marx21 Ausgabe Nummer 21 / 2011

Page 1

marx 21

Nr. 21 | Sommer 2011 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de

MAGAZIN FÜR INTERNATIONALEN SOZIALISMUS

Margarita Tsomou

berichtet von den Protesten in Griechenland

Dietmar Dath

Erklärt die Unwichtigkeit der Idee – und die Wichtigkeit des Handelns

Slavoj Žižek

im Gespräch über den Tag nach der Revolution

DER KAPITALISMUS

Wirtschaftswunder durch ökologische Erneuerung? Grenzen und Potenziale einer neuen Volkspartei



Sie nennen sich »Los Indignados« – die Empörten. Sie strömten erst auf den Puerta del Sol in Madrid und dann auf andere Plätze im Land. Die Besetzungsaktionen in allen größeren Städten Spaniens waren durch die zunehmende Not und die wachsende Armut und Perspektivlosigkeit von Arbeiterinnen, Arbeitern und Jugendlichen ausgelöst worden. Die Demonstrierenden wehren sich gegen die Sparmaßnahmen der Regierung des Sozialdemokraten Jose Zapatero. Die erste Demonstration am 15. Mai, nach dem die Proteste als M-15-Bewegung bezeichnet werden und aus denen die »Zeltstadt« auf dem Puerta del Sol hervorging, war durch einen Aufruf zahlreicher InternetStrömungen initiiert worden, darunter die Bewegung »reale Demokratie jetzt«. Als Vorbild dient ihr die Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo.

Liebe Leserinnen und Leser,

W

ir hatten geladen und viele von euch kamen. Anfang Juni fand unser Kongress »Marx is’ muss« in Berlin statt. Wir freuen uns über die vielen positiven Rückmeldungen. Noch mehr freuen wir uns darüber, mehr als siebzig neue Abonnentinnen und Abonnenten begrüßen zu dürfen – viel Spaß beim Lesen! Falls ihr den Kongress verpasst habt, könnt ihr euch auf marx21.de eine ausführliche Dokumentation anschauen. Dort findet ihr Fotos, Redemanuskripte und Videos. In diesem Heft gibt es zudem einen kurzen Bericht (Seite 61) und eine kleine Presseschau (Seite 56). Darüber hinaus dokumentieren wir die Reden, die Oskar Lafontaine und Dietmar Dath gehalten haben. Hinweisen möchten wir euch auch auf unsere Rubrik »Betrieb & Gewerkschaft«. Hier behandeln wir in lockerer Folge Fragestellungen rund um betriebliche Kämpfe und gewerkschaftliche Strategien. In diesem Heft: ein Erfahrungsbericht von Bernd Riexinger über den Aufbau von ver.di im Bezirk Stuttgart. Eine weitere Neuerung für Smartphone-Nutzer: Bei einigen Artikeln entdeckt ihr am Rand einen kleinen Kasten mit einem QR-Code. Wenn ihr diesen Code mit eurem Handy abfotografiert, werdet ihr direkt zu den entsprechenden Artikeln, Bildern oder Videos im Internet geleitet. Mit dieser Ausgabe verabschieden wir uns in eine kurze Sommerpause. Das nächste Heft erscheint Mitte September. Als Lesestoff für den Sommer empfehlen wir unsere neue Aboprämie: das neu beim VSA-Verlag aufgelegte Buch »Die revolutionären Ideen von Karl Marx« von Alex Callinicos. In zugänglicher Form werden darin die Grundideen des Marxismus skizziert: Wie funktioniert Geschichte? Was ist Kapitalismus? Und vor allem: Wie können wir die Welt verändern? Der Band kostet im regulären Buchhandel 16,80 Euro – bei uns gibt’s das Buch als Prämie zu einem Jahresabo – solange der Vorrat reicht. Gerne möchten wir unser Heft weiter verbessern – doch das kostet Geld. Deshalb haben wir die Spendenkampagne »10.000 Euro für marx21« gestartet. Weitere Infos gibt es auf Seite 87. Wir freuen uns über jeden Cent.

Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

© Engel Serón

Spanien

3


Griechenland: Protest der Zukunft

»Wir streiken so oft wir können«

06

38 12

Schwerpunkt: Grüner Kapitalismus?

Aktuelle Analyse

Schwerpunkt: Der Grüne Kapitalismus

Betrieb und Gewerkschaft

06

13

Fossile Brennstoffe: Die Macht der Dinosaurier Von Jonas Rest

38

18

»Da ist nichts nachhaltig« Von Oskar Lafontaine

Kontrovers

20

Baden-Württemberg: Dasselbe in grün Von Dirk Spöri

Griechenland: Protest der Zukunft Von Margarita Tsomou

ver.di Stuttgart: »Wir streiken so oft wir können« Von Bernd Riexinger

Unsere Meinung 10 11

EHEC: Das Bakterium schlägt zurück Kommentar von Amy Leather Griechenland: Es gibt eine Alternative Kommentar von Stefan Bornost

Schwerpunkt: Revolution

Neu auf marx21.de

»Marx ist besser anwendbar denn je«

4

Aufruhr in Arabien, Proteste in Europa. Ist 2011 das Jahr der Revolutionen? Interview mit Alex Callinicos. Ein Blick lohnt sich:

www.marx21.de

25

Ägypten: Zweiter Akt der Revolution Von Phil Marfleet

30 Entscheidend ist der Tag danach Interview mit Slavoj Žižek

41

Bundeswehr: Kampf ums Klassenzimmer Von Christian Stache

44

Die Gleichgültigkeit der Idee Von Dietmar Dath


Interview mit Slavoj Žižek

52

Palästina: Trügerische Hoffnung

30 68

Frauenfußball: Den Platz erobert

Internationales 50

»Es geht um mehr als Gaza« Interview mit Aksel Hagen

52

Palästina: Trügerische Hoffnung Von Stefan Ziefle

65 Neue Mauern, neue Festungen Kommentar von Olaf Klenke

03 Editorial 66 Parteiausschlüsse: Politischer Sauberkeitswahn Kolumne von Arno Klönne Kultur

Netzwerk marx21 56

Presseschau »Marx is’ muss 2011«

58 Serie: Was will marx21 (7) Was tun gegen Frauenunterdrückung?

Rubriken

68

Frauenfußball: Den Platz erobert Von Marcel Bois

72 Klassiker des Monats: Karl Marx: Thesen über Feuerbach Von Georg Frankl

08 Impressum 09 Leserbriefe 36

Neues aus der LINKEN

48

Weltweiter Widerstand

61

Was macht das marx21-Netzwerk?

76 Review 83 Quergelesen 84 Preview

Geschichte 50 Jahre Mauerbau: Die Teilung zementiert Von Olaf Klenke

74

Die Geschichte hinter dem Song: Gil Scott-Heron: »The revolution will not be televised« Von Yaak Pabst INHALT

62

5


© Jess Hurd / www.reportdigital.co.uk

Protest der Zukunft Die griechische Bewegung der Empörten ist ein Faktor im Kräfteverhältnis der europäischen Politik, der sich nicht mehr ignorieren lässt. Sie treibt derzeit die Entscheidungsträger vor sich her

A

m Abend des 15. Juni warteten die Menschen auf dem Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament auf den Hubschrauber. In den Wunschvorstellungen kreiste er schon lange über dem Platz, kam vor in den sarkastischen Gesängen der unermüdlichen Besetzer oder als knuffiger Comic-Hubschrauber auf einem festgeschraubten Transparent. Im Jahr 2001 flüchtete der damalige argentinische Präsident Fernando de la Rua mit dem Hubschrauber aus dem Präsidentenpalast – die Flucht des Premierministers Giorgos Papandreou sehnen nun die protestieren-

6

VON MaRGaRita tSOMOU

den Griechen herbei. Der Hubschrauber hob zwar nicht ab, aber die seit Wochen andauernden öffentlichen Versammlungen der Aganaktismeni (Bewegung der Empörten) führten dennoch zu etwas Entscheidendem: Die Generalprobe einer Parlamentsblockade war genug, um die Regierung in eine existenzielle Krise zu stürzen. Während dieses Jahres, in dem die griechische Bevölkerung von privaten Gläubigerbanken, der Europäischen Zentralbank und den Eurohütern in Geiselhaft genommen wurde, hat sich eine Bewegung entwickelt, die die Kräfteverhältnisse in Frage stellt und die Institutionen das Fürchten lehrt. Hunderttausende

Griechinnen und Griechen, die die öffentlichen Plätze besetzen, haben nun wiederholt gezeigt, dass sie es ernst meinen: Sie haben nicht vor, die Auflagen für die neuen Kredite zu akzeptieren und sie zucken nicht mit der Wimper, wenn sie dabei die vielbeschworene Stabilität des Euro zerstören. Die Bewegung der Empörten ist mittlerweile ein nicht zu ignorierender und zugleich unberechenbarer Faktor in den Kräfteverhältnissen der europäischen Politik geworden. An diesem schönen, für die Nachkriegszeit Griechenlands historischen Tag im Juni geriet Papandreou angesichts der Wut der Menge und des gleichzeitig stattfinden-


inhaltlich leer geworden, sondern auch unproduktiv für die neue Art der Aneignung des öffentlichen Raums, die mittlerweile auf andere Weise funktioniert. Die relevanten Bilder des 15. Juni sind somit nicht die in den Nachrichtenagenturen kursierenden Fotos von den Randalen am Vormittag, sondern die vom Mittag: Da kam die Menge der Empörten wieder auf den Platz, um in einem penibel organisierten, kollektiven Akt des Aufräumens den Syntagma-Platz mit Wasser vom Tränengas zu reinigen, so dass sich die Protestierenden später in der täglichen Generalversammlung wieder auf den Boden setzen konnten. Diese Bewegung hat neue Aktionsformen hervorgebracht und entfaltet

»Wir verkaufen nichts, wir schulden nichts, wir zahlen nicht« Demonstranten in Athen

später, unter dem Eindruck des fallenden Eurokurses, beendeten auch Angela Merkel und Nicolas Sarkozy ihr Zögern und sicherten Griechenland in einem Eilverfahren die Zustimmung für die nächste Rate zu – mit oder ohne private Gläubigerbeteiligung. So treibt die Bewegung der Empörten derzeit die Entscheidungsapparate vor sich her. Selbst die griechische Öffentlichkeit ist vom Charakter der empörten Bürgerproteste überrascht. Wer aber denkt, dass es sich derzeit – wie etliche deutsche Zeitungen es gern darstellen – wieder einmal um den gewöhnlichen, alle drei Monate stattfindenden Gewerkschaftsprotest handelt, wird kaum erklären können, was den noch vor einem Monat entschieden auftretenden Papandreou gerade jetzt dazu bewegt, sich politisch zu demontieren. Weder der Generalstreik noch die linksautonomen Negationsgesten sind hier entscheidend. Die eintägigen Generalstreiks haben es ohnehin nie vermocht, tatsächlich ökonomischen Druck aufzubauen. Sie lösten seit längerem immer wieder falschen Alarm aus. Die ritualisierten Riots der in den Protesten mittlerweile minoritären antiautoritären Genossen sind längst nicht nur

neue Charakteristika, die es schwer machen, eine schnelle Analyse anzustellen. »Ein Experiment von Kritik, kollektiver Schöpfung, Artikulation und Selbstorganisation befindet sich in einem Entwicklungsprozess«, schreibt etwa die Bloggerin Maria Louka. Die Platzbesetzer beschränken sich längst nicht mehr auf Forderungen und Adressierung an die Macht. Sie agieren zudem ohne Repräsentanten. Wie ein Aktivist namens Vassilis sagt, strebten sie die politische, kulturelle und ethische Umstrukturierung der Gesellschaft an, die in der gemeinsamen Suche nach einer direkten Demokratie münde. Welche weiteren konkreten Formen dieser Prozess annehmen könnte, ist zurzeit erst in Umrissen zu erkennen. Doch es wird auf jeden Fall schwierig für die Machthaber werden, die Erfahrung auf den Plätzen aus den Köpfen der hunderttausenden Beteiligten verschwinden zu lassen. Nicht nur deswegen lässt sich niemand von der billigen Regierungsumbildung Papandreous beeindrucken. Die politische Haltung der Menschen auf den Plätzen ist: »Wir verkaufen nichts, wir schulden nichts, wir zahlen nicht.« Die konkrete

Forderung ist ganz und gar nicht bescheiden: Das Memorandum zum »Rettungspaket« samt seiner unsozialen Auflagen von 2010 muss zurückgenommen werden – sonst verlässt keiner den Platz. Das macht der Regierung Verhandlungen unmöglich – und nicht nur das. Wird das mittelfristige neue Kreditpaket samt Auflagen nicht in der von der »Troika« (der Europäischen Union, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds) diktierten Form durchgesetzt, wird der griechische Staat am 12. Juli zahlungsunfähig sein. Für die Millionen Arbeitslosen, Rentnerinnen und Rentner sowie die seit Monaten unbezahlten Arbeiterinnen und Arbeiter klingt das Wort »Staatspleite« nicht erschreckender als die Durchsetzung des neuen »Memorandums«, das weitere Kredite festlegt. Furchteinflößend ist das Szenario der »Staatspleite« für diejenigen, die ein Interesse am Bestehen der Euro-Zone haben. So kursiert unter Platzbesetzern die triumphierende Feststellung, dass die EU ihr Einlenken dringender braucht, als sie die Gunst der EU benötigen. Zugeständnisse der europäischen Institutionen hinsichtlich einer Umschuldung oder eines »Hair Cut« gelten als vorstellbar, denn Europa kann den Zusammenbruch nicht riskieren. Das gibt sogar der neue griechische Wirtschaftsminister Evangelos Venizelos zu: Die EU könne sich den Crash nicht leisten. An dem geplanten Tag der Verabschiedung der mit der neuen Kreditvergabe zusammenhängenden Sparmaßnahmen sind ein Generalstreik und eine Umzingelung des Parlaments in Athen geplant. Ziel ist es, die Abstimmung zu verhindern. Vielleicht hebt dann ein Hubschrauber ab. Das wäre dann ein vorläufiger Sieg in einem langen Prozess einer gesellschaftlichen Veränderung, sagt Giorgos Rakkas: »Damit meine ich nicht nur Monate, sondern vielleicht Jahre.« ■ ★ ★★ MaRGaRita tSOMOU ist freie Autorin und Herausgeberin des Missy Magazins. Sie stammt aus Griechenland und lebt in Berlin.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung Jungle World. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

AKTUELLE ANALYSE

den Generalstreiks in Panik und fügte sich noch dazu selbst erheblichen Schaden zu: Er bot in einem misslungenen Manöver mit der Opposition seinen Rücktritt an und leistete sich mit einer Zögerlichkeit, die auch Mubarak an den Tag legte, die Peinlichkeit, diesen Schritt danach wieder zurückzunehmen und nur sein Kabinett umzubilden. Am selben Nachmittag und während die Menschen noch wütend vor dem Parlament protestierten, verkündete die EU-Kommission unerwartet, dass die Auszahlung der fünften Kreditrate doch garantiert sei – während sie vorher die Rate erpresserisch zurückhielt, als Druckmittel für die Verhandlungen über das neue »Schuldenpaket«. Nur einen Tag

7


marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 5. Jahrgang Nr. 21, Sommer 2011 ISSN 1865-2557 www.marx21.de Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. redaktion Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Yaak Pabst ständige Mitarbeit Natalie Dreibus, Lisa Hofmann, Jan Maas, Tobias Paul (Neues aus der Linken), Michael Ferschke, Veronika Hilmer (Was will marx21), Bruce Paenson (Weltweiter Widerstand), Win Windisch (Quergelesen) Mitarbeit an dieser Ausgabe Michael Bruns, Christine Buchholz, Jens Fischer, Nicole Gohlke, Werner Halbauer, Klaus-Dieter Heiser, Sven Kühn, Volkhard Mosler, Rosemarie Nünning, David Paenson, Jonas Rest, Marijam Sariaslani, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Christoph Timann, Janine Wissler, Luigi Wolf übersetzungen Berit Künnecke, David Meienreis, Einde O’Callaghan, David Paenson infografiken Karl Baumann layout Philipp Kufferath, Yaak Pabst Covergestaltung Yaak Pabst redaktion online Yaak Pabst (verantw.), Frank Eßers, Ole Guinand, Jan Maas Druck Druckhaus AJSp, Ateities g. 10, LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 - 89 56 25 11 Fax: 030 - 56 82 28 84, Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank | Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21- Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im September 2011 (Redaktionsschluss: 17.08.) 8

Gegen Integration, Rassismus und Leitkultur schreiben: Etienne Balibar, Mark Terkessidis und Berlusconi-Herausforderer Nichi Vendola. Außerdem: Zwei Seiten, keine Medaille Erlebnisse im Integrationskurs, Migrantische Kämpfe in der DDR, Mehrfachdiskriminierung und Homonationalism. INFOS UND BESTELLUNG:

www.prager-fruehling-magazin.de


LESERBRIEFE

Elmar Altvaters Reihe habe ich mit großem Interesse verfolgt. Schade, dass der letzte Teil schwach ausgefallen ist. An Universitäten und Akademien interessieren sich Sozialwissenschaftler sehr wohl für Klassenkampf, wenn auch oftmals etwas subtiler als dem Politologen Altvater recht zu sein scheint. Insbesondere Pierre Bourdieu hat in »Die verborgenen Mechanismen der Macht« dargelegt, wie der alltägliche Klassenkampf stattfindet und was die Resultate sind. Sein spezifischer Ansatz besteht darin, die Relationen zwischen den gesellschaftlichen Positionen zu betonen und so die soziale Wirklichkeit, »die verborgenen Mechanismen der Macht« zu untersuchen. »Die sozialen Akteure und auch die Beherrschten selbst sind in der sozialen Welt (…) durch eine Beziehung hingenommener Komplizenschaft verbunden, die bewirkt, dass bestimmte Aspekte dieser Welt stets jenseits oder diesseits kritischer Infragestellung stehen.« Das Miteinanderverwachsensein der Mächtigen und der Beherrschten ermöglicht erst die Akkumulierung von Macht und die Ausübung von Herrschaft. Diese Selbstangleichung an bestehende Herrschaftsverhältnisse zu verstehen, erlaubt es, das weitgehende Ausbleiben von nachhaltigen Arbeiteraufständen und Revolutionen zu erklären. Ulrich vom Hagen, Halifax/Kanada

Zum Schwerpunkt»Arabiens Revolution in Gefahr« (Heft 20) Ich muss bei meiner inzwischen recht vielfältigen Lektüre zur Revolte in Libyen etwas Wichtiges übersehen haben, was ihr scheinbar kennt: Stellungnahmen organisierter Oppositionskräfte zu ihren gesellschaftlichen Vorstellungen und Plänen über das in der Praxis sehr dehnbare bis nichtssagende Programm der »Demokratie« hinaus. Dass das Gaddafi-Regime ein bürgerliches und inzwischen sogar ein reaktionäres ist, bedarf keiner weiteren Diskussion. Aber

Zum Artikel »Zur Nahost-Erklärung der Linksfraktion« (marx21.de, 17.06.2011) Es ist echt eine Herausforderung, den Versuchen der Spaltung und Zerstörung einer pluralen Linken entgegenzuwirken, ohne die eigenen Überzeugungen zu verraten. Ich finde: Mit eurer Erklärung kriegt ihr das gut hin! Florian Wilde, via Facebook

Zur Serie »Was macht marx21?” (Heft 20) Es gibt viele sozialistische Parteien und Verbände. Warum vereinigt ihr euch nicht? Nur gemeinsam sind wir stark! Ihr alle müsst aufwachen, überall auf der Welt raucht es, keiner weiß wohin. Wir sind der rettende Anker. Wir müssen mit anderen Organisationen wie der LINKEN – die wohl größte und einflussreichste in Deutschland – eine Verbindung finden. In meinen Augen ist das der einzige Weg, etwas zu verändern. Alle gleichgesinnten Organisationen, deren Wille es ist, ein besseres Leben für alle Menschen in Deutschland zu erreichen, müssen sich zusammen organisieren, da es sonst keine Wirkung gibt. Also Proletarier aller Länder vereinigt euch. Heute noch aktuell. Bitte tut was! Rigo Dötsch, per E-Mail

Zum Leserbrief von Mathis Oberhof (Heft 20) Toll, dass meine Rezension über »We want sex« einen Leserbrief provoziert hat. Da Mathis leider nicht sagt, warum er meinen Text »kleinkariert und sektiererisch« findet, kann ich nicht direkt darauf antworten. Er wirft aber die interessante Frage auf, warum man überhaupt Filmbesprechungen für ein politisches Magazin schreibt. Es wäre selbstverständlich ein Fehler, Filme nur nach ihrem politischen Wert zu beurteilen. Marx und Engels haben den reaktionären Schriftsteller Balzac gelobt.

Ein Film wie »Die Faust im Nacken«, der zu den Besten aller Zeiten zählt, feiert Streikbruch und wurde gemacht, um die Kapitulation von Regisseur Elia Kazan vor dem McCarthyismus zu rechtfertigen. Obwohl viele gute Filme politisch (und links) sind, hat Kunst ihre eigenen Regeln, nach denen sie bewertet werden sollte. Bei Filmen mit einer politischen Botschaft ist es nicht immer leicht, die Politik von der Kunst zu trennen. Aber die Tatsache, dass ein Film wie »We want sex« diese Debatte auslöst, ist Ergebnis seines künstlerischen Erfolgs. Er funktioniert künstlerisch besser als die meisten anderen Filme – teilweise wegen seines politischen Inhalts, mit dem Konflikte und Widersprüche dargestellt werden. Umgekehrt gilt aber für die politische Schwäche des Films, dass sie auch den künstlerischen Wert des Werks mildert. Da er auf realen Ereignissen basiert, wird seine Wirkung geschwächt, wenn einige Fakten erlogen sind. Barbara Castle war keine Freundin von streikenden Arbeiterinnen. Es gibt und gab in Großbritannien keine Schule, wo Großunternehmerkinder gemeinsam mit Kindern von Fabrikarbeitern lernen. Durch solche falschen Aussagen verliert der Film einen Teil seiner Wirkung. Das soll nicht heißen, dass er schlecht ist – ich habe ihn genossen. Aber wenn ein Film wichtige Fragen stellt, dann sollte man versuchen, sie zu beantworten und den Film – als Kunst und als politischen Beitrag – kritisch zu hinterfragen. Phil Butland, Berlin

Zu Oskar Lafontaines Rede beim Kongress »Marx is’ muss« Oskar hat hier natürlich recht. Die Grünen standen vor 30 Jahren für Pazifismus, Sozialstaat und Ökologie. Geblieben ist eine kapitalistische Ökologie. Kriegseinsätze der Bundeswehr – durch Schröder und Fischer abgesegnet – sind die größte Umweltzerstörung. Das ehemalige Jugoslawien hat sich vom NATO-Einsatz bis heute strukturell nicht erholt. Auch Afghanistan ist von der NATO zum Wüstenstaat zurück gebombt wurden.« Uwe Schenke, via Facebook

Die redaktion behält sich vor, leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die redaktionsadresse oder per e-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

Zum Nachtrag zur Serie »Marx neu entdecken« von Elmar Altvater (Heft 20)

was ist die organisierte Opposition? Die nicht organisierte dient wie immer nur als Kanonenfutter oder Rammbock für die Interessen der organisierten Kräfte und gegebenenfalls deren Drahtzieher. Ich denke, die proletarische Linke wäre in diesem Konflikt gut beraten, völlige Neutralität zu wahren. Konkrete Hilfe für die um legitime Interessen kämpfenden »Massen« kann sie eh nicht leisten. Sollte sie, wenn sie dazu in der Lage wäre, den von euch genannten Rebellenvertretern wirklich »militärische Unterstützung« angedeihen lassen, oder genügt es nicht, wenn die NATO das tut? A. Holberg, per E-Mail

9


EHEC

Das Bakterium schlägt zurück VON aMY leatheR

D

er jüngste EHEC-Ausbruch hat weltweit bereits mehr als 40 Menschenleben gekostet und über 22.000 Menschen infiziert. Sprossen von einem Biohof wurden nun als Träger des bisher unbekannten Erregerstamms ausgemacht, während man lange versichert hatte, die Quelle seien spanische Gurken. Unabhängig davon, was unmittelbar verantwortlich ist, ist die Verbreitung der Krankheit eine unausweichliche und vorhersehbare Folge einer profitgesteuerten, hochgradig industrialisierten Nahrungsmittelproduktion. Bereits 1995 ergab eine Studie, dass 13 Prozent allen Salats, noch bevor er verpackt wurde, EHEC enthielt. Vor drei Jahren berichtete die USSeuchenbekämpfungsbehörde, dass jedes Jahr 300.000 Menschen in Krankenhäusern behandelt werden müssten und 5000 an Krankheiten sterben, die über Nahrungsmittel verbreitet werden. In der Nahrungsmittelindustrie geht es um viel Geld. Vier multinationale Konzerne kontrollieren die Rohstoffe unseres globalen Lebensmittelsystems. Der Lebensmitteleinzelhandel wird von mächtigen Supermarktketten betrieben. Auf jeder Stufe der Nahrungskette kommen industrielle Herstellungstechniken zum Einsatz. Der unnachgiebige Druck, Profite zu maximieren, führt dazu, dass ständig an der Hygiene gespart wird. Die Salatindustrie bildet hier keine Ausnahme. Über mehr als 100 Quadratkilometer erstrecken sich in den Niederlanden Gewächshäuser, in denen Tomaten, Gurken und anderes Gemüse gezogen werden. In Spanien gibt es eine gewaltige Industrielandschaft aus Plastikgewächshäusern, die fast 400 Quadratkilometer der Hochplateaus an den Küsten bedecken. EHEC-Erreger werden durch menschlichen oder tierischen Kot übertragen, aber auch durch halbrohes, verseuchtes Fleisch. Sie können durch verseuchtes Wasser, Dung, der nicht sachgemäß kompostiert wurde, oder durch unzureichende Hygienemaßregeln verbreitet werden. Der intensive Anbau von Salatköpfen schafft ideale

10

Brutbedingungen für Seuchen und Pilze. Dicht gedrängte Gewächshäuser erlauben es Krankheitserregern, sich rasch auszubreiten. Um diesem Problem zu begegnen, werden Pestizide eingesetzt, von denen viele extrem giftig sind. Der Einsatz von Pestiziden entspricht dem weit verbreiteten Gebrauch von Antibiotika in der Massentierhaltung. Eine Folge hiervon ist die Entstehung neuer Bakterienstämme, die gegen Antibiotika resistent sind, wie die jüngste EHEC-Generation. Eine der wenigen Kostenquellen, die die Produzenten beeinflussen können, sind die Löhne. Sie brauchen Personal, das jederzeit eingestellt und gefeuert werden kann und dabei für das absolute Minimum arbeitet. Daher verlassen sie sich stark auf ausländische Arbeitskräfte, besonders in Spanien, wo bis zu 90.000 Gastarbeiter tätig sind. Die Arbeiter, die die Pflanzen versorgen, ernten und waschen, hausen in Hütten aus alten Plastikboxen ohne sanitäre Anlagen oder Zugang zu sauberem Trinkwasser. Salat wird in riesigen Wasserzubern gewaschen. Um auch hier wieder Kosten zu senken und die Produktion zu beschleunigen, wird das Wasser oft nur einmal pro Tag ausgewechselt. Daher kann sich belasteter Schlamm absetzen. Die Techniken der Massenherstellung zusammen mit dem Kostendruck auf jeder Stufe und der Absenkung aller Standards erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Nahrungsmittel Erreger wie EHEC enthalten. Das Problem ist, dass Lebensmittel Waren sind, die gehandelt werden, um damit Gewinne zu erwirtschaften, während Spekulanten die Preise in die Höhe treiben. Wegen ihrer Profitgier müssen wir vergiftete Nahrungsmittel essen.

EHEC ist die Folge einer profitgesteuerten, hochgradig industrialisierten Nahrungsmittelproduktion

★ ★★ aMY leatheR ist Redakteurin der englischen Wochenzeitung Socialist Worker.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

GRIECHENLAND

Es gibt eine Alternative VON StefaN BORNOSt einmal eingezogen wurden. Das vorhandene Geld hat die Regierung für die Olympischen Spiele im Jahr 2004 oder für den Kauf deutscher U-Boote verpulvert. Dann kamen die Spekulanten und haben die Zinsen hochgetrieben. Für zweijährige

Eine Lösung wäre der komplette Schuldenerlass Staatsanleihen müsste Athen 25 Prozent bezahlen, im weit höher verschuldeten Japan sind es 0,2 Prozent. Nun behauptet die »Troika« aus EU, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), »Heilung« gäbe es durch weitere Lohnsenkungen, tiefere Einschnitte bei den Staatsausgaben und den Ausverkauf von staatseigenen

Unternehmen. Doch schon die Folgen der Sparmaßnahmen des vergangenen Jahres waren wirtschaftlicher Niedergang, massiv steigende Schulden und zunehmende Arbeitslosigkeit. Ganz offensichtlich stehen die Rettung der griechischen Wirtschaft oder gar die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung nicht im Zentrum des Handelns von IWF und der europäischen Regierungen. Nicht diskutiert hat die »Troika« hingegen das, was die Menschen auf den Straßen Griechenlands fordern: Einen kompletten Schuldenerlass. Das ist die einzig plausible Alternative zum Spar- und Kürzungskurs. ★ ★★ StefaN BORNOSt ist leitender Redakteur von marx21. UNSERE MEINUNG

D

ie Menschen in Griechenland arbeiten im Jahresschnitt 2119 Stunden, in Deutschland sind es 1390 Stunden. Das griechische Lohnniveau lag schon vor der Krise bei 73 Prozent des Eurozone-Durchschnitts, jetzt ist es noch niedriger. Die griechische Staatsverschuldung liegt bei einem Prozent des Bruttoinlandprodukts, die von Japan bei 200 Prozent. Das sind die Fakten. Nein, nicht jene aus der Bild-Kampagne gegen die »faulen Pleitegriechen«, sondern die aus der realen Welt. In der realen Welt wird die Bevölkerung Griechenlands gerade für Vergehen bestraft, die sie nicht begangen hat. Die Milliarden für die Bankenrettung hat Griechenlands Haushalt vergleichsweise schlecht weggesteckt, weil die Steuern für Reiche und Konzerne fortwährend gesenkt und dann größtenteils nicht

11


18 20

Systemkonform Oskar Lafontaine über die Grünen

Dasselbe in grün Neue Regierung in Baden-Württemberg

© Carlos Latuff / Berabeitung marx21

TITELTHEMA Der GRÜNE KAPITALISMUS


Die Macht der Dinosaurier Ein radikaler ökologischer Umbau der Wirtschaft ist notwendig. Doch die Großkonzerne, die auf fossile Rohstoffe setzen, blockieren dieses Projekt. Es droht zu scheitern VON JONaS ReSt

★ ★★

JONaS ReSt ist Politikwissenschaftler und Autor von »Grüner Kapitalismus? Klimawandel, globale Staatenkonkurrenz und die Verhinderung der Energiewende« (VS Verlag 2011).

E

nde Mai verkündete der Chefvolkswirt der Internationalen Energieagentur (IEA) die Hiobsbotschaft: Im vergangenen Jahr sind so viele klimaschädliche Treibhausgase ausgestoßen worden wie noch nie zuvor. Es ist der höchste Anstieg von CO2Emissionen seit Beginn der Messungen. Diese Nachricht glich einer offiziellen Bestätigung dafür, dass der Green New Deal gescheitert ist – jene Konzepte, nach denen Milliardeninvestitionen in kohlenstoffarme Technologien einen grünen Aufschwung herbeiführen sollten. Auf diese Weise sollte die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 bis 2010 überwunden und zugleich die Transformation zu einer »kohlenstoffarmen Wirtschaft« eingeleitet werden. In dieser soll das Wirtschaftswachstum durch eine »grüne Revolution« des Energiesystems und der Produktionsmethoden vom CO2-Ausstoß entkoppelt sein. Stattdessen musste die IEA nun »schlimmste Nachrichten« für das Klima verkünden, einen »schweren Rückschlag«. Der CO2-Ausstoß hat gegenüber den Jahren der Krise so stark zugenommen, dass die Agentur inzwischen davon ausgeht, dass die globale Durchschnittstemperatur bis Ende dieses Jahrhunderts um mehr als vier Grad Celsius ansteigen wird. Nach Ansicht des Weltklimarates wird ein solcher Temperaturanstieg zu einer unkontrollierbaren Klimakatastrophe führen, die das Leben von hunderten Millionen Menschen in aller Welt bedroht. Das Zwei-Grad-Ziel, auf das sich Staats- und

Regierungschefs im Dezember 2010 geeinigt haben, um eine solche Katastrophe zu verhindern, nennt die IEA angesichts der neusten Entwicklungen nur noch eine »nette Utopie«. Anstatt dass es zu einer »Entkopplung« von CO2-Ausstoß und Wirtschaftswachstum kommt, ist, so die Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen, mit Überwindung der Wirtschaftskrise auch in Deutschland eine vehemente »Ankopplung« dieser beiden Phänomene zu beobachten. Der CO2-Ausstoß steigt sogar noch schneller als das Wirtschaftswachstum. Das ist eine Entwicklung, die einen drastischen Widerspruch zwischen den Konzepten des Green New Deals und der realen Krisenbewältigung zeigt. Einerseits sorgten während der Krise Konzepte für einen grünen Aufschwung für Schlagzeilen und zahlreiche Staaten investierten in bisher ungekanntem Ausmaß in erneuerbare Energien oder Technologien zur Steigerung der Energieeffizienz. Doch andererseits brachen die Investitionen der Aktienmärkte und institutioneller Investoren in grüne Technologien zusammen. Den Finanzmarktakteuren schienen Investitionen in Wertanlagen der etablierten fossilen Industrien sicherere Renditen zu bieten, so dass die Finanzierung von Windkraft- oder Solarenergieanlagen beinah vollkommen aublieb. Vestas, der Weltmarktführer in Windenergie, schloss in der Folge den einzigen größeren Produktionsstandort für Windrotorblätter in Großbri-

TITELTEHMA DER GRÜNE KAPITALISMUS

Der CO2-Ausstoß steigt schneller als das Wirtschaftswachstum

13


»Systemwechsel statt Klimawandel«: Demonstranten beim UN-Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009

Die Unfähigkeit von Staaten und Investoren, die Krise zum Umsteuern in Richtung einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu nutzen, reflektiert die Zentralität der fossilen Industrien im gegenwärtigen Kapitalismus. Dies wird auch deutlich an deren Börsenwerten. Betrachtet man die Gesamtmarktkapitalisierung der 500 größten Unternehmen der Welt, so liegt der Anteil

14

Private Investoren haben sich von erneuerbaren Energien abgewendet

© Infografik marx21

tannien, und mehrere Unternehmen der Erneuerbare-Energien-Branche mussten Konkurs anmelden. Anstatt eine grüne Revolution auszulösen, hatten die Konjunkturprogramme vieler Staaten, auch Obamas Green New Deal, vor allem den Effekt, eine Pleitewelle in der Erneuerbare-Energien-Industrie abzuwenden. Das britische Magazin Economist bemerkte Ende 2009 vor dem UN-Klimagipfel in Kopenhagen treffend: »Während Politiker von Konferenz zu Konferenz hechelten, um eine grüne Zukunft anzumahnen, wandten sich Investoren von ebendieser ab.«

© Kris Krüg / flickr.com


von Unternehmen, die an der Produktion fossiler Energien beteiligt sind, bei über 21 Prozent. Ihr Börsenwert ist damit höher als der von Banken und Finanzunternehmen. Zählt man zu den »fossilen Industrien« noch die Unternehmen der Branchen, die für ihre Produkte stark auf die Nutzung fossiler Brennstoffe wie Öl oder Kohle angewiesen sind, etwa die Automobil- und Luftfahrtindustrie, steigt der Anteil auf über ein Drittel. Ihre ökonomische Bedeutung ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angewachsen, während die der Erneuerbare-Energien-Unternehmen verschwindend gering blieb.

der Ökonomie zu verzögern. Um dieses Ziel durchzusetzen, nutzen die Unternehmen auch ihre einflussreiche Stellung gegenüber der Politik. So hat sich auf ihr Bestreben hin weltweit der Emissionshandel als zentraler Ansatz zur Reduktion von CO2-Emissionen durchgesetzt. Die Attraktivität für die Unternehmen liegt darin begründet, dass er ihre Handlungsmöglichkeiten kaum einschränkt. Eigentlich soll der Emissionshandel als Steuerungsinstrument für den Umbau zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft dienen. Dieses Konzept basiert auf der Idee, über Preisanreize einen technologischen Wan-

del herbeizuführen. Unternehmen sollen gezwungen werden, Zertifikate einzusetzen, um ihre CO2-Emissionen auszugleichen. So soll der Preis dieser Zertifikate in die Kalkulation von Unternehmen einfließen und diese auf einen Entwicklungspfad ohne fossile Brennstoffe führen. Der CO2Preis ist jedoch nur einer von zahlreichen Faktoren, die Investitionsentscheidungen beeinflussen. Es wirken auch andere Preisanreize auf Unternehmen, die sie dazu bringen können – wie die Entwick-

TITELTEHMA DER GRÜNE KAPITALISMUS

Im Normalfall bedeutet für die Konzerne der auf fossile Rohstoffe gestützten Industrien ein Umbau zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft, dass sie Marktanteile verlieren und ihre Profite sinken. Nur in den seltensten Fällen gelingt es ihnen, ihre technologische Vorherrschaft auf andere Bereiche und Produktionsmethoden zu übertragen. Die Shell-Tochter »Shell Solar« hat sich inzwischen aus dem Solarmarkt zurückgezogen und ihre Produktion an das deutsche Unternehmen SolarWorld verkauft. Auch der Ölkonzern BP hat in den letzten Jahren seine ohnehin marginalen Investitionen in erneuerbare Energien noch einmal deutlich reduziert – entgegen der Tatsache, dass er sich bereits 1997 in »Beyond Petroleum« umbenannt hat. Die Ausrichtung auf Erdöl und Erdgas ist für diese Unternehmen deutlich profitabler, da es ihren technologischen Kernkompetenzen entspricht. Um ihr altes Geschäftsmodell weiterführen zu können, haben sie Interesse daran, einen ökologischen Umbau

© Infografik marx21

Der Emissionshandel führt nicht zu weniger CO2-Ausstoß

15


16

© Anja Vatterodt

© Wolfgang Staudt

»Kohle nur noch zum Grillen« heißt die Kampagne des Berliner BUND. Aktivisten machen mobil gegen die Klimakiller Kohlkraftwerke

anteil an der Marktkapitalisierung der 500 größten Konzerne in den USA, in Europa und weltweit

© Infografik marx21

lung in der Krise zeigt –, an alten Technologien und Produkten festzuhalten. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass vergleichbare Handelssysteme zwar zu marginalen Veränderungen führen können, aber nicht zu einer grundsätzlichen Umstellung der Produktion. Doch die wäre für eine kohlenstoffarme Wirtschaft notwendig. Hinzu kommt, dass sich die Macht der traditionellen Industrien auch in der Ausgestaltung des Emissionshandels niederschlägt. Dies macht das Beispiel des Europäischen Emissionshandelssystems deutlich. Die Stromkonzerne und Unternehmen aus energieintensiven Industrien konnten sich so umfangreich durchsetzen, dass der Emissionshandel ihnen letztendlich Milliardensubventionen brachte – eine vollkommene Pervertierung des ursprünglichen Ansatzes. Die Schlupflöcher im Emissionshandelssystem sind so groß, dass nach IEA-Berechnungen der reale CO2-Ausstoß bis 2020 kaum sinken wird – selbst wenn die EU-Klimaschutzziele auf dem Papier erreicht werden.


© Infografik marx21

Allerdings greift es zu kurz, die unzureichende politische Regulierung lediglich auf den Einfluss der Großunternehmen zurückzuführen. Vielmehr haben sich viele Staaten, darunter insbesondere auch Deutschland, dafür eingesetzt, dass die innerhalb ihres Territoriums angesiedelten energieintensiven Industrien und Konzerne für fossile Brennstoffe nicht ernsthaft in ihrem Geschäftsmodell behindert werden. Das verweist auf ein grundlegendes Problem bei der Transformation zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft. Zwar fördern Staaten wie Deutschland die Erschließung ausländischer Märkte durch die Erneuerbare-Energien-Industrien und andere Branchen, die schon aufgrund der Begrenztheit fossiler Energieträger an Bedeutung im globalen Kapitalismus gewinnen werden. Aber während sie den Anspruch formulieren, globale Marktführer in diesen Bereichen zu werden, beheimaten diese Staaten eben auch die führenden Unternehmen der traditionellen Industrie. Dementsprechend betont die Europäische Union, dass es zwar darum gehe, eine »neue industrielle Revolution in Gang zu setzen«. Die »Herausforderung« bestehe jedoch darin, »dies auf eine Weise zu bewerkstelligen, die das Potenzial für eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Europas maximiert« – und zu dieser tragen die alten Industrien in weitaus höherem Maße bei als die grünen Unternehmen. So sind für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit vor allem Branchen wie die Automobilindustrie bedeutend. Dementsprechend haben sich alle Bundesregierungen der letzten Dekade – von Rot-Grün bis Schwarz-Gelb – für den Erhalt der Absatzmärkte dieser Industrien eingesetzt. In der EU hat Deutschland beispielsweise eine striktere CO2-Richtlinie für die Automobilindustrie verhindert. Zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Maßnahmenkatalog als »Industriepolitik zulasten Deutschlands« identifiziert. Da die deutschen Autobauer auf die Herstellung sogenannter Premium-Modelle – also schwerer, luxuriöser Fahrzeuge mit besonders hohen CO2-Emissionen – spezialisiert sind, hätte eine strengere Klimapolitik Konzerne aus Deutschland tatsächlich besonders hart getroffen. Die nun abgeschwächt verabschiedete CO2-

Klimaschutz ist nur gegen die Konzerne durchsetzbar Richtlinie bewertet das Bundesumweltamt als »nicht ausreichend« hinsichtlich der klimapolitischen Ambition. Doch das war für die Bundesregierung von untergeordneter Bedeutung, ging es doch darum, den Wettbewerbsvorteil deutscher Automobilhersteller gegenüber anderen Konzernen zu verteidigen, die auf emissionsärmere Kleinwagen spezialisiert sind. Mit Erfolg: Überraschend erreichten Mercedes, BMW und Audi Ende Juni vergangenen Jahres annähernd wieder das Produktionsniveau der Vorkrisenzeit. Für das Klima hat diese Entwicklung hingegen katastrophale Auswirkungen. Die wachsende Nachfrage nach CO2-emissionsintensiven Modellen aus Ländern wie China sorgt dafür, dass sich auch diese immer weiter von ihren Zielen für die CO2-Emissionen im Verkehrssektor entfernen. Da westliche Industriestaaten auf diese Absatzmärkte angewiesen sind, wird der Widerspruch bestehen bleiben, dass sie in den Klimakonferenzen zwar für strikte CO2-Emissionssenkungen plädieren,

aber zugleich versuchen, ihre eigenen fossilen Branchen zu schützen. Die Profit- und Konkurrenzlogik des Kapitalismus wirkt einem ökologischen Umbau entgegen. Dabei wäre eine Revolution des Energiesystems und eine Umstellung auf ein alternatives ökonomisches Entwicklungsmodell, das im Einklang mit den kurzfristig notwendigen Emissionsreduktionen steht, technisch längst möglich. Erneuerbare Energien könnten die CO2intensiven Energieträger binnen eines kurzen Zeitraums ersetzen, eine intelligente gesellschaftliche Planung – etwa des Verkehrswesens – könnte die CO2Emissionen radikal reduzieren. Dass es nicht dazu kommt, liegt an der Macht der traditionellen Industrien und an den Staaten, die auf deren Profite angewiesen bleiben. Ohne die Entmachtung dieser großen Konzerne werden auch in der nächsten Krise die Konzepte eines ökologischen Umbaus der Wirtschaft Konzepte bleiben – während die realen CO2-Emissionen weiter steigen. ■ 17


© Michael Bruns

»Da ist nichts nachhaltig« Beim Kongress »Marx is' muss« sprach Oskar Lafontaine unter anderem über die Grünen. Sie seien systemkonform, von der Wirtschaft finanziert und ihre Politik sei eine Mogelpackung

18

I

ch werde in meinen Ausführungen immer wieder auf die Grünen zu sprechen kommen, ich brauche das nicht sonderlich zu begründen, weil es nicht sein kann, dass wir jetzt wiederum über diese Mogelpackung in die falsche Richtung gehen in unserer Gesellschaft. (…)

Ich habe mir Programme der Grünen angesehen und lese da: Desertec wird befürwortet. Dann lese ich, dass sie die Überlandleitungen befürworten, die Strom transportieren – riesige Leitungen, die durch die Landschaft gehen, um den von Desertec, der großen Solaranlage in der Wüste, erzeugten Strom nach Deutschland zu bringen. Unterm Mittelmeer durch, quer durch Frankreich, vielleicht auch durch Spanien (…). Das ist doch eine völlig falsche Herangehensweise der Grünen an die Idee des Umweltschutzes, weil sie auf die Großtechnologie setzen und nicht begriffen haben, dass der Umweltschutz demokratisch dezentral organisiert werden muss. Ich kann hier nur Hermann Scheer zitieren, der leider zu früh verstorben ist, der darauf hingewiesen hat, dass man mit solchen Projekten (…) die Fehler wiederholt, die jetzt in der Energiewirtschaft verschärft über 100 Jahre gemacht worden sind. Dass man auf Großtechnologie setzt und damit die großen Reserven, die vor Ort kleinräumig, dezentral vorhanden sind, nicht nutzt. Anders ausgedrückt: Mit Gebäudesanierung oder mit Erdwärme oder auch mit Solardächern kann man mehr bewirken, als wenn man gigantische Projekte in der Wüste macht oder Offshore-Projekte in Norddeutschland. Die Grünen sind auf dem Irrweg, auch hier an dieser Stelle. Und ich rufe DIE LINKE auf, sich mit ihnen sachlich, aber eben klar auseinanderzusetzen.


Ich bin dafür, dass wir die Idee der Nachhaltigkeit auch zum Zentrum unserer Programmatik machen. Aber wenn ich heute lese, dass mit uns konkurrierende Parteien Nachhaltigkeit für sich als Wert reklamieren, und wenn ich dann täglich in den Fernsehnachrichten sehe, dass auf der einen Seite in der Finanzwirtschaft die Kurzfristigkeit und Verantwortungslosigkeit dominiert wie nirgendwo – da ist nichts nachhaltig, da ist alles kurzfristig und verantwortungslos. Und diejenigen Parteien, die die Nachhaltigkeit für sich reklamieren, haben diese Kurzfristigkeit und Verantwortungslosigkeit, Shareholder Value und was weiß ich alles, zum System erhoben, dann wird die Forderung nach Nachhaltigkeit ja einfach zum Witz. Und wenn ich dann gleichzeitig erlebe, dass die Parteien, die Nachhaltigkeit fordern, in Afghanistan mit dabei sind; und wenn ich dann sehe, dass dort Kinder ermordet werden und es erhebt sich gar kein Aufstand, man empört sich noch nicht einmal; und wenn ich dann sehe, dass die neuen Propagandisten der Nachhaltigkeit, SPD und Grüne, auch in Libyen am liebsten mit dabei wären, wenn die Nachhaltigkeit herbeigebombt wird – dann denke ich manchmal, ich bin im Irrenhaus. (…) Und deshalb will ich auch hier noch einmal sagen, dass wir natürlich in diesem Programm unmissverständlich festschreiben werden, (…) dass Willy Brandts Vermächtnis »Von deutschem Boden darf

niemals wieder Krieg ausgehen« zum unverrückbaren Bestandteil auch der LINKEN wird. Im Gegensatz zu allen anderen Parteien. Und dass dieses ganze verlogene Gesumse – »wir können doch nicht tatenlos zusehen, wie Menschen umgebracht werden, und deshalb müssen wir Militär hinschicken« – schon deshalb zutiefst amoralisch ist, weil wir seit Jahrhunderten tatenlos zusehen und seit Jahrzehnten, wie Menschen verhungern, an Krankheiten sterben, obwohl wir die Möglichkeit hätten, mit viel, viel weniger Geld diese Menschen alle zu retten (…). Hundert Milliarden Dollar, so ein amerikanischer Senator, kostet der Afghanistankrieg pro Jahr. Mit all die-

»Wir müssen die Systemfrage aufwerfen«

sem Geld könnten wir Millionen Menschenleben retten. Eine Gesellschaft ist pervers, wenn sie nur dann Menschenleben retten will, wenn sie gleichzeitig auch leider andere Menschen umbringen muss. (…) Eine Wirtschaftsordnung, die letztendlich auf ständige Steigerung der Gewinne und auf Mehrverbrauch orientiert ist und die das Handelssubjekt nicht in die eigene Verantwortung setzt, auch in die eigene Verantwortung im Umgang mit der Natur, kann keinen Bestand haben. Und deshalb ist (…) diese Vokabel vom grünen Kapitalismus – tschuldigung, »Green New Deal« heißt das, Freud’sche Fehlleistung – eine reine Mogelpackung. Wer die Systemfrage nicht stellt, wer die Frage nicht aufwirft, ob eine Wirtschaftsordnung, die auf Gewinn und Umsatzsteigerung orientiert ist, in der Lage ist, die Umwelt zu schützen – der verfehlt das Thema. Wir, DIE LINKE, müssen diese Frage aufwerfen. Nur dann kann man nämlich auch Frieden herstellen. Wer nicht gelernt hat, den Frieden mit der Natur herzustellen, wie soll er lernen, den Frieden mit seinen Mitmenschen herzustellen? Da sind wir eben wieder bei der Verbindung, die ich ganz zu Anfang genannt habe. Und deshalb möchte ich schließen mit einem Zitat von Jean Jaurès – ganz bewusst, weil er eine ganz bestimmte Tradition in der Arbeiterbewegung verkörpert und weil er den Zusammenhang auf den Punkt gebracht hat. Er sagte einmal, der Kapitalismus, also die Wirtschaftsordnung, in der man dadurch reich wird, dass man andere für sich arbeiten lässt und in der man den Gewinn ständig steigern will, diese Wirtschaftsordnung trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen. Und deshalb wollen wir diese Wirtschaftsordnung überwinden. ■

★ ★★ Bei vorliegendem Text handelt es sich um Auszüge aus der Rede, die Oskar Lafontaine beim Kongress »Marx is’ muss« gehalten hat. Die hier abgedruckten Passagen haben wir der Lesbarkeit halber sprachlich leicht überarbeitet. Die gesamte Rede dokumentiert unser Medienpartner junge Welt unter der Überschrift »Dreist, beschränkt, verlogen« auf seiner Homepage: jungewelt.de. Fotografiere untenstehenden QR-Code mit deinem Smartphone ab, um direkt online weitergeleitet zu werden.

TITELTEHMA DER GRÜNE KAPITALISMUS

Auch hier verlangen wir natürlich öffentlich-rechtliche Organisation. (…) Alle Bereiche, die allgemein zugänglich sein müssen und Grundlage des gesellschaftlichen Lebens überhaupt sind, können nicht in privatwirtschaftliche Nutzung übertragen werden. Und wieder eine Auseinandersetzung mit der Partei der Grünen, die jetzt dringend notwendig ist: In Nordrhein-Westfalen traute ich meinen Augen nicht: Ich las, die Grünen – bei der SPD habe ich mich nicht so sehr gewundert – könnten mit uns, mit den LINKEN, (…) nicht zusammenarbeiten, weil wir eine öffentlich-rechtliche Energieversorgung wollen. Das könne man doch RWE (…) nicht antun. Ich hab‘ gedacht, ich bin im Wald. Und ihr könnt das alle nachlesen. Nein, solche Verstaatlichungsideen (…) seien mit den Grünen nicht zu machen. Ja, das muss ja auch Gründe haben. Wir haben uns in unserem Programm auch mit dieser Frage auseinandergesetzt, warum aus ursprünglich mal demokratisch-linken Parteien so plötzlich systemkonforme Parteien werden. Da gibt es ein ganz plattes Geheimnis: Diese systemkonformen Parteien erhalten alle Geld von der Finanzwirtschaft, der Automobilwirtschaft oder der Energiewirtschaft. Die werden dann nachher als Politiker auch übernommen. Nehmt doch mal meinen Exfreund Joschka Fischer: Der arbeitet jetzt für Siemens, für BMW, für Rewe. Wir müssen endlich zu Mechanismen kommen, dass die Politik nicht mehr käuflich wird. (…)

19


© Landesmedienzentrum Baden-Württemberg

{

{

Dasselbe .. in grUn VON DiRK SPöRi

Nicht weniger als eine »zweite Gründerzeit« versprach der neue baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann bei seinem Amtsantritt. Doch der Koalitionsvertrag spricht eine andere Sprache

★ ★★

DiRK SPöRi Ist Mitglied im Landesvorstand der LINKEN in Baden-Württemberg.

20

B

aden-Württemberg erwacht. Die Jahrzehnte währende Macht der CDU im Ländle ist gebrochen und Winfried Kretschmann zum ersten grünen Ministerpräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik gewählt worden. Mit dem grün-rotem Projekt verbinden sich große Hoffnungen. Die Wählerinnen und Wähler erwarten nicht nur einen Stopp des umstrit-

tenen Bahnhofsprojekts Stuttgart21, sondern auch den Umbau des extrem selektiven Bildungssystems und die Einführung von Gesamtschulen. Sie verlangen außerdem die Abschaffung der Studiengebühren, einen schnellen Atomausstieg und einen ökologischen Umbau der Wirtschaft. Diesen Erwartungen entsprechend sprach Kretschmann in seiner Regierungserklärung von »einer neuen Gründerzeit«. Er


wolle »Ökologie und Wirtschaft in Einklang« bringen. Auch der Koalitionsvertrag nimmt einige der Hoffnungen auf. So ist in ihm die Abschaffung der Studiengebühren zum Sommersemester 2012 vereinbart. Die dadurch entstehenden Einnahmenausfälle der Hochschulen soll das Land ausgleichen. Des Weiteren will Grün-Rot die verfasste Studierendenschaft wieder einführen (sowohl in Baden-Württemberg als auch in Bayern dürfen sich Studierende seit den 1970ern nicht mehr politisch äußern). Ein Bildungsurlaubsgesetz soll ebenso verabschiedet werden wie ein Tariftreuegesetz, das einen Mindestlohn von 8,50 Euro beinhaltet. Diese Reformen sind ein Produkt der Straße. Seit Sommer 2010 gab es eine Welle von Protesten in Baden-Württemberg. Es fanden regelmäßig Demonstrationen gegen Stuttgart21 mit bis zu einhunderttausend Teilnehmern statt. Stuttgart wurde zeitweilig zur »Protesthauptstadt Deutschlands«. Hinzu kam die wiedererstarkte AntiAtom-Bewegung: Am Tag vor der Landtagswahl gingen bundesweit 250.000 Menschen für einen sofortigen Ausstieg auf die Straße. Diese Proteste haben die Grünen an die Macht gebracht. Nun müssen sie die Hoffnungen und Erwartungen erfüllen. Kann unter Grün-Rot ein wirklicher Politikwechsel stattfinden?

stehen. Sondern die Automobilindustrie entscheidet, ob sparsame und bezahlbare Autos gebaut werden. Land und Gemeinden bestimmen, ob es einen gut ausgebauten Nahverkehr gibt. Doch bei Kretschmann klingt es so: »Ich bin aber nicht der Ansicht, dass der Staat in erster Linie bestimmte Technologien fördern, sondern dass er klare Rahmenbedingungen dort setzen sollte (...) Stimulierende, und nicht strangulierende Grenzwerte, bessere Vernetzung der Verkehrsträger, fahrleistungsabhängige und nicht besitzabhängige Abgabenpolitik. Das sind die Linien einer solchen Ordnungspolitik.« Hier wird die Chance auf einen ökologischen Umbau des Verkehrswesens vertan.

„Ökologische und soziale Modernisierung bringt wirtschaftliche Dynamik« ist das Kapitel des Koalitionsvertrages überschrieben, in dem die neue Wirtschaftspolitik des Landes beschrieben wird. Der ökologische Umbau weg von fossilen Brennstoffen und hin zu reduziertem Energieverbrauch ist das wichtigste Projekt, das sich die Grünen auf die Fahne geschrieben haben. In seiner Regierungserklärung sagte Kretschmann: »Eine künftige Exportstrategie im Mobilitätsbereich braucht also mehr als das klassische Automobil. Nochmals: Niemand in dieser Landesregierung will den Menschen vorschreiben, welches Auto sie kaufen sollen.« Das klingt nett und scheint sich an die Verbraucher zu richten. In Wahrheit ist es aber ein Zugeständnis an die Automobilindustrie, sich nicht in deren Belange einzumischen oder die Konzerne mit ökologischen und sozialen Mindeststandards zu behelligen. Es liegt eben nicht in der Hand der Bürgerinnen und Bürger, welche Verkehrsmittel zur Verfügung

Auch zum Energiekonzern EnBW, der von Ex-Ministerpräisdent Stefan Mappus Anfang des Jahres nur mit dem Ziel eines teuren Weiterverkaufs verstaatlicht wurde, schweigt Grün-Rot. Einzige Aussage: Die Landesregierung will sich mit der EnBW »wettbewerblich neutral« verhalten, einen Weiterverkauf schließt sie nicht aus. Das wäre jedoch fatal. Denn die EnBW wehrt sich wie die anderen Energiekonzerne gegen den Atomausstieg. Gemeinsam wollen sie dagegen klagen, um auch für die nächsten Jahre ihre Profite zu sichern. Stattdessen sollte das Land seinen Einfluss bei der EnBW ausnutzen, um alle Atomkraftwerke in Baden-Württemberg in den nächsten ein bis zwei Jahren stillzulegen. Damit würde bundesweit politischer Druck für einen schnelleren Atomausstieg erzeugt. Dafür wäre es nötig, die Manager des Stromriesen zu entmachten. Doch weder mit EnBW noch mit dem in Stuttgart beheimateten Autobauer Daimler möchten sich die Grünen anlegen. Im Gegenteil: Bei ihrem Landesparteitag, der über den Koalitionsvertrag beriet, war Daimler mit einer Werbeveranstaltung präsent und Vertreter von EnBW saßen in der ersten Reihe. Zum ökologischen Umbau heißt es unter anderem im Koalitionsvertrag: »Deshalb werden wir die Solarenergie konsequent fördern – zum Beispiel indem wir landeseigene Dachflächen für Bürgersolaranlagen zur Verfügung stellen.« Das Konzept dahinter: die Förderung mittelständischer Solar- und Windkraftunternehmen. Ähnlich ist im Jahr 2003 Rot-Grün im Bund vorgegangen, als ein 100.000-Dächer-Solarprogramm aufgelegt wurde. Doch einzig auf solche Förderprogramme zu setzen, ist wirtschaftlich nicht nachhaltig. Das zeigte sich in der Krise der vergange-

TITELTEHMA DER GRÜNE KAPITALISMUS

Weder mit EnBW noch mit Autobauer Daimler möchten sich die Grünen anlegen

21


nen zwei Jahre, als viele Solarunternehmen im Südwesten in große Schwierigkeiten gerieten und Stellen streichen mussten, obwohl die Förderprogramme mit öffentlichen Geldern bezahlt wurden. Stattdessen wäre ein öffentliches Investitionsprogramm zur Gebäudesanierung und zur Ausstattung der Dächer landeseigener Gebäude mit Solaranlagen notwendig. Im Koalitionsvertrag bekennt sich Grün-Rot zur Schuldenbremse und kündigt einen Umbau der Verwaltung an, der »zur Haushaltskonsolidierung beitragen« solle. Diesem Prinzip folgend verkündeten Kretschmann und SPD-Chef Nils Schmidt bereits den Abbau von 10.000 Lehrerstellen während der kommenden Legislaturperiode. Forderungen wie kostenlose Kitaplätze – noch im Wahlprogramm der SPD zu finden – fehlen im Koalitionsvertrag, weil sie angeblich nicht finanzierbar sind. Aber auch im Umweltbereich sieht es nicht besser aus: kein Wort zu Sozialtarifen bei der Stromversorgung. Solar-Förderprogramme und gleichzeitig Schuldenbremse bedeuten eine Umverteilung auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung. Neben Atomausstieg und Energiewende ist die versprochene Abwehr von Stuttgart21 das zweite zentrale Projekt, an dem sich die neue Landesregierung messen lassen muss. Bei Stuttgart21 handelt es sich um ein mafiöses Projekt der Bauindustrie, der Deutschen Bahn AG und von Politikern aus CDU, FDP und SPD. Ziel ist die Privatisierung von Teilen der Stuttgarter Innenstadt. Auf den ehemaligen Gleis- und Bahnhofsflächen und dem bahnhofsnahen Park sollen große Bürokomplexe entstehen. Durch die geschätzten acht bis zehn Milliarden Euro an öffentlichen Geldern, die mit dem Bahnhofsbau unter der Erde versenkt werden, ist Stuttgart21 auch ein Umverteilungsprojekt auf Kosten der Bevölkerung. Die Grünen scheinen darauf zu setzen, das Projekt entweder durch den »Stresstest« – eine Computersimulation der Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs – oder spätestens über eine landesweite Volksabstimmung Ende Oktober zu stoppen. Beides ist unrealistisch. Wenn sich aus dem Stresstest Mehrkosten ergeben, ist zu erwarten, dass Bund oder Bahn dafür einspringen. Für die Volksabstimmung gibt es enorm hohe, gesetzliche Hürden: Knapp drei Millionen Menschen von Mannheim bis Konstanz müssten gegen das Projekt stimmen. DIE LINKE Baden-Württemberg fordert statt dessen eine Bürgerbefragung im Raum Stuttgart, die höhere Erfolgsaussichten hätte. Wie wacklig die Grünen-Strategie ist, zeigte sich Anfang Juni. Als die Bahn dem Land im Falle einer Fortsetzung des Baustopps mit einer Millionenklage drohte, knickte die Parteiführung ein. Sie war nicht bereit, die wage Drohung der Bahn zu hinterfragen und akzeptierte stattdessen einen Weiterbau vor Durchführung von Stresstest und Volksabstimmung. Stattdes-

22

Ein grundlegender Politikwechsel muss auch unter Grün-Rot erkämpft werden


© Chris Grodotzki

Protest gegen Stuttgart21. Der Bahnhofneubau geht auf Kosten der Bevölkerung • • •

das Milliardengrab Stuttgart21 zu stoppen kostenlose Kita-Plätze und die versprochene Abschaffung der Studiengebühren durchzusetzen Stellenabbau im öffentlichen Dienst verhindern und die Wochenarbeitszeit zu verkürzen.

Ein Aktionsprogramm, das diese Punkte aufnimmt, kann Anknüpfungspunkt für viele Wählerinnen und Wähler von SPD und Grünen, aber auch für deren Mitglieder werden und den Druck auf die Landesregierung erhöhen. Nur wenn es gelingt, weiter Proteste auf die Straße zu bringen, kann verhindert werden, dass sich die hohen Erwartungen in die erste Landesregierung ohne CDU-Beteiligung seit 1953 in Frust und Apathie verwandeln. ■

TITELTEHMA DER GRÜNE KAPITALISMUS

sen hätten die Grünen für den Tag, an dem der Bau fortgesetzt wird, zu Demonstrationen aufrufen müssen. Die Erfahrungen bei Stuttgart21 zeigen schon jetzt: Ein grundlegender Politikwechsel muss auch unter Grün-Rot erkämpft werden. Ohne einen Bruch mit den Interessen von Daimler, Deutsche Bahn und Co. wird es unter der neuen Regierung keine andere Politik geben. Weder ein baldiger Atomausstieg noch ein soziales Bildungssystem werden vom Himmel fallen. Dabei gilt es an die Massenproteste gegen Stuttgart21 anzuknüpfen und das Selbstbewusstsein der AntiAtom-Bewegung mitzunehmen, um: • für einen schnellen Atomausstieg zu kämpfen, der nicht auf Kosten der Bevölkerung geht

23


© Hossam el-Hamalawy

SCHWERPUNKT Revolution

30

Der Tag danach Interview mit Slavoj Žižek


Zweiter Akt der Revolution Die Umgestaltung der ägyptischen Gesellschaft geht weiter. Doch der herrschende Militärrat versucht alles, um die Militanz der Bewegung einzudämmen Von Phil Marfleet Arbeitskämpfe gab, jedoch nur noch 200 im Folgemonat. Im April nahm die Zahl dann wieder zu, und im Mai gab es mit dem ersten landesweiten Ärztestreik eine neue Entwicklung. Die Ärzte forderten im Namen der sozialen Gerechtigkeit eine radikale Reform des Gesundheitswesens. Ihr Verband, eine bislang eher konservative Standesorganisation, wurde von der Stimmung in der Bevölkerung mitgerissen. Er rief zu unbefristeten Streiks für höhere Löhne auf. Außerdem verlangen die Ärzte, dass der Anteil für Gesundheitsausgaben am Staatshaushalt von derzeit 3,5 auf 15 Prozent steigen soll. Muhammad Schafiq, Mitglied der zentralen Streikleitung, sagte: »Gesundheitsversorgung ist kein Luxus, sondern ein grundlegendes Menschenrecht. Wir streiken ausdrücklich für die Sache der armen und benachteiligten Patienten.« Innerhalb weniger Stunden trafen sich der Ministerpräsident und der Finanzminister mit einer Ärztedelegation und gaben den wichtigsten Forderungen nach. Das gibt jedem Ägypter neuen Auftrieb. Das Regime Mubarak hatte sich der Reduzierung aller öffentlichen Ausgaben verschrieben. Der Streik zeigt, wie Beschäftigte sich im Interesse des Allgemeinwohls zusammenschließen, dabei greifbare Ziele durchsetzen und so das Vertrauen in den revolutionären Prozess stärken können. Auf dem Land hat es seit Beginn der Revolution über 100.000 »Übergriffe« überwiegend von Bauern auf Privatbesitz von Grundeigentümern aus der Kolonialzeit gegeben. Letztere wurden Nutznießer eines Gesetzes von 1997, mit dem ihnen Land rückübertragen wurde, das in den 1950er und 1960er Jahren im Zuge der Landreform an die Fellachen (Landbesteller) verteilt worden war. Mit Hilfe der Polizei, die gewaltsam die Zwangsräumungen durchsetzte, konnten die Großgrundbesitzer eine Million Bauern mitsamt ihren Familien vertreiben. Nach Informati-

Mubaraks Frau Suzanne musste Millionen geraubte Dollar zurückzahlen

Dennoch entfalten sich die betrieblichen Auseinandersetzungen sehr ungleichmäßig. Aktivisten aus Kairo berichten, dass es im Februar 500 betriebliche

★ ★★

Phil Marfleet ist Professor für Soziologie an der University of East London. Er forscht unter anderem über den Nahen Osten, wo er einige Zeit gelebt und gearbeitet hat. Er ist Mitherausgeber des Buchs »Egypt. The Moment of Change« (Zed Books 2009).

BILD LINKS: Demonstranten in der Zentrale der ägyptischen Geheimpolizei. Sie hatten das Gebäude gestürmt, um zu verhindern, dass Akten vernichtet werden

SCHWERPUNKT Revolution

D

er erste Akt der ägyptischen Revolution erreichte seinen Höhepunkt mit dem Fall des Diktators Mubarak. Der zweite Akt ist ein viel komplexerer Prozess, in dem die Ägypter sich mit den vielfältigen Hindernissen, die ihnen die Diktatur in den Weg legt, auseinandersetzen müssen: Wie können sie die neuen Freiheiten sichern und ausweiten? Wie können sie die Bewegung für Veränderungen in Gang halten? Wie sollen die Probleme des Alltags bewältigt werden? Und wie können sie gegen die Militärherrschaft vorgehen? Auf drei zentralen Feldern gibt es weiterhin kollektive Aktivitäten. Seit den Streiks von Anfang Februar, die wesentlich dazu beitrugen, dass das Militär Mubarak schließlich fallen ließ, hat sich die Arbeiterbewegung weiterentwickelt. Alle Industriezweige sind davon betroffen. Arbeiterkomitees und Gewerkschaftsgruppierungen haben unzählige Aktionen durchgeführt: für bessere Löhne, Arbeitsverträge, Renten, Arbeitsbedingungen, Gewerkschaftsrechte und Sozialleistungen sowie gegen das korrupte und tyrannische Management. Der offizielle Gewerkschaftsdachverband ETUF war ein Werkzeug des Mubarak-Regimes. Die Arbeiterbewegung hat daher die Ägyptische Föderation Unabhängiger Gewerkschaften (EITUF) gegründet, die zunächst 14 Gewerkschaften umfasste. Bei der 1.-Mai-Feier auf dem Tahrir-Platz, an der die EITUF wesentlich mitwirkte, konnten Arbeiter zum ersten Mal seit über sechzig Jahren eine landesweite Demonstration ohne Polizeiübergriffe abhalten. Das zeigt, welchen weiten Weg die Revolution seit ihren Anfangstagen im Januar bereits gegangen ist.

25


© Ramy Raoof

© Hossam el-Hamalawy © Hossam el-Hamalawy

episoden der Revolution: Aktivisten kämpfen für mehr Demokratie, Bauern für eine gerechtere Landaufteilung, Arbeiter für höhere Löhne und gegen Privatisierungen

onen der Menschenrechtsorganisation Land Center for Human Rights wurden so in den letzten zehn Jahren etwa fünf Millionen Menschen ins Elend gestürzt, während Jahr für Jahr um die hundert Menschen getötet, tausend verletzt und 3000 verhaftet werden. Es sind überwiegend Bauern, die für den Zugang zu ihrem Stück Land kämpfen, das sie fünfzig Jahre lang bewirtschaftet hatten. Eine neue Entwicklung ist daher die Gründung unabhängiger Bauerngewerkschaften, die kollektive Aktionen wie die Wiederinbesitznahme von Land unterstützen. Auf einer Konferenz im Dorf Kamshish, einem historischen Zentrum von Bauernkämpfen, wurde eine neue Gewerkschaft ägyptischer Landarbeiter gegründet. Eins ihrer Ziele ist der Aufbau einer landesweiten Kooperativbewegung unter demokratischer Leitung der Bauern an der Basis. In Städten und Dörfern im ganzen Land haben sich unzählige Nachbarschaftskomitees gegründet. Die ursprüngliche Aufgabe dieser Volkskomitees zum Schutz der Revolution bestand darin, die organisierten Überfälle durch Banden von Zivilpolizisten wie auf dem Tahrir-Platz abzuwehren. Mittlerweile haben sie Kampagnen zur Säuberung korrupter Beamter aus dem Staatsapparat eingeleitet. Außerdem wollen sie die öffentlichen Dienstleistungen reformieren, darunter das Bildungs- und Gesundheitswesen, die Wasser- und Abwasserversorgung oder auch lokale Angelegenheiten wie die Verkehrslenkung. Ihre landesweite Koordination kam zum ersten Mal im April auf dem Tahrir-Platz zusammen. Ihre Zeitung, Das Revolutionäre Ägypten, tritt für die Vereinigung der verschiedenen Kämpfe von unten ein:

26

»Das Inspirierende an der ägyptischen und der tunesischen Revolution war die Einheit und Verbundenheit der Menschen über viele Tage und Wochen hinweg. (…) Sie einte die klare und spezifische Forderung nach dem Sturz des Regimes. Alles, was die Menschen vor der Revolution voneinander trennte, wurde bedeutungslos, und es blieb nur noch ein Unterschied übrig: der zwischen Siegern und Besiegten, zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, zwischen Regierenden und Regierten. Im Kampf, im lebendigen Prozess, in der Vorbereitung auf zu erwartende Opfer für die Sache der Freiheit und der Gerechtigkeit fanden Männer und Frauen, Kopten und Muslime, auch Jung und Alt neue Achtung füreinander (…) Unsere Revolution steht noch am Anfang und viele ihrer Forderungen sind noch nicht erfüllt. Ihre Durchsetzung verlangt nach jener Einheit, die uns auf dem TahrirPlatz zusammenführte.« Diese Entwicklungen bezeugen den Fortschritt des revolutionären Prozesses, der wirtschaftliche Fragen mit politischen Fragen verbindet, die Demokratisierung vorantreibt und die Autorität der Machthaber infrage stellt. Die Vitalität der Massenbewegung konnte den ursprünglichen Widerstand der Militärs, die Ägypten offiziell über den Obersten Rat der Streitkräfte regieren, überwinden und Schlüsselfiguren des Regimes Mubaraks verhaften und vor Gericht stellen lassen. Dort müssen sie sich jetzt sowohl für Übergriffe auf revolutionäre Aktivisten als auch für illegale Bereicherung verantworten. Die Familie Mubarak schien vor wenigen Monaten noch an der Schwelle zur Gründung einer pharaonischen Dynastie zu stehen. Nun befindet sich der ehe-


© Mai Shaheen

© Hossam el-Hamalawy

© Ramy Raoof

Der von den Generälen ernannte Ministerpräsident Essam Scharaf und der herrschende Oberste Rat verfolgen weiterhin im Wesentlichen die Politik Mubaraks. Sie haben verkündet, den wirtschaftlichen Kurs beizubehalten – trotz der überwältigenden Beweise, dass dreißig Jahre neoliberaler Politik die Ungleichheit enorm vergrößert und Konflikte auf dem Land verschärft haben. Auch der außenpolitische Kurs soll beibehalten werden, einschließlich der engen Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und mit Israel, wozu Abkommen gehören, dass die ägyptische Armee die Bevölkerung von Gaza im Zaum hält. Jedes Mitglied des Obersten Rats wurde von Mubarak persönlich ausgesucht. Die meisten verfügen zwar nicht über solche Reichtümer wie die käuflichen Geschäftsleute aus der Entourage von Mubaraks Söh-

nen. Dennoch wurden sie mit enormen Gehältern, Villen, teuren Urlaubsreisen, Privatschulen für ihre Kinder und anderen Zuwendungen bedacht, mit denen sich eine Diktatur Loyalität kauft. Ausnahmslos haben sie Karriere im Offizierskorps gemacht. Sie waren in die US-amerikanischen Geheimdienstopera-

Ärzte forderten im Namen der sozialen Gerechtigkeit eine radikale Reform des Gesundheitswesens

tionen und das System der »außerordentlichen Auslieferungen« einbezogen, über das Personen, die die USA irgendwo auf der Welt gefangen nahm, nach Ägypten verfrachtet und dort gefoltert wurden. Unter dem Druck von unten und weil sie sich der Loyalität eine Wehrpflichtigenarmee nicht sicher sein konnten, setzten die Generäle im Februar Mubarak ab. Sie gewährten begrenzte Freiheiten wie das Recht auf Protest und Gründung unabhängiger Parteien und Gewerkschaften. Aber selbst diese Zugeständnisse versahen sie mit allerlei Beschränkungen. Außerdem peitschte der Rat noch eiligst eine Volksabstimmung über eine Verfassungsreform durch, um sicherzustellen, dass das Wahlverfahren nur unwesentlich verändert wird und stark kontrolliert bleibt. Ihre Strategie lautet Eindämmen und Kooptieren. Der Rat hat die berüchtigten Ausnahmegesetze Mu-

SCHWERPUNKT REVOLUTION

malige Präsident unter Hausarrest, seine Frau Suzanne wurde mehrfach verhaftet und gezwungen, Millionen Dollar zurückzuzahlen. Ihre Söhne Gamal und Ala’a sitzen im Gefängnis von Tura, demselben Gefängnis, in dem das Regime tausende politische Gegner gefangen gehalten hatte. Einige ihrer engsten Mitarbeiter, darunter ehemalige Minister, Bauunternehmer und Leiter von Industrie- und Landwirtschaftsunternehmen, wurden angeklagt. Ihnen wird die Verstrickung in krumme Geschäfte wie den Verkauf riesiger staatlicher Ländereien zu Ramschpreisen vorgeworfen. Aber die meisten Profiteure von Mubaraks Netzwerk befinden sich nach wie vor auf freiem Fuß. Der staatliche Repressionsapparat ist größtenteils noch intakt, was die drängende Frage nach dem weiteren Weg der Revolution aufwirft.

27


baraks aus dem Jahr 1981 beibehalten – obwohl ihre Aufhebung eine Kernforderung der Massenbewegung war. Im März erließ Scharaf ein Dekret, wonach Demonstrationen und Besetzungen eine Straftat sind, wenn diese die Geschäfte »beeinträchtigen« oder die Wirtschaft in irgendeiner Weise berühren. Es sieht strenge Strafen für deren »Anstifter« vor. Kurz darauf überfielen Soldaten eine Demonstration auf dem Tahrir-Platz und töteten mindestens zwei Pro-

Die meisten Profiteure von Mubaraks Netzwerk befinden sich noch auf freiem Fuß testierende. Im Mai eröffneten Polizei und Truppen das Feuer auf Demonstranten, die sich vor der israelischen Botschaft versammelt hatten, um ihre Solidarität mit den Aktionen der Palästinenser zum Gedenken an die Nakba, die Vertreibung von 1948, zu zeigen. Erneut wurden zwei Menschen getötet und viele schwer verletzt. Für die Linke markieren diese Interventionen eine neue und gefährliche Phase der Eindämmungsstrategie. Eine Organisation revolutionärer Sozialisten erklärte, dass sich die Minister und Generäle mit ihrem Überfall auf die Demonstranten vor der Botschaft öffentlich in den Dienst Israels gestellt hätten, jenes Staats, mit dem Mubarak schon so viele kompromittierende Abkommen geschlossen hatte. Es sei klar, sagten sie, dass »Scharaf und das Militär das Erbe Mubaraks angetreten haben«. Es wird noch weitere wütende Proteste gegen die Haltung der Regierung zu Palästina geben. Während ich

HINTERGRUND / Demokratische Arbeiterpartei Diese neue Partei hat sich zum Ziel gesetzt, Arbeiteraktivisten aus ganz Ägypten zusammenzubringen. Sie wurde schon wenige Wochen nach dem Fall Mubaraks gegründet und hat seitdem hunderte Aktivisten, vor allem in Kairo und im Deltagebiet, gewonnen. Kamal Chalil, führendes Mitglied, sagt: »Wir wollen keine Partei auf dem Papier, wir wollen eine Partei, die in den Fabriken und Betrieben aktiv ist. Streikende Arbeiter in ganz Ägypten haben die Gründung einer Partei gefordert, die sie vertritt und ihre Interessen verteidigt.« Es sind hunderte beigetreten, unter ihnen Textilarbeiter, Steuerbeamte, Arbeiter der Zementindustrie,

28

Eisenbahner, Krankenschwestern, Busfahrer und -schaffner, Mechaniker und Betriebsingenieure des öffentlichen Verkehrswesens. Eine Hauptforderung der Partei ist die nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Sie fordert außerdem die Wiederverstaatlichung von Industrien, die das Mubarak-Regime an private Geschäftsleute verkauft hatte, die Absetzung korrupter Manager und die Beendigung der Wirtschaftsbeziehungen mit Israel. Weitere Informationen zu den Möglichkeiten, Solidarität mit ägyptischen Arbeitern zu organisieren, unter: menasolidaritynetwork.com

diese Zeilen schreibe, hat sie ihr Versprechen, den Grenzübergang nach Rafah zu öffnen, noch nicht erfüllt. Gleichzeitig müssen Ägypter die Probleme des Alltags meistern. Durch den Rückgang des Tourismus ist die Arbeitslosigkeit sprunghaft angestiegen. Zugleich sind hunderttausende ägyptischer Arbeiter aus Libyen fluchtartig zurückgekehrt. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind in den letzten sechs Monaten um dreißig Prozent gestiegen. Es stellt sich die Frage: Wird die Armee gegen jene vorgehen, die Arbeit, angemessene Löhne und Brot und sauberes Wasser fordern? Wenn ja, dann wird sie den Prozess der Verbindung von wirtschaftlichen und sozialen Fragen mit übergreifenden politischen Fragen erheblich beschleunigen. Sie lauten: Wer regiert Ägypten? Mit welchem Recht? Wie können die Machthabenden zur Rechenschaft gezogen werden? Der Glaube vieler Ägypter, dass die Armee eine besondere Beziehung zur Gesellschaft hat, hat diese Fragen bisher verwischt. Bei den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz im Januar und Februar riefen Aktivisten: »Die Armee und das Volk sind eine Hand!« Es war mehr als nur die Aufforderung an die Truppen, die Protestierenden nicht anzugreifen. Es spiegelte die weitverbreitete Meinung vom fortschrittlichen Wesen des Militärs als Institution wider. Das sind Ideen, die auf Schlüsselereignisse der jüngeren Geschichte Ägyptens zurückgehen. Die Bewegung der Freien Offiziere unter der Führung Gamal Abdel Nassers hatte im Jahr 1952 mit einem Staatsstreich die mit der britischen Kolonialmacht kollaborierende Monarchie gestürzt. Zwei Jahre später schon verwiesen die Freien Offiziere die britischen Truppen des Landes und verbuchten während der Suezkrise im Jahr 1956 einen erstaunlichen Erfolg, als es ihnen gelang, den gemeinsamen Einmarsch Großbritanniens, Frankreichs und Israels auf der Halbinsel Sinai zurückzuschlagen. Während der 1950er und 1960er Jahre sorgten radikale nationalistische Regierungen unter Nasser und den führenden Militärs für eine Landreform, für Vollbeschäftigung und – zum ersten Mal in der Geschichte Ägyptens – für die Einführung eines staatlichen Wohlfahrtssystems. Sie setzten sich für die palästinensische und arabische Sache ein, wodurch sie Ägypten zu einem Brennpunkt der antiimperialistischen Kämpfe in Nahost machten. Die Ära Nasser wird oft mit Nostalgie als eine Zeit wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts gesehen, in der die Armee die Interessen des Volks vertrat. Nasser war aber ein höchst elitärer Führer, der wenig für die Beteiligung der Massen übrig hatte. Er unterdrückte die Linke, warf tausende Arbeiter- und Bauernaktivisten ins Gefängnis und kooptierte Gewerkschaftsführer in die zahme ETUF. Er konzentrierte die Macht innerhalb einer zunehmend kleineren Gruppe von loyaler Anhänger in den Streitkräften, die einen nach russischem Modell entwickelten Staatskapitalismus kontrollierten. Ende der 1960er Jahre ver-


schlechterten sich die Lebensbedingungen der meisten Ägypter dramatisch, Arbeiter und Studenten forderten Veränderung. In einer berühmten Streitschrift argumentierte damals der marxistische Soziologe Anouar Abdel-Malik, die Freien Offiziere hätten das Volk verraten. Ägypten sei in die Hände »einer alles verzehrenden Bürokratie« gefallen, für die die Menschen nur dazu da seien, »ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen«. Das war das Regime, das Präsident Anwar as-Sadat im Jahr 1970 erbte. Er setzte das von Nasser geschaffene, hoch zentralisierte System ein, um einen neuen marktorientierten Wirtschaftskurs einzuschlagen, und näherte sich den USA an. Mubarak, der 1981 die Nachfolge Sadats antrat, setzte diesen Kurs in beschleunigtem Tempo fort. Er behielt die Armee als Herzstück seines Repressionsapparats und baute den erstickenden Polizeistaat aus, dessen Zweck es war, seine Anhänger daheim und im Ausland zu bereichern. Zwischen dem Regime Nassers und dem Mubaraks besteht eine Kontinuität, aber die Unterschiede waren doch groß genug, dass viele Ägypter sich die alten Zeiten herbeiwünschen, als die Armee noch mit radikaler Veränderung, nationaler Unabhängigkeit und sozialen Reformen in Verbindung gebracht wurde. Mitglieder des derzeitigen Obersten Rats gehören imperialistischen Netzwerken an, die Könige, Prinzen und Präsidenten in ganz Nahost stützen und Israel gegen die Palästinenser und die Wut der arabischen Massen schützen. Sie haben mit den Ägyptern der Tahrir-Revolution nichts gemeinsam. Wie der ägyptische Sozialist Sameh Naguib bemerkt, bleibt der Oberste Rat Teil des alten Regimes. Die Bemühungen der Generäle, die Massenbewegung zurückzudrängen, werden diesen Zusammenhang wahrscheinlich immer klarer hervortreten lassen. Weniger offensichtlich ist eine zweite Strategie, die Nasser entwickelte und auf die sowohl Sadat als auch Mubarak zurückgriffen. Die Kooptation war ein sehr effektives Mittel, mit dem Nasser viele Gewerkschaftsführer und prominente Kommunisten an den Staat band. Er bot ihnen hohe Posten im ETUF an und schuf eine Bürokratie, die die Rolle eines Vermittlers zwischen Armee und Arbeiterschaft spielte. Somit gelang es ihm, eine Arbeiterbewegung zu ersticken, die vor der Machtergreifung der Freien Offiziere die dynamischste Kraft in der ägyptischen Politik gewesen war.

mit dem Ziel, diese in ihre internationalen Gewerkschaftsbürokratien und deren konservative Zielvorstellungen einzubinden. Die derzeitigen Herrscher Ägyptens hoffen auf eine zahme Gewerkschaftsführung, die die Energie der Arbeiter, jenes Teils der revolutionären Bewegung, der eine zunehmend dynamische Rolle spielt, wieder verpuffen lässt. Aktivisten der unabhängigen Gewerkschaften müssen vor Versuchen auf der Hut sein, ihren Anführern Gelder und Reisemöglichkeiten zu geben und sie zu Prominenten zu machen. Echte Solidarität an der Basis ist natürlich eine ganz andere Sache. Wenn die ägyptische Revolution nicht mit Gewalt unterdrückt werden kann, so können ihre Energien durch Kooptation und die gleichzeitige Einschränkung des schon erkämpften demokratischen Spielraums vergeudet werden. Die Generäle und ihre Berater hoffen, dass die sehr kurze Zeit bis zu den Wahlen im Herbst etablierte Parteien begünstigen wird. Jahrzehntelang hat die Muslimbruderschaft in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität operiert und dabei ihren Status als einzige landesweite Oppositionsorganisation aufrechterhalten. Seitdem sie sich frei betätigen kann, scheint es, als ob sie ein Abkommen mit den Generälen geschlossen hat, das beinhaltet, dass sie die Armee als Garant der nationalen »Ordnung« unterstützt und somit die gleiche neoliberale Agenda befürwortet, die Mubarak und seine Anhänger Ägypten beschert haben. Die Generäle möchten den gegenwärtigen Veränderungsprozess aufhalten. Zusammen mit der Geschäftswelt, den Großgrundbesitzern und Mubaraks langjährigen Verbündeten in den USA hoffen sie, mit geringen politischen Reformen die Massenbewegung zufriedenzustellen und den alten Zustand wieder herzustellen. Es wird unweigerlich zu weiteren Zusammenstößen mit Arbeitern, Bauern und Straßenaktivisten kommen, die die neuen Freiheiten erweitern wollen und zugleich die dringenden Alltagsprobleme bewältigen müssen. Die Aufgabe der Linken besteht darin, mit den Betriebsgruppen, den unabhängigen Gewerkschaften und Volkskomitees zusammenzuarbeiten und diese zu stärken und sicherzustellen, dass es nicht zu einer Konterrevolution kommt, bei der sich die alte Ordnung wieder durchsetzt. Vor allem ist es wichtig, die kampfbereitesten Arbeiterinnen und Arbeiter in einer unabhängigen Partei zusammenzuführen, die die Betriebsorganisationen vor Ort stärkten kann (siehe Kasten zur Demokratischen Arbeiterpartei). Die Massenbewegung hat im Moment noch die Initiative. Aber für den weiteren Verlauf der Revolution ist es lebensnotwendig, diesen Vorteil auszubauen. ■

Schon wenige Tage nach dem Sturz Mubaraks reisten Vertreter der Internationalen Arbeitsorganisation und internationaler Gewerkschaftsdachverbände nach Kairo, um sich mit den Führungspersonen der neuen unabhängigen Gewerkschaften zu treffen. Seitdem hat es viele weitere Zusammenkünfte gegeben

SCHWERPUNKT Revolution

Die Regierung will eine zahme Gewerkschaftsführung

29


© Arianna Marchesani

SLAVOJ ŽIŽEK

S

lavoj, wir schauen fasziniert auf die arabischen Aufstände. Sie kamen unerwartet und erschütterten das westliche Bild des apathischen und dem religiösen Fanatismus verfallenen Arabers. Was passiert dort? Die Revolte ist ein universelles Ereignis. Wir sehen die Menschen auf dem Tahrir-Platz, wir hören ihren Ruf nach Freiheit und Demokratie und verstehen sofort, worum es geht. Dazu bedarf es keines Übersetzers, die Revolten und ihre Moti-

30

Slavoj Žižek ist ein aus Slowenien stammender Kulturphilosoph. Er ist Professor für Philosophie an der Universität in Ljubljana und an der European Graduate School im Schweizerischen Saas-Fee. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Zuletzt ist von ihm auf Deutsch erschienen »›Ich höre dich mit meinen Augen‹. Anmerkungen zu Oper und Literatur« (Konstanz University Press 2010).

vationen sprechen uns direkt über Kulturund Ländergrenzen an. Das ist aber nicht der langweilige Unesco-Universalismus, der hier ein Weltkulturerbe ausruft und da sagt: »Das alte Bauwerk ist aber toll«. Hier geht es um einen Universalismus des Kampfes. Vielleicht brauchen wir Übersetzer, um ägyptische Inschriften zu entziffern – für das Verständnis der ägyptischen Revolte brauchen wir jedenfalls keine. Ja, die Bewegung kam unerwartet, aber machen das Revolutionen nicht immer? Zwei Monate vor der russischen Februarrevolution im Jahr 1917 hielt Lenin eine Rede vor sozialistischen Jugendlichen


Entscheidend ist der Tag danach Den Kapitalismus überwinden, aber was dann? Ein Gespräch mit Slavoj Žižek über offene Fragen in einer Zeit der Revolte

und sagte: »Vielleicht werden eure Kinder Glück haben und die erste Revolution miterleben.« Im Jahr 1871 wurde Karl Marx von der Ausrufung der Pariser Kommune überrascht. Revolutionen sind eine seltsame Sache, schwer vorherzusehen. Sie beginnen nicht einfach, wenn die Situation am schlimmsten ist oder die Unterdrückung am unerträglichsten. Vor dem Arbeiteraufstand in Ungarn 1956 gab es unter Imre Nagy eine politische Öffnung. Die Unterdrückung im Land wurde zu dieser Zeit keineswegs verschärft, sondern eher zurückgenommen. Wie gesagt: Erhebungen und Revolutionen sind unvorher-

sehbar. Das ist eine sehr schlechte Nachricht für die Tyrannen dieser Welt.

W

as bedeutet die arabische Revolte für das Selbstbild des Westens als Hort von Freiheit und Demokratie? Böse formuliert sah das Bild, das der liberale Westen von der arabischen Welt hatte, doch so aus: Gerne hätten wir Demokratie im Nahen Osten. Doch leider ist das Einzige, was Araber in Massen auf die Straße treibt, aggressiver Nationalismus, religiöser Fanatismus, Antisemitismus oder womöglich alles zusammen. Ein Freund von mir, ein slowenischer Journalist, war wäh-

SCHWERPUNKT Revolution

Revolutionen sind eine seltsame Sache, schwer vorherzusehen

31


rend des Aufstands zwei Wochen lang auf dem Tahrir-Platz. Er wollte provozieren, wollte sehen, wie tief der Liberalismus der Aktivisten wirklich geht. Deshalb hat er in jedem Interview gefragt: »Und was ist mit den Juden? Glaubt ihr, die Zionisten stecken hinter allem hier?« Das Wunderschöne: Nicht einer ist in diese Falle getappt, alle haben gesagt: »Lasst Israel aus dem Spiel, hier geht es um unseren Kampf, um unsere Rechte.« Der Einzige, der permanent von Israel sprach, war Mubarak, der die ganze Bewegung als zionistische Verschwörung darstellte. Der Westen hat nun also bekommen, was er vorgeblich immer wollte: eine säkulare Bewegung. Doch damit fühlt er sich jetzt sehr unwohl. Und das zu Recht: Die arabische Revolte geht in entscheidenden Aspekten über liberale Forderungen wie Bürgerrechte hinaus. Die Revolutionen in Osteuropa 1989 konnte man als Liberaler noch bedenkenlos feiern – schließlich ging es dort mehr oder minder darum, so zu werden und zu leben wie Westeuropa. Die Aktivisten in der arabischen Welt hingegen fordern auch eine solidarische Gesellschaft. Sie wollen nicht einfach einen liberalen westlichen Kapitalismus haben. Auf einer Versammlung des neugegründeten ägyptischen Gewerkschaftsdachverbands wurde Geld gesammelt – nicht für sich, sondern für die streikenden amerikanischen Arbeiter in Wisconsin! Der Prozess geht also weiter … Ja, die Entwicklung ist offen. Ich mag das Konzept des »erhabenen Moments« im Sinne von Kant nicht: Millionen Leute auf der Straße, wir schauen als interessierte Beobachter zu und nehmen teil am Enthusiasmus. Das ist einfach – viele mittlerweile rechte Politiker in Frankreich können Geschichten von erhabenen Momenten auf den Barrikaden 1968 erzählen, wie wunderschön es war. Eine andere Politik machen sie deshalb jetzt nicht. Für mich ist entscheidend: der Tag danach. Wie wird dieser Moment des Enthusiasmus institutionalisiert, wie wird er in eine neue Ordnung übersetzt? Die Linke ist besessen vom Konzept des Massenaufstands und denkt zu wenig über die spätere Ordnung nach.Das Problem ist weniger, zu gewinnen, sondern was wir dann mit dem Sieg anfangen. Der interessanteste Zeitabschnitt in der Russischen Revolution ist für mich der direkt nach dem Sieg der Roten im Bürgerkrieg.

32

Vorher ging es ums Überleben, dann stand die Frage der Überführung der Revolution in die Institutionen des Alltags an: Wie heiraten Leute, wie haben sie Sex, werden sie beerdigt? Das ist doch der eigentliche, stille Kampf. Und so ist es auch in Ägypten: Dort passieren große Dinge, die von der westlichen Presse völlig ignoriert werden. Auf der einen Seite existiert der gesamte Mubarak’sche Staatsapparat noch. Auf der anderen Seite stampfen die Menschen eine Zivilgesellschaft aus dem Boden: Gewerkschaften, Studentenorganisationen, feministische Organisationen. Das ist der Kampf. Kein Wunder, dass die westlichen Medien ihre Berichterstattung mit großer Freude von Ägypten nach Libyen verschoben haben. Ägypten war etwas Neues, Libyen hingegen ließ sich ganz gut in das alte

Der Revolutionsexport scheint schon im Gange zu sein. Formen des Protests vom Tahrir-Platz gibt es jetzt auch in Barcelona, Madrid und Athen. Dass diese Übertragung möglich ist, macht etwas Wichtiges deutlich: dass wir einen Protest gegen lokale Auswirkungen einer globalen Ordnung haben – und eben nicht nur einen Protest gegen lokale, korrupte und undemokratische Politiker. Dann müsste man nur die korrupten Politiker austauschen und hätte schon eine funktionierende Demokratie und Wirtschaft. Dass die Proteste aber auf Länder überschwappen, die offiziell eine Demokratie haben, zeigt, dass es um mehr geht. Ich sage nicht, dass wir die Demokratie abschaffen müssen. Aber Tatsache ist, dass die klassische westliche Mehrparteiendemokratie nicht mehr in der Lage ist, den

Die autoritäre ist gegenwärtig die effizientere Form des Kapitalismus Raster einpassen: Diktator auf der Achse des Bösen, unschuldige Zivilisten, Leid und der Westen als Retter. Die Lehre lautet: Nicht die arabische Welt war unreif für die Demokratie, sondern der Westen war nicht reif genug – weder für die Demokratie der Araber noch für die eigene. Die Araber sind bessere Anhänger des europäischen Universalismus als wir. Wir sollten das jedoch nicht nur als ein arabisches Moment sehen – die Dinge bewegen sich an vielen Orten. Es gibt große Rebellionen, von denen wir hier überhaupt nichts hören In Indien habe ich mit Vertretern der Naxaliten, maoistischen Rebellen, gesprochen. Die Naxaliten haben mittlerweile eine Million Anhänger. Eine Million! Des Weiteren gibt es die Bewegungen in Lateinamerika, natürlich auch mit problematischeren Entwicklungen. Ich denke zum Beispiel, dass Hugo Chávez sich zu einem gewissen lateinamerikanischen Populismus hat verführen lassen. Dennoch wurde hier viel erreicht. Selbst in Europa fangen die Dinge an sich zu bewegen, erst in Griechenland und jetzt in Spanien. Jetzt ist die Zeit – nicht, um sich in Illusionen zu verlieren und zu denken, der Kommunismus steht vor der Tür. Aber die Zeit, die Nerven zu behalten, nüchtern zu bleiben und vor allem engagiert.

hohen Grad an sozialer Unzufriedenheit auszudrücken. Ein Beispiel: Vor ein paar Jahren war ich in England – kurz vor den letzten Wahlen, die Labour noch gewann. Zwei Wochen zuvor gab es bei der BBC eine Sendung, in der das Publikum entscheiden durfte, wer der meistgehasste Mensch Großbritanniens sei. Tony Blair gewann mit großem Abstand. Zwei Wochen später wurde er wieder zum Premierminister gewählt. Was bedeutet das? Es zeigt, dass die Leute auf jeden Fall mit der politischen Situation unzufrieden waren. Das äußerte sich im Hass auf Blair. Gleichzeitig gab es bei der Wahl aber keine aussichtsreiche Alternative, mit deren Wahl die Menschen ihre Unzufriedenheit hätten ausdrücken können. Wir sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Folgen sind oberflächlich gesehen irrationale Aktionen wie das Anzünden von Autos in Frankreichs Vorstädten – ein reiner Protest ohne klares politisches Programm. Die Konsequenzen sind aber auch Strukturveränderungen, die ins Autoritäre gehen. Der Kapitalismus hat immer mal wieder zwanzig Jahre Diktatur gebraucht. Letztendlich waren seine effizientesten Formen doch die, in denen es gewisse Freiheiten und Demokratie gab. Aber die


SCHWERPUNKT Revolution

© Shepard Fairey

»Die Grenze der Tyrannen ist das Durchhaltevermögen derjenigen, die sie unterdrücken.« Plakat des Künstlers Obey

33


Die drei wesentlichen Organisationstypen der Linken aus dem letzten Jahrhundert sind gescheitert

Heirat von Kapitalismus und Demokratie läuft jetzt auf eine Scheidung hinaus. Nehmen wir China: Ich bin zwar dagegen, immer auf China herumzuhacken. Dort werden immense Dinge geleistet. Trotzdem sollten wir uns genau anschauen, was dort passiert. Dort funktioniert der Kapitalismus perfekt, auch ohne Demokratie. Und ich glaube nicht, dass sich das in den nächsten zehn Jahren unbedingt ändern wird. Tatsächlich sind die effizientere Formen des Kapitalismus heute die des autoritären Kapitalismus: Singapur, Malaysia, China. Sogar Konservative sehen das so: Als ich Peter Sloterdijk einmal auf einem Flughafen traf, haben wir uns unterhalten und er sagte: »Weißt du, wem sie in hundert Jahren ein Denkmal setzen werden? Lee Kuan Yew, dem ›Vater‹ Singapurs.« Er ist der Erfinder des Kapitalismus mit asiatischen Werten, des autoritären Kapitalismus. Als Den Xiaoping in den 1970er Jahren Singapur besuchte, sagte er: »Das ist ein Modell für ganz China.« Die gegenwärtig stattfindende Scheidung zwischen Kapitalismus und Demokratie zeigt sich auch im Westen. Dabei glaube ich nicht, dass es eine Rückentwicklung zum alten faschistischen Autoritarismus gibt. Möglich hingegen sind Entwicklungen, wie wir sie zurzeit in Italien sehen: das Phänomen Berlusconi. Wir haben hier eine offen obszöne Funktionsweise der Macht. Berlusconi erzählt geschmacklose Witze, macht sich lächerlich, aber die interessante Frage ist: Was passiert in der Machtstruktur? Das gegenwärtige Italien erinnert mich immer ein bisschen an »Brazil« von Terry Gilliam, obwohl der

34

Film schon dreißig Jahre alt ist. Gilliam hat damals schon diesen neuen Typus eines autoritären Regimes beschrieben: nicht mehr faschistisch, aber oberflächlich gesehen ein halb obszönes, hedonistisches Regime. Als ob Groucho Marx an der Macht wäre. Auch die Rückkehr der großen ökonomischen Krisen führt von der Demokratie weg. Diese Krisen sind enorm und entfalten sich mit explosionsartiger Geschwindigkeit. Um sich zu schützen, brauchen die Regierungen schnelle, radikale, weitreichende Maßnahmen. Das funktioniert aber nicht innerhalb einer formellen Demokratie. Ein gutes Beispiel dafür ist das, was in den USA im Herbst 2008 passiert ist. Der damalige Präsident George W. Bush hatte den Banken 750 Milliarden Dollar Hilfe versprochen. Das wären natürlich heute Peanuts, damals war das ungeheuerlich. Die Hilfe wurde vom Kongress blockiert, mit einer Zweidrittelmehrheit. Und dann passierte etwas Merkwürdiges: Die politische Elite, also Bush, McCain und auch Obama, haben den Kongress unter Druck gesetzt. Sie haben praktisch dem Kongress gesagt: »Hört zu, eure demokratischen Debatten sind ja schön, aber dieses Hilfspaket muss innerhalb einer Woche bewilligt werden. Also hört auf mit dem Quatsch.« Sie haben die Demokratie suspendiert. Und der Kongress hat es akzeptiert. Eine Woche später war der Beschluss durch. Ich finde das beängstigend. In Ägypten stellt sich die Linke im Zuge der Proteste neu auf, in Europas Bewegungen spielte sie anfangs hingegen keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Woran liegt das? Die Linke hat noch nicht voll begriffen, dass das 20. Jahrhundert zu Ende ist. Die drei wesentlichen Organisationstypen der Linken aus dem letzten Jahrhundert sind gescheitert. Offensichtlich ist das beim kommunistischen – beziehungsweise stalinistischen – Staatssozialismus. Nach der Wende kam dann der politische Bankrott der Sozialdemokratie, vor allem in den Ländern, in denen sie an der Macht war. Ich würde aber auch sagen, dass sich die im Rahmen der Proteste von Seattle und des Weltsozialforums entstandene Form des losen »Schwarms« erschöpft hat. Die Idee von losen, selbstverwalteten Strukturen, die den Staat umgehen, findet ihre

Grenzen. Anders als Michael Hardt oder Antonio Negri sehe ich den magischen Moment nicht, wo aus vielen kleinen Strukturen die Multitude wird und alles übernimmt. Nein, wir müssen neu denken und bei null anfangen. Die Problemstellung ist folgende: Große Fragen brauchen große Lösungen, also auf Staatsebene oder sogar auf transnationaler Ebene. Kleine, selbstverwaltete Einheiten sind gut für diejenigen, die darin eingebunden sind. Sie sind aber keine Lösung für globale Probleme wie die drohende ökologische Katastrophe. Wir sollten uns einmal vorstellen, der Tsunami, das Erdbeben und die Atomkatastrophe in Japan wären noch stärker ausgefallen – etwa so, dass der ganze Norden Japans jetzt unbewohnbar wäre. Wohin dann mit den Leuten? Wer organisiert das? Der Markt wird es nicht sein – die unterschiedlichen Akteure können sich gar nicht so schnell koordinieren, wie es nötig wäre, um schnell und weitreichend einzugreifen. Der Staat also. Aber wie vermeiden wir, dass es einfach technokratisch und autoritär durchgeführt wird? Der Dreischluchtendamm in China ist gewiss eine technische Errungenschaft, aber eine soziale und ökologische Katastrophe. Das kann nicht die Art von Lösung großer Probleme sein. Da haben wir ein Dilemma. Die Leute merken, dass sie tief in der Scheiße sitzen. Wir können analysieren, was sie zur Rebellion treibt – materielle Umstände, die Idee von Freiheit, was auch immer. Und dann können wir auf Wunder warten. Ägypten zeigt, dass Wunder an den unwahrscheinlichsten Orten geschehen. Vor drei Jahren habe ich noch geschrieben, dass die linke Subjektivität verschwindet und die Rechte auf dem Vormarsch ist. Ich lag falsch. Ich glaube mittlerweile weniger, dass unser Job als Intellektuelle ist, Antworten zu geben – damit hatten wir im 20. Jahrhundert nicht so viel Glück. Wir sollten die Menschen dazu befähigen, die richtigen Fragen zu stellen und Probleme zu benennen. Dann wäre schon viel erreicht. ■

★ ★★ WEITERSEHEN Das ganze Interview gibt es als Video bei www.leftvision.de. Fotografiere nebenstehenden QR-Code mit deinem Smartphone ab, um direkt online weitergeleitet zu werden.


35

SCHWERPUNKT REVOLUTION


NeUeS AUS Der lebt von der Die Rubrik »Neues aus der LINKEN« Redaktion kann Mitarbeit der marx21-Leser. Die azin und seine nicht überall sein – aber das Mag Leser schon. über interessante Auf dieser Doppelseite wollen wir EN berichten Aktionen und Kampagnen der LINK igen. Wenn ihr sowie spannende Termine ankünd eine etwas beizutragen habt, schickt . Die Redaktion 1.de arx2 n@m ktio E-Mail an reda l und Kürzung vor. behält sich das Recht auf Auswah

BUNDeSWehR

Seit Anfang der 1990er Jahre führt die Bundeswehr Auslandseinsätze durch, aktuell mit 6650 Soldaten. Dafür benötigt sie Rekruten und die Akzeptanz der Bevölkerung. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht verliert die Bundeswehr einen wichtigen Rekrutierungspfeiler. Deshalb hat sie eine großangelegte Werbekampagne gestartet und in bisher acht Bundesländern Kooperationsvereinbarungen mit den Kultusministerien geschlossen (siehe auch Artikel auf Seite 44). Aber antimilitaristische und Friedensgruppen machen gegen die Werbefeldzüge mobil. Bei vielen Aktionen ist DIE LINKE dabei und veröffentlicht im Juli eine Broschüre mit Fakten und Argumenten gegen die Werbestrategien der Bundeswehr. Die Broschüre ist eine gute Hilfe um vor Ort gegen Krieg aktiv zu werden und kann bei heinrich.eckhoff@linksfraktion.de bestellt werden. thOMaS haSChKe, StUttGaRt

© Natalie Dreibus

Kein Werben fürs Sterben

heSSeNtaG

Rekrutierung unerwünscht

M

ilitär hat auf einem Familienfest nichts zu suchen, dachten sich Kriegsgegner beim diesjährigen Hessentag in Oberursel. Doch die Bundeswehr war mit einem Tornado und weiterem schweren Kriegsgerät angerückt. Militarisierung des All-

tags und Rekrutierung lautete ihre Mission. Ein Bündnis aus Friedensinitiativen, Gewerkschaften und der LINKEN stellte sich dem entgegen und führte verschiedene Protestaktionen durch. Am Pfingstmontag fand ein Auszeichnungsappell von Bundeswehrsoldaten durch den hessischen Mi-

GROHNDE UMSTELLT

© Marlen Stryj

ANTIATOM

36

nisterpräsidenten Volker Bouffier (CDU) statt. Demonstranten entrollten ein Transparent, das den Abzug der Truppen aus Afghanistan forderte. Die Feldjäger (Polizeieinheit der Bundeswehr) schritten ein und unterbanden die Aktion. tOBiaS PaUl

Ende April fand der bundesweite Aktionstag gegen Kernenergie statt. Aus diesem Anlass trugen zahlreiche Mitglieder der Hannoveraner LINKEN zusammen mit der Bundestagsabgeordneten Heidrun Dittrich den Konflikt um die Atomkraft direkt vor den Reaktor in Grohnde. Gemeinsam mit rund 20.000 Atomkraftgegnern umzingelten sie das AKW auf einer Strecke von 6,5 Kilometer Länge und forderten dessen sofortige Abschaltung und Stilllegung. MaRleN StRYJ, haNNOveR


NEWS

AN DER SEITE DER STREIKENDEN Im Printgewerbe steht die 35-Stunden-Woche auf dem Spiel. DIE LINKE unterstützt die Gegenwehr der Beschäftigten

D

er Bundesverband Druck und Medien hat zum 31. März den Manteltarifvertrag gekündigt. Damit drohen den 160.000 Beschäftigten in der Druckindustrie zahlreiche Verschlechterungen wie die Abschaffung der 35-Stunden Woche und eine Reduzierung der Maschinenbesetzung. Zudem sollen die Löhne der Hilfskräfte gesenkt werden. Zusammengenommen bedeutet dies weiteren Arbeitsplatzabbau, Lohndumping und Tarifflucht. Dagegen wehrt sich die Gewerkschaft ver.di mit bundesweiten Streik- und Protestaktionen. Viele der Aktiven rechnen mit einem langen und harten Tarifkonflikt. In Bremen kam es bereits zur Eskalation als Ulrich Hackmack, Haupteigentümer und Vorstandsvorsitzender der Bremer Tageszeitungen AG, persönlich die über 150 Streikenden des Betriebsgeländes verwiesen hatte. Eine ihrer Forderungen ist die Rückkehr in den Flächentarifvertrag.

Vielerorts werden Leiharbeiter als Streikbrecher eingesetzt. Bei Prinovis Ahrensburg hingegen haben diese beim Streikbruch nicht mitgemacht und sich mit den Streikenden solidarisiert. DIE LINKE hat sich bereits bundesweit an zahlreichen Protestaktionen beteiligt und ihre Solidarität mit den Beschäftigten bekundet. Hilfe bei der Verteilung von Flugblättern, Öffentlichkeitsarbeit, Solidaritätsadressen und der Besuch der Streikenden vor Ort, wie in Kassel oder in Frankfurt geschehen, sind wichtige Beiträge. Denn die Medien halten sich als Arbeitgeber bei der Berichterstattung weitgehend bedeckt. Vorläufiger Höhepunkt der Arbeitskampfmaßnahmen war der bundesweite Aktionstag am 9. Juni in Frankfurt. Über 3000 Drucker und Journalisten haben für ihre Forderungen demonstriert, um weiter Druck auf die kommende Verhandlungsrunde auszuüben. tOBiaS PaUl, DaRMStaDt

Aktiv im Solidaritätskomitee Der Kreisverband der LINKEN Berlin-Neukölln unterstützt den Kampf der Beschäftigten der Charité Facility Management (CFM) für einen Tarifvertrag mit höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen. Nachdem im Jahr 2006 nichtmedizinische Dienstleistungen an der Berliner Uniklinik Charité in die halbprivatisierte CFM ausgelagert wurden, haben die dort Beschäftigten keinen Tarifvertrag und arbeiten zum Teil

zu Billiglöhnen unter 7 Euro. Gemeinsam mit dem Pflegepersonal an der Charité traten auch die CFM-Mitarbeiter im Mai in Streik und zwangen das Management zu Verhandlungen, die derzeit laufen. Vom Berliner Senat fordern die Beschäftigten die Rückgängigmachung der Privatisierung. Zur Unterstützung hat sich ein CFMSolidaritätskomitee gegründet: www.tinyurl.com/cfm-soli fRaNK eßeRS, BeRliN

Gießen bleibt nazifrei Am 16. Juli planen NPD, Junge Nationaldemokraten und sogenannte freie Kräfte eine Demonstration in der mittelhessischen Stadt Gießen. Um den Naziaufmarsch zu verhindern hat sich ein Bündnis gebildet, das zu Blockaden aufruft. Vorbild ist der Aktionskonsens von »Dresden Nazifrei«. Der hessische Landesverband der LINKEN unterstützt die Vorbereitungen und ruft seine Mitglieder zur Teilnahme auf. tOBiaS PaUl

Kein Bruch nach 1945 Die hessische Linksfraktion hat unter dem Titel »Braunes Erbe – NS-Vergangenheit hessischer Landtagsabgeordneter der 1.-11. Wahlperiode« (19451987) eine Studie zur Kontinuität von Nationalsozialisten in der hessischen Politik veröffentlicht. Unter den 333 Abgeordneten der untersuchten Legislaturperioden befanden sich mindestens 75 ehemalige NSDAP-Mitglieder. Sie gehörten, mit Ausnahme der KPD, allen im Landtag vertretenen Parteien an und konnten nach 1945 ungehindert öffentliche Ämter in Hessen wahrnehmen. Die Studie und weitere Informationen gibt es unter www.linksfraktion-hessen.de. liSa hOfMaNN, DaRMStaDt

Klima schützen Der Brandenburger Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) hat eine Unterschriftenaktion gegen die unterirdische Lagerung des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) gestartet. Derzeit wird vom Energiekonzern Vattenfall die CCS-Technologie zur Abscheidung und Lagerung von CO2 in Brandenburg erforscht. Während Bürgerinitiativen, Umweltverbände, die Fraktion der LINKEN im Bundestag und auch LINKE-Mitglieder vor Ort den Stopp von CCS und einen Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohleenergie fordern, gilt die rot-rote Landesregierung als Befürworter von CSS. Kritik aus den eigenen Reihen gibt es am brandenburgischen Wirtschaftsminister Ralf Christoffers (DIE LINKE), der sich gemäß dem Koalitionsvertrag mit der SPD für CCS einsetzt. fRaNK eßeRS

NEUES AUS DER LINKEN

DRUCKiNDUStRie

37


© Alle Bilder auf dieser Seite: vera.di

»Wir streiken so oft wir können« Der ver.di-Bezirk Stuttgart hat in den vergangenen Jahren viele neue Mitglieder gewonnen. Beim Kongress »Marx is’ muss« erklärte Bernd Riexinger das Erfolgsrezept. Wir dokumentieren seine Rede ★ ★★

BeRND RieXiNGeR ist Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart und Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstands der LINKEN in Baden-Württemberg.

38

Z

unächst einmal einige grundsätzliche Bemerkungen: Wir haben nicht nur eine Verschiebung vom industriellen zum Dienstleitungssektor. Auch innerhalb des Dienstleistungssektors gibt es gesonderte Entwicklungen. Meine erste These ist: Die Auseinandersetzungen im Dienstleistungssektor wurden häufiger von Frauen getragen, insbesondere in den Gemeinden. Ich persönlich kam aus der HBV (der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, die im Jahr 2001 in der ver.di aufgegangen ist; Anm. der Red.), kannte mich vor zehn Jahren im öffentlichen Dienst nicht aus und hatte ein völlig idealisiertes Bild von der Gewerkschaft ÖTV. In Wirklichkeit war es aber so, dass die ÖTV über die Fläche gar nicht besser organisiert war als die HBV im Einzelhandel. In den Verwaltungsbereichen und in den Sozialarbeiterberufen im Gesundheitswesen lag der Organisationsgrad im Großen und Ganzen bei unter 10 Prozent. Hoch organisiert waren einzig die männlichen Mitarbeiter bei der Müllabfuhr, bei den Straßenbahnen, bei den Tiefbauämtern und in ähnlichen Bereichen. Das war die Stütze der Tarifkämpfe im öffentlichen

Die Angestellten von zwölf H&M-Filialen haben einfach alle um 12 Uhr das Geschäft verlassen


Dienst. Die anderen Beschäftigtengruppen haben zugeguckt, wie die kampfstarken Kolleginnen und Kollegen die Ergebnisse erstreikt haben. Als ich 2001 bei ver.di anfing, gab es weder in den Kitas noch in den Krankenhäusern große Streikerfahrungen. Es waren relativ kleine Gruppen aktiver Leute, die da mitgemacht haben. Das hat sich sehr gewandelt. Inzwischen sind die Erzieherinnen, zum Teil auch die Sozialpädagogen, die größte Streikstütze im öffentlichen Dienst. Sie streiken besser und wirkungsvoller als zum Beispiel die Müllarbeiter. Ich erkläre später, warum das so ist

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Einzelhandelsstreiks in Stuttgart: Weiblich, kämpferisch und erfolgreich. Die letzten Abschlüsse brachten mehr Geld in die Tasche – auch ein Erfolg der demokratischen Streikführung

– festzuhalten ist aber erst mal, dass hier eine Säule dazugekommen ist, bei der Mehrheiten streiken, das gerne und vor allem auch erfolgreich tun. Auch das Gesundheitswesen hat aufgeholt, wobei das nicht ganz vergleichbar ist. Bei den Erzieherinnen und Erziehern haben wir Streikbeteiligungen von 60 bis 70 Prozent, in den Krankenhäusern kommen wir über 15 bis 20 Prozent nicht hinaus. Ich persönlich denke, das hat viel mit den hierarchischen Strukturen dort zu tun. In den Kitas ist die Amtsleitung weit weg, sie sind unter sich, die Kitaleitung gehört meist zu den Beschäftigten und sie machen die Streikbeteiligung unter sich aus. Wenn sie sagen, sie streiken, dann streiken sie geschlossen. Im Krankenhaus hast du eine Pflegedienstleistung, Oberschwestern, Ärzte und Oberärzte, die das Klima im Krankenhaus ganz anders prägen als in der Kita. Das wäre für mich eine Erklärung, warum ich keinen Fall kenne, wo es geglückt wäre, die Mehrheit der Beschäftigten in den Streik gehen zu lassen. Ein weiterer Bereich, in dem es neue Entwicklungen gibt, ist der Handel. Wir befinden uns gerade inmitten einer neuen Auseinandersetzung, zwanzig Betriebe sind im Streik. Wir machen eine Aktion in der Stuttgarter Königsstraße und besuchen jeden Betrieb, der dort bestreikt wird. Vor der Eingangstür singen wir und machen ordentlich Remmidemmi. So etwas ist neu – von 2006 bis heute haben sich im Handel völlig neue Streikformen entwickelt. Die kann man überhaupt nicht mehr mit früher vergleichen. Es hat sich eine Emanzipation der Streikkultur herausgebildet und neue Betriebe sind dazugekommen. Das ist nicht überall so. Wir reden hier über einen Bezirk, wo es der Gewerkschaft durch eine bestimmte Methodik gelungen ist, junge Belegschaften zu gewinnen, zum Beispiel bei H&M, und auch viele Migrantinnen – fast ausschließlich Frauen. Die erfolgreiche Organisierung hat einen Grund: Berufe wie Erzieherin oder Verkäuferin sind anspruchsvoll, aber unterbezahlt. Zwar sind dort Frauen nicht schlechter bezahlt als Männer. Aber die Branche wird geprägt durch eine hohe Frauenbeschäftigung, und es galt in Deutschland lange der Grundsatz »Hauptverdiener Mann, Zuverdiener Frau«. Das war viel länger der Fall als im Rest Europas. Diese Arbeitsteilung gibt es nicht mehr: Zum einen sehen die Frauen nicht ein, warum sie nur hinzuverdienen sollen, sie wollen selber von ihrem Einkommen leben können. Zum anderen haben sich die Lebenslagen dramatisch verändert, viel mehr Alleinerziehende müssen von ihrem Einkommen leben können und stehen nahe an der Armutsgrenze. Bei den Erzieherinnen kommt noch die Frage dazu, warum die Arbeit von jemanden, der Kinder erzieht, weniger wert sein soll als die Arbeit von jemand, der bei Daimler am Band Autos zusammenschraubt. Zudem herrscht im Erziehungsbereich Arbeitskräftemangel. All dies treibt die Streikbereitschaft und schafft günstige Bedingungen für die Gewerkschaft. ▶▶

39


Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im ver.diBezirk Stuttgart völlig neue Berufsgruppen in die gewerkschaftliche Aktivität und in Streiks eintreten. Es war ja üblich, dass beispielsweise die Kollegen der IG Metall herunterschauen auf die Kollegen im öffentlichen Dienst. Da sag ich ganz ketzerisch: Jede Verkäuferin in Stuttgart hat zwanzig mal mehr Streiktage auf dem Buckel als der Kollege bei Daimler und jede Erzieherin das 25-Fache. Wir haben im Einzelhandel Betriebe, die in einem Jahr zwanzig Wochen gestreikt haben – da muss die Metallindustrie schon lange zurückschauen, um ähnliche Erfahrungen vorzuweisen. Natürlich gibt es einen großen Unterschied bei der

Migrantinnen sind überdurchschnittlich stark bei den Streiks vertreten Durchsetzungsfähigkeit der Streiks. Im Dienstleistungssektor ist es wesentlich schwieriger, Erfolge zu erzielen, als in der Metallindustrie. Eine Automobilfabrik mit 20.000 Beschäftigten kannst du mit 1.000 Streikenden lahmlegen – es ist möglich zu gewinnen, ohne dass die Mehrheit streikt. Ein Kaufhaus kann man so nicht lahmlegen – du musst richtig lange streiken, um die wirklich zu treffen. Da gibt es befristetet Beschäftigte, die nicht streiken, Abteilungsleiter, die nicht streiken, flexible Kräfte, die rangeholt werden. Da brauchst du viel Fantasie und innovative Streikformen, um Wirkung zu erzielen. Ein Beispiel aus dem Handel: Wir haben zwölf H&MFilialen in der Region, alle gut organisiert und streikfähig. Hier haben die Aktiven untereinander verabredet, alle an einem Mittwoch um zwölf Uhr spontan aus dem Laden zu gehen und damit praktisch zu streiken. Das ist ungeheuer schwierig, da steht eine Kundenschlange und du sollst dann aus dem Laden gehen. Der Betrieb wird dadurch völlig durcheinandergebracht, weil so schnell keine flexiblen Kräfte von H&M rangeschafft werden können. Alle zwölf Betriebe haben es geschafft: Sie haben um 12 Uhr aufgehört und den Kunden an den Kassen eine Erklärung abgegeben, dass ihre Gewerkschaft sie gerade zum Streik aufgerufen hat und sie jetzt gehen müssen. Das hat ausgestrahlt, eine Kaufland-Filiale hat am selben Tag mitgezogen. Eine besondere Rolle spielen die Migrantinnen. Dort ist eine größere Bereitschaft da, sich nicht alles gefallen zu lassen, als bei den deutschen Arbeitnehmerinnen. Migrantinnen sind deshalb überdurchschnittlich bei den Streiks vertreten. Das sehen wir insbesondere bei der Drogeriemarktkette Schlecker: Hier sind die Beschäftigten überwiegend Migrantinnen aller Altersgruppen. Das ist eine reine Organisa-

40

tionsfrage, die Frage, ob sie streiken, stellt sich nicht, weil die Bereitschaft bereits vorhanden ist. In beiden Bereichen, sowohl im öffentlichen Dienst als auch im Handel, streiken wir so oft wir können. Wenn wir Ansatzpunkte sehen, streiken wir, auch wenn wir eine Minderheit im Betrieb sind. Das ist sinnvoll, weil die Leute dadurch Streikerfahrung sammeln und eine gewisse Begeisterung für diese Aktionsform entwickeln. Das geht aber nur, wenn man alle Streikbetriebe immer wieder zusammenfasst. Wir haben die Methode, dass wir überall aktive Streiks durchführen. Das heißt, es findet jeden Tag eine Streikversammlung statt, die zwei Elemente beinhaltet: Zum einen wird von uns Hauptamtlichen ein bisschen Stimmung gemacht. Wir betonen, wer alles dabei ist, dass es vorwärts geht und wie klasse es ist, dass alle da sind. Gleichzeitig sind die Streikversammlungen auch ein demokratisches Forum, wo sich jeder melden kann, jeder Betrieb berichten kann und wo diskutiert wird, wie es weitergeht. Das führt dazu, dass die vorwärtstreibenden Elemente im Streik mehr Einfluss bekommen. Diejenigen, die weitermachen wollen, überzeugen oft in den Streikversammlungen die Zögerlichen. Manchmal müssen wir da wirklich ausgleichen, wenn die junge Frau von H&M sagt: »Was? Ihr seid schon seit zwanzig Jahren Betriebsräte und kriegt eure Leute nicht raus, und wir erst seit vier Jahren und schaffen das? Was seid ihr denn für Betriebsräte?« Eine interessante Erfahrung im Handel ist tatsächlich, dass die vielen neuen Betriebsräte nicht diese Scheu vor Streiks haben, die wir bei älteren Betriebsräten beobachten. Das hat viel damit zu tun, dass früher weniger gestreikt wurde und die Dinge eher sozialpartnerschaftlich geregelt wurden. Die junge Generation ist von dieser Phase nicht mehr geprägt. Die kennen die Unternehmer nur als harte Gegenseite. Das ist für die Kampfbereitschaft positiv. Zur Streikkultur gehört dazu, dass die Versammlungen immer zu Aktionen führen. Wir versuchen bei allen Streiks, jeden zweiten Tag eine öffentliche Aktion zu machen. Die Streiks sollen nicht im Raum bleiben. Entweder wir machen eine Demonstration in der Stadt oder organisieren Busse, um in die umliegenden Kreise zu fahren und dort eine Demonstration zu machen. Oder wir ziehen durch die Läden und klären über unseren Streik auf. Streiken ist ein bisschen wie Fahrradfahren: Wenn man es erst mal erlernt hat, dann verlernt man es auch nicht so schnell wieder. Wenn die Hürde erst mal weg ist, dann geht viel, auch bei den Erzieherinnen. Bekannte und Freunde aus diesem Bereich sagen manchmal nach einem Jahr – wenn sie einen Tarifvertrag für zwei Jahre ausgehandelt haben: »Ooch, wir vermissen das schon: Streiken, zum Gewerkschaftshaus laufen und ein bisschen was anderes mitkriegen als unseren Alltag.« Das sind ungeheure Lernprozesse. ■


Kampf ums Klassenzimmer

KONTROVERS

a

m 1. Juli wird die Wehrpflicht ausgesetzt. Um die zu erwartenden Personalausfälle aufzufangen, bemüht sich die Bundeswehr verstärkt um Schülerinnen und Schüler. Die Offensive an der Heimatfront ist aber auch Teil der Propagandaschlacht für die Unterstützung deutscher Kriege

© Deutsche Friedens Union / Demokratische Grafik Hamburg 1971

VON ChRiStiaN StaChe

41


★ ★★ Christian Stache vertritt die Linksjugend ['solid] im Landesvorstand der Hamburger LINKEN.

I

m langen Schatten des deutschen Kriegseinsatzes in Afghanistan und der Bundeswehrreform verschieben sich auch an der Heimatfront peu à peu die Koordinaten. Nahezu unbemerkt schreitet die moderne Militarisierung der deutschen Gesellschaft voran. Dies geschieht auch an Orten, an denen man es zunächst nicht vermuten würde: etwa an den Schulen. Bundeswehrauftritte vor Schülern sind Teil der Transformation der Bundeswehr in eine »Armee im Einsatz« und der Re-

Die meisten Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz stammen aus strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands

naissance des militärischen deutschen Imperialismus – dem Fundament deutscher Außenpolitik seit Veröffentlichung der verteidigungspolitischen Richtlinien im Jahr 1992.

★ ★★ WEITERLESEN Die Linksfraktion im Bundestag veröffentlicht eine Broschüre mit dem Titel »Bundeswehr raus aus den Schulen!«, die voraussichtlich im Juli erscheinen wird. Für Vorbestellungen genügt eine kurze E-Mail an: heinrich.eckhoff@ linksfraktion.de.

42

Der Agitation unter jungen Leuten widmen die Militär- und Politstrategen seit einigen Jahren besondere Aufmerksamkeit. Allein für das Jahr 2011 hat die Bundeswehr eine enorme Etaterhöhung zur Werbung unter Jugendlichen erhalten. Mehr als zehn Millionen Euro dürfen die Generäle nun vor allem für Reklame ausgeben. Zu Beginn diesen Jahres begann das Bundesverteidigungsministerium zudem mit einer dreistufigen Werbekampagne, vorrangig um junge Menschen für die neue Freiwilligen- und Berufsarmee zu begeistern und somit die prognostizierten Ausfälle durch die Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli aufzufangen. Dass die Hardthöhe außerdem im Januar 2011 ein Maßnahmenpaket zur Steigerung des Dienstes in der Bundeswehr erließ, und im Rahmen der Bundeswehrreform die Bildung einer neuen zentralen Personalwerbungsstelle vorgesehen ist, dokumentiert

den Stellenwert, den die Public Relations und die Rekrutierung für die Zukunft der deutschen Kriegspolitik besitzen. Um einen direkten Kontakt zu Jugendlichen herzustellen, gibt es keinen besseren Weg, als an die Schulen zu gehen. Die Bundeswehr hat dementsprechend seit einigen Jahren ihre Anstrengungen intensiviert, Zugang zu den Klassenzimmern zu erhalten. Im Jahr 2005 stellte sie in jedem Bundesland einen Bezirksjugendoffizier in Dienst, um Kontakt zu den jeweiligen Schulministerien herzustellen. Daraufhin sind seit 2008 bislang acht sogenannte Kooperationsvereinbarungen zwischen Landeskultusministerien und dem Militär abgeschlossen worden. In NordrheinWestfalen, Bayern, Rheinland-Pfalz, im Saarland, in Baden-Württemberg, in Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Sachsen verfügt die Bundeswehr jetzt über eine institutionelle Anbindung an die Bildungsbetriebe. Das ermöglicht es ihr, die politische Bildung von Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern zu beeinflussen. Außerdem gibt es ihr vertraglich garantierte Rechte, an Schulen zu agieren und beispielsweise Lehrpläne mitzugestalten. Allein im Jahr 2009 haben laut einer parlamentarischen Anfrage der Bundestagsfraktion der LINKEN die eigens dafür ausgebildeten und bezahlten 94 hauptamtlichen Bundeswehr-Jugendoffiziere, die von über 300 Nebenamtlichen bei ihrer Arbeit unterstützt werden, bundesweit 4415 Diskussions- und Vortagsveranstaltungen an unterschiedlichen Schultypen durchgeführt. Sie haben dadurch 115.207 Schülerinnen und Schüler erreicht. Hinzu kommen die 12.648 Einsätze der Wehrdienstberater und -beraterinnen an Schulen, bei denen 280.672 Jugendliche anwesend waren, sowie zahlreiche Truppenbesuche. Außerdem wurden 365 Seminare mit dem Strategiespiel »Politik und Internationale Sicherheit« (POL&IS) durchgeführt. Die Bundeswehr verfügt also verglichen mit Arbeitgebern oder politischen Akteuren über den vielleicht besten Zugriff auf junge Menschen. Die deutsche Armee benötigt dringend frischen Nachwuchs für ihre Mannschaften. Die mörderischen Kriege und ihre logistische Unterstützung müssen auch weiterhin abgewickelt werden. Das ohnehin immer noch geringe Interesse unter Jugendlichen, einen Job bei der Bundes-


Gegen die Präsenz an Schulen regt sich zunehmend Protest. Nach und nach bil-

Über 50 Bundeswehrsoldaten sind bislang in Afghanistan gestorben. Viele mehr kehren traumatisiert von ihrem Einsatz zurück. Das erzählen die Jugendoffiziere den Schulklassen nicht den sich breite Bündnisse von Eltern, Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern. Auch die GEW, DIE LINKE und außerparlamentarische Friedens- und Antikriegsorganisationen beteiligen sich an den Zusammenschlüssen, um gegen die Kooperationsvereinbarungen und die Schulbesuche der Bundeswehrvertreter zu kämpfen. SPD und Grüne sind auch in diesen Fragen bislang ebenso wenig wie Union und FDP von ihrem Kriegskurs abzubringen. In Rheinland-Pfalz vereinbarte die Sozialdemokratie die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr im Alleingang. Das neue grün-rote Bündnis in Baden-Württemberg

begrüßt die Kooperation mit außerschulischen Bildungspartnern. Und im Landtag von Nordrhein-Westfalen scheiterte im März ein Antrag der LINKEN, die Kooperationsvereinbarung aufzuheben, am Votum einer Einheitsfront von Grün bis Schwarz. Auch das »Angebot« der NRW-Grünen, für eine paritätische Bildung durch Bundeswehr und Friedensinitiativen zu sorgen, ist Augenwischerei – gerade angesichts der finanziellen Ausstattung, der professionellen Ausbildung und des politischen Auftrags der Jugendoffiziere. Die politische Absicht, die Bundeswehr an die Schulen zu bringen, ist grundsätzlich falsch – nicht ihre Umsetzung. ■

KONTROVERS

Die Bundeswehr bemüht sich insbesondere bei der jungen Generation auch um politische Indoktrination. Dem Lehrbuch der Jugendoffiziere ist zu entnehmen, dass sie den Standpunkt des Bundesverteidigungsministeriums beispielsweise zu internationalen Konflikten vermitteln sollen. Besonders in Zeiten ausgeweiteter Kriege soll das Militär gesellschaftlichen Rückhalt und Akzeptanz für seine Auslandseinsätze erzeugen. Letztlich wird mit den Schulbesuchen und Kooperationsvereinbarungen auch die schleichende Militarisierung der deutschen Gesellschaft im Rahmen des Konzepts »vernetzter Sicherheit« und zivilmilitärischer Zusammenarbeit im Inneren umgesetzt. Gemäß des aktuellen Weißbuchs der Bundeswehr aus dem Jahr 2006 soll die gesamte Gesellschaft in die »Verteidigung der Sicherheit« einbezogen werden, indem die Grenzen zwischen Zivilgesellschaft und Militär nivelliert werden. Dafür ist die institutionelle Anbindung der Bundeswehr an die öffentliche demokratische Infrastruktur – beispielsweise an Schulen – erforderlich. Angesichts der Krise, hoher Arbeitslosenzahlen und zahlreicher prekärer Arbeitsverhältnisse nutzt die Bundeswehr die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen perfide aus und bietet ihnen eine mutmaßliche »Karriere mit Zukunft«. Bereits heute stammt ein Großteil der Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz aus sogenannten strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands. Entscheidend ist allerdings nicht die geografische, sondern die soziale Herkunft. Die Vorschläge im Maßnahmenpaket zur Attraktivitätssteigerung des Dienstes in der Bundeswehr belegen, dass die Bundeswehrplaner und -planerinnen sich dessen bewusst sind. Zahlreiche Vorschläge sind darauf ausgelegt, vor allem »Geringqualifizierte« zu gewinnen.

© Bundeswehr / Wayman

wehr anzutreten, wird durch das vorläufige Ende der Wehrpflicht noch verstärkt. Den Kriegsplanern fehlt bereits heute Personal, etwa bei den Spezialkräften, in bestimmen technischen Bereichen oder bei den Sanitätern. Zudem erschwert der demografische Wandel den Strateginnen und Strategen auf der Hardthöhe die Verjüngung des stabslastigen und veralteten Personalkörpers.

43


Die Gleichgültigkeit der Idee Von Dietmar Dath

44 © Gueorgui Tcherednitchenko


W

←FORTSETZUNG AUF SEITE 50→ © Iman Nabavi

KONTROVERS

ie aktuell ist die kommunistische Idee? Wen anders als Dietmar Dath hätten wir das fragen können? Schließlich wurde er einst von einem Kritiker als „Lenin 2.0“ bezeichnet. Beim Kongress „Marx is’ muss“ gab er die Antwort

45


★ ★★

DietMaR Dath ist Journalist und Autor zahlreicher Bücher. Er war Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex und Feuilletonredakteur der FAZ. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er ein Buch über Leben, Werk und Wirkung von Rosa Luxemburg.

E

ingekeilt ist man meistens, wenn man was Politisches vom Blatt abliest oder erzählt. Von rechts wie von links könnte jemand kommen und sagen: Was soll denn das hier? Von links ginge das etwa so: Ein Abend wie dieser und ein Referat wie meins stiften für abhängig Beschäftige, aus der Arbeit Herausgefallene, Verhetzte, aus der Luft Bombardierte, ohne Medizin oder auch nur warme Decken und eine trockene Wohnung lebensgefährlich Kranke oder Verhungernde nicht den geringsten messbaren Nutzen und sie richten bei Chief Executive Officers und den Mitgliedern von Boards of Directors, bei militärisch Kommandierenden und politischen Funktionseliten nicht den geringsten messbaren Schaden an. Karl Marx, zu dem wir ja alle aufzuschließen versuchen, war, ich zitiere ihn gern, der Meinung, was das Bewusstsein alleine anfange, sei ganz gleichgültig. Eine Idee müsse, wenn sie zur materiellen Gewalt werden wolle, die Massen ergreifen. Massen aber sehen wir hier keine sich vor der Tür zusammendrängen.

Die armen Schweine, die in Fukushima im Strahlenwasser rumstampfen, gehören jedenfalls nicht zur digitalen Bohème

Soweit die Widerrede von links. Die von rechts hat im Januar 2011 in der beliebten deutschen Tageszeitung Die Welt ein Mann namens Ulf Poschardt formuliert, der von Haus aus sowohl Akademiker wie Journalist, also so etwas Ähnliches wie Karl Marx ist. Über Abende wie diesen, Redebeiträge wie meinen hat Poschardt da geschrieben, das seien »linke Girlanden«, der Kommunismus sei »etwas Schlichtes und Unterkomplexes, das mit den Denkanforderungen der Gegenwart nichts zu tun hat«, und überhaupt »mausetot«. Allerdings geht es hier um diesen Schwachsinn natürlich nicht. Der Kommunismus als Idee von Herrn Poschardt oder meinetwegen auch von Herrn Dath ist völlig Wurst. Es geht im Gegenteil um das, was Marx und Engels in ihrem frühen Selbstverständigungstext »Die deutsche Ideologie« meinten, als sie schrieben: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehen-

46

den Voraussetzung.« Wenn man so denkt, will man nicht irgendwelche Begriffe auf die Wirklichkeit draufsetzen wie ein Mützchen auf eine Vogelscheuche, sondern Begriffe finden und gebrauchen – zum Beispiel »Kommunismus« im eben entwickelten Sinn –, die einem dabei helfen, in dieses Geschehen, diese wirkliche Bewegung handlungskoordinierend einzugreifen. Wörter dienen so der Absprache zum Tun. Auf diese Weise denkt und handelt oft genug auch die Gegenseite, etwa die beliebte Wochenzeitung Die Zeit, in der kürzlich stand, die fabelhafte Bundeswehrreform des Herrn de Maizière sei dazu da, dass die Armee der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr unsere Grenzen verteidigt, sondern unsere Werte. Wenn man Mord und Totschlag im Interesse einer besitzenden Minderheit nicht so gerne mag, hat derlei einen großen Nachteil: Es ist ein Gewaltanspruch ohne immanente Selbstbeschränkung, es meint den uferlosen Terror und duldet keine Widerrede. Wo die Grenzen sind, kann man zur Not auf der Landkarte zeigen, aber wie ist das mit den Werten und Ideen? Wenn Panzer, Raketen oder Bomber Grenzen verletzen, ist alles klar. Wenn aber irgendwo jemand so lebt, wie es mir nicht passt, dann muss ich schon von Werten quatschen, um zu begründen, warum der mich angegriffen hat. Ein solches bewaffnetes Gequatsche nennt man Imperialismus und mit Werten ist dabei gemeint: Es entscheiden die Stärkeren, es entscheidet die Gewalt, also etwa die deutschen EU-Beauftragten zur Neuordnung des griechischen Sozialwesens oder die Navy Seals in Pakistan. Die Zeit, in der Marx sich für den Kommunismus nicht als Idee, sondern als wirkliche Bewegung – das heißt nicht nur »Movement«, sondern auch geschichtlicher Ablauf, motion, process – interessierte, war nun eine, in der sich erkennen ließ, dass nicht nur Besitzende, Chief Executive Officers, militärisch Kommandierende und politische Funktionseliten ihre Interessen und damit ihre Werte durchsetzen konnten, sondern auch Lohnarbeiterinnen, abhängig Beschäftigte, Leute, die weder Akademikerinnen noch Journalistinnen waren, sondern vergleichsweise angeschmiert. Etwa hundertdreißig Jahre lang nach dem Erscheinen des »Manifests der kommunistischen Partei« fand ein Bemühen um die Aufhebung des jetzigen Zustands statt, und dazu gehörten eben nicht in erster Linie, wenn auch durchaus, spitzfindige Diskussionen über die Warenproduktion, die Arbeitswertlehre, die Entfremdung oder den


Das alles lag daran, dass es erstens keinen globalstrategischen Gegner mehr gab, demgegenüber diejenigen, die im Kapitalismus den Ton angeben, ein bisschen Kreide fressen mussten, und zweitens daran, dass etwa eine Angestellte, die hier streikt, zu hören kriegt, wenn du frech bist, dann verlagern wir die Produktion eben nach Tschechien oder helfen uns mit den berühmten Computer-Indern. Aber die Geschichte hat es an sich, dass sie auch dann weitergeht, wenn niemand Lust hat, sie zu machen. Und so langsam merken Leute, die in Herstellungsstrukturen eingebunden sind, in denen just-intime produziert wird und on demand, in denen also schärfer als je zuvor gerechnet, schneller als je zuvor her- und umgestellt werden muss, dass es nicht immer nur auf die Anzahl der Streikenden ankommt, sondern manchmal auch darauf, wo und wann gestreikt wird – also etwa im Transportwesen, oder

wie vor zwei, drei Wochen in Südkorea, als ein großer Zulieferer der Autofirma Kia lahmgelegt wurde, weil die Leute die Fabrik besetzten, und in kürzester Zeit ein schöner Schaden von 140 Millionen Dollar zusammengekommen war. Dann ist die Polizei ins Werk und hat’s geräumt. Und so langsam merken einige auch, dass es noch andere Arten der Beschäftigung in der Energie- und Informationsbranche gibt und geben muss als am Laptop, denn die armen Schweine, die in Fukushima im Strahlenwasser rumstampfen, gehören jedenfalls nicht zur digi-

Marx hat Recht: Kommunismus als Schriftauslegerei ist uninteressant

talen Bohème, und so langsam prunken wir Journalistinnen und Journalisten wieder mit Marx-Zitaten, die im Moment noch den Status von Kalendersprüchen und Fürbittgebeten haben. Und so langsam reicht es den Leuten in Wisconsin, in Griechenland, in Spanien, im arabischen Raum, und nirgends sind das reine Gesinnungsgeschichten, überall ist es Klassenkampf. Und so langsam gibt es wieder Abende wie diesen. Ich meine, dass Marx Recht hat, wenn er sagt, ein Kommunismus, der keine wirkliche geschichtliche Angelegenheit ist, sondern eine Schriftauslegerei, ist uninteressant. Eine wirkliche geschichtliche Angelegenheit braucht jedoch auch ein Gedächtnis, braucht Begriffe, braucht Stichworte – nicht dringender als Aktionen, aber eben doch. Man kann also die wenigen Handlungsfreiheiten von Intellektuellen nutzen, die darin bestehen, dass man zwar vielleicht nicht immer was tun kann, aber doch sagen, dass man mit dem allerneuesten Krieg nicht einverstanden ist, dass diese ganzen Sozialschweinereien eben nicht als einstimmig angenommen gelten können, dass man die Banken nicht, wie es so schön heißt, retten will, dass man das Rentenalter nicht heraufsetzen und Kranke, die kein Geld haben, nicht verkommen lassen will. Soviel von mir zur Aktualität der Idee. Mit der kommunistischen Bewegung aber, jener »wirklichen Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«, ist es wie mit der Frauenfußball-WM, die demnächst hier in diesem Land stattfinden wird: Falls jemand das miterleben will, es gibt noch Karten. ■

★ ★★ WEITERLESEN Wir dokumentieren hier Dietmar Daths Beitrag vom Kongress »Marx is’ muss 2011«. Weitere Videos, Reden und Berichte gibt es auf marx21.de. Fotografiere untenstehenden QR-Code mit deinem Smartphone ab, um direkt online weitergeleitet zu werden.

KONTROVERS

Fetischismus, sondern eben doch vor allem solche Sachen wie die, dass im März 1850 die größte Bewegung für Wahl- und andere Rechte der Nichtbesitzenden in einem der am weitest entwickelten Industriestaaten, die Chartisten in England, auf einem Kongress ein sozialistisches Programm verabschiedet und für die landesweite Enteignung des Großgrundbesitzes und die genossenschaftliche Produktion votiert haben. Dazu gehören ferner Streiks, sowohl ökonomische wie politische, organisierte wie wilde, dazu gehört die Geschichte entsprechender Parteien buchstäblich in jedem Winkelchen der Welt, dazu gehört der Kampf Rosa Luxemburgs gegen den Revisionismus in der SPD, dazu gehört die Gründung der Sowjetunion, dazu gehört der Zweite Weltkrieg und die Dekolonisierung, dazu gehört der Kalte Krieg. Als dieser vorbei war, wurde nicht nur von erbittert antikommunistischen Stimmen überall erzählt, die ganze Geschichte sei nun zu Ende, die »wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«, sei von diesem jetzigen Zustand besiegt. Eine Weile lang sprach vieles dafür, dass das stimmen könnte – in den reichen westlichen Staaten wurden die von der Arbeiterbewegung erkämpften sozialen Sicherheitssysteme abgebaut, mit den ärmeren Staaten sprangen die reichen ökonomisch und militärisch um, wie es ihnen passte, und sogar die Journalistinnen und Akademiker, die diesen ganzen Horror als alternativloses Endziel der Geschichte bejubelten und aber ja meistens auch kein Kapital besitzen, also nicht von fremder Arbeit leben können, kriegen das persönlich mit, insofern man die Unis plötzlich wie Unternehmen behandelte, die möglichst schnell möglichst taugliche Funktionärinnen und Funktionäre für den allgemeinen Horror herstellen sollen, und die Medien wie alle anderen Unternehmen, in denen es keine Flächentarife mehr gibt, keine Mitbestimmung, sondern eine zersplitterte Wurstelei um den letzten Cent, um jede Überstunde.

47


MaZEDoNiEN Mehre tausend Menschen protestierten am 10. Juni in der mazedonischen Hauptstadt Skopje gegen Polizeigewalt. »Error 404. Demokratie nicht gefunden«, stand auf ihren Plakaten. »Schlag mich nicht« und »Stoppt die Polizei-Brutalität« lauteten weitere Slogans. Wenige Tage zuvor hatte ein Polizist einen jungen Mann zu Tode geprügelt. Der 22-jährige Martin Neshkovski hatte am Abend der Parlamentswahl eine Wahlparty besucht, wo er von einer Spezialeinheit festgenommen und misshandelt wurde. Kein Einzelfall: Die Beamten sind für ihr gewaltsames Vorgehen bei Festnahmen bekannt. Vor allem junge Menschen folgten dem Protestaufruf über soziale Internetnetzwerke und marschierten durch die Innenstadt vor den Sitz des Innenministeriums und des Parlaments.

48


tSCHECHiEN

Die Regierung will das Haushaltsdefizit des Landes durch Sozialkürzungen senken. Dagegen streiken die Transportarbeiter VON JaN MÁJÍČeK

M

itte Juni wurden bei einem landesweiten TransportarbeiterStreik die Züge in der gesamten Tschechischen Republik blockiert. In der Hauptstadt Prag war nur eine von sieben Straßenbahnlinien und eine von 15 Buslinien in Betrieb. Außerdem schlossen sich zum ersten Mal seit 1989 die U-Bahn-Arbeiter einem Streik an. Der Streik wurde aus Protest gegen die geplante Reform der Rentenkasse, des Gesundheits-, Sozial- und Steuersystems ausgerufen. Die rechtsgerichtete Regierung will die staatliche Rentenversicherung privatisieren, die Krankenkassenbeiträge erhöhen und die Steuern für die Reichen und Unternehmen senken. Organisiert wurde der Streik vom Transportarbeiterverband KDOS, dem 13 Gewerkschaften angeschlossen sind. Auch zwei weitere wichtige Gewerkschaften unterstützten den Streik. Sie forderten außerdem Unterstützung durch die Öffentlichkeit. Wie die jüngsten Umfragen zeigen, lehnt eine Mehrheit der Tschechen die »Reformen« ab und stimmt den Protesten zu. Präsident Václav Klaus musste wegen des Streiks die Feier zu seinem 70. Geburtstag absagen. Der zunehmend unbeliebte Präsident dürfte sich an das Ende seiner eigenen Regierung im Jahr 1997 erinnert fühlen. Diese wurde damals wegen ihres Angriffs auf die Reallöhne nach einem erbitterten Konflikt mit den Gewerkschaften gestürzt. Rund 2000 Menschen beteiligten sich Mitte Juni am Gewerkschaftsmarsch, der mit einer Kundgebung am Palackyplatz in Prag begann. Dieser Marsch wurde wie der gesamte Streik vom Bündnis gegen Kürzungen, ProAlt, unterstützt. ProAlt spielt eine spezielle Rolle in den Protesten. Nicht nur deshalb, weil zum ersten Mal eine nicht gewerkschaftliche Organisation mit den Arbeitnehmervertretungen zusammenarbeitet, sondern auch, weil sie eine ganz andere Gesellschaftsschicht

zu den Antikürzungsprotesten mobilisiert und dadurch hilft, größere öffentliche Unterstützung für die Gewerkschaften zu organisieren.

Die Züge in der gesamten Tschechischen Republik wurden blockiert Der Transportarbeiterstreik ist das letzte Glied in einer Kette von Protesten gegen die Angriffe der Regierung. Am 21. Mai hatten 40.000 Menschen protestiert. Organisiert wurde diese Demonstration von der CMKOS, dem Dachverband der böhmischen und mährischen Gewerkschaften. »Die Reformen in der Gesundheitsversorgung und im Steuerwesen, im Renten- und Sozialsystem sind unausgereift, schäbig, ideologisch gefärbt, ohne jede Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Menschen«, so Josef Stredula von der Kovo. Bohumir Dufek, Vorsitzender der ASO, der zweitstärksten Gewerkschaftsorganisation des Landes, forderte Neuwahlen. Aus Protest gegen die geplanten Reformen verließen Anfang Mai Gewerkschafter ein Treffen mit Regierungsparteien und Vertretern der Wirtschaft. Die ASO erwartet nicht, dass die Regierung ihr Verhalten ändert. Sie bereitet Blockaden vor und schließt auch weitergehende Maßnahmen nicht aus. Tereza Stoeckelova von ProAlt erhielt viel Applaus als sie einen Generalstreik forderte und die arabischen Revolutionen erwähnte. Auch der Slogan »Kairo hat es geschafft, wir können es auch!« kam gut an. ★ ★★ JaN MÁJÍČeK ist Sprecher der tschechischen Bürgerinitiative »Nein zu den Raketenstützpunkten«.

 CHiNa Am 20. Juni sind 4000 Arbeiterinnen und Arbeiter der Handtaschenfabrik Hualong im chinesischen Meishan in den Streik getreten. Sie kämpfen für höhere Löhne und humane Arbeitsbedingungen. Die Streikenden fordern, dass die Sicherheitskräfte des Unternehmens aufhören, die Belegschaft zu schlagen. Beschäftigte haben keine Gelegenheit, während der Arbeitszeit zu trinken und dürfen nur alle vier Stunden die Toilette aufsuchen.

 EU Rund 7000 Kolleginnen und Kollegen aus mehreren Mitgliedsstaaten der EU gingen am 21. Juni in Luxemburg auf die Straße. Sie protestierten dagegen, dass sie für die EUSchuldenkrise in Form von Sozialkürzungen haftbar gemacht werden sollen. »Die Regierungen haben Geld, um Banken zu retten. Aber für Soziales ist angeblich keines da«, kritisierten die Demonstranten. Zum Protest aufgerufen hatte der Europäische Gewerkschaftsbund.

tüRkEi

Zehntausende gegen Atomkraft Aus den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima hat die türkische Regierung nichts gelernt. So soll im südtürkischen Akkuyu im Jahr 2013 das erste Atomkraftwerk des Landes gebaut werden. Der dafür gewählte Standort liegt nur wenige Kilometer von einer gefährlichen Erdbebenspalte entfernt. Gegen den geplanten Bau haben am 17. April zehntausende Menschen protestiert, indem sie eine 159 Kilometer lange Menschenkette zwischen den beiden Städten Gülnar und Mersin bildeten. Unter der Losung »Wir sind das Volk – wir wollen keine Atomkraftwerke!« hatte das Bündnis »Nükleer Karsiti Platformu« (»Plattform gegen Atomkraftwerke«, nukleerkarsitiplatform.net) zum Protest aufgerufen. MetiN KaYa

WELTWEITER WIDERSTAND

Kämpfen wie in Kairo

NEWS

49 ˇ


»Es geht um mehr als Gaza« Ende Juni wird eine Flotte von fast 20 Schiffen versuchen, die israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Unser Gesprächspartner Aksel Hagen, Abgeordneter der norwegischen Sozialistischen Linkspartei, wird dabei sein

A

ksel, warum hast du dich entschlossen, an der diesjährigen Gaza-Flotte teilzunehmen? Als Abgeordneter halte ich es für wichtig, einen Teil meiner Zeit auch Auslandsthemen zu widmen. Norwegen ist ein kleines Land. Unsere Wirtschaft ist sehr international ausgerichtet. Es ist undenkbar, als Politiker nur auf nationaler oder regionaler Ebene zu agieren. Ich interessiere mich seit langer Zeit für den Konflikt zwischen Israel und Palästina. In den vergangenen Jahren hatten wir viele Studentinnen und Studenten aus Palästina in unserem Haus. Sie haben es mir vor zwei Jahren ermöglicht, Ramallah im Westjordanland zu besuchen. Dort habe ich unvergessliche Eindrücke gewonnen von den Geschichten, die man normalerweise nur in den Zeitungen liest. Am nachhaltigsten wirken die Checkpoints auf mich, wo ich jeden Tag erleben konnte, wie unterschiedlich die israelischen Soldaten uns aus Norwegen und unsere palästinensischen Freunde behandelten. Als sich also diesmal die Gelegenheit bot, waren meine Freunde und ich der Ansicht, dass ich an der Flotte teilnehmen sollte.

I

st die Flotte nicht inzwischen überflüssig? Ägypten hat kürzlich in Rafah den Grenzübergang nach Gaza geöffnet. Die Türkei hat entschieden, kein Schiff zu schicken. Für mich ist die Flotte eine politische Aussage zur Lage der Palästinenser. Es ist richtig, dass die Grenze zwischen Ägypten und Gaza jetzt � eingeschränkt � geöffnet ist,

50

AKSEL HAGEN

aber die Grenze zwischen Israel und Gaza nicht. Es geht nicht nur um Gaza, das ist ein Teil davon. Es geht auch nicht nur um Palästina, denn die Lage ist auch für die Israelis schwierig. Beide leiden unter der jetzigen Situation. Ich bin nicht gegen die Israelis, ich bin gegen die offizielle Politik Israels.

N

Aksel Hagen wurde im Jahr 2009 als einer von elf Abgeordneten für die Sosialistisk Venstreparti (Sozialistische Linkspartei) in das norwegische Parlament gewählt. Er ist Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Kirchenfragen und setzt sich dort unter anderem für die Abschaffung der Hausaufgaben in der Grundschule ein. Die Sozialistische Linkspartei wurde 1975 als linke Alternative zur sozialdemokratischen Norwegischen Arbeiterpartei gegründet. Sie hat knapp 10.000 Mitglieder.

achdem das israelische Militär im vergangenen Jahr neun Menschen an Bord der Flotte erschossen hat, wurde viel über den Charakter der Flotte geredet. Es wurde behauptet, sie sei von türkischen Islamisten organisiert und teilweise von Faschisten finanziert. Wer steht hinter der jetzigen Flotte? Ich weiß, was im vergangenen Jahr passiert ist. Ich weiß auch, dass es verschiedene Versionen der Ereignisse gibt. Meiner Erfahrung nach kann ich sagen, dass die Flotte sehr gut organisiert ist. Dahinter steht ein breites Spektrum von Leuten aus seriösen Organisationen. Sie unterstreichen, dass es wichtig ist, gewaltfrei zu bleiben und die Menschenrechte zu achten.

K

ann die Linke bei einer solchen Kampagne auch mit Islamisten zusammenarbeiten? Ich habe kein Problem mit Religionen, egal welchen. Wenn du dabei aber an extremere Gruppierungen denkst: So weit ich weiß, nimmt keine extremistische Gruppe an der Flotte teil. Das norwegische Schiff ist mit keiner politischen Partei verbunden. Viele der Organisatoren sind vom Palästinakomitee, das seit vielen Jahren aktiv ist. Die meisten


Hinter der Flotte steht ein breites Spektrum von Personen aus seriösen Organisationen

Mitglieder sind auch Linke, aber es gibt auch Leute von konservativeren Gruppen. Zusätzlich zum Palästinakomitee gibt es ein paar Gewerkschafter und ein paar Medienleute.

E

rwartest du in diesem Jahr einen erneuten Zusammenstoß mit dem israelischen Staat? Ich weiß es nicht. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass die Israelis sagen, sie würden die Flotte anhalten und dass sie fürchten, es könne zu Gewalt kommen. Die norwegische Regierung hat ebenfalls gesagt, es könne zu Gewaltakten kommen. Aber ich denke, das ist wohl Teil der politi-

schen Diskussion. Die Israelis wollen verhindern, dass die Flotte in See sticht. Sie versuchen uns Angst einzujagen. Aber ich habe keine Angst. Ich denke, wenn sie uns aufhalten, dann mit friedlichen Mitteln. In diesem Jahr ist die Diskussion über den Nahen Osten sehr viel dynamischer. Die Entwicklungen in den Nachbarländern erschweren es Israel, weiterzumachen wie zuvor. Es wird immer schwieriger der restlichen Welt zu erklären, dass es keine Lösung geben soll. Israel muss sich verstärkt nach Unterstützung umsehen. Die Fragen stellte Jan Maas

INTERNATIONALES

© Carlos Latuff

51


E

in historischer Moment stehe an, meint der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas. Im Herbst soll ein unabhängiger palästinensischer Staat ausgerufen werden. Zur Vorbereitung dieses Schrittes haben die maßgeblichen politischen Kräfte auf palästinensischer Seite, Fatah und Hamas, Verhandlungen aufgenommen. Die Erwartungen an die Staatsgründung sind hoch – vor allen Dingen natürlich bei den Palästinensern, die sich eine Verbesserung ihrer katastrophalen Lebens-

52

umstände versprechen. Auch der überwältigenden Mehrheit der deutschen Linken gilt eine palästinensische Staatsgründung als ein, wenn nicht der entscheidende Schritt zum Frieden. DIE LINKE im Bundestag erklärt: »Frieden und Gerechtigkeit auf Dauer für Israel und Palästina setzt eine Zwei-Staaten-Lösung voraus«. Daher fordert die Fraktion die Bundesregierung auf, »im UN-Sicherheitsrat und in der UN-Vollversammlung die Proklamation des Staates Palästinas auf der Grundlage der Grenzen von 1967 zu unterstützen und für seine Aufnahme in die Organisation der Vereinten Nationen einzutreten«. Selbst der Papst ließ bei einem Treffen mit Abbas durchblicken, dass er die Gründung eines Palästinenserstaates unterstützt.


Trügerische Hoffnung Im Herbst wollen die Palästinenser ihren eigenen Staat ausrufen. Ein historischer Schritt zum Frieden oder reine Symbolik?

Der Begriff »Staat« ist für eine politisch nicht souveräne, ökonomisch nicht lebensfähige und von Militär besetze Verwaltungseinheit doch sehr hoch gegriffen

Doch die großen Hoffnungen könnten sich als trügerisch erweisen. Es ist höchst zweifelhaft, dass die Ausrufung des Palästinenserstaates den großen Durchbruch darstellen wird, den sich viele erhoffen. Zunächst muss man festhalten, dass die Gründung eines eigenen Staates auf dem jetzigen Territorium ein enormes Zugeständnis der Palästinenser wäre. Die UN-Resolution 181, die im November 1947 erlassen wurde, sah vor, dass auf dem Gebiet des damaligen britischen Mandatsgebiets zwei unabhängige Staaten gegründet werden sollten. Dabei wurde Israel eine Fläche von 56 Prozent und Palästina immerhin noch ein Gebiet von 44 Prozent zugesprochen. Nach Krieg, Besatzung und illegalem Siedlungsbau durch den israelischen Staat haben sich die ursprünglichen Gren-

INTERNATIONALES

© mozzoom / flickr.com

Von Stefan Ziefle

53


© Michael Loadenthal

Mal wieder warten: Checkpoints machen einfache Reisen wie Verwandtschafts- oder Krankenhausbesuche zu kräftezehrenden Abenteuern

Die israelische Regierung hat verkündet, dass sie einen palästinensischen Staat nicht anerkennen würde

zen in den vergangenen 62 Jahren massiv verschoben. Die gegenwärtig geplante Staatsgründung umfasst nur noch 22 Prozent des ursprünglichen Territoriums. Die politische Führung der Palästinenser ist zu diesem Zugeständnis bereit: Die PLO hat bereits im Jahr 1988 den Staat Israel in den Grenzen von 1967 anerkannt. Auch die im Gazastreifen herrschende Hamas hat im Dezember vergangenen Jahres verlautbaren lassen, dass sie grundsätzlich bereit sei, die Gründung eines Palästinenserstaates in den Grenzen aus der Zeit vor dem Sechstagekrieg von 1967 zu akzeptieren, wenn die Mehrheit der Palästinenser in einem Referendum dafür stimmen würde. Doch die Gegenseite blockiert: Die israelische Regierung hat verkündet, dass sie einen palästinensischen Staat nicht anerkennen würde, vor allem nicht in den Grenzen von 1967. Betrachtet man die israelische Po-

54

litik der letzten Jahrzehnte, dann ist das folgerichtig. Das Bestreben aller Regierungen seit der Eroberung des Westjordanlandes 1967 war und ist es, dieses Territorium möglichst vollständig einzugliedern. Je nach politischer Richtung geschieht dies mit unterschiedlichen Argumenten. Mal ist es zur Sicherheit Israels erforderlich, mal benötigt man mehr Platz für jüdische Einwanderer und mal handelt es sich einfach um altes biblisches Land, das Gott dem jüdischen Volk gegeben hätte. In den letzten 44 Jahren hat Israel das Westjordanland mit Siedlungen, Straßen und Militärstationen überzogen. Ziel war es, das Territorium mit dem Kernland untrennbar zu verschmelzen. Nach dem Scheitern der Nahostverhandlungen in Madrid Anfang der 1990er Jahre erklärte der damalige israelische Premierminister Jitzchak Schamir seine Verhandlungstaktik: »Ich hätte die Autonomiegespräche zehn Jahre lang fortgesetzt und in der Zwischenzeit hätten wir eine halbe Million Menschen in Judäa und Samaria (Westjordanland) angesiedelt.« Jetzt, zwanzig Jahre später, leben rund eine halbe Millionen Siedler in Ostjerusalem und im Westjor­ danland. Die Verhandlungen der letzten zwei Dekaden haben der israelischen Regierung die Zeit gegeben, Fakten zu schaffen und die besetzten Gebiete unumkehrbar an Israel anzuschließen. Dieser Prozess geht täglich weiter. Mittlerweile gibt es im Westjordanland, das etwa doppelt so groß ist wie das Saarland, 124 offizielle israelische Siedlungen plus etwa einhundert sogenannte Außenposten. In und um Jerusalem kommen noch zwölf größere Siedlungsblöcke hinzu, die die palästinensischen Stadtteile vollständig vom Westjordanland abtrennen. Die Wachstumsrate der Siedlerbevölkerung liegt aktuell bei 5,3 Prozent pro Jahr. Das Bevölkerungswachstum in Israel insgesamt liegt nur bei 1,8 Prozent. Der Zuzug von Siedlern wird von der israelischen Regierung durch verschiedene Anreize gefördert, wie zum Beispiel Steuererleichterungen und eine besonders gut ausgebaute soziale Infrastruktur. Für diese weiterhin wachsenden Siedlungen und das Straßennetz, das nur die Siedler und die Armee benutzen dürfen, hat Israel etwa die Hälfte des Westjordanlandes enteignet. Das betrifft besonders Gebiete wie das Jordantal und die Region nordwestlich von Jerusalem, in denen sich die wesentlichen Wasserquellen befinden. Die Siedlungen östlich Jerusalems teilen das Westjordanland in einen nicht mehr verbundenen Norden und Süden. Die Palästinenser sind in ihren Städten eingesperrt, meistens im wahrsten Sinne des Wortes durch die in den letzten zehn Jahren errichtete Mauer. Ganze Städte, wie Qalqiliya, sind vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Daran wird auch eine Staatsausrufung nichts ändern: Angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse


vor Ort ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Siedlungen abgebaut werden – egal, was die UN-Vollversammlung beschließt. Wer sollte die zehntausenden in Milizen organisierten bewaffneten radikalen Siedler zwingen, nach Israel zurückzukehren? Die israelische Armee wird dazu nicht bereit sein – und die palästinensische Autonomiebehörde nicht in der Lage. Die Palästinenser würden also auch nach einer Staatsausrufung in der Westbank eine rechtlose, sich selbst verwaltende, von der UN finanzierte Personengruppe bleiben. Der Begriff »Staat« ist für eine politisch nicht souveräne, ökonomisch nicht lebensfähige und von Militär besetzte Verwaltungseinheit doch sehr hoch gegriffen. Das Ziel, langfristig die palästinensischen Gebiete an Israel anzugliedern, ist der eine Grund, weshalb die israelische Regierung sich weigern wird, mit einem palästinensischen Staat zu verhandeln. Ein anderer Grund ist, dass eine palästinensische Staatsgründung an den Grundfesten des Selbstverständnisses des israelischen Staates rütteln würde. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nutzte im Mai seinen Besuch in Washington zu einer Rede vor dem Kongress, die an Klarheit kaum zu überbieten war. Dort sagte er, der Konflikt sei »niemals um die Gründung eines palästinensischen Staates« gegangen. »Es ging immer um die Existenz eines jüdischen Staates.« Es geht Netanjahu um die Anerkennung Israels als »jüdischer Staat«. Es ist Staatsräson in Israel, dass die klare Bevölkerungsmehrheit die jüdische Konfession besitzen soll und dass die Staatsbürger mit dem Vermerk »jüdisch« im Pass auch privilegiert gegenüber den nichtjüdischen Staatsbürgern sind. Rund zwanzig Prozent der Bevölkerung sind nichtjüdisch, sogenannte »arabische Israelis«. Theodor Or, ehemaliger Richter des Obersten Gerichtshofs, schrieb im Jahr 2000 im Bericht einer vom Staat eingesetzten Kommission zur Untersuchung der Situation arabischer Israelis: »Die arabischen Bürger Israels leben in einer Realität, in der sie Diskriminierung als Araber erleben. Diese Ungleichbehandlung wurde in zahlreichen professionellen Umfragen und Studien dokumentiert und in Gerichtsbeschlüssen und Regierungsresolutionen bestätigt. Sie spiegelt sich auch in vielen offiziellen Berichten und Dokumenten wider. Die jüdische Bevölkerungsmehrheit ist sich dieser Diskriminierung oft kaum bewusst, doch für die Einstellungen und Gefühle der arabischen Bürger spielt sie eine zentrale Rolle. Sowohl im arabischen Sektor als auch außerhalb ist diese Diskriminierung weitgehend verbreitet und ist nach offiziellen Einschätzungen eine wesentliche Quelle der Verärgerung.« Diese Zustände wären sehr schwer aufrechtzuerhalten, wenn sich die Bevölkerungsmehrheit zugunsten der nichtjüdischen Bevölkerung verschieben würde. Deshalb verwehrt der israelische Staat den etwa 3,5 Millionen palästinensischen Flüchtlingen im Aus-

land und ihren Nachkommen das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat. Ein anderer Grund ist natürlich, dass die Anerkennung des Rückkehrrechts der Flüchtlinge seitens des israelischen Staates auch ein Eingeständnis für die Verantwortung für deren Vertreibung bedeuten würde. Deshalb sagte Staatsgründer Ben Gurion schon im Juni 1948: »Sie haben verloren und sind geflohen. Ihre Rückkehr muss nun verhindert werden. Und ich werde ihre Rückkehr auch nach dem Krieg verhindern.« Es ist absehbar, dass jede Verhandlung an diesem Punkt scheitern wird. Denn der Verzicht auf das

DIE LINKE sollte für die Anerkennung eines palästinensischen Staates argumentieren Rückkehrrecht von Seiten der Palästinenser wäre eine nachträgliche Legitimierung der Vertreibungen. Jede israelische Regierung sähe sich dadurch ermutigt, mit Vertreibungen, weiterem Siedlungsbau und Diskriminierung fortzufahren – man kann von Abbas und der Hamas schwerlich verlangen, das zu legitimieren. Trotz all dieser Bedenken: Wenn eine palästinensische Staatsgründung der absehbare Mehrheitswille der palästinensischen Bevölkerung ist, dann sollte DIE LINKE für die Anerkennung eines palästinensischen Staates durch UN, die Bundesregierung und andere Staaten argumentieren. Eine Anerkennung des Staates Palästinas würde, bei allen Fragezeichen und Problemen, auch auf der juristischen Ebene die Möglichkeiten verbessern, die Besatzung zu bekämpfen. Denn die Bewegung in den arabischen Ländern hat bereits heute einiges in der Region verändert. Die nun stattfindenden Gespräche zwischen PLO und Hamas resultieren aus dem Druck, den die palästinensische Zivilgesellschaft auf die Politik ausübt, endlich handlungsfähig zu werden und Verbesserungen für das Leben der Palästinenser zu erreichen. Die Flüchtlinge, die zu Hunderttausenden in Lagern im Libanon, Syrien und Jordanien leben, waren fast in Vergessenheit geraten. Auch sie haben sich wieder kraftvoll zu Wort gemeldet. Mit dem gewaltfreien Marsch von Zehntausenden auf die israelische Grenze haben sie ihren Anspruch betont, endlich eine Lösung ihrer Probleme zu erhalten. Die Gaza-Flotte im vergangenen Jahr sowie die internationalen Kampagnen gegen Profiteure der Besatzung haben die israelische Regierung international in die Defensive gebracht. Die Debatte um die Anerkennung des Palästinenserstaats wird die Zwangslage der Palästinenser auf die Tagesordnung setzen und hoffentlich den Kampagnen für einen gerechten Frieden weiter Auftrieb geben. ■

★ ★★

StefaN Ziefle ist einer der Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik der LINKEN.

55


PReSSeSCHAU Zahlreiche Zeitungen berichteten über unseren Kongress »Marx is’ muss 2011«. Hier ein kleiner Überblick

Tagesspiegel, 03.06.2011 Links, linker, Lafontaine! Ein Manch st war en in der tei hatte es ver er SPD-Chef, späPar ter Chef der Links-wundert, dass sich Laf ont ain e aus partei. Jetzt will Oskar Laf ontaine gerech net bei marx21 aufs Pod ium (67) offenbar alle beide link setzt. über(...) Lafont e selbst sma cht holen: Er sprach ain m Kongress des gleich klar, dass erbei nic ht sein en Auf Ver s »marx21« in Kreuzb tritt ein erg als merkwürdig findet, sonder n die Redner. (...) Fast 13 Jahre ist Fragen danach. wegen es Unher ter-, dass Neu-KanzlerVon Gerhard Schröder wanderung. Einflus snahme sei in seine SPD zur »neuen te« und Parteie n normal, er übe Mit ja auch Laf zum Finanzministesie r machte. aus.oUn d wenn Sigmar Gab Doch der rote Oskar legte riel die sein ReReform er der Lin zu sich holen gierungsamt baldken Streit nieder – wolle, dann sei derimSPD -Ch ef und rückt seither immer wei wohl auch ein ter an »verkappter Trotzkist«? Geden politischen Ran d. lächter. Berliner Kurier, 04.06.201 1

soll an diesem Die Systemfrage rden. Zunächst Abend gestellt we dem Sportplatz aber werden auf tteil Kreuzberg im Berliner Stad T-Shirts verganz kapitalistisch Karl Marx, vierkauft. Sie zeigen im Andy-Warfach und bunt n Sprüche wie hol-Stil, oder trage oder »Make Ca»Anti-Capitalist« (...) Der Titel pitalism History«. das Wortspiel des Kongresses, flattert als Ban»Marx is Muss«, r Faust in den ner mit stilisierte Oskar LafonAbendhimmel, als betritt. Für den taine die Bühne r Linken ist der Ex-Parteichef de spiel. Auftritt ein Heim 11 Die Welt, 03.06.20 56

Manchen in der Partei hatte es verwundert, dass sich Lafontaine ausgerechnet bei marx21 aufs Podium setzt. (...) Lafontaine selbst macht gleich klar, dass er nicht seinen Auftritt merkwürdig findet, sondern die Fragen danach. Von wegen Unterwanderung. Einflussnahme sei in Parteien normal, er übe sie ja auch aus. Und wenn Sigmar Gabriel die Reformer der Linken zu sich holen wolle, dann sei der SPD-Chef wohl auch ein »verkappter Trotzkist«? Gelächter. Tagesspiegel, 03.06.2011

m und dem Studiu lt ga « ss u m Jng. Hunitunter ins FD verständigu m st lb ch si Se e lt er h d zialistiMan fü r zuisten der so arteilehrjah iv P kt A er od te er n d Studie als hen und mmunistisc ur dass dam ko N . , zt en et h rs sc rückve der waren in kis Theorie aftsjugend tz ch ro ks T er er b ew ü G nicht von um Ideen tadt geeilt, Revolution« ts p n au te H en ie an d »Perm nicht Welt zu dederung der t und auch än er ti er V at r eb zu d 1905 rde. (...) d gestillt wu battieren. « 6.2011 gehäkelt un chland, 04.0 von »Marx 21 es d ag T e st Neues Deuts ’ is Der er x ar ongresses »M initiierten K

Vermutlich müs ste man der Linkspartei den Glauben an den Parlamenta rismus ausreden. In diese Rich tung gingen auch die Äußeru ngen von Janine Wissler, die für die Linkspartei im hess ischen Landtag sitzt. Die Gr oßkonzerne müssten zerschla gen werden,

gesellschaftlicher Fortschritt werde nur durc h Revolutionen erreicht. Da s hatte man alles schon sehr oft gehört, doch für eine Abgeordnete einer reformerisc h orientierten Partei war da s erfrischend kämpferisch. junge Welt, 06.0 6.2011


Lafontaine bei den Trotzkisten? Das erinnerte ein bisschen an den Fehltritt, den sich Linkenchefin Gesine Lötzsch zu Jahresbeginn geleistet hatte, indem sie auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz

verschwurbelt »Wege zum Kommunismus« skizzierte. (...) Lafontaine kommt gleich selbst darauf zu sprechen. Nirgendwo, wettert er, sei die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus »so be-

schränkt wie in Deutschland«. Andernorts assoziiere man mit dem Begriff tapferen Widerstand gegen undemokratische Verhältnisse – hierzulande dagegen nur Stacheldraht. Berliner Zeitung, 03.06.2011

Save

THe DATe

HIMMeLfaHRT

MaRX IS MuSS

KONGReSS BeRLIN 17. Mai bis 20. Mai marxismuss.de

tem g, langem A ter Erfahrun ne mat is e Si « . n Augen k »Marx 21 und blitzende Das Netzwer nen ei ut de nz Konfere r Radikalen en auf der ch er der Motor de ab in , t« ck Eindru . Er »brumm unabhängigen ischen Linken ad R al e st di an er irkung: Marxismus-V igen auch W ze s al allen r neh U m n, cht sie h Referente le Linke brau ka tungen durc ie D ..) d Werber. (. Marx (...). terstützer un 6.2011 ich sind tatsächl taz-Blog, 09.0 r« re ge ei w »Ver ch ei ez ute mit ausg Profis, Fachle

Im derzeit tobenden innerparteilichen Programmkampf gelang ihnen bei »Marx is Muss« ein Coup. Als Eröffnungsredner war Oskar Lafontaine geladen. Der setzte in seiner Grundsatzrede deutliche Signale für die ganz klare Kante: für Fundamentalopposition und gegen die ostdeutsche Regierungsbeteiligungslinke. marx21 sammelt für diese Linie die Truppen und rockt mit Slavoj Žižek das Haus. Der Freitag, 09.06.2011

★ ★★ WeiteRleSeN Auf marx21.de findest du die Videos, Reden und Berichte vom Kongress in voller Länge. Fotografiere den QR-Code mit deinem Smartphone ab, um direkt online weitergeleitet zu werden.

INTERNATIONALES

2012

In der netzwerkeigenen und inzwischen recht fluffig-kulturalistisch daherkommenden Zeitschrift marx21 wird freundlich über Ken Loach oder Stéphane Hessel geschrieben, es kommen Figuren mit viel kulturellem Kapital wie Dath und Žižek zu Wort, während zugleich Veteranen wie Elmar Altvater oder Arno Klönne neben Sahra Wagenknecht und Hans Modrow publizieren. Die Leute von marx21 sind (...) Virtuosen der Vernetzung.

57


Serie: Was will marx21? Mit der Serie »Was will marx21« möchten wir n des die politischen Grundlage ellen. marx21-Netzwerks vorst könDiesmal fragen wir: Wie ckung nen wir Frauenunterdrü beenden?

Über die Quote hinaus Mehr Frauen in den Chefetagen? Das bringt ihren Geschlechtsgenossinnen aus der Arbeiterklasse wenig. Frauenbefreiung erfordert weitaus tiefgreifendere gesellschaftliche Veränderung. Teil 7 der Serie

nfang dieses Jahres wurde eine vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebene Studie zur Chancengleichheit von Frauen und Männern veröffentlicht. Die Ergebnisse zeigen drastisch die Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Die Maßnahmen, die die Kommission zur Verbesserung der Situation vorschlägt, weisen in eine Richtung, die der schwarz-gelben Regierungspolitik entgegengesetzt ist. Zwar ist mittlerweile die Mehrheit der Frauen erwerbstätig, aber zu deutlich schlechteren Bedingungen als Männer: Sie arbeiten seltener Vollzeit, zu geringerem Stundenlohn und häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die Lohnkluft zwischen Männern und Frauen ist in Deutschland mit 23 Prozent so hoch wie in kaum einem anderen europäischen Land. Mehr als zwei Drittel derjenigen, die in Deutschland zu Niedriglöhnen arbeiten, sind Frauen. Die Kommission schlägt daher unter anderem vor, dass ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird, auf Minijobs die vollen Sozialbeiträge entfallen und dass Tarifverträge allgemein verbindlich werden sollen. Schwarz-Gelb lehnt diese Forderungen ab. Das Einzige, über das die Regierung derzeit öffentlich diskutiert, ist der Ruf nach einer Quote für Führungspositionen in der Wirtschaft. Tatsächlich sind Frauen in

58

den Chefetagen der Großkonzerne kaum vertreten: In den Vorständen der 100 wichtigsten Konzerne betrug der Frauenanteil im vergangenen Jahr nur 2,2 Prozent. Während die ehemalige Familienministerin Ursula von der Leyen noch eine verbindliche Quote für Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen verlangte, ist die aktuelle Familienministerin Kristina Schröder gegen einen festen Schlüssel. Stattdessen plädiert sie für eine flexible Regelung, bei der sich die Unternehmen eigene Quotenziele setzen können. Der Koalitionspartner FDP lehnt die Frauenquote für Chefetagen gänzlich ab, weil sie einen unzulässigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit darstelle. Die Debatte über die Quote ist längst überfällig. Doch auch durch eine solche Regelung bessert sich die Situation der Mehrheit der erwerbstätigen Frauen nicht. Eine Verkäuferin bei Schlecker hat nichts davon, wenn sie nun von einer Chefin erklärt bekommt, warum der Mindestlohn dem Unternehmen schade. Wir sind deswegen nicht gegen die Einführung einer solchen Quote (DIE LINKE fordert eine 50-ProzentQuote für Führungspositionen), aber wir müssen unseren Schwerpunkt in der Diskussion über Frauenförderung auf die Bedürfnisse der Frauen aus der Arbeiterklasse legen. Wir können dabei an die Tradition der proletarischen Frauenbewegung anknüpfen, die den Kampf für die Befreiung der Frau als untrennbaren Teil des Klassen-


kampfes für eine sozialistische Gesellschaft verstand. Rosa Luxemburgs Ausspruch »Kein Sozialismus ohne Demokratie, keine Demokratie ohne Sozialismus« ließe sich abwandeln in: »Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung«. Der Kapitalismus ist eine Klassengesellschaft und kann ohne Ausbeutung und damit einhergehende Unterdrückung nicht funktionieren. Doch diese Umstände bedeuten nicht, dass wir warten, bis der Kapitalismus abgeschafft ist. Ohne im Hier und Jetzt das Los der unterdrückten und ausgebeuteten Frauen zu verändern und sie zu ermutigen, politisch und gewerkschaftlich aktiv zu werden und sich zu wehren, werden wir nie eine Massenbewegung aufbauen, die den Sozialismus erkämpfen kann. Der Kampf um Reformen war in der marxistischen Tradition immer zentral. Dieses Erbe sollten wir wieder entdecken. Entscheidend für den sozialistischen Ansatz ist, dass wir den Kampf für Frauenbefreiung aus einer Klassenperspektive betrachten und nicht als Geschlechterkampf aller Frauen gegen alle Männer. Von der Unterdrückung der Frauen profitieren die Herrschenden, die zum einen durch die niedrigeren Frauenlöhne und die Prekarisierung der gesamten Arbeitswelt die Ausbeutungsrate steigern. Zum anderen entlastet es das Kapital finanziell, wenn die Reproduktionsleistungen privat organisiert werden (sprich: die unbezahlten Arbeiten in Haushalt und Familie, wie Kindererziehung oder Altenpflege). Die Männer aus der Arbeiterklasse profitieren hingegen nicht davon, wenn Löhne gedrückt werden und der Stress in der Familie zunimmt. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass es nicht auch sexistisches Verhalten bei Männern der Arbeiterklasse gibt. Davon wird im nächsten Abschnitt die Rede sein. Die Orientierung auf die Kämpfe der Arbeiterbewegung bietet aus mehreren Gründen eine Perspektive für die Frauenbefreiung. Die Arbeiterklasse hat zum einen das Potenzial, Sexismus entgegenzutreten. Zum anderen kann sie durch ihre kollektiven Kämpfe eine völlig andere Gesellschaft begründen. Frauen sind heute integraler Bestandteil der Arbeiterklasse, die Mehrheit der Frauen ist erwerbstätig.

Erstens hat die Arbeiterklasse potenziell große wirtschaftliche Macht, weil die Gesellschaft nicht funktionieren kann, wenn Arbeiterinnen und Arbeiter die Arbeit niederlegen. Zweitens führt der Kapitalismus mit seinen Angriffen auf den Lebensstandard die Arbeiterklasse in ihrem Widerstand zusammen. Arbeiterinnen und Arbeiter müssen in großen Betrieben miteinander kooperieren und die einzige Möglichkeit, ihre Interessen zu verteidigen, besteht in der gemeinschaftlichen Organisation. Wenn eine Beschäftigte der Telekom oder in einem Krankenhaus eine Lohnerhöhung möchte, ist es selten der beste Weg, sich persönlich an die Geschäftsführung zu wenden. Erfolgversprechender ist es, wenn die Beschäftigten, Männer wie Frauen, dem Management als Masse gegenübertreten, durch ihre Kollektivorganisationen, die Gewerkschaften. Die Arbeiterklasse ist gezwungen, vorhandene sexistische oder rassistische Spaltungen zu überwinden, wenn sie kollektive Stärke in den Auseinandersetzungen gewinnen will. Kein anderer Teil der Gesellschaft hat ein solches Potenzial. Sozialisten halten die Arbeiterklasse also nicht deshalb für ein Mittel der Veränderung, weil sie im Hier und Jetzt vorurteilsfreier, netter oder sozialistischer wäre, sondern weil der Druck zur Einheit in ihrer Klasse erst die Be-

Eine Ikone: »Rosie the Riveter« (»Rosie die Nieterin«), Sinnbild für Frauen, die im Zweiten Weltkrieg in der Industrie arbeiteten. Als Konservative nach dem Krieg Frauen wieder am Herd sehen wollten, wurde Rosie zum Symbol des Feminismus

59


dingungen schafft, die bestehenden gesellschaftlichen Vorurteile abzubauen. Wir sprechen hier von einem Potenzial der Arbeiterklasse, nicht davon, dass alle Lohnabhängigen zu jeder Zeit kollektiv gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen bereit sind. Tatsächlich ist die Arbeiterklasse nicht immun gegen sexistische Ideen, Vorurteile und geschlechtsspezifische Rollenklischees – vor allem in Zeiten ohne größere soziale Kämpfe. Eine lange Tradition von materieller Abhängigkeit eines Geschlechts vom anderen hat starke Auswirkungen auf das grundsätzliche Rollenbild von Frauen und Männern. Frauenunterdrückung wurzelt zwar in den materiellen Verhältnissen des Kapitalismus, hat aber nicht nur einen ökonomischen Charakter. Sexismus durchdringt alle gesellschaftlichen Bereiche. Um ihr revolutionäres Potenzial zu entfalten, muss die Arbeiterklasse solche Spaltungen überwinden und gemeinsam kämpfen. Es ist die Aufgabe einer sozialistischen Organisation, für die größtmögliche Einheit der Klasse einzutreten und in den verschiedenen Bewegungen gegen alle Formen von Unterdrückung zu kämpfen. Eine sozialistische Organisation darf dem Druck von rückschrittlichen Ideen nicht nachgeben: Ein männlicher Sozialist muss noch entschiedener gegen Diskriminierung und Sexismus auftreten als seine Genossinnen. Eine Organisation, die sich die Überwindung der Frauenunterdrückung zum Ziel gesetzt hat, muss selbst schon eine Organisation sein, in der sich Frauen wohlfühlen und sich gerne politisch engagieren. Es bedarf dafür besonderer Anstrengungen, damit die gesellschaftlichen Ungleichheiten nicht einfach in der politischen Arbeit reproduziert werden. Ziel der sozialistischen Organisation ist schließlich, die Selbstemanzipation der lohnabhängigen Klasse zu befördern – »die sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen will« (Gramsci). Schulung, Ausbildung und Befähigung der Mitglieder in allen dafür notwendigen Aspekten sind die zentralen Aufgaben.

Gesellschaften mit stark traditionalistischen Rollenbildern in den Massenmobilisierungen und Streiks Frauen an vorderster Front der Kämpfe stehen. So berichtete in der letzten Ausgabe von marx21 die ägyptische Sozialistin und Bloggerin Gigi Ibrahim über ihre Erfahrungen in der Bewegung: »Diskriminierung und sexuelle Belästigung von Frauen sind fest in der ägyptischen Alltagskultur verankert. Überall und ständig werden wir angemacht (...) Doch seit Beginn der Revolution ist das anders. Während der 18 Tage, die ich auf dem Tahrir-Platz verbrachte, wurde ich kein einziges Mal sexuell belästigt (…). Wir Frauen spielten eine zentrale Rolle bei den Protesten. Wir demonstrierten, wir stellten uns dem Tränengas und den Kugeln.« Das bisher weitestgehende Beispiel für eine solche Massenbewegung war die Russische Revolution im Jahr 1917. Erstmalig in der Geschichte machte es sich eine Regierung zur Aufgabe, die Gleichstellung der Frau ökonomisch, politisch und sexuell zu verwirklichen. Neben dem Achtstundentag und der Gleichstellung der Frauen bei den Löhnen wurde der Mutterschutz eingeführt, Scheidungen wurden ermöglicht und Abtreibungen legalisiert. Zudem richtete die neue Sowjetregierung kommunale Restaurants, Wäschereien, Kinderkrippen und Kindergärten ein, mit denen die Frauen von der Last der Hausarbeit befreit werden sollten. Mit dem Aufstieg des Stalinismus wurden diese Errungenschaften zunichte gemacht. Dennoch zeigen die ersten Jahre der Russischen Revolution, wie mit der Abschaffung der kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse die Voraussetzungen für die vollständige Befreiung der Frau geschaffen wurden. Revolutionäre Politik wartet nicht auf die Revolution, sondern setzt an den heutigen Widersprüchen an und kämpft im Hier und Jetzt für Verbesserungen. Gesellschaftssprengende Dynamik entfaltet sich aus diesen konkreten Kämpfen. Wichtige Forderungen der Linken heute sind: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung sowie der Altenpflege, kostenlose Kitas, Weg mit Hartz IV und ein Mindestlohn von 10 Euro. Soziale Forderungen stellen einen Kernbestandteil sozialistischer Frauenpolitik dar, denn sie würden das Schicksal der Mehrheit der Frauen verbessern. Es ist zugleich abzusehen, dass sie nur gegen den Widerstand der Herrschenden durchzusetzen sind. Durch den gemeinsamen Kampf für konkrete Verbesserungen und Reformen kann dabei politisches Bewusstsein entstehen, das eine über das kapitalistische System hinausgehende Perspektive ermöglicht. ■

Revolutionäre warten nicht auf die Revolution, sondern kämpfen im Hier und Jetzt für Verbesserungen

★ ★★ WEITERLESEN Christine Behrens, Michael Ferschke, Katrin Schierbach: Marxismus und Frauenbefreiung (Edition Aurora 1999).

60

»Die herrschenden Ideen sind die Ideen der herrschenden Klasse«, schrieb Karl Marx. So übernehmen wir im Alltag häufig Vorstellungen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen mit ihrer Konkurrenz, dem Egoismus und den geschlechtlichen Rollenbildern naturgegeben und unveränderlich seien. Ein Blick auf Massenbewegungen in Zeiten großer Klassenkämpfe zeigt allerdings, wie diese Vorurteile ebenso umgekrempelt werden können wie die Gesellschaft selbst. Aktuell können wir in den Demokratiebewegungen im arabischen Raum sehen, wie selbst in


WAS MACHT MARX21?

Ein Oskar für Marx Viele Besucher, interessante Diskussionen: Der Kongress »Marx is' muss 2011« machte Lust auf mehr

B

erlin-Kreuzberg an Himmelfahrt: Der Abendhimmel scheint über das zum Freiluft-Veranstaltungssaal umfunktionierte Fußballfeld. Dort sitzen und stehen 400 Besucher, um Oskar Lafontaine zuzuhören, der mit einer vielbeachteten Rede den diesjährigen »Marx is' muss«Kongress eröffnet. Die Hetzkampagne der Presse gegen DIE LINKE wehrt er ebenso elegant ab wie er zum Generalangriff auf die Grünen bläst (Auszüge aus der Rede auf Seite 18, Pressestimmen auf Seite 56). Im Publikum sind auffallend viele junge Gesichter – schon vor dem offiziellen Auftakt des

Kongresses hatten überwiegend studentische Teilnehmer im Rahmen eines Seminartags die Grundlagen marxistischer Theorie diskutiert. Dieser Faden wurde in den nächsten Tagen bei Podiumsdiskussionen, Seminaren und Buchvorstellungen weitergesponnen. Themen waren hier unter anderem der »Green New Deal«, der Aufschwung des Rechtsextremismus in Europa und die Revolutionen in der arabischen Welt. Auf große Nachfrage stieß die Stadtführung durch Berlin auf den Spuren revolutionärer Ereignisse. Den größten Andrang gab es bei der Veranstaltung zur Frage »Wie aktuell ist die kom-

toP tEN APRIL/MAI 2011 Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Rebellencombo beim Eurovision Song Contest Ist die kommunistische Idee noch aktuell? – Beiträge von Janine Wissler und Slavoj Žižek »Die Ausbeutung wird zunehmen« – Interview mit Michael Schlecht »Es ist auch ein Propagandakrieg« – Interview mit Malalai Joya Zwischen den Lagern – Auswertung der Landtagswahl in Baden-WürttembergFalsche Freunde der Revolution – NATO-Bombardement in Libyen EU-Schuldenkrise: Euro-Pakt für die Banken Kriegsvorwand Osama bin Laden außergerichtlich erschossen Libyen: Revolution am Scheideweg »Ein dickes Brett zu bohren« – DIE LINKE nach den Landtagswahlen Insgesamt waren 15.408 Besucher im Mai (10.726 im April) auf marx21.de

munistische Idee?«, die der Philosoph Slavoj Žižek, der Schriftsteller Dietmar Dath, die hessische LinksfraktionsVorsitzende Janine Wissler und der britische Marxist Alex Callinicos am Samstagabend diskutierten. Schon im Vorfeld war sie in einen größeren Raum, das Astra Kulturhaus in Friedrichshain, verlegt worden. Schließlich drängten sich 650 Personen in den überfüllten Veranstaltungssaal. Callinicos stellte bei dem Kongress auch sein Buch »Die revolutionären Ideen von Karl Marx« vor. Die Schrift, eine zugängliche Einführung in die Grundideen des Marxismus, wurde gerade vom VSA-Verlag

neu herausgegeben. marx21 konnte dementsprechend beim Kongress gleich ein Folgeangebot vorstellen: Sommerlesekreise zu Callincos’ Buch. In elf Städten wollen Unterstützer des Netzwerks und Interessierte zusammenkommen, um die einzelnen Kapitel gemeinsam zu lesen und zu diskutieren. Wer das Buch noch nicht hat, kann es bei den Lesekreisen erwerben. In Kombination mit einem marx21-Jahresabo gibt es den Band sogar kostenlos. Mehr Infos zu den Lesekreisen unter: www.marx21.de. Außerdem schon einmal vormerken: An Himmelfahrt 2012 findet der nächste »Marx is’ muss«-Kongress statt.

ONLINE aNGEkliCkt marx21.de besser nutzen:

marx21 bei Facebook

(1577)

★ plus 89 Fans in den letzten zwei Monaten (973 Fans insgesamt) ★ 90 Pinnwandeinträge, Kommentare und Verwendungen von »Gefällt mir« in den letzten vier Wochen ★ 2590 Besucher auf der Seite in den letzten vier Wochen

(580) (544) (471) (419) (413) (403) (354) (352) (340)

ABO KAMPAGNE Stand: 839 (+71)

Ziel: 1000


© Hellebardius / flickr.com

Die Teilung zementiert Vor 50 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut. Es war der Versuch der SED, ihre Parteiherrschaft zu retten. Den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs kam das durchaus gelegen Von Olaf Klenke onntag, der 13. August 1961. Um Punkt null Uhr klingelt im Hauptquartier der Nationalen Volksarmee der DDR das Telefon. Am Apparat ist Erich Honecker, der damalige Sicherheitschef der Staatspartei SED, später deren Vorsitzender. Er befiehlt dem Armeegeneral und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann: »Die Aufgabe kennst du! Marschiert!« Unverzüglich setzen sich tausende Soldaten in Bewegung. Ihre Aufgabe: jegliche Übergänge aus Ostberlin und der DDR in die westlich kontrollierte Stadthälfte Berlins abzuriegeln, um so die Schlupflöcher für den Flüchtlingsstrom zu schließen. Es werden 193 grenzüberquerende Straßen abgeriegelt, fast alle offiziellen Grenzübergangsstellen verbarrikadiert. Unterbrochen werden alle U- und S-Bahn-

62

Linien zwischen Ost und West. Die Polizei kontrolliert sogar die Einstiegsschächte der Kanalisation. Um sechs Uhr morgens ist die Grenze zwischen Ostund Westberlin abgeriegelt. Der eigentliche Bau der Berliner Mauer, des Symbols der deutschen Teilung, beginnt erst fünf Tage später. Die Mauer drückte eine Menge über das Herrschaftssystem in der DDR aus. Eine kleine Zahl von Partei- und Staatsfunktionären entschied über die Köpfe hinweg und gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Die Staatsspitze sah diese stets als Objekt, das sich ihren Plänen und Zielen unterzuordnen hatte. Mit Sozialismus oder Arbeitermacht hatte das nichts zu tun. Wie der Leipziger Elektriker Kaubitzsch 1989, im Jahr des Mauerfalls, bei einer öf-


Nach dem Kriegsende im Jahr 1945 gab es sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland einen gesellschaftlichen Aufbruch. Es bildeten sich antifaschistische Komitees, die das öffentliche Leben reorganisierten. Zudem entstand eine Betriebsrätebewegung, die mit der unheiligen Allianz zwischen Kapital und Hitlerfaschismus aufräumen wollte und den Akkordlohn infrage stellte. Viele Menschen hofften auf eine neue Gesellschaft jenseits des Profits. In Sachsen fand 1946 ein Volksentscheid statt, in dem mehr als drei Viertel für die Enteignung von »Naziund Kriegsverbrechern« stimmten. Die Entwicklung in Ost- und Westdeutschland verlief dann unterschiedlich. Im westlichen Teil Deutschlands, unter der Besatzung der USA, Großbritanniens und Frankreichs, wurde die privatkapitalistische Ordnung nicht angetastet. Alte Nazis blieben im Staatsdienst und Industrielle, die unter Hitler große Profite gemacht hatten, nahmen wieder ihre Geschäfte auf. Anders im Osten: Hier wurden Nazis aus leitenden Positionen in Verwaltung und Wirtschaft entfernt, große Teile der Wirtschaft verstaatlicht. Linke Intellektuelle wie Bertolt Brecht, Ernst Bloch und tausende Sozialisten kehrten nach der Emigration bewusst in diesen Teil des Landes zurück, weil sie dort auf ein besseres, sozialistisches Deutschland hofften. Tatsächlich trat die alte herrschende Klasse ab. Sie wurde jedoch ersetzt durch eine neue Staatspartei, die ebenso wenig an einer selbstständigen Demokratiebewegung von unten interessiert war wie die alte Machtelite. Das zeigte sich im Umgang mit den antifaschistischen Komitees. Sie wurden in Ost und West aufgelöst. Die in der DDR errichtete Parteiherrschaft gab sich einen roten Anstrich. Sie entsprach ganz dem stalinistischen System, das in der Sowjetunion nach der Isolation der russischen Revolution von 1917 entstanden war. Eine kleine Riege von Staats- und Parteifunktionären kontrollierte die Wirtschaft und zwang der Gesellschaft ihre Ziele auf. Hier gab es keinen Platz für Selbstaktivität der Massen und die Kontrolle der Gesellschaft von unten. Die Spitzenfunktionäre setzten die verstaatlichte Wirtschaft als eine Art Staatskapital ein, weshalb sich ihr System ebenso wie die ähnlich aufgebauten Gesellschaften Osteuropas als Staatskapitalismus beschreiben lässt. Für einige wenige, auch aus der Arbeiterklasse, bot das neue System Aufstiegsmöglichkeiten. Dennoch blieb es eine Klassengesellschaft, in der wie bisher ein Oben und ein Unten existierten. Um die Parteiherrschaft in der DDR zu etablieren, wurden nicht nur bürgerliche Kräfte unterdrückt, sondern

auch die von der Partei unabhängige Arbeiterbewegung und Kräfte, die für einen Sozialismus von unten stritten. Mitte 1948 zählte die SED zwei Millionen Mitglieder. Unter ihnen befanden sich viele ehemalige Sozialdemokraten und Altkommunisten, die mit dem eingeschlagenen Kurs nicht einverstanden waren. Im Herbst desselben Jahres begann die Führung mit Parteisäuberungen gegen diese »unzuverlässigen« Elemente. Nicht wenige entzogen sich der Repression durch Flucht in den Westen. Für ihr System missbrauchte die Parteiführung die Idee des Sozialismus und diskreditierte diese durch den Mauerbau. Aber wie der DDR-Flüchtling und spätere Aktivist der westdeutschen Studentenbewegung Rudi Dutschke damals sagte: »In der DDR ist alles real, bloß nicht der Sozialismus.« Zeit ihres Bestehens kämpfte die DDR mit einer Fluchtbewegung in den westlichen Teil Deutschlands. Im Jahr 1949, dem Gründungsjahr des ostdeutschen Staates, wurden 129.245 Übersiedlungen registriert. Eine Zahl, die in den darauffolgenden Jahren noch ansteigen sollte und 1953 mit 331.391 Fluchten oder Übersiedlungen ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Jedes Jahr verlor die DDR die Bevölkerung einer mittelgroßen Stadt. Das Schwanken der jährlichen Flüchtlingszahlen entsprach einem Gradmesser für die politische und soziale Krise des Systems. Die Flüchtlinge kamen aus allen Schichten. Es waren vor allem junge, qualifizierte Fachkräfte, die Hälfte davon jünger als 25 Jahre. Bis zum Mauerbau verlor die DDR 13 Prozent ihrer erwerbstätigen Bevölkerung. Neben der politischen Unterdrückung war die soziale Frage die Triebfeder der Fluchtbewegung. In der BRD wurden die Lebensmittelmarken 1950 abgeschafft, in der DDR erst acht Jahre später. Die Engpässe in der allgemeinen Versorgungslage, später auch bei höherwertigen Konsumgütern, bestanden bis zum Ende der DDR fort. Selbst in den 1970er und 1980er Jahren, als es in der Bundesrepublik erstmals zu Massenarbeitslosigkeit kam, war der westdeutsche Staat in den Augen vieler DDR-Bürger attraktiver. Folgerichtig bestand immer ein Auswanderungsdruck von Ost nach West. Den Hintergrund dafür stellten die ungleich schlechteren Ausgangs- und Rahmenbedingungen der DDRWirtschaft dar. Während der ostdeutsche Staat den Großteil der Reparationszahlungen Deutschlands aufbrachte und zugleich von der rückständigen Sowjetunion abhängig war, profitierte die BRD von den Wirtschaftshilfen des US-amerikanischen Marshallplans und der Einbindung in den westlichen Weltmarkt. Ganz anders die DDR: Sie war wie der gesamte Ostblock dem seit 1950 bestehenden Technologieembargo des Westens ausgesetzt. Auf diesem Gebiet zog der Westen als Erster eine Mauer hoch. Und als Anfang der 1950er Jahre die Reparationszahlungen zurückgingen, profitier-

★ ★★

Olaf KleNKe ist Autor von »Kampfauftrag Mikrochip. Rationalisierung und sozialer Konflikt in der DDR« (VSA-Verlag 2008).

GESCHICHTE

fentlichen Veranstaltung erklärte: »Was haben wir in den letzten 40 Jahren überhaupt für eine Gesellschaft gehabt? Ich als Arbeiter bezeichne sie als eine Diktatur unter Missbrauch der Arbeiterklasse.« Doch wie konnte es dazu kommen?

63


★ ★★ Buchtipp Klaus Kordon: »Die Flaschenpost« (Beltz Taschenbuch 1988). Matze, ein Junge aus Ostberlin, wirft Mitte der 1980er eine Flaschenpost in die Spree. Statt des erhofften Brieffreunds aus Afrika oder Amerika antwortet ihm Lika, ein Mädchen aus dem Westteil der Stadt. Den Kindern ist der jeweils andere Teil der Stadt so unbekannt wie ein fernes Land. Auf unnachahmliche Weise schildert Klaus Kordon (»Die Roten Matrosen«) die Absurdität der gespaltenen Stadt, die Verlogenheit von Politik und Moral in Ost wie West. Kordon, im Jahr 1972 bei einem Fluchtversuch aus der DDR verhaftet und anschließend von der Bundesrepublik freigekauft, veröffentlichte dieses Jugendbuch 1988. Sehr zu empfehlen, auch für Erwachsene!

64

te die DDR-Wirtschaft kaum davon, weil sie in die Rüstungsbestrebungen der Sowjetunion eingebunden wurde. Die SED versuchte diesen wirtschaftlichen Nachteil auf die Bevölkerung abzuwälzen. Noch in den frühen 1950er Jahren wurden Fleisch und Zucker rationiert und hohe Preise für diese Produkte verlangt. Im Jahr 1952 kündigte die Staatspartei an, verstärkt die Schwerindustrie auszubauen, und sperrte – mit Ausnahme Berlins – die Grenzübergänge nach Westdeutschland. Nachdem die Parteiführung im Frühjahr 1953 die Arbeitsnormen erhöht hatte, kam es im Juni zu einer spontanen Streikbewegung und Volkserhebung. Der Aufstand ging von den alten Zentren der Arbeiterbewegung aus und wuchs schnell zu einer Bewegung heran, die die Herrschaft der SED infrage stellte. Die Aufstandsbewegung wurde niedergeschlagen, aber der Unmut blieb und drückte sich in einer großen und anhaltenden Fluchtbewegung in den Westen aus. In den Jahren von 1953 bis 1961 verließen etwa zwei Millionen Menschen die DDR. Diese Entwicklung gefährdete die Existenz des ostdeutschen Staats. Als sich die wirtschaftliche Lage 1960/61 zuspitzte, nahm die Flüchtlingsbewegung wieder deutlich zu. Der Parteivorsitzende Walter Ulbricht erhöhte den Druck auf den sowjetischen Staatschef Nikita Chruschtschow. Er warnte den sowjetischen Botschafter, wenn nichts geschehe, sei

der Zusammenbruch der DDR »unvermeidlich«. Anfang Juni gab die Sowjetunion schließlich der DDR-Führung freie Hand, die Sektorengrenze nach Westberlin abzuriegeln.

»Keine sehr schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg« US-Präsident John F. Kennedy über den Mauerbau

Sowenig die SED die Mauer ohne Zustimmung der sowjetischen Besatzungsmacht bauen konnte, so wenig hätte diese ohne die Akzeptanz der westlichen Besatzungsmächte über Jahrzehnte stehen blieben können. Der Sowjetunion passte der Druck, den die SED-Führung ausübte, zunächst gar nicht. Sie hatte sich noch nicht endgültig von dem Gedanken verabschiedet, mittelfristig vielleicht doch noch das gesamte Berlin in die sowjetische Besatzungszone einzugliedern.


Rückblickend wird der Mauerbau als zweite Staatsgründung der DDR bezeichnet. Mit der vollständigen Grenzschließung übergab die sowjetische Besatzungsmacht der DDR die Hoheitsgewalt über ihre Grenzen. Vor allem der Mauerbau war für die herrschende Staatspartei ein entscheidender Schritt, um die Kräfteverhältnisse in der DDR dauerhaft zu ihren Gunsten zu verändern. Mit der Niederschlagung des Arbeiteraufstands von 1953 waren die letzten kollektiven Zusammenhänge einer unabhängigen Arbeiterbewegung zerschlagen. Nun war auch keine Abstimmung mit den Füßen mehr möglich. Diese beiden Ergebnisse schwächten die Arbeiterklasse in Ostdeutschland nachhaltig. Deutlich ablesen lässt sich das an den kleineren kollektiven Aktionen auf betrieblicher Ebene, die nach dem Mauerbau stark zurückgingen. Die Zahl der Streiks sank von jährlich über hundert auf einige wenige Dutzend im gesamten letzten Jahrzehnt der DDR. Die fehlenden kollektiven Erfahrungen der Arbeiter und Angestellten wirkten sich auch im Revolutionsjahr 1989 aus. Die Arbeiterklasse ging zwar auf die Straße, trat aber kaum als kollektiver Akteur in Erscheinung. Die SED gewann mit dem Mauerbau wiederum an Selbstbewusstsein. Im Folgejahr setzte sie erstmals eine reale Lohnkürzung durch, in der 1968 verabschiedeten neuen Verfassung wurde dann das Streikrecht nicht einmal mehr erwähnt.

Aber sowenig wie die SED die Bevölkerung vollständig kontrollieren konnte war die Mauer von Dauer. Eine tiefe politische und soziale Krise führte Ende der 1980er Jahre in fast allen Ländern des Ostblocks zu einer revolutionären Bewegung. Eine neue Fluchtbewegung von DDR-Bürgern über die offene ungarische Grenze, Massendemonstrationen und der Ansturm von Tausenden führte schließlich im November 1989 zum Fall der Mauer. Das beschleunigte noch einmal die revolutionäre Entwicklung in der DDR. Die SED dankte ab. Dass die CDU davon profitierte und die Wiedervereinigung nach den Interessen des westdeutschen Kapitals durchgeführt wurde, hängt auch mit dem Versagen der damaligen Linken zusammen. Sie bezog sich positiv auf die DDR und stand der Maueröffnung skeptisch gegenüber. Sie verstand nicht, dass diese von einer Bewegung von unten erkämpft wurde. So wie der Mauerbau ein antiemanzipatorischer Akt war, so war der Mauerfall ein Akt der Selbstbefreiung. Die Linke sollte es mit Genugtuung erfüllen, dass die Massen sich ihre Freiheiten selbst zurückerkämpften. ■

kommentar

Neue Mauern, neue Festungen Von Olaf Klenke

A

nfang April dieses Jahres kenterte im Mittelmeer ein Boot mit Flüchtlingen aus Afrika bei dem Versuch, unbemerkt die streng bewachte Wassergrenze zur Europäischen Union zu passieren. Binnen weniger Stunden starben 250 Menschen, fast doppelt so viele wie an der Berliner Mauer in den 28 Jahren ihres Bestehens. Wenn die etablierte Politik des 50. Jahrestags des Mauerbaus gedenkt, wird von den neuen Mauern der »Festung Europa« und ihren dramatischen Folgen wenig die Rede sein. Gleiches gilt für die unsichtbare, aber reale Mauer für Millionen Menschen in Deutschland, deren Reisefreiheit durch ein leeres Portemonnaie beschränkt wird. DIE LINKE sollte diese Heuchelei anprangern. Die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen, heißt, gegen alte und neue Mauern zu sein. Richtigerweise kritisierte Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) bei einem Besuch im Nahen Osten Anfang Juni die von Israel um die palästinensischen Gebiete errichtete Mauer. Gegenüber den Palästinensern erklärte er: »Im Mauer-Umstürzen haben wir Deutschen jede Menge Erfahrung.«

GESCHICHTE

Im November 1958 stellte Chruschtschow ein BerlinUltimatum. Danach sollten alle Besatzungstruppen aus der Stadt abgezogen werden. Als aber der USamerikanische Präsident John F. Kennedy Anfang Juni 1959 bei einem Geheimtreffen in Wien unmissverständlich deutlich machte, Westberlin zu halten, gab die sowjetische Führung der SED freie Hand. Eigentlicher Gesprächsgegenstand des zweitägigen Treffens zwischen Kennedy und Chruschtschow waren die Interessen der beiden Supermächte in der »Dritten Welt«, wo die Systemauseinandersetzungen in den folgenden Jahrzehnten ausgetragen wurden. Als gegen Ende über Berlin gesprochen wurde, kam auch eine mögliche Abriegelung des Ostteils zur Sprache. Der US-Präsident signalisierte, das sei eine Sache der Sowjetunion – solange die Aktivitäten nur die DDR-Bürger beträfen und der Zugang und die Präsenz der amerikanischen Besatzungstruppen im Westteil der Stadt nicht eingeschränkt würden. So war die Reaktion des Westens auf den Mauerbau nicht verwunderlich. »Keine sehr schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg«, erklärte Kennedy. Frankreich, das an einem schwachen, geteilten Deutschland interessiert war, und Großbritannien sahen ebenfalls keinen Grund, an dem bestehenden Status quo zu rütteln, der im wahrsten Sinne des Wortes mit der Mauer zementiert wurde. Die Hilferufe des damaligen Westberliner Bürgermeisters Willy Brandt verhallten.

65


Politischer Sauberkeitswahn Parteiausschlüsse, Unvereinbarkeitsbeschlüsse und innerparteiliche »Säuberungen« gehören zum traurigen Erbe linker Parteien. Genutzt haben sie höchstens ihren Gegnern VON aRNO KlöNNe usschlüsse von Mitgliedern und Mandatsträgern oder auch »Unvereinbarkeitserklärungen« gehören zum überkommenen Instrumentarium politischer Parteien. Innerparteiliche »Säuberungen« sind ein hochproblematischer Teil der Geschichte der Linken. Ganz überwiegend dienten solche Praktiken nicht dazu, getarnte politische Gegner sozialistischer oder kommunistischer Gesellschaftsentwürfe loszuwerden. Vielmehr ging es um die Einschränkung der innerparteilichen Diskussion, um Verpflichtung auf den Kurs der jeweiligen Parteiführung, häufig auch darum, Disziplin durchzusetzen bei Wendemanövern in der Politik einer Partei. ★ ★★

aRNO KlöNNe ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21.

66

Die Spaltung der historischen deutschen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg begann damit, dass der Parteivorstand aus der Reichstagsfraktion diejenigen Abgeordneten »hinaussäuberte«, denen die Bewilligung der Kriegskredite für den deutschen Imperialismus Gewissensnöte bereitete. Antimilitaristischer Protest sollte als »parteischädigend« dargestellt und ausgegrenzt werden. Mit dramatischen Folgen für die Betroffenen und für die gesamte Parteigeschichte vollzogen sich die »Säuberungen« in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und in Parteien, die deren Regieanweisungen folgten, zur Zeit der Durchsetzung und Absicherung des stalinschen Machtmonopols und in den Jahren nach 1945. Massen von überzeugten Kommunisten wurden zu »Parteifeinden« erklärt, in Haft gebracht oder getötet, in »leichteren Fällen« von der politischen Teilnahme ausgeschlossen. Innerparteiliche Opposition wurde so erstickt, Kritiker als »Trotzkisten«, später auch als »Titoisten« und »Zionisten« gebrandmarkt. Wenn auch nicht lebensgefährlich, so doch politisch verwüstend ging es in der deutschen Sozialdemokratie nach 1945 beim Umgang mit Oppositionellen zu. Mit Parteiausschlüssen und »Unvereinbarkeitserklärungen« hatten all jene Sozialdemokraten zu rechnen, die sich einer Anpassung der SPD an das »atlantische Bündnis« und dessen Militärpolitik wi-

dersetzten oder die Zusammenarbeit mit Linken links neben der Partei suchten. Schnell zur Hand für diese »Säuberungen« war unter den Bedingungen des Kalten Krieges stets der Vorwurf, innerparteiliche Opposition sei gleichzusetzen mit »kommunistischer Unterwanderung«. Schon 1948 verabschiedete der SPD-Vorstand eine »Unvereinbarkeitserklärung« zur Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN). Im Jahr 1961 wurde die Partei von Mitgliedern und Förderern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) »gereinigt«. Vergleichbare Abgrenzungen und Ausgrenzungen nach rechts hin hat die SPD nicht betrieben. Aktuell wäre über den Fall Sarrazin nachzudenken: Zwar hat hier selbst der Parteivorstand sich am Ausschlussantrag beteiligt, aber das Verfahren brach mit einem »Kompromiss« ab, der es dem »Deutschlandretter« ermöglicht, seine Ansichten als SPD-konform unters Volk zu bringen. Der Drang, innerparteiliche Kontroversen durch Ausschlüsse stillzulegen, tritt auch bei anderen Parteien auf. Mitunter gerät er ins Kuriose. Ein Beispiel dafür: Der Kreisverband der Grünen in Kleve wollte ein querköpfiges Mitglied mit der Begründung ausschließen, es beschädige das Ansehen der Partei durch öffentliches Auftreten in »ungepflegter Kleidung«. Die Grünen in Kleve regieren kommunal zusammen mit der CDU, da ist Gutbürgerliches auch im Outfit vonnöten... Über »Unvereinbarkeiten« können die Vorstände von Parteien selbstherrlich entscheiden. Ausschlüsse einzelner Mitglieder sind schwieriger zu handhaben, weil hier die Bestimmungen des Parteiengesetzes zu beachten sind. Ein »Parteiordnungsverfahren« gemäß der Satzung der Partei ist durchzuführen, ein innerparteiliches Schiedsgericht wird tätig, der »erhebliche Schaden« für die Partei ist nachzuweisen. Aber was schadet einer Partei? Als plausibel gilt in der Regel, dass der Schaden in einem Ansehensverlust liegen könnte, der die Partei möglicherweise Stimmen kostet. Ein machttaktisches Verständnis von


Zu vermuten ist, dass solchen Motiven der Beschluss entstammt, den die Mehrheit der anwesenden Fraktionsmitglieder der Linkspartei im Bundestag zum Verhalten gegenüber der israelischen Regierungspolitik gefasst hat. Dass er darauf angelegt wäre, nach wie vor in der Bevölkerung vorhandenen antisemitischen Gefühlen oder Weltbildern entgegenzuwirken, ist nicht zu sehen. Auch nicht, dass er geeignet wäre,

zur Aufklärung über antisemitische Tendenzen in der Geschichte der Linken oder zur aktuellen Diskussion über Wege zum Frieden in Nahost beizutragen. Dieser Fraktionsbeschluss lässt den Wunsch ahnen, DIE LINKE machttaktisch zu »säubern«, »Unvereinbarkeiten« zu dekretieren. Mit dem Existenzrecht der Israelis und der Palästinenser hat ein solches Bedürfnis nichts zu tun, Am 4. Mai ist Arno Klönne 80 Jahre alt gees ist an einem anderen politiworden. Die marx21-Redaktion gratuliert schen Ort angesiedelt. ganz herzlich und hofft auf viele weitere Würde sich DIE LINKE auf dieJahre der Zusammenarbeit. se Weise »reinigen«, wäre ihre Zu Ehren des Jubilars hat Eckhard Spoo »Regierungsfähigkeit« deneinen Sammelband mit dem programnoch höchst ungewiss. Ganz matischen Titel „Oppositionsfähig wergewiss aber hätte sie ihre Opden!“ herausgegeben. Darin versammelt positionsfähigkeit, ihre Chansind Texte alter und junger Mitstreiterince als offene, sich selbstbenen und Mitstreiter von Arno Klönne, dastimmt entwickelnde Partei runter auch ein Beitrag der marx21-Reeingebüßt. dakteure Marcel Bois und Stefan Bornost. Eine gesellschaftspolitisch alternative Kraft mit einem Eckart Spoo (Hg.): »Sauberkeits«-Zertifikat von Oppositionsfähig Springer und Co. – das geht werden! Einsendungen nicht. zum 80. Geburtstag Vielmehr ist aus der langen von Arno Klönne Geschichte linker Parteien zu (Ossietzky Verlag lernen, dass ungehemmte in2011). nerparteiliche Demokratie Beziehbar auch unter: die Voraussetzung dafür ist, borgmeier.schu@t-online.de dass eine Partei sich nicht ihrer Substanz entledigt. ■

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH, ARNO!

KOLUMNE

»Schädigung« also, bei dem außer Acht bleibt, welchen Schaden dem Charakter einer Partei die Disziplinierung innerparteilicher Kritik zufügen kann. Die Androhung, aufmüpfiges Verhalten werde einen Ausschlussantrag zur Folge haben, wirkt wie ein Maulkorb: Kritischen Parteimitgliedern fehlt dann der argumentative Biss. Und wenn bestimmte Positionen in einer Partei das Etikett »unvereinbar mit dem Nutzen der Partei« aufgeklebt bekommen, erlahmt die demokratische Willensbildung, vor allem dann, wenn dieser Nutzen erstrangig als Fähigkeit zum Regieren oder Mitregieren definiert ist. Wer sich dem Müntefering-Leitsatz »Opposition ist Mist« unterwirft, wird geneigt sein, beim Marsch in die Regierungsämter Gleichschritt für eine politische Tugend zu halten. Oder auch so: Wenn »Regierungsfähigkeit« auszuweisen das oberste Ziel ist, erscheint Vorauseilen zu demselben als nützlich für die Partei. Zu praktizieren ist dies unter den gegebenen Umständen vor allem durch Ergebenheitsgesten gegenüber massenmedial herrschenden Meinungen und erhofften Koalitionspartnern. Das Bestehen auf oppositionelle Auffassungen hingegen gilt dann als »Steckenbleiben«, als schädlich für die Partei.

67


Den Platz erobert Frauen und Fußball passt nicht zusammen – so das gängige Vorurteil, das hierzulande am deutlichsten vom DFB vertreten wurde. Nun richtet der Verband die Weltmeisterschaft der Frauen aus

© Marcel Nicolai

Von Marcel Bois

S

ommermärchen reloaded« nennt sich die Facebookgruppe. Sie ist vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) eingerichtet worden und weckt große Erwartungen. Wenn in den kommenden Wochen in neun deutschen Städten die Fußballweltmeisterschaft der Frauen stattfindet, dann soll sie eine ähnliche Begeisterung hervorrufen wie die WM der Männer vor fünf Jahren. DFB-Präsident Theo Zwanziger ist davon überzeugt, dass das Ereignis die Menschen »über Wochen in ihren Bann ziehen« wird. Allein

68

die Stadt Frankfurt am Main hat zehn Millionen Euro investiert, um ein Fanfest zu organisieren. Wie im Sommer 2006 wird es Großbildleinwände und eine schwimmende Bühne im Main geben. Zwei Wochen vor Beginn waren deutschlandweit bereits über 600.000 Tickets für die Spiele verkauft – und das bei Eintrittspreisen von bis zu 90 Euro. Noch vor wenigen Jahren wäre das kaum denkbar gewesen. Frauenfußball galt als Randsportart. Hartnäckig hielt sich das Vorurteil, die weibliche Variante des Männersports Nr. 1 sei langsam, langweilig

und lesbisch. Dahinter steckt die Vorstellung, Fußball sei nichts für Frauen. Und wenn sie ihn doch betreiben, dann seien sie eben »unweiblich«. Mit großer Selbstverständlichkeit wurden diese Vorurteile auch von männlichen Fußballern transportiert. »Bundesliga ist kein Mädchensport«, soll der ehemalige Bayern-München-Profi Klaus Augenthaler einmal gesagt haben. Und auch der DFB, nun stolzer Ausrichter der Frauenfußball-WM, war in der Vergangenheit keineswegs ein Freund des weiblichen Kickens. Eine Stellungnahme des Verbandes aus dem Jahr 1976 zu Trikotwerbung im Damenfußball


★ ★★

MaRCel BOiS ist Redakteur von marx21.

gehört da noch zu den harmlosen Verlautbarungen: »Die Anatomie der Frau ist für Trikotwerbung nicht geeignet. Die Reklame verzerrt.« Deutlicher ging der DFB in den Jahrzehnten zuvor gegen Fußball spielende Frauen vor. Als im Jahr 1954 die Fußballherren zum ersten Mal Weltmeister geworden waren, löste das einen regelrechten Boom aus. Das »Wunder von Bern« regte auch viele Frauen zum aktiven Kick an. So gründeten sich vor allem im Ruhrgebiet mehrere Frauenteams, deren Spiele teils vor erstaunlich hoher Zuschauerzahl stattfanden. Doch der damalige DFB-Präsident Peco Bauwens war der Ansicht, dass Fußball kein Frauensport sei. Dementsprechend wurde im Juli 1955 beim Verbands-Bundestag in Berlin der Antrag eingereicht, den Frauenfußball zu verbieten. Die ausschließlich männlichen Delegierten nahmen diesen ohne eine einzige Gegenstimme an. Den Vereinen war es fortan untersagt, Frauenteams aufzunehmen oder kickenden Frauen Fußballplätze zur Verfügung zu stellen. Den Schieds- und Linienrichtern wurde verboten, Fußballspiele von Frauen zu leiten. Bei Zuwiderhandlung drohten harte Strafen bis hin zum Verbandsausschluss. Hubert Claessen, damals Delegierter und später DFB-Vorstandsmitglied, begründete die Maßnahme damit, dass »der Körper der Frau für den Kampfsport Fußball weder physisch noch seelisch geeignet« sei. Von Verbandsseite hieß es: »Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Sittlichkeit und Anstand.« Auch noch knapp zehn Jahre später verteidigte der DFB seine Entscheidung in einem Schreiben an den Weltfußballverband Fifa. Dort hieß es, dass man in Deutschland »wegen ärztlicher Gutachten über die Schäden des Fußballspiels für den weiblichen Organismus den Frauenfußball verboten habe«. Dass es den Verbandsangehörigen ernst war, bewiesen sie umgehend nach Verhängung des Verbots. So beendete Ende Juli 1955 ein Überfallkommando der Polizei die Partie der Frauen vom DFC Duisburg-Hamborn und Gruga Essen nach nur zwanzig Minuten Spielzeit. »Dann wurde der Damen-Fußball liquidiert. Es war diesmal nichts mit der Gleichberechti-

gung«, witzelte die WAZ am Tag darauf. Die Beamten gerufen hatte der zweite Vorsitzende des Platzeigentümers Hertha Hamborn. Solche Zwischenfälle habe es häufiger gegeben, erinnert sich die ehemalige Dortmunder Spielerin Christa Kleinhans gegenüber der Zeitschrift 11 Freundinnen: »Ständig wurde ich mit meinen Kolleginnen von Fortuna Dortmund von den Trainingsplätzen vertrieben, und wir mussten auf irgendwelche Wiesen oder in größere Privatgärten ausweichen, wo wir vorher noch die Maulwurfshügel plattmachen mussten.« Gelegentlich besetzten die Kickerinnen abends heimlich Fußballplätze. Ihre Partner mussten dann mit ihren Autoscheinwerfern das Spielgeschehen ausleuchten. Das Verbot konnte den Aufschwung des Frauenfußballs jedoch nicht verhindern. In den 1950er Jahren gründeten sich zahlreiche Frauenvereine wie Fortuna Dortmund oder Rhenania Essen, die sich außerhalb des DFB organisierten. So entstand 1956 in Essen der Westdeutsche Damen-Fußball-Verband, wenig später eröffnete in München eine Abteilung Süddeutschland. Sogar erste Länderspiele wurden ausgetragen. Als die deutsche Elf am 23. September 1956 in Essen die niederländische Auswahl besiegte, wohnten dem Spiel immerhin 18.000 Zuschauer bei. Dennoch blieben die Spielerinnen vorsichtig. Nationalspielerin Anne Droste erinnerte sich später: »Ich wollte nicht, dass in der Firma bekannt wurde, dass ich Fußball spiele. Ja, und da hab ich beim ersten Länderspiel unter falschem Namen gespielt.« Häufig wichen die Fußballerinnen für ihre Spiele auf städtische Sportplätze aus. Die Kommunen erhielten im Gegenzug einen Teil der Einnahmen, was sie in Konflikt mit dem DFB brachte. Als im Jahr 1957 das zweite Länderspiel der Damen in München stattfand, beschwerte sich der Verbandsfunktionär Georg Xandry in einem Brief beim sozialdemokratischen Oberbürgermeister: »Mit der in Frage stehenden Veranstaltung sind Sie uns in unserem Kampf gegen den Damenfußball gleichsam in den Rücken gefallen, was dem bisher guten Verhältnis zwischen der Stadt München und uns nicht dienlich sein kann.« Trotz aller Widrigkeiten entwickelte sich der »illegale« Frauenfußball weiter. Bis SPORT

Der DFB untersagte den Vereinen, Frauenteams aufzunehmen oder kickenden Frauen Fußballplätze zur Verfügung zu stellen

69


© Roland Mieller

Im Zuge der 68er-Rebellion und der aufkommenden Frauenbewegung veränderte sich Anfang der 1970er Jahre das Frauenbild in der Bundesrepublik. Hinzu kamen Überlegungen, einen eigenen Frauenfußballverband unter dem Dach des Deutschen Turner-Bundes zu gründen. Diesem Druck gaben schließlich die konservativen alten Männer des DFB nach. Nach 15 Jahren hob der Verband am 31. Oktober 1970 das Damenfußballverbot auf. Doch die Schikanen gingen zunächst weiter. Die Funktionäre verordneten den Frauen ein gesondertes Regelwerk. Die Spielzeit wurde auf zwei mal 30 Minuten verkürzt. Außerdem mussten die Kickerinnen sich mit einem kleineren Spielball begnügen und durften keine Stollenschuhe tragen. Im Jahr 1971 untersagte der DFB zudem der Frauennationalmannschaft die Teilnahme an der inoffiziellen Weltmeisterschaft in Mexiko. Als Begründung gab der Verband versicherungstechnische Hindernisse an. Es sollte noch weitere Jahre dauern, bis die Frauen im DFB auch formal gleichberechtigt waren. Zwar wurde ab 1974 eine deutsche Meisterschaft ausgetragen, aber erst 1981 der DFB-Pokal eingeführt. Ein Jahr später wurde schließlich eine Nationalmannschaft gegründet. Bis heute stehen die DFB-Damen im Schatten ihrer männlichen Kollegen.

© Wikipedia / Inconnu Photographe d'Agence

1965 fanden knapp 150 Länderspiele statt, die von tausenden Zuschauern verfolgt wurden. Ende der 1960er Jahre waren etwa 40.000 bis 60.000 Frauen auf den Bolzplätzen der Republik aktiv – einige von ihnen sogar »subversiv« in DFB-Vereinen. So trafen sich beim badischen FV Daxlanden regelmäßig Frauen mittleren Alters zum Kicken. Der Verein führte sie offiziell als »Alte Herren«.

lange tradition: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gründeten Frauen in England Fußballteams. In Deutschland wurde die Sportart 1955 verboten

Ganz anders sieht es dagegen in den USA aus. Im Land des zweifachen Weltmeisters und Weltranglistenersten ist Frauenfußball eine etablierte Sportart. Nach

HINTeRGRuND / FRAUENFUSSBALL IN DER DDR Auch in der DDR hatte der Frauenfußball einen schweren Stand. Da er nicht zu den olympischen und medaillenträchtigen Sportarten zählte, wurde er nicht gefördert. Die erste Frauenmannschaft gründete sich 1968 in Dresden. Im Jahr 1979 wurden die Frauen schließlich in den Deutschen Fußballverband (DFV) aufgenommen. Zehn Jahre später entstand eine Nationalmannschaft, die im Mai 1990 ihr erstes Spiel gegen die CSSR absolvierte. Aufgrund der Wiedervereinigung war es auch das letzte.

70

Schätzungen treten dort rund 18 Millionen Mädchen und Frauen regelmäßig gegen das runde Leder – so viele wie in keinem anderen Land der Welt. In den späten 1990er Jahren zog es zahlreiche europäische Fußballerinnen in die US-Profiliga, weil sie dort Geld mit ihrer Leidenschaft verdienen konnten. Doch so selbstverständlich war auch der Siegeszug des US-Frauen-Soccers nicht. Der amerikanische Sozialist und Sportjournalist Dave Zirin meint, dass der Boom ohne die Bürger- und Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre nicht denkbar gewesen sei. Tatsächlich war Frauenfußball auch in den USA lange eine Randerscheinung. Als typische Frauensportarten galten stattdessen Tennis und Golf. Im Jahr 1977 haben lediglich 2,8 Prozent der Colleges Fußball für Mädchen angeboten. Heute sind es 88 Prozent. Den Ausschlag hat aber, so Zirin, eine Ausein-


die Tatsache, dass der DFB hauptsächlich die jungen Fußballerinnen als Interviewund Werbepartnerinnen anbietet, die über ein ausgeprägtes »weibliches« Auftreten verfügen und den gängigen Schönheits- und Schlankheitsideal entsprechen. Eine ältere Spielerin wie Nadine Angerer, die sich offen zu ihrer Bisexualität bekennt und auch mal am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg demonstriert, spielt in den Marketingkampagnen hingegen nur eine untergeordnete Rolle – und dass, obwohl die 32-Jährige bislang knapp 100 Länderspiele bestritten hat und bei der Weltmeisterschaft 2007 zur besten Torhüterin gewählt

Dem Olympia-Gold der US-Mannschaft ging ein wilder Streik voraus

riet ihnen, nicht zu spielen«, erinnerte sie sich später. »Das ist der einzige Hebel, den ihr habt.« Die Kickerinnen befolgten den Rat und veranstalteten einen »wilden Streik«, indem sie sich weigerten, am Training teilzunehmen. Der Verband versuchte dem zwar zu entgehen, indem er andere Spielerinnen nachnominierte. Doch letztendlich waren die Fußballerinnen erfolgreich – und das nicht nur außerhalb des Platzes. Sie gewannen die Auseinandersetzung um die Prämie und holten anschließend olympisches Gold. Damit begann der Aufschwung des Frauenfußballs in den USA. Seinen Höhepunkt erlebte er drei Jahre später, als die Spielerinnen im eigenen Land Weltmeisterinnen wurden. Das Finale gegen China verfolgten im Stadion von Los Angeles über 90.000 Menschen. Ob die WM hierzulande einen ähnlichen Hype auslöst wie damals in den USA, bleibt abzuwarten. Die großen Konzerne stehen jedoch schon Schlange, um sich im Glanze der Fußballerinnen zu sonnen. Unternehmen wie Telekom, Commerzbank, Allianz, Rewe, Deutsche Post und Deutsche Bahn unterstützen die Weltmeisterschaft als »nationale Förderer« mit etwa 24 Millionen Euro. Vor allem aber werden die Spielerinnen zu Werbeikonen stilisiert. Auffällig ist hierbei

wurde, nachdem sie das gesamte Turnier lang kein einziges Gegentor kassiert hatte. Stattdessen an vorderster Stelle: Fatmire Bajramaj, genannt Lira. Die gutaussehende, junge Frau kosovo-albanischer Abstammung gilt als ideale Werbeträgerin. »Sponsoren schauen nicht nur auf das Talent, sondern auf den Gesamteindruck«, sagt die Sportwissenschaftlerin Christa Kleindienst-Cachay gegenüber der Zeitschrift Missy Magazine. Lira Bajramaj beherrsche »diese Klaviatur perfekt: Einerseits Spitzensportlerin, anderseits Frau,

die auch als Geschlechtswesen attraktiv ist. Außerdem ist sie Migrantin und Muslima, also exotisch.« Auch die Kommunikationswissenschaftlerin Daniela Schaaf von der Deutschen Sporthochschule in Köln warnt, dass »die Spielerinnen potenziellen Sponsoren neben der sportlichen Leistung einen Zusatznutzen anbieten« müssten, »der oftmals in einem sexuell-attraktiven Körper besteht.« Deutlich wird dies in einem Werbespot, den der Schuhhersteller Nike im Vorfeld der WM mit der Stürmerin vom 1. FFC Frankfurt gedreht hat. »Liras Manifest« heißt das Video. Vordergründig geht es um die Emanzipation des Frauenfußballs. Die Bilder zeigen Bajramaj abwechselnd auf dem Hinterhof und im WM-Stadion kickend. Zu Elektrobeats dichtet eine Frauenstimme: »Offiziell noch illegal bis vor 40 Jahren / Aber dann haben wir gut vorgelegt / Auf immer mehr Plätzen / Schließen uns zusammen auf der Straße, in Clubs und Netzen.« Doch immer wieder liefert der Spot auch Einstellungen, die Bajramajs Attraktivität ins Zentrum stellen: Sie erneuert ihr Make-up, läuft auf High Heels und präsentiert der Kamera ihren halbnackten Oberkörper. Diese Kombination aus zur Schau gestellter Weiblichkeit und Befreiungsästhetik steht exemplarisch für eine Entwicklung vieler Subkulturen und Randsportarten, die aus ihrer Nische treten. Nicht selten verwandelt sich gesellschaftliche Ausgrenzung in kapitalistische Vereinnahmung. Das droht nun auch dem Frauenfußball. Mit einem Sommermärchen hat das freilich nur noch wenig zu tun. ■

FILMTIPP / Kick it like Beckham Mit den Klischees rund um den Frauenfußball spielt auf sehr intelligente und amüsante Weise der Film »Kick it like Beckham« (Großbritannien 2002, Regie: Gurinder Chadha). Er handelt von Jess und Jules, zwei Mädchen aus London, die davon träumen, Profifußballerinnen zu werden. Beide stammen aus ganz unterschiedlichen familiären Verhältnissen. Jess’ Eltern sind indische Einwanderer, Jules’ Familie gehört der weißen, englischen Mittelschicht an. Trotzdem stoßen beide auf ähnlich starke Widerstände. Jess’ Mutter hält Sportkleidung für unschick und möchte lieber, dass ihre Tochter die Zubereitung traditioneller indischer Speisen lernt. Die Mutter von Jules ist davon überzeugt, dass das Fußballspielen die Chancen ihrer Tochter auf dem Heiratsmarkt schmälert. Insgeheim fürchtet sie sogar, ihr Tochter könnte sich in Jess verliebt haben. SPORT

andersetzung im Vorfeld der Olympischen Spiele in Atlanta 1996 gegeben. Damals erklärte das nationale Olympische Komitee, dass die Frauen erst eine Sonderprämie erhielten, wenn sie Gold holen würden. Den männlichen Fußballern wurde jedoch schon ein Bonus zugesagt, wenn sie überhaupt eine Medaille gewännen. Die empörten Spielerinnen holten sich daraufhin Rat bei einer Frau, die sich mit dem Kampf für gleiche Rechte und gleiche Bezahlung auskannte: der ehemaligen Tennisspielerin Billie Jean King. King hatte in der Vergangenheit die erste Gewerkschaft für Sportlerinnen gegründet. »Ich

71


KLASSIKER DES MONATS

11 Thesen, die die Welt veränderten Ein kleiner Text mit großer Wirkung: Karl Marx’ Thesen über Feuerbach gelten als Geburtsschrift des Marxismus VON GeORG fRaNKl m September kommt der Papst nach Deutschland – und wird das Land spalten. Zehntausende werden vermutlich auf den Straßen stehen und dem Kirchenoberhaupt zujubeln. Zugleich werden andere, insbesondere Linke, ungläubig den Kopf schütteln. Wie können im 21. Jahrhundert religiöse Überzeugungen noch so populär sein? Diese Diskussion ist nicht neu. Karl Marx notierte bereits im Frühjahr 1845 die elf »Thesen über Feuerbach« in seinem Notizbuch – eine Auseinandersetzung mit den Ideen seines Philosophenkollegen Ludwig Feuerbach. Dieser war ein strikter Gegner der Religion und insbesondere des Christentums. Er kritisierte sie von einem »materialistischen« Standpunkt aus. Materialismus bezeichnet eine philosophische Position, die alle Vorgänge und Phänomene der Welt auf Materie und deren Gesetzmäßigkeiten und Verhältnisse zurückführt. Eine solche Vorstellung

★ ★★

GeORG fRaNKl ist Mitglied der LINKEN in Berlin.

© DIE LINKE.SDS

Marx neu entdecken. Im Jahr 2008 startete der Studierendenverband Die Linke.SDS eine »Kapitallesebewegung«

72

lehnt natürlich jegliche Gottheit ab. Für Materialisten ist Gott ein Produkt menschlicher Fantasie, die ihm zugrunde liegende Materie ist das menschliche Gehirn. Nach Feuerbach macht der religiöse Mensch einen Denkfehler. Erst wenn er einmal verstanden hat, dass er die Gottesprojektion nicht benötigt, könne er sein Menschsein verwirklichen. Von daher war für Feuerbach Religion das wesentliche Problem der Gesellschaft. Erst wenn sie überwunden sei, stehe das Tor zur Befreiung des Menschen offen. Feuerbach würde also mit allen diskutieren, die zum Papst pilgern, um sie davon zu überzeugen, dass sie einem Hirngespinst erlegen sind. Marx kritisierte, dieses Verständnis greife zu kurz: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbach’schen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter


Keine Hieroglyphen, sondern Marx’ Originalhandschrift: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.«

Materialismus ist die ›bürgerliche‹ Gesellschaft; der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft, oder die vergesellschaftete Menschheit.« Marx identifizierte das menschliche Wesen nicht als ein »dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum« sondern als »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« und entdeckte so die Triebkraft gesellschaftlicher Veränderung: »Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.« Sowohl die Umstände als auch das menschliche Wesen selbst seien Produkte der gesellschaftlichen Praxis, über die zwar kein Mensch erhaben sei, die jedoch auch nicht statisch sei. Vielmehr stünden die Menschen und die Umstände in einem dialektischen Verhältnis und (re-)produzierten sich dadurch ständig. Perspektive und Weg zur aktiven Veränderung bestünden folglich im bewussten Eingreifen in diesen gesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozess. So lautet dann auch die berühmte elfte These: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.« Auf den Ausgangspunkt, die Religionskritik, angewandt bedeutet das Folgendes: Dass der Mensch aus sich selbst heraus Gott und die Religion entwirft, erklärt sich für Marx von der verkehrten sozialen Welt her. Die ungerechte Gesellschaft erzeugt das verkehrte religiöse Bewusstsein, das unter Umständen auch ein Hindernis sein kann, eine gerechtere Welt zu schaffen. Marx würde wohl weder dem Papst zujubeln, noch dessen Fans belehren – er würde stattdessen für eine bessere Welt kämpfen, in denen die Menschen keinen Papst mehr brauchen. ■

★ ★★ DAS BUCH Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MarxEngels Werke, Band 3, S. 5-7. Online findet sich der Text unter: mlwerke.de

KLASSIKER DES MONATS

der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird (...).« Die Welt sei also nach Feuerbach festgefügt aus Materie, der Mensch könne sie wahrnehmen und sich in ihrem Rahmen bewegen. »Falsche Ideen« wie die Religion entsprängen auch materiellen Ursachen – bei Feuerbach der »Natur des Menschen« – und müssten dann durch Aufklärung überwunden werden. Feuerbach wolle die Menschen erziehen. Marx erschien dieses Modell viel zu starr: »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. (...) Das Höchste, wozu der anschauende Materialismus kommt, (…) ist die Anschauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesellschaft.« Im ersten Kapitel der »Deutschen Ideologie« fassten es Marx und Friedrich Engels später wie folgt zusammen: »Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er kein Materialist. Bei ihm fallen Materialismus und Geschichte ganz auseinander (…).« Marx’ zentraler Punkt war, dass der Mensch der materiellen Wirklichkeit nicht einfach ausgeliefert sei, sondern auf sie einwirke und sie verändere – als Individuum und auch kollektiv als Gesellschaft. Weder erschaffe der menschliche Geist die Welt, noch sei er bloßes Produkt seiner Umwelt. Sondern die praktische Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen beeinflusse zugleich Menschen und Umstände. Indem Marx nun diese Tätigkeit – die gesellschaftliche Praxis – in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellte, konnte er den materialistischen Ansatz auf die menschliche Gesellschaft und ihre Geschichte anwenden: »Der Standpunkt des alten

73


Geschichte hinter dem Song

Gil Scott-Heron: »The revolution will not be televised«

A

ls Gil Scott-Heron das Gedicht »The Revolution will not be televised« schrieb, ahnte er nicht, dass er damit ein Jahrhundertwerk schaffen würde. Seine Widerstandspoesie machte ihn zu einer Ikone der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Der auf dem Gedicht basierende Song ist eine radikale, aber smarte Attacke auf den Kapitalismus und inspiriert bis heute Generationen von Musikern, Poeten und Aktivisten. 16. Oktober 1968: Bei den Olympischen Spielen in Mexiko stehen die beiden afroamerikanischen 200-Meter-Läufer Tommie Smith und John Carlos auf dem Siegerpodest. Als die Gold- und die Bronzemedaille auf ihrer Brust glänzen und die Nationalhymne der USA gespielt wird, beginnt ihr zweites Finish: Sie recken jeweils eine mit einem schwarzem Lederhandschuh geschmückte Faust in die Luft. Es ist das Symbol der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Ein Skandal, findet das Nationale Olympische Komitee und schließt die beiden aus. Das Bild der »Black-Power-Sportler« geht trotzdem um die Welt und wird zum Symbol des Kampfes der Afroamerikaner gegen Unterdrückung und für gleiche Rechte. Eine der einflussreichsten Organisationen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zu dieser Zeit ist die Black Panther Party. Die Partei gründet sich nach den blutigen Massenaufständen in den Armenvierteln der Schwarzen im Jahre 1966. Sie grenzt sich vom gemäßigten Flügel der Bürgerbewegung ab und steht für einen radikaleren Kurs. Ihr Credo: Der Kampf gegen den Rassismus ist auch ein Kampf gegen den Kapitalismus. Das Zeichen der Partei ist ein schwarzer Panther. Sie versteht sich als Teil der weltweiten antikolonialen Bewegungen. Die schwarzen Revolutionäre lehnen das Prinzip der Gewaltlosigkeit ab und pochen stattdessen

74

Von Yaak Pabst auf das Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung gegen Polizeiwillkür und die Übergriffe rassistischer weißer Mobs. Innerhalb weniger Monate entwickelt sich die Partei von einer kleinen Aktivistengruppe zu einer landesweiten politischen Kraft. Ihr »Zehn-Punkte-Programm« für

Das Lied ist ein antikapitalistischer Frontalangriff auf die USamerikanischen Medien

gleiche Rechte, bezahlbaren Wohnraum, höhere Lohne und bessere Jobs trifft den Nerv der Zeit. Im Jahr 1969 ist die Partei in 25 Städten vertreten, ihre alle zwei Wochen erscheinende Zeitung »The Black Panther« hat eine Auflage von 100.000 Exemplaren. Eine Umfrage im Jahr 1970 ergibt, dass 25 Prozent der Schwarzen der Black Panther Party »großen Respekt« zollen, unter Jugendlichen sind es sogar 43 Prozent. Das gestiegene Ansehen und Wachstum der militanten Panthers sind Ausdruck der Radikalisierung zehntausender Afroamerikaner im Zuge der ’68er Bewegung. Im Epizentrum dieser »Revolution« agiert der in New York lebende Autor, Jazz-Musiker und Spoken-Word-Poet Gill Scott-Heron. Als er 1970 sein Gedicht »The Revolution will not be televised« für sein erstes Album »Small Talk at 125th and Lenox« schreibt, ist er 21 Jahre alt. Wie hunderttausend andere Afroamerikaner ist er bis in die Haarspitzen politisiert. Gil Scott-Heron textet wütend, stolz und

witzig. Am Ende steht eine radikale Widerstandspoesie, eine unmissverständliche Aufforderung zum Handeln. Das Gedicht beginnt mit den folgenden Zeilen: You will not be able to stay home, brother. / You will not be able to plug in, turn on and cop out. / You will not be able to lose yourself on skag and skip, / Skip out for beer during commercials, / Because the revolution will not be televised. (Du wirst nicht zu Hause bleiben können, Bruder. / Auch nicht LSD einwerfen und dich im Rausch verlieren. / Du wirst dich nicht auf Heroin schießen und blaumachen können, / nicht während der Werbung Bier holen, / denn die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen werden.) In der ersten Version, die er aufnimmt, trägt Scott-Heron das Gedicht nur in Begleitung von ein paar Trommeln vor. Die minimalistische »Spoken-Word-Performance« gleicht einer Predigt. Als würde Malcom X oder Martin Luther King auf der Bühne stehen, feuert er seine Worte durch die Boxen. Der Clou des Textes ist das, was heute in der Kunst »Ad-Busting« genannt wird. Scott-Heron nimmt bekannte Slogans der Werbeindustrie, stellt sie auf den Kopf, gibt ihnen eine neue subversive Richtung. So rappt er: »The Revolution will not get better with Coke« (Die Revolution wird nicht besser mit Coke). Das ist angelehnt an den Slogan von CocaCola: »Things get better with Coke.« Auch die Werbung für das Listerine-Mundwasser von Johnson & Johnson und der Autovermietung Hertz nimmt er aufs Korn: »The revolution will not fight the germs that may cause bad breath« (Die Revolution wird nicht die Keime bekämpfen, die Mundgeruch verursachen); »The revolution will put you in the driver’s seat« (Die Revolution wird dich auf den Fahrersitz setzen).«


Es ist ein antikapitalistischer Frontalangriff auf die US-amerikanischen Medien und gleichzeitig ein Manifest gegen die Passivität: Selber machen statt zusehen ist Scott-Herons Devise. Im weiteren Verlauf des Stücks belächelt er die »gemäßigten« Führungsfiguren der Bürgerrechtsbewegung und stellt sich politisch auf die Seite der Sozialisten und »schwarzen Revolutionäre« der Black Panther Party. Außerdem thematisiert er die Unterdrückungsmaschinerie der Regierung gegen den afroamerikanischen Widerstand. In den Jahren 1968 und 1969 verhaftete die Polizei hunderte Aktivisten, zwanzig Panthers wurden von der Polizei erschossen. Gil Scott-Heron reimt: »There will be no pictures of pigs / shooting down brothers on the instant replay« (Es wird keine Bilder von Bullen, die Brüder erschießen, in der Wiederholungsschleife geben).

Diese 1971er-Version von »The Revolution will not be televised« hat sich tief in der Popkultur verwurzelt. Scott-Herons Musik und Texte sind in den vergangenen Jahr-

Der Politpoet Gil Scott-Heron: Weil er seine Reime als Sprechgesang vortrug, gilt er als einer der Pioniere des Rap zehnten von unzähligen Produzenten und Rappern gesampelt und zitiert worden. Bereits zwei Jahre nach seinem Erfolg veröffentlicht die amerikanische Girlgroup Labelle eine Bearbeitung des Songs unter dem Titel »Something in the Air«. Das HipHop Urgestein Masta Ace würdigt ScottHerons Zeilen in »Take a look around«. Der US-Rapper Common beginnt seinen Hit »The 6th Sense« mit einem Zitat des Widerstandspoeten und Talib Kweli katapultiert in seinem Song »Beautiful Struggle« Gil Scott-Herons Botschaft in die Gegenwart. Gil Scott-Heron war über 40 Jahre als Musiker und Dichter aktiv. Er starb vor wenigen Wochen im Alter von 62 Jahren. Sein musikalisches Manifest »The Revolution will not be televised« jedoch beibt. Denn

auch im Internet-Zeitalter läuft die Revolution in Echtzeit ab: Im Handeln der Menschen, ohne Chance auf Wiederholung. The Revolution will be live – in den Straßen von Kairo, Barcelona und Athen. ■ ★ ★★ YaaK PaBSt ist Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.

WeiteRSeheN Das Video zum Song und die deutsche Übersetzung des Gedichts gibt es auf marx21.de. Fotografiere nebenstehenden QR-Code mit deinem Smartphone ab, um direkt online weitergeleitet zu werden.

GESCHICHTE HINTER DEM SONG

Auch in anderen Songs bezieht Gil ScottHeron Stellung. Herausragend sein Stück »Whitey on the Moon«, in dem er die sozialen Missstände in den USA der mit Milliarden Dollar subventionierten Mondlandung gegenüberstellt. Nach der Kernschmelze im Atomkraftwerk Three Mile Island in Harrisburg im März 1979 tritt er bei dem berühmten »No Nukes«Festival im New Yorker Madison Square Garden auf und spielt dort seinen AntiAtom-Song »We Almost Lost Detroit«. Mit dem Song »Johannesburg« prangert er 1975 die Apartheid in Südafrika an. Zehn Jahre später nimmt er zusammen mit anderen bekannten Musikern, den »Artists Against Apartheid«, ein gemeinsames Album auf. Als der ehemalige zweitklassige Schauspieler Ronald Reagan im Jahr 1981 US-Präsident wird, veröffentlicht ScottHeron »B-Movie«, eine fünfeinhalbminütige Predigt gegen die geringe Wahlbeteiligung und den drohenden konservativen Rollback.

© Peter Reid

Im Jahr 1971 erscheint »The Revolution will not be televised« als Neuveröffentlichung auf Scott-Herons Album »Pieces of a Man«. Die Form des Songs ist revolutionär: Funky Beats, jazzige Panflöte und bluesiger Bass gepaart mit bissigem Sprechgesang: Hier sind die musikalischen Grundlagen des Anfang der 1980er Jahre entstehenden Hip Hop zu hören.

75


Š Arsenal Filmverleih

Review


FILM

Die Frau, die singt – Incendies | Regie: Denis Villeneuve

Reise ins Krisengebiet Eine Frau macht sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihrer verstorbenen Mutter – und landet im Libanon. Das möchte der Regisseur aber lieber geheim halten Von Britta Stelzner ach dem Tod ihrer Mutter Nawal werden die erwachsenen Zwillinge Jeanne und Simon mit dem überraschenden Inhalt ihres Testaments konfrontiert. Der Notar Jean Lebel verliest, dass die Mutter nackt mit dem Gesicht nach unten in einem anonymen Grab beigesetzt werden möchte. Außerdem überreicht er den beiden zwei versiegelte Briefe. Jeanne wird gebeten, ihren Brief an den Vater zu überbringen, von dem die Zwillinge gedacht hatten, er sei tot. Simon erhält einen Brief für einen ihnen bis dahin unbekannten Bruder. Während Simon zögert, den letzten Willen seiner Mutter ernst zu nehmen, macht sich Jeanne sofort auf den Weg. Von ihrer Heimatstadt Montreal aus reist sie in ein nicht näher benanntes Land im Nahen Osten, in dem ihre Mutter aufgewachsen ist. Dort angekommen versucht sie, das Leben Nawals zu rekonstruieren. In Rückblenden erfährt der Zuschauer nach und nach immer mehr Details. Durch diese Montagetechnik ist er der recherchierenden Tochter immer ein Stück voraus. Als junge Frau war Nawal Repressionen ihrer christlichen Familie ausgesetzt, nachdem sie mit ihrem muslimischen Freund ein Kind bekam. Die Familie

schickte sie daraufhin zu entfernten Verwandten und gab das Baby in ein Waisenhaus. Später, als studentische Aktivistin, ging sie in den Untergrund, um im Bürgerkrieg gegen das Regime zu kämpfen. Jeanne erfährt schließlich, dass ihre Mutter 15 Jahre im Gefängnis saß, weil sie einen führenden Politiker erschossen hatte. Mit »Die Frau, die singt« liefert der kanadische Regisseur Denis Villeneuve eine spannende Detektivgeschichte vor der Kulisse eines Krisengebiets. Dem Film gelingt es, dem Zuschauer die Schrecken des Bürgerkrieges deutlich zu machen. Anders als in den meisten Filmen werden hier die grausamsten Taten von Christen – und nicht von Muslimen – begangen. Doch leider hat der Film auch einige Schwächen: Die Figur der Mutter ist beispielsweise nur sehr unzureichend entwickelt, sodass man als Betrachter von ihren furchtbaren Erfahrungen kaum berührt wird. Villeneuve macht es dem Zuschauer schwer, sich ein Bild von Nawal und ihren inneren Widersprüchen zu machen. Der Film basiert auf dem Theaterstück »Incendies« des frankokanadischen Autors Wajdi Mouawad, der als Kind mit seiner christlichen Familie aus dem Li-

banon geflohen ist. Obwohl relativ klar ist, dass es sich bei dem Land, in dem die Handlung des Films angesiedelt ist, um den Libanon handelt, hat sich Villeneuve dagegen entschieden, es zu benennen. Diese Tatsache gibt dem Film eine unnötige Distanz. Historische Begebenheiten spielen so überhaupt keine Rolle, die Handlung bleibt an vielen Stellen vage. In Interviews hat Villeneuve erklärt, er wollte den Film »unpolitisch« halten. Das hat eher geschadet als genutzt. »Die Frau, die singt« ist Villeneuves vierter Spielfilm und wurde mit acht kanadischen Filmpreisen ausgezeichnet. Anfang dieses Jahres war er zudem für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Doch durch seine Schwächen bleibt er leider oft nur auf dem Niveau einer lateinamerikanischen Telenovela. Dafür sorgen nicht zuletzt die völlig überfrachteten emotionalen Momente, die oft durch den Einsatz der Zeitlupe in die Länge gezogen und mit melodramatischer Musik untermalt werden. Vor allem aber ist die Auflösung der Geschichte so atemberaubend lächerlich, dass ein fahler Nachgeschmack bleibt. ■

★ ★★

FILM | Die Frau, die singt – Incendies | Regie: Denis Villeneuve | Kanada 2010 | 133 Minuten | Kinostart: 23.06.2011

REVIEW

N

77


78

PJ Harvey | Let England Shake

CD DES MONATS Die Musik auf PJ Harveys neuem Album ist sehr minimalistisch. Im Vordergrund stehen die Texte, die von England und seinen Kriegen handeln Von Phil Butland

★ ★★

© Island (Universal)

us linken Kreisen hört man gelegentlich, gute Kunst müsse explizit politisch sein. Wer ein Gegenbeispiel für diese Behauptung sucht, kann sich die früheren Werke von PJ Harvey anhören. Ihre Lieder sind stilistisch anspruchsvoll und handeln eher von Liebe und Schmerz als von der Revolution. Und wenn sie sich selbst zu politischen Fragen äußerte, dann war es durchaus möglich, dass sie konservative Kampagnen wie die Fuchsjagd verteidigte. Das an sich ist nicht problematisch. Kunst und Politik haben unterschiedliche Dynamiken und ein Kunstwerk sollte anders bewerten werden als ein politisches Manifest. Zudem sollte bedacht werden, dass Harveys Lieder gewisse Auswirkungen hatten – obwohl sie nie besonders politisch waren. Sowohl ihre wütenden Songs wie »Rid Of Me« als auch die Umdeutungen bekannter Lieder wie »Satisfaction« von den Rolling Stones (gemeinsam mit Björk) mischten die von alten, selbstgefälligen Männern dominierte Rock- und Bluesszene auf. Können wir also Harveys Kunst bewerten, ohne über deren Inhalt zu sprechen? Bei ihrer neuen CD »Let England Shake« ist das nicht mehr so einfach. Die Musik ist extrem minimalistisch. Oft hört man neben Harveys Stimme nur eine Harfenzither. Die Songtexte sind so präsent, dass es nahezu unmöglich ist, die Lieder zu beurteilen, ohne auf ihre Texte zu hören. Glücklicherweise kommen diese von tiefstem Herzen und sind interessant geschrieben. Harveys Lieder gleichen Schreien gegen Krieg, Imperialismus und gegen Apathie. Im Titelsong »Let England Shake« erklärt sie: »Englands Tanztage sind vorbei. Noch ein Tag für dich, Bobby, um nach Hause zu kommen und mir zu sagen, dass die Gleichgültigkeit gesiegt hat« (»England’s dancing days are done. Another day, Bobby, for you to come home &

CD | PJ Harvey | Let England Shake Island (Universal) 2011

tell me indifference won«). Anhand verschiedener militärischer Konflikte – vom Ersten Weltkrieg bis zum Irakkrieg – versucht Harvey sich mit der Geschichte ihres Heimatlands auseinanderzusetzen. Das England der Sängerin ist widersprüchlich. Es ist sowohl schön und liebenswert als auch dreckig und stinkend (»Take me back to beautiful England & the grey / damp filthiness of ages, Let me walk through the stinking alleys«). Der Titel des Songs »The Glorious Land« be-

zeichnet England als herrlich, aber der Liedtext erzählt von den verwaisten Kindern, die die Politik des Landes hervorbringt. Für die Soldaten, die als Opfer blutiger Kriege fallen, empfindet Harvey stets Mitleid. Aber sie kann sich nicht so einfach von dem imperialistischen Land trennen, das diese Kriege verursacht. Im Song »England« singt sie: »An dir, England, halte ich fest, unerschrocken, nie erschöpft von der Liebe für dich« (»To you, England, I cling Undaunted, never failing love

for you«). Aber mit dieser Liebe kommt Verzweiflung. Im selben Lied sagt sie: »England hinterlässt Traurigkeit« (»England ... leaves a sadness«). In einigen Songs bezieht sich Harvey auf die Dardanellenschlacht, bei der die Entente-Mächte im Ersten Weltkrieg ein Desaster erlebten. Insgesamt kamen 250.000 Soldaten ums Leben. Harvey trauert nicht nur um die Toten der Vergangenheit sondern auch um die, die auf heutigen Schlachtfeldern fallen. Aber wie lassen sich solche Blutbäder vermeiden? Den US-amerikanischen Rock-’n’Roll-Sänger Eddie Cochrane zitierend, fragt Harvey ironisch: »Wie wäre es, wenn ich mein Problem vor die UNO bringe?« Diese rhetorische Frage bringt die Betrübnis und Hoffnungslosigkeit der ganzen CD zum Ausdruck. Doch als Künstlerin ist es nicht unbedingt Harveys Job, Hoffnung zu machen. Kürzlich erklärte sie in einem Interview über ihre CD: »Sie ist größtenteils eine Platte über Emotionen, über das menschliche Einwirken auf bestehende Verhältnisse, über die Folgen von Krieg. Ich denke oft an Picassos Bild ›Guernica‹. (...) Ich wollte Tatsachen unterbringen. Ich wollte konkrete Wörter. Ich wollte keine Abstraktion.« Vor Harvey liegt das Problem, das politische Künstler betrifft, die keine reinen Protestlieder schreiben wollen. Sie will Tatsachen beschreiben, aber als Künstlerin ist es ihr wichtig, emotionale Reaktionen zu beschreiben und nicht nur eine Meinung darzustellen. Es zeigt die Stärke von Harveys Poesie, dass ihr das gelungen ist, ohne dabei flach und inhaltslos zu werden. Sie bringt nackte Tatsachen und tiefe Emotionen zusammen. Mit Gefühl beschreibt sie die Betroffenheit über Krieg und andere Tragödien. Auf diese Weise hat sie einen sehr bewegenden Liederzyklus produziert, der uns lange begleiten wird. ■


BUCH

Tobias Haberl | Wie ich einmal rot wurde. Mein Jahr in der Linkspartei

Von einem, der kurz mal rot wurde Ein Konservativer schleicht sich in DIE LINKE ein. Herausgekommen ist ein Buch, das mehr über den Autor als über die neue Partei enthüllt

in bisschen deplatziert wirkte der neue Genosse, der im Jahr 2008 in die Münchner LINKE eingetreten war, schon manchmal. Ich erinnere mich noch gut an die Demonstration gegen die NATO-Sicherheitskonferenz, wo er peinlich berührt in der Menge stand. Die Flugblätter wirkten wie Fremdkörper in seiner Hand. Aber die Genossinnen und Genossen bemühten sich stets, den studierten Germanisten und Journalisten in die politischen Aktivitäten des Kreisverbands mit einzubinden und ihm DIE LINKE, ihre Positionen und Perspektiven näherzubringen. Niemand hätte vermutet, dass Tobias Haberl nach Wallraffscher Methode gekommen war, um ein Jahr undercover in der LINKEN tätig zu sein und im Anschluss – treffsicher eine Woche vor der Bundestagswahl – eine »Enthüllungsstory« im SZ Magazin zu veröffentlichen. Anderthalb Jahre später hat er nun seine Erfahrungen in der Linkspartei als Buch veröffentlicht. Doch der Vergleich mit Günter Wallraff hinkt. Der schlich sich in den 1970er Jahren in die Redaktion der Bild ein und veröffentlichte hinterher ein Buch, in dem er der Zeitung schwere journalistische Versäumnisse

und unsaubere Recherchemethoden nachwies. Auch später arbeitete Wallraff investigativ und veröffentlichte Reportagen über die illegalen Machenschaften diverser Großkonzerne. DIE LINKE ist nun aber eben nicht die Bild-Zeitung, Lidl oder die Deutsche Bahn, Haberl nicht Wallraff – und das Ganze deswegen auch kein »investigativer Journalismus«. So gab es dann auch nur das zu »enthüllen«, was zum einen politisch eine Selbstverständlichkeit und zum anderen auch schon längst bekannt war: dass in der neu gegründeten Partei viele verschiedene politische Biografien zusammenkommen, dass es unter den Aktivisten unterschiedliche Vorstellungen für das neue parteipolitische Projekt gibt, und dass die Mitglieder der LINKEN vielfach aus sozial prekären Verhältnissen stammen. Mit trefflichem Sarkasmus hat Rudolf Stumberger in einem Beitrag auf heise.de Haberls Vorgehen kritisiert: »Auch das Weltbild dieses Autors empfiehlt ihn als idealen Prospektor auf dem unbekannten Terrain von Armut und Hartz IV: ›Wenn ich morgen meinen Job verliere, versuche ich einen neuen zu finden, egal wo, egal was, ich käme nie auf die Idee, den Fehler im

System zu suchen.‹ So gegen das Gezeter der Langzeitarbeitslosen gewappnet, steigt der SZRedakteur hinab in die sozialen Niederungen der Linkspartei.« Zwar zeichnet Haberl einige Charaktere der LINKEN nicht nur ironisch, sondern manchmal durchaus auch in respektvoller und liebenswerter Weise. Doch für viele Parteimitglieder aus München bleibt das Gefühl, Beobachtungsobjekt und Experimentierfeld gewesen und »irgendwie benutzt« worden zu sein. Herausgekommen ist ein Buch, das am Ende mehr über den Autor als über die Linkspartei enthüllt: Haberl, der nicht weiß, wie er sich in seinen Prada-Jeans neben Erwerbslosen sitzend verhalten soll, der als Erbe und Aktionär nichts von Erbschafts- und Börsenumsatzsteuer hält und der darum zu dem Schluss kommt: »Politik ist nichts für mich und DIE LINKE auch nicht.« Eben jemand, der nicht versteht, was diese Partei sein will: ein Instrument zur Verbesserung der Lebensumstände von Erwerbslosen und Arbeitnehmerinnen, von Rentnerinnen und Studierenden – kurz: der Entrechteten. ■

★ ★★ BUCH | Tobias Haberl | Wie ich einmal rot wurde. Mein Jahr in der Linkspartei | Luchterhand, München 2011 | 256 Seiten | 14,99 Euro REVIEW

E

© Luchterhand

Von Nicole Gohlke

79


BUCH

Berthold Huber (Hrsg.) | Kurswechsel für Deutschland. Die Lehren aus der Krise

Fremdwort Streik Der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber fordert einen radikalen Kurswechsel in Deutschland. Wenig radikal sind jedoch seine Vorschläge Von Thomas Walter

© Campus-Verlag

K

★ ★★ BUCH | Berthold Huber (Hrsg.) | Kurswechsel für Deutschland. Die Lehren aus der Krise | Campus-Verlag | Frankfurt/New York 2010 | 255 Seiten | 24,90 Euro

80

urswechsel für Deutschland«. So lautet der programmatische Titel eines Bandes, den der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber herausgegeben hat. Die Autoren – Politiker und Wissenschaftler aus dem Umfeld der SPD – versuchen dort, einen Weg aus der Krise aufzuzeigen. Der längste Beitrag des Bandes stammt von Huber selbst. Die anderen Autoren nehmen dazu Stellung. Huber fordert Schluss mit dem marktradikalen »Weiter so!« Er hält es für eine Ausrede, wenn Politiker und Wirtschaftsführer sich hilflos anstellen und so tun, als ob man gegen die Gesetze des Marktes nichts ausrichten könne. Doch wenn es um die Gewerkschaften geht, stellt sich Huber leider ähnlich hilflos an. Er schlägt Bündnisse zwischen Gewerkschaften und Konsumenten vor, um durch Konsumboykotts die Unternehmen zum Einlenken zu zwingen. Hubers Boykott-Vorschlag fällt hinter die Möglichkeiten der Gewerkschaften zurück. Während auch Arbeiter mit niedrigen Löhnen über Streiks Unternehmen empfindlich treffen können, sind Boykotts eher ein Mittel für Besserverdiener. Da Menschen von etwas leben müssen, können schlecht alle Unternehmen boykottiert

werden. Zahlreiche Produkte wie Lebensmittel oder Energie können nur schwer boykottiert werden. Generalstreiks hingegen sind organisierbar. Doch von Streiks spricht Huber leider nicht. Das Wort kommt im ganzen Buch nur einmal vor: auf Seite 213 und dann mit Fragezeichen. Der Soziologe Stephan Lessenich vermisst zudem in Hubers Beitrag eine internationalistische Perspektive. Weil Konzerne global aufgestellt seien, müssten sie auch mit globaler Solidarität bekämpft werden. Kämpfe in einzelnen Ländern seien wichtig, richtig wirksam seien sie aber erst, wenn sie international gemeinsam organisiert würden. Colin Crouch, britischer Politikwissenschaftler, beanstandet wie Huber, dass sich die Politik aus der Verantwortung stiehlt. Er befürchtet den Abbau der Demokratie zur »Postdemokratie«. Je mehr sich aber die Politik zurückziehe, desto mehr gerieten die Konzerne ins Blickfeld. Politische Konflikte würden zukünftig ohne staatliche Vermittlung unmittelbar zwischen sozialen Bewegungen und Konzernen ausgetragen. Dies berge durchaus revolutionäres Potential, meint Crouch. Der Soziologe Michael Schumann kritisiert den »Betrieb-

segoismus« vieler Betriebsräte. Vielmehr sollten diese, gemeinsam mit den Gewerkschaften, an überbetrieblichen Lösungen arbeiten. Aber auch bei Schumann fehlt die internationalistische Perspektive. Vieles hört sich nach einer sozialpartnerschaftlichen Standortlogik einer neu zu organisierenden »Deutschland AG« an. Leider ist das kein Einzelfall: Vieles in dem Buch zeugt von einer gewissen Hilflosigkeit. Hier und da präsentieren die Autoren aber auch Vorschläge, an denen linke Politik anknüpfen könnte. So schlagen Huber und Schumann den Arbeitgebern mehr »kompetente« Mitbestimmung, Industriepolitik und Bildung für alle in einem einheitlichen Schulsystem vor. Wie die Gewerkschaften für diese Ziele dann »ringen« sollen, bedarf allerdings weiterer, über dieses Buch hinausgehender Erörterung. ■


BUCH DES MONATS Er ermordete Rosa Luxemburg und wurde dafür nie belangt – weil die SPD ihn deckte. Nun zeichnet eine ausführliche Biografie das Leben des Offiziers Waldemar Pabst nach Von David Paenson

★ ★★ BUCH | Klaus Gietinger | Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere | Edition Nautilus | Hamburg 2009 544 Seiten | 39,90 Euro

»Verschärften Schießbefehls« vom 10. März 1919, in dem es hieß: »Wer sich mit Waffen widersetzt oder plündert, gehört sofort an die Mauer. Dass das geschieht, dafür ist jeder Führer mir verantwortlich.« Auf dieser »Rechtsgrundlage« wurden tausende streikende Arbeiter erschossen. Pabst war es auch, der höchstpersönlich die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht befahl. Gietinger verdanken wir das Wissen, dass dies nach telefonischer Rücksprache mit Gustav Noske geschah, dem SPD-Politiker und damaligen Volksbeauftragten für Heer und Marine. »Dass ich die Aktion ohne Noskes Zustimmung gar nicht durchführen konnte (…), ist klar. Aber nur ganz wenige Menschen haben begriffen, warum ich nie vernommen oder unter Anklage gestellt worden bin. (…) Als Kavalier habe ich das Verhalten der damaligen SPD damit quittiert, dass ich 50 Jahre lang das Maul gehalten habe über unsere Zusammenarbeit«, schrieb Pabst 1969. Mit anderen Worten: Trotz aller Hinweise auf

seine Täterschaft wurde Pabst jahrzehntelang nicht als Mörder belangt, weil die SPD – um ihren eigenen Ruf besorgt – ihre schützende Hand über ihn hielt. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen war Pabst an führender Stelle an verschiedenen rechten Putschversuchen in Deutschland und Österreich beteiligt. Er verbündete sich auch mit Mussolini. Im Jahr 1931 wollte ihn Hitler zu seinem »politischen Organisationschef« machen, was Pabst ablehnte, weil er glaubte, im Bündnis mit konkurrierenden faschistischen Organisationen erfolgreicher zu sein. Daher fiel er zeitweise in Ungnade und entging nur knapp einer Verhaftung. Aber bald konnte er sich auf anderem Gebiet dem »Dritten Reich« dienlich machen: Er machte Karriere beim Rüstungshersteller Rheinmetall und versorgte während des Zweiten Weltkriegs von der Schweiz aus als Generaldirektor der Auslandshandel GmbH das deutsche Heer tonnenweise mit Waffen. Auch nach dem Krieg unterhielt er enge Verbindungen zu den rechten Kreisen der Bundesrepublik und sympathisierte mit der 1964 gegründeten NPD. Zudem arbeitete Pabst weiterhin als Waffenhändler. Noch kurz vor seinem Tod im Mai 1970 war er in Waffengeschäfte mit Taiwan verstrickt. Gietinger hat für sein Werk umfangreiche Recherchen in unzähligen deutschen und ausländischen Archiven betrieben. Ihm gelingt es meisterhaft, anhand der Person Waldemar Pabst aufzuzeigen, wie eng die Bande zwischen den verschiedenen Akteuren der herrschenden Klasse sind. Zu kritisieren wäre lediglich, dass er genauso wenig wie Karl Heinz Roth in seinem Vorwort die Dynamik der deutschen Arbeiterbewegung und ihr revolutionäres Potenzial in den Jahren 1918 bis 1923 erfasst. Doch das schmälert keineswegs die Tatsache, dass Gietinger ein lesenswertes und wichtiges Buch vorgelegt hat. ■ REVIEW

Klaus Gietinger | Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere

© Edition Nautilus

m 15. Januar 1919 ermordeten rechtsradikale Freikorps­ soldaten die beiden Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die Verantwortlichen wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Erst Anfang der 1990er Jahre kamen die Umstände des Doppelmords ans Licht, als Klaus Gietinger die Studie »Eine Leiche im Landwehrkanal« veröffentlichte. In seinem neuen Buch beschäftigt sich der Sozialwissenschaftler und Drehbuchautor diverser »Tatorte« nun mit Waldemar Pabst, dem direkten Auftraggeber des Mords an Luxemburg und Liebknecht. Auf 400 Buchseiten (Fußnoten und Literaturverzeichnis nicht eingerechnet) hat er dessen Lebensgeschichte penibel nachgezeichnet. Trotz seiner Länge kann man das Buch nicht ohne Weiteres beiseitelegen, so unglaublich ist Pabsts Biografie. Der 1880 in gutbürgerlichem Haus geborene Pabst hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg die ersten Stufen auf der Militärleiter erklommen. Anfang August 1914 war er als Generalstabsoffizier der 12. Division der 4. Armee am Überfall auf Belgien beteiligt, wo seine Einheit sogleich größte Kriegsverbrechen beging: »Niemals werde ich die Eindrücke dieses ersten Schlachttages vergessen (…), die ersten Toten, (…) das brennende Dorf Rossignol, die flüchtende Zivilbevölkerung, das Jammern und Stöhnen der Verwundeten, alles das machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mich«, schrieb er später. Ende 1918 beendete schließlich die Novemberrevolution den Krieg. Aber nicht nur das: Die Massenbewegung der Arbeiter und meuternden Soldaten stürzte auch den deutschen Kaiser und übernahm zeitweilig die Kontrolle in den Betrieben. Der preußische Offizier Pabst verabscheute die Revolution. Und so wandte er die in den Jahren zuvor gewonnenen Erkenntnisse darüber, wie man erbarmungslos Krieg gegen Zivilisten führt, nun gegen die eigene Bevölkerung an. Pabst war unter anderem Autor und Unterzeichner des

81


BUCH

Daniel D. Eckert | Weltkrieg der Währungen. Wie Euro, Gold und Yuan um das Erbe des Dollars kämpfen

Währung als Waffe Dollar, Euro und Yuan erscheinen als neutrale Zahlungsmittel. Für die Industriestaaten sind sie jedoch auch Instrumente im Kampf um wirtschaftliche und politische Vorherrschaft. Ein neues Buch berichtet über den Kalten Krieg der Währungen

© FinanzBuch Verlag

Von Christian Schröppel

★ ★★ BUCH | Daniel D. Eckert | Weltkrieg der Währungen. Wie Euro, Gold und Yuan um das Erbe des Dollars kämpfen | FinanzBuch Verlag | München 2010 | 250 Seiten | 19,95 Euro

82

Daniel D. Eckert, Wirtschaftsjournalist der Zeitung Die Welt, handelt in seinem neuen Buch das eher trockene Thema von Währungen und Wechselkursen in einer sprachlich lebhaften und gelungenen Form ab. Er schildert die politischen Kämpfe um die Einführung des Goldstandards in den USA (»Die größten Leidtragenden waren (…) die Farmer.«) ebenso wie die Geschichte der europäischen Währungszusammenarbeit, die schließlich zum Euro führte (»Der Euro stoppte den Drang des deutschen Geldes nach Osten.«). Eckert sieht insbesondere einen teils offen ausgetragenen, teils schwelenden Finanzkonflikt zwischen den USA und China. Die chinesische Regierung befinde sich im Zwiespalt: Einerseits wolle sie durch freien Kapitalverkehr und eine Aufwertung des Yuan dem US-Dollar den Platz als weltweite Leitwährung streitig machen. Andererseits solle mit einem niedrigen Wechselkurs die Exportindustrie gefördert werden. Entgegen dem Titel seines Buchs geht Eckert eher von einem währungspolitischen »Kalten Krieg« als von einem »Weltkrieg« aus: »Enorme Bestände an fremden Devisen und Schuldtiteln« ähnelten »atomaren Massenvernichtungswaffen«. Für China wäre es »einigermaßen irrational, seine amerikanischen Staatsanleihen auf den Markt zu werfen und den Dollar ›ver-

dampfen‹ zu lassen.« Eckert weist jedoch zugleich darauf hin, dass auch vor dem Ersten Weltkrieg die späteren Kriegsgegner ökonomisch eng miteinander verflochten waren. Neben vielen zutreffenden und erhellenden Darstellungen unter anderem zum Zusammenbruch des Bretton-Woods-Währungssystems, zur japanischen Bubble-Ökonomie der späten achtziger Jahre und zur gegenwärtigen Krise des Euro-Systems enthält das Buch einige Ausführungen, die eher politisch motiviert zu sein scheinen und sich nicht zwingend aus den Leitgedanken des Textes ableiten lassen. So versucht Eckert, die Immobilienblase in den USA vor allem der Zinspolitik der USamerikanischen Zentralbank anzulasten. Der »amerikanische Sozialstaat« des billigen Geldes gaukele, so Eckert, ebenso wie die europäischen Sozialstaaten »einen Wohlstand vor, der (…) noch gar nicht erarbeitet ist«. Wo Wirtschaftskrisen vor allem auf Kapitalmarktliberalisierung und spekulative Investitionstätigkeit zurückzuführen sind, stellt Eckert vielfach das »Schuldenmachen« und den Konsum in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Dies kann schnell zu der Schlussfolgerung verleiten, dass es zur Vermeidung und Überwindung von Krisen vor allem notwendig sei, den Gürtel enger zu schnallen. Von den Vertretern einer solchen Spar- bzw. Austeritäts-

politik wird zuweilen angeregt, den in der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre gescheiterten Goldstandard wieder einzuführen. Damit soll Inflation und überschäumender Liquidität entgegengewirkt werden. Zu Recht beurteilt Eckert dies skeptisch. Der Goldstandard sei zu unflexibel und würde die wirtschaftliche Entwicklung von den Unwägbarkeiten der Goldproduktion abhängig machen. Zugleich sieht Eckert das Edelmetall jedoch als letztlich einzig verlässliches Wertaufbewahrungsmittel. Der private Anleger könne mit Gold dem »Laboratorium des großen Experiments« der globalen monetären Krisenbekämpfung entkommen. Eckert geht auf diesen Widerspruch zwischen individueller und gesellschaftlicher Rationalität nicht näher ein, legt jedoch eine Spur: »Gold«, so schreibt er, »ist ein ›rechtes‹ Metall, in dem Sinne, dass es als nahezu inflationsresistente Währung jene begünstigt, die begütert sind und über ein relativ hohes Geldvermögen verfügen.« Ein Beleg mehr, dass individuelles Profitstreben im Widerspruch zu einer für die Gesellschaft insgesamt vernünftigen wirtschaftlichen Entwicklung steht. ■


A

Was sind das für Zeiten, in denen Aktivisten in Simbabwe im Gefängnis landen, weil sie sich ein Video über protestierende Ägypter anschauten? In denen sich Demonstranten aus Wisconsin und Kairo gegenseitig grüßen. Und in denen Spanier und Griechen ihre öffentlichen Plätze besetzen. Der britische Sozialist John Molyneux gibt in seinem Blog unter der Überschrift »The Rising Tide of Revolution« (8. Juni 2011) einen Überblick über die Proteste der ersten Jahreshälfte. Er vergleicht sie mit den drei großen revolutionären Epochen, die den Kapitalismus bislang erschütterten: 1848, 1905-1928 und 1968-1975. Für Molyneux stehen wir gegenwärtig am Anfang einer vierten Phase. In verschiedenen Ländern Europas ist in der letzten Zeit über ein Burka- oder ein Kopftuchverbot diskutiert worden, teilweise wurden sogar entsprechende Gesetze verabschiedet. In ihrem Beitrag zu dieser Debatte setzen sich die Historikerinnen Elisabeth Joris und Katrin Rieder mit den Argumenten der Befürworter auseinander. Gegen die häufig genannte Begründung, das Verbot diene den Frauenrechten, entgegnen die beiden Autorinnen: »Das Gleichstellungsargument dient politisch in ihrer Grundhaltung tendenziell frauenfeindlichen Gruppierungen lediglich als Legitimierung ihrer fremdenfeindlichen Politik.« Der Artikel ist in der Schweizer

Zeitschrift Widerspruch (Nr. 59, 2. Halbjahr 2010) erschienen. Den Schwerpunkt der Ausgabe bilden »Integration und Menschenrechte«.

Q

von Win Windisch und Marcel Bois

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Zeitschriften und Magazinen

Weblinks:

★ ★★ WEBLINKS SoZ: www.sozonline.de Blog von John Molyneux: http://johnmolyneux.blogspot.com Widerspruch: www.widerspruch.ch Prokla: www.prokla.de clara: www.linksfraktion.de/clara JBzG: www.arbeiterbewegung-jahrbuch.de

Im kalifornischen Stockton werden die vertrockneten Rasenflächen grün eingefärbt. So will die Stadtverwaltung verdecken, dass 40 Prozent der Wohnungen und Häuser leer stehen. Diese verzweifelte Maßnahme gehört noch zu den harmlosen Auswirkungen, die die Immobilienkrise auf die USamerikanischen Kommunen hatte. In ihrem Aufsatz »Das neue Elend der US-Städte« zeigt die Berliner Politikwissenschaftlerin Margit Mayer das ganze Ausmaß auf: Etliche Gemeinden stehen kurz vor dem Konkurs, städtische Einrichtungen werden geschlossen, die Angestellten des öffentlichen Diensts zu Tausenden entlassen. Ihr eindrücklich geschriebener Artikel ist in der Zeitschrift Prokla (Nr. 163, Juni 2011) erschienen. Die Bundesregierung hat das Jahr der Pflege ausgerufen. Doch wie sieht der Alltag im Pflegesystem eigentlich aus? In seinem Beitrag für clara (Nr. 19, März 2011), das Magazin der Bundestagsfraktion der LINKEN, hat Ewald Riemer verschiedene Arbeitnehmer aus diesem Bereich bei ihrer Arbeit begleitet. Einer der wichtigsten internationalen Kongresse zur Geschichte der Arbeiterbewegung findet in Österreich statt. Zum bereits 46. Mal tagte im vergangenen September die »Linzer Konferenz«. Im ersten Teil des Dreijahreszyklus »Arbeiterbewegung und soziale Bewegung als Triebkräfte gesellschaftlicher Entwicklung« befassten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit der Frage, welchen Platz die Arbeiterbewegung in der kollektiven Erinnerung einnimmt. Einen ausführlichen Konferenzbericht hat der Berliner Historiker Ralf Hoffrogge im Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (JBzG, 10. Jahrgang, Heft 2/2011) veröffentlicht. ■ REVIEW

m 1. Mai wurde Osama bin Laden von einer Spezialeinheit der US-amerikanischen Armee getötet. Die Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion der SoZ – Sozialistische Zeitung (Nr. 6, Juni 2011) bewerten die Militäroperation als »geplante Hinrichtung« und erinnern daran, dass die USA in der Vergangenheit selbst den Nazischlächtern das Recht auf einen Gerichtsprozess nicht vorenthalten hätten.

83


Š Tom Morello / http://4.bp.blogspot.com

Preview


CD

Tom Morello | Union Town

Die Energie einfangen Im US-Bundesstaat Wisconsin kämpften im Frühjahr Zehntausende für die Rechte der Gewerkschaften. Den Musiker Tom Morello inspirierte das so sehr, dass er ein Album aufnahm und es den weltweiten Kämpfen von Arbeiterinnen und Arbeitern widmete. Hier stellt er die einzelnen Songs vor VON tOM MORellO 1. Union Town von Tom Morello end der 36 Stunden in Madison, Ich schrieb einfach nieder, was ich währ gesehen und gefühlt hatte. acht, gem , elten die alles durcheinanderwirb lo hinzu. Anschließend fügte ich ein Gitarrenso lain 2. Solidarity Forever von Ralph Chap während eines Streiks von 1915 Jahr im Diesen Song schrieb Chaplain Chaplain selbst Mitglied der Bergarbeitern in West Virginia. Da ich wie World bin, war dieser Klassiker der Gewerkschaft Industrial Workers of the . Arbeiterbewegung ein absolutes Muss Reece 3. Which Side Are You On? von Florence Tochter eines Bergarbeiters rigen 12jäh der von 1931 e wurd Lied Dieses United Mine Workers in den mit Vater aus Kentucky geschrieben, als ihr den Streik getreten war. llo 4. A Wall Against the Wind von Tom More nationale Tag der Arbeiter inter der Am 1. Mai wird auf der ganzen Welt USA inspiriert, wurde unser gefeiert. Obwohl durch Ereignisse in den Kriegs auf den 1. September ver„Arbeiterfeiertag“ während des Kalten onstrationen abzukoppeln. legt, um ihn von den weltweiten Dem 5. 16 Tons von Merle Travis Tennessee Ernie Ford erreichDie 1955er-Aufnahme dieses Songs von er Familienangehörigen waren te Platz 1 in den US-Charts. Viele mein is. Ich erinnere mich gut daran, Illino in Bergarbeiter in einer Kleinstadt llo-Männern hörte, die vor wie ich als Kind Geschichten von den More erst nach Sonnenuntergang Sonnenaufgang in die Zeche gingen und im Dunkeln verbrachten. n wieder hoch kamen, die ihr ganzes Lebe Guthrie 6. This Land Is Your Land von Woody ne des Klassenkampfs geHym nde wüte als 1940 e wurd Dieser Song ns patriotisches Lied „God Berli g schrieben. Er galt als Antwort auf Irvin le lernte, wurden die „konSchu der in Lied Bless America“. Als ich Woodys sie wieder eingesetzt. Als Bonus troversen“ Strophen zensiert. Ich habe llo, die den Refrain mitsingen. gibt es drei Generationen der Familie More von Alfred Hayes 7. I Dreamed I Saw Joe Hill Last Night eine Biografie des großen IWWich als Lied, m diese Ich erfuhr zuerst von las. Der Text haute mich um. Aber Liedermachers und Märtyrers Joe Hill n, also verfasste ich meine eigene ich bekam nie eine Aufnahme zu höre Musik dazu. 8. Union Song von Tom Morello sten gegen die FTAA, die ameDieser Song entstand 2003 nach den Prote einer Gewerkschaftskundgebung rikanische Freihandelszone. Ich trat bei Lieder hatte, die ich an solchen auf und merkte, dass ich keine eigenen diesen Song. Tagen spielen könnte. Also schrieb ich

★★★

tOM MORellO wurde bekannt als Gitarrist der Bands Rage Against the Machine und Audioslave. Seit 2003 betreibt er das Soloprojekt The Nightwatchman. Sein Artikel ist erstmals auf socialistworker.org erschienen.

★ ★★ Die CD »Union Town« ist bei New West Records erschienen. Der gesamte Erlös geht an den America Votes Labor Unity Fund.

PREVIEW

I

m Frühjahr trat ich in Madison, Wisconsin, bei den riesigen Demonstrationen gegen die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze des konservativen Gouverneurs Scott Walker auf. Obwohl ich schon bei hunderten Demonstrationen gespielt hatte, habe ich so etwas nie zuvor gesehen. Bratwurst essende Footballfans und Molotowcocktails werfende Anarchisten standen Schulter an Schulter und kämpften gemeinsam für Gerechtigkeit. Mich inspirierten die 100.000 Menschen, die an dem bitterkalten Samstagnachmittag auf den Straßen demonstrierten. Mich inspirierte die Solidarität der Studenten, der Stahlarbeiter und der Feuerwehrleute jeder Altersgruppe, jeder Herkunft und jeder Glaubensrichtung, die das Parlamentsgebäude besetzt hatten. Und mich inspirierte die Tatsache, dass etwas in der Luft lag, das all diese Menschen dazu brachte, sich einzumischen und Geschichte zu schreiben. Am Tag meiner Rückkehr schrieb ich das Lied »Union Town«. Am nächsten Tag traf ich die Entscheidung, ein Album aufzunehmen und dessen gesamten Erlös für die gewerkschaftlichen Kämpfe im ganzen Land zu spenden. Das Freedom Fighter Orchestra unterstützte mich dabei und wir nahmen das Album binnen vier Tagen auf, weil ich die Energie einfangen wollte, die ich auf den Straßen von Madison gespürt hatte. Einige der Songs auf dem Album habe ich selbst verfasst, einige sind Klassiker des Klassenkampfes:

85


„Die Abzugspläne sind eine Farce“ Anfang Dezember treffen sich Vertreter der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten in Bonn zu einer Afghanistan-Konferenz. Christin Bernhold wird dagegen protestieren. Im Interview erläutert sie ihre Beweggründe

U

S-Präsident Barack Obama will aus Afghanistan abziehen, die Europäer gleich mit. Warum dann noch protestieren, das Ziel ist doch erreicht? Nein, ist es leider nicht. Die Abzugspläne sind eine Farce. Die NATO will ihre Präsenz nicht aufgeben, sondern umstrukturieren. Die neoimperialistische Politik in Afghanistan soll so organisiert werden, dass die eigenen Kosten und Opferzahlen sinken – auch, um dem Mangel an Rückhalt an der Heimatfront entgegenzuwirken. Angestrebt ist erstens eine »Afghanisierung« des Krieges, das heißt die Erhöhung afghanischer Truppenteile bei den Einsätzen. Die Zahl der afghanischen Opfer wird also steigen. Die Kontrolle soll aber bei NATO-»Militärberatern« bleiben. Dadurch setzt die NATO Kräfte frei, die sie an anderen Kriegsschauplätzen wie in Libyen braucht. Zweitens wird vermehrt auf »zivil-militärische Zusammenarbeit« gesetzt: Es sollen zunehmend politische, wirtschaftliche, humanitäre und polizeiliche Instrumente in die Strategie des Militärbündnisses integriert werden. Alle Bereiche, von der Entwicklungshilfe bis zum Militäreinsatz, werden damit der Durchsetzung geostrategischer und wirtschaftlicher Interessen untergeordnet. Das ist kein Weg zum Frieden, sondern eine weitere Etappe im neoimperialistischen Projekt der NATOStaaten.

B

ei den Antiatomprotesten sind viele junge, neue Gesichter. Bei den letzten Antikriegsprotesten überwogen die älteren Semester. Ist „Krieg und Frieden“ kein Thema für Jugendliche? Das stimmt so nicht, bei den Protesten vor Beginn des Irakkriegs im Jahr 2003 sind

86

Christin Bernhold

Christin Bernhold ist Mitglied des gemeinsamen Bundesarbeitskreises Antimilitarismus und Frieden der Linksjugend [‘solid] und des Studierendenverbandes Die Linke.SDS. Außerdem ist sie Mitglied im SprecherInnenrat der Linksjugend in Hamburg.

viele junge Menschen auf der Straße gewesen. Aber richtig: Seitdem ist der Altersschnitt wieder hoch gegangen. Deshalb bemühen wir uns natürlich über unsere Reihen hinaus Jugendliche zum Protest nach Bonn zu bringen. Weltweite Instabilität, komplexere territoriale Herrschaftsverhältnisse und ein aggressives imperialistisches Projekt des Westens bedeuten, dass wir mehr Kriege sehen werden als unsere Eltern – vor allem: deutlich mehr Kriege, in denen die deutsche Armee mitkämpft. Das betrifft Jugendliche direkt: Die Bundeswehr nutzt die berufliche Perspektivlosigkeit vieler Schülerinnen und Schüler aus und kommt an Schulen, um das Kanonenfutter für morgen zu werben. Das versuchen wir mit der Kampagne »Bundeswehr raus aus den Schulen« zu verhindern.

W

ie sehen die Planungen in Bonn aus? Am 5. Dezember werden auf dem Bonner Petersberg hochrangige Vertreter der kriegsführenden Nationen zusammenkommen, wahrscheinlich die Außenminister. Sie werden mit 1000 Delegierten aus 90 Ländern diskutieren, um dem Ganzen einen humanitären Anstrich zu geben. Eine Gegendemo und ein internationaler Gegengipfel sind für den 3. und 4. Dezember geplant. Diese werden gerade in Arbeitsgruppen vorbereitet, ebenso wie die Aktionen zivilen Ungehorsams am Tag des Gipfels selber. Es läuft also einiges, aber das Ganze lebt natürlich vom Mitmachen! Die Fragen stellte Stefan Bornost


Spendenkampagne

10.000 Euro für marx21 Dir gefällt marx21 und du bist der Meinung, dass mehr Menschen das Magazin lesen sollten? Dann kannst du uns jetzt helfen – mit einer Spende.

G

roße Zeitschriftenverlage sind durch das Anzeigengeschäft abhängig von Konzernen. marx21 ist anders: Wir bekommen kein Geld von der Wirtschaft. Aber auch marx21 kostet Geld. Vielleicht ahnst du es: Nur durch regelmäßige Spenden unserer Leserinnen und Leser kann das Magazin überhaupt erscheinen. Hier ein Überblick, wofür wir dein Geld brauchen: Neue Datenverwaltung: Seit der ersten Ausgabe des Magazins hat sich die Zahl unserer Abonnentinnen und Abonnenten verdreifacht. Das freut uns. Zugleich stellt es uns aber vor technische Herausforderungen. Wir benötigen ein neues Verwaltungsprogramm, damit wir für weitere neue Abonnentinnen und Abonnenten gerüstet sind. Fixkosten bezahlen: Druck, Büroräume, Vertrieb und Telefon sind nicht kostenlos. Wir träumen außerdem von farbigen Innenseiten. Schnellere Computer für besseres Arbeiten: Die Sanduhr dreht sich, »Die Anwendung wird aufgrund eines schweren Ausnahmefehlers geschlossen«, »Kein Netzwerkzugriff« … und der Drucktermin naht. Damit die Redaktion sich auf das Wesentliche konzentrieren kann, muss die Technik problemlos laufen. Wir müssen unsere überalterte Computerflotte austauschen: Wir brauchen schnellere Computer und flimmerfreie Bildschirme. Neue Homepage: Seit vier Jahren existiert nun marx21.de als eigenständiges Webangebot. Die Zahl der Besucher auf unserer Homepage hat sich ständig erhöht. Jeden Monat haben wir 10.000 Zugriffe. Das bedeutet: Wir erreichen auf diesem Weg mehr Menschen als mit dem Magazin. Deshalb möchten wir das Onlineangebot verbessern und ein Redesign der Home-

page machen. marx21.de soll übersichtlicher und benutzerfreundlicher werden. Bessere Vertriebsstrukturen: marx21 hat Potential. Aber viele mögliche Leserinnen und Leser kennen das Magazin gar nicht. Wir würden uns freuen, wenn marx21 in noch mehr Buchhandlungen, Infoläden und Kiosken präsent wäre. Dafür müssen wir unsere Vertriebsstrukturen verbessern. Software für das Layout: Der Gestaltung des Magazins widmen wir viel Zeit, weil wir wissen: Nur Artikel, die ansprechend gelayoutet und bebildert sind, finden Leserinnen und Leser. Damit wir auf der Höhe der Zeit bleiben, benötigen wir ein neues Layoutprogramm und eine bessere Fotobearbeitungssoftware. Mehr Service: Uns interessiert die Meinung unserer Leserinnen und Lesern. Daher möchten wir gerne regelmäßig telefonische Leserumfragen zur Gestaltung und inhaltlichen Ausrichtung des Magazins durchführen. Zudem möchten wir häufiger mit unseren Leserinnen und Lesern in Kontakt treten und einen besseren Mailverteiler entwickeln. Dafür benötigen wir Personal und neue Software. Deine Spende würde uns bei diesen vielfältigen Zielen unterstützen. Zugleich würde sie dazu beitragen, die Zukunft von marx21 zu sichern. Jeder Cent hilft. Danke.

www.marx21.de

Spendenkonto: GLS Bank Konto: 1119136700 BLZ: 430 609 67 Stichwort: Spende Kontoinhaber: m21Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V.


DEIN ABO. DEIN BUCH.

Liebe Leserin, lieber Leser, Über den Sommer gibt es ein exklusives Angebot: Wer das Magazin marx21 jetzt für ein Jahr abonniert, erhält als Prämie ein exemplar des neuaufgelegten Buches »Die revolutionären Ideen von Karl Marx« von Alex Callinicos. Deine marx21-Redaktion

.de 1 2 x mar f u & a line stellen . n o t e n Jetz Euro b rhalte / abo für 20 chön e s e r s Jah resabo Danke n i De Jah ch als Bu


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.