfD: Neokonservative Mobilmachung in Deutschland« und Redakteur der linken Monatszeitung »ak − analyse & kritik«.

n der AfD sammeln sich neben Rechtskonservativen und Neoliberalen auch Vertreter des völkischen Nationalismus. Die Breite der rechten Sammlungspartei macht es schwer, die AfD zu fassen. Seit einigen Monaten macht in linken Debatten ein Begriff die Runde: Faschismus. So spricht Volkhard Mosler in der letzten marx21Ausgabe mit Bezug auf Björn Höcke und Alexander Gauland von einem neofaschistischen Flügel, die AfD werde »zunehmend von Faschisten kontrolliert«. Für die These spricht: Der rechte Flügel möchte die AfD als Massenpartei aufbauen, der Kontakt zu einer entstehenden rechten sozialen Bewegung wird immer enger, Höcke und Co. nähern sich schrittweise faschistischen Ideologieelementen an und versuchen, der Partei ein vermeintlich sozialeres Profil zu geben. Trotzdem: Die AfD ist kein faschistisches Projekt. Entsprechende Analysen laufen Gefahr, die Dynamik der Entwicklungen einseitig zu betrachten. Gerade der Grundsatzparteitag in Stuttgart am 30. April und 1. Mai hat einmal mehr gezeigt, dass die AfD wirtschafts- und sozialpolitisch eine Doppelstrategie fährt: Zum einen spricht sie sich für den Mindestlohn aus, zum anderen ist sie für Steuersenkungen, Deregulierungen und Flexibilisierungen. Auch Gauland weiß, dass die Partei einen wirtschaftsliberalen Flügel braucht, will sie erfolgreich sein. Deshalb bildet er gemeinsam mit dem neoliberalen Co-Vorsitzenden Jörg Meuthen eine Achse im Bundesvorstand. Was aber vor allem gegen die Faschismusthese spricht: Es ist momentan ausgeschlossen, dass die AfD führende Kapitalfraktionen in ihr Projekt einbinden kann − bekanntlich ein zentrales Kriterium materialistischer Faschismusanalysen. Regelmäßig kritisiert etwa der Bundesverband der Deutschen Industrie die AfD für ihre Skepsis gegen-

Faschismuswarnungen und Volksfrontstrategie helfen nicht weiter

DEBATTE

WAS MEINST DU? 36 |

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über Freihandel und Globalisierung. Die AfD kann höchstens bei denjenigen Kapitalfraktionen punkten, die auf lokale und regionale Absatzmärkte setzen. Der rechte Flügel mag faschistische Tendenzen haben, entscheidend ist aber: Die AfD hat unter den aktuellen Voraussetzungen nicht das Zeug, ein tatsächlich faschistisches Parteiprojekt oder gar ein faschistisches Hegemonieprojekt zu etablieren. Die Diagnose soll die Gefahr, die von der Partei ausgeht, nicht verharmlosen. Im Gegenteil: Der Aufstieg der AfD ist durchaus bedrohlich. Er ist Ausdruck eines Konflikts über zwei Formen bürgerlicher Herrschaft im gegenwärtigen Kapitalismus. Die AfD ist kein Gegenmodell zum Bestehenden, sondern kämpft für eine autoritär-nationalistische Variante des Neoliberalismus − und gegen die hegemoniale, »weltoffene«, globalisierte Form. Die AfD trennt bei genauerem Hinsehen nicht viel von den etablierten Parteien, denen sie den Kampf angesagt hat. Gemein ist beiden Formen die im Kern kapitalfreundliche Politik, die den Druck auf Lohnabhängige stetig erhöhen möchte. Überschneidungen gibt es auch bei Flucht und Asyl: Grüne, »Sozialdemokraten« und Konservative betonen zwar häufiger Menschenrechte, aber Einigkeit mit der AfD besteht in der Auffassung, dass unterschieden werden sollte zwischen den verwertbaren und den nutzlosen Migrantinnen und Migranten. Auch der antimuslimische Rassismus, den die AfD zukünftig stärker bedienen möchte, ist bekanntlich auch keine Erfindung der extremen Rechten. Was heißt das für die Praxis? Von der AfD geht aktuell und auch mittelfristig keine faschistische Gefahr aus. Sie sind eine Seite der neoliberalen Medaille. Linke sollten nicht vorschnell Bündnisse mit Teilen des neoliberalen Machtblocks eingehen. ■


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PRO

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aschismus ist eine widersprüchliche politische Erscheinung – beispielsweise, was seine Basis betrifft. Die NSDAP etwa stützte sich bei ihrem Aufstieg auf eine kleinbürgerliche Massenbasis, die sie mit ihrer scheinbar antikapitalistischen Haltung gewann. An die Macht gelangte die Partei dagegen dank der Unterstützung von immer größeren Teilen des deutschen Kapitals, die sie als Rammbock gegen die Arbeiterbewegung einsetzen wollten. Einig waren sich Kleinbürger und Kapitalisten in ihrem Hass auf die Linke. Widersprüche begleiten auch den Aufstieg der AfD. Etwa der zwischen ihren Strömungen. Die AfD als Ganzes ist kein faschistisches Projekt. Die Partei wurde zur Sammlung verschiedener rechter Strömungen gegründet. Der Europaabgeordnete Hans-Olaf Henkel stand für die Strömung des nationalen Neoliberalismus. Dazu gesellte sich eine rechtskonservative Strömung, zu der Beatrix von Storch gehört. Doch die AfD ist auch – wie fast alle rechten Sammlungsversuche – ein Betätigungsfeld von Faschistinnen und Faschisten. Der Massenmord an den europäischen Juden und der verlorene Zweite Weltkrieg machen es heutigen Faschisten schwer, sich offen in die Tradition des historischen Faschismus zu stellen. Einerseits wollen sie zwar ihre Wurzeln nicht kappen, andererseits können sie aber in der isolierten Nazi-Ecke nicht wachsen. Also tarnen sie sich und geben sich einen modernen Anstrich. Erkennbar sind sie trotzdem. Oft genug an ihren Worten, aber vor allem an ihren Taten. Die faschistische Strömung in der AfD nennt sich »der Flügel« und gruppierte sich im März 2015 um die »Erfurter Resolution«. Diese Resolution war vor allem eine Reaktion auf die Abgrenzung des dama-

ligen Parteivorsitzenden Bernd Lucke von der Pegida-Bewegung und von ehemaligen NPD-Mitgliedern. Die Initiatoren um Björn Höcke und André Poggenburg plädierten hingegen für Offenheit und sorgten damit letztlich für die Abspaltung der Lucke-Anhänger im Juni 2015. Seitdem hat der »Flügel« Oberwasser. Weder die AfD noch ihr »Flügel« wird derzeit von irgendeiner Kapitalfraktion unterstützt. Das galt allerdings auch für die frühe NSDAP. Aber der »Flügel« zielt auf eine scheinbar antikapitalistische Massenmobilisierung des Kleinbürgertums, wenn Björn Höcke etwa sagt: »Sozial sollte die AfD sein, weil die Kluft zwischen Arm und Reich in der Bundesrepublik Deutschland immer größer wird und die soziale Marktwirtschaft unbedingt gegen einen entarteten Finanzkapitalismus verteidigt werden muss.«. Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte hat Folgen gehabt. Die Stichworte lauten: soziale Krise, Entsolidarisierung und Parteienverdrossenheit. Natürlich hat der Neoliberalismus auch Widerstand hervorgerufen, aber dieser hat leider wenige Erfolge vorzuweisen. Eine Partei, die vorgibt, weder links noch rechts zu sein, sondern für etwas Neues zu stehen – übrigens ein klassisches Merkmal faschistischer Ideologie – könnte in dieser Situation eine Massenbasis gewinnen. Die AfD ist noch nicht diese Partei. Doch der »Flügel« möchte sie dazu machen. Die Ankündigung des ursprünglich zum Lucke-Flügel zählenden Vorsitzenden Jörg Meuthen auf dem jüngsten Parteitag, ein »anderes Deutschland« zu wollen als das »linksrotgrün verseuchte«, hat gezeigt, wie der »Flügel« andere Kräfte vor sich hertreibt. Es ist wichtig, die Gefahr des Faschismus bereits im Keim zu ersticken. Er bedroht uns alle. Darum sollte ein Bündnis gegen die AfD auch alle umfassen, die sie stoppen wollen.■

Von Jan Maas

Für viele ist klar: Die AfD stellt eine Gefahr dar. Doch sammeln sich in der Partei tatsächlich auch Neonazis? Müssen wir möglicherweise davon sprechen, dass sie dort ein faschistischer Flügel herausbildet? Unsere beiden Autoren haben hierzu unterschiedliche Meinungen

Faschisten tarnen sich und geben sich einen modernen Anstrich

Mit diesen beiden Beiträgen ist die Debatte eröffnet und die Diskussion geht weiter. Auf marx21.de findest du jeweils eine weitere Antwort der beiden Autorinnen. Was denkst du? Beteilige dich online an der Debatte oder sende deinen Beitrag

Jan Maas ist Redakteur von marx21.

per E-Mail an redaktion@marx21.de. Oder schreibe uns per Post: marx21 – Magazin, Postfach 44 03 46 12003 Berlin. Wir freuen uns auf zahlreiche Zuschriften! marx21 02/2016

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Radikal, glaubwürdig und kämpferisch Die »Bundeszentrale für Rassismusbekämpfung« in Aktion: Mit einem Absperrband versuchen »Mitarbeiter der Behörde« die Rassisten von der AfD während ihres Wahlkampfs in Freiburg von der Bevölkerung zu isolieren

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Die AfD ist schwächer als anderswo, DIE LINKE erzielt eins der besten Wahlergebnisse seit ihrer Gründung und gewinnt viele neue Aktive: Die Erfahrungen aus Freiburg zeigen, wie eine Partei im Kampf gegen Rassismus als sozialistische Alternative aufgebaut werden kann Von Daniel Anton und Dirk Spöri

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in bestimmendes Thema im Wahlkampf war natürlich die AfD. Seit Ende 2015 war in Baden-Württemberg zu befürchten, dass die AfD in den Landtag einziehen könnte. Die Befürchtungen sollten sich am Wahlabend bestätigen: Mehr als 800.000 Menschen gaben der Partei ihre Stimme, das entsprach 15,1 Prozent. Als Freiburger LINKE konnten wir den Wahlabend – bei aller Wut über die landesweiten Ergebnisse der AfD – dann doch ein wenig feiern: Nicht nur, dass die AfD hier ihr zweitschlechtestes Ergebnis holte, es wählten 9.500 Menschen DIE LINKE. Das entspricht 8,4 Prozent und ist in absoluten Zahlen das

zweitbeste Ergebnis der hiesigen LINKEN seit ihrer Gründung. Unser Wahlkampf und unsere Politik waren im doppelten Sinne vor allem bei jungen Menschen erfolgreich: 58 Prozent unserer Wählerinnen und Wähler sind jünger als 35 Jahre. Die Freiburger Linksjugend-Gruppe konnte ihre Aktivenzahl im Wahlkampf verdoppeln und auch die Mehrzahl der Neumitglieder bei der LINKEN ist jung. Für uns ist dieser Erfolg nicht nur mit richtigen Inhalten zu erklären, sondern auch mit einem Wahlkampf, in dem sich junge Menschen aktiv gegen soziale Gerechtigkeit und Antirassismus einsetzten konnten.


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58 Prozent unserer Wähler sind jünger als 35 Jahre

Viele Aktivistinnen und Aktivisten in Freiburg wollten die direkte Auseinandersetzung mit der AfD aufnehmen. Es handelt sich dabei um eine Partei, deren Mitglieder in Baden-Württemberg Anmelder für Pegida-Aufmärsche waren, die Demonstrationen von Abtreibungsgegnern und regelmäßige Proteste gegen die Homoehe organisieren. Nach einer landesweiten DGB-Demonstration gegen rechts im Januar gründeten deshalb Mitglieder der LINKEN und dem Studierendenverband Die Linke.SDS eine Aktionsgruppe, die sich einmal wöchentlich traf. Sie wurde zu einer Anlaufstelle für Menschen, die im Wahlkampf Partei ergreifen wollten gegen die AfD, ohne gleich bei der LINKEN mitmachen zu müssen. Die Kampagnengruppe setzte sich zum Ziel, bei jeder öffentlichen Aktion oder Veranstaltung der AfD zu protestieren. Den Startschuss dafür gab es an der Uni: Wir haben für die Treffen der Aktionsgruppe plakatiert und über DIE LINKE dazu eingeladen. Außerdem verteilten wir Flyer auf Demonstrationen und bei einer LINKE-Veranstaltung zum NSU. Wir erstellten Listen, auf denen sich Interessierte eintragen konnten. Dutzende Leute meldeten sich, die mithelfen wollten. So haben wir noch vor Beginn des Wahlkampfs den Grundstein gelegt. Gleich auf den ersten Treffen beschlossen wir, zwei Dinge zu tun: mit Plakaten im »AfD-Layout« und Flugblättern Gegenargumente zur rechten Propaganda zu liefern und bei allen öffentlichen Auftritten der AfD dabei zu sein. Letzteres war ein Spagat: Wir hatten nicht das Ziel, Veranstaltungen zu verhindern. Die AfD ist – zumindest im Moment – noch keine Nazipartei. Doch sie bereitet mit ihrer Hetze den Nährboden für Gewalt gegen Geflüchtete und andere. Zusammen mit den Pegida-Aufmärschen versuchen die Rechten, die Straßen und damit öffentliche Räume zu besetzen und damit Selbstbewusstsein bei ihren Anhängern zu erzeugen. Deshalb ist es uns wichtig, die AfD nicht ungestört reden zu lassen. Wir wollen ihren Anhängern zeigen, dass sie in der Minderheit sind und dass nicht nur ein paar wenige Linke, sondern Menschen aus unterschiedlichen Zusammenhängen die AfD und ihre Propaganda für gefährlich halten. Als es Mitte Februar dann den ersten AfD-Infostand in der Freiburger Innenstadt gab, waren kurz darauf auch Aktive aus der Aktionsgruppe vor Ort: Mit einem Transparent, rot-weißem Baustellenabsperrband und einem Flugblatt ausgestattet, demonstrierten wir als »Bundeszentrale für Rassismusbekämpfung«. Mit dem Absperrband machten wir den Versuch, den Infostand zu umrunden, wurden aber von der Polizei ziemlich schnell daran gehindert. Die Aufmerksamkeit war dennoch groß und die Rückmeldung in der Bevölkerung positiv: Die Ak-

Dirk Spoeri ist Landessprecher der LINKEN BadenWürttemberg.

Daniel Anton ist Student und aktiv bei der LINKEN und ihrem Studierendenverband Die Linke.SDS in Freiburg.

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tiven bekamen Brezeln und Äpfel geschenkt, die Rechten packten entnervt ein. Beim nächsten AfDInfostand war dann mehr Polizei anwesend und versuchte, uns einzuschüchtern. Da nun aber eine größere Anzahl von Aktivistinnen und Aktivisten dabei war, darunter nun auch Leute aus Antifa-Gruppen, war unser Selbstbewusstsein groß genug, um so lange zu bleiben bis die AfD-Mitglieder abermals frus-

Wir haben keine Angst, über Sozialismus zu sprechen Oben: DIE LINKE beteiligt sich im Januar an einer Demonstration des DGB auf dem Stuttgarter Schlossplatz Unten: Über achtzig Gruppen folgten dem Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbunds und setzen im Landtagswahlkampf ein deutliches Zeichen gegen die AfD

triert abzogen. Ihre Partei verzichtete im weiteren Wahlkampf auf Infostände in der Innenstadt. Als die AfD ihre einzige Wahlkampfveranstaltung in Freiburg mit ihrem Spitzenkandidat Jörg Meuthen bekannt gab, gründeten wir ein Bündnis für eine Protestkundgebung vor dieser Veranstaltung. Diese Kundgebung meldeten wir auf einem Platz nahe der Veranstaltung an, zusammen mit einer Demo, die direkt vor der Eingangstür vorbeiziehen sollte. Doch angesichts einer antirassistischen Kundgebung des DGB wenige Tage zuvor und den zahlreichen Aktionen im Rücken sagte die AfD ihre Veranstaltung kurzfristig ab. Auch im Umland von Freiburg gab es zahlreiche Aktionen. Die Linksjugend ['solid] machte es sich zur Aufgabe, vor jeder AfD-Veranstaltung in der Region Flugblätter zu verteilten und mit antirassistischen Transparenten präsent zu sein. Als zum Wahlkampfabschluss Frauke Petry in Breisach, in der Nähe von Freiburg, auftreten wollte, gründete sich auch dagegen ein Bündnis. Mit den erfolgreichen Aktionen und Protesten in Freiburg im Rücken demonstrierten 1500 Menschen gegen Frauke Petry – in einer

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Stadt mit nur 10.000 Einwohnern. Neben dem direkten Erfolg – die AfD wurde mit ihrem Rassismus konfrontiert und konnte kaum öffentlich auftreten – boten diese Aktionen die Möglichkeit, sich im Wahlkampf zu engagieren, ohne direkt für eine Partei Werbung machen zu müssen. Die Aktionsgruppe und die Demonstrationen waren auch ein Ausweg aus der Ohnmacht, die viele angesichts der starken Umfragewerte der AfD und der rassistischen Hetze verspürten. DIE LINKE konnte davon profitieren, dass sie als entschiedene Gegnerin von Rassismus und als Kraft wahrgenommen wurde, die sich nicht nur um Wahlen und Wahlkämpfe kümmert. Die antirassistische Kampagne der Freiburger LINKEN führte nicht dazu, dass wir andere Themen fallen ließen. Im Dezember und Januar beteiligten wir uns an vier Demonstrationen gegen den Krieg in Syrien, eine organisierten wir sogar mit. Mitglieder der LINKEN und der uns nahestehenden Gemeinderatsgruppierung Linke Liste haben schon vor zwei Jahren ein Bündnis für die Einführung eines Sozialtickets gegründet, welches mit Veranstaltungen und Aktionen so lange Druck machte, bis die Stadt Freiburg Anfang Mai endlich dessen Einführung beschloss – gegen den eigentlichen Willen der grünschwarze Mehrheit im Gemeinderat. Es sind diese kleinen und großen Erfolge, die eines ganz deutlich machen: DIE LINKE kann nur Erfolg haben, wenn sie nicht nur als Wahlverein auftritt, sondern eine reale Handlungsplattform für die Menschen darstellt. Eine Umfrage am Wahltag belegt das: In Freiburg nannten 65 Prozent der Wählerinnen und Wähler »Soziale Gerechtigkeit« als Grund, uns zu wählen. Es war mit Abstand das wichtigste Thema, auch bei jungen Menschen, gerade in Städten. Denn teure Mieten, Befristung und Leiharbeit bestimmen das Leben vieler junger Leute. Dieser Wahlkampf hat gezeigt, dass DIE LINKE jungen und älteren Menschen vermitteln muss, dass sie in unserer Partei in Theorie und Praxis mitbestimmen können. Jede und jeder von uns kann in Streiks, antirassistischen Aktionen, im Betrieb und auf der Straße für die Verbesserung des eigenen Lebens kämpfen. Der Gegenwind von rechts und die rassistisch geführte Flüchtlingsdebatte zeigen, dass ideologische Fragen wichtig sind. DIE LINKE wird nicht nur für praktische Aktionen gebraucht, sondern sie muss auch grundsätzliche Antworten auf die Frage geben, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Sie muss also klare Kante zeigen und offensiv für offene Grenzen für alle eintreten, außerdem für eine Umverteilung des Reichtums und gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Wir sollten keine Angst davor haben, über Sozialismus zu sprechen und uns für die Überwindung des Kapitalismus zu engagieren. Wenn wir radikal, glaubwürdig und kämpferisch auftreten, können wir nur gewinnen.■


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Mach mit bei » « Im Kampf gegen Rassismus hat sich ein neues Bündnis gebildet. Hier erfährst du, was es plant und wie du dabei helfen kannst, die Rechten zu stoppen VON Ronda Kipka

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ir müssen etwas unternehmen! Das war unser Ausgangspunkt. Wir wollen unserem antifaschistischen Grundkonsens, den auch die Mehrheit der Bevölkerung teilt, Ausdruck verleihen. Wir wollen sichtbar machen, dass der faschistische Keim, der in der AfD heranwächst, für uns alle eine Gefahr darstellt. Wir sind nicht die ersten, die einer rechtspopulistisch-faschistischen Entwicklung den Kampf ansagen. Genau deshalb wissen wir, dass wir es schaffen können – und wie immens wichtig es ist, zu handeln und nicht abzuwarten. Das Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« ist nach den Landtagswahlen im März an die Öffentlichkeit gegangen und innerhalb kürzester Zeit haben mehr als 17.000 Menschen unseren Aufruf unterschrieben. Unter den Erstunterzeichnern sind Abgeordnete von LINKE, SPD und Grünen, Gewerkschaftssekretäre, NGOs, Flüchtlingsinitiativen, der Chaos Computer Club und andere. Diese Breite ist uns wichtig. Sie war auch ausschlaggebend dafür, dass wir wenige Wochen später eine Aktionskonferenz mit 600 Teilnehmenden aus verschiedenen politischen Spektren aus ganz Deutschland in Frankfurt ausrichten konnten. Kernpunkte der Kampagne sind einerseits die Aufklärungsarbeit über die Gefahr, die von der AfD und ihrem faschistischen Flügel ausgeht, und andererseits die direkte Aktion und Konfrontation in der Öffentlichkeit, nach den Vorbildern von Dresden Na-

zifrei und der Anti-Nazi-League in England. Wir brauchen bundesweite Gegenmobilisierungen auf der Straße, aber auch lokale Aktionen und Engagement im persönlichen Umfeld: Bis zur Bundestagswahl 2017 wollen wir 10.000 Stammtischkämpfer und Stammtischkämpferinnen ausbilden. Stammtisch steht hierbei für viele Orte, sei es die Kneipe, der Infotisch, der Tisch in der WG, der Familie oder im Verein. Wir wollen Menschen argumentativ und rhetorisch rüsten, damit sie sich befähigt und ermutigt fühlen, öffentlich rechten Parolen die Stirn zu bieten und rechte Hetze zu entlarven.

Ronda Kipka ist aktiv im Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus«.

Dazu bilden wir gerade Trainerinnen und Trainer aus, die dann auf den kommenden Regionalkonferenzen Schulungen abhalten werden. Die Konferenzen sollen zudem der weiteren Vernetzung und Aktionsplanung dienen, also eine regionale Verankerung und Umsetzung der bundesweiten Kampagne vorantreiben. Um unserer Stärke und Größe Ausdruck zu verleihen, planen wir für den 3. September eine Großdemonstration in Berlin. Wir wollen den symbolischen Kampf um die Hauptstadt kurz vor der Berliner Landtagswahl ausrufen und zugleich den bundesweiten Protest gegen rechts bündeln und sichtbar machen. Ebenso wollen wir uns als Bündnis an den Menschenketten am 19. Juni und anderen antirassistischen Aktionen beteiligen. Mach mit und werde aktiv! ■

★ ★★ Timeline JUNI 18. & 19.6. Menschenketten Ab 20.6. Regionalkonferenzen (mehr info: www.aufstehengegen-rassismus.de)

SEPTEMBER 3.9. Bundesweite Demonstration gegen rechts in Berlin

Was du tun kannst? marx21 ruft alle Leserinnen und Leser auf, jetzt aktiv gegen rechts zu werden. Mach mit: • • • • • •

Unterschreibe den Aufruf »Aufstehen gegen Rassismus – Deine Stimme gegen rechte Hetze!« und verbreite ihn über deine Kanäle. Werde Stammtischkämpferin und Stammtischkämpfer und beteilige dich an den Regionalkonferenzen. Mobilisiere in deiner Uni, deiner Schule und deinem Betrieb zu den Menschenketten, die für den 19. Juni geplant werden. Gewinne Bündnispartnerinnen und -partner für die Mobilisierung nach Berlin am 3. September. Werde vor Ort aktiv – mach mit bei der LINKEN. Organisiere in deiner LINKEN- oder SDS-Gruppe oder gemeinsam mit Bündnispartnerinnen und -partnern einen Workshop zu Rassismus, Faschismus und AfD. Referentinnen und Referenten vermitteln wir gerne.

Plakate, Flyer und Argumentationshilfen können auf der Homepage des Bündnisses bestellt werden.

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Internationales | weltweiter widerstand

© Garry Knight / CC 0 / flickr.com

GroSSbritannien

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Im Zuge der Veröffentlichung der »Panama Papers« muss Premierminister David Cameron Anfang April zugeben, dass sein Vater Direktor einer Briefkastenfirma war und er auch selbst bis 2010 Anteile daran besaß. Tausende Demonstrierende versammeln sich daraufhin vor seinem Amtssitz in der Londoner Downing Street und fordern mit Sprechchören und auf Plakaten seinen Rücktritt (»Zeit zu gehen, Kumpel«). Noch im Jahr 2013 versprach Cameron, solche Firmen härter zu verfolgen. Eine Petition fordert nun Neuwahlen noch in diesem Jahr. Sie hat die nötige Unterschriftenzahl erreicht, aber der Petitionsausschuss der Regierung lehnt eine Debatte darüber ab.


Internationales | weltweiter widerstand

Mexiko

Bildungsstreik mal anders Mexikos Lehrkräfte gehen gegen eine Bildungsreform auf die Barrikaden. Der Staat antwortet mit Tränengas Von Leticia Hillenbrand

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n Mexiko streiken landesweit Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen gegen die Bildungsreform der Regierung. Trotz eines massiven Polizeieinsatzes setzt die Nationale Unabhängige Lehrergewerkschaft (CNTE) ihren Protest im Zentrum von MexikoStadt fort. Lehrkräfte aus dem ganzen Land waren angereist, um das Gespräch mit der Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto zu suchen. Die Lehrerinnen und Lehrer betonen, dass sie ihre Mahnwachen nicht aufgeben werden, bis die Regierung auf Verhandlungen eingeht. Teils unter Tränengas der Polizei händigten die Protestierenden Senat und Regierung ein Dokument aus, in dem sie ihre Ablehnung der Bildungsreform begründen und einen offenen Dialog mit der Regierung fordern. Danach postierten sich die Lehrkräfte vor dem Bildungsministerium, wurden jedoch von der Bundespolizei vertrieben. Die unabhängige Gewerkschaft fordert einen runden Tisch mit dem Bildungsminister und weiteren Vertretern der Regierung, um über die 2013 initiierte Bildungsreform zu diskutieren. Sie kritisiert, dass die Reform die Privatisierung des Bildungssystems vorantreibt. Damit verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte. Die Reform beinhaltet Leistungskontrollen, darunter eine standardisierte Prüfung aller Lehrerinnen und Lehrer, die weder dem sozialen und alltäglichen Arbeitsumfeld der Pädagogen noch der kulturellen und sprachlichen Vielfalt der Schüler Rechnung trägt. Außerdem gab es laut CNTE bereits mindestens 25.000 Entlassungen im Bildungssektor. Auch deshalb werde unbefristet gestreikt, erklärte CNTE-Mitglied José Rangel, denn der Stellenabbau bedeute einen gravierenden Rückschritt für das Bildungswesen des Lands. Die Reform sei ein »Zwangsgesetz«, das nur »den Kampf im ganzen Land intensiviert

und das Bildungssystem Mexikos destabilisiert«, stellte Rangel fest. Bildungsminister Aurelio Nuño Mayer kündigte jedoch bereits an, keine Gespräche mit den Pädagogen führen zu wollen, da »sie mit ihren Aktionen den Dialog blockieren«. Die Bildungsreform wurde vom Parlament beschlossen und stehe daher nicht zur Debatte, so Nuño. Er warnte davor, dass Lehrer, die mehr als drei Mal hintereinander ohne Entschuldigung nicht zur Arbeit erscheinen, sofort entlassen werden können. »Diejenigen, die gegen diese Reform sind, sind auch diejenigen, die ihre Privilegien behalten wollen«, fügte er hinzu. Im Bundesstaat Chiapas stießen indes Lehrer und Eltern mit Lokal- und Bundespolizisten zusammen. Die Einsatzkräfte attackierten die Protestierenden mit Tränengas, als diese die zwei wichtigsten Eingänge der Kleinstadt Chiapa de Corzo blockierten. Am Tag darauf protestierten die Lehrkräfte zusammen mit Eltern gegen die Polizeigewalt und setzten auf der Straße ihren Kampf gegen die Bildungsreform fort. Gleichzeitig blockierten Streikende trotz starker Polizeipräsenz alle Zugänge zum Flughafen der Stadt Oaxaca im Süden des Landes. Mittlerweile haben sich auch die Eltern der 43 verschwundenen Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa, Mitglieder der Nationalen Gewerkschaft der Berg- und Metallarbeitern sowie indigene Gemeinden aus dem Bundesstaat Guerrero dem Arbeitskampf der Pädagogen angeschlossen. ■ ★ ★★ Leticia Hillenbrand Leticia Hillenbrand schreibt regelmäßig für das Online-Portal »amerika21«, wo dieser Artikel auch zuerst veröffentlicht wurde. Außerdem ist sie Autorin von »The International Encyclopedia of Revolution and Protest«.

USA Seit Mitte April haben 40.000 Mitarbeiter des Telekommunikationsunternehmens Verizon in mehreren Staaten an der Ostküste 44 Tage lang gestreikt. Der in einigen Segmenten marktführende Konzern plante unter anderem ein Outsourcing in Niedriglohnländer. Seit Auslaufen der Tarifverträge im August letzten Jahres hatten die Mitarbeiter keinen Arbeitsvertrag, seit April auch keine Krankenversicherung mehr.

Griechenland Gegen geplante Rentenkürzungen und Steuererhöhungen legten Anfang Mai Arbeiterinnen und Arbeiter etlicher Unternehmen für mehrere Tage die Arbeit nieder. Schulen blieben geschlossen, Bahnen, Fähren und Busse fuhren nicht, das Fernseh- und Radioprogramm fiel größtenteils aus. Die griechische Regierung hat das Budget um 1,8 Milliarden Euro gekürzt, um die Auflagen der Kreditgeber weiterhin erfüllen zu können

Belgien

Anderer Ort, gleiches Manöver In Brüssel sind Ende Mai laut Polizei 60.000 Menschen auf die Straße gegangen, um sich gegen ganz ähnliche Arbeitsmarktreformen zu wehren, wie sie auch in Frankreich geplant sind. Die Pläne der belgischen Regierung umfassen eine Erhöhung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahre, Kürzungen im öffentlichen Dienst und die Aufhebung der automatischen Anpassung der Gehälter an die Inflation. Da ein großer Teil der Demonstrierenden aus anderen Städten anreiste und somit nicht zur Arbeit erschien, kam es landesweit im öffentlichen Dienst zu vielen Ausfällen.

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Säbelrasseln im Westpazifik Die beiden Großmächte China und USA rangeln um die Vorherrschaft in einer strategisch wichtigen Region. Dabei geht es um mehr als Rohstoffreserven oder nationalistisch aufgeladene Grenzstreitigkeiten Von Christoph Hoffmeier

US-Kampfhubschrauber bei einer Übung: Die USA verfolgen das Ziel, 60 Prozent der Marinestreitkräfte auf den Einsatz in Asien auszurichten

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n den vergangenen Monaten gab es wiederholt Meldungen über militärische Muskelspiele zwischen China und den USA im westlichen Pazifik. Jüngster Höhepunkt dieser Entwicklung war im Oktober die Entsendung des amerikanischen Zerstörers »USS Lassen« ins Südchinesische Meer. Die US-Regierung begründete ihren Schritt damit, dass China dort einige künstliche Inseln aufgeschüttet habe, die auch zu militärischen Zwecken genutzt werden könnten. Tatsächlich begreift Peking nahezu das gesamte Südchinesische Meer als eigenes Hoheitsgebiet und gerät deshalb immer wieder in Konflikt mit den Anrainerstaaten Vietnam, Philippinen, Brunei, Malaysia und Taiwan. Auf ihrer Fahrt durch das Südchinesische Meer passierte die »USS Lassen« auch die umstrittenen künstlichen Inseln. Die Reaktion aus Peking folgte prompt: Fortan wurde der amerikanische Zerstörer von chinesisches Kriegsschiffen begleitetet. Nur wenige Tag später verfolgte ein Unterwasserboot der chinesischen Marine den US-Flugzeugträger »USS Reagan« mehrere Stunden lang vor der japanischen Küste.

Neben den unmittelbaren ökonomischen Interessen – dem Zugang zu vermuteten Gas- und Erdölressourcen auf dem Meeresgrund oder auch zu umfangreichen Fischfanggründen – sind diese Territorialstreits Ausdruck eines geopolitischen Machtkampfs zwischen dem aufsteigenden China und der bisherigen Supermacht USA um die globale Vormachtstellung. Die US-amerikanischen Eliten verstehen den Aufstieg Chinas als Bedrohung für ihre Interessen. Kein Wunder: Gemessen am Bruttosozialprodukt entwickelte sich China dank zweistelliger jährlicher Wachstumsraten innerhalb von drei Jahrzehnten zur zweitgrößten Volkswirtschaft. Aus der Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2010 kam das Land deutlich gestärkt gegenüber den westlichen Industriestaaten hervor: Allein in diesem Zeitraum wuchs die chinesische Wirtschaft um 56 Prozent. Dem steht ein Wachstum von lediglich drei Prozent im Westen gegenüber. China zog sowohl an Deutschland als auch an Japan vorbei und stieg im Jahr 2009 zur größten Exportnation auf. Gegenwärtig werden über 80 Prozent der


weltweiten produzierten Klimaanlagen, 70 Prozent der Mobiltelefone und 60 Prozent der Schuhe in China hergestellt. Insbesondere durch die Ansiedlung arbeitsintensiver Fertigungsindustrien transformierte sich das Land von einer zentralen Kommandowirtschaft zu einem liberalen Staatskapitalismus. Zunehmend wandelt sich die chinesische Wirtschaft von einer reinen »Werkstatt der Welt« hin zu einer höher entwickelten Ökonomie, die in wachsendem Maße befähigt ist, Zulieferkomponenten selbst herzustellen. Unternehmen wie Huwai oder Lenovo sind mittlerweile feste Größen auf den westlichen Konsummärkten. Das klassische Bild der chinesischen Wirtschaft, wonach schlecht bezahlte Arbeitskräfte Apple-Produkte zusammenschrauben, die dann auf die Absatzmärkte in höher entwickelten Industriestaaten exportieren werden, entspricht nur noch zum Teil der Realität. Die Staatsführung unter Xi Jinping formuliert mit ihrer Strategie »Made in China 2025« ehrgeizige Ziele: Produktionsanlagen sollen modernisiert und ausländische Technologieimporte zunehmend durch eigne Innovationen ersetzt werden. Bis zum Jahr 2049 soll die Volksrepublik zur führenden »Industriesupermacht« aufsteigen. Schon heute besitzt China das – in nur wenigen Jahren aufgebaute – weltweit größte Streckennetz für Hochgeschwindigkeitszüge. Bis zum Jahr 2020 werden weitere zehn Großflughäfen eröffnet. Um ihre hochgesteckten Ziele zu erreichen, bemüht sich Peking, die Staaten der Region mittels intensiver Diplomatie in den eigenen Orbit zu ziehen: China ist mittlerweile regelmäßiger Teilnehmer der erweiterten Gipfeltreffen des südostasiatischen Staatenbündnisses ASEAN (Brunei, Kambodscha, Indonesien, Malaysia, Laos, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam) unter Einschluss Südkoreas und Japans. Der erfolgreiche Abschluss eines Freihandelsabkommens mit den ASEAN-Staa-

ten zur Senkung von Zöllen und Einfuhrschranken im Jahr 2010 ließ Chinas Einfluss in der Region gegenüber Japan und den USA signifikant steigen. Ähnliche bilaterale Abkommen folgten mit Australien und Neuseeland. Für dieses Jahr forciert die chinesische Staatsführung ein multilaterales Freihandelsabkommen – die »Regional Comprehensive Economic Partnership« (RCEP) mit den ASEAN-Staaten, sowie Südkorea, Japan, Australien, Neuseeland und Indien. Der Abschluss solcher Abkommen hat zwei wichtige Funktionen: Zum einen sichern sie China vor unkalkulierbaren protektionistischen Maßnahmen, sie schützen also die Profite chinesischer Unternehmen gegenüber möglichen Einfuhrschranken. Zum anderen stellen die Abkommen den Versuch Chinas dar, politische Einflusssphären in der Region zu generieren. Chinas stetig wachsender Einfluss blieb auch den politischen und ökonomischen Eliten der USA nicht unbemerkt. Doch die Strategie Washingtons zum Umgang mit China sieht sich mit einem grundlegenden Widerspruch konfrontiert: Einerseits geraten die USA und amerikanische Unternehmen zunehmend in Konflikt mit dem chinesischen Staat und Kapital. Anderseits existiert eine tiefgehende Verflechtung der Ökonomien der beiden Wettbewerber. Sie basiert vor allem auf chinesischen Krediten und den günstigen Arbeitskräften, die US-amerikanische Firmen ausbeuten, um ihre globale Konkurrenzfähigkeit aufrechtzuerhalten. Dementsprechend erleichtert Washington heimischen Unternehmen wie Apple die Verlagerung von Produktionsstätten nach China.

© de.statista.com / CC BY-SA

© DVIDS US Army / CC BY / flickr.com

Internationales | China

Für eine Weile vermochten die Vereinigten Staaten diesen Widerspruch mit einer Politik der Einbindung gepaart mit einer untergeordneten Politik der Eindämmung aufzulösen. Der frühere Regierungsberater Aaron Friedberg hat die Wortschöpfung »congagement« (bestehend aus »containment«, Eindämmung, und »engagement«, Einbindung) ge-

Zeitenwende in der Weltwirtschaft: Nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds ist China seit 2014 die größte Volkswirtschaft der Welt – noch vor den USA

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Internationales | China

© Robert Scoble / CC BY / flickr.com

nistan und Irak] bereitgestellt. In den kommenden zehn Jahren müssen wir entscheiden, wie wir unsere Zeit und Energie investieren, um unsere Führungsmacht zu erhalten, unsere Interessen zu wahren und unsere Werte zu fördern. Zu unseren vornehmlichen Aufgaben wird es gehören, mehr ökonomische, diplomatische und strategische Ressourcen auf den asiatisch-pazifischen Raum zu lenken. Diese Region ist zu einem Motor der Weltpolitik geworden. (...) Wir wollen unsere globale Führungsrolle erhalten, und dazu gehört eine strategische Umorientierung. Sie kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir anerkennen, welche Bedeutung dem asiatisch-pazifischen Raum für unser nationales Interesse zukommt.«

Werkbank der Welt: Im ostchinesischen Wuxi lässt der USamerikanisch-irische Konzern Seagate Computer-Festplatten anfertigen. Mittlerweile sind aber auch immer mehr chinesische Firmen der Hightech-Industrie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig

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prägt, um die Widersprüchlichkeit der US-Strategie gegenüber China zu beschreiben. Diese Politik funktionierte, solange die Vereinigten Staaten in der Lage waren, eine unipolare Weltordnung aufrechtzuerhalten und zu dominieren. Aber die gescheiterten militärischen Interventionen im Irak und Afghanistan, welche die amerikanische Außenpolitik stark gebunden haben, sowie Chinas anhaltender Aufstieg während der Finanz- und Wirtschaftskrise veränderten die Situation. Die China-Politik Washingtons geriet in eine Krise. Das zunehmend selbstbewusste Auftreten Chinas und der chinesischen Unternehmen führte zu einer radikalen Kurskorrektur. Im Jahr 2011 erklärte Präsident Barack Obama vor dem australischen Parlament das Engagement und die Präsenz der USA in Asien zur »Top-Priorität«. Verlorengegangener Boden gegenüber China sollte wieder gutgemacht werden. Schon einige Wochen zuvor hatte die damalige Außenministerin Hillary Clinton in einem ausführlichen Artikel im Politikjournal »Foreign Affairs« die neue Strategie dargelegt. Unter dem Titel »America’s Pacific Century« hieß es: »In den vergangenen zehn Jahren haben wir immense Ressourcen für diese Einsätze [in Afgha-

Diese langfristige strategische Umorientierung der US-amerikanischen Außenpolitik hatte das Ziel, binnen der folgenden drei Jahre sechzig Prozent der Marinestreitkräfte auf den Einsatz in Asien auszurichten. Für diese Zielvorgabe wurde das Militärbudget neu justiert. Im Jahr 2014 beliefen sich die Ausgaben auf 610 Milliarden Dollar (gegenüber 575 Milliarden Dollar im Jahr 2005). Zudem schlossen die USA zahlreiche militärische Einzelabkommen mit Ländern aus Südostasien. Um nur einige zu nennen: Mit den Philippinen, einer ehemaligen US-Kolonie, bauten sie seit 2012 sukzessive die militärische Kooperation aus. Neben gemeinsamen Militärübungen wurde vereinbart, dass amerikanische Truppen einen Marinestützpunkt und eine Luftwaffenbasis nutzen dürfen. Singapur erlaubt seit dem Jahr 2012 die dauerhafte Stationierung von amerikanischen Kriegsschiffen in seinen Gewässern. Und selbst mit Vietnam – dem Land, in dem der US-Imperialismus seine größte Niederlage erfuhr – schloss Washington im Jahr 2011 eine »umfassende Partnerschaft«. Zudem gelang es den USA, auch andere Bündnispartner enger an sich zu binden: Mit Australien vereinbarte Washington den Ausbau des Marinestützpunktes in Darwin. Selbst Japan konnte für die Einkreisungspolitik gegenüber China zurückgewonnen werden. Die Regierung Obama unterließ dabei keine Anstrengungen, das zwischenzeitliche Abdriften Japans aus dem eigenem Orbit zu verhindern. Unter Premierminister Yukio Hatoyama (2009/10) hatte der Inselstaat eine Politik der ausgewogenen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten und China verfolgt. Dabei brach die Regierung sogar mit einem bislang nicht hinterfragten Konsens innerhalb der japanischen Elite, indem sie die Schließung der USBase in Okinawa forderte. Zu dieser Zeit erwog sie zudem die Schaffung einer Art asiatischer EU, deren treibende Kräfte China und Japan sein sollten. Im Frühjahr 2010 versenkte Nordkorea die südkoreanische Marinefregatte »Cheonan«. Diesen Vorfall nutzte Washington, um die Spaltung innerhalb der


Internationales | China

herrschenden Klasse Japans in der Frage zu vertiefen, ob es eine eigenständige außenpolitische Ausrichtung Tokios geben solle. Die Regierung Hatoyma stürzte hierüber. Die nun seit 2012 amtierende Regierung von Premier Abe Shinzo vollzog eine Wendung zurück zu einer außenpolitischen Orientierung an den USA. Entsprechend hat Japan seitdem sein jährliches Militärbudget auf gegenwärtig 35,6 Milliarden US-Dollar erhöht. Der Verteidigungsminister des Landes begründete, diesen Schritt mit der Notwendigkeit, »China entgegenzutreten«. Neben der zunehmenden militärischen Präsenz versuchen die USA, die Beziehungen zu wichtigen Staaten in der Region durch multilaterale Abkommen auszubauen. Bereits im November 2015 wurden die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen »Transpazifische Partnerschaft« (TPP) abgeschlossen, die Ratifizierung durch einzelne Nationalstaaten steht noch aus. Vergleichbar mit dem TTIP-Abkommen zwischen den USA und der EU handelt es sich um ein Freihandelsabkommen, das amerikanischen Konzernen verstärkten Marktzutritt in der Region gewähren soll. Diese Vorhaben finden selbstverständlich unter Ausschluss Chinas statt – in der Absicht, die Konkurrenzfähigkeit der chinesischen Unternehmen zu schwächen. Hillary Clinton begründete dies im Jahr 2012 folgendermaßen: »Die Erholung unserer Wirtschaft wird auch von unseren Exporten und der Fähigkeit amerikanischer Unternehmen abhängen, sich auf dem riesigen und wachsenden Konsumentenmarkt in Asien zu etablieren.« Das handelspolitische Agieren der USA zielt also darauf ab, den westpazifischen Raum im Interesse des amerikanischen Kapitals wirtschaftlich und politisch neu zu ordnen. Washington möchte verhindern, dass sich Chinas wachsende ökonomische Stärke auch in der politischen Architektur der Region ausdrückt. Damit begibt sich Washington in die direkte Konfrontation mit Peking. Denn wie oben beschrieben besteht auch Chinas Strategie darin, einzelne Staaten mittels Handelsabkommen oder direkten Kapitalinvestitionen politisch und wirtschaftlich an sich zu binden.

ten die kapitalistischen Spätentwickler USA, Japan und Deutschland in Konflikt mit den etablierten imperialistischen Mächten Großbritannien und Frankreich. Heute führt Chinas Aufstieg zu Konflikten mit den USA und den regionalen Mächten Asiens. Es lassen sich hier zwei miteinander verbundene Tendenzen beobachten, die sich zugleich widersprechen: auf der einen Seite die fortschreitende Internationalisierung des Kapitals und auf der anderen die progressive nationale Organisation und Integration des Kapitals, die zur Konkurrenz staatlich protegierter Kapitalismen führt. Der russische Marxist Nicolai Bucharin schrieb im Jahr 1917 hierzu: »Nicht die Unmöglichkeit einer Betätigung innerhalb des Landes also, sondern die Jagd nach einer höheren Profitrate ist die Triebkraft des Weltkapitalismus (...). Eine niedrigere Profitrate treibt die Waren und Kapital immer weiter von ihrem ›Vaterlande‹ weg. Aber dieser Prozess spielt sich gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Weltwirtschaft ab. Die Kapitalisten der verschiedenen ›nationalen Wirtschaften‹ stoßen hier als Konkurrenten aufeinander, und je größer das Wachstum der Produktivkräfte des Weltkapitalismus ist, je intensiver die Zunahme des Außenhandels, desto schärfer wird der Konkurrenzkampf.« Die aktuelle Entwicklung im Westpazifik ist Ausdruck dieser Mechanismen. Eine beginnende krisenhafte Entwicklung wie in China – in Form von sinkenden Profiten und einer wachsenden soziale Instabilität – verstärkt die Tendenz des Kapitals, sich über Nationalstaatsgrenzen hinaus zu bewegen. Dadurch wachsen die innerimperialistische Konkurrenz und der Hang zur Schutzzollpolitik, wie es sich bereits durch die konkurrierenden Regionalisierungsprozesse (TPP und RCEP) andeutet. Mit der Entsendung der »USS Lassen« unter dem Label »Operation zur Freiheit der Navigation« in das Südchinesische Meer unterstreicht die Regierung Obama ihren Führungsanspruch in der Region. Mit ihrer Rhetorik macht sie sich zwar zum Anwalt internationaler »Normen und Rechte« zur Wahrung des freien Handels und der Souveränität der Nationen. Doch im Kern geht es den USA darum, ihren eigenen Einfluss in der Region auszubauen. Das ist ein gefährliches Spiel – oder wie Chinas ranghöchster Admiral Wu Shengli es kommentierte: Washingtons Handeln könne »ein Funken zur Auslösung eines Kriegs« werden. Ähnlich formulierte es schon Bucharin, als er vor einhundert Jahren schrieb, »die Internationalisierung des Wirtschaftslebens« führe »unvermeidlich zu einer Entscheidung der strittigen Fragen durch Feuer und Schwert«. ■

China stieg 2009 zur größten Exportnation auf

Die Geschichte des Kapitalismus hat bereits mehrfach gezeigt: Die Entwicklungsstrategien aufholender Ökonomien stellen häufig das relativ stabile Kräfteverhältnis zwischen den »alten« Großmächten sowie deren weltweit abgesteckten Interessensphären in Frage. Ende des 19. Jahrhunderts gerie-

Christoph Hoffmeier ist Politologe, Unterstützer des Netzwerks marx21 und Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN in Frankfurt am Main.

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© wikimedia / Bearbeitung: marx21

THeorie | Krise der SPD

China stieg 2009 zur größten Exportnation auf Die Politik von SPD und CDU ähnelt sich zuweilen sehr. Dennoch handelt es sich um unterschiedliche Arten von Parteien. Dem müssen revolutionäre Sozialisten Rechnung tragen Von Stefan Bornost

D Stefan Bornost ist Redakteur von theorie21.

er Umgang mit der SPD ist ein heißes Thema in der LINKEN. Die Vorschläge reichen von Vorschlägen zu gemeinsamer Regierungsbildung bis hin zu scharfer Abgrenzung. Zu kurz kommt dabei aber die Diskussion darüber, was für eine besondere politische Formation die Sozialdemokratie ist. Doch die ist notwendig, um eine erfolgversprechende Taktik zu entwickeln. Ausgangspunkt einer solchen Debatte sollte die Prämisse sein, den Einfluss der Sozialdemokratie

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zu schwächen und letztendlich zu brechen. Denn dies ist notwendig, um Schritte hin zu einer besseren Welt zu machen. Die politische Präsenz der Sozialdemokratie hemmt die Kampfbereitschaft in der Arbeiterbewegung. Entweder wirkt die Partei direkt bremsend ein oder sie versucht die Unzufriedenheit von aktiver Tätigkeit zum passiven Wahlakt umzuleiten. Es gab gute Gründe, warum sich die in der Kommunistischen Internationale (Komintern) zusammengeschlossenen revolutionären Parteien Anfang der 1920er Jahre hauptsächlich mit dem Wesen der Sozialdemokratie und mit der Taktik beschäftigt


THeorie | Krise der SPD

haben, die sie ihr gegenüber anwenden sollten. Die Komintern fand eine prägnante Formulierung für den Charakter der Sozialdemokratie: Sie bezeichnete sie als eine bürgerliche beziehungsweise kapitalistische Arbeiterpartei. Dieser Begriff verweist auf den grundsätzlich widersprüchlichen Charakter dieser Formation. Erstmal zum »Bürgerlichen«: Der politische Charakter, das Wesen einer Partei ist nicht einfach durch eine soziologische Bestimmung ihrer Mitgliederschaft bestimmt, sondern dadurch, welche Eigentumsverhältnisse sie verteidigt. Spätestens seit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 ist klar: Die SPD steht mit aller Konsequenz zum deutschen Kapitalismus. Sie bewegt sich im Rahmen dieser Gesellschaftsordnung und stellt deren Grundlagen nicht infrage. Es lässt sich darüber streiten, wann vor 1914 der Wendepunkt war, an dem sich eine widerständige in eine systemtragende Partei verwandelte. Die SPD hatte schon bei ihrer Gründung bedeutsame staatstragende Elemente in sich, die allmählich die Perspektive und Praxis der Partei bestimmten. Das politische Endprodukt wurde von marxistischen Theoretikern »Reformismus« getauft. Damit soll nicht kritisiert werden, dass die Sozialdemokratie für positive Reformen ist – das ist die revolutionäre Linke natürlich auch. Gemeint ist die politische Strategie, im Wesentlichen auf parlamentarischem Weg kleine Verbesserungen erreichen zu wollen. Dieser Weg bedeutet allerdings auch, zur Verteidigung des Bestehenden auch mal den Rückwärtsgang einzulegen, also die Lebensverhältnisse der lohnabhängig Beschäftigten zu verschlechtern oder sogar Kriege zu unterstützen, um die Interessen des Kapitals durchzusetzen. Wie weit dieser Prozess schon vor 1914 fortgeschritten war, zeigte die Massenstreikdebatte von 1905/06. Die SPD hatte 1905 auf einem Parteitag beschlossen, den politischen Massenstreik als Kampfmittel einzusetzen. Dieser Beschluss wurde ein Jahr später auf Druck der Gewerkschaftsführungen wieder zurückgenommen. Denn diese fürchteten, dass der kaiserliche Staat sie bei einer von ihnen ausgehenden politischen Großaktion wieder aus der gesellschaftlichen Nische vertreiben könnte, die sie sich erkämpft hatten. Die ganze Episode belegt, dass schon zu diesem Zeitpunkt, an dem die SPD in Programm und Reden noch revolutionäre Phrasen verwendete, diejenigen den Kurs der Partei bestimmten, die ihren Frieden mit der bürgerlichen Ordnung gemacht hatten. Der treibende Block dabei war die sich neu entwickelnde Gewerkschaftsbürokratie, deren ganze Existenz an der Vermittlung zwischen Kapital und Arbeit hing

und die diese Perspektive in die Partei transportierte. Die Sozialdemokratie ist nicht einfach ein Akteur in der Gewerkschaftsbewegung, sondern selber die Widerspiegelung der Interessen der Gewerkschaftsbürokratie im politischen Raum. Hundert Jahre später ist der bürgerliche Charakter der SPD gefestigt. Programm, Praxis und die interne politische Aufstellung wurden miteinander in Einklang gebracht. Das Godesberger Programm von 1959 ersetzte den Antikapitalismus durch ein Bekenntnis zum bürgerlichen Staat und zum kapitalistischen Privateigentum. Die Partei wurde durch massenhafte Ausschlüsse von Personen oder ganzen Organisationen »auf Linie gebracht«. Im Jahr 1961 wurde beispielsweise der Studentenverband SDS aus der Partei gedrängt. Heute ist die SPD eng mit Staatsapparat und Kapital verbunden. Sie ist bürgerlich, was ihr praktisches Agieren anbelangt, das vor allem auf Wahlen, Parlamentsarbeit und die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen setzt anstatt auf Klassenkampf und Mobilisierungen. Ihr bürgerlicher Charakter zeigt sich auch im inneren Regime, wo ein bürokratischer Apparat inklusive der parlamentarischen und exekutiven Vertretungen das Parteileben bestimmt und eine eher inaktive Mitgliederbasis nur noch zustimmen darf. Hier zeigt sich auch das Problem der Regierungsbeteiligungen: Weil die SPD an das Kapital gekettet ist, bindet sich auch DIE LINKE mit einer gemeinsamen Regierung an das Kapital – dies verhindert eine soziale Politik.

Die SPD ist mehr als eine rotlackierte CDU

Ist also die SPD nichts anderes als eine rotlackierte CDU, welche ja offensichtlich auch eine bürgerliche Partei ist? Eben nicht: Darauf verweist der zweite Teil der Charakterisierung, nämlich als Arbeiterpartei. Damit ist nicht gemeint, dass die SPD die Partei ist, die mehrheitlich von lohnabhängig Beschäftigten gewählt wird – denn das ist offensichtlich nicht der Fall. Über Jahrzehnte hat die Mehrheit der Lohnabhängigen die CDU gewählt. Bei den jüngsten Wahlen in Ostdeutschland hat die AfD mehr Stimmen von ihnen erhalten als die SPD. Auch nicht gemeint ist, dass die Mitgliederschaft der SPD sich mehrheitlich aus lohnabhängig Beschäftigten rekrutiere. Das ist zwar tatsächlich der Fall, unterscheidet die SPD aber nicht von der CDU. In beiden Parteien besteht die mit Abstand größte Gruppe (rund vierzig Prozent) aus Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst. Es gibt aber einen zentralen Unterschied zur CDU: die historisch gewachsene Verbindung zu den Organisationen der Arbeiterbewegung. Vor 1933 umfass-

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te das neben den Gewerkschaften diverse Massenorganisation, von Konsumgenossenschaften über Arbeitergesangsvereine und -sportgruppen bis hin zu großen paramilitärischen Verbänden. Zusammen wurden hier Millionen Menschen unter der direkten politischen Kontrolle der Sozialdemokratie organisiert. Diese Massenorganisationen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder aufgebaut, mit Ausnahme der Gewerkschaften. Deren Leitungsebenen und Apparat sind eine Domäne der Sozialdemokratie. Lag der Anteil von CDU-Mitgliedern in den gewerkschaftlichen Führungen bis Mitte der 1970er Jahren noch bei 18 Prozent, ist er jetzt auf acht Prozent gesunken. Mit Ausnahme von ver.di-Chef Frank Bsirske, der bei den Grünen ist, hat die überwältigende Mehrheit der Vorstände der DGB-Gewerkschaften ein SPD-Parteibuch. Gleichzeitig sind 72 Prozent der SPD-Bundestagsabgeordneten Gewerkschaftsmitglieder. Das ist der höchste Anteil unter allen Parteien. Gewerkschaftsfunktionäre stellen nach Lehrern und Parteiangestellten den drittgrößten Berufsblock in der SPD-Fraktion. Obgleich auch diese Verbindung schwächer wird (bis 1990 waren neunzig Prozent der SPD-Abgeordneten Gewerkschaftsmitglieder), sichert sie immer noch ab, dass die gewerkschaftliche Bürokratie aufs Engste mit der Sozialdemokratie verwoben ist. Diese besondere Funktion und Fähigkeit der bürgerlichen Arbeiterpartei macht die SPD überhaupt erst interessant für das Kapital. Sie kann, was die CDU nicht vermag: den Widerstand der Arbeiterbewegung gegen Angriffe auf ihre Lebensverhältnisse von innen heraus lähmen. Nur ein SPD-Kanzler konnte die Agenda 2010 durchsetzen. Die vorherige CDU/FDP-Regierung unter Helmut Kohl scheiterte noch mit einem wesentlich weniger ambitionierten Programm am gewerkschaftlichen Widerstand. Der blieb jedoch gegen die Agenda 2010 aus, weil die Gewerkschaftsführungen »ihre« Regierung nicht schwächen oder gar stürzen wollten. Dieses Beispiel macht deutlich, warum der russische Kommunist Leo Trotzki die Sozialdemokratie als die Partei bezeichnete, »die sich auf die Arbeiter stützt, aber der Bourgeoisie dient«. Genau diese Widersprüche stellen den Kern des Reformismus dar. Ohne seine Wurzeln in der Arbeiterklasse wäre er für das Kapital nutzlos. Ohne seine Festlegung auf die Erhaltung der bürgerlichen Ordnung wäre er nicht zu dem Hindernis für den Fortschritt der Arbeiterklasse geworden, das er heute ist. Dieser Charakter führt aber auch zu einem Dilemma für die Sozialdemokratie, an das revolutionäre Politik anknüpfen kann. Gemäß ihrer Geschichte und ihrer spezifischen Funktion gibt sich die Sozialdemokratie, unabhängig von ihrer realen Politik, immer noch als »Partei der kleinen Leute«. Sie muss das tun, um

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THeorie | Krise der SPD

Die SPD beherrscht die Strukturen der organisierten Arbeiterbewegung ihren Einfluss in der Arbeiterbewegung zu bewahren. Das weckt aber andere Erwartungen unter ihren Wählerinnen und Mitgliedern als bei den anderen bürgerlichen Parteien. Die FDP rutscht in eine Krise, wenn sie nicht als Sturmtrupp des Kapitals und der Selbstständigen gegen den »Versorgungsstaat« auftritt – schließlich ist es genau das, was ihre Anhänger von ihr wollen. Und würde sich die AfD-Spitze hinter einem »Flüchtlinge willkommen«-Schild versammeln, zerfiele die Partei wahrscheinlich binnen Wochen. Schließlich ist der Rassismus der Kitt, der sie zusammenhält. Ähnlich sieht es bei der SPD aus: Die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 und die Unterstützung für den Ersten Weltkrieg hat die Partei nicht gefestigt, sondern erst desorganisiert und dann durch die Gründung der USPD (1917) gespalten. Im Jahr 1928 unternahm die SPD eine sehr erfolgreiche Wahlkampagne mit dem Slogan »Kinderspeisung statt Panzerkreuzer« – um dann in der folgenden Koalitionsregierung genau den Bau der Panzerkreuzer zu unterstützen. Folge war wiederum eine Spaltung


THeorie | Krise der SPD

Da freut er sich: Gerhard Schröder ist im November 2006 zu Gast bei der Bertelsmann-Stiftung. Seine »Agenda 2010« führt zu einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kapitalismus und stürzt Millionen Menschen in Armut

mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Ähnlich bei der Agenda 2010: Auch sie führte zu einer Abspaltung und zur Geburt der LINKEN. Die Spaltungen fielen umso heftiger aus, je mehr gesellschaftlichen, also auch außerparlamentarischen Widerstand es gegen die entsprechenden Maßnahmen gab. Hintergrund dafür ist, dass die Anhänger der SPD ihre Partei beim Wort nehmen und von ihr, allen Negativerfahrungen zum Trotz, eine Verbesserung ihrer Lage erwarten. Das hat nichts mit Gehirnwäsche oder Verblendung zu tun. Der Reformismus und die damit immer wieder aufkeimenden Hoffnungen in die SPD haben ihre Basis im widersprüchlichen Bewusstsein der Arbeiterklasse im Kapitalismus. Die Klasse wird ausgebeutet, merkt das auch und will, dass sich ihre Lebenslage verbessert. Gleichzeitig fehlt der überwältigenden Masse der Arbeiter im kapitalistischen Normalbetrieb die Vorstellungskraft, dass ein anderes System, nennen wir es Sozialismus, die Ausbeutung beenden kann und dass sie diejenigen sind, die dieses System erst erkämpfen und dann gestalten können. Der Wunsch nach positiver Veränderung überträgt sich also auf politische Kräfte, die stellvertretend im Rahmen des Bestehenden diese Veränderung herbeischaffen sollen: im Wesentlichen reformistische Parteien, Gewerkschaften und Verbände.

Das ist der Ausgangspunkt für eine Strategie von Revolutionären, mit der Sozialdemokratie umzugehen. Sie wurde von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) Anfang der 1920er Jahre entwickelt und als Einheitsfronttaktik bekannt. Die Grundlage dafür ist: Organisatorische Eigenständigkeit der Revolutionäre, eine grundsätzlich Kritik an Kapitalismus und am Staat und eine knallharte inhaltliche Kritik an der Politik der bürgerlichen Parteien, also auch der Sozialdemokratie. Aus dieser Position heraus haben die Revolutionäre versucht, die Hoffnungen der Anhänger der Sozialdemokratie auf positives Reformhandeln durch ihre Führungen aufzunehmen und diesen gemeinsame Aktionen zur Umsetzung konkreter Forderungen vorzuschlagen. Explizit war damit nicht gemeinsames Regierungshandeln gemeint, sondern Demonstrationen, Streiks und Kampagnen. Für die SPD gab es zwei Möglichkeiten, zu reagieren: Entweder lässt sich die sozialdemokratische Führung unter dem Druck der Erwartungen ihrer Basis auf die Vorschläge ein und die Aktion kommt zustande. Menschen kommen dann in Bewegung, bekommen in Kämpfen Selbstbewusstsein und das Gefühl eigener Macht. Das untergräbt den Einfluss des Reformismus, dessen Stellvertretertum ja gerade von dem Gefühl der Machtlosigkeit lebt. Die zweite Möglichkeit ist, dass die sozialdemokratische Führung das Angebot zu gemeinsamer Aktion ablehnt. Je klarer aber die vorgeschlagene Aktion der Interessenlage der Arbeiterklasse entspricht, desto höher ist der politische Preis, den die sozialdemokratische Führung für ihre Untätigkeit zahlen muss. Die Sozialdemokratie hingegen nur zu beschimpfen, schweißt deren Führung und Basis immer enger zusammen, selbst Kritiker der Parteiführung verteidigen dann erstmal »ihre« Partei. Bei einem ausgeschlagenen Aktionsvorschlag aber muss die sozialdemokratische Führung erklären, warum sie nicht tätig wird für die Interessen ihrer Anhänger, während die Revolutionäre bewiesen haben, dass sie bereit sind, den gemeinsamen Kampf trotz bestehender Differenzen zu organisieren. Für Revolutionäre entsteht also durch eine kluge Taktik gegenüber der Sozialdemokratie, die auf einer Analyse deren widersprüchlichen Charakters beruht, eine Win-win-Situation. Tatsächlich hat die KPD mit der Einheitsfronttaktik sehr erfolgreich in der Arbeiterbewegung organisiert. Dieser Einfluss ist bei der Abkehr von der Einheitsfronttaktik und dem Schwenk auf einen reinen Beschimpfungskurs gegenüber der Sozialdemokratie, der berüchtigten »Sozialfaschismustheorie« dann auch prompt wieder zusammengebrochen. Deshalb wäre es für DIE LINKE sinnvoll, die Debatte über den Charakter der SPD und den Umgang mit ihr neu zu entdecken. ■

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© ver.di Charité Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus / facebook

Betrieb & Gewerkschaft | Krankenhaus

Mit einer Fotoaktion erhöhten die Beschäftigten der Charité während der Tarifverhandlungen den Druck auf ihren Arbeitgeber. Mehr als zwanzig Teams beteiligten sich und auf Facebook erreichte die Aktion über eine Millionen Menschen

Ein heißer Herbst im Krankenhaus Nach dem historischen Durchbruch an der Berliner Charité steht die Bewegung für mehr Personal im Krankenhaus nun vor einem bundesweiten Flächenbrand. Wir sprachen mit Grit Wolf, die uns das Geheimnis des Erfolgs der Charité-Beschäftigten erklärt Interview: Martin Haller Nach vier Jahren harter Auseinandersetzungen habt ihr an der Charité in Berlin den bundesweit ersten Tarifvertrag für eine Personalbemessung im Krankenhaus erkämpft. Warum ist die Frage für euch so wichtig? Der Personalmangel ist seit vielen Jahren das größte Problem im Krankenhaus. Wir erfahren als Beschäftigte eine immer größere Arbeitsverdichtung. Das bedeutet immer mehr Patienten in immer kürzerer Zeit. Da es unser Beruf ist, uns um kranke Menschen zu kümmern, stehen wir unter zusätzlichem Druck. Wir Pflegekräfte haben den Anspruch an uns selbst, eine gute Pflege zu leisten. Durch den derzeitigen Personalmangel ist das aber kaum möglich. Überstunden, Verzicht auf Pausen, das Einspringen aus der Freizeit oder auch Doppelschichten sind die Bedingungen dafür, dass dieses System überhaupt noch funktioniert.

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GRIT WOLF

Grit Wolf ist Gesundheits- und Krankenpflegerin sowie Mitglied der Verdi-Tarifkommission an der Charité

Was bedeutet die Überlastung konkret in eurem Arbeitsalltag? Für gute Pflege ist eine intensive Betreuung nötig. Wir haben jedoch kaum Zeit für Gespräche, Zuwendung und Anleitung der Menschen, für die wir verantwortlich sind. Es ist eine Katastrophe, wenn ich entscheiden muss, ob ich es schaffe, jemandem während einer Schicht regelmäßig Getränke anzureichen, oder die Kurzvariante wähle und Flüssigkeit per Infusion verabreiche. Mit dem eigentlich erlernten fürsorglichen Pflegeberuf hat das nichts mehr zu tun. Wie seid ihr darauf gekommen, einen Arbeitskampf zu der Frage zu starten? So etwas hat es in Deutschland noch nie gegeben. Verdi kämpft seit vielen Jahren gegen den Personalmangel im Krankenhaus und hat dafür die Kampagne »Der Druck muss


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raus« gestartet. Allerdings reichen politische Kampagnen und der Appell an die SPD nicht aus, um etwas zu bewirken. Wir waren einfach nicht bereit, länger auf die Politik zu warten. Eure Kernforderung war eine feste Quote von Pflegekräften zu Patienten. In der stationären Pflege soll eine Pflegekraft maximal fünf Patienten versorgen und in der Intensivpflege maximal zwei. Konntet ihr das durchsetzen? Auf den Intensivstationen sieht der Tarifvertrag tatsächlich eine feste Quote vor, nämlich im Durchschnitt eins zu zwei. Je nach Pflegeaufwand reicht das von eins zu drei bis hin zu einer Eins-zu-eins-Betreuung. In der stationären Pflege haben wir keine konkrete Quote erreicht,

Leistungen eingeschränkt, bis hin zu Bettensperrungen in Absprache mit der Pflegedirektion. Was, wenn die Leitung sich dagegen sperrt? Dann können die Beschäftigten sich beim neu gegründeten Gesundheitsausschuss beschweren, der für die Überwachung des Tarifvertrags zuständig ist. Er kann den betroffenen Beschäftigten dann einen Belastungsausgleich zusprechen. Kam es bereits zu konkreten Entlastungen? Nein, spürbare Entlastungen gab es bisher nicht. Mit Abschluss des Tarifvertrags ist die Auseinandersetzung für uns auch noch nicht beendet. Jetzt gilt es, den Ta-

rifvertrag mit Leben zu füllen, denn Papier ist auch an der Charité geduldig. Momentan schulen wir die Kolleginnen und Kollegen im Umgang mit dem Tarifvertrag. Erst, wenn jede und jeder ihn kennt und auch anwenden kann, kann er als Instrument gegen Überlastung funktionieren. Ihr habt von Anfang an betont, dass es letztlich eine gesetzliche Regelung für eine Personalbemessung in Krankenhäusern braucht. Um sie zu erreichen, braucht es aber Druck durch betriebliche Kämpfe. Unser Ziel war es, voranzuschreiten und damit einen Flächenbrand zu entzünden, der den Gesetzgeber zwingt, eine bundesweite Lösung zu etablieren.

Politische Kampagnen reichen nicht sondern mit der Pflegepersonalregelung (PPR) ein Bemessungsinstrument wiedereingeführt, das in den 1990er Jahren bereits in Kraft war. Es teilt Patientinnen und Patienten bestimmten Pflegestufen zu, auf deren Grundlage der Personalbedarf errechnet wird. Weil sich daraus ein wesentlich höherer Personalbedarf ergab als gedacht, wurde die PPR damals nach wenigen Jahren wieder ausgesetzt. An der Charité lief sie zwar im Hintergrund weiter, wurde jedoch lediglich noch für die interne Personal- und Kostenkalkulation verwendet. Jetzt ist sie wieder als verbindliche Mindestbesetzung in Kraft. Das bedeutet, dass die Charité verpflichtet ist, mindestens 90 Prozent des nach PPR vorgesehenen Personals zuzüglich Nachtdiensten und Sonderaufgaben, wie etwa die Einarbeitung neuer Kolleginnen, auf jeder Station vorzuhalten. Was passiert, wenn der Arbeitgeber sich nicht daran hält? Bei akuter oder absehbarer Unterbesetzung in einer Schicht greift die sogenannte Interventionskaskade. Zunächst soll es eine Nachbesetzung aus dem Personalpool oder durch qualifizierte Leiharbeit geben. Ist das nicht möglich, werden

Nach dem Erfolg an der Charité stehen bundesweit in zahlreichen Städten Tarifbewegungen für mehr Personal im Krankenhaus bevor. Im Warnstreik während der Tarifrunde des öffentlichen Diensts konnten zahlreiche Kliniken das erste Mal die Strategie des Betten- und Stationsschließungsstreiks austesten

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Der Plan scheint aufzugehen. Bundesweit starten in vielen Krankenhäusern diesen Herbst Tarifbewegungen, die es euch nachmachen wollen. Ja. Wir sind stolz auf das, was wir da losgetreten haben, und fiebern mit den Kolleginnen und Kollegen mit, die jetzt das Gleiche versuchen. Im Saarland sollen sogar alle 21 Kliniken des Lands in eine solche Auseinandersetzung geführt werden. Das wäre nochmal eine ganz neue Dimension. Was empfiehlst du den Kolleginnen und Kollegen? Was war das Geheimnis des Erfolgs der Charité? Letztlich, dass wir in der Lage sind, so zu streiken, dass es dem Arbeitgeber wehtut. Jeder Streiktag hat der Charité eine halbe Million Euro Verluste beschert.

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Der Vivantes-Konzern in Berlin und auch einige Kliniken im Saarland weigern sich, eine solche Notdienstvereinbarung zu unterschreiben. Wie konntet ihr sie durchsetzen? Unser Erfolg an der Charité hat die Arbeitgeber natürlich hellhörig gemacht. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um eine Notdienstvereinbarung wie an der Charité zu verhindern.

Unser Erfolg macht die Arbeitgeber hellhörig

Du sprichst von eurem berüchtigten Konzept des Betten- und Stationsschließungsstreiks? Genau. Früher gab es in Krankenhäusern nur sogenannte Delegationsstreiks. In den einzelnen Teams wurde entscheiden, wer in der Pause oder vor oder nach der Schicht am Streikgeschehen »mal kurz« teilnimmt. Das hat aber verhindert, dass die Pflege sich aktiv am Streik beteiligt hat, und der Stationsalltag nahm unverändert seinen Lauf. Diese Streikform hatte für die Pflege eher einen symbolischen Charakter und es konnte kein ökonomischer Druck aufgebaut werden.

Wie seid ihr vorgegangen? Wenn Arbeitgeber sich sträuben und nicht auf eine konstruktive Zusammenarbeit einlassen, muss man sie zwingen – und das bedeutet Konfrontation. Letztlich hatte die Charité keine andere Wahl, als die Vereinbarung zu unterschreiben. Es hatten schon im Voraus einige Stationen ihre Entschlossenheit zum Streik erklärt und so Druck aufgebaut. Ohne eine Notdienstvereinbarung wäre das vollkommene Chaos ausgebrochen. Der Arbeitgeber konnte also nicht anders als einwilligen, sonst hätte er nämlich für eine Gefährdung der Patienten geradestehen müssen.

Jetzt steht die Pflege im Zentrum des Streikgeschehens. Ja, unser neues Konzept sieht vor, dass wir die Patienten sozusagen wegstreiken. Wo keine Patientinnen und Patienten sind, kann auch niemand gefährdet werden.

Ihr habt den Spieß also umgedreht? Ja, was bisher eine Hindernis für uns war, gab uns nun die Möglichkeit, unser Berufsethos nicht länger als Beschränkung, sondern als mobilisierende Ressource im Streik zu nutzen. Damit wird eine Hemmschwelle gelöst.

Wie streikt man Patienten weg? Grundlage ist eine Notdienstvereinbarung, die wir mit dem Arbeitgeber abgeschlossen haben. Sie sieht vor, dass das Streikrecht von allen wahrgenommen werden kann. Der Arbeitgeber verpflichtet sich, Betten und ganze Stationen zu evakuieren. Die Streikbereitschaft eines Teams wird also vorab dem Arbeitgeber gemeldet und der muss dafür sorgen, dass die Stationen bzw. Betten geräumt werden.

Die Geschäftsführung der Charité hat immer argumentiert, für mehr Personal fehle das Geld. Wo nimmt sie es jetzt auf einmal her? Das ist ihr Problem, da zerbreche ich mir nicht den Kopf. Sie hat zugesichert, nicht an anderer Stelle zu kürzen. Das heißt, sie wird erst einmal in Vorleistung gehen müssen. Die Krankenhausleizung wäre aber gut beraten, den Druck an die Politik weiterzugeben. Als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge haben Krankenhäuser

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einen Versorgungsauftrag zu erfüllen. Wer sagt »es ist kein Geld da«, sagt, »es ist kein Geld für gute Pflege da«. Nichts anderes. In vielen Krankenhäusern sind die Beschäftigten kaum gewerkschaftlich organisiert. Da stößt dann auch eure machtvolle Streikstrategie an ihre Grenzen. Es ist ein Mythos, dass das an der Charité großartig anders ist. Durch die Kämpfe der letzten Jahre sind wir als ver.di aber wesentlich stärker geworden. Die Unzufriedenheit ist überall groß. Gewerkschaften müssen beweisen, dass sie etwas bewegen können, dann gewinnen sie auch Mitglieder. Wie seid ihr an der Charité dabei vorgegangen? Mitglieder haben wir vor allem während der Streiks gewonnen. Aber das reicht nicht aus. Auch an der Charité hatten wir lange das Problem, dass die ganze Last der Gewerkschaftsarbeit auf den Schultern eines relativ kleinen Grüppchens lag. Das wurde vor allem während der Schlichtung zu einem handfesten Problem, weil wir nicht mit der Belegschaft kommunizieren durften. Am Ende wurde ein Ergebnis präsentiert, bei dessen Findung die Beschäftigten nicht mit einbezogen wurden. Das wollten wir dieses Mal anders gestalten. Deshalb haben wir die Struktur der »Tarifberater« geschaffen. Was sind Tarifberater? Tarifberater sind Delegierte der einzelnen Stationen und Bereiche, die uns in der Auseinandersetzung während der Tarifverhandlungen unterstützen, den Streik mit vorbereiteten und jetzt eine wichtige Rolle für die Umsetzung des Tarifvertrags spielen. Das entlastet uns Mitglieder der Tarifkommission, bedeutet aber auch eine Politisierung eines größeren Kreises von Beschäftigten und nicht zuletzt auch eine Demokratisierung der Gewerkschaftsarbeit. Für so ein Projekt wie unseren Kampf für eine Mindestbesetzung ist es zentral, dass die Kolleginnen und Kollegen die Auseinandersetzung als ihren Kampf wahrnehmen und sich mit ihrer Expertise einbringen.


Wie seid ihr vorgegangen, um eine Tarifberaterstruktur aufzubauen? Wir sind gezielt in Teams gegangen und haben Schlüsselpersonen gesucht und angesprochen, die bereit waren, Verantwortung zu übernehmen. Dabei hat uns auch das Solidaritätsbündnis »Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus« geholfen. Gemeinsam mit dem Bündnis haben wir Tandems gegründet – also Teams von Bündnisaktiven und Betriebsangehörigen – und haben es uns zur Aufgabe gemacht, Argumente zu bündeln, die etwa die Ökonomisierung der Krankenhäuser in Frage stellen. Wir haben zum Beispiel mit Präsentationen zum Fallpauschalen-System versucht, den Blick der Beschäftigten zu verändern, um politische Kritik am Profitsystem zu artikulieren. So etwas passiert nicht auf Massenveranstaltungen, sondern in der Regel mit vier bis sechs Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Stationen. Diese »Multiplikatoren« koppeln dann die Inhalte an ihre Teams zurück und tragen dazu bei, dass mehr Beschäftigte in den Kampf einbezogen werden. Viele Tarifberaterinnen und Tarifberater haben in der Auseinandersetzung großes Selbstbewusstsein gewonnen und sind zu Kernaktiven geworden. Mittlerweile werden solche Strukturen auch in anderen Krankenhäusern aufgebaut. Das könnte zu einem ganz neuen, demokratischen gewerkschaftlichen Organisationsmodell im Krankenhaus und auch darüber hinaus werden. Der unbefristete Vollstreik im letzten Sommer war ohne Zweifel der Höhepunkt eures Arbeitskampfs. Er dauerte jedoch nur elf Tage, während sich die Auseinandersetzung über Jahre zog. Wie habt ihr jenseits des Streiks Druck auf Arbeitgeber und Politik aufgebaut? Wir haben zahlreiche Aktionen gemacht, um Druck aufzubauen, aber auch, um über die langen und häufig demobilisierenden Verhandlungsphasen die kämpferische Stimmung im Betrieb aufrechtzuerhalten. Am erfolgreichsten war wohl unsere Fotoaktion, bei der wir alle Teams aufgefordert haben, Fotos zu machen, die ihre Streikbereitschaft darstellen. Mehr als zwanzig Teams haben mitgemacht und die Bilder haben auf Facebook über eine Million Leute erreicht.

© ver.di Charité Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus / facebook

Betrieb & Gewerkschaft | Krankenhaus

Oben: »Wir haben einen langen Atem, aber keine Geduld mehr!« Das Team der Station 144 weist die Leitung der Charité darauf hin, dass es bereits »fünf vor zwölf« ist Was ist das Wichtigste, das du Kolleginnen und Kollegen, die es euch nachmachen wollen, mit auf den Weg geben kannst? In erster Linie Ausdauer beweisen und sich nicht unterkriegen lassen. Wir hatten viele Rückschläge. Die Charité hat alle Register gezogen, um uns zu stoppen, uns auszumanövrieren, die Patientinnen und Patienten sowie die Öffentlichkeit gegen uns aufzubringen und uns jeden erdenklichen Stein in den Weg zu legen. Das war oft frustrierend, aber wir haben nicht aufgegeben und bewiesen, dass es geht. Ihr habt immer betont, dass euer Kampf nur mit der Unterstützung der Bevölkerung gewonnen werden kann. Was können Leute tun, die die Krankenhausbeschäftigten in ihrer Stadt unterstützen möchten? Ich kann alle, die helfen wollen, nur ermutigen, den Kontakt mit der Gewerkschaft und Beschäftigten vor Ort aufzu-

Unten: Ein Mensch hat nur zwei Hände – auch wenn sich das Arbeitgeber kaum vorstellen können. In der Krankenpflege bedeutet die Überlastung durch Personalmangel nicht nur eine Gefährdung der Gesundheit der Beschäftigten, sondern auch der Patientinnen und Patienten nehmen. Es gibt in jeder Klinik Leute, die Widerstand aufbauen und kämpfen wollen. Für Linke ist dieser Konflikt auch eine Chance, nicht nur abstrakt über Klassenkampf zu sprechen, sondern sich in reale Kämpfe einzumischen und tatsächlich etwas zu bewegen. Nicht nur für den Kampf um die öffentliche Meinung, sondern auch für die Kolleginnen und Kollegen ist es extrem wichtig, diesen Zuspruch zu erhalten. Viele Pflegekräfte haben Angst, dass die Öffentlichkeit es verwerflich finden könnte, wenn in einem Krankenhaus gestreikt wird. Ihnen diese Angst zu nehmen ist ein wesentlicher Baustein für einen erfolgreichen Streik. ■

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INLAND | Die LINKE

Harald Wolf war Senator und einer der Bürgermeister Berlins. Mit seinem lesenswerten Buch »Rot-Rot in Berlin« legt er Materialien über zehn Jahre Regierungsbeteiligung der LINKEN in der Hauptstadt vor Von Klaus-Dieter Heiser

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er ehemalige Wirtschaftssenator und Bürgermeister von Berlin Harald Wolf legt in seinem lesenswerten Buch »RotRot in Berlin« Materialien über zehn Jahre Regierungsbeteiligung in Berlin vor. Erfreulich klar schreibt er am Ende: »Regieren [darf] für eine linke Partei nie Selbstzweck, nie ein sich selbst genügender ‚Wert an sich‘ sein. Der Wert einer Regierungsbeteiligung muss sich immer an den durch das Regierungshandeln konkret bewirkten gesellschaftlichen Veränderungen bemessen«. Diese Einsicht kommt spät.

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Inland | DIE LINKE

Fünfzehn Jahre zuvor war für Gregor Gysi die Regierungsbeteiligung der PDS im Berliner Senat eben »ein Wert an sich«. »Dahinter verbarg sich das Ziel, über Regieren in Berlin und damit auch erstmals in einem Teil des ehemaligen Westens der Republik an Akzeptanz zu gewinnen und Normalität herzustellen«, erklärt der Autor. Doch Rot-Rot wurde zu einem Desaster für die PDS, später für DIE LINKE. Wolf musste feststellen, dass sich ehemals Verbündete abgewandt hatten, Wählerinnen und Wähler ihre Stimme verweigerten. Ausführlich stellt Wolf Fakten zur Berliner Politik der 90er-Jahre zusammen. Am Ende des Jahrzehnts waren Berlins Finanzen desolat. Allein die Haushaltsrisiken in Milliardenhöhe, die sich aus den Geschäften der überwiegend landeseigenen Bankgesellschaft Berlin ergaben, ließen jeden Sparansatz als absurd erscheinen. 2001 war die von der Union geführte CDU/SPD-Koalition im Zuge des Berliner Bankenskandals abgewählt worden. Harald Wolf erinnert an die Aufsehen erregende Erklärung, mit der Gregor Gysi die Funktion des PDS-Spitzenkandidaten übernahm. Gysi versprach: »Ich möchte dafür eintreten, dass die notwendige Sanierung der Stadt sozial gerecht erfolgt, dass Armut und Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft werden. Ich möchte, dass die Bildungschancen für die jungen Generationen ausgebaut werden und die vielfältigen Formen von Kunst und Kultur in dieser künftigen europäischen Metropole erhalten bleiben. Alle anderen Ausgaben müssen auf den Prüfstand, aber auch Einschnitte müssen mit Bedacht und gerecht erfolgen.« Eine Gysi-Euphorie setzte ein. Am Wahltag wurden alle Umfrageergebnisse mit 22,6 Prozent, im Ostteil Berlins sogar mit 47 Prozent übertroffen. Ab Mitte Januar 2002 regierte ein Senat aus SPD und PDS. Geplant war ursprünglich ein Ampelsenat aus SPD, FDP und Grünen. Diese Verhandlungen platzten wegen erheblicher Gegensätze, vor allem in der Mieten- und Wohnungspolitik. Auf anderen Politikfeldern waren bei den Ampelverhandlungen bereits Übereinstimmungen erzielt worden. Vieles davon findet sich in der Koalitionsvereinbarung von SPD und PDS wieder. So fand »neoliberaler Zeitgeist« Eingang in die Politik der ersten rot-roten Regierungsperiode von 2002 bis 2006. »Sparen bis die Stadt quietscht«, so hatte es der neue Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) angekündigt, und an dieser Linie orientierte sich der rot-rote Senat. Eine der ersten Maßnahmen von SPD und PDS war, die Risiken aus dem Immobiliengeschäft der Bankgesellschaft Berlin zu übernehmen.

»Risikoabschirmung« für die Fondsanleger mit Steuergeldern statt Insolvenz der Bankgesellschaft, die bei der Landesbank Berlin Verbindlichkeiten über 18 Milliarden Euro hatte. Von den Versprechungen Gregor Gysis während des Wahlkampfes für eine sozial gerechte Sanierung der Stadt, war keine Rede mehr. Die PDS stimmte der Risikoabschirmung zu. Haushaltskonsolidierung bedeutete neben Privatisierungen vor allem Einschnitte bei den Ausgaben. Harald Wolf listet sie auf; sie bewirkten das Gegenteil der versprochenen sozialen Gerechtigkeit: Abbau des Personals und Kürzungen der Gehälter im öffentlichen Dienst; Kürzung der Zuschüsse an die Berliner Bäderbetriebe mit der Folge, dass neun Bäder geschlossen wurden; Kürzungen der Etats in den Berliner Bezirken, mit der Folge, dass Jugendeinrichtungen geschlossen oder an freie Träger abgegeben wurden sowie Reduzierung der Bibliotheken; Erhöhung von Kita-Beiträgen; Reduzierung des Blindengeldes; Einschränkung der Lernmittelfreiheit; teureres Sozialticket für öffentliche Verkehrsmittel. Dem Wissenschafts- und Kulturbereich drohte ein Kahlschlag. Ein Studienkontenmodell wurde entwickelt. Studierende verhinderten durch Protest, dass ein Einfallstor für Studiengebühren geöffnet wurde. Andere Proteste perlten am Senat ab; Wolf erwähnt sie nicht einmal.

© LINKE Neukölln

Proteste gegen Rot-Rot erwähnt Wolf nicht

Der SPD/PDS-Senat »erbte« von der Großen Koalition die Privatisierung der Energieversorger Bewag und Gasag sowie die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe. Von Anfang an richtete sich Protest insbesondere gegen die Geheimhaltung der Verträge über die Wasserbetriebe. Sie sicherten den privaten Investoren eine garantierte Rendite zu. Klagte die PDS noch gemeinsam mit den Grünen als Oppositionspartei vor dem Landesverfassungsgericht gegen den »Wasservertrag« – zum Teil erfolgreich – lag nun beim Wirtschaftssenator Wolf die Verantwortung

Infostand der LINKEN im Reuterkiez in Berlin-Neukölln während des Wahlkampfendspurts im Jahr 2013. Fast einhundert Genossinnen und Genossen beteiligten sich an dem Aktionstag allein in diesem Bezirk

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INLAND | Die LINKE

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DAS BUCH Harald Wolf: Rot-Rot in Berlin. 2002 bis 2011: eine (selbst)-kritische Bilanz. VSA: Verlag, Hamburg 2016. 16,80 Euro.

KlausDieter Heiser ist Mitglied im Bezirksvorstand von DIE LINKE. BerlinNeukölln.

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für die Umsetzung nicht beanstandeter Teile des Vertrags. Der »Wassertisch«, eine außerparlamentarische Initiative, organisierte einen erfolgreichen Volksentscheid zur Offenlegung der Verträge und zur Rekommunalisierung der Wasserbetriebe. Das Verhalten von Landesvorstand und Abgeordnetenhausfraktion der Linkspartei zu diesem Volksentscheid ist eines der dunklen Kapitel von Rot-Rot in Berlin. Harald Wolf räumt ein, die Dynamik des Volksentscheids und die breite Ablehnung der Wasserprivatisierung »unterschätzt« zu haben. Der rot-rote Senat beschloss den »Ausstieg aus der Anschlussförderung im sozialen Wohnungsbau«. Es war eine richtige Entscheidung, nur noch 15 statt 30 Jahre die Eigentümer der überteuert gebauten Wohnungen zu fördern. Aber sie wurde schlecht umgesetzt. Die Mieterinnen und Mieter mussten deutlich mehr Miete zahlen. Viele konnten das nicht und mussten umziehen. Landeseigene Wohnungsgesellschaften nahmen einen großen Teil der Wohnungssuchenden auf. Das ging solange relativ gut, bis durch Privatisierung landeseigener Wohnungsbestände diese Möglichkeit entfiel. Sozialen Wohnungsbau hat es seither in Berlin nicht mehr gegeben. Harald Wolf bezeichnet den Verkauf der landeseigenen Wohnungsgesellschaft GSW an die CerberusGruppe, die in der Branche zu den Geierfonds zählt, als folgenschweren Fehler, als »Sündenfall«. Kam er überraschend? Nein, der Verkauf einer Wohnungsgesellschaft aus dem landeseigenen Bestand mit etwa 80.000 Wohnungen stand bereits in der Koalitionsvereinbarung von SPD und PDS. Nach fünf Jahren Regierungsbeteiligung verzeichnete die PDS 2006 einen Verlust von 9,2 Prozent ihrer Wählerinnen und Wähler; ein Absturz auf 13,4 Prozent. Fehlentscheidungen im ersten rot-roten Senat waren offensichtlich, doch eine gründliche Analyse blieb aus. Als Mangel erkannte die Berliner Partei, schreibt Wolf, dass es keine eigenen Schwerpunkte gegeben habe. Deshalb nahm sie für die Fortsetzung der Koalition drei »Referenzprojekte« in Angriff: Einstieg in die Gemeinschaftsschule, Aufbau eines öffentlichen Beschäftigungssektors und Sanierung der öffentlichen Unternehmen statt ihrer Privatisierung. Zu Beginn der Legislaturperiode gab es erste Erfolge. Harald Wolf schreibt, dass die SPD diese Entwicklung wie auch die guten Wahlergebnisse für die LINKE bei der Bundestagswahl 2009 von 20,2 Prozent in Berlin als bedrohlich wertete. Seitdem »begann die SPD zunehmend politische Erfolge unsererseits zu verhindern«. Sie blockierte beispielsweise eine Anpassung der Erstattung der Wohnkosten für

Hartz-IV-Beziehende zur Vermeidung von Zwangsumzügen ebenso wie eine Erhöhung der Mindestlohnregelung im Vergabegesetz von 7,50 Euro auf 8,50 Euro. Nach Wolfs Meinung stellte die SPD damit »eine bisher existierende Grundlage einer erfolgreichen Koalition« infrage. Trotzdem verlor DIE LINKE bei der Abgeordnetenhauswahl 2011 mehr als die SPD: nochmals 4,6 Prozent, sie kam auf 11,7 Prozent. Auf Rot-Rot folgte ein rot-schwarzer Senat. Im September wird ein neues Abgeordnetenhaus gewählt. Harald Wolf weist darauf hin, dass Koalitionskompromisse, die von einer kleinen Gruppe ausgehandelt werden, zu Widersprüchen in und mit der Partei führen. Dies sei mit der Logik der Regierungsbeteiligung unvermeidlich verbunden und ziehe die Gefahr nach sich, dass die Parteiorganisation in Passivität und eine mürrische Duldung der Regierungsarbeit verfalle. Die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Mobilisierung im außerparlamentarischen Raum werde geschwächt. Harald Wolfs Buch versteht sich als ein Beitrag zur Debatte unter dem Motto: »Wir haben verstanden«. Seine Schlussfolgerungen sind jedoch umstritten. Landesvorsitzender Klaus Lederer und Fraktionschef Udo Wolf haben sich jüngst in Pressegesprächen für eine erneute Regierungsbeteiligung der LINKEN mit SPD und nun auch mit den Grünen ausgesprochen. Udo Wolf: »Wir sind uns einig, worin die Probleme der Stadt bestehen, und dass wir neue Ansätze brauchen, um sie zu lösen.« Er gehe sowohl mit Grünen als auch mit Sozialdemokraten regelmäßig Kaffee trinken. So leistet er der Partei einen Bärendienst. Auch für Klaus Lederer ist DIE LINKE in Berlin »keine Protestpartei mehr«, weil sie in Berlin zehn Jahre lang regiert hat. Viele Wählerinnen und Wähler der LINKEN sind ins Nichtwählerlager abgewandert, weil DIE LINKE, wie Klaus Lederer einräumt, in den Augen dieser Menschen zu wenig für sie bewirken konnte. Im jetzt beginnenden Wahlkampf muss sich DIE LINKE davon befreien, ein Teil von »Kaffeerunden« und des politischen Farbenspiels möglicher Regierungskoalitionen zu sein. Das ist möglich. Viele Linke innerhalb und außerhalb der Partei sind dazu bereit. Mit der AfD droht zudem in Berlin eine Partei ins Landesparlament einzuziehen, in der sich Nationalisten, Rassisten und Faschisten sammeln. Ihr gilt es durch eine konsequente antirassistische und soziale Politik den Boden zu entziehen. Das ist die Aufgabe der LINKEN und zugleich die Schlussfolgerung aus 10 Jahren Rot-Rot in Berlin. ■

Es gab nie eine Grundlage für eine erfolgreiche Koalition


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Volkhard Mosler wirft einen Blick auf den rechten Flügel der AfD um Alexander Gauland

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»Krieg gegen den Terror«? 8. DIE LINKE hat es der

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KONTROVERS | Prostitution

Von Katharina Sass

PRO

Sollte Sexkauf verboten werden?

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exkauf und Bordellbetrieb sollten verboten werden, nicht Prostitution. Im nordischen Modell machen sich nur Nachfrager und Organisatoren der Prostitution strafbar. Die Prostituierten werden in Norwegen seit 1899 nicht mehr kriminalisiert, in Schweden seit 1918. Damals wurden Zwangsuntersuchungen und Registrierungen von Prostituierten abgeschafft. Heute sind Zuhälterei, Bordellbetrieb und Menschen-handel verboten, aber es ist weiterhin erlaubt, sich zu prostituieren. Zusätzlich wurde in Schweden 1998 und in Norwegen 2008 das Sexkaufverbot beschlossen. Auch Frankreich hat seit kurzem ein fortschrittliches Prostitutionsgesetz, das mehr Rechte für Menschenhandelsopfer, verstärkte Finanzierung von Ausstiegshilfen und ein Sexkaufverbot kombiniert. Die Prostituierten wurden nun auch in Frankreich gänzlich entkriminalisiert. Diese Gesetze wurden von links erkämpft. In Schweden wie Norwegen gehörten die Linksparteien zu den ersten Unterstützern und die Sexkaufverbote wurden von rot-rot-grünen Regierungen eingeführt. Auch in Frankreich haben Linkspartei und Kommunisten geschlossen dafür gestimmt. Erst spät haben die schwedischen Konservativen den Widerstand aufgegeben. Die norwegischen Konservativen und Rechtspopulisten haben das Gesetz immer abgelehnt, ebenso die Schwedendemokraten. Zur Wirkung der Gesetze wurden in beiden Ländern umfangreiche Forschungen durchgeführt. Straßenprostitution ist stark zurückgegangen und Prostitution in Gebäuden hat nicht zugenommen, sondern ist in Norwegen nach Schätzungen um zehn bis zwanzig Prozent geschrumpft. Die ausgewerteten Polizeiberichte lassen darauf schließen, dass das Sexkaufverbot für Zuhälter und Menschenhändler einen abschreckenden Effekt hat. Vor der Einführung des Gesetzes wurde die Zahl der Prostituierten in Norwegen auf über 3000 und heute auf etwas über 2000 geschätzt. Geht man von 400.000 Prostituierten in Deutschland aus, bedeutet dies, dass es hier relativ betrachtet etwa

zehnmal so viel Prostitution gibt wie in Norwegen. Der Einwand, dass das Sexkaufverbot Prostituierte in Gefahr bringe, ist legitim. Prostitution geht überall mit Gewalt einher. Es gibt aber keine Belege dafür, dass die Gewalt durch das Sexkaufverbot angestiegen sei. Im Gegenteil stärkt die Kriminalisierung der Bordellbetreiber und Sexkäufer die Stellung der Prostituierten ihnen gegenüber. Prostituierte können Käufer anzeigen. Darüber hinaus trägt das Sexkaufverbot zu einem Einstellungswandel bei. Für Norwegen deuten Studien darauf hin, dass gerade junge Männer Sexkauf in ihrer großen Mehrheit ablehnen. Es geht in der deutschen Debatte nicht nur um die Effekte von Gesetzen, sondern um abweichende Analysen. Die abolitionistische, linksfeministische und marxistische Position, die ich vertrete, wertet Prostitution als Gewaltverhältnis und als Ausdruck von Patriarchat und Kapitalismus. Prostitution führt zu Traumata beim Großteil der betroffenen Menschen und ist Motor des Menschenhandels.Hinter Prostitution stehen reaktionäre Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität. Die Akzeptanz der Warenförmigkeit sexueller Beziehungen steht sexueller Befreiung entgegen. Daraus folgt, dass Prostitution langfristig überwunden werden sollte und kurzfristig eingedämmt werden muss. Die liberale Position hingegen begreift Prostitution als das Eingehen »freier Verträge« und fordert, Prostitution zu »professionalisieren«. Diese liberale Utopie hat mit der brutalen Realität nichts zu tun. Rund 90 Prozent der Prostituierten kommen aus den armen Ländern des Südens innerhalb und außerhalb der EU. Prostitution und Sexkauf gutzuheißen, wie Liberale es tun, bedeutet rassistische, sexistische Ausbeutung zu leugnen und zu legitimieren. In den deutschen Gesetzen, auch dem neuen, wird die Gewaltförmigkeit der Prostitution, das Leid der Opfer und die Verantwortung der Täter nicht anerkannt. Linke sollten dazu endlich klar Stellung beziehen. Prostitution ist keine Arbeit, sondern sexuelle Gewalt. ■

Ein Sexkaufverbot stärkt die Stellung der Prostituierten

Katharina Sass ist Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlerin. Sie ist Mitgründerin des Netzwerks »LINKE für eine Welt ohne Prostitution«.

DEBATTE

WAS MEINST DU? 60 |

marx21 02/2016


KONTROVERS | Prostitution

Von Rosemarie Nünning

CONTRA

Das Bundeskabinett hat sich auf ein neues Prostitutionsgesetz geeinigt. In Norwegen, Schweden und Island ist der Kauf sexueller Dienstleistungen hingegen verboten. Sollten Linke auch in Deutschland ein »skandinavisches Modell« fordern? Unsere beiden Autorinnen sind unterschiedlicher Meinung

D

ie Diskussion über Prostitution wird viel zu polarisiert geführt. Auf der einen extremen Seite stehen jene, die meinen, Prostitution sei ein Ausdruck sexueller Selbstbestimmung und ein Beruf wie jeder andere. Sie fordern »Entstigmatisierung« und die Erweiterung des positiv gemeinten Prostitutionsgesetzes aus dem Jahr 2002. Auf der anderen extremen Seite wird nach dem Vorbild skandinavischer Länder unter dem Stichwort Sexkaufverbot die Bestrafung der Männer gefordert, die zu Prostituierten gehen. Alice Schwarzer von der feministischen Zeitschrift »Emma« wünscht sich dazu noch die regelmäßige medizinische Zwangsuntersuchung der in diesem Bereich Tätigen. Zu dem ersten Argument lässt sich sagen, dass eine eher geringe Anzahl die Tätigkeit als Prostituierte vielleicht selbst wählt, während die Mehrheit aus Armut dazu getrieben wird. Selbstgewählte Prostitution ist aber nicht dasselbe wie selbstbestimmte Sexualität. Prostitution ging historisch Hand in Hand mit der Ablösung der egalitären Urgesellschaft durch Klassengesellschaft und Frauenunterdrückung. Sie beinhaltet, dass Männer sich zur Erfüllung ihrer sexuellen Bedürfnisse Frauen bedienen – was das Gegenteil gleichberechtigter und selbstbestimmter Sexualität ist. Zudem sind bis heute 90 Prozent der sich Prostituierenden Frauen, während der kleine Anteil von Männern sich fast immer für Männer prostituiert. Eine »Welt ohne Prostitution« und Frauenunterdrückung mit Erscheinungen wie Sexismus oder Lohndiskriminierung ist also durchaus erstrebenswert. Die Frage ist, ob diese mithilfe des bürgerlichen Staats, seiner Gesetzgebung und seines Repressionsapparats zu erreichen ist. Oder ob der Staat ei-

ner kapitalistischen Gesellschaft, der tagtäglich institutionell Frauenunterdrückung reproduziert, Erzieher »der Männer« sein kann. Bezüglich der angeblichen Erfolge in Schweden nach dem »Sexkaufverbot« von 1998 (es gab insgesamt rund 3000 Prostituierte) heißt es in dem Regierungsbericht aus dem Jahr 2010, es könne »mit einiger Sicherheit« angenommen werden, dass »die Gesamtprostitution zumindest nicht angestiegen« sei. Als Regionalsender im Internet Scheinanzeigen für Prostitution schalteten, meldeten sich innerhalb einer Woche über eintausend männliche Interessenten darauf. Prostitution findet jetzt im Dunkelbereich statt, mit viel höherer Gefährdung der dort Tätigen hinsichtlich Zuhälterei, Gewalt oder gesundheitlicher Gefährdung durch ungeschützten Sex. Aus diesem Grund warnt auch die UNO vor Kriminalisierung in diesem Bereich, insbesondere wegen der Gefahr der HIV-Infektion. Inzwischen hat das Familienministerium unter Manuela Schwesig von der SPD ein »Prostituiertenschutzgesetz« vorgelegt, wonach sich Prostituierte künftig behördlich registrieren und regelmäßig beraten lassen müssen. Wer unangemeldet erwischt wird, soll bis zu 1000 Euro Geldbuße zahlen. Das wird die Schwächsten treffen, die Armuts- und Drogenbeschaffungsprostituierten. Dieses Gesetz ist ein Rückfall in altes preußisches Polizeirecht und stellt die Legalisierung der von Polizei und Bundeskriminalamt bis heute geführten inoffiziellen Karteien dar. Registrierte Prostituierte werden es schwerer haben auszusteigen, viele werden in den Untergrund gehen. Wer es ernst meint mit dem Wohl von Frauen in der Prostitution, muss gegen dieses Gesetz antreten. Eine Welt ohne Prostitution heißt aber auch, für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu kämpfen. ■

Verbote verschieben Prostitution nur in den Untergrund, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Frauen

Mit diesen beiden Beiträgen ist die Debatte eröffnet und die Diskussion geht weiter. Auf marx21.de findest du jeweils eine weitere Antwort der beiden Autorinnen.Was denkst du? Sollten wir als Linke für ein Sexkaufverbot eintreten?

Rosemarie Nünning ist Vorstandsmitglied der LINKEN im Berliner Bezirk FriedrichshainKreuzberg und Unterstützerin von marx21. Sie ist aktiv im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung und Mitautorin der kürzlich erschienen Broschüre »Prostitution – Sexarbeit, Kriminalisierung und Frauenunterdrückung«.

Beteilige dich online an der Debatte oder sende deinen Beitrag per E-Mail an redaktion@marx21.de. Oder schreibe uns per Post: marx21 – Magazin, Postfach 44 03 46 12003 Berlin. Wir freuen uns auf zahlreiche Zuschriften! marx21 02/2016

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GESCHICHTE | Spanische Revolution

Hammer und Sichel auf jed Kämpferinnen und Kämpfer einer antifaschistischen Miliz verlassen Barcelona im Sommer 1936, um an der Front die Truppen von General Franco zu schlagen

»No Pasarán«: Als im Sommer 1936 reaktionäre Militärs um General Franco putschen, erheben sich die spanischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Doch dann wird ihre Revolution aus den eigenen Reihen heraus geschwächt Von Florian Wilde

A

ls der englische Schriftsteller und Sozialist George Orwell im Dezember 1936 nach Barcelona kommt, ist er überwältigt von dem, was er erlebt: »Zum ersten Mal war ich in einer Stadt, in der die arbeitende Klasse im Sattel saß«, berichtet er später. »Die Arbeiter hatten sich praktisch jedes größeren Gebäudes bemächtigt

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und es mit roten Fahnen oder der rot und schwarzen Fahne der Anarchisten behängt. Auf jede Wand hatte man Hammer und Sichel und die Anfangsbuchstaben der Revolutionsparteien gekritzelt. (…) Jeder Laden und jedes Café trugen eine Inschrift, dass sie kollektiviert worden seien. Man hatte sogar die Schuhputzer kollektiviert und ihre Kästen rot und


Geschichte | Spanische Revolution

Glossar CNT Nationale Arbeiterkonföderation. Anarcho-syndikalistische Gewerkschaft, lange die größte spanische Arbeiterorganisation. 1936 insgesamt 1,5 Millionen Mitglieder, dominierte weiterhin die Arbeiterbewegung Kataloniens. War kein Teil der Volksfront, rief aber 1936 zu ihrer Wahl auf und trat im November 1936 in die spanische Regierung ein. PSOE Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens. Marxistisch orientiert. Innerlich gespalten in einen reformistischen Flügel, der durch Koalitionen mit bürgerlichen Parteien graduelle Verbesserungen im Kapitalismus anstrebte, und einen linken Flügel, der ihn auf revolutionärem Wege überwinden wollte. Dessen unumstrittene Führungsfigur war 1936 Largo Caballero, der den Spitznamen »spanischer Lenin« trug. Teil der Volksfrontregierung.

der Wand

UGT Generelle Arbeiterunion. Marxistisch orientierte Gewerkschaft, stand der sozialistischen Partei PSOE nahe. Ihre »Volkshäuser« wurden im ganzen Land zu politisch-kulturellen Zentren des sozialistischen Proletariats. Außerhalb Kataloniens überflügelte die UGT 1936 die CNT und zählte etwa zwei Millionen Mitglieder. Wie die PSOE in einen reformistischen und einen revolutionären Flügel gespalten. Teil der Volksfrontregierung. PCE Kommunistische Partei Spaniens. Nach der Russischen Revolution aus Abspaltungen der PSOE und der CNT entstanden. In den 1920ern nur wenige hundert Mitglieder, 1936 30.000. Profitierte stark vom Prestige der Sowjetunion und ab 1936 von den sowjetischen Waffenlieferungen an die spanische Republik. Teil der Volksfrontregierung. POUM Arbeiterpartei der marxistischen Einheit. Von oppositionellen Kommunisten, die sich der Stalinisierung der PCE widersetzten, gegründet. Bei Ausbruch der Revolution etwa 6.000 Mitglieder, davon 5.000 in Katalonien. Im Dezember 1936 dürften etwa 60.000 Menschen in der POUM selbst, ihren Vorfeldorganisationen und Milizen organisiert gewesen sein. Unterstützte die Volksfront bei den Wahlen 1936, trat aber nicht in die spanische Regierung ein.

schwarz gestrichen.« Orwell ist im Herzen der katalonischen Kommune, dem radikalen Zentrum der spanischen Revolution, angekommen. Hier wird er Zeuge eines der nach der Oktoberrevolution bedeutendsten Sozialexperimente des 20. Jahrhunderts: dem kurzen Versuch, in Katalonien eine herrschaftsfreie Gesellschaft aufzubauen. Getragen wurde die Revolution von der damals radikalsten Arbeiterbewegung Europas, der spanischen. Jahrzehntelang war diese von den Anarchisten dominiert worden, die erst in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg außerhalb Kataloniens von der sozialistischen Partei PSOE und ihrer Gewerkschaft UGT überflügelt wurden. Die sozialen und politischen Verhältnisse in Spanien waren extrem

Spaniens Arbeiterbewegung war die radikalste Europas zugespitzt. Adel, Klerus und Militär klammerten sich an den vergangenen Glanz des königlich-spanischen Kolonialreichs und bekämpfen jede Regung der neuen Zeit. Das Bürgertum, das für diese neue Zeit stand, lebte seinerseits bereits in ständiger Angst vor der radikalen Arbeiterbewegung und schreckte daher vor entschiedenen Maßnahmen gegen die alten Eliten zurück. Die Arbeiterbewegung selbst drängte darauf, die Geschicke des Landes in ihre Hände zu nehmen und die reaktionären Eliten und das verängstigte Bürgertum beiseitezuschieben. Wie fast überall in Europa war auch in Spanien nach der Russischen Revolution eine kommunistische Partei, die PCE, entstanden. Ab Mitte der 1920er Jahre hatte bei ihr, analog zu den anderen Parteien der Kommunistischen Internationale, ein Prozess der Stalinisierung eingesetzt. In dessen Verlauf wich die innerparteiliche Demokratie einem autokratischen Regime und die PCE machte sich vollständig abhängig von den Direktiven aus Moskau. Entsprechend verschrieb sie sich ab 1935 ganz dem von der Komintern entwickelten Konzept der »Volksfront«. Hatten die Kommunisten in der Vergangenheit mit der »Einheitsfrontpolitik« auf den gemeinsamen außerparlamentarischen Kampf mit anderen Organisationen der Arbeiterbewegung gesetzt, verfolgten sie nun eine Strategie, welche die fortschrittlichen Teile des Bürgertums und der Mittelschichten mit einbezog – und die gegebenenfalls auch gemeinsame Regierungen mit diesen Kräften umfasste. Diese Allianz von Kommunisten, Sozialdemokraten und (Klein-)Bürgertum diente dem Ziel, einen wei-

Florian Wilde ist Historiker und Mitarbeiter am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Von 2012 bis 2014 gehörte er dem Parteivorstand der LINKEN an.

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GESCHICHTE | Spanische Revolution

1931 Sturz des Königs, Proklamation der Republik.

1934

Aufstand der asturischen Bergarbeiter, angeführt von UGT und CNT, wird niedergeschlagen.

1935

Gründung der POUM.

SPANIENS REVOLTE

1936

Februar: Wahlsieg der Volksfrontkoalition aus Republikanern, Sozialisten und Kommunisten bringt eine liberal geführte Regierung an die Macht, die sich im Parlament auf die Arbeiterparteien stützt.

1936 Juli: Putsch reaktionärer Militärs um General Franco, trifft auf erbitterten Widerstand der spanischen Arbeiter, löst die spanische Revolution aus.

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teren Aufstieg des Faschismus in Europa zu verhindern. Um dieses Bündnis nicht zu gefährden und um die bürgerlichen Bündnispartner nicht zu verschrecken, verzichtete die PCE auf radikale Forderungen und argumentierte, zunächst müsse sich der Kapitalismus in Spanien voll entwickeln, und erst dann würde die Forderung nach einer sozialistischen Gesellschaft auf die Tagesordnung gehören. Diese Volksfront-Orientierung lag auf einer Linie mit der sowjetischen Außenpolitik: Stalin setzte 1936 auf ein gegen Deutschland gerichtetes Bündnis mit Frankreich und England. Die spanische Revolution drohte dieses zu gefährden: Ein faschistisches Spanien wäre für diese beiden Länder weit eher zu ertragen gewesen als ein revolutionäres. Aus der PCE ausgeschlossene, oppositionelle Kommunisten gründeten die marxistische Partei POUM. Im Gegensatz zur PCE argumentierte diese, dass der Kapitalismus und die Arbeiterbewegung in Spanien bereits viel weiter entwickelt waren, als es vor der Revolution in Russland der Fall war, und eine sozialistische Revolution daher möglich sei. Sie strebte kein Bündnis mit bürgerlichen Kräften an, sondern orientierte auf eine Zuspitzung der Klassenkämpfe mit dem Ziel einer revolutionären Machteroberung der Arbeiterklasse. Es war diese POUM, der sich George Orwell bald nach seiner Ankunft in Barcelona anschloss und in deren Miliz er bald an der Front gegen die Faschisten kämpfen sollte. Im Jahr 1931 war der König friedlich zur Abdankung gezwungen worden. Daraufhin bildete sich eine Regierung aus bürgerlichen Republikanern und Sozialisten. Doch diese konnte die in sie gesetzten Hoffnungen auf umfassende Agrar- und Sozialreformen nicht erfüllen. Daher regierte bald, von 1933 bis 1936, wieder die Rechte. Während dieser Zeit kam es in Asturien zu einem großen, von der UGT angeführten Bergarbeiteraufstand, der blutig niedergeschlagen wurde: 3000 Arbeiter wurden getötet, mehr als 30.000 verhaftet. Zur Wahl des Jahres 1936 trat die Linke als ein Volksfrontwahlbündnis an, dem bürgerliche Liberale, Sozialisten und Kommunisten angehörten. Auch die POUM beteiligte sich an der Wahlallianz. Das Programm dieser Koalition war sehr gemäßigt. Aber an einer Forderung entzündeten sich die Hoffnungen und Leidenschaften der Massen: der sofortigen Freilassung aller verhafteten Bergarbeiter. Dieser Forderung wegen verzichteten die Anarchisten erstmals auf einen Wahlboykott und riefen indirekt zur Wahl der Volksfrontparteien auf. Tatsächlich gelang diesen im Februar 1936 ein fulminanter Sieg. Sofort nach der Wahl stürmten Arbeiter im ganzen Land die Gefängnisse und befreiten nicht nur die inhaftierten Bergarbeiter, sondern auch tausende weitere politische Gefangene, vor allem aus der anarchistischen Bewegung. Die Stür-


Geschichte | Spanische Revolution

mung der Gefängnisse war nur der Auftakt zu einer großen Offensive der Arbeiterbewegung. Viele Arbeiter hatten aus der vorherigen Linksregierung gelernt, nichts von einer solchen zu erwarten. Aber sie sahen den Wahlsieg als ihren eigenen Sieg, forderten nun radikale Veränderungen ein und nahmen diese selbst in die Hand. Eine Welle von Streiks und Landbesetzungen rollte über das Land. Am 17. Juli 1936 putschen reaktionäre Militärs um den General Franco gegen die republikanische Regierung. Doch dieser Putsch stieß auf einen unerwarteten, erbitterten Widerstand der Arbeiterschaft. Vielerorts zwangen Arbeiter die Regierung, Waffen an sie auszuhändigen, oder stürmten selbst die Kasernen und bewaffneten sich. So löste der Putsch genau das aus, was er eigentlich verhindern sollte: eine Öffnung der Schleusen der sozialen Revolution. Denn auch wenn die republikanische Regierung offiziell im Amt blieb, zerfiel der Staatsapparat, auf den sie sich stützte. Die alte Armee existierte nicht mehr. Viele Soldaten hatten sich den Putschisten angeschlossen, andere wurden in neu entstehende Arbeitermilizen eingegliedert. Ebenso erging es Polizei und Verwaltung. Die reale Macht lag nun in weiten Teilen des Landes, in denen der Putsch nicht erfolgreich war, in den Händen der nach der Erstürmung vieler Kasernen oft gut bewaffneten Arbeiterorganisationen und ihrer sich nun überall bildenden lokalen und regionalen Komitees. Am stärksten ausgeprägt war die soziale und politische Revolution in Katalonien. In den anderen Landesteilen fanden ähnliche Umwälzungen, oft aber geringeren Ausmaßes, statt. In Barcelona und anderen katalanischen Städten übernahmen die Arbeiterorganisationen alle wichtigen Gebäude, Autos und sogar die Straßenbahn und schmückten sie mit ihren Fahnen. Volkskantinen wurden aufgebaut, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Komitees aus Vertretern der Arbeiter- und republikanischen Parteien übernahmen die lokale Macht. Sie waren für alle Fragen der Revolution – von der Enteignung der Betriebe über die Kontrolle der Bankvermögen und die Aufteilung des enteigneten Lands, für Sozialfürsorge, Preiskontrollen oder Wohnraum – zuständig. Die Kirche verlor ihren Einfluss auf die Schulbildung, der Aufbau von Einheitsschulen wurde in Angriff genommen. Die Gewerkschaften übernahmen die Kontrolle der Betriebe und konfiszierten das Vermögen der Besitzer. Etwa 70 Prozent der Betriebe Kataloniens wurden auf diese Weise kollektiviert. Telekommunikation, Verkehrsbetriebe, Elektrizität, Theater, Presse und Restaurants wurden vergesellschaftet. Landarbeiter erschlugen die Großgrundbesitzer, verbrannten die Grundbücher und teilten das Land unter sich auf. In der katalanischen Nach-

1936 November: Anarchisten treten in die Zentralregierung ein, erhalten vier Ministerposten.

1937

Mai: Aufstand von CNT und POUM in Katalonien, wird von der Regierung niedergeschlagen.

SPANIENS REVOLTE

1937

Juni: Wegen ihrer Weigerung, die POUM zu verbieten, stürzen die Kommunisten die Regierung Caballero. Neuer Ministerpräsident wird Negrin vom rechten Flügel der PSOE. Verbot der POUM. Ausscheiden der Anarchisten aus der Zentralregierung.

1939

Der Bürgerkrieg endet mit dem Sieg der Faschisten.

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GESCHICHTE | Spanische Revolution

barprovinz Aragon wurden so bald drei Viertel des Bodens kollektiv bewirtschaftet. Der jahrhundertealte Hass auf die katholische Kirche als zentralem Instrument zur Unterdrückung und Verblödung der spanischen Massen entlud sich ungehemmt: Priester wurden getötet, Kirchen niedergebrannt oder in kommunale Zentren umgewandelt, ihr Land vergesellschaftet. An die Stelle der alten Polizei traten Arbeitermilizen, an die Stelle des alten Justizapparates trat eine neue demokratische Gerichtsbarkeit. Formell blieb auch in Katalonien eine bürgerliche Regierung im Amt. Die reale Macht lag aber zunächst bei einem »Zentralkomitee der antifaschistischen Milizen«.

Weiterlesen George Orwell: Mein Katalonien. Bericht über den spanischen Bürgerkrieg (Diogenes 2003). Pierre Broué und Émil Témime: Revolution und Krieg in Spanien. Geschichte des spanischen Bürgerkriegs (Suhrkamp 1987). Filmtipp: Land and Freedom (Großbritannien, Deutschland, Spanien 1995, Regie: Ken Loach).

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Prestige und den Einfluss der Kommunisten, deren Mitgliederzahl bis zum Sommer 1937 auf eine Million wuchs. Sie nutzten ihre ganze Macht, um die Regierung erfolgreich unter Druck zu setzen, die Enteignungen zurückzunehmen, die Arbeitermilizen aufzulösen und in die Armee einzugliedern, die Revolutionskommitees zu entmachten und den revolutionären Prozess zu beenden. Absurderweise wurden ausgerechnet die Kommunisten zu der Kraft innerhalb der Volksfront, die die revolutionäre Welle des Sommers 1936 am erfolgreichsten zurückdrängte. Auch die Anarchisten orientierten plötzlich nicht mehr auf eine Radikalisierung der Revolution, sondern traten sogar in die Regierungen erst Kataloniens und dann Spaniens ein. Die anarchistische Theorie hatte immer jede Art von Staat und Regierung radikal abgelehnt – und damit auch den Weg des Aufbaus eines auf Räte gestützten Staates des revolutionären Proletariats, wie er in der Russischen Revolution gegangen worden war. Ihre Theorie kannte nur den unmittelbaren Übergang in eine staatenlose herrschaftsfreie Gesellschaft. Es stellte sich aber heraus, dass es gerade in der Situation eines militärischen faschistischen Angriffes irgendeiner Form von koordinierender Staatlichkeit bedurfte, um sich zur Wehr zu setzen. Daher traten sie nun in die Regierung ein. Erst sollte der Bürgerkrieg gewonnen, dann die Revolution weitergeführt werden. Von der radikalen Ablehnung des Staats gingen die Anarchisten nicht nur zu einer Beteiligung an ihm über, sondern sie wirkten auch an seiner Stärkung und an der Absetzung der revolutionären Komitees mit. »In Spanien gab es eine breite Masse, die die Revolution wollte, und es gab sogenannte Führungsminderheiten, unter denen sich auch die unsrige befand, die (...) diesem Bestreben mit allen Mitteln die Flügel stutzten«, schrieb der einflussreiche Anarchist Diego Abad de Santillan später selbstkritisch. Doch je weniger es bei dem Krieg um eine Verteidigung einer Revolution ging, desto schwerer war er zu gewinnen. Warum sollten sich die Landarbeiter und Arbeiter in den von den Faschisten besetzten Gebieten erheben, warum sollten die Arbeiter Barcelonas ihr Leben an der Front riskieren, wenn es jetzt nur noch um die Verteidigung einer demokratischen Republik ging, die auch keine Sozialreformen gebracht und statt dessen zehntausende Arbeiter ins Gefängnis geworfen hatte? »Wir opferten sogar die Revolution«, bilanzierte Abad de Santillan die anarchis-

Die Kommunisten ließen den Aufstand blutig niederschlagen

Von Katalonien ausgehend schien eine Revolution wie im Russland von 1917 möglich. Auch dort war der Staatsapparat auseinandergebrochen und die in Räten organisierte Arbeiterklasse hatte die Betriebe übernommen, während die Bauern sich das Land aneigneten. Im Oktober 1917 eroberte schließlich die Arbeiterklasse unter Führung der Bolschewistischen Partei dann auch die Staatsmacht. Eine auf die Räte gestützte Koalitionsregierung trieb die soziale Revolution weiter voran und legalisierte die kollektivierten Betriebe und die Landbesetzungen. Dies erlaubte ihr schließlich auch, unter schwierigsten Bedingungen den Bürgerkrieg gegen die alten zaristischen Kräfte zu gewinnen: Weil er als revolutionärer Krieg geführt wurde, wussten die Arbeiter und Bauern genau, wofür sie kämpften: Es waren ihre Fabriken, ihr Land, ihre Regierung, ihre Freiheit, die sie gegen die Konterrevolution verteidigten. Ein ähnliches Vorgehen hätte auch für die spanische Revolution nahegelegen, zumal die spanische Arbeiterklasse prozentual viel größer, besser organisiert und erfahrener war als die russische vor der Revolution. Aber die stalinistische PCE wollte, ihrer Volksfrontstrategie folgend, den Bürgerkrieg – im völligen Gegensatz zu den Erfahrungen der Russischen Revolution – nicht als revolutionären Krieg, sondern als nationalen, demokratischen und antifaschistischen Krieg im Bündnis mit dem (Klein-)Bürgertum führen. Doch dieses Bürgertum war überhaupt nicht von seiner Enteignung in Katalonien und anderen Orten begeistert, ebenso wenig wie die Regierungen in London und Paris, die Stalin als Bündnispartner gegen Hitler gewinnen wollte. Dass die Sowjetunion als einziges Land der spanischen Republik Waffen lieferte, steigerte massiv das


Geschichte | Spanische Revolution

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tische Regierungsbeteiligung, »ohne zu bemerken, dass dieses Opfer auch das des Kriegszieles (den Sieg gegen Franco, Anm. d. Red.) einschloss.« Auch der selbstlose Einsatz zehntausender Kommunisten aus aller Welt, die sich als »Internationale Brigaden« den Faschisten entgegenstellten, konnte nichts daran ändern, dass der Krieg ohne eine Perspektive auf soziale Emanzipation nicht zu gewinnen war. Als immer offensichtlicher wurde, dass die linken Regierungsparteien nicht eine Ausweitung der revolutionären Errungenschaften anstrebten, sondern sie im Gegenteil zurücknahmen, erhob sich schließlich die anarchistische Basis in Barcelona gemeinsam mit der POUM im »Mai-Aufstand« von 1937. Doch dieser wurde auf Veranlassung der Kommunisten blutig niedergeschlagen. Bald darauf wurden auch die anarchistischen Minister entlassen. So endete der »kurze Sommer der Anarchie« (Hans Magnus Enzensberger) in Katalonien nach nur einem Jahr. Wie drastisch die Stimmung umgeschlagen war, geht aus einem Bericht George Orwells vom Sommer 1937 hervor: »Während der letzten Wochen, die ich in Barcelona verbrachte, lag ein eigentümliches, böses Gefühl in der Luft, es war eine Atmosphäre des Misstrauens, der Furcht, der Ungewissheit und des unverhüllten Hasses. Die Maikämpfe hatten unausrottbare Folgen hinterlassen. (...) Die Verantwortung für die innere Ordnung war kommunistischen Ministern übertragen worden, und niemand zweifelte daran, dass sie ihre politischen Rivalen zerschmettern würden, sobald sie auch nur einen Zipfel der Gelegenheit zu fassen kriegten.«

Tatsächlich wurde bald darauf die POUM unter dem Druck der Kommunisten verboten, hunderte ihrer Mitglieder verhaftet, ihre Führer ermordet. Auch George Orwell sah sich nun als angeblicher »trotzkistisch-faschistischer Spion« verfolgt, und musste aus einem Land fliehen, dessen Revolution zu verteidigen er voller Hoffnung gekommen war. Nach England zurückgekehrt, verfolgte er von dort aus mit, wie der Niederlage der Revolution schließlich der Sieg der Faschisten im Bürgerkrieg folgte. ■

Das kurze Zeitfenster, das die Revolution eröffnet, verändert die Gesellschaft radikal: Jahrhunderte alte Macht- und Unterdrückungsverhältnisse werden auf einmal weggefegt. Frauen befreien sich von den patriarchalen Strukturen und kämpfen auf allen Ebenen der Revolution an vorderster Front. Auf zahlreichen Versammlungen und Massenkundgebungen wird diskutiert, agitiert und gestritten. Überall im Stadtbild ist der Aufbruch greifbar: Barrikaden zeugen noch von den Kämpfen gegen das alte Regime, riesige Straßenplakate verkünden revolutionäre Parolen. Poster werden in massenhafter Auflage gedruckt und unzählige linke Zeitungen entstehen

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SPORT | FUSSBALL-EM

Spaßbremse Patriotismus »Nicht in meinem Namen!«, schrieb unser Autor über die Begeisterung für Deutschland zur FußballWeltmeisterschaft 2010. Auch bei der diesjährigen Europameisterschaft wird ein Patriotismus geschürt, der keineswegs sportlichen Zwecken dient Von Nils Böhlke

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SPORT | FUSSBALL-EM

ch habe vor sechs Jahren zum ersten Mal für marx21 einen Artikel darüber geschrieben, dass ich mir den Fußball nicht von den Nationalisten nehmen lassen möchte und mich niemals in eine Fanmeile stellen würde, um dort mit Schwarz-Rot-Gold auf der Wange der deutschen Nationalmannschaft zuzujubeln. Heute ist deutlicher denn je erkennbar, wie sich die Enttabuisierung nationaler Symbolik bei Sportevents negativ auf die gesellschaftliche Entwicklung auswirkt. Wenn ich das schreibe, geht es mir keinesfalls darum, mich gegen diejenigen zu stellen, die sich für Fußball begeistern. Nichts liegt mir ferner. Ich bin Fußballfan seit ich denken kann. Das erste Mal war ich im Alter von sieben Jahren im Stadion. Ich habe mich heiser geschrien für den FC St. Pauli und mit den anderen Fans viele Siege gefeiert und leider noch mehr Niederlagen erlebt. Während der Europameisterschaft werde ich mir so viele Spiele wie möglich anschauen. Dennoch werde ich niemals eine Deutschlandfahne in die Hand nehmen. Die »Bild« wird mich und andere, die ähnlich denken, als »Spaßbremse« und »Miesmacher« bepöbeln. Egal. Denn ich bin Überzeugungstäter: Ich bin überzeugt davon, dass der absehbare schwarz-rot-goldene Taumel gerade in der jetzigen Situation Wasser auf die Mühlen nationalistischer Kräfte wie der AfD sein wird. Über »schwarz-rot-geil« (»Bild«) freuen sich die Fal-

schen. Wenn sich heute ein rechter Hardliner der AfD, Bernd Höcke, in einer Fernseh-Talkshow mit Deutschlandfahne präsentiert, sieht er sich an der Seite der Vielen, die sich in den letzten Jahren bei den großen internationalen Fußballturnieren auf den Fanmeilen tummelten. Die Enttabuisierung nationaler Symbolik wurde bereits nach der WM 2006 von konservativen Kräften bejubelt. So schrieb damals zum Beispiel die notorisch rechte CDU Hessen: »Die Fußballweltmeisterschaft in unserem Land hat den Umgang mit nationalen Symbolen wieder selbstverständlicher gemacht. Die Diktatur der Nationalsozialisten und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hatten das deutsche Nationalgefühl stark beschädigt. In den Jahrzehnten nach 1945 hatten wir Deutsche große Probleme, zu einem normalen Patriotismus zurückzufinden. Das scheint nun gelungen zu sein.« Gerhard Haslinger, Bezirkspolitiker der rechtsextremen FPÖ in Österreich, frohlockte: »Eine herrliche Zeit! Man darf ungestraft zeigen, dass man auf seine Nation stolz ist und man darf öffentlich sein Land lieben. (…) Die gepredigte Vielfalt weicht der Nation, das Miteinander zerfällt zu Gegnern.« Auch NPD-Ideologe Jürgen Gansel freute sich über die Deutschlandfahnen: »Die Herrschenden in Politik und Kultur müssen feststellen, dass über 60 Jahre nach Kriegsende nationale Gemeinschaftssehnsüchte nicht länger unterdrückt und Nationalbewusstsein nicht mehr unter moralische Quarantäne gestellt werden kann.«

marx21 02/2016 © phirue / flickr.com / CC BY-NC-SA

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SPORT | FUSSBALL-EM

Nun will nicht jeder, der bei der Europameisterschaft einen Deutschlandwimpel schwenkt, die Wiederherstellung des Dritten Reichs oder eine starke AfD. Man kann sogar recht sicher davon ausgehen, dass das nur auf einen kleinen Teil der Deutschlandfans zutrifft. Tatsache ist jedoch: Die schwarz-rot-goldene Woge schafft eine Atmosphäre, in der sich die Rechte pudelwohl fühlt. Richtig hässlich wird es, wenn sich Patriotismus noch mit Spekulationen über einen feststehenden Nationalcharakter oder obskuren biologischen Annahmen paart. Vor der WM 2006 meinte Luis Fernando Suárez, Trainer des ecuadorianischen Teams, in einem Interview über die deutsche Mannschaft: »Die Deutschen spielen wie große Panzer, die alles, was sich ihnen in den Weg stellt, überrollen. Sie spielen realistisch, effizient. Sie sind Zerstörer, wie im Krieg.« Ähnlich äußerte sich Franz Beckenbauer, der wusste: »Wir Deutschen haben etwas im Blut, um das uns die ganze Welt beneidet. Wir geben nie auf.« Der ehemalige DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder variiert das völkische Motiv soziobiologisch, wenn er pseudowissenschaftlich analysiert: »Der südamerikanische und afrikanische Fußball haben genetisch andere Voraussetzungen.« Diese Pseudowissenschaft wird Teil des Alltagsbewusstseins. Autoren wie Thilo Sarrazin können darauf aufbauen und ihre Thesen auf andere Lebensbereiche ausweiten.

Möglichkeit tausende von Jahren in die Vergangenheit zurückreichte. So wurde beispielsweise im 19. Jahrhundert der Germanenfürst Arminius, der im Jahr neun nach Christus die Römer in der Varusschlacht besiegt hatte, zu »Hermann«, dem Gründungsvater der Deutschen umgewidmet. Das sollte der Nation historische Tiefe geben, ist aber ein unhistorisches Konstrukt. Bislang ist jeder Versuch der Konservativen, in »Leitkulturdebatten« festzulegen, was deutsch ist, im Sande verlaufen. Die Leitkulturvertreter scheitern schon daran, dass seit Jahren Pasta und Pizza die unangefochtenen Lieblingsessen der Deutschen sind, und nicht Eisbein oder Sauerbraten. Gesellschaften sind permanent im Wandel und Mentalitäten ändern sich. Debatten wie die über die »deutschen Tugenden« der Nationalmannschaft und die Leitkultur verfolgen nur einen Zweck: eine Einteilung in »wir« und die »anderen«, in Deutsche und Nichtdeutsche. Da hilft es auch wenig, dass mit Mesut Özil, Jérome Boateng, Lukas Podolski, Emre Can, Mario Gomez, Shkodran Mustafi, Antonio Rüdiger, Sami Khedira und Leroy Sané knapp die Hälfte des aktuellen deutschen EM-Kaders einen Migrationshintergrund hat – im Gegenteil. Alexander Gauland von der AfD meint, dass Jérome Boateng zwar als Fußballspieler beliebt sei, aber Deutsche jemanden wie ihn (er spielte auf die Hautfarbe an) nicht gerne als Nachbar hätten. Simpler kann man den Nützlichkeitsrassismus nicht mehr ausdrücken: Die dunkelhäutigen Fußballer werden zwar für ihre Arbeitskraft geschätzt, aber als Menschen, die sich in unserer Nachbarschaft aufhalten, sind sie unerwünscht. Sobald Boateng also (und jeder andere »Gastarbeiter«) seine Arbeitskraft nicht mehr zur Verfügung stellt, ist er aus der Sicht der AfD-Rassisten unerwünscht in diesem Land. Während der Weltmeisterschaft 2014 gab es derweil eine Debatte, weil Boateng, Özil und Khedira die Nationalhymne zu Beginn der Spiele nicht mitsangen. In der »Welt« schrieb eine Kommentatorin »Die drei stehen stumm da und machen die schöne Idee kaputt, dass wir mit der Hymne zu einem einigen Ganzen werden könnten.« In diesem Satz wird wunderbar deutlich, worum es eigentlich geht: Das große deutsche »Wir« beschwören, um die soziale Spaltung zu verkleistern. Der »Spiegel« brachte es

Das große deutsche »Wir« wird beschworen, um die soziale Spaltung zu verkleistern

Die Annahme, dass sich in einer Nationalmannschaft und ihrer Spielweise ein Nationalcharakter manifestiert, ist absurd. Denn so etwas wie »das Deutsche« gibt es nicht. Nationalismus – und damit auch die Annahme einer feststehenden »deutschen Nation« – ist das Produkt frühkapitalistischer Gesellschaften. Der Begriff in seiner heutigen Bedeutung ist erst im späten 18. Jahrhundert entstanden, wie der Historiker Benedict Anderson in seinem Buch »Die Erfindung der Nation« gezeigt hat. Das, was wir heute als Deutschland kennen, war noch im frühen 19. Jahrhundert ein Mosaik verschiedener Königreiche und Fürstentümer. Lange Zeit gab es keine einheitliche deutsche Sprache. Ein Bewohner Badens hätte sich nicht mit einem Einwohner Mecklenburgs unterhalten können. Nachdem die Nationalstaaten entstanden waren und mit ihnen der Nationalismus, wurde im Nachgang eine Nationalgeschichte konstruiert, die nach

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SPORT | FUSSBALL-EM

im Jahr 2006 auf den Punkt: »Es ist tatsächlich eine Stimmung der Einheit, die Deutschland erfasst hat. (…) Für die Dauer eines Turniers interessieren sich Hartz-IV-Empfänger, Investmentbanker und Intellektuelle für dasselbe, im Jubel sind die Grenzen sozialer Herkunft verwischt.« Warum das alles? Weil den Konservativen »das gebrochene Verhältnis der Deutschen zur Nation« ein Dorn im Auge ist. Das hat einen Grund: Die deutsche Gesellschaft ist tief gespalten. Die oberen fünf Prozent der Bevölkerung verfügen über 46 Prozent des Vermögens und die oberen zehn Prozent sogar über zwei Drittel. Allein das oberste Prozent besitzt über 23 Prozent des Reichtums in Deutschland. Gleichzeitig haben zwei Drittel der Bevölkerung nahezu kein eigenes Vermögen. Als Folge des Sozialabbaus der letzten Jahre öffnet sich die Schere immer weiter und immer schneller. Die »Süddeutsche Zeitung« (»SZ«) zeigte in einer Reportage anschaulich, wie selbst Menschen, deren soziale Existenz völlig zerstört ist, das Nationalgefühl annehmen. Unter einer Brücke in München machte das Blatt obdachlose Fußballfans ausfindig: »›Wir haben oft genug vom Staat auf den Sack bekommen‹, sagt Indie, ›aber wir stehen trotzdem für Deutschland, weil wir hier geboren sind, weil das unser Vaterland ist.‹ Sein Feuerzeug hat die Farben Schwarz-Rot-Gold.« Die »SZ« wollte mit diesem Artikel die allumfassende Begeisterung dokumentieren. Doch eigentlich ist diese Geschichte sehr traurig. Indie bräuchte ein Dach über dem Kopf, eine Gesellschaft, die sich um ihre Schwächsten kümmert. Stattdessen bekommt er Schwarz-Rot-Gold. Und das kann man bekanntlich nicht essen. Politik und Wirtschaft setzen ganz bewusst auf den »Patriotismuseffekt«. Im Vorfeld der WM 2006 ließen es sich 25 Konzerne 30 Millionen Euro kosten, um uns von Plakatwänden, aus Zeitungen und im Fernsehen immer wieder dieselbe Botschaft zu predigen: Du bist Deutschland! In ihrem Manifest appellieren die Initiatoren: »Behandle dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe an.« Auch der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder und die CDU unterstützten die Kampagne. »Spiegel«-Autor Matthias Matussek argumentierte ähnlich: »Umfragen zeigen ja, dass die Deutschen im Prinzip zu schmerzhaften Einschnitten bereit sind. Wenn es dann allerdings um die konkreten Maßnahmen geht, dann antworten die jeweiligen dann betroffenen Gruppen wiederum anders. Aber ich glaube, dass es ein Nationenzusammengehörigkeitsgefühl braucht, um gerade durch schwierige Zeiten zu kommen und zu sagen: Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir. Und da ist

Patriotismus natürlich sehr tauglich.« Diese Rolle hat Nationalismus seit jeher gespielt: eine zwischen arm und reich, zwischen Klassen gespaltene Gesellschaft unter dem Banner von »Volk« oder »Nation« zu vereinen, um dann für die Nation Opfer einzufordern. Anschaulich schildert das Henrik Müller, damals stellvertretender Redakteur des »Manager-Magazins« in seinem 2006 erschienenen Buch »Wirtschaftsfaktor Patriotismus – Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung«. Darin klagt er: »Statt sich auf den ökonomischen Wettbewerb einzustellen und mitzuspielen, verlangen viele in Deutschland nach internationalen Lösungen: zum Beispiel nach einer Harmonisierung der Steuer- und Sozialsysteme innerhalb der EU, mit dem Ziel, den Standortwettbewerb zu begrenzen. Es liegt auf der Hand, welche Reformen in Deutschland anstehen: ein grundlegender Umbau der Sozialsysteme, die weitere Öffnung des Arbeitsmarkts und der Märkte für Dienstleistungen.« Neidisch blickt der Journalist auf die erfolgreiche Konkurrenz: »Andere Länder haben es vorgemacht – in den 1980er Jahren die Niederlande, Großbritannien, die USA, Neuseeland, in den 1990er Jahren Schweden, Finnland, Dänemark; erst recht die vormals sozialistischen osteuropäischen Staaten. Sie alle haben sich in kollektiven Kraftakten auf die neuen Realitäten eingestellt, haben grundlegende Reformen durchgesetzt.« Müller wirbt deshalb für die entsprechende Ideologie, um diesen »kollektiven Kraftakt« auch im Interesse der deutschen Konzerne durchzusetzen: »Das Bindemittel des Patriotismus – das Zugehörigkeitsgefühl zu dem und die Opferbereitschaft für das nationale Kollektiv – wird offenkundig benötigt als emotionaler Gegenpol zu einer ökonomischen Globalisierung.« Sie reden vom Weltmeistertitel und meinen den Exportweltmeister – eine Position, die errungen wurde auf dem Rücken von immer schärfer ausgebeuteten Beschäftigten. Dieses Spiel sollten Linke nicht mitmachen und auch während der Europameisterschaft über die wirklichen Probleme im Land reden. Und das ist nicht ein mögliches Ausscheiden in der Vorrunde, sondern Dinge wie zum Beispiel Schäubles Dogma einer »schwarzen Null«, die zur Zerstörung der sozialen Infrastruktur führt. Politiker, Manager und Medien werben für den angeblich »unverkrampften« Patriotismus, weil sie hoffen, hinter der Fassade des neuen »Wir-Gefühls« Politik gegen alle Menschen in Deutschland machen zu können – egal, ob sie Deutsche, Türkinnen, Italiener oder Serbinnen sind. Jedoch sollten weder Deutsche noch andere der Regierung dabei helfen, indem sie das Bild ihrer Städte mit schwarz-rot-goldenen Fahnen prägen. ■

Nils Böhlke ist Politikwissenschaftler und Fußballfan. Er arbeitet als Gewerkschaftssekretär bei ver.di und ist Landessprecher der LAG Betrieb & Gewerkschaft der LINKEN in NordrheinWestfalen.

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© Weltkino

Review


REVIEW | DVD

Nordic Noir Eine lesbische Aktivistin wird ermordet, eine Kommissarin mit Asperger-Syndrom ermittelt. In der dritten Staffel der skandinavischen Krimiserie »Die Brücke« geht es vor allem um Frauenbilder und Geschlechterrollen Von Boris Marlow

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elbst der »Tatort« hat das Motiv nun aufgegriffen: Zum Bremer Ensemble gehört neuerdings eine BKA-Ermittlerin, die offensichtlich genauso begabt in ihrem Job wie unbeholfen im Umgang mit ihren Mitmenschen ist. Tatsächlich haben autistisch anmutende Charaktere zum Erfolg einer ganzen Reihe von neueren Krimiserien beigetragen. Man denke nur an Lisbeth Salander aus Stieg Larssons »Millenium«Trilogie oder den von Benedict Cumberbatch verkörperten »Sherlock Holmes«. In dieser Hinsicht unübertroffen ist bislang die Figur Saga Norén aus der skandinavischdeutschen Koproduktion »Die Brücke – Transit in den Tod«. Norén leidet unter dem Asperger-Syndrom. Das Zwischenmenschliche liegt ihr nicht, sie ist entwaffnend ehrlich, direkt und zeigt nahezu keine Gefühlsregungen. Ironie versteht sie ebenso wenig wie sie in der Lage ist, die Mimik ihres Gegenübers zu deuten. Dass die Darstellung ihrer Figur niemals ins Lächerliche abrutscht, ist das Verdienst von Sofia Helin. Auch in der dritten Staffel von »Die Brücke« spielt die schwedische Schauspielerin die Saga Norén wieder beeindruckend intensiv. Verzichten muss Norén derweil auf ihren bisherigen dänischen Kollegen Martin Rohde. Der

hatte am Ende der zweiten Staffel selbst einen Mörder getötet – und wurde dafür von Saga ins Gefängnis gebracht. Jenseits der Fiktion hat Rhodes Ausfall durchaus politische Hintergründe: Darsteller Kim Bodnia stieg unter anderem wegen des wachsenden Antisemitismus an den Drehorten aus. In einem Interview sagte der Schauspieler, besonders in Malmö habe er sich als Jude während der Dreharbeiten zunehmend unbehaglich gefühlt. Seinem Wunsch, das Thema einzubeziehen, habe das Filmteam jedoch nicht entsprochen. Politisch kommt die dritte Staffel dennoch daher. Diesmal geht es vor allem um Familie, Frauenbilder und Geschlechterrollen. Das verdeutlicht schon der erste Mord: Auf einer Baustelle in Malmö wird ein seltsames Ensemble entdeckt. Schaufensterpuppen, zu einer idyllischen Familienszene am Esstisch gruppiert, die Münder mit roter Farbe grotesk überzeichnet. Doch die Mutterfigur ist keine Puppe, sondern eine präparierte Leiche. Die ermordete Frau war die Inhaberin einer Kinderwunschklinik und eine bekannte lesbische Aktivistin. Derweil wird auch Saga Norén von ihrer Familiengeschichte eingeholt: Plötzlich taucht ihre Mutter auf, zu der sie vor Jahren den Kontakt abgebrochen hat. Und selbst in der trauten Klein-

familie von Sagas neuem Kollegen Henrik Sabroe ist nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint. Insgesamt knüpft »Die Brücke« an die Tradition jener skandinavischer Krimis an, die unter dem Genre »Nordic Noir« firmieren. Sie sind gekennzeichnet durch die Kombination von blutigen Serienmorden, einer unterkühlten Ästhetik und dem Blick in die Niederungen der skandinavischen Gesellschaft. Doch die eigentliche Stärke der dritten Staffel machen die Psychogramme aus, welche die Drehbuchautoren von den einzelnen Personen zeichnen. Vor allem die emotionale Weiterentwicklung einer eigentlich gefühlsunfähigen Figur wie Saga gelingt auf überaus plausible Art und Weise. Das lässt selbst über einzelne Schwächen im Plot hinwegsehen. Eine der Besonderheiten der Serie ist übrigens der Ort der Handlung, die Öresundregion. Die Kommissare ermitteln gewissermaßen grenzenlos, überqueren mehrfach pro Folge die knapp acht Kilometer lange Brücke zwischen dem schwedischen Malmö und der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. Doch das dürfte nun erst mal vorbei sein: Im November hat Schweden wieder Grenzkontrollen an der Brücke eingeführt. ■

★ ★★ DVD | Die Brücke – Transit in den Tod, Staffel III | Regie: Rumle Hammerich | Dänemark, Schweden, Norwegen, Deutschland 2015 | ZDF Enterprises | 568 Minuten | online kostenfrei abrufbar in der ZDF-Mediathek

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REVIEW | Album des Monats

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ie Hamburger Punkband Slime stand im Frühjahr 2012 vor einem Problem. Seit Mitte der Achtziger war die Gruppe mit ihren markanten Texten so etwas wie die Souffleuse aller Autonomen und Punker: »Legal, illegal, scheißegal« geht auf sie zurück, das Schmäh-Akronym »A.C.A.B« haben sie maßgeblich zu verbreiten geholfen. Doch als sich die Band nach 18 Jahren zu einem erneuten Comeback entschied, hatte sich ausgerechnet Stephan Mahler, ihr Drummer und Songwriter, bereits in den musikalischen Ruhestand verabschiedet. Warum also nicht ein Rückgriff auf die Texte des Dichters Erich Mühsam? Dieser war mit seiner konsequenten Ablehnung von Sittsamkeit und Staatsmacht doch ein Bürgerschreck par excellence, ein Punk-Prototyp samt rebellischer Haarpracht. Der Titel des erwartungsgemäß lauten Albums brachte die gemeinsame Geisteshaltung gekonnt auf den Punkt: »Sich fügen heißt lügen«. Dreht man nun, wie das Weber-Herzog-Musiktheater, den Entstehungsprozess um, geht also von Mühsams Lebenswerk und -zeit aus und komponiert dazu passende Musik, so kann das Ergebnis auch verblüffend anders ausfallen. Dies liegt natürlich zuallererst an den Künstlern selber – Christa Weber ist gelernte Schauspielerin und Autorin, Christof Herzog ist studierter Komponist und Kammermusiker – aber auch an der Auswahl der Texte. Neben aufrichtig-emotionalen (»Die Sonne lacht«), teilweise anzüglichen Gedichten (»Liegst du lang«) bleiben vor allem die plastischen Beschreibungen von Kriegsgetümmel und Militarismus im Gedächtnis. »Sengen, brennen, schießen, stechen/ Schädel spalten, Rippen brechen« kreischt sich Christa Weber in Ekstase, während eine Klarinette das gespenstische Spiel frenetisch begleitet. Auch der Chorus, eine vergleichsweise harmonische Verschnaufpause (»So lebt der edle Kriegerstand/ (...) mit

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Weber-Herzog-Musiktheater | Erich Mühsam – Lieder, Songs, Gedichte

ALBUM DES MONATS Was bleibt vom 1934 ermordeten Anarchisten und Antimilitaristen Erich Mühsam? Eine ganze Menge, wie Christa Weber und Christof Herzog beweisen

Von David Jeikowski

★ ★★ Weber-Herzog-Musiktheater | Erich Mühsam – Lieder, Songs, Gedichte | Housemaster Records | 2016

Gott für König und Vaterland), wird jäh durch ein Paarbeckenschlag und Offiziersgeschrei unterbrochen: »Stillgestanden! Hoch die Beine!/ Augen geradeaus, ihr Schweine!«. Die nächste Schlacht geht jedoch nicht gut aus: »Angeschossen, hochgeschmissen/ Bauch und Därme aufgerissen/ (...) Mutter! Mutter!! Sanitäter!!! ...« Die letzten Wörter bleiben im Halse stecken. Seichte Töne erklingen, die letzte Ehre wird erwiesen. Doch die Feier des gefallenen Kriegers schlägt um in eine Feier des Kriegerstands, der Tote wird zum Märtyrer, es

wird wieder exerziert. Der Militarismus kennt keine Gnade, nur Gott und »König und Vaterland«. Gruselig! Mag sich das deutsche Militär auch in seiner Außendarstellung modernisiert haben, lässt sich eine Kontinuität im Inneren schwer leugnen. Ob zur Stärkung des Kampfgeistes oder der Gemeinschaft, der Alkohol scheint damals wie heute integraler Bestandteil des Heers, wie das nächste Lied aufzeigt. Dass hier zwischendurch immer wieder »Ein Prosit der Gemütlichkeit« angestimmt wird, ist sicher eben-

so wie das nächste Stück, »Die Resel von Konnersreuth«, ein kritischer Verweis auf »das Volk der Bajuwaren« und Mühsams langen Aufenthalt unter ihnen. 1919 war er maßgeblich an der Gründung der Münchener Räterepublik beteiligt, wofür er später zu 15 Jahren Haft verurteilt werden sollte. Immer wieder erschrickt man, wie aktuell die Texte sind. Zu so vielen Zeilen des 1878 geborenen Lyrikers lassen sich mühelos aktuelle Bezüge herstellen: »Die Stadt Berlin (...) spart an allen Ecken/ Mag Kranken-, Schuldienst und Verkehr/ verdrecken und verrecken!/ Im Westen kennen sie den Dreh,/ wie Baugeld man zur Stell’ schafft:/ Man spekuliert aufs Portemonnaie/ der besseren Gesellschaft«. Was ist das anderes als eine Beschreibung der aktuellen Wohnungs- und Sozialpolitik diverser deutscher Großstädte? Wenn Mühsam von einem Lampenputzer erzählt, der sich als besonders revolutionär geriert, aber nicht mehr mitspielen will, wenn ausgerechnet die von ihm stets sorgsam geputzten Lampen für den Barrikadenbau genutzt werden sollen – was ist das anderes als die Frage nach der Integrität einer sich als revolutionär verstehenden Partei (damals explizit der SPD, heute analog der Linkspartei)? Christof Herzogs burleskartigen, größtenteils auf Violine und Klarinette basierenden Kompositionen bedürfen einer gewissen Eingewöhnung popgewöhnter Ohren, ebenso wie Christa Webers von quietschig-kreischend bis wollüstigglucksend reichendes Stimmrepertoire. Einmal eingehört, bereichert es jedoch ungemein. Erich Mühsam ist schon lange tot, 1934 wurde er im KZ Oranienburg ermordet. Seine antifaschistischen Texte scheinen jedoch nicht weniger aktuell als damals. Während seiner Inhaftierung in Bayern schrieb er: »Ich schwur den Kampf. Darf ich fliehn?/ Noch leb ich – wohlig oder hart./ Kein Tod soll mich der Pflicht entziehn –/ und meine Pflicht heißt: Gegenwart«.■


REVIEW | BUCH

Die Geschichte ist immer noch ungeschrieben Frische linke Perspektiven auf die Vergangenheit fordern die Autorinnen und Autoren eines neuen Sammelbands. Doch ihre Texte zeigen vor allem, dass die Reflexion über linke Geschichtsschreibung noch mutiger und radikaler vorangetrieben werden muss Von Johnny Van Hove

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istory is Unwritten« heißt die 400-seitige Dokumentation der gleichnamigen Konferenz aus dem Jahr 2013. Mit dem griffigen Titel des »Lesebuchs« weist das Berliner AutorInnenkollektiv Loukanikos auf die »Glättungen und Auslassungen« in der Mainstreamgeschichtsschreibung hin: Soziale Kämpfe, die Unterdrückten sowie die Opfer von Verbrechen würden zu selten in den Fokus genommen, schreiben die Herausgeberinnen und Herausgeber mit Recht. Zur selben Erkenntnis kamen auch Howard Zinn oder Edward P. Thomson in der Hochphase der linken Geschichtsschreibung in den 1960er bis 1980er Jahren, wie David Mayer in seinem sehr lesenswerten Überblick über das Thema des Buchs erörtert. Mayer macht sich außerdem für die Neuorientierung klassischer Themen stark – wie die Geschichte des Kapitalismus, der DDR, der Arbeiterbewegung und der verschiedenen Revolutionen und Revolutionäre –, die in der konservativ-neoliberalen Gegenwart womöglich eine noch größere Relevanz besitzen. Dabei plädiert der Autor dafür, mehr neuere Ansätze zu verwenden: Globale Perspektiven seien genauso notwendig wie die Aufmerksamkeit für Gender und Ethnizität, Kolonialismus und

Eurozentrismus. Mayer versucht zu vermitteln, dass linke Geschichtsschreibung weit innovativer und weitsichtiger sein könnte, ja sein müsste, als sie heute ist. Wie notwendig diese Forderung ist, verdeutlicht die Mehrheit der restlichen Beiträge: Die punktuelle Aufmerksamkeit für Hausbesetzer, Lesben, postmoderne Theorien und kritische Initiativen kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die traditionellen historischen Hauptfiguren der linken Geschichtsschreibung auch in diesem Band recht eindimensional eingefangen werden. Personen aus Fleisch und Blut werden allzu häufig zu widerspruchslosen politischen Chiffren des Widerstands reduziert oder viktimisiert. Wolfgang Uellenberg-van Dauwens Aufsatz beispielsweise zweifelt aus gutem Grund daran, dass die deutschen Arbeiter »jubelnd« in den Ersten Weltkrieg zogen, wie die bürgerliche Historiographie es darstellt. Sein eigenes Narrativ allerdings ist genauso unrealistisch: Arbeiterinnen und Arbeiter hätten dem Krieg fast ausnahmslos skeptisch gegenübergestanden. Wie Linke mit Mythen umgehen sollen, ist folgerichtig eine zentrale Frage des Bands. Die Antworten der Autorinnen und Autoren oszillieren zwischen Dekonstruktion und Konstruk-

tion der eigenen Mythen und bleiben bis zum Schluss ungelöst und relativ spannend – für Insider. Denn wie dieser Band mit seiner bisweilen unleserlichen, hoch spezialisierten Mischung aus akademischen und politischen Diskursen die Zugänglichkeit und Relevanz »für möglichst viele Menschen« erzeugen will, ist ein Rätsel. Der notwendige frische Wind (besonders auf der Ebene der Themenfindung und der Vermittlung) wird zwar konsequent gefordert, doch kaum umgesetzt. Die Herausgeber scheitern mit ihrem Bestreben, das Verschwinden der Ergebnisse der Konferenz »in der akademischen Asservatenkammer« zu verhindern. Das sogenannte »Lesebuch« lädt kaum zum »Flanieren und Umherschweifen« ein: Dafür ist die Sprache zu hölzern, die Inhalte und Ideen zu redundant und die Diskussion zu verwissenschaftlicht. Kurzum, die Aufsätze verdeutlichen, dass die linke Geschichtsschreibung – wenn sie wieder breiter rezipiert werden soll – dringend neue Impulse braucht, und zwar auf allen Ebenen: von der Sprache über die Themen bis hin zu Offenheit für neue theoretische Perspektiven und Ansätze. ■

★ ★★ BUCH | AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hrsg.) | History is Unwritten: Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Ein Lesebuch | Edition assemblage | Münster 2015 | 400 Seiten |19,80 Euro

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REVIEW | BUCH

Die Unproduktiven Sie arbeiten in der Finanzindustrie, in der Werbung und im Rechtswesen: Millionen Arbeitnehmer schaffen keinen eigenen Wert – nicht mal fürs Kapital. Das zeigt Stephan Krüger in seiner beeindruckenden Studie über den deutschen Kapitalismus auf Von Thomas Walter

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★ ★★ BUCH | Stephan Krüger | Entwicklung des deutschen Kapitalismus 1950-2013. Beschäftigung, Zyklus, Mehrwert, Profitrate, Kredit, Weltmarkt | VSA-Verlag | Hamburg 2015 | 140 Seiten | 12 Euro

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tephan Krüger hat als marxistischer Ökonom schon viel zum deutschen Kapitalismus veröffentlicht. Sein neuestes Buch ist eine statistische Beschreibung des Kapitalismus in der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Krüger stützt sich dabei auf die sogenannten Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen des Statistischen Bundesamtes und auf Statistiken der Bundesbank. Diese rechnet er wenn nötig auf marxistische Begriffe um. Während jahrzehntelanger Arbeit hat er eine Datenbank erarbeitet, die bis in das Jahr 1950 zurückreicht. Das Buch veranschaulicht mit diesen Daten wichtige Bestandteile der marxschen Ökonomie. Krügers wichtigste Ergebnisse sind, dass die BRD, ähnlich wie die Weltwirtschaft, sich inzwischen im elften Konjunkturzyklus befindet. In einer ersten »Prosperitätsphase« herrschte das »Wirtschaftswunder«: Die Ökonomie wuchs, Beschäftigung und Löhne stiegen, die Gewerkschaften erkämpften den Ausbau des Sozialstaats. Doch gerade in dieser Phase ging, (bis 1982) die Profitrate kräftig zurück. Damit kündigte sich die »Überakkumulationsphase« an. Die Wirtschaft leidet jetzt unter Überkapazitäten. Die Wirtschaftszyklen führen zu keiner stärkeren Erholung

mehr. Der Neoliberalismus versucht, zu Lasten der Arbeiter den Kapitalismus über die Runden zu retten. Einige Befunde von Krüger sind besonders interessant. Die für das Kapital »produktiven« Arbeiterinnen und Arbeiter verortet Krüger hauptsächlich in der Industrie und industrienahen Dienstleistungen. Demnach sind derzeit von den insgesamt 35 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern etwa 15 Millionen produktiv. Sie, die Produktiven, schaffen den Mehrwert. Die »Unproduktiven« in Handel und Finanzen, in der Werbung, im Rechtswesen oder in der Bürokratie mögen für das Kapital notwendig sein, sie schaffen aber keinen eigenen Wert. Sie müssen aus dem Mehrwert der Produktiven bezahlt werden. Hierher gehören auch von den Arbeitern erkämpfte soziale Dienstleistungen, die für die Kapitalisten »unproduktiv« sind. Krüger berechnet, dass von acht Stunden Arbeit drei Stunden der Produktion von Gütern für die Arbeiterklasse dienen. Fünf Stunden schaffen den Kapitalisten den Mehrwert. Davon gehen aber drei Stunden ab nur für »Zirkulationskosten«, also notwendige, aber unproduktive Arbeit. Dem Kapitalisten verbleiben also von acht Stunden Arbeit nur zwei Stunden für

die Akkumulation von Kapital. Entsprechend niedrig ist inzwischen die Akkumulationsrate, die Wachstumsrate des Kapitals. Nach Krüger wäre ohne die unproduktive Arbeit die Arbeitslosigkeit noch höher. Er zeigt, dass kapitalistische Politik bestimmte ungünstige Entwicklungen anhalten konnte, ohne aber die Profitrate nachhaltig steigern zu können. Dabei ist die Mehrwertrate durchaus gestiegen. Zu einem immer größeren Teil produzieren die Arbeiterinnen und Arbeiter für das Kapital, nicht für ihre eigenen Bedürfnisse. Aber der Kapitaleinsatz steigt ebenfalls, so dass die Profitrate sich nicht erholt. Krüger »dokumentiert die Ausweglosigkeit der neoliberalen Umverteilungspolitik von unten nach oben.« Er billigt der keynesianischen Wirtschaftspolitik – die auf mehr staatlicher Nachfrage und Steuerung basiert – zu, dass sie besser mit der Stagnation des Kapitalismus umgehen könnte. Insbesondere der Vorschlag von Keynes zu einer »einigermaßen umfassenden Sozialisierung der Investitionen« hat es ihm angetan. Letztlich braucht es aber eine »prinzipielle Alternative«. Inwieweit sein neuestes Buch »Wirtschaftspolitik und Sozialismus« dazu beiträgt, muss die weitere kritische Diskussion zeigen. ■


REVIEW | BUCH Des Monats

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s ist bereits das zweite Buch, in dem die Journalistin Kathrin Hartmann Hoffnungen auf eine ökologische Wende im Kapitalismus als Illusion entlarvt. In »Ende der Märchenstunde« zerlegte sie die Ideologie, nach der die Welt durch das richtige Konsumverhalten verändert werden könne. Nun setzt sie sich kritisch mit der Vorstellung von nachhaltigem oder »grünem« Wirtschaftswachstum auseinander. Für »Aus kontrolliertem Raubbau« reiste Hartmann in die Anbaugebiete angeblich besonders nachhaltiger Produkte: Palmöl aus Indonesien und Zuchtgarnelen mit Ökosiegel aus Bangladesch. Das »nachhaltige« Palmöl bezeichnet die Autorin als den Schmierstoff des »grünen Kapitalismus«, weil der nachwachsende Rohstoff vielseitig verwendbar ist, etwa in Biodiesel oder Fertigprodukten. Das Herzstück des Buchs sind die Beschreibungen ihrer Recherchen vor Ort und der Begegnungen mit Kleinbäuerinnen und -bauern sowie lokalen Umweltschutzorganisationen. In Indonesien besuchte sie Palmölplantagen, auf denen die Arbeiterinnen und Arbeiter unter unmenschlichen Bedingungen ausgebeutet werden. Die Ölpalmen wachsen auf Feldern, die durch Abholzen der Regenwälder entstanden sind – oftmals illegal, aber vom Staat geduldet. Im Namen der Nachhaltigkeit werden Indigene und Kleinbauern aus den übrig gebliebenen Wäldern vertrieben, weil die nun unter Naturschutz stehen. Hartmann besuchte auch die Aquakulturen in Bangladesch, in denen Shrimps gezüchtet werden. Zuchtgarnelen gelten als nachhaltig, weil sie angeblich eine Lösung für das Problem der Überfischung der Meere darstellen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ein Drittel aller gefangenen Seefische

Kathrin Hartmann | Aus kontrolliertem Raubbau

BUCH DES MONATS Alles öko, alles gut? Großkonzerne, aber auch NGOs wollen uns weismachen, dass nachhaltiges Wirtschaftswachstum kein Problem sei. Ein fundiert recherchiertes Buch räumt mit diesem Märchen auf Von Peter Oehler

★ ★★ BUCH | Kathrin Hartmann | Aus kontrolliertem Raubbau. Wie Politik und Wirtschaft das Klima anheizen, Natur vernichten und Armut produzieren | Karl Blessing Verlag | München 2015 | 448 Seiten | 18,99 Euro

dient als Futter für Aquakulturen. Zudem versauert und vergiften die Zuchtanlagen die umliegenden Ackerflächen, was zu dauerhaft sinkenden Reisernten führt. Die reichen Länder des globalen Nordens kontrollieren mithilfe der Ökozertifizierung den Zugang zum Markt und können so den produzierenden Ländern die Vorgaben diktieren. Unternehmen, Staaten und internationale NGOs geben dem ausbeuterischen und Regenwald vernichtenden Palmölanbau und den Shrimps-Aquakulturen einen »nachhaltigen« Anstrich. Dabei sei »Nachhaltigkeit« jedoch nichts weiter

als »ein wohlklingendes Wort für Systemerhalt«: Natur und Klima würden gerade so viel geschont, wie nötig ist, um das Wirtschaftssystem zu erhalten. Hartmanns Kritik nimmt auch dezidiert als ökologisch deklarierten Anbau nicht aus, da die Plantagen auf gerodeten Regenwaldflächen entstehen und riesige Monokulturen nicht biologisch bewirtschaftet werden können. Staatlichen Einrichtungen, wie der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, und großen Umweltschutzorganisationen wirft Hartmann zudem vor, Nachhaltigkeitsprojekte immer über die Köpfe der be-

troffenen Bevölkerung hinweg zu entschließen. Die Autorin benennt den Kapitalismus als die Hauptursache sowohl für Armut und Hunger als auch für die Zerstörung unserer Umwelt. Das ist nicht neu. Was mir vor der Lektüre hingegen nicht so klar war, ist, wie zerstörerisch auch nachhaltige oder sogar ökologische Landwirtschaft weltweit wirkt.Das letzte Kapitel des Buchs ist möglichen Alternativen gewidmet. Gesellschaftliche Veränderungen, so Hartmanns Überzeugung, entstehen »stets durch Aufklärung, Erkenntnis, Diskurs, Protest und solidarischen Widerstand«. Eine »Änderung der imperialen Lebensweise des Westens« sei unabdingbar. Hier sieht sie Hoffnung in den Bewegungen von unten, in Protesten wie dem Widerstand gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Im globalen Süden setzt sie auf die Betroffenen mit ihrem Konzept der Ernährungsunabhängigkeit. Denn während ihrer Recherche entdeckte Hartmann nicht nur skandalöse Machenschaften, sondern auch neue Perspektiven: »Weil die Menschen, die ich dort kennengelernt habe, mit einer so großen Leidenschaft und Kraft, Liebe und Solidarität, Phantasie, Klugheit und Mut ganz selbstverständlich Widerstand gegen die Zumutung einer totalitären Gesellschafts- und Weltordnung leisten.« »Aus kontrolliertem Raubbau« bietet reichhaltige Informationen von einem klaren politischen Standpunkt aus. Als etwas störend habe ich den polemischen Stil der Autorin empfunden, denn die erschlagenden Fakten sprechen eigentlich für sich. Dennoch kann ich dieses Buch sehr empfehlen – insbesondere denjenigen, die meinen, durch gehobenen ökologischen und nachhaltigen Konsum sei schon genug für die Umwelt getan. ■ marx21 02/2016

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REVIEW | BUCH

… und wenn ja, wie viele? Die Frage nach dem kollektiven politischen Subjekt ist zentral für die revolutionäre Theorie. Das neue Buch von Nina Power ist diesem Thema gewidmet, scheitert aber an den eigenen Ansprüchen Von Theodor Sperlea

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★ ★★ BUCH | Nina Power | Das kollektive politische Subjekt – Aufsätze zur kritischen Philosophie | Laika Verlag | Hamburg 2015 | 264 Seiten | 24 Euro

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anchmal, wenn Mainstreamfilme Szenen des Widerstands und der Revolution zeigen, sehen wir auf der Leinwand das kollektive Subjekt – zum Beispiel in der großartigen Endszene von »V wie Vendetta«, den Gesängen des Pöbels und der Revolution in »Les Misérables« oder dem Zusammenschluss der Bewegungen in »Pride«. Solche Momente machen etwas greifbar, das theoretisch hochkomplex ist: Das Zusammenkommen Einzelner zu einem zwar nicht homogenen und meist nicht organisierten, aber gemeinsam handelnden Ganzen. Nun hat sich die Aktivistin und Philosophin Nina Power in der Aufsatzsammlung »Das kollektive politische Subjekt« mit dieser Thematik beschäftigt. Dafür gräbt sich die Autorin tief in die Werke von Philosophen wie Jacques Rancière, Giorgio Agamben, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Simon Critchley, Jean-Jacques Rousseau und Jean-Paul Sartre ein. Ihre Analysen fußen auf der genauen Kenntnis der Werke Karl Marx‘. Ein zentraler Bezugspunkt sind außerdem die Arbeiten des zeitgenössischen französischen Philosophen Alain Badiou, der sich mit seinen Werken und in aktuellen Debatten für eine Erneuerung der Idee des Kommunismus einsetzt. So behandeln die letzten drei Kapitel, der Hö-

hepunkt des Buchs, hauptsächlich den Subjektbegriff und vor allem den Subjektbegriff bei Badiou. Da dieser seine Ansichten bereits mehrfach geändert hat, kann Nina Power hier nicht nur den Vergleich zu anderen Autoren, sondern auch zu früheren Phasen Badious ziehen. In diesen Kapiteln findet sich unter anderem eine sehr interessante Beschreibung der Herkunft und Entwicklung des Subjektbegriffs vom Untergeordneten (lat.: subiectum) zum Akteur der Aufklärung. Jedoch ist die Wahl Badious als theoretische Grundlage schwer nachzuvollziehen. Schließlich gibt die Autorin selbst zu, dass sich dessen »Theorie des Subjekts (…) als eigenartig substanzlos« erweist. Dennoch beschreibt Power andere Subjekttheorien aus den letzten Jahrzehnten entweder nur nebenbei oder gar nicht. Dies ist umso ärgerlicher, da sie feststellt, dass »Badious Schwierigkeit bei der Benennung des Subjekts (…) einen Hinweis auf eine gewisse politische Sackgasse« darstellt. Hier wäre ein Blick in die Arbeiten Jacques Lacans, Slavoj Žižeks und Michel Foucaults nützlich gewesen, denn diese haben Subjektbegriffe entwickelt, die womöglich aus jener Sackgasse herausführen. Die anderen Kapitel von Powers Buch streifen das Thema kollektive politische Subjekte dann auch nur. Stattdessen

geht es dort unter anderem um Begriffe von Gleichheit, Humanismus und Anarchismus und verliert sich in Details. Ein inhaltlicher roter Faden wird nicht erkennbar, jedoch ein stilistischer: Die Sprache der Autorin ist zwar sehr akkurat, aber deswegen auch nur schwer lesbar. In vielen Abschnitten übernimmt Nina Power zudem Begriffe von den behandelten Autoren, ohne diese zu erklären oder zu diskutieren. Insofern scheitert die Autorin mit diesem Buch an ihrem eigenen Anspruch, der auf dem Buchrücken folgendermaßen formuliert ist: »Das kollektive politische Subjekt in Theorie und Praxis ist das Antidot zur Nabelschau der Philosophie.« »Das kollektive politische Subjekt« ist für mich als interessierten Laien, der sich nicht mit den Standpunkten und Begriffssprachen aller behandelten Denker auskennt, in großen Teilen schwer verständlich. Die Autorin betreibt also dieselbe Nabelschau, der sie gern entfliehen würde, und das ist bedauerlich: Eine zugängliche Bearbeitung dieses Themas könnte der Linken eine neue, solide theoretische Grundlage bieten. ■


REVIEW | BUCH

Das Konkurrenzdenken aufbrechen In Zeiten von global beweglichen Unternehmen werden auch die Rufe nach transnationaler Solidarität unter den Beschäftigten immer lauter. Ein neuer Sammelband bietet einen interessanten Überblick über Theorie und Praxis grenzüberschreitender Gewerkschaftsarbeit Von Tilman von Berlepsch

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n zwölf Beiträgen schafft es die bunte Autorenschaft von »Last Call for Solidarity«, aktuelle Diskussionen der Gewerkschaftsund Bewegungsforschung zusammenzubringen, und zeigt so Möglichkeiten für Widerstand über Organisations- und Staatsgrenzen hinweg auf. Der erste Teil des Bands liefert theoretische Grundlagen zu kollektiver Handlungsmacht und den Chancen und Problemen von internationaler Solidarität. Dabei plädieren die Autorinnen und Autoren dafür, Solidarität als Prozess zu begreifen, der in der Praxis entsteht. Die Gewerkschaften hingegen haben sich, so die These, im Laufe der Zeit zu sehr auf Kundenbetreuungs- und Stellvertreteraktivitäten konzentriert und die Organisierung kollektiven Handelns vernachlässigt. In seinem Beitrag über die »Akteure internationaler Solidarität« konstatiert Bodo Zeuner, dass Gewerkschaften schon immer auch eine Ordnungsmacht waren. Gleichzeitig findet er Anzeichen dafür, dass sie immer noch Gegenmacht sein können. Als Voraussetzungen für Solidarität macht Zeuner aus: gemeinsames Interessenbewusstsein, Vertrauen in die Kolleginnen und Kollegen, Kommunikation sowie das Gefühl von Gegenmacht. In »Globale Produktion und

lokale Fragmentierung« erläutert Stefanie Hürtgen die Spaltungsmechanismen der Globalisierung im lokalen Bereich. Solidarität bedeutet für sie nicht, internationaler zu handeln, sondern auf allen Ebenen gegen die Zersplitterung der Belegschaften anzukämpfen. Im letzten theoretischen Artikel stellt Andrew Herod heraus, wie starke Belegschaften durch die international vernetzte Produktion Kettenreaktionen in Gang setzen können, die ihnen große Macht verschaffen. So räumt er mit dem Märchen auf, dass Arbeitskämpfe unter heutigen Bedingungen keine Aussicht auf Erfolg hätten. Im zweiten Teil des Buchs wird anhand von Fallbeispielen und empirischen Studien die Theorie dem Praxistest unterzogen. Dabei analysieren die Autorinnen und Autoren konkrete Instrumente zur Umsetzung internationaler Solidarität, wie zum Beispiel Globale Rahmenvereinbarungen – also Verträge zwischen transnationalen Konzernen und globalen Gewerkschaftsverbänden –, europäische Betriebsräte, gewerkschaftliche Kampagnenarbeit oder Kooperation mit NGOs. Eine absurde Form internationaler Solidarität bespricht Sarah Bormann: »sharing the pain« (den Schmerz teilen). Hier opfern die Gewerkschaf-

ten grenzüberschreitend Leiharbeiterinnen und -arbeiter, um Standortschließungen zu verhindern. Internationale Solidarität führt in diesem Fall zur Entsolidarisierung zwischen Kern- und Randbelegschaften. Besonders spannend ist der Beitrag »Internationale Solidarität in Zeiten transnationaler Migration« von Jenny Jungehülsing. Sie zeigt auf, dass Zugewanderte eine herausragende Rolle in Gewerkschaften spielen und deren mangelnde internationale Orientierung ausgleichen können. Aus ihren Herkunftsländern bringen sie Erfahrungen, Netzwerke und eine Art »transnationaler Identität« mit, die zu einer wichtigen Grundlage gefühlter internationaler Solidarität werden. So haben salvadorianische und mexikanische Aktivistinnen und Aktivisten in den USA gewerkschaftliche Kämpfe vorangetrieben und politisiert. Was dem Band fehlt, ist ein rahmender Artikel, der die verschiedenen Facetten und Forschungsergebnisse miteinander verbindet. Dennoch ist das Buch wegen der Verbindung von Theorie und Praxisbeispielen, die richtungsweisende Handlungsvorschläge liefern, allen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, Betriebsräten sowie Aktivistinnen und Aktivisten zu empfehlen. ■

★ ★★ BUCH | Sarah Bormann, Jenny Jungehülsing, Shuwan Bian, Martina Hartung, Florian Schubert (Hrsg.) | Last Call for Solidarity. Perspektiven grenzüberschreitenden Handelns von Gewerkschaften | VSA | Hamburg 2015 | 224 Seiten | 19,80 Euro marx21 02/2016

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Preview


PREVIEW | BUCH

Krisen, Konflikte und soziale Kämpfe Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken – Chris Harmans Globalgeschichte erzählt davon. Demnächst erscheint die deutsche Ausgabe. Deren Übersetzerin gibt schon mal einen Ausblick Von Rosemarie Nünning

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ls Chris Harmans Buch »A People's History of the World« im Jahr 1999 in Großbritannien erschien, war sofort klar, dass es unbedingt auch auf Deutsch veröffentlicht werden muss. Doch erst vor einigen Jahren fand sich mit dem Laika-Verlag ein Herausgeber – und als diese mich fragten, die Übersetzung zu übernehmen, blieb mir gar nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Harman hat – gestützt auf eine Unmenge Literatur – wahrhaftig eine Welt- und Menschheitsgeschichte verfasst, die von den herrschaftsfreien Gesellschaften im »Urkommunismus« bis zur Jahrtausendwende reicht. Sein Anliegen ist es, von der Entstehung von Klassengesellschaften und den gescheiterten wie erfolgreichen Bewegungen für ihren Sturz zu erzählen. Dazu blättert er die gesellschaftlichen Entwicklungen in den verschiedensten Gegenden der Welt auf, die nicht selten denen des »Westens« weit voraus waren. Er verfolgt dabei einen methodischen Ansatz: nämlich zu zeigen, wie Gesellschaft durch das Zusammenwirken von technologischer Entwicklung, von Klassenstrukturen und Klassenkämpfen geprägt wird. So ist dies keine Geschichte von einem unaufhaltsamen Aufstieg der menschlichen Gesellschaft, sondern auch von der

Erstarrung oder dem Zurückfallen entwickelter Zivilisationen. Der weit gespannte Bogen der Erzählung beginnt mit der Darstellung der »neolithischen Umwälzung« vor etwa 10.000 Jahren, die sich auf verschiedenen Kontinenten vollzieht. Ihr folgt mit der Entstehung von Klassen und Privateigentum die städtische Revolution in Ägypten, auf Kreta oder auch am Indus, und die »welthistorische Niederlage der Frau«. Die Zeit des Altertums ist die Griechenlands und Roms, aber auch der ersten chinesischen Reiche. Für das frühe Mittelalter streift Harman unter anderem durch das byzantinische Reich und die afrikanischen Zivilisationen, die oft sehr viel höher entwickelt waren als die kolonialistische Geschichtsschreibung uns glauben machen will. Es besitzt eine eigene Faszination zu erfahren, wie im westlichsten Zipfel Eurasiens schließlich aus einer rückständigen feudalen Gesellschaft heraus der Kapitalismus geboren wird, dessen Ordnung schließlich den gesamten Globus überzieht. In Harmans Weltgeschichte treiben nicht »große Männer« wie Könige, Religionsstifter, Philosophen die Geschichte an, sondern herrschende und beherrschte Klassen und die Kämpfe, die sie ausfechten. Schon das Alte Reich in Ägypten wurde von Bauernaufstän-

den erschüttert, ebenso wie die mesoamerikanischen Zivilisationen oder die frühen Dynastien in China. Im feudalen Europa finden wir um das Jahr 1000 einen ersten Bericht über aufbegehrende normannische Bauern, die sich in die Hand schwören, »nicht Vogt noch Herrn zu dulden«. Schon bald entstehen infolge gesellschaftlicher Umbrüche aber auch rückwärtsgewandte Bewegungen wie die der Geißler und die Kreuzzüge. Die zweite Hälfte des Buchs ist der modernen kapitalistischen Welt gewidmet: den bürgerlichen Revolutionen, der Expansion des Kapitalismus mit seinen Kolonisierungsfeldzügen und dem 20. Jahrhundert als Zeitalter der revolutionären Hoffnung wie der imperialistischen Barbarei der Weltkriege und des Faschismus – bis zu dem Zusammenbruch des Ostblocks und einer »neuen Weltordnung«. All dies ist durchsetzt mit einer breiten Ideen- und Kulturgeschichte der Entstehung von Religionen, kulturellen Strömungen wie der Renaissance und sogar der Filme eines Charlie Chaplin. Diese Übersetzung war kein leichtes Unterfangen. Ich hoffe, sie ist insoweit gelungen, als dass sie auch hier Geschichte begreifbar macht und allen als Handbuch dienen kann, die die Welt zum Besseren verändern wollen. ■

★ ★★ Buch | Chris Harman | Wer baute das siebentorige Theben? Wie Menschen ihre Geschichte machen | Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning, Bearbeitung David Paenson | Laika Verlag | Hamburg | etwa 1000 Seiten (drei Bände) | erscheint voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte 2016

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PREVIEW | Frauenrechte

»Wir wollen eine neue Debatte über Frauenrechte entfachen« Im Juli organisiert das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung eine Konferenz gegen die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Die Strategie dahinter ist historisch informiert, politisch aktuell und konsequent antirassistisch Interview: Clara Dircksen Judith, du bist aktiv im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung. Was sind eure Ziele? Seit Jahren sind das Aufleben traditionell-biologistischer Rollenerwartungen an Männer und Frauen, die Zunahme von Homophobie und Sexismus spürbar. Radikale Gegnerinnen und Gegner des Schwangerschaftsabbruchs gewinnen immer stärkeren Einfluss. Regelmäßig veranstalten selbsternannte »Lebensschützer« in Berlin eine Demonstration mit mehreren Tausend Teilnehmenden. Dagegen hilft nur eine breite Mobilisierung. Unser Bündnis gründete sich 2013, inzwischen gehören ihm mehr als 30 Verbände und Institutionen und über 1000 Personen an. Wir fordern die Abschaffung des Strafrechtsparagrafen 218, kostenfreien Zugang zur »Pille danach« und umfassende Sexualaufklärung. Unterschiedliche Lebensentwürfe müssen gleichberechtigt gelebt werden können und staatlich gefördert werden. Wir müssen dem konservativ-reaktionären Familienbild etwas entgegensetzen. Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht. Ihr organisiert die Konferenz »Mein Körper – meine Verantwortung – meine Entscheidung: Weg mit § 218«. Was gibt es für Linke da noch zu diskutieren? Die Diskussion über das Recht auf Schwangerschaftsabbruch wird seit einiger Zeit von einer gefährlichen Allianz aus christlichen Fundamentalisten und der neuen und alten Rechten besetzt. Die Europaabgeordnete der AfD, Beatrix von Storch, läuft regelmäßig hinter dem Leittransparent beim »Marsch für das Leben«. Ihre Partei forderte ein Verbot des Schwangerschaftsabbruchs, »um das Überleben des eigenen Volkes zu sichern«. Wegen dieser Angriffe bedarf 82 | marx21 02/2016

Judith Benda

Judith Benda ist Mitglied im Parteivorstand der LINKEN und Europäischen Linken (EL) und aktiv im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung (BfsS). ★ ★★ Konferenz Mein Körper – meine Verantwortung – meine Entscheidung: Weg mit § 218 9. und 10. Juli | Schloss 19 | Schlossstraße 19, 14059 Berlin | Anmeldung unter: www.sexuelle-selbstbestimmung.de/konferenz-2016/ Aktionstag Gegen den »Marsch für das Leben« christlicher Fundamentalisten am 17. September aktuelle Informationen unter: www.sexuelle-selbstbestimmung.de das Thema weiterhin unserer Aufmerksamkeit. DIE LINKE tritt als einzige Partei für die ersatzlose Streichung des § 218 ein. Die Konferenz soll eine neue Debatte über den § 218 entfachen. Kannst du einen Ausblick auf das Programm geben? Wir beginnen mit der Geschichte des Widerstands gegen den Strafrechtsparagra-

fen 218. Anschließend wollen wir einen Blick auf die heutige rechtliche Lage werfen und diskutieren, inwieweit Gewerkschaften sich mit dem Thema befassen und welche Rolle das Thema in den Medien spielt. Sicherlich werden die Diskussionsgruppen zur AfD und Angriffen von rechts sowie zur Debatte um weibliche Geflüchtete und Migrantinnen zentral sein. Wir wollen außerdem eine Resolution verabschieden und konkrete Aktionen für den 17. September planen. Es ist ermutigend, dass sich europaweit großer Widerstand gegen Angriffe auf Frauenrechte formiert. Aktivistinnen und Aktivisten aus diesen Bewegungen werden auch teilnehmen. Dies bietet eine tolle Möglichkeit, sich zu vernetzen und Erfahrungen über Ländergrenzen hinweg auszutauschen. Der Marsch der Abtreibungsgegner und der Aktionstag für sexuelle Selbstbestimmung finden am Tag vor den Berliner Abgeordnetenhauswahlen statt. Wo siehst du Anknüpfungspunkte zu anderen politischen Debatten? Da gibt es natürlich viele Forderungen in der Sozial-, Bildungs- und Familienpolitik, aber ich möchte den Blick auf eine Frage lenken: Unser Kampf für sexuelle Selbstbestimmung ist antirassistisch! Wir dürfen nicht zulassen, dass die politische Rechte Frauen für ihre Hetze instrumentalisiert, indem sie die Lüge verbreitet, sexualisierte Gewalt sei ein Problem von Muslimen oder zugewanderten Männern. Das ist falsch und rassistisch. Es ist eine bittere Ironie, dass dieselben gesellschaftlichen Kräfte, welche noch 1997 die Bestrafung von Vergewaltigung in der Ehe verhindern wollten, heute mit dem Thema Stimmung gegen Zugewanderte machen. ■


NEUERSCHEINUNGEN

Prostitution - Sexarbeit, Kriminalisierung und Frauenunterdrückung | Rosemarie Nünning und Sheila McGregor | 76 Seiten | 3,50 Euro | ISBN 978-3-9816505-3-2 | 2016

Staat, Regierung, Revolution: Marxistische Aufsätze | 270 Seiten | 6,50 Euro | ISBN 978-3-39816505-6-3 | 2016

Der »islamische Staat« IS: Woher er kommt, wer ihn unterstützt und wie er gestoppt werden kann | Anne Alexander | 76 Seiten | 3,50 Euro | ISBN 978-3-9816505-4-9 | 2016

Marxismus und Partei | John Molyneux | 180 Seiten | 6,50 Euro | ISBN978-3-9816505-2-5 | 2016

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