marx21 Ausgabe Nummer 22 / 2011

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marx 21

nr. 22 | September / oktober 2011 3,50 € | ISSn 1865-2557 www.marx21.de

maGaZIN fÜR INTeRNaTIoNaleN soZIalIsmus

Türkei Erdogans gefährliche Offensive gegen die Kurden

Gewerkschaften Wie ver.di die Krankenhäuser organisiert? Rechtspopulismus Der Anschlag von Norwegen und seine Vordenker

Jello Biafra

im Gespräch über einen entarnten Präsidenten und die Energie des Punkrock

Nicole Gohlke analysiert die Krise der Hochschulen

Lucas Zeise

erklärt die Macht der Finanzmärkte

Kultur Wirtschaftskrise, Riots und der Song »Ghost Twon« von The Specials

DIE MAUER . G E W S S U M

se und Noam Chomsky, Tariq Ali, John Ro Osten en ah N im n de ie Fr m zu e eg W er Naomi Klein üb



USA

© C. Elle / flickr.com

Liebe Leserinnen und Leser,

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er Sommer ist normalerweise keine gute Zeit, um ein Magazin wie marx21 zu konzipieren. Der politische Betrieb ruht, durch das Sommerloch läuft eher die Kuh Yvonne als irgendein großes Thema. Doch diesmal war alles anders: Anders Breivik vollstreckte in Norwegen blutig seine islamfeindliche und antidemokratische Ideologie. Die Weltwirtschaft ging rasant in die Knie. Und der Arabische Frühling setzte sich mit dem Sturz Gaddafis und der neuen Massenbewegung in Israel fort. Ein volles Programm also für die Redaktion, die trotzdem anfangs unter keinem guten Stern arbeitete. Der geplante Aufmacher zum 10. Jahrestag des 11. September wurde nichts, weil die gewünschten Interviewpartner allesamt wegen Arbeitsüberlastung absagten. Offensichtlich waren wir nicht die einzigen, die Noam Chomsky, Arundhati Roy und Tariq Ali für geeignete Ansprechpartner hielten. Entschädigt wurden wir aber durch das Gespräch mit Jello Biafra, dem Sänger der Dead Kennedys. Jello war immer einer der politischen Köpfe des Punks, sein Konzert inmitten des »Battle of Seattle« im Herbst 1999 legendär. Wir freuen uns, ihn im Blatt präsentieren zu dürfen und sagen an dieser Stelle vielen Dank an Julia Dobberstein und Stephanie Hanisch, ohne deren hartnäckiges Engagement das Interview nicht zustande gekommen wäre. Hartnäckigkeit hat auch Martin Haller erwiesen, unser erster Praktikant. Als wir seine Anfrage im elektronischen Posteingang entdeckten, waren wir zunächst unsicher, ob unsere Redaktion überhaupt der geeignete Ort für ein Praktikum ist. Zum einen ist die politische Orientierung von marx21 anders als die der »normalen Medien«, zum anderen sehen wir uns als Redaktion journalistisch noch immer eher als Lernende denn als Lehrende. Martin hat das alles nicht gestört – und war uns eine starke Unterstützung. Nicht nur das: Es tat uns Redakteuren gut, unser Handwerk nicht einfach nur zu tätigen, sondern auch erklären zu müssen, warum wir manche Dinge so tun, wie wir sie tun. In solchen Momenten fällt auf, dass »Weil wir das immer so gemacht haben« keine wirklich gute Erklärung ist. Genug Ansporn für Innovation also. Herausgekommen ist die neue Kolumne »Betriebsversammlung«. Dort möchten wir künftig diejenigen vorstellen, die marx21 machen und vertreiben – also nicht nur die Kernredaktion, sondern auch Layouter, Korrekturleser, das Aboteam oder unseren Illustrator. Den Anfang macht Praktikant Martin. Was wir über ihn zu berichten haben, lest ihr auf Seite 14. Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

Seit Monaten demonstrieren Zehntausende im US-Bundesstaat Georgia gegen die drastische Verschärfung des Einwanderungsgesetzes. Das am 1. Juli in Kraft getretene »House Bill 87« berechtigt die Behörden, sogenannte »Illegale« schon wegen geringfügiger Delikte umgehend einzusperren. Die Verwendung gefälschter Papiere bei der Arbeitssuche soll mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden. In Georgia leben Schätzungen zufolge 425.000 illegale Einwanderer. Trotz der Rücknahme einiger Passagen aus der Gesetzesnovelle sieht sich die Protestbewegung erst am Anfang ihres Kampfes. Sie versteht sich als Erbe des »Civil Rights Movement« der 1960er Jahre und strebt einen landesweiten Widerstand gegen Rassismus, Diskriminierung und Kriminalisierung von Migrantinnen und Migranten an.

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Krise an der Hochschule

Libyen: Sieg ins Ungewisse

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Wege zum Frieden in Nahost

Aktuelle Analyse

Schwerpunkt: Wege zum Frieden in Nahost

Schwerpunkt: Die neue Rechte

06 Libyen: Sieg ins Ungewisse Von Paul Grasse

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»Juden und Nichtjuden können friedlich zusammenleben« Interview mit John Rose

37 Rechtspopulismus: Des Nazis neue Kleider Von Marwa Al-Radwany

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»Vergesst das endlose Argumentieren« Tariq Ali, Naomi Klein, Noam Chomsky u.a. über Wegen zum Frieden

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Islamischer Fundamentalismus: Falsche Feinde Von Volkhard Mosler

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Antirassismus braucht kein antireligiöses Bekenntnis Kommentar von Marwa Al-Radwany

08 Volle Fahrt voraus in die Weltwirtschaftskrise Interview mit Lucas Zeise 12

DIE LINKE: Wieder in die Spur Redaktion marx21

26 Existenzrecht: Welches Israel? Von Stefan Bornost

Unsere Meinung 16 Boykott der jungen Welt: Ein bedrohtes Gut Kommentar von Klaus-Dieter Heiser 17

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9/11: Projekt Neue Weltordnung Kommentar von Christine Buchholz

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Proteste: Von Kairo inspiriert Von Jonah Birch und Hadas Thier

neu auf marx21.de

46 Niederlande: Kein Geld für »linke Hobbys« Von Mona Dohle

Mein Körper gehört mir Unter dem Motto »Schlampenmärsche« gingen im Sommer tausende Frauen auf die Straße. Sie wehren sich gegen den Vorwurf, an Vergewaltigungen mitschuldig zu sein.

Ein Blick lohnt sich:

www.marx21.de


Schwerpunkt: Die Neue Rechte

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Grundeinkommen für alle?

Interview mit Jello Biafra

Betrieb und Gewerkschaft

Internationales

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64 Türkei: Gefährliche Offensive Von Serdar Damar

ver.di: »Kollektive Stärke organisieren« Interview mit Fabian Rehm

Kontrovers

Netzwerk marx21

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68 Serie: Was will marx21 (8) Was ist eine Revolution?

Diskussion: Grundeinkommen für alle? Von Werner Halbauer

Unispezial 56 Krise an den Hochschulen: Welcome to the Machine Von Nicole Gohlke 59 Studierende: Zwischen Campus und Call-Center Von Martin Haller

72 Europäische Gewerkschaften: Zeit zum Erwachen Kolumne von Arno Klönne Kultur 74

»Punk ist Energie und Rebellion« Interview mit Jello Biafra

80 Klassiker des Monats: Lenin: Staat und Revolution Von Alexander Schröder 82 Die Geschichte hinter dem Song: The Specials:»Ghost Town« Von Yaak Pabst Rubriken 03 Editorial 14 Impressum 14 Betriebsversammlung 15 Leserbriefe 34 Neues aus der LINKEN 62 Weltweiter Widerstand 71 Was macht das marx21-Netzwerk? 84 Review 91 Quergelesen 92 Preview

INHALT

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© Carlos Latuff / Deutsche bearbeitung marx21

Libye

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Sieg ins Ungewisse Der libysche Diktator Gaddafi ist gestürzt. Der Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit ist damit aber noch lange nicht beendet Von Paul Grasse

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ie sich die Bilder gleichen: Jubelnde Massen auf dem größten Platz der Stadt, Freudenschreie, der Diktator ist gestürzt. Diesmal ist es nicht der Tahrir in Kairo, sondern der Märtyrer-Platz in Tripolis. Die Rebellen haben die libysche Hauptstadt im Handstreich genommen. Unterstützung erhielten sie dabei durch die Luftangriffe der NATO. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe wurde in einigen Orten Libyens zwar noch gekämpft, dennoch gibt es keinen Zweifel, dass die Rebellen den Bürgerkrieg gewinnen und Machthaber Muammar al-Gaddafi gestürzt ist. Kaum jemand wird Gaddafi eine Träne nachweinen. Über 40 Jahre lang regierte er Libyen mit eiserner

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Der Nationale Übergangsrat ist die große Unbekannte der Revolution


Diese Unterstützung gab es natürlich nicht umsonst. Schon jetzt beginnt die Diskussion, wer in welchem Maße von der politischen und ökonomischen Neuordnung Libyens profitiert. Vorrang haben die Länder, die sich an der Militäraktion beteiligt haben. Abdeldschalil Mayouf von Agoco Oil, dem Energiekonzern der libyschen Rebellen, machte deutlich, welche Konzerne nun zum Zuge kommen und wer außen vor bleiben wird: »Wir haben kein Problem mit westlichen Ländern, mit italienischen, französischen und britischen Firmen. Aber wir haben möglicherweise einige politische Streitigkeiten mit Russland, China und Brasilien.« Libyen besitzt die größten Ölreserven in Afrika und die neuntgrößten der Welt. Bereits Ende April fand in London eine internationale Konferenz statt, um diese unter den Großmächten aufzuteilen. Ganz hinten anstellen muss sich Deutschland, weil sich die Bundesregierung nicht an der Militäraktion beteiligt hat. Diese Entscheidung war im Wesentlichen der innenpolitischen Situation geschuldet: Die angeschlagene schwarz-gelbe Regierung sah sich außerstande, das politische Kapital für einen Einsatz aufzubringen – gerade in einer Situation, in der eine Mehrheit der Bevölkerung den Truppenabzug aus Afghanistan fordert. Mittlerweile sehen wesentliche Teile des Berliner Establishments die Enthaltung im Libyenkrieg als Fehler an, weil damit die Chance verpasst wurde, an der Neuordnung Libyens mitzuwirken und davon zu profitieren. Das Bombardement hat viele Libyer das Leben gekostet. Es häufen sich Berichte über Gräueltaten der Rebellen an Gaddafi-Treuen. Insbesondere Schwarzafrikaner stehen unter Generalverdacht, dem ehemaligen Diktator gedient zu haben und werden regelrecht gejagt. Unklar ist, ob das auf Weisung des Nationalen Übergangsrats TNC stattfindet. Überhaupt ist der TNC die große Unbekannte in der Revolution. Grob sind zwei Flügel auszumachen: Einerseits die im Volk verankerte revolutionäre Leitung aus zentralen Wortführern des Aufstandes, darunter auch Vertreter radikaler islamischer Gruppen. Zum anderen finden sich im TNC ehemals hochrangige Regimeanhänger, die eine Interimsregierung mit Hilfe des Westens anstreben. Die Gründung des TNC

war ein Kompromiss zwischen diesen beiden Flügeln. Eine der Bedingungen für sein Zustandekommen war, dass er dem Westen die Garantie gab, die von Gaddafi unterzeichneten Ölverträge zu erfüllen. Der Übergangsrat war es auch, der eine Militärintervention des Westens forderte, nachdem der Vormarsch der Rebellen gestoppt wurde. Im Unterschied zu Ägypten hatte sich die Bewegung nicht in

Die libysche Revolution hat durch das Eingreifen der NATO ihren Charakter verändert

★ ★★ der Hauptstadt entwickelt. Durch die enormen Ölvorkommen ist Libyen ein verhältnismäßig reiches Land. Durch Subventionen und soziale Zugeständnisse war es Gaddafi möglich, insbesondere im Westen des Landes, also der Region um Tripolis, Loyalitäten und Abhängigkeiten zu schaffen. Das war ein Grund dafür, dass die Bewegung dort nur langsam Zulauf fand. Der Aufstand stagnierte, weil seine soziale Basis nicht breit genug war. Das NATO-Bombardement verschärfte dieses Problem. Denn es stärkte Gaddafis Argument, dass die Rebellen Agenten des Westens seien, die das libysche Öl plündern wollten. In Tripolis fanden seit Beginn des Bombardements keine größeren Demonstrationen mehr gegen das Regime statt. Nach Gaddafis Abgang ist die Zukunft offen. Im Interesse des Westens liegt eine Regierung, die berechenbarer als das bisherige Regime ist – und zudem einen demokratischen Anstrich hat. Ein mögliches Vorbild ist die Regierung Karzai in Afghanistan. Ob damit den Menschen in Libyen gedient ist, ist mehr als fraglich. Leicht könnten beim Ausverkauf des Landes Demokratie und soziale Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben. Zudem zeigt die kürzlich bekannt gewordene Zusammenarbeit westlicher Geheimdienste mit Gaddafis Staatssicherheit das instrumentelle Verhältnis, das die EU und die USA zur Demokratie haben. Dessen sind sich auch die Menschen, die den Aufstand getragen haben, bewusst. Kurz nach Gaddafis Sturz porträtierte die Berliner Zeitung den jungen Revolutionär Moussa Boussnina, der schon bei der ersten Demonstration in Tripolis dabei war. Angesprochen darauf, dass die alten Eliten und Wendehälse die Revolution vereinnahmen könnten, sagt er: »Wenn jemand uns unsere Revolution stehlen will, dann wird es eine zweite Revolution geben.« Dieser Zeitpunkt könnte näher sein als gedacht. ■

Paul Grasse ist Mitglied im Sprecherrat der Landesarbeitgemeinschaft Frieden und Internationale Politik der Berliner LINKEN.

★ ★★ WEITERLESEN Weitere Analysen zur Lage in Libyen auf: http://tiny.cc/gaddafi und http://tiny.cc/ gaddafi2

AKTUELLE ANALYSE

Faust. Trotzdem darf man berechtigte Skepsis haben, ob nun die lang ersehnte Ära der Freiheit beginnt. Denn die libysche Revolution hat durch das Eingreifen der NATO ihren Charakter verändert. Was als ein Massenaufstand begann, endete als Militäroperation, die letztendlich durch die Feuerkraft der westlichen Truppen entschieden wurde. Anfangs wurde der Einsatz damit begründet, ein Massaker der GaddafiTruppen in der Rebellenhochburg Bengasi abwenden zu wollen. Er endete aber nicht mit der Abwehr der Gaddafi-Treuen vor der Hafenstadt, sondern wurde ausgeweitet, um den Sturz Gaddafis zu erreichen.

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© deviantart.com

Volle Fahrt

voraus in die

Weltwirtschaftskrise Kurse brechen ein, der Euro geht in die Knie und Der Spiegel verkündet den »Gelduntergang«. Die richtige Zeit also, kompetenten Beistand in Wirtschaftsfragen zu suchen. Der Finanzjournalist Lucas Zeise erklärt, warum er nicht auf Eurobonds hofft, und enthüllt, was Multimilliardär Warren Buffett peinlich ist

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ie unkontrollierbare Gier der Finanzmärkte bedroht die globale Gesellschaft.“ So sieht der Spiegel die aktuelle Krise. Trifft das den Kern? »Unkontrollierbare Gier« ist schon mal Irrsinn. Denn was heißt hier Gier? Die Leute werden ja dafür bezahlt, dass sie soviel Geld wie möglich für ihre Arbeitgeber rausholen. Das ist keine Gier, sondern systematische Methode. Und dass wir uns inmitten einer globalen Krise befinden, ist ein Allgemeinplatz. Gemeint ist doch: So wie bisher gewurschtelt wurde, kann es nicht weitergehen.

LUCAS ZEISE

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as wurde nun schon zu Beginn der Krise im Jahr 2008 gesagt. Auch damals standen Banken und Fonds wegen Spekulation am Pranger. Warum hat sich nichts geändert? An mangelnder Empörung hat es jedenfalls nicht gelegen. Die einfache Antwort ist: Diejenigen, die weiterhin Geld aus diesem System herausziehen wollten, haben das verhindert. Sie haben Macht, den kürzeren Draht zu den Entscheidungsträgern und sitzen am längeren Hebel. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass nichts passiert ist.

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st die Finanzwirtschaft überhaupt eine „wirkliche Wirtschaft“? Hier wird doch oftmals mit Werten gehandelt, die es überhaupt nicht gibt. Es stimmt nicht, dass in der Finanzwirtschaft mit irrealen Werten gehandelt wird. Richtig ist, dass das Volumen der gehandelten Papiere das Volumen der real produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen weit übersteigt. Das heißt aber nicht, dass diese Papiere nicht werthaltig sind. Es handelt sich um juristische Verträge zur Rückzahlung eines Kredits, das Liefern einer Summe zu einem bestimmten Datum, zum Ziehen einer Option oder ähnliches. Es ist Geld, was dort gehandelt wird, in verschiedenen Formen. Die neue Entwicklung ist, dass der Vermögensanspruch auf Papier, und nichts anderes ist eine Aktie oder eine Staatsanleihe, in den letzten 30 Jahren massiv ausgeweitet worden ist – weit mehr als die reale Wirtschaft. Doch die Vermögensansprüche des einen sind immer die Schulden des anderen. Und wenn der Gläubiger den Glauben daran verliert, dass der Schuldner den Vermögensanspruch auf Papier mit Geld bedienen kann, gerät die ganze Konstruktion ins Rutschen. Das sehen wir jetzt seit vier Jahren.

Lucas Zeise ist Finanzjournalist. Er schreibt regelmäßig für die Financial Times Deutschland.

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arum wurde in den letzten 30 Jahren mehr Geld in Papiere als in neue Fabriken und Büros angelegt? In diesem Zeitraum sind die Profite schneller, viel schneller gewachsen als die profitablen Anlagemöglichkeiten im produktiven Sektor. Genau die Maßnahmen, die durchgesetzt wurden, um die Profite zu erhöhen, niedrige Löhne zum Beispiel, begrenzen natürlich auch Absatz- und damit Anlagemöglichkeiten. Die Kapitalisten wollen den Profit aber reinvestieren, um mehr Profit zu machen, und das tun sie dann an den Finanzmärkten. Innerhalb des Investments an den Finanzmärkten gibt es dann eine Bewegung zu den profitabelsten Anlagemöglichkeiten. So landet dann Geld, das in der Produktion beim deutschen Mittelstand erwirtschaftet wurde, bei amerikanischen Ramsch-Hypothekenpapieren, die giftig sind, aber als unbedenklich deklariert werden. Irgendwann wird klar, dass der Bluff nicht ewig funktioniert, dass der Vermögensanspruch dieser Papiere mangels zahlungsfähiger Schuldner nicht zu realisieren ist. Dann haben wir die Situation von 2007. Dieses Problem besteht heute immer noch, nur dass jetzt nicht die Zahlungsfähigkeit amerikanischer Häuslebauer im Vordergrund steht, sondern die der schwächeren Staaten im Weltkapitalismus, die Bankschulden via Bankenrettung in ihre Haushalte übernehmen mussten.

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eit Abwertung der Bonität der USA stehen Ratingagenturen heftig in der Kritik. Wie mächtig sind sie und wer steckt dahinter?

Die Kritik an den Ratingagenturen ist ja keineswegs neu. Als im Jahr 2007 die Finanzkrise noch klein und hübsch war, wurde als Erstes auf die Ratingagenturen draufgehauen – die Gewerkschaft ver.di kürte sie zum Beispiel zum Hauptschuldigen der Krise. Auch die Kritik, dass die Agenturen rein amerikanisch sind und ein Monopol haben, ist alt. Ich finde, das geht am Problem vorbei. Das Irre ist doch nicht, dass sich die Ratingagenturen als Ratgeber und Schiedsrichter aufspielen, sondern dass sie überhaupt jemand ernst nimmt. Diese vergleichsweise winzigen Firmen werden doch erst dadurch wichtig, dass die Politik und vor allem die Bankenaufsicht ihrem Wort Gewicht zuspricht. Natürlich haben sich die Agenturen vor Ausbruch der Krise 2007 schmieren lassen, damit sie Papiere empfehlen, vor denen sie hätten warnen müssen. Im Grunde sind sie aber Hilfsknechte des Apparats der Finanzwirtschaft. Um die Abwertung der US-Bonität durch eine eigentlich unbedeutende Popelfirma, nämlich Standard & Poor’s (S & P), wurde ein Riesenwind gemacht. Warum eigentlich? Gedanken um die Zahlungsfähigkeit der USA konnte man sich als zahlenlesender Mensch nun schon vorher machen. Was hat das Votum von S­&­P jetzt an der Sachlage geändert? Kein Mensch zwingt eine Regierung dazu, auf eine Ratingbewertung zu reagieren. Um so schlimmer ist es, dass Institutionen wie die Europäische Bankenaufsicht, die Versicherungsaufsicht, die Fondsaufsicht und die EZB es trotzdem tun.

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ocker attackieren den Euro“ titelte die Bild kürzlich. Wie kann so etwas funktionieren? Welche Rolle spielen dabei die Staatsanleihen? Staatsanleihen sind die Schulden der Staaten. Wenn ein Unternehmen bei einer Bank als solide angesehen wird, dann bekommt es günstige Konditionen, ein Pleitekandidat eben nicht. Genauso ist das bei den Staaten auch. Je größer der Zweifel an der Zahlungsfähigkeit, desto höher die Zinsen, weil die Papiere massenweise abgestoßen werden und deshalb durch Zinserhöhungen attraktiver gemacht werden müssen. Das ist ein ganz normaler Vorgang, dafür müssen wir nicht Zocker und Spekulanten zu bemühen. Entscheidend ist dabei aber nicht das absolute Niveau der Staatsverschuldung – Japan beispielsweise ist höher verschuldet

AKTUELLE ANALYSE

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als Griechenland, hat aber weitaus niedrigere Zinsen. Der Unterschied ist: Die Griechen haben wenig Möglichkeiten, mehr Geld aus ihrem System herauszupressen – die meisten wirklich Reichen haben ihr Geld schon ins Ausland verschoben. Selbst wenn die Regierung wollte, würde sie diese Leute steuerlich nicht mehr belangen können. Die Japaner hingegen finanzieren ihre Staatsschulden seit zwei Jahrzehnten aus ihren eigenen Lebensversicherungen, aus den Guthaben in den Postsparkassen und ähnlichen Einlagen. Entsprechend ist hier auch kein Anleger unruhig, die Annahme ist, dass die das schon irgendwie regeln werden. Ähnlich sieht es bei den USA aus. Exorbitante Schulden und Abwertung haben ja nicht dazu geführt, dass die US-Staatsanleihen jetzt schlecht dastehen und die Zinsen steigen. Im Gegenteil: Die werden immer noch gerne gekauft, die Zinsen sind niedrig. Denn der enormen amerikanischen Staatsverschuldung stehen noch enormere Anhäufungen von privaten Vermögen gegenüber. Wenn die amerikanischen Herrschenden sich morgen entscheiden würden, von den Reichen und Superreichen vom Schlage eines Bill Gates oder eines Warren Buffets ein paar Prozent Sondersteuer zu erheben, wäre der Haushalt komplett saniert. Da jederzeit die theoretische Möglichkeit besteht, die Verschuldung zu eliminieren, gibt es auch keine Panik.

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ie Bundesregierung verlangt Sparprogramme von den betroffenen Ländern, um das „Vertrauen der Märkte“ wieder herzustellen. Kann das funktionieren? In der Frühphase hätte man die Eurokrise damit vielleicht eindämmen können – zu Lasten der Bevölkerung natürlich. Die Bankenrettung hat ja auch in dem Sinne geklappt, dass der Bankensektor nicht zusammengebrochen ist. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück haben im Jahr 2008 gesagt: »Liebe Bürger, Ihre Einlage bei der Bank ist sicher.« Die lieben Bürger haben das geglaubt, der Finanzmarkt hat das geglaubt und die Banken haben sich stabilisiert. Damals haben in der Tat alle geglaubt, dass die Staaten genug Knete haben, um die Banken – komme was wolle – zu stützen. Dann kam die Griechenlandkrise und mit ihr ers-

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te Zweifel, ob das Land die Schuldenlast bewältigt. Ein Wort der Bundesregierung hätte genügt, die nachfolgende Eskalation abzuwenden. Hätte Merkel gesagt: »Selbstverständlich, wenn das Land Probleme hat, dann bekommen sie einen Überbrückungskredit von soundso viel Milliarden Euro«, dann hätte es für das Hochtreiben der Zinsen und Spekulation gar keinen Raum gegeben. Das wurde nicht gemacht, weil die deutsche Regierung dachte, das wäre zu teuer. Die Idee war, den Sanierungsdruck auf Griechenland zu erhöhen und zu hoffen, dass die Sache vorbeigeht. Das Gegenteil ist jedoch passiert: Die griechische Wirtschaft klappte infolge der Sanierung zusammen, die Rückzahlung der Schulden wurde dadurch immer unwahrscheinlicher und die vermeintlich billige Lösung ist jetzt eine sehr teure. Die Bundesregierung wollte beides: Einerseits die schöne Eurozone, die ihr aufgrund des Wegfallens von Währungsgrenzen einen enormen Markt für den sehr wettbewerbsfähigen Export bietet. Anderseits wollte sie nur Einnahmen, aber keine Kosten. Doch beides zusammen geht in einer solchen Situation nicht.

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etzt wird viel vom „Geburtsfehler“ des Euro gesprochen – gemeinsame Währung ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik. Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy wollen das jetzt ändern. Ein richtiger Schritt? Zunächst klingt das so. Wahrscheinlich wird es aber ein Schritt in die falsche Richtung. Selbstverständlich war es falsch, den Euro einzuführen ohne eine übergreifende Wirtschaftspolitik. Damals hieß es wie üblich: Der Markt wird es schon regeln. Jetzt haben wir die Situation, dass große Ungleichgewichte bestehen. Deutschland hat einen hohen Exportüberschuss und dominiert die anderen Staaten wirtschaftlich derart, dass die nicht mehr auf die Füße kommen. Das müsste natürlich durch eine übergreifende Politik abgebaut werden. Genau das wurde aber nicht vereinbart. Wie ich den Laden kenne, bedeutet »gemeinsame Wirtschaftspolitik« bei Merkel und Sarkozy, den Druck auf die verschuldeten Länder gemeinsam zu erhöhen. Wir ziehen dem armen Taxifahrer in Athen das Fell über die Ohren und dann wird schon wieder alles besser – das ist die gemeinsame Wirtschaftspolitik.

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ie Europäische Zentralbank kauft momentan Staatsanleihen, DIE LINKE fordert die Ausgabe von sogenannten Eurobonds. Was hältst du davon? Eurobonds wären ein nettes und auch richtiges Detail in einer funktionierenden Währungsunion gewesen. In Deutschland wäre es ja auch schlecht, wenn Bremen oder Mecklenburg-Vorpommern ihre Schulden alle einzeln refinanzieren müssten. Das würde es richtig teuer machen, da die Zinsen bei diesen schwachen Ländern natürlich sehr hoch wären. Durch die Bundesanleihen profitieren sie von der besseren Situation in Bayern und BadenWürttemberg. Das sieht auf der europäischen Ebene natürlich ganz anders aus. Daher wäre es nur vernünftig, in Europa gemeinsam auf diesem Finanzmarkt aufzutreten und gemeinsame Anleihen herauszugeben. Die Anleger haben dann gar keine Wahl mehr und können nicht einzelne Staaten abstrafen.


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© Pete Souza

durch, dass der Markt für diese Staatspapiere jederzeit liquide ist. Ich muss nicht wie bei einer österreichischen Anleihe lange einen Käufer suchen, wenn ich aussteigen will.

islang hast du erklärt, was alles nicht hilft. Welche Lösung würdest du denn anbieten? Bei Lösungsvorschlägen kommt man natürlich schnell ins Fantasieren, wenn man sie abseits von Kräfteverhältnissen diskutiert. Ich mach es trotzdem mal. Drei Dinge würden tatsächlich helfen: Zum Ersten eine realwirtschaftliche Maßnahme. Die Ungleichgewichte müssten abgebaut werden, die Umverteilung von unten nach oben gestoppt werden, um den wirtschaftlichen Einbruch infolge von Nachfrageentzug abzufangen und Profite abzuschöpfen, die so zum Beispiel in staatliche Investitionen statt in Spekulation gehen könnten. Zum Zweiten könnte man tatsächlich Eurobonds rausgeben, den Preis aber nicht durch den Markt, sondern einfach selber setzen. Das wäre natürlich eine Revolution gegen die Finanzbranche, deren Profitfelder dann entschwinden. Aber wir müssen die Banken eindampfen und den Sektor in die öffentliche Hand geben, um überhaupt regulierend eingreifen zu können. Eine schöne Methode, um das Ganze aufzumischen, finde ich. Die dritte Ebene ist natürlich, dass wir die Verursacher der Krise für die Finanzierung der Folgen heranziehen. Es ist doch bemerkenswert, dass jemand wie Warren Buffett sagt, es wäre ihm direkt peinlich, dass niemand Steuern von ihm verlangt. Der Mann ist milliardenschwer und hat trotzdem Steuervorteile, von denen ein normaler Arbeitnehmer nur träumen kann. Von daher: Die Lösung ist einfach – Enteignung dieser Leute. Schwierig ist die Durchführung.

Der amerikanische Großinvestor Warren Buffett (l.) im Gespräch mit US-Präsident Barack Obama. Ein Ende der Steuerprivilegien für Superreiche wie Buffet würde den US-Haushalt umgehend sanieren

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ie Bundesregierung sagt, das wird für den deutschen Staat sehr teuer, weil die Zinsen für die Schuldenlast teurer werden. Ich denke, vor dem Ausbruch der Eurokrise wäre das Gegenteil passiert: Diese Anleihen hätten ebenso niedrige Zinsen abgeworfen wie die jetzigen Bundesanleihen oder sogar noch weniger. Der Markt für die Eurobonds ist ja viel größer als der für Bundesanleihen – ungefähr so groß wie die Anleihemärkte der USA und Japans. Diese Länder haben niedrige Zinsen aufgrund des unglaublichen Volumens. Es gibt richtig viele Schulden, da können die Anleger gut kaufen. Das Absurde am Finanzmarkt besteht ja gerade darin, dass der Großschuldner bessere Konditionen bekommt. Die Banker nennen das die Liquiditätsprämie. Die Staaten mit den meisten Schulden (USA und Japan) genießen die niedrigsten Zinsen. Erklären lässt sich das Phänomen da-

ann liegt DIE LINKE also richtig, wenn sie Eurobonds fordert? Die Forderung an sich ist nicht verkehrt – ich fürchte bloß, dass es zu spät ist. Jetzt, wo die Zinsen so irrsinnig hoch sind, ist natürlich auch die Einführung der Eurobonds mit Gefahren verbunden. Was passiert, wenn der Zinssatz über dem liegt, was Länder wie die Niederlande und Frankreich bisher bezahlen und diese Länder dadurch mit in den Strudel gerissen werden? Dann würde sich die vermeintliche Heilung als Infektionsmittel erweisen. Ich jedenfalls würde im jetzigen Stadium der Krise keine großen Hoffnungen in die Einführung von Eurobonds setzen.

ir zahlen nicht für eure Krise“ ist also die richtige Losung. Wie setzt man sie um? Leider zahlen wir schon. Das ist die Realität. Und wir werden noch mehr zahlen. Und das wird keine höfliche Zahlungsaufforderung sein, sondern wir werden dazu gezwungen werden. Ganz wie in Griechenland und ganz wie bei der Agenda 2010. Das Vergnügen zu beobachten, dass die herrschenden Eliten keinen Plan – weder A noch B – haben, wie in der Euro- und Bankenkrise zu verfahren ist, wird getrübt. Denn momentan sieht es so aus: Volle Fahrt voraus in die Weltwirtschaftskrise. Die Fragen stellte Stefan Bornost

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Wieder in die Spur Der rasante Aufstieg der LINKEN ist längst gestoppt. Schlechte Umfragewerte, noch schlechtere Presse und interne Querelen scheinen die Partei zu lähmen. Doch wie lassen sich die Probleme beheben? Eine Bestandsaufnahme vor dem Parteitag Von DER Redaktion marx21

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rleichterung. Das war die überwiegende Reaktion unter Mitgliedern der LINKEN auf das Ergebnis der Landtagswahl in MecklenburgVorpommern (die Berlin-Wahl fand erst nach Redaktionsschluss statt). Einen leichten Zugewinn von 1,6 Prozentpunkten auf 18,4 Prozent konnte die Partei verbuchen. Noch vor wenigen Jahren wäre das Ergebnis als Schlappe gewertet worden. Schließlich ist Mecklenburg-Vorpommern ein strukturschwaches Land mit vielen Armen und Arbeitslosen – Menschen also, für die DIE LINKE sich als erste Ansprechpartnerin sieht. Die Partei hat aus der Opposition heraus Wahlkampf gemacht, in einem Land in dem sie bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren 29 Prozent bekommen hat. Ihr Potenzial konnte sie also bei Weitem nicht ausschöpfen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Nach dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg als neu gegründete Partei in der Zeit zwischen 2005 bis 2009 hat DIE LINKE zuletzt einige Dämpfer bekommen. In die Landtage von Baden-Württemberg und RheinlandPfalz ist sie nicht eingezogen. Seit 2009 hat sie bei verschiedenen Landtags- und Kommunalwahlen nicht

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hinzugewonnen, teilweise sogar Stimmen verloren. Die bürgerliche Presse, noch nie ein großer Freund der LINKEN, fiel über die Partei her, oft mit Unterstützung von Stichwortgebern aus der Partei. Der Programmparteitag im Oktober soll die Partei nun einen und wieder in die Spur bringen. Damit das gelingt, bedarf es jedoch einer Analyse, woher die Probleme der LINKEN rühren – und wie sie behoben werden können. Die vorherrschende Meinung der Presse ist, dass die Partei ein Führungsproblem habe. Vor allem die beiden Parteivorsitzenden seien schwach. Der Parteivorstand hingegen verweist auf die »wenig hilfreichen« innerparteilichen Flügelkämpfe und die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Debatten über Israel, Mauer und Castro. Beide Erklärungen lassen die geänderten Rahmenbedingungen für die LINKE außer Acht. Die Flügelkämpfe sind real, doch warum brechen sie gerade jetzt so vehement auf? Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist das Niveau der sozialen Auseinandersetzungen in Deutschland derzeit sehr niedrig. In ganz Europa finden Großde-


monstrationen, Studentenbewegungen und Generalstreiks statt, nur hierzulande nicht. Die Gewerkschaftsführungen haben seit Ausbruch der Krise auf Kooperation mit Regierung und Arbeitgebern gesetzt. Im DGB klopft man sich auf die Schulter, weil man von der Wirtschaftspresse als »verantwortungsvoll« gelobt wird. Die Kehrseite ist jedoch, dass innerhalb des spektakulärsten Nachkrisen-Comebacks einer westlichen Wirtschaft die Löhne weiter gefallen sind – bei steigenden Lebenshaltungskosten. Das nährt nicht unbedingt die Hoffnung, dass sich in diesem Land noch etwas zum Besseren wendet. DIE LINKE lebt aber von der Hoffnung auf Veränderung. Die entsteht jedoch nicht spontan in einem politischen System, von dem die meisten Menschen mittlerweile kaum etwas erwarten. Dafür sind gesellschaftliche Auseinandersetzungen notwendig. So war es der Aufschwung der Anti-AKW-Bewegung nach dem Amtsantritt von Schwarz-Gelb, der die Hoffnung auf einen möglichen Atomausstieg befeuerte. Nebenbei hat er die Grünen in ungeahnte Höhen katapultiert. Seit Merkels vermeintliche Atomkraftwende die Bewegung größtenteils von der Straße geholt hat, stehen auch sie nicht mehr so stark da. Der zweite Grund für die Krise der LINKEN: Mit dem Niedergang der Bundesregierung hat sich die politische Konstellation in der Bundesrepublik geändert. DIE LINKE ist nicht mehr die einzig wahrnehmbare, sondern nur eine von drei Oppositionsparteien. SPD und Grüne haben sich rhetorisch nach links bewegt, fordern Steuererhöhungen für Reiche und Mindestlohn. Die historische Erfahrung zeigt, dass sie vieles davon am Tag nach der nächsten Wahl wieder vergessen werden. Das ändert aber nichts an der jetzigen Konstellation. Sowohl die Grünen als auch die marode SPD ziehen wieder Hoffnungen auf sich. Nach den gegenwärtigen Umfrageergebnissen sieht es nicht so aus, als seien sie nach der Bundestagswahl zur Regierungsbildung auf DIE LINKE angewiesen. Daher versuchen sie, die Partei an die Wand zu drücken. Auch auf Länderebene ist eine Situation entstanden, wo die SPD versucht, DIE LINKE in den Schwitzkasten zu nehmen. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise könnte SPD-Mann Erwin Sellering zukünftig sowohl mit der CDU als auch mit der LINKEN koalieren. Das kostet er genüsslich aus, wenn er sagt, die SPD stehe in der Mitte zwischen beiden: »Es wird

darauf ankommen, wer sich wie weit auf uns zubewegt. Wir wollen möglichst viel von unserem Programm durchsetzen.« Entscheidend für DIE LINKE ist, dass sie in so offensichtliche Fallen, wie Sellering sie stellt, nicht reintappt. Er und andere SPD-Politiker würden DIE LINKE natürlich gerne auf Landesebene für Haushaltskonsolidierungen und Schuldenbremse einspannen. Das würde der mecklenburgischen LINKEN schaden und zugleich die Glaubwürdigkeit der Bundespartei untergraben, die gegen die Schuldenbremse auftritt. Gewinner wäre in beiden Fällen die SPD. Die Kunst im Umgang mit SPD und Grünen wird darin bestehen, die Hoffnungen ernst zu nehmen, die viele Menschen in diese Parteien setzen, ohne dabei Illusionen zu schüren. Das bedeutet: Richtige Forderungen, die SPD und Grüne aufstellen, – wie die nach einem Mindestlohn – muss DIE LINKE aufgreifen und sich dann als die Kraft erweisen, die das nicht nur im Wahlkampf fordert, sondern konsequent etwas dafür unternimmt. Darüber hinaus sollte die Partei angesichts der Verwerfungen in der Weltwirtschaft ein schärferes antikapitalistisches Profil entwickeln. Der Parteivorstand hat beschlossen, eine Kampagne zur Regulierung der Finanzmärkte und zur Besteuerung der Reichen durchzuführen, die in einer bundesweiten Kundgebung münden soll. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Zu guter Letzt wäre es wichtig, das Feld des Klassenkampfs zu bestellen. DIE LINKE ist natürlich nicht stark genug, um soziale Kämpfe anzuschieben. Aber sie kann überall dabei sein, wo sich auch nur der geringste Widerstand regt, etwa bei lokalen Protesten gegen Mietsteigerungen und betrieblichen Auseinandersetzungen. Zudem ist im kommenden Semester aufgrund der zunehmenden Studierendenzahlen die Situation an den Hochschulen sehr angespannt – auch dort sollte sich DIE LINKE an möglicherweise entstehenden Protesten beteiligen. Ebenso ist absehbar, dass die Friedensbewegung anlässlich der Afghanistankonferenz im Dezember größere Proteste organisieren wird (siehe auch das Interview auf Seite 35). Das sind alles mögliche Bausteine, um das Niveau der sozialen Auseinandersetzungen anzuheben. Das ist gut für die Menschen und würde das gesellschaftliche Klima auch für DIE LINKE verbessern. ■

AKTUELLE ANALYSE

In ganz Europa finden Groß­ demonstrationen, Studenten­ bewegungen und Generalstreiks statt – nur in Deutschland nicht

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 5. Jahrgang Nr. 22, September/Oktober 2011 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? Ab dieser Ausgabe stellen wir die Köpfe hinter marx21 vor.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller (Praktikant), Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Natalie Dreibus, Lisa Hofmann, Jan Maas, Tobias Paul (Neues aus der Linken), Michael Ferschke, Veronika Hilmer (Was will marx21), Bruce Paenson (Weltweiter Widerstand), Win Windisch (Quergelesen) Mitarbeit an dieser Ausgabe Nils Böhlke, Michael Bruns, Christine Buchholz, Jens Fischer, Nicole Gohlke, Werner Halbauer, Klaus-Dieter Heiser, Brian Janßen, Hans Krause, Sven Kühn, Volkhard Mosler, Rosemarie Nünning, David Paenson, Jonas Rest, Marijam Sariaslani, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Christoph Timann, Janine Wissler, Luigi Wolf Übersetzungen David Paenson Infografiken Karl Baumann Layout Yaak Pabst Illustrationen Karsten Schmitz Covergestaltung Yaak Pabst Redaktion Online Yaak Pabst (verantw.), Frank Eßers, Ole Guinand, Jan Maas Druck Druckhaus AJSp, Ateities g. 10, LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 - 89 56 25 11 Fax: 030 - 56 82 28 84, Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank | Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21- Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im November 2011 (Redaktionsschluss: 18.10.)

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Martin Haller, Praktikant

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chnell sein wird manchmal doch belohnt. Als Martin Haller auf der Suche nach einem Praktikumsplatz war, schrieb er verschiedene linke Zeitschriften an. Wir haben sofort geantwortet. Jetzt ist er bei uns. Martin ist unser erster Praktikant. Und zugegeben: Im Umgang mit ihm sind wir konservativ. Wir wollen, dass er während seines Praktikums etwas lernt. Daher haben wir ihn zunächst die Lektüre von Peter Lindens Klassiker »Wie Texte wirken« empfohlen. Anschließend durfte er sich an verschiedenen journalistischen Textformen ausprobieren: Einen Artikel und eine Filmbesprechung hat er für diese Ausgabe geschrieben, ein Interview geführt und zahlreiche Kleintexte verfasst. Darüber hinaus hat Martin stundenlang im Internet nach Fotos recherchiert. Sogar Redaktionssitzungen nach Feierabend hat er ohne zu Murren über sich ergehen lassen. Aber wer im ehemals tiefschwarzen Ländle aufgewachsen ist, muss vermutlich hart im Nehmen sein. Wutbürger? Das gab’s damals noch nicht. Deshalb hat er sich sein politisches Wissen durchs Lesen dicker Bücher angeeignet. Schon als 17-Jähriger hat er sich an Karl Marx’ Hauptwerk »Das Kapital« versucht – um es jedoch bald wieder zur Seite zu legen. Links blieb er trotzdem: Als der Irakkrieg begann, ging er zum ersten Mal auf Demonstrationen. Mittlerweile lebt Martin in Berlin, ist beim Hochschulverband Die Linke.SDS aktiv und studiert an der Freien Universität. Doch wozu eigentlich? In seinem Artikel hat er doch aufgezeigt, wie schlecht die Aussichten von Hochschulabsolventen auf dem Arbeitsmarkt sind. Wie gut, dass die marx21-Redaktion auch in Berlin sitzt. Arbeit gibt es bei uns immer genug. ■

Das Nächste Mal: LISA HOFMann


LeserbriefE

Stefanie Haenisch, Frankfurt am Main

Zum Artikel »Castros Insel folgt dem Modell China« von Mike Gonzalez (marx21.de, 14.06.2011)

Zum Artikel »Protest der Zukunft« von Margarita Tsomou (Heft 21) So interessant der Artikel ist, so bedauerlich ist es, dass ihr mit der Überschrift und dem Vorspann nahe legt, dass allein die sich selbst organisierende Widerstandsbewegung auf den Straßen die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in Griechenland verändert hat. Es ist aber die Kombination der »Bewegung der Empörten« auf den Plätzen Griechenlands und die Kampfbereitschaft der organisierten Arbeiterklasse, die sich in den Generalstreiks zeigt, die die Dynamik des Protestes ausmacht. Eine Dynamik, die inzwischen den Herrschenden in Griechenland und der EU Sorgen macht und sie zu kleinen Zugeständnissen gebracht hat. Ohne die politischen Demonstrationen, also die eintägigen Generalstreiks (sie dienen in der Regel nicht dazu, ökonomischen Druck auszuüben), mit denen die griechischen Gewerkschaften von Anfang an den Protest gegen die Sparprogramme organisiert haben, hätte wohl die Mehrzahl der unorganisierten Arbeiter und der übrigen »kleinen Leute«, die sich heute auf den

Statt zum Verständnis der spezifischen Konstellationen in und um Kuba beizutragen, ergeht sich der Autor in Klischees und dabei häufig solchen, wie sie auch in bürgerlichen, profitorientierten Medien gebraucht werden. Hinzu kommen zahlreiche sachliche Fehler und eklatante Fehlinterpretationen. Schon der Titel ist unzutreffend und vor allem werden die zentralen Herausforderungen des heutigen Kuba weder dargelegt noch erörtert oder gar analysiert. Hervorzuheben ist zum Beispiel, dass völlig unerwähnt bleibt, dass sich über fast ein Jahr hinweg große Teile der Kubanerinnen und Kubaner an der Diskussion der Perspektiven und seit Herbst an der Debatte über die Leitlinien beteiligt haben. Mike Gonzalez entgeht das karibisch-sozialistische Wesen und die im Vergleich zu allen Nachbarländern teilweise hervorragenden Lebens- und Entwicklungsverhältnisse, die gegen dauernde Subversion und Aggression des Imperiums erreicht wurden. Für die Weiterentwicklung Kubas hilft eine selbsternannte »linke« Rating-Agentur nicht weiter, sondern nur die Unterstützung von Bedingungen, damit sich das sozialistische Kuba so weiter entwickeln kann, wie es selbst möchte – egal wie US-Regierungen oder linke Akademiker darüber denken. Edgar Göll, per E-Mail

In eigener Sache

In der vergangenen Ausgabe sind uns gleich mehrere Fehler unterlaufen. In Olaf Klenkes Artikel zum Mauerbau haben wir das Geheimtreffen zwischen US-Präsident John F. Kennedy und der sowjetischen Führung versehentlich in den Juni 1959 vorverlegt (Seite 65). Tatsächlich hat es im Juni 1961 stattgefunden. Ebenfalls eine falsche Zahl hat sich in Stefan Bornosts Kommentar zur Griechenlandkrise (Seite 11) eingeschlichen. Die griechische Staatsverschuldung lag zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich nicht bei einem Prozent des Bruttoinlandproduktes, sondern bei knapp 150 Prozent. Zu guter Letzt haben wir den Urheber des Fotos auf Seite 18, das Oskar Lafontaine und Christine Buchholz zeigt, falsch benannt. Das Bild stammt nicht von Michael Bruns, sondern von David Paenson. Wir bitten, dies zu entschuldigen.

Der Aufsatz von Mike Gonzalez ist eine so massive Anhäufung von Realitätsferne, dass er jeden, der mit der Geschichte und den aktuellen Gegebenheiten auf Kuba halbwegs vertraut ist, zunächst fassungslos macht. »Castros Insel«, angeblich dem »Modell China (?)« folgend, die »Beseitigung von 500.000 Arbeitsplätzen«, die Korruption der »hohen Beamten und Diplomaten« und eine Vielzahl weiterer, boulevardjournalistisch anmutender Marktschreiereien disqualifizieren den Text nahezu vollständig. Der akademische Autor hat es nicht nötig, eine einzige seiner Behauptungen zu erläutern bzw. durch Fakten, Quellenangaben oder statistische Daten zu untermauern. Die den meisten gesellschaftlichen Phänomenen innewohnende Widersprüchlichkeit, deren

Ursachen und Auswirkungen sowie ihre Wechselwirkung mit anderen Faktoren versucht er nicht einmal im Ansatz zu untersuchen und zu gewichten – dann hätte seine Argumentation eine Daseinsberechtigung und wäre diskussionswürdig. Dieser Text ist es nicht. Wolfgang Mix, Hamburg

Sowjetversion der biblischen Schöpfungsgeschichte Anbei eine Satire aus dem DDR-Volksmund. Ich habe sie nirgendwo gelesen, sie ist mir mündlich von meiner Mutter überliefert worden und ich habe es auswendig gelernt: Als Natschalnik Iwan Gottowitsch hat gemacht der Welt, hat er genommen ein Stückchen Erde, gutes Erde, Kubanerde, und hat daraus gemacht den Planeten Erde. Dann er hat gesagt: »Es werde Licht!«, und so entstand erstes Kraftwerk in Njepopetrowsk. Dann er hat genommen noch ein Stückchen Dreck, hat es bespuckt mit göttlichem Odem und hat daraus gemacht den Genossen Adam Adamowitsch. Der aber war kleinbürgerliches Individualist. Hat Natschalnik Iwan Gottowitsch genommen Rippe von Genossen Adam Adamowitsch und hat daraus gemacht die Genossin Eva Evanowa. Und so entstand erste Genossenschaft. Lebten sie in großem Kolchosparadies. Hat Natschalnik Iwan Gottowitsch gegeben ihnen Liste und Statut und hat gesagt: »Dürft ihr essen Früchte von Linde, Eiche, Buche, Kastanie… Dürft ihr aber nicht essen Früchte von Appelbaum, ist Kollektiveigentum! Da kam böse Schlange, listige Schlange, kapitalistische Schlange, imperialistische Schlange und hat gesagt mit Stimme von Rias: »Adam Adamowitsch, dürft ihr essen Früchte von Appelbaum, ist Kollektiveigentum und gehört euch auch!« Nun, Adam Adamowitsch hat noch nie gelesen in dem großen Buch: »Politökonomie«. Hat er gegessen Früchte von Appelbaum mit Ehegenossin Eva Evanowa. Wurde Natschalnik Iwan Gottowitsch sehr böse. Mussten sie zwei Stunden üben Kritik und Selbstkritik! Bekamen sie Feudalismus, Kommunismus, Sozialismus und Maisanbau und Offenställe! Und waren sie gestraft bis an ihr Lebensende. Martina Beyer, per E-Mail

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

Plätzen organisieren, resigniert. Das Beispiel des Tahrirplatzes und der Plaza del Sol hätte möglicherweise nicht diese massenmobilisierende Kraft entwickeln können.

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Boykott der jungen Welt

Ein bedrohtes Gut Von Klaus-Dieter Heiser

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ür die einen war das Titelblatt der jungen Welt (jW) ein satirischer Kontrapunkt zum Medienauftrieb anlässlich des 50. Jahrestages des Mauerbaus. Für die anderen war es eine unerträgliche Verhöhnung der Opfer, die an der Berliner Mauer erschossen wurden, und der 28 Jahre dauernden Leiden von getrennten Familien und Freunden. Ich meine: Es war vor allem eine Fehlentscheidung der jW-Redaktion, diese Titelseite zu produzieren. Das großformatige Foto vom 13. August 1961 zeigt Mitglieder der »Kampfgruppen der Arbeiterklasse«, die mit Kalaschnikows vor der Brust vor dem Brandenburger Tor stehen. Der dazu gestellte Text vermittelt »Dank« für angebliche Folgen des Mauerbaus, von »Friedenssicherung« bis zu einem Alternativgetränk zu Coca Cola. Eine solche Titelseite wurde dem Anlass nicht gerecht, konnte es auch nicht werden. Denn mit der Berliner Mauer schuf die SED ein Synonym für den Sozialismus. Fortan wurde er mit Unfreiheit durch Stacheldraht, Wachtürme und Schießbefehl identifiziert. Auch 22 Jahre nach dem Scheitern des Staatssozialismus existiert diese Gleichung noch in vielen Köpfen. Deshalb bedarf es besonders in Deutschland beharrlicher Argumentation, um die Einsicht durchzusetzen, dass es Sozialismus ohne Freiheit nicht geben kann, wie andererseits Freiheit ohne Sozialismus nicht möglich ist. Ein »Danke« für die Mauer befördert das Gegenteil. Der Fall »Titelblatt« hatte ein Nachspiel in der LINKEN. Einzelne Mitglieder verfassten einen Boykottaufruf gegen die junge Welt. In Internetforen hieß es: »Das Drecksblatt soll ausgetrocknet werden«. Medienpartnerschaften mit der Zeitung wurden aufgekündigt, Anzeigen der LINKEN sollen dort nicht mehr geschaltet werden. Bei anderen Medien hingegen, zum Beispiel bei der taz oder der Frankfurter Rundschau, kommt niemand in der Partei auf die Idee, redaktionelle Übereinstimmung zum Maßstab für Anzeigenschaltungen

zu machen. Diese Denkweise wird sonst vor allem in Konzernführungsetagen gepflegt, wo neben Produktwerbung ein »sauberes« Umfeld erwartet wird. Anzeigenerlöse bilden neben Abonnements und Einzelverkauf die wirtschaftliche Grundlage der Medien. Redakteure in »bürgerlichen« Blättern kennen das genau. Für sie bedeutet es, mit der Schere im Kopf zu arbeiten, um den Anzeigenkunden zufrieden zu stellen. Deshalb lässt das Agieren der jW-Boykotteure bei mir alle Alarmglocken läuten: Es geht im Kern um die Pressefreiheit. Angesichts zunehmender Pressekonzentration ist sie ein bedrohtes Gut. In Thüringen beispielsweise befinden sich alle Regionalzeitungen in der Hand eines Großverlags. Ich weiß um die Verantwortung von Zeitungsredakteuren. Deshalb kritisiere ich die jW-Redaktion, für die Gestaltung der Titelseite am 13. August 2011. Außerdem stimme ich dem zu, was Holger Schmale in seinem Kommentar in der Berliner Zeitung geschrieben hat: »Zu den in der DDR unterdrückten demokratischen Rechten gehörte die Pressefreiheit. Sie passte nicht in die Diktatur der Arbeiterklasse, wie die SED sie verstand. Denn eine freie Presse ist manchmal schwer erträglich, auch unter demokratischen Bedingungen. Wenn sich zum Beispiel die einstige FDJ-Zeitung junge Welt die Freiheit nimmt, zum 13. August den Bau der Mauer zu feiern und den Todesschützen Dank zu sagen, dann ist das eklig und kaum zu glauben. Aber es ist zu tolerieren. Es ist ihr gutes Recht, von der herrschenden Meinung, der historischen Wahrheit und vom menschlichen Anstand abzuweichen. Wir sollten es verteidigen.«

Es geht im Kern um die Pressefreiheit

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★ ★★ Klaus-Dieter Heiser ist seit vielen Jahren journalistisch tätig und gehört zu den Initiatoren der Linken Medienakademie LiMA.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Jahrestag 11. September

Projekt: Neue Weltordnung Von CHRISTINE BUCHHOLZ um die wirtschaftliche und militärische Dominanz der USA zu erhalten. Die Kontrolle über die Energiereserven des Nahen Ostens spielten dabei die Hauptrolle. Zunächst besetzten die USA mit ihren Verbündeten jedoch Afghanistan, erst später den Irak. Im Zuge des »Kampfes gegen den Terror« wurden zudem US-Truppen

Die USA haben den militärischen Ring um China enger gezogen in Zentralasien (Usbekistan, Tadschikistan) stationiert, ihre Präsenz im pazifischen Raum verstärkt (Japan, Philippinen, Südkorea, Taiwan), Stützpunkte im Indischen Ozean ausgebaut (Diego Garcia) und die strategische Partnerschaft mit Indien vertieft – kurz: Der militärischen Ring um China, das als wichtigster Konkurrent

um die globale Vorherrschaft gesehen wird, wurde enger gezogen. Folterzentren in Bagram und Guantánamo, Überwachungswahn und das Schüren von Rassismus, vor allem gegenüber Menschen aus dem arabischen Raum und Muslima und Muslime, sind die Begleiterscheinungen dieser Militarisierung der Außenpolitik. Neben dem Abbau von Demokratie und Menschenrechten zeichnet sich auch eine Aushöhlung des Völkerrechts ab. Alle deutschen Regierungen seit 2001 beteiligen sich auf die ein oder andere Weise daran. Diesen Skandal zu beenden, ist die Aufgabe der Friedensbewegung und der Linken in Deutschland. ★ ★★ Christine Buchholz ist friedenspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.

UNSERE MEINUNG

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m Oktober jährt sich der Beginn des NATO-Kriegs in Afghanistan zum zehnten Mal. Weniger als einen Monat nach den Anschlägen vom 11. September nahm der vom damaligen US-Präsidenten George Bush ausgerufene »globale Krieg gegen den Terror« konkrete Formen an – und deutsche Soldaten waren dank Bundeskanzler Schröders »bedingungsloser Solidarität« dabei. Einigen Politikern in den USA kam die Tragödie von New York und Washington, bei der rund 3500 Menschen getötet wurden, gerade recht. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zum Beispiel sagte, man müsse diese Gelegenheit nutzen. Wenn es nach diesen Leuten gegangen wäre, hätten die USA sofort dem Irak den Krieg erklärt. Das nämlich war Kernelement des »Projekts für ein neues amerikanisches Jahrhundert«. Dieses wurde von führenden amerikanischen Konservativen ersonnen,

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TITELTHEMA WEGE ZUM FRIEDEN IN NAHOST

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Lösungsansätze Stimmen prominenter Linker zum Nahostkonflikt

Welches Israel? DIE LINKE diskutiert über das Existenzrecht

Sozialproteste Israelis lassen sich von Kairo inspirieren


»Juden und Nichtjuden können friedlich zusammenleben« John Rose ist sich sicher: Frieden kann es im Nahen Osten nur durch einen gemeinsamen Staat von Juden und Arabern geben. marx21 hat nachgehakt

John Rose lehrt Soziologie an der Metropolitan University in London. Er ist jüdischer Herkunft und Autor des Buches »Die Mythen des Zionismus« (Rotpunktverlag 2006).

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ohn, am 20. September soll in der Generalversammlung der Vereinten Nationen über die Gründung eines Palästinenserstaates entschieden werden. Würde ein solcher Staat einen Schritt vorwärts für den Frieden in Nahost bedeuten? Das könnte sein, aber noch ist es unklar. Auf jeden Fall haben die Palästinenser das Recht, diesen Schritt zu tun. Wenn die Mehrheit von ihnen einen eigenen Staat will, sollten Linke das unterstützen. Die Entscheidung, den Staat einseitig zu verkünden, ist gefallen, weil sich die israelische Regierung geweigert hat, ernsthaft Verhandlungen über das Ende der Besatzung oder eben die Errichtung eines palästinensischen Staates zu führen. Stattdessen hat Israel weiter Siedlungen gebaut. Das heißt: Das mögliche palästinensische Staatsgebiet wurde immer weiter zerschnitten und verkleinert. Dadurch geriet die palästinensische Führung unter Handlungsdruck. Das Land, auf dem man einen Staat gründen kann, ist jetzt schon klein – und es wird immer kleiner. Deshalb die Entscheidung, es jetzt zu tun. Zentral ist meines Erachtens nicht die Ausrufung des Staates selbst, sondern ihr möglicher mobilisierender Effekt auf die palästinensische Bewegung. Der Arabische Frühling hat die Menschen inspiriert, sowohl Palästinenser als auch Israelis. Seine Aktionsformen, also massenhafter, gewaltfreier ziviler Ungehorsam, prägen die palästinensische Bewegung. Wenn also die Staatsproklamation ein Sprungbrett dafür ist, die reale Bewegung für ein Ende

der Diskriminierung zu stärken, dann ist schon etwas gewonnen.

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u befürwortest einen gemeinsamen Staat von Juden und Arabern. Aber ist nicht die wesentliche Idee hinter Israel, einen Staat mit deutlicher jüdischer Mehrheit zu gründen? Wo in der Vergangenheit Juden in der Minderheit waren, wurden sie schließlich verfolgt. Das stimmt einfach nicht. Es gibt zwei Stränge in der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: Das eine Extrem ist natürlich die Katastrophe des Holocausts. Daneben gibt es die gegenteilige Erfahrung in den USA, dem Staat mit der erfolgreichsten Integration der jüdischen Gemeinschaft. Hier sind Juden eindeutig eine Minderheit, aber eine sehr erfolgreiche, sozial und ökonomisch weitaus besser integriert als zum Beispiel Schwarze oder Latinos. Kein Wunder, dass mehr Juden in den USA leben als in Israel – schließlich ist für sie das Leben dort weitaus besser und weniger gefährlich als in Israel. Über die Hälfte aller Menschen jüdischen Glaubens weltweit leben in den USA.

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in etwas rosiges Bild, oder? Genau wie in Europa gibt es auch in den USA eine Geschichte von Antisemitismus. Zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung wurden jüdische Aktivisten in den Südstaaten von Rassisten umgebracht. Natürlich, Gleichberechtigung fällt einer Minderheit nicht zu. Sie muss durchgesetzt werden gegen Vorurteile und institutionelle Barrieren – und zwar immer

TITELTHEMA WEGE zum Frieden in Nahost

JOHN ROSE

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wieder aufs Neue. Der Punkt ist aber: Die israelische Staatsideologie, der Zionismus, besagt, dass ein friedliches Zusammenleben von Juden und Nichtjuden prinzipiell nicht möglich ist. Berühmt geworden ist eine Aussage des späteren israelischen Staatspräsidenten Chaim Weizmann, die er 1912 in Berlin machte: »Jedes Land kann nur eine begrenzte Zahl von Juden aufnehmen, wenn es Magenbeschwerden vermeiden will. Deutschland hat bereits zu viele Juden.« Weizmann war also der Ansicht, dass eine große jüdische Gemeinde automatisch zu Antisemitismus führt. Ich denke hingegen, dass die Geschichte der Eingliederung der Juden in den USA ein gutes Gegenbeispiel darstellt – ähnlich wie die Geschichte von Juden in meiner Heimat Großbritannien. Die jüdische Gemeinschaft hier ist in vielerlei Hinsicht ein Vorbild für andere Communities, was erfolgreiche Integration angeht.

te und in vielerlei Hinsicht wirtschaftlich bestimmende Gemeinschaft. Auch in einem gemeinsamen Staat von Juden und Arabern wäre die jüdische Bevölkerung natürlich die bei weitem stärkste gesellschaftliche Kraft, schon deshalb, weil ihre soziale und ökonomische Ausgangsposition viel besser ist. Es wäre im Eigeninteresse der jüdischen Bevölkerung, dem Weg der Südafrikaner zu folgen und die Strukturen eines Staates abzuschaffen, die Nichtjuden diskriminieren.

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ber dennoch ist der Wunsch nach einem eigenem Staat, in dem Juden eine klare Mehrheit stellen, doch nachvollziehbar … Ja. Wenn allerdings die Verwirklichung dieses Wunsches zulasten von Millionen anderer Menschen geht, die Beziehung zu ihnen vergiftet und eine ganze Region destabilisiert, dann sollte die Frage erlaubt sein, ob es nicht bessere Lösungen gibt. Es kann doch niemand ernsthaft behaupten, dass es im 21. Jahrhundert unmöglich sein soll, eine Staatsverfassung für einen gemeinsamen Staat zu entwerfen, in dem alle Beteiligten ihre religiösen und politischen Rechte gewährleistet bekommen. Die Israelis verhandeln aus einer Position der absoluten militärischen, politischen und ökonomischen Stärke: Sie haben eine große Armee, sie besetzen die palästinensischen Gebiete, sie kontrollieren die wirtschaftlichen Abläufe. Kurzum: Die Israelis sollten aufgrund ihrer Stärke nun wirklich in der Lage sein, in Verhandlungen einen Status durchzusetzen, der sie nicht zu einer verfolgten Minderheit macht. Nehmen wir Südafrika: Hier haben die Weißen auch aus einer Position der Stärke verhandelt – am Ende stand zwar, dass die Weißen ihre politisch dominierende Rolle an den ANC verloren. Aber sie sind politisch jetzt so stark, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Fünfzehn Jahre nach dem Ende der Apartheid sind die Weißen beileibe keine entrechtete, verfolgte Minderheit, sondern nach wie vor die reichs-

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für die Anerkennung durch die UN war. Seitdem ignoriert Israel diese Resolution.

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ach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Millionen Deutsche aus Gebieten vertrieben, die heute zu Polen oder der Tschechischen Republik gehören. Hierzulande fordern fast ausschließlich Nationalkonservative und Nazis ein Rückkehrrecht oder gar Rechtsanspruch auf Land für diese Vertriebenen. Warum soll diese Forderung

Nach dem Ende der Apartheid in Südafrika gab es kein Blutbad

ittlerweile gibt es aber eine sehr lange Geschichte von Gewalt und Gegengewalt, Misstrauen und Hass. Befürchtest du keine Gewaltexplosion bei einer Veränderung der staatlichen Strukturen? Ähnliche Befürchtungen wurden auch immer vorgebracht, um die Fortführung der Apartheid in Südafrika zu rechtfertigen. Tatsache ist: Es gab kein Blutbad in Südafrika nach dem Ende der Apartheid. Die Bitterkeit kommt doch daher, dass der israelische Staat auf der Grundlage der Vertreibung der Palästinenser gegründet wurde und Araber von einer gleichberechtigten Teilhabe am Staat ausgeschlossen wurden. Das ist inakzeptabel und widerspricht jedem Standard: Ob aus Sicht des Völkerrechts, aus Sicht der Bürgerrechte, aus Sicht grundlegender Menschenrechte. Hier muss doch etwas getan werden. Den palästinensischen Flüchtlingen muss das Recht gewährt werden, zurückzukommen. Ob sie von diesem Recht Gebrauch machen, ist offen. Viele könnten sich dafür entscheiden, in den Ländern zu bleiben, in denen sie jetzt seit Jahrzehnten leben. Aber das Recht auf Rückkehr nicht zu gewähren, widerspricht doch allen grundlegenden Prinzipien, die zum Beispiel die UN unter Bezug auf das Völkerrecht proklamieren. Die Vereinten Nationen haben schon 1948 die Resolution 194 verabschiedet, die den Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr einräumt. Israel hat der Resolution zugestimmt, weil das die Bedingung

in Bezug auf die Palästinenser plötzlich links sein? Weil der Vergleich hinkt. Die Vertreibung beispielsweise der Sudetendeutschen geschah im Kontext eines von Hitlerdeutschland entfesselten Weltkriegs. Die Palästinenser wurden Opfer eines kolonialen Siedlungsprojekts, das von Anfang an auf der Vertreibung der einheimischen Bevölkerung basierte. Die deutschen Flüchtlinge aus dem Osten fanden sich auch nicht als Menschen zweiter Klasse in Flüchtlingslagern der Nachbarländer wieder. Im Gegenteil: Sie gingen in die Bundesrepublik, eine der erfolgreichsten Ökonomien der Nachkriegszeit, wo sie und ihre Kinder am Wohlstand teilhaben konnten. Sie durften in Deutschland Staatsbürger werden, Eigentum erwerben, investieren und an die Universitäten gehen. Das alles dürfen Palästinenser beispielsweise im Libanon nicht, geschweige denn, dass sie das Wahlrecht hätten. Sie befinden sich im rechtlichen und sozialen Nirgendwo. Deshalb ist es links, die Aufhebung dieses Zustands zu fordern.

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ber wie stellst du dir das praktisch vor? Soll der Palästinenser nach seiner Rückkehr beim Israeli klingeln und sagen: „Entschuldigen Sie, Ihr Haus steht auf dem Land meines Großvaters, könnte ich bitte den Schlüssel haben?“ Natürlich nicht. Kein Mensch, auch kein Palästinenser, erwartet als Verhandlungs-


ergebnis eine 1:1-Entschädigung und Wiedergutmachung. Es geht darum, überhaupt einmal einen fairen Ausgleich bei der Nutzung der natürlichen und ökonomischen Ressourcen anzustreben Nehmen wir das Beispiel Wasser, ein extrem knappes Gut im Nahen Osten. Im Westjordanland befinden sich wichtige Grundwasservorkommen. Laut Schätzungen der Weltbank werden 90 Prozent dieses Grundwassers für die Bewässerung der israelischen Anbaugebiete genutzt; für die palästinensischen Gebiete bleiben nur zehn Prozent.

ANZEIGEN

rieden braucht politische Organisatoren, die ihn tragen. Einige Aussagen der Hamas machen jedoch nicht den Eindruck, dass sie großes Interesse an einem friedlichen Zusammenleben von Arabern und Juden haben. Was solche Organisationen sagen, bevor sie in Verhandlungen sitzen, und was sie später tun, sind zwei sehr verschiedene Dinge. Das war die Erfahrung sowohl mit dem ANC in Südafrika als auch mit der IRA in Nordirland. Die IRA ist vor dem Friedensprozess mindestens so hart aufgetreten wie die Hamas heute und hat dann Monate später ein Abkommen unterzeichnet, das eine bis dato unvorstellbare Entwicklung einleitete. Nicht nur, dass das Abkommen von dem rechten Protestantenführer David Trimble unterzeichnet wurde, er saß tatsächlich wenig später auch noch mit Leuten von der IRA in einer gemeinsamen Regierung. Nelson Mandela saß Jahrzehnte lang im Gefängnis und wurde von Margaret Thatcher als »Terrorist« bezeichnet. Anfang der 1990er Jahre wurde er dann Präsident auch derjenigen Menschen, die ihn ins Gefängnis gesperrt hatten. Solche Dinge sind möglich, wenn ernsthaft verhandelt wird. Dadurch, dass Israel die Hamas nicht einmal zu Verhandlungen einlädt, wird ein solcher Prozess unterbunden. Die Hamas hat gesagt, sie würde verhandeln und eine Einigung akzeptieren, wenn die Mehrheit der Palästinenser dies in einer Abstimmung auch tut. Doch egal, wie weit sich die Hamas kompromissbereit zeigt: Die israelische Führung will keine ernsthaften Verhandlungen, weil sie glaubt, ohne durchzukommen und den Siedlungsbau weiter vorantreiben zu können. Die Fragen stellte Stefan Bornost

TITELTHEMA WEGE zum Frieden in Nahost

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»Vergesst das endlose Argumentieren« Die Lage im Nahen Osten bewegt politische Aktivisten auf der ganzen Welt. marx21 dokumentiert hier ihre Analysen und Lösungsvorschläge

Amira Hass ist die einzige israelische Journalistin, die den Alltag der Palästinenser erlebt, über den sie schreibt. Sie arbeitet für die linksliberale Tageszeitung Ha’aretz.

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inisterpräsidenten kommen und gehen, Verhandlungen halten an und gehen weiter, neue Koalitionen bilden sich – und dieser Herrschaftsapparat hat sein eigenes Leben. Er bewahrt und entwickelt die Privilegien der Juden in Großisrael. Er setzt die Grenzen der »Indianerreservate« fest. Wenn er will, verbindet er sie miteinander. Wenn er dies nicht will, schneidet er sie von einander ab. Sein Wunsch und Wille wird getan: Arbeitslosigkeit von 52 Prozent oder 19 Prozent, Bevölkerungsdichte der Dörfer und Städte, Durchmesser der Wasserleitungen, die Anzahl der Tage, die man warten muss, um ein lebensrettendes Medikament zu be-

Am ir Pilo a Hass: t Wie thou (znet), e t a p Origin in Flug z ilot (Ha’a al: Like eug oh ne ap retz, 05.0 lane w 5.20 i10).

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kommen. Wenn die Einheimischen es wollen, können sie in den Reservaten leben. Wenn sie nicht wollen – lasst sie gehen. Hinter den Montagebändern sind Vertreter des ganzen Volkes von Zion, Hunderttausende von Zivilisten und Soldaten. Jeder hat ein persönliches Interesse an der Fortsetzung des Apparates, selbst wenn das Interesse in ein nationales oder Sicherheitszellophanpapier eingehüllt ist. Netanjahu ist nicht der einzige Verantwortliche. Er allein kann das riesige Flugzeug ohne Piloten nicht stoppen. Es sind sehr viele Leute in Israel, die gezwungen werden sollten, das Programm des Herrschaftsund Zerstörungsapparates zu streichen, bevor es sich gegen seinen Schöpfer, seinen Unternehmer und diejenigen wendet, die von ihm profitieren: nämlich wir alle.

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ie Menschen in Palästina haben schwere Entscheidungen zu treffen. Aber eine Möglichkeit ist, so wie ich das sehe, nicht mehr vorhanden: die Zweistaatenlösung. Wir haben seit Oslo gesehen, dass der einzige palästinensische Staat, den Israel akzeptieren wird, ein Marionettenstaat ist, ein Protektorat. Die einzige gute Zweistaatenlösung wäre, wenn die Palästinenserinnen und Palästinenser den Teil des Landes bekommen würden, der proportional ihrer Bevölkerung entspricht – wenn es ein benachbartes Land wäre, ein Staat, dessen Souveränität nicht von Israel abhängen würde, vom Westen oder irgendjemand anders. Ich glaube nicht, dass die Israelis das akzeptieren würden. Deshalb ist für mich die einzige Alternative die, die wir So-

Amira Hass

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Tariq Ali ist ein britischer Autor, Filmemacher und Historiker.

zialistinnen und Sozialisten schon lange fordern: die Einstaatenlösung. Das heißt ein Israel-Palästina, in dem Juden, Christen, Muslime und alle anderen zusammen als gleiche Staatsbürger leben. Das Argument der zionistischen Eliten dagegen ist, dass es dann nicht länger ein jüdischer Staat wäre. Die Antwort darauf ist, dass es ein Staat aller Menschen wäre, die darin leben, inklusive der Jüdinnen und Juden. Langfristig würden alle in der Region davon profitieren, egal, wer in der Überzahl ist. Der andere Weg ist gefährlich – nicht nur für Palästina, sondern auch für die Israelis. Der große Historiker Isaac Deutscher war ursprünglich für Israel. Aber in seinem letzten Interview, nach dem Sechstagekrieg von 1967, hat er eine sehr ernste Warnung ausgesprochen. Er sagte: »Ihr seid die Preußen des Nahen Ostens geworden. Seid vorsichtig, denn ihr könntet euch selbst in den Tod triumphieren.«

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TARIQ ALI


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s gibt keine Zweistaatenlösung mehr für den israelisch-palästinensischen Konflikt. Vergesst das endlose Argumentieren, wer was angeboten hat und wer wen zurückgewiesen hat und ob der Oslo-Prozess damals starb, als Jassir Arafat vom Verhandlungstisch wegging oder ob es Ariel Scharons Spaziergang auf dem Tempelberg in Jerusalem war, der dies verursachte. All dies sind Fakten, von denen der Wichtigste der ist, dass – nach vier Jahrzehnten intensiver jüdischer Besiedlung in den im Krieg von 1967 eroberten palästinensischen Gebieten – Israel unwiderruflich das Land, auf dem ein palästinensischer Staat hätte entstehen können, fest im Griff hat. Sechzig Jahre nachdem Israel geschaffen und Palästina zerstört wurde, sind wir dort, wo wir begonnen haben: Zwei Bevölkerungen bewohnen ein Stück Land. Und wenn das Land nicht geteilt werden kann, dann muss es gemeinsam gleichmäßig und gleichwertig untereinander geteilt werden. Die Gewalt wird nur dann enden, und ein gerechter Frieden wird nur dann kommen, wenn es beiden Seiten klar ist, dass der andere bleiben wird. Viele Palästinenser haben diese Prämisse akzeptiert, und eine wachsende Anzahl ist bereit, die Idee eines unabhängigen palästinensischen Staates

TITELTHEMA WEGE zum Frieden in Nahost

Saree Makdisi ist Professor für Literaturwissenschaften an der University of California und Autor von »Palestine Inside Out: An Everyday Occupation« (W.W. Norton 2008).

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aufzugeben und das Konzept eines einzigen, demokratischen, säkularen und multikulturellen Staates anzunehmen, den sie mit israelischen Juden gleichmäßig teilen . Die meisten Israelis haben sich noch nicht mit dieser Position einverstanden erklärt. Zweifellos zögern einige, die Idee eines »jüdischen Staates« aufzugeben und die Realität anzuerkennen, dass Israel nie exklusiv jüdisch war und dass die Idee, dass Mitglieder der einen Gruppe privilegierter als die der anderen Gruppe seien, grundsätzlich undemokratisch und unfair ist. Doch genau das ist es, was Israel tut. Sogar unter seinen eigenen Bürgern gewähren israelische Gesetze gegenüber den Juden Rechte, die sie Nicht-juden verweigern. Beim besten Willen ist Israel keine echte Demokratie: Es ist ein ethnoreligiöser exklusiver Staat, der versucht, die multikulturelle Geschichte des Landes, auf dem er gegründet wurde, zu verachten. Um den Konflikt mit den Palästinensern zu lösen, müssen die israelischen Juden auf ihre exklusiven Privilegien verzichten und das Rückkehrrecht der aus ihren Häusern vertriebenen Palästinensern anerkennen. Was sie dafür bekommen, wäre die Möglichkeit, sicher zu leben und mit den Palästinensern zusammen zu gedeihen – statt sie weiter zu bekämpfen.

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ie israelische Besatzung hatte, was nicht überraschen kann, Demütigung und Erniedrigung zur Folge. Israels Pläne für die Palästinenser haben sich an den von Mosche Dajan formulierten Leitsätzen orientiert, die er vor dreißig Jahren bei einer Kabinettssitzung äußerte: Israel solle den Flüchtlingen klarmachen, dass »wir keine Lösung haben, und ihr wie Hunde weiterleben werdet, und wer gehen will, kann gehen«. Auf Kritik antwortete er mit einem Satz Ben-Gurions: »Wer das zionistische Problem von einem moralischen Standpunkt aus angeht, ist kein Zionist.« Er hätte auch den ersten Präsidenten Israels, Chaim Weizmann, zitieren können, der das Schicksal von »einigen hunderttausend Negern« in der Heimat der Juden für »eine bedeutungslose Angelegenheit« hielt. Seit langem erdulden die Palästinenser Folter, Terror, Zerstörung von Eigentum, Verschleppung, Besiedlung ihres Territoriums und die Übernahme grundlegender Ressourcen, deren wichtigste Wasser ist. Diese Politik vollzog sich mit Unterstützung durch die USA und der Einwilligung Europas (...) Nach wie vor liegt das grundsätzliche Problem darin, dass Washington Israels Weigerung unterstützt, eine politische Lösung gemäß den Vorschlägen der internationalen Gemeinschaft zu akzeptieren. (...) Der Kampf für Recht und Freiheit ist nie abgeschlossen,

Noam Chomsky ist einer der bekanntesten Linguisten und linken Aktivisten der Gegenwart.

Saree Makdisi

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auch dieser nicht. Alle Parteien der Region, die in die Auseinandersetzungen verwickelt sind, müssen ernsten, wo nicht gar tödlichen Gefahren ins Auge sehen. Man kann nicht behaupten, dass die eigentliche Vormacht im Nahen Osten geholfen hat, den Weg zu einer Lösung ihrer Probleme oder wenigstens zu einer Verminderung der Gefahren zu ebnen. Aber auch diese Geschichte ist noch nicht an ihr Ende gelangt, und besorgten Menschen, die einen konstruktiveren und ehrenhafteren Kurs einschlagen wollen, stehen manche Optionen offen.

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Noam Chomsky

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Desmond Tutu war Erzbischof von Kapstadt und ist Träger des Friedensnobelpreises.

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ein Herz war immer beim jüdischen Volk. Ich bin deswegen auch Pate eines Holocaust-Zentrums bei uns in Südafrika. Ich glaube daran, dass Israel das Recht hat, seine Grenzen zu sichern. Was ich jedoch nicht begreife und keinesfalls billige, ist die Art, wie Israel mit einem anderen Volk umspringt – um seine eigene Existenz zu sichern. Während meiner Reise ins »Heilige Land« sah ich Dinge, die mich tief erschüttert haben – weil sie mich nämlich genau an jene Dinge erinnerten, die uns Schwarzen damals in Südafrika angetan wurden. Ich habe gesehen, wie Palästinenser an Checkpoints und Straßensperren gedemütigt wurden. Das hat mich daran erinnert, was wir durchmachten, wenn junge weiße Polizisten uns an unserer Bewegungsfreiheit hinderten. Auf einer meiner Reisen ins »Heilige Land« fuhr ich zusammen mit dem anglikanischen Bischof von Jerusalem zu einer Kirche. Er deutete auf die (israelischen) Siedlungen und Tränen schwangen in seiner Stimme mit. Natürlich kam mir das Bedürfnis der (jüdischen) Israelis nach Sicherheit in den Sinn – aber was ist eigentlich mit den Palästinensern, die doch ihr Land und ihre Heimstätten verloren haben? Ich habe mit Palästinensern gesprochen, die auf eine Stelle hinzeigten: dort hat früher unser Haus gestanden, und jetzt

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iele der erfolgreichsten Unternehmer des Landes nützen den Status Israels als Festungsstaat aus, der von zornigen Feinden umgeben ist, als lebendiges Beispiel – in der Art einer 24-Stunden-Lifeshow –, wie man sich relativer Sicherheit mitten in einem Krieg erfreuen kann. Der Grund, dass Israel sich über so ein großes wirtschaftliches Wachstum freuen kann, liegt bei jenen Firmen, die genau dieses Modell in die Welt exportieren. Gewöhnlich konzentrieren sich Diskussionen über israelischen Rüstungshandel auf Waffen, auf Caterpillarbulldozer aus den USA, die Häuser im Westjordanland zerstören, und auf Teile für die F-16-Bomber von britischen Firmen. Dabei wird Israels großes und expandierendes Exportgeschäft übersehen. Israel exportiert nun für 1,2 Milliarden Dollar »Verteidigungs«-Produkte in die USA, eine dramatische Erhöhung um 270 Millionen Dollar im Vergleich zum Jahr 1999. Im Jahr 2006 exportierte Israel für 3,4 Milliarden Dollar Verteidigungsprodukte – gut über eine Milliarde mehr als es durch US-Hilfe erhalten hat. Das macht Israel zum viertgrößten Waffenhändler in der Welt und hat so Großbritannien überholt. Einen großen Teil dieses Wachstums hat es dem »Heimat-Sicherheits«-Sektor zuzuschreiben. Vor dem 11. September existierte solch eine Industrie so gut wie gar nicht. Am Ende dieses Jahres

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leben dort israelische Juden. Einmal machte ich beispielsweise in Jerusalem einen Spaziergang mit Kanonikus Naim Ateek, dem Leiter des ökumenischen Zentrums von Sabeel. Er wies mit der Hand in eine bestimmte Richtung und sagte: »Dort drüben war meine Heimat. Man hat uns von dort vertrieben. Jetzt ist sie von Israelis besetzt.« Ich sage Ihnen: Ungerechtigkeit und Unterdrückung werden niemals siegen. Diejenigen mit Macht werden sich am göttlichen »Lackmus-Test« messen lassen müssen, der da untersucht: Wie geht ihr mit den Armen um? Wie mit den Hungernden? Mit denen, die keine Stimme haben? Auf der Basis dieser Fragen wird Gott sein Urteil (über die Mächtigen) sprechen. Wir müssen folglich einen Weckruf an die Regierung von Israel sowie an das palästinensische Volk starten und ihnen sagen: Glaubt uns, der Frieden ist machbar – ein wirklicher Frieden auf der Grundlage von Gerechtigkeit ist machbar. Und wir, wir werden alles tun, um Euch bei diesem Frieden behilflich zu sein – das ist ja Gottes Traum – und ihr werdet freundschaftlich als Brüder und Schwestern zusammen leben können.

— Naomi Klein ist eine kanadische Schriftstellerin, Journalistin und Globalisierungskritikerin.

Desmond Tutu

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(2007, Anm. d. Red.) wird der israelische Sektor in diesem Bereich 1,2 Milliarden Dollar erreichen – ein Wachstum von 20 Prozent. Die wichtigsten Produkte sind die HightechSicherheitszäune, unbemannte Flugkörper, biometrische Ausweise, Video- und Audio-Überwachungsapparate, Systeme zur Kontrolle von Flugpassagieren und Gefangenenverhöre – genau all die Apparate und Technologien, die Israel anwendet, um die besetzten Gebiete abzusperren. Seitdem Israel mit seiner Politik der Absperrung der besetzten Gebiete mit Kontrollpunkten und Mauern begann, haben Menschenrechtsaktivisten den Gazastreifen und die Westbank mit Freilichtgefängnissen verglichen. Bei den Nachforschungen über den explosionsartigen israelischen Sicherheitssektor (…) entdeckte ich, dass diese Gebiete noch etwas anderes sind: Laboratorien, in denen die schrecklichen Geräte unseres Sicherheitsstaates getestet werden. Die Palästinenser – ob sie nun im Westjordanland leben oder in Hamastan (wie israelische Politiker das Gebiet jetzt nennen) sind nicht mehr nur Ziele. Sie sind die Versuchskaninchen.

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Naomi Klein


Slavyo Žižek

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Slavyo Žižek ist Kulturphilosoph aus Slowenien

zen zerschnitten. Also lasst uns die bestehende Apartheid beseitigen und dieses Land in einen säkularen und demokratischen Staat verwandeln.

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Lautstark demonstrieren Zehntausende in Tel Aviv gegen die Sozial- und Wohnungspolitik der israelischen Regierung

TITELTHEMA WEGE zum Frieden in Nahost

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enn es eine Lehre aus den langwierigen Verhandlungen zu ziehen gibt, dann die, dass das größte Hindernis für den Frieden die als realistisch bezeichnete Lösung der Schaffung zweier getrennter Staaten ist. Obwohl keine Seite das will (Israel würde vermutlich gerne sehen, wenn die Gebiete des Westjordanlands, die es schon abzutreten bereit ist, Teil Jordaniens werden, während die Palästinenser das Land, das seit 1967 an Israel gefallen ist, als ihres betrachten), wird die Errichtung zweier Staaten irgendwie für die einzig machbare Lösung gehalten, eine Position, die durch die peinliche Veröffentlichung geheimer palästinensischer Verhandlungsdokumente im Januar unterstrichen wird. Beide Seiten schließen dagegen als unerreichbaren Traum die einfachste und offensichtlichste Lösung aus: einen binationalen säkularen Staat bestehend aus ganz Israel einschließlich der besetzten Gebiete und Gaza. Viele werden das als utopischen Traum zurückweisen, der sich durch die Geschichte von Hass und Gewalt bereits diskreditiert hat. Aber statt eine Utopie zu sein, ist der binationale Staat schon Realität: Israel und das Westjordanland sind ein Staat. Das gesamte Territorium untersteht faktisch der Kontrolle der souveränen Macht Israel und wird durch innere Gren-

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Zerklüftetes Land: Seit 1946 wurde die palästinensische Bevölkerung immer weiter zurückgedrängt. Heute besteht kein zusammenhängendes Palästinensergebiet mehr

Welches Israel? Im ihrem neuen Programmentwurf setzt sich DIE LINKE für die »Anerkennung des Existenzrecht Israels« ein. Das soll in der Nahostdebatte Klarheit schaffen, bewirkt aber das Gegenteil Von Stefan Bornost ★ ★★

Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

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ie Linkspartei will die Anerkennung des »Existenzrechts Israels« in ihrem Parteiprogramm festschreiben. Fraktionschef Gregor Gysi sagt: »Angesichts des Holocaust können wir Deutsche uns nicht hinstellen und den Juden sagen, wir gönnen euch keinen eigenen Staat Israel. Deutsche Geschichte bindet nicht nur Konservative, sondern auch Linke.« Die stellvertretende Parteivorsitzende Katja Kipping äußert sich ähnlich: »Nach Auschwitz kann das Existenzrecht Israels nicht mehr in Frage gestellt werden.«

Die Nennung von Auschwitz und Holocaust legt nahe, dass es beim »Existenzrecht Israels« um die Frage geht, ob man Massenmord an Juden befürwortet oder nicht. Wer für das Existenzrecht Israels eintritt ist gegen einen neuen Holocaust. Und umgekehrt: Kritiker des Begriffs »Existenzrecht« und seiner Konsequenzen pflegen insgeheim Vernichtungsfantasien gegenüber Juden. So stellen Kritiker der LINKEN die Debatte dar, so war der Tenor der aktuellen Stunde im Bundestag zum vermeintlichen Antisemitismus in der LINKEN. Doch diese Darstellung ist falsch. Linke Kritiker der Formulierung »Anerkennung des Exis-


striche – wie im Fall von Ostjerusalem im Jahr 1967 und den Golanhöhen 1981. Andererseits findet die Expansion durch Landbesetzungen und den Aufbau von Siedlungen in den nach 1967 zusätzlich besetzten Gebieten statt. Dieser Prozess läuft fortwährend. Am 11. August erteilte der israelische Innenminister Eli Jischai die Genehmigung für ein umstrittenes Bauprojekt im Gebiet Ramat Schlomo mit insgesamt 1600 Wohnungen. Dazu soll der Bau von 2600 weiteren Wohnungen in den Siedlungen Givat HaMatos und Pisgat Zeev kommen. Alle drei Siedlungsprojekte befinden sich auf besetztem Gebiet. Die Palästinenser beschuldigen Israel, durch den Siedlungsbau die Annexion weiterer Gebiete vorzubereiten und dadurch die Hoffnung auf einen palästinensischen Staat endgültig zu zerschlagen. Viele Palästinenser kennen die Worte der ehemaligen israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir aus dem Jahr 1969: »Wie können wir besetzte Gebiete zurückgeben? Da gibt es keinen, dem wir diese zurückgeben können. So etwas wie Palästinenser gibt es nicht.« Zwei Jahre später fügte Meir hinzu, dass Israels »Grenzen dadurch bestimmt werden, wo Ju-

TITELTHEMA WEGE zum Frieden in Nahost

© marx21

tenzrechts Israels« treten selbstverständlich für das Recht der jüdischen Bevölkerung ein, im Gebiet des historischen Palästina in Frieden und Sicherheit zu leben. Auch geht es nicht um die Anerkennung Israels. Das ist ein diplomatischer Akt zwischen Staaten und keine Frage von linken Parteiprogrammen. Warum viele Linke die Formel vom »Existenzrecht Israels« problematisch finden, macht eine Aussage von Transportminister Israel Katz vom August 2009 klar: »Die Weigerung, Israel als jüdischen Staat anzuerkennen, die Forderung nach einem Rückzug bis an die Linien von 1967 und nach dem vollständigen Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge – das bedeutet, Israels Existenz auszulöschen.« Das Existenzrecht Israels beinhaltet also laut Katz weit mehr als die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger. Sie beinhaltet auch eine bestimmte Grenzziehung und die Festlegung auf die Verfasstheit als »jüdischer Staat«. Das ist auch der Kern der Debatte zwischen Befürwortern und Kritikern der Formel vom Existenzrecht. Zur Frage der Grenzen: Israel hat keine festgelegten Staatsgrenzen. Das Land expandiert. Dies geschieht einerseits territorial, durch Annexion ganzer Land-

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den leben, nicht wo es auf der Landkarte eine Linie gibt.« Gleichzeitig ordnete sie an, die »Grüne Linie«, die Grenze Israels bis zum Krieg 1967, aus offiziellen Landkarten zu entfernen. Im Jahr 2007 versuchte die

Israel hat keine festgelegten Staatsgrenzen

damalige Erziehungsministerin Yuli Tamir die Grüne Linie wieder in den Schulbüchern einzuführen und damit zumindest eine mögliche spätere Grenze anzudeuten. Jedoch scheiterte sie an den Mehrheiten im Parlament. Der damalige Ministerpräsident Ehud Olmert sagte dazu: »Es gibt eine Verpflichtung zu betonen, dass die Position der Regierung und der öffentliche Konsens die Rückkehr zu den Grenzlinien von 1967 ausschließen.« Auch die amtierende Regierung hält sich die Eingliederung des Westjordanlandes offen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hielt am 14. Juni 2009 an der Bar-Ilan-Universität eine vielbeachtete außenpolitische Grundsatzrede. Dort hieß es: »Die Verbindung des jüdischen Volkes mit diesem Land existiert seit über 3500 Jahren. Judäa und Samaria, die Orte, an denen unsere Vorväter Abraham, Isaak und Jakob schritten, unsere Vorväter David, Salomo, Jesaja und Jeremia – dies ist kein fremdes Land, dies ist das Land unserer Vorväter. Das Recht des jüdischen Volkes auf einen Staat im Lande Israel ergibt sich nicht aus der Abfolge von Katastrophen, die im Verlauf von 2000 Jahren über das jüdische Volk hereinbrachen: Verfolgungen, Vertreibungen, Pogrome, ›Ritualmord‹Anschuldigungen, Morde, die im Holocaust ihren Höhepunkt erreichten, eine beispiellose Tragödie in der Geschichte der Nationen. (…) Das Recht, unseren souveränen Staat hier zu errichten, im Lande Israel, ergibt sich aus einer einfachen Tatsache: Eretz Israel ist die Geburtsstätte des jüdischen Volkes.« Hierbei ist bemerkenswert, dass Netanjahu einen Anspruch auf Judäa und Samaria formuliert – das ist die israelischen Bezeichnung für das Westjordanland. Dieser Anspruch wird nicht mit der Katastrophe des jüdischen Volkes begründet, sondern historisch. Denn Israel ist eine starke Regionalmacht im Nahen Osten, besitzt eine Hightecharmee, Atomwaffen und die Unterstützung der USA sowie fast aller europäischer Staaten. Mit einer existenziellen Bedrohungslage, gar durch die Palästinenser, kann die israelische Regierung eine Annexion schwerlich legitimieren. Deshalb werden die Ansprüche historisch begründet, verdichtet in der Bezeichnung »Eretz Israel«. Anders als die amtliche Bezeichnung »Medinat (Staat) Israel« ist »Eretz (Land) Israel« ein ideologisch aufgeladener

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Begriff, dessen Umfang noch unbestimmbarer ist als die ohnehin schon vagen territorialen Ansprüche des Staates. Der Begriff geht direkt auf die Erzählungen der Bibel von einem ewigen Bund zwischen Gott und dem jüdischen Volk zurück, der unter anderem das Versprechen auf den unwiderruflichen Besitz eines Gebietes »vom Flusse Ägyptens bis zum großen Fluss, dem Euphrat« (Genesis 15, 18) enthalten haben soll. Zur Zeit der Staatsgründung wurde dies auch so ausgelegt. Staatsgründer Ben Gurion äußerte sich während des Unabhängigkeitskriegs 1948 dementsprechend: »Ein christlicher Staat sollte (im Libanon) errichtet werden mit der südlichen Grenze am Ufer des Litsani. Wir werden ein Bündnis mit ihm schließen. Dann werden wir die Arabische Legion aufreiben, Amman bombardieren, wir werden auch Transjordanien eliminieren; Syrien wird an uns fallen. Wenn Ägypten weiter gegen uns zu kämpfen wagt, werden wir Port Said, Alexandria und Kairo bombardieren und auf diese Weise werden wir den Krieg beenden und die Rechnung unserer Urväter mit Ägypten, Assyrien und Aram begleichen.« Mittlerweile ist von einer Annexion Syriens (mit Ausnahme des Golans) und Jordaniens keine Rede mehr. Anders sieht das offensichtlich mit dem Westjordanland aus. Deshalb hat die israelische Regierung scharf abwehrend auf Obamas Vorschlag reagiert, die Grenzen von 1967 zum Ausgangspunkt von Gesprächen zu machen. Diese Unklarheit über den Grenzverlauf Israels ist ein wesentlicher Grund, der Formel vom Existenzrecht Israels skeptisch gegenüber zustehen. So fragt Brian Klug, ein britisch-jüdischer Philosoph an der Universität Oxford: »Was bedeutet es, von einem Staat zu sagen, er habe ein ›Existenzrecht‹, wenn wir die Ausdehnung des Territoriums, auf dem dieses Recht ausgeübt wird, gar nicht kennen?« Aus dem Grund hat zum Beispiel die PLO 1993 den Staat Israel anerkannt, aber nicht das »Existenzrecht«. Das mag nach Wortklauberei klingen, ist aber real der Unterschied zwischen einem einfachen diplomatischen Akt zwecks Verhandlungsführung und der Legitimation früherer und möglicher weiterer Vertreibungen. Der Verfassungsrechtler John V. Withbeck machte die Tragweite mit einem Vergleich deutlich: »Selbst die US-Regierung forderte im 19. Jahrhundert die überlebende Urbevölkerung Amerikas nicht dazu auf, öffentlich die ›Rechtmäßigkeit‹ der ethnischen Säuberung durch die Bleichgesichter zur Vorbedingung für die Diskussion darüber zu machen, welche Reservate man für sie schaffen solle.« Mit dem Zuerkennen eines Existenzrechts für einen israelischen Staat, der möglicherweise die jetzt zusätzlich besetzten Gebiete umfasst, wäre erst recht kein eigenständiger, lebensfähiger Palästinenserstaates möglich. Das sollte auch denjenigen in der LINKEN zu denken geben, die das Existenzrecht ins Parteiprogramm schreiben wollen. DIE LINKE kann nicht ohne Widerspruch beides fordern: Sowohl den


Rückzug auf die Grenzen von 1967 inklusive Zweistaatenlösung als auch ein Existenzrecht Israels, dessen Inhalt im Wesentlichen die israelische Regierung definiert. Beides schließt einander aus. Die andere wichtige Dimension der Existenzrechtsfrage berührt die interne Verfassung: Was ist mit dem Begriff Israel gemeint: Der Staat als solcher, der allen seinen Bürgern gleiche Rechte gewährt, also auch den zwanzig Prozent Palästinensern mit israelischer Staatsangehörigkeit? Oder ein exklusiv jüdischer Staat? Dazu gibt es innerhalb des israelischen Establishments keine zwei Meinungen: Das Existenzrecht bezieht sich auf den Charakter Israels als »jüdischer Staat«. Darüber, was »jüdischer Staat« genau heißt, gibt es im israelischen politischen Spektrum immerhin verschiedene Meinungen. In der Diktion der Ultraorthodoxen ist dies ein Staat, in dem die »Halacha« gilt, die göttliche Religionsgesetzgebung – das jüdische Gegenstück zur Scharia. Die Orthodoxen sind in Israel nicht marginal: Sie sind durch die Nationalreligiöse Partei und die Parteien der Nationalen Union im Parlament vertreten und verfügen mit Gush Emunim, dem »Block der Getreuen«, über eine sehr starke außerparlamentarische Lobby. Knapp 30 Prozent der israelischen Bevölkerung bezeichnen sich als »tief religiös«. Entsprechend finden sich viele Elemente der Halacha in der israelischen Gesetzgebung – im Scheidungsrecht wird zum Beispiel die Frau klar benachteiligt. Auch die Gesetze zum Verbot von Schweinezucht und Schweinefleischverkauf sind religiös motiviert. Außerdem sind wesentliche religiöse Institutionen wie das Oberrabinat, die Lokalrabbinate, die religiösen Räte und das religiös-staatliche Schulsystem Staatsorgane. Wichtige Lebensbereiche wie Heirat, Scheidung, Friedhöfe werden von religiösen Institutionen verwaltet. Unter den Nichtorthodoxen, die etwa 70 Prozent der jüdischen Bevölkerung ausmachen, findet sich ein breites Spektrum von Auffassungen zu Synagoge und Staat. Nur eine Minderheit von liberalen oder ausgesprochen weltlichen Juden meint, dass Religion Privatsache sei und keinen Einfluss auf den Staat nehmen sollte. Etwa 50 Prozent dagegen sind »Traditionalisten«, die religiöse Vorschriften zum Teil befolgen und zum Teil nicht befolgen und für eine Präsenz, aber nicht Dominanz der Religion in der Politik sind. (Diese Aufschlüsselung folgt Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema Israel). Die enge Verknüpfung zwischen Religion und Staat wirft die Frage des Status der Nichtjuden in der israe-

lischen Gesellschaft auf. Schließlich stellen die »israelischen Araber« ein Fünftel der Bevölkerung. Diese Bevölkerungsgruppe ist im jüdischen Staat klar benachteiligt. Der Untersuchungsbericht einer Kommission der israelischen Regierung stellte im Jahr 2000 fest, dass der Umgang der Regierung mit dem arabischen Sektor hauptsächlich von Nachlässigkeit und Diskriminierung gekennzeichnet sei und dass »die Regierung nicht die nötige Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen der arabischen Bevölkerung zeigt und nicht genug dafür unternimmt, die staatlichen Ressourcen gerecht zu verteilen«. 36 der 40 Städte in Israel mit der höchsten Arbeitslosigkeit sind arabische Städte. Dem israelischen Zentralbüro für Statistik zufolge lagen im Jahr 2003 die durchschnittlichen Gehälter arabischer Arbeitskräfte um 29 Prozent niedriger als die jüdischer Arbeitskräfte. Im Jahr 2006 waren nur fünf Prozent der Angestellten im öffentlichen Dienst Araber. Laut einer Untersuchung der hebräischen Universität Jerusalem von 2007 über die Ressourcenverteilung im Bildungssektor wurde in jüdische Kinder dreimal so viel Geld investiert wie in arabische. Einer Studie der Universität von Haifa aus dem Jahr 2003 zufolge existiert eine Tendenz, dass arabische Bürger höhere Gefängnisstrafen erhalten als jüdische Einwohner. Ein im März 2010 von verschiedenen israelischen Bürgerrechtsgruppen herausgegebener Bericht bemerkt zudem, dass die gegenwärtige Knesset die »rassistischste in der israelischen Geschichte« sei. In den Jahren 2008 und 2009 seien 21 Gesetze verabschiedet worden, die die arabische Minderheit diskriminierten. Die Definition Israels als »jüdischer Staat« – statt eines weltlichen Staats, in dem Juden und Araber gleichberechtigt zusammenleben –, führt automatisch zur Diskriminierung des arabischen Teils der Bevölkerung. Das Existenzrecht Israels, das grundsätzlich als Existenzrecht des jüdischen Charakters des Staates gedacht ist, rechtfertigt diese Diskriminierung. Das kann nicht im Sinne der LINKEN sein, die sich den Kampf gegen Diskriminierung auf die Fahnen geschrieben hat. Leider drängt sich der Verdacht auf, dass die Konsequenzen einer Proklamierung des Existenzrechts Israels durch DIE LINKE nicht durchdacht wurden. Insgesamt spielen die reale Situation vor Ort, die umstrittenen Grenzverläufe und die Situation der arabischen Israelis in der deutschen Nahostdebatte nur eine Nebenrolle. Es besteht die Gefahr, dass DIE LINKE einen Kampfbegriff der israelischen Regierung zur Rechtfertigung der Entrechtung der Palästinenser übernimmt. ■

TITELTHEMA WEGE zum Frieden in Nahost

DIE LINKE sollte keinen Kampfbegriff der israelischen Regierung übernehmen

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Von Kairo

Hunderttausende demonstrieren gegen die neoliberale Politik der israelischen Regierung. Noch stehen die Sozialkürzungen im Zentrum der Proteste. Doch die neue Bewegung kann sich der Palästina-Frage nicht dauerhaft entziehen

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ie landesweiten Proteste gegen soziale Ungerechtigkeit und hohe Lebenshaltungskosten nahmen ihren Anlauf am 14. Juli, als Aktivisten ein Zeltlager mitten in Tel Avivs wohlhabendem Stadtzentrum aufschlugen, um ihre Forderung nach bezahlbarem Wohnraum zu unterstreichen. Die Bewegung breitete sich schnell auf andere Städte aus. Am 6. August demonstrierten schätzungsweise 300.000 Menschen in vielen Städten, 250.000 allein in der Hauptstadt Tel Aviv. Anfänglich stell-

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Von Jonah Birch und Hadas Thier ten die Protestierenden die hohen Lebenshaltungskosten in den Mittelpunkt, aber mittlerweile prangern sie fehlende und bezahlbare Kinderbetreuung an und die ungenügenden Regelungen für Erziehungszeiten, die sinkende Qualität des verstärkt privatisierten Gesundheitswesens, die hohen Bildungskosten und ganz allgemein die wachsende Einkommensungleichheit. Die zentrale Forderung lautete am Höhepunkt der Bewegung: »Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit.« Die Bewegung hat Israels rechte Regierungskoalition unter Ministerpräsident

Die Bewegung setzt Israels rechte Regierung massiv unter Druck


© Simply Boaz

Benjamin Netanjahu sichtbar geschwächt und das konservative Parteienbündnis Likud in eine Krise gestürzt. Laut Umfragen unterstützen 90 Prozent der Israelis die Proteste. Netanjahu musste einige Zugeständnisse machen und versprach den Bau tausender Wohneinheiten sowie die Gründung eines Ausschusses, um die Beschwerden zu prüfen. Die Mobilisierungen schöpfen ihre Inspiration aus den arabischen Revolutionen. Die Parolen nehmen immer wieder Bezug auf die Aufstände in Ägypten, Syrien und

anderswo. Die Zeltlager und wöchentlichen Demonstrationen werden oft mit der Besetzung auf dem Tahrirplatz verglichen. Den eigentlichen Hintergrund bilden aber Jahrzehnte neoliberaler Politik. Seit Beginn der zionistischen Kolonialbesetzung Palästinas und bis in die 1970er Jahre hinein war die israelische Wirtschaft gekennzeichnet von einer Beschränkung des Marktes. Die Verteilung von Investitionen lag in der Hand des Staates und etablierter zionistischer Organisationen wie dem Gewerkschaftsbund Histadrut, dem über Jahrzehnte größten Arbeitgeber des

Landes. Großzügige Auslandshilfen ermöglichten hohe Wachstumsraten, gute Sozialleistungen und einen steigenden Lebensstandard. Es gab aber auch Verlierer. Teile der einheimischen palästinensischen Bevölkerung wurden 1947/48 und 1967 vertrieben. Diejenigen, die im Land blieben, unterlagen bis 1966 dem Kriegsrecht und werden seitdem als Bürger zweiter Klasse behandelt. Aber israelische Juden, vor allem die Siedler aus Osteuropa (Aschkenasim) und teilweise die aus arabischen Ländern und

TITELTHEMA WEGE zum Frieden in Nahost

inspiriert

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dem Nahen Osten (Misrachim), erlebten dank westlicher Unterstützung eine stete Verbesserung ihrer Lage und die Entwicklung des Landes zu einer fortgeschrittenen kapitalistischen Wirtschaft. Die wirtschaftliche Lage begann sich in den 1970er Jahren zu verschlechtern, mit dem Ergebnis einer Hinwendung zum Neoliberalismus. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Schimon Peres gab mit seinem 1985 eingeführten Wirtschaftsstabilisierungsplan den Startschuss. Es folgten drei Jahrzehnte neoliberaler Privatisierungen, Sozialkürzungen und Deregulierung unter linken wie rechten Regierungen, die die Ungleichheit im Land enorm anwachsen ließen. Gab es zu Beginn dieser Entwicklung keine Milliardäre in Israel, sind es mittlerweile sechzehn, während sich für die große Mehrheit die soziale und wirtschaftliche Lage verschlechtert hat. Die Armut im Land hat zugenommen und viele Familien haben ihren Status als »arme Arbeitslose« gegen den von »armen Arbeitenden« getauscht. Es betrifft in erster Linie die arabische Bevölkerung, zunehmend aber auch Juden. Israelis in Beschäftigung haben längere Wochenarbeitszeiten als Arbeitnehmer in vielen anderen Industrieländern. Zugleich liegt der durchschnittliche Lebensstandard niedriger. hUnklar bleibt, ob die Proteste die zentrale Frage der israelischen Politik aufgreifen werden, nämlich das Verhältnis zu den Palästinensern. Viele sehen zwar einen Zusammenhang zwischen den Sozialkürzungen und den enormen Mitteln – etliche Milliarden US-Dollar in den letzten Jahren –, die der Staat in den Siedlungsbau steckt und für Rüstung ausgibt. Israel hat die weltweit höchsten Rüstungsausgaben sowohl im Verhältnis zum Staatshaushalt als auch zur Gesamtleistung der Wirtschaft. Doch bislang gibt es keine Positionierung der Bewegung dazu. Vielmehr betonen die Demonstranten, »unpolitisch« zu sein, was in Israel nicht nur jegliche Abstinenz von parlamentarischen Manövern und Parteipolitik bedeutet, sondern darüber hinaus die Weigerung, sich zu Fragen wie Siedlungsbau, Militarisierung und dem Verhältnis zu den Palästinensern zu äußern. Während die – gesellschaftlich relativ unbedeutende – radikale Linke sich sehr aktiv an den Demonstrationen beteiligt, haben die meisten Organisatoren die Bezeichnung »links«, worunter gewöhnlich die Bereit-

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schaft zu Verhandlungen mit den Palästinensern verstanden wird, weit von sich gewiesen. Die Protestierenden haben meist nichts zu dem Thema gesagt. Mehr noch: Sie reagieren fast immer äußerst feindlich auf den Versuch, einen Bezug herzustellen. Das berichten auch die beiden linken Berichterstatter Dahlia Scheindlin und Joseph Dana aus einem Zeltlager in Tel Aviv: »Erwähne bloß nicht die israelische Besetzung des Westjordanlands, nicht einmal die neutrale, umgangssprachliche Beschönigung ›Medini‹ für politische oder diplomatische Fragen. Die staatlich ver-

Im Verhältnis zum Staatshaushalt hat Israel die höchsten Rüstungsausgaben weltweit

ordnete Ungleichheit, die das Los der meisten palästinensischen Bürger Israels ist, solltest du außen vor lassen. Die Ungleichbehandlung anderer Gruppen ist aber ein durchaus willkommenes Thema.« Einer der Organisatoren der Proteste drohte, »sollte ich diese Art Fragen aufwerfen, vor allem die ›Medini‹, würde ich aus ›seinem Zirkel‹ von Menschen oder Zelten rausgeworfen. Wieso? ›Weil es nur den Klassenkrieg gibt, sonst nichts‹, sagte er, als hätte er gerade eine schlechte Einführung in den Marxismus gelesen.« Diese Haltung bezieht sich nicht nur auf die israelische Politik gegenüber Palästinensern, die im Westjordanland oder im Gazastreifen leben, oder die große Mehrheit, die seit Jahrzehnten zu Flüchtlingen gemacht werden. Die Proteste thematisieren auch nicht das Schicksal der Palästinenser und ihrer Nachkommen, die nach 1948 innerhalb der israelischen Grenzen geblieben sind. Ein jüngst erschienener Bericht der in Israel arbeitenden Solidaritätsorganisation Adalah gibt einen Eindruck von der systematischen Ungleichheit, unter der palästinensische Bürger Israels leiden. Dort wird

festgestellt, dass über die Hälfte aller Palästinenser in den Grenzen von 1948 unter der Armutsgrenze leben – verglichen mit 20 Prozent der übrigen israelischen Bevölkerung. Hinzu kommt die ungleiche Behandlung auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungs- und Gesundheitssystem. Bei den Protesten gegen die Lage auf dem Wohnungsmarkt wurde die erbärmliche Situation von zigtausenden Palästinensern, die in den »nicht anerkannten« Dörfern leben und ständig von staatlich angeordneten Hauszerstörungen bedroht sind, nicht aufgegriffen. Die politische Landschaft Israels ist in den vergangenen Jahren deutlich nach rechts gerückt. Das trifft ganz besonders die Palästinenser. Außenminister Avigdor Lieberman hat offen die Ausweisung – er nennt es »Transfer« – der verbliebenen Palästinenser gefordert. Dies wird von fast der Hälfte der jüdischen Israelis befürwortet. Führende palästinensische Abgeordnete der Knesset waren in der jüngeren Vergangenheit Repressalien und Einschüchterungsversuchen wegen ihrer politischen Aktivitäten ausgesetzt. Asmi Bischara beispielsweise wurde ins Exil gezwungen, nachdem er sich mit den Opfern des israelischen Einmarsches in den Libanon im Jahr 2006 solidarisiert hatte. Hanin Suabi verlor wegen ihrer Beteiligung an der »Friedensflotte« zur Durchbrechung der Gaza-Blockade ihre parlamentarischen Rechte. Das Gedenken an die Nakba, die gewaltsame Vertreibung der Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung im Jahr 1948, wurde verboten. Wachsender Rassismus und rechte Radikalisierung hat große Teile der jüdischen Bevölkerung erfasst. Im Jahr 2007 berichtete die israelische Bürgerrechtsorganisation ACRI, dass antiarabische Ansichten doppelt so häufig geäußert werden und rassistische Übergriffe um 26 Prozent zugenommen hätten. Laut Umfragen vertritt etwa die Hälfte aller jüdischen Israelis die Meinung, arabischen Bürgern Israels stünden nicht dieselben Rechte zu. In einer anderen Umfrage äußerten 75 Prozent jüdischer Jugendlicher, Araber seien weniger intelligent und weniger sauber als Juden. Wie lässt sich dieser blinde Fleck in den Mobilisierungen der sozialen Bewegung erklären? Eine Bewegung für »soziale Ge-


israelischer Juden gegeben. Die unbequeme Wirklichkeit aber ist, dass Israelis auch als Siedler auf dem Land eines anderen Volkes leben und sie deswegen an den eigenen Staat und die eigene herrschende Klasse gekettet sind. Israelis könnten nicht leben, wo sie leben und wie sie leben mit ihrem westlichen Lebensstandard, wenn

bilisierungswellen der Arbeiterklasse und der Linken bewegen werden. Die Tatsache, dass die meisten Demonstranten, so Blogger Clyne, »die alte, verlorene Ordnung staatlicher Wirtschaftslenkung wiederherstellen wollen, anstatt für eine neue zu kämpfen«, weist in dieselbe Richtung. Es gibt also Grund für Skepsis. Dennoch

Israels Linke hat jetzt die Chance, aus der Isolation zu treten sie nicht einen von den USA stark subventionierten militarisierten Staat im Rücken hätten. Der israelische General Mosche Dajan formulierte diesen Umstand bereits im Jahr 1956: »Wir sind eine Siedlernation, und ohne Stahlhelm und Kanone könnten wir weder Bäume pflanzen noch Häuser bauen.« Seitdem hat sich vieles verändert, aber das Gesamtbild bleibt. Die Klassenwidersprüche in Israel sind keine Neuerscheinung und im Zuge der um sich greifenden neoliberalen Politik und der sich verschärfenden Wirtschaftskrise werden sich die Widersprüche weiter zuspitzen. Aber diese Widersprüche sind gedämpft und die politische Radikalisierung ist gehemmt, solange die Arbeiterklasse an das zionistische Projekt und so an die eigene herrschende Klasse gebunden bleibt. Deshalb haben viele israelische und palästinensische Linke darüber spekuliert, ob es am Ende der gegenwärtigen Mobilisierungen zu einer Links- oder Rechtswende kommen wird. Letztere könnte darin bestehen, dass die Regierung die Krise durch weiteren Siedlungsausbau, durch Militarisierung und Rassismus »löst«. Welche Richtung die Proteste einschlagen werden, ist tatsächlich noch nicht ausgemacht. Der Entschluss der Organisatoren, die Frage gleicher Rechte für Palästinenser zu ignorieren, und die geringe Teilnahme arabischer Bürger an den Protesten lassen jedoch vermuten, dass sich die Proteste im engen Korsett vergangener Mo-

hat die Bewegung wichtige Widersprüche in der israelischen Gesellschaft bloßgelegt und verschärft. Dazu zählen die sich entfaltenden Revolten in der arabischen Welt, die Israels regionale Vormachtstellung schwächen und in Zukunft sogar seine Bedeutung für die USA untergraben könnten, nebst der Verschärfung innerer Widerspräche infolge des Neoliberalismus. Ob es am Ende einen Ruck nach rechts oder nach links geben wird, hängt daher vor allem von Entwicklungen außerhalb der israelischen Grenzen ab. Aber auch im Inneren ergibt sich für die kleine und bislang unbedeutende israelische Linke – jene Linke, die die Gleichstellung der Palästinenser vertritt – die Chance, aus ihrer Isolation herauszutreten. ■ ★ ★★ Jonah Birch und Hadas Thier sind US-amerikanische Sozialisten. Ihr Artikel erschien erstmalig auf www.socialistworker.org.

★ ★★ WEITERLESEN Der im Text erwähnte israelische Sozialist Moshe Machover hat viele prägnante Analysen zum Nahostkonflikt geschrieben. Eine davon findet ihr hier: http://tiny.cc/machover. Für Smartphone-Benutzer Bildcode scannen, etwa mit der App »Scanlife«.

HINTERGRUND / DER PROTEST GEHT WEITER Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe sind erneut Menschen in Israel für bessere Bildungschancen, ein gerechtes Steuersystem und bezahlbare Mieten auf die Straße gegangen. Mit 450.000 Teilnehmern war es der bislang größte Massenprotest seit Beginn der Demonstrationen im Juli. Die Organisatoren haben angekündigt, jetzt in die Stadteile zu gehen um die gesellschaftliche Basis der Proteste auszuweiten.

TITELTHEMA WEGE zum Frieden in Nahost

rechtigkeit«, die die grundlegendste und krasseste Ungerechtigkeit im Land übersieht, ist bereits ein seltsamer Widerspruch in sich. Aber selbst in dem engeren Rahmen von Wirtschaftsreformen und der Wiederbelebung des Sozialstaats ist der fehlende Bezug auf Palästina und die Palästinenser bemerkenswert. Zum einen wird jener Teil der Bevölkerung, nämlich die Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft, die die größte Last der neoliberalen Politik der vergangenen Jahrzehnte zu tragen hatte, einfach vergessen. Zum anderen sind gerade die enormen Kosten, die die Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens verursachen, ein Hauptgrund für die fehlenden staatlichen Investitionen in den Wohnungsbau und in andere soziale Dienste, die die Protestierenden einfordern. Der israelische Blogger Eyal Clyne drückt es so aus: »Wie Professor Schlomo Svirsky sagt: ›Der freie Markt endet an der Grünen Linie.‹ Wenn es darum geht, das Westjordanland mit israelischen Juden zu bevölkern, werden enorme Anstrengungen unternommen und es wird im großen Stil investiert. Beinahe 50 Prozent der Bautätigkeit in den Siedlungen der Jahre zwischen 1994 und 2009 wurde von der Regierung initiiert und finanziert, während es landesweit, einschließlich der Siedlungen, unter 21 Prozent waren und nur drei Prozent im Großraum Tel Aviv, wo von 2006 bis 2009 keine einzige von der Regierung finanzierte Wohneinheit errichtet wurde.« Dieser blinde Fleck ist weder neu noch Zufall. Die materiellen Interessen der israelischen Arbeiterklasse, und damit ihre gesamte politische Entwicklung, wurden lange Zeit durch den siedlungskolonialistischen Charakter des Zionismus und des israelischen Staates geprägt. Bereits im Jahr 1969 wiesen die israelischen Sozialisten Moshe Machover und Akiva Orr in einer Analyse der israelischen Arbeiterklasse darauf hin, dass »der Konflikt zwischen der Siedlergesellschaft und den einheimischen, vertriebenen palästinensischen Arabern niemals beendet wurde und die ureigene Struktur der israelischen Gesellschaft, ihre Politik und ihre Wirtschaft geprägt hat«. Sicher gibt es keinen Mangel an Klassenkampf und politischer Debatte in der israelischen Gesellschaft. Es hat in der Vergangenheit sehr viele und mitunter ziemlich breite und kämpferische Streiks

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NEUES AUS DER

sein

Am 1. September, dem Antikrieg stag, hat in Darmstadt ein Bün dnis aus Gewerkschaften, FriedensErwerbsloseninitiativen und der und LINKEN gegen die Rekrutierung der Bundeswehr in der Agentur demonstriert. Die Bundeswehr führ für Arbeit te dort eine »Informationsveranstaltu ng« zur Unteroffizierslaufbahn und freiwilligen Wehrdienst durch. zum

Ich werde mich wi(e)der setzen DIE LINKE in Thüringen hatte es im August gleich mit zwei Veranstaltungen von Faschisten zu tun. In Gera sollte am 6. August das Nazikonzert »Rock für Deutschland« stattfinden. Doch rund 1000 Menschen blockierten die Veranstaltung mit dem Ergebnis, dass der Beginn erheblich verzögert wurde und ein Großteil der angereisten Nazis das Konzert erst gar nicht erreichte. In Weimar bereitete sich das Bündnis gegen Rechts am 27. August mit friedlichen Massenblockaden auf eine geplante Demonstration der NPD vor, die dann letztlich am Vorabend von der Stadt verboten wurde. 500 Menschen setzten trotzdem ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz. Die thüringische LINKE ist aktiver Teil verschiedener Antinazibündnisse, die von SPD und Grünen ebenso getragen werden wie von Kirchen, Gewerkschaften und antifaschistischen Initiativen. Tobias Paul 34

© Uli Franke

Ausbildung kann tödlich

lebt von der Die Rubrik »Neues aus der LINKEN« Redaktion kann Mitarbeit der marx21-Leser. Die azin und seine nicht überall sein – aber das Mag Leser schon. über interessante Auf dieser Doppelseite wollen wir EN berichten Aktionen und Kampagnen der LINK igen. Wenn ihr sowie spannende Termine ankünd eine etwas beizutragen habt, schickt . Die Redaktion 1.de arx2 n@m ktio E-Mail an reda l und Kürzung vor. behält sich das Recht auf Auswah

Leiharbeit gehört abgeschafft Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) war am 26. August zu Besuch bei der städtischen Personal und Service Agentur (PSA) in Bocholt. Ein Schwerpunkt der PSA ist Leiharbeit. Schneider besuchte dort den SPD-Fraktionsvorsitzenden im Stadtrat, Klaus Mertens. Dieser ist seit dem 1. Juli gleichzeitig Leiter dieses Unternehmens. Schneiders Anwesenheit blieb allerdings nicht ohne Protest der Bocholter LINKEN, die vor dem Rathaus dagegen Stellung bezog und ein Ende der Leiharbeit forderte, während sich der Arbeitsminister ins goldene Buch der Stadt eintrug. »Bocholt braucht keinen Sklavenhandel« und »Stoppt Billiglöhne durch PSA« waren die Slogans der Protestplakate. »Es ist einfach widerlich, wie eine solche Einrichtung bejubelt wird«, sagt LINKEN-Kreissprecher Rainer Sauer. Dass ein städtisches Unternehmen in das lukrative Geschäft der Arbeitnehmerüberlassung einsteigt, stößt übel auf. Hinzukommt der Verdacht, dass mit der Einstellung von Klaus Mertens seitens der SPD-Verantwortlichen in der Stadt ihrem Fraktionsvorsitzenden eine Gefälligkeit geleistet wurde. Tobias Paul


Kampagne

Zehn Jahre Krieg – Raus aus Afghanistan

Infos und Material www.die-linke.de/afghanistan (Partei) www.afghanistanprotest.de (Bündnis) Material zum Download unter http://bit.ly/n8t82E

Ende des Jahres lädt die Bundesregierung zu einer internationalen Konferenz. DIE LINKE und die Antikriegsbewegung werden fordern, den Krieg zu beenden und die Truppen abzuziehen Im Herbst wird sich DIE LINKE gemeinsam mit der Friedensbewegung an den Protesten gegen die geplante AfghanistanKonferenz der Bundesregierung beteiligen. Mitglieder und Gliederungen sind aufgerufen, aktiv zu werden. Am 7. Oktober jährt sich der Beginn des Afghanistankrieges und damit auch die deutsche Zustimmung zu dem Militäreinsatz zum zehnten Mal. Die Bundesregierung nimmt dies zum Anlass, am 5. Dezember im Rahmen einer internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn mit 90 Außenministern und Außenministerinnen und insgesamt 1000 Delegierten über das weitere Schicksal des Landes zu beraten. So wird ein Truppenabzug bis 2014 verkündet. In Wahrheit will die NATO den Krieg in den nächsten drei Jahren ausweiten. Damit sind weiter Krieg und Zerstörung garantiert. Ab 2014 sollen dort laut NATO mindestens 50.000 ausländische Soldaten dauerhaft stationiert bleiben. Doch nicht nur die Eskalation des Krieges verhindert eine demokratische Entwicklung Afghanistans. Ein weiteres Hauptproblem ist das dort von den USA und der Weltbank installierte Wirtschaftssystem. Es findet kein nachhaltiger wirtschaftlicher Aufbau statt. Stattdessen können Firmen schnelle Gewinne in Afghanistan machen, um das Kapital anschließend wieder aus dem Land abzuziehen. Der Aufbau demokratischer, ziviler Strukturen und eine positive wirtschaftliche Entwicklung können nur gelingen, wenn

die Afghaninnen und Afghanen selbst über ihr Land bestimmen und nicht mehr von jenem korrupten Regime beherrscht werden, das auf der ersten Afghanistan-Konferenz vor zehn Jahren in Bonn installiert wurde. Wer den Weg für Friedensverhandlungen frei machen will, muss den Kriegseinsatz beenden. Dafür wird ein Bündnis der Friedensbewegung unter Beteiligung der LINKEN demonstrieren, wenn die Herrschenden in Bonn tagen. Die Forderung nach dem sofortigen Ende des Krieges und dem unverzüglichen Abzug der Bundeswehr ist eines der zentralen Alleinstellungsmerkmale der Partei DIE LINKE. Tim Herudek

Zeit, aktiv zu werden 24. Sept. Ende Sept. Okt./Nov.

Anfang Okt. 1.-3. Okt. 7./8. Okt. 7./8. Okt. 15./16. Okt. 21.–23. Okt. Ende Okt. 14. Nov. – 4. Dez.

16. Nov. 3. Dez. 4. Dez. 5. Dez.

Projektgruppentreffen der LINKEN in Köln Neue Broschüre der Linksfraktion: »10 Jahre Krieg in Afghanistan – Eine Bilanz« Lokale Veranstaltungen organisieren, Rundreise mit afghanischen Vertreterinnen und Vertretern (organisiert von der Linksfraktion), Teil 1 Busse organisieren, Vertriebsstruktur für Busfahrkarten aufbauen, Finanzen für Busse klären Vor Ort plakatieren und Flugblätter verteilen Antikriegsaktivitäten zum Deutschlandtag und NRW-Tag in Bonn Bundesweiter Aktionstag DIE LINKE zum 10. Jahrestag des Afghanistankrieges Afghanistan-Tribunal des Bündnisses in Berlin Bundesweite Aktionskonferenz des Bündnisses Bundesparteitag der LINKEN in Erfurt Busse bewerben Rundreise mit afghanischen Vertreterinnen und Vertretern (organisiert von der Linksfraktion), Teil 2 Jahrestag des ersten Bundestags-Mandates für den Afghanistankrieg Bundesweite Demonstration in Bonn Alternativkongress in Bonn Aktionen gegen die Afghanistankonferenz 35


SCHWERPUNKT DIE NEUE RECHTE

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Falsche Feinde Islamischer Fundamentalismus und die Linke

Mundtot machen Rechtspopulisten kürzen im Kulturbereich

Der norwegische Attentäter Anders Breivik in seiner »FantasieUniform«. Die selbst ausgedachten Abzeichen nehmen Bezug auf die Freimaurer und Tempelritter


Des Nazis neue Kleider Sie geben sich verfassungstreu und familienfreundlich. Doch das Massaker in Norwegen zeigt die Gefahr, die von Rechtspopulisten und ihren Anhängern ausgeht Von Marwa Al-Radwany

E

r kam aus dem Nichts« titelte die Bild am Sonntag. Gemeint war der Norweger Anders Behring Breivik, der am 22. Juli ein Regierungsgebäude in Oslo in die Luft sprengte und anschließend ein Massaker auf der Insel Utøya anrichtete. Insgesamt 77 Menschen kamen dabei ums Leben, größtenteils waren es Teilnehmer eines Ferienlagers der Jungsozialisten. Breivik hat ein krudes Selbst- und Weltbild: Er inszeniert sich selbst als Tempelritter und christlichen Kämpfer gegen die angebliche Invasion des Islams in Europa wie einst die Kreuzritter. Neben Muslimen sind seine Feindbilder zuallererst »Kulturmarxisten«, außerdem Homosexuelle und Feministinnen. Den Multikulturalismus hält der 32-Jährige für eine »anti-europäische Hassideologie, die das Ziel hat, europäische Kultur und Europas Identität zu zerstören und im Übrigen auch die Christenheit.«

angebliche Gefahr des Multikulturalismus herauf – etwa der britische Premier David Cameron, der die Ansicht vertrat, der »staatlich verordnete Multikulturalismus« fördere extremistische Ideologien und trage direkt zum »hausgemachten islamischen Terrorismus« bei, oder Bundeskanzlerin Angela Merkel, die der Jungen Union in einer Rede zurief: »Multikulti (…) ist gescheitert, absolut gescheitert!« Wenn Breivik nun erklärt, er habe mit seinen Attentaten die Sozialdemokraten treffen wollen, weil sie für den Multikulturalismus in Norwegen verantwortlich seien, dann hat er letztendlich nur die von Medien und Politikern stets wiederholte Botschaft auf grausame Weise als Handlungsaufforderung interpretiert. Ähnliche Beispiele sind aus der deutschen Geschichte bekannt. So hetzten Anfang des Jahres 1968 rechte Medien, allen voran die BildZeitung, monatelang gegen die Studentenbewegung und gegen Rudi Dutschke, einen ihrer prominentesten Aktivisten. »Man darf auch nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen« oder »Stoppt den roten Rudi jetzt«, konnte man in den Zeitungen lesen. Für den jungen Hilfsarbeiter Josef Bachmann war das Grund genug, Dutschke aus nächster Nähe zweimal in den Kopf zu schießen. Auch als im Jahr 1992 Neonazis in RostockLichtenhagen ein von Migranten bewohntes Haus anzündeten und zahlreiche Anwohner Beifall klatschend daneben standen, geschah das nicht zufällig. Zuvor hatte es in den Medien eine wochenlange Debatte über das Asylrecht mit Schlagzeilen wie »Das Boot ist voll« (Spiegel) gegeben.

★ ★★

Marwa Al-Radwany ist Mitglied der LINKEN und Mitinitiatorin des Netzwerks gegen antimuslimischen Rassismus und Islamfeindlichkeit (NARI).

Breivik mag auf den ersten Blick ein verrückter Einzeltäter sein. Doch aus dem Nichts sind seine Ansichten keineswegs gekommen. Vielmehr hatte er prominente Stichwortgeber. Christian Tybring-Gjedde, Vorsitzender des Landesverbands Oslo der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, kritisierte bereits im vergangenen Jahr, dass die regierenden Sozialdemokraten aus der Hauptstadt Oslo »ein multikulturelles Disneyland« gemacht hätten: »Welches Ziel verfolgt die Arbeiterpartei, wenn sie der norwegischen Kultur den Dolch in den Rücken stößt?«, fragte er. Auch konservative Regierungspolitiker aus anderen europäischen Ländern beschwören regelmäßig die

SCHWERPUNKT DIE NEUE RECHTE

Breiviks Hass auf Muslime resultiert aus einem entsprechenden gesellschaftlichen Klima

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Auch Breiviks Hass auf Muslime ist das Resultat eines entsprechenden gesellschaftlichen Klimas. Denn das Thema Islam stand noch nie so stark im Mittelpunkt wie heute. Wenn Spiegel, Stern und Focus immer wieder hetzerische Aufmacher über ‚den’ Islam veröffentlichen und mit Thilo Sarrazin ein (mittlerweile ehemaliges) Vorstandsmitglied der Bundesbank ohne Weiteres gegen Muslime hetzen kann, dann ist es nicht allzu verwunderlich, dass sich manch einer zum Handeln aufgerufen fühlt, der ständig propagierten Gefahr und Bedrohung aktiv entgegenzutreten. Vor allem hat die zunehmende Islamfeindlichkeit ein vermeintlich neues Phänomen auf der politischen Bildfläche erscheinen lassen: die sogenannten Rechtspopulisten. Breivik selbst war Mitglied einer solchen Formation: Zehn Jahre lang engagierte er sich in der Fortschrittspartei und leitete eine Zeit lang den Ortsverband Oslo-West. Später wandte er sich von ihr ab, weil ihm die Parteifreunde nicht radikal genug erschienen. Seitdem arbeitete er daran, einen norwegischen Ableger der islamfeindlichen English Defence League aufzubauen. In den letzten Jahren schossen europaweit Parteien neueren rechten Typs nur so aus dem Boden: Etwa Geert Wilders Ein-Mann-Projekt Partei für die Freiheit (PVV) in den Niederlanden, der belgische Vlaams Belang (Flämische Interessen), die Pro-Bewegungen in Deutschland oder die Wahren Finnen, die mit über 19 Prozent mittlerweile drittstärkste Partei im Parlament sind und innerhalb von nur vier Jahren ihren Stimmanteil um ganze 15 Prozentpunkte erhöhen konnten. Während die klassischen Naziparteien, die Nachfolgeparteien der europäischen Faschisten, in der Krise sind – die British National Party BNP, der Front National in Frankreich oder die NPD konnten bei den letzten Parlamentswahlen die Fünfprozenthürde nicht knacken – verzeichnen »modernisierte« Rechte, die Bürgerbeteiligung, direkte Demokratie und Islamfeindschaft statt biologischen Rassismus betonen, erhöhten Zulauf. Ihre vermeintliche Islamkritik findet bis nach links Befürworter und erweckt so nicht den Verdacht, rassistisch zu sein. Die Berliner Landesbehörde des Verfassungsschutzes lehnt es beispielsweise ab, die rechtspopulistischen Parteien Pro Berlin und Die Freiheit zu beobachten, denn »nach unserer Extremismusdefinition« fielen sie nicht in das Kriterium der Verfassungsfeindlichkeit – und schließlich gab es 2006 ein Urteil über Die Republikaner, das klarstellte, dass Fremdenfeindlichkeit allein kein Beobachtungskriterium darstelle: Sie falle unter die grundgesetzlich geschützte MeinungsBrauner Vormarsch: Ergebnisse rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien bei Parlamentswahlen in EU-Staaten seit 2007 freiheit.

In den vergangen Jahren schossen in Europa neue rechte Parteien nur so aus dem Boden

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SCHWERPUNKT DIE NEUE RECHTE

In 12 von 27 Mitgliedsstaaten der EU haben rechte Parteien bei Parlamentswahlen mehr als fünf Prozent der Stimmen erreicht (siehe Infografik). Unter ihnen gibt es eher neorechtskonservative Parteien wie Die Freiheit in Deutschland oder die Wahren Finnen, die auch konservative Themen wie die Bewahrung traditioneller Werte für sich reklamieren: Letztere treten beispielsweise für ein Verbot der Homoehe und von außerehelichem Sex ein. Dann gibt es Parteien, die sich selbst als »rechtspopulistisch« bezeichnen, wie etwa die Pro-Parteien in Deutschland. Solche Rechtsparteien modernen Typs versuchen, sich den Anstrich einer Bürgerinitiative zu geben und fallen durch Aktivitäten wie Mahnwachen gegen die Errichtung von Moscheen oder Antiislamisierungskongresse auf. Schließlich gibt es die klassisch neofaschistischen Naziparteien, die sich aber in jüngster Zeit den Rechtspopulisten annähern, indem sie ihre Programmatik moderater gestalten: Etwa die flämisch-separatistische Partei Vlaams Belang, die Ende 2004 aus dem offen rassistischen Vlaams Blok (Flämischer Block) hervorging, dessen Parteiprogramm lediglich modernisiert und »abgemildert« wurde. Gleiches gilt für die österreichische FPÖ oder den französischen Front National, der seit 2006/07 eine Modernisierung und »Normalisierung« durch die neue Vorsitzende Marine Le Pen erfährt, um sie auch in der Mittelschicht wählbar zu machen. So wurde beispielsweise die Zielgruppe der rassistischen Hetze ausgetauscht: Anstelle der Immigrés poltert man jetzt gegen Muslime und als Begründung muss die Säkularität herhalten. Zusätzlich zu den im Parlament vertretenen Parteien gibt es Gruppierungen und Organisationen wie die English Defence League oder die »Bürgerbewegung Pax Europa«, die mehr oder weniger radikal vor allem auf der Straße aktiv sind mit Demonstrationen vor Moscheen, islamischen Bekleidungsgeschäften oder Halal-Restaurants. Was die rechtspopulistischen Parteien kennzeichnet, ist die proklamierte Abkehr vom Faschismus und die Betonung der Verfassungstreue. So erklärte zum Beispiel Marc Doll von der Freiheit in einer Wahlkampfrede: »Faschismus bedeutet, politische Positionen mit Gewalt durchzusetzen. (…) Wir dagegen sind weder rechts noch sind wir Rassisten. Wir sind aufrechte Demokraten aus der Mitte der Gesellschaft«. Und der Gründer der Lokalpartei Pro Köln machte in einem Interview mit der Jungen Freiheit deutlich: »Tatsache ist, dass wir im Vergleich zur NPD von heute auf dem Boden des Grundgesetzes stehen — bei uns will niemand die Bundesrepublik abwickeln! (…) Pro Köln würde ich als freiheitlich und rechtspopulistisch definieren.« Erklärte Rechtspopulisten verpassen sich den Habitus einer anti-elitären Protestpartei und nehmen für sich in Anspruch, der »Stimme des Volkes« eine Plattform zu verleihen. Dafür greifen sie zu Volksentscheiden und Bürgerbefragungen als Mittel der »direkten Demokratie«. Anstelle der rassisch definier-

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© Matthias Zickrow

»Jerusalemer Erklärung« gegen die »weltweite totalitäre Bedrohung«: den »fundamentalistischen Islam«.

© Matthias Zickrow

Ende August veranstaltete die rechtspopulistische Bürgerbewegung Pro Deutschland einen »Anti-IslamisierungsKongress« in Berlin. Zur anschließenden Demonstration erschienen auch Anhänger der NPD

ten »Volksgemeinschaft« thematisieren sie lieber die Kultur, die abendländische Tradition oder die Aufklärung, die angeblich vom erklärten Feindbild Islam bedroht seien. Zudem spielt der Antisemitismus keine Rolle in ihrer politischen Ideologie, stattdessen verstehen sich viele der neurechten oder rechtspopulistischen Parteien in Europa als proisraelisch und verbünden sich mit den dortigen Rechtskonservativen und Rassisten: Gesandte der FPÖ, der Schwedendemokraten, der Freiheit und des Vlaams Belang unterzeichneten am 7. Dezember 2010 auf Einladung des ehemaligen Knesset-Abgeordneten Eliezer Cohen die

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Allen diesen Gruppierungen gemein ist der aggressive Kulturrassismus gegen »den« Islam und »die« Muslime: Geert Wilders vergleicht den Koran mit Hitlers »Mein Kampf« und oben zitierter Christian TybringGjedde forderte zur Bekämpfung des Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen in Norwegen einen landesweiten Aktionstag an Schulen, an dem über den Holocaust und die Geschichte der Juden gelehrt werden solle. Muslimische Jugendliche sollten an diesem Tag einen Davidsstern tragen. Der Rechtsextremismusexperte Alexander Häusler beschreibt diese Entwicklung: »Durch die Gleichsetzung von Religions-, Zuwanderungs- und Politikfragen wird der Rassismus kulturreligiös umformt, um das eigentliche Feindbild Einwanderungsgesellschaft propagandistisch wirksamer zu unterfüttern. Diese Form des Rechtspopulismus einigt die heterogene Achse der Rechtsaußenparteien in Europa, die vom klassischen Neofaschismus bis hinein in die konservative Rechte reicht.« Ist es also wirklich sinnvoll, eine Trennlinie zwischen »Rechtspopulisten« und Nazis zu ziehen? Ich halte es nicht für sinnvoll, sondern sogar für gefährlich. Denn nimmt man einmal die Parteiprogramme und das politische Personal der Rechtspopulisten genauer unter die Lupe, so stellt man schnell fest, dass die Betonung des demokratischen Gestus wohl ein taktischer Zug ist und vor allem die Abgrenzung von Nazis ein pures Lippenbekenntnis bleibt. Gerade bei den Pro-Parteien gibt es zahlreiche personelle Verflechtungen mit ehemaligen NPD- und DVU-Kadern: Der Parteivorsitzende von Pro Deutschland, Manfred Rouhs, war früher bereits Kandidat der NPD; der deutsch-schwedische Multimillionär Patrick Brinkmann, zeitweilig Vorsitzender von Pro BERLIN, war vorher für die DVU und für die NPD aktiv, der ehemalige NPD-Spitzenfunktionär Andreas Molau ist Beisitzer im Landesvorstand von Pro NRW. Zuweilen offenbart sich hinter der Maske der Demokraten die hässliche Fratze rassistischer Fanatiker: Etwa als zwei Wahlkampfhelfer von Pro Deutschland Mitte August in Berlin einen Mann aus dem Libanon mit einem Hammer bewaffnet Totschlag androhten, weil dieser die Wahlplakate mit islamfeindlichen Slogans kritisierte. Selbst die anrückende Polizei wurde von den Plakatierern dieser demokratischen Partei mit Pfefferspray angegriffen. Verräterisch ist auch die Organisationsstruktur der rechtspopulistischen Parteien: Oftmals handelt es sich um eher lose organisierte Bewegungen mit Massenbasis, die sich meist um eine charismatische Führungspersönlichkeit gruppieren. In den Niederlanden ist Geert Wilders beispielsweise das einzige Mitglied seiner »Partei für die Freiheit« und Pro NRW musste für die Kandidatenaufstellung im Kommunalwahl-


Die neofaschistische NPD agiert gegenwärtig im Berliner Wahlkampf mit sehr eindeutigen Anspielungen: etwa einen Wahlplakat mit dem Slogan »GAS geben« (über einem Bild ihres Bundesvorsitzenden Udo Voigt auf seinem Motorrad) und Infobroschüren mit einem Kreuzworträtsel, in denen als Lösungsworte Namen deutscher Faschisten wie Adolf (Hitler) oder (Rudolf) Hess gesucht wurden. Das ist ein klares Signal an die braunen Kameraden, an welchen Vorbildern sich die Partei orientiert – trotz parlamentarischer Fassade.

Nicht ganz so deutlich agieren die Rechtspopulisten – aber auch bei ihnen findet man solche Andeutungen und Signalworte: Der erste Entwurf des Grundsatzprogramms der Freiheit enthielt nationalsozialistisch vorbelastete Begriffe wie »Volksgemeinschaft« oder rechtsextreme Kampfbegriffe wie »Schuld-Kult« sowie einen homosexuellenfeindlichen Passus, die später getilgt wurden.

Bei den Pro-Parteien gibt es zahlreiche personelle Verflechtungen zur NPD

So könnte man sagen, dass der Rechtspopulismus eine Erneuerungsstrategie von Nazis darstellt, die Schnittmengen mit der bürgerlichen Mitte suchen und Globalisierungsverlierer ideologisch für sich zu gewinnen trachten. Nachdem der Typus der klassischen Partei in den letzten Jahren in die Krise gekommen ist und die reinen Straßenkampfbewegungen der Neonazis wie die Freien Kameradschaften mit ihren Massenaufmärschen in den letzten fünf Jahren empfindliche Niederlagen einstecken mussten – hier seien die erfolgreichen Blockaden von Dresden, Berlin und Leipzig genannt – orientiert man sich nun mittels der Verpackung »Bürgerbewegung« und dem Vehikel der Islamfeindlichkeit an der bürgerlichen Mittelschicht. Diese Strategie ist so neu aber nicht: Die NPD hat seit ihrer Gründung im Jahr 1964 verschiedene Phasen durchlaufen, in denen die Orientierung auf Kommunal- und Regionalparlamente von Phasen offener Radikalisierung und Orientierung auf außerparlamentarische Aktivitäten abgelöst wurde. Das beim Bundesparteitag 1996 beschlossene »DreiSäulen-Konzept« der NPD sieht neben dem »Kampf um die Köpfe« sowohl den »Kampf um die Straße« als auch den »Kampf um die Parlamente« vor. Rechtspopulisten bilden den Brückenkopf zur Mitte der Gesellschaft und versuchen, autoritäre Ungleichheitsideologien zu etablieren. Politisch zwischen Konservativismus und Faschismus stehend, können sie sich sowohl in die eine als auch die andere Richtung entwickeln. Dafür, dass Anders Breivik sich von der norwegischen Fortschrittspartei abwandte und sich für die English Defence League begeisterte, gab es einen einfachen Grund: Letztere betreibt keine Parlamentspolitik, sondern nimmt »die Sache in die Hand« und ist in Verbindung mit der Hooligan- und Skinheadszene auf der Straße aktiv, indem sie Aufmärsche gegen Moscheen und Halal-Restaurants organisiert und ganze Stadtteile unsicher macht. »Die Sache in die Hand« genommen hat schließlich auch Breivik. Das Ergebnis sollte uns eine Warnung sein. ■

★ ★★ WEITERLESEN Eine ausführlichere Analyse des Rechtspopulismus von Marwa Al-Radwany ist im Reader zur Sommerakademie der LINKEN nachzulesen. Online unter: http://tinyurl. com/rechtspop.

SCHWERPUNKT DIE NEUE RECHTE

kampf auf freiwillige Gäste der Wahlversammlungen zurückgreifen, die »für die Dauer der Versammlung« Mitglied wurden. Somit stehen rechtspopulistische Parteien im Gegensatz zur klassischen Mitgliederpartei. Besonders die Bezeichnung »Bewegung« (Bürgerbewegung Pro Deutschland, Bürgerbewegung Pax Europa) deutet darauf hin, dass es den Rechtspopulisten – anders als klassischen konservativen Parteien – weniger um die Etablierung ihrer Programmatik im Parlament geht, sondern um den geplanten Aufbau einer Massenorganisation auf der Straße. An dieser Stelle gibt es also fließende Übergänge zu faschistischen Organisationen. Die NPD in Deutschland, aber auch die Jobbik in Ungarn haben neben ihrer Präsenz im Parlament paramilitärische Organisationen auf der Straße, die Linke oder Migrantinnen und Migranten terrorisieren, wie die Freien Kameradschaften oder analog die Straßenmiliz Magyar Gárda. Der Faschismus ist eine eigenständige Massenbewegung der Mittelschicht, die gegen Linke und die organisierte Arbeiterschaft sowie gegen ethnische Minderheiten gerichtet ist. Von einer Massenbewegung können wir glücklicherweise in Deutschland derzeit nicht sprechen. Die Gefahr ist aber nicht gebannt: Erinnern wir uns an den rasanten Aufstieg der Faschisten in Deutschland nach der Weltwirtschaftskrise 1929. Auch damals konnte eine kleine Splittergruppe, Hitlers NSDAP, die es bei den Parlamentswahlen 1928 auf lediglich 2,8 Prozent der Wählerstimmen brachte, die soziale Not in der Krise für ihre radikalen Versprechungen nutzen. Nur vier Jahre später zog sie mit 37,3 Prozent als größte Fraktion in den Reichstag ein. Ihre Zielgruppen waren Arbeitslose – und der Mittelstand. Gerade dort kam die Hetze gegen Großkapital und organisierte Arbeiterschaft gut an. Denn die obere und untere Mittelschicht, Selbstständige und Kleinunternehmer fühlen sich gleichermaßen vom sozialen Abstieg durch Krise und Globalisierung, wie auch vom Erstarken einer globalen Widerstandsbewegung der Beschäftigten, bedroht. Da lässt es aufhorchen, wenn etwa Die Freiheit einen eigenen Programmpunkt in ihrem Wahlprogramm namens »Stärkung des Mittelstandes« aufführt oder die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei SVP, die mit dem rassistischen Volksbegehren zum Minarettverbot europaweit von sich reden machte, in ihrem Logo die Tagline »Die Partei des Mittelstandes« trägt.

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Falsche Feinde Ein angeblicher »Islamofaschist« hält in Frankfurt eine öffentliche Kundgebung ab. CDU, SPD und Grüne rufen ebenso wie die Autonome Antifa zu einer Gegenkundgebung auf – und bescheren der NPD einen unerwarteten Erfolg VON VOLKHARD MOSLER Eine Gruppe zeigte den Hitler-Gruß, als einige Muslima mit Kopftüchern vorbeigingen. Eine christliche Fundamentalistin schrie, dass allein Jesus den Weg zum Paradies weise. Verschleierte Frauen wurden wegen »Vermummungsverbot« von der Polizei erst gar nicht auf den Versammlungsplatz gelassen, andere wurden angepöbelt. Am 20. April trat der salafistische Prediger Pierre Vogel in Frankfurt am Main auf. Die Salafisten sind eine extrem konservative Strömung des Islams. CDU, SPD und Grüne hatten zunächst das Verbot der

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Kundgebung gefordert. Als ein Gericht die Kundgebung jedoch gestattete, kündigte die NPD eine Gegenkundgebung an, woraufhin Grüne, Autonome, »Exmuslime« und iranische Exilgruppen ihrerseits zu einer Demonstration gegen »Neofaschisten und Islamofaschisten« aufriefen. Da die NPD nicht organisiert auftrat, blieb es beim Protest gegen »Islamofaschismus«. Es wurde die bisher größte antimuslimische Kundgebung in Frankfurt. Ein schwarzer Tag für die Frankfurter Linke und ein später Sieg der NPD, die den Protest zuerst angekündigt hatte, dann aber

Der Papst und Pierre Vogel sind in vielen Auffassungen nicht allzu weit auseinander


Seit der Veröffentlichung von Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« sind die Stimmen lauter geworden, die vor einer Islamisierung Deutschlands warnen. Dementsprechend hatten Rechtspopulisten und Konservative mobil gemacht, als bekannt wurde, dass Pierre Vogel in Frankfurt auftreten würde. Der hessische Verfassungsschutz und Innenminister Boris Rhein (CDU) urteilen über ihn und seine Anhänger: »Die Salafisten streben in letzter Konsequenz einen islamischen Gottesstaat an, in dem wesentliche Grundrechte (…) keine Geltung haben.« Rhein fordert das Verbot der Salafisten und verlangt nach neuen Datenschutzund Überwachungsmöglichkeiten, um sie überführen zu können. Ähnlich argumentieren die hessischen Grünen. Deren innenpolitischer Sprecher, Jürgen Frömmrich, unterstützt die Verbotsforderung und verlangt »ein hartes Durchgreifen«. Bei der Rede Vogels stellten sich die Grünen mit Fahnen ihrer Partei vor die Einlassstelle zur mit Sperrgittern eingezäunten Kundgebung, um den »Islamofaschismus zu bekämpfen«, wie es in einer Pressemitteilung hieß. DIE LINKE hat sich nicht an den Protesten beteiligt. Wir sind der Ansicht, dass in dieser politischen Großwetterlage Aufrufe und Warnungen gegen das Vordringen eines »islamischen Faschismus« Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten und des rechten Flügels der hessischen CDU sind. Selbstverständlich unterstützen wir beispielsweise iranische Linke und Menschenrechtsaktivisten, die hierzulande gegen den Missbrauch des Islam und der Scharia (Rechtskodex des Islams) durch das Regime der Mullahs im Iran protestieren. Wir unterstützen konsequent ihren Kampf gegen die Todesstrafe im Iran und gegen den Diktator Mahmud Ahmadinedschad. Aber in Frankfurt und Deutschland sind gegenwärtig nicht die Islamisten auf dem Vormarsch, sondern die Sarrazinisten. Sie bestimmen zunehmend den politischen Diskurs über Migration und Integration. Der Nichtausschluss Sarrazins aus der SPD zeigt, woher der Wind weht. Der Kampf gegen den politischen Islam hat in Deutschland den Charakter eines Kampfs gegen Gespenster, oder genauer, es ist ein Kampf gegen eine eingebildete, herbeigeredete Gefahr.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Pierre Vogels Interpretation des Korans und des Islams trägt fundamentalistische, voraufklärerische, ja mittelalterliche Züge. Sein kreationistisches Weltbild steht dem von evangelikalen Sekten in den USA oder der katholischen Pius-Bruderschaft in Deutschland in nichts nach. Seine Ausführungen zur Sexualmoral und zur Homosexualität sind alttestamentarisch, seine Interpretation des islamischen Rechts (Scharia) wird auch von der großen Mehrheit der islamischen Religionsgelehrten abgelehnt. Mit seiner Einteilung der Welt in »guten Islam« und schlechten, da ungläubigen, Rest lässt er jede Kritik an Fehlentwicklungen des Islams in der Geschichte und heutigen Welt vermissen. Dennoch gibt es einen Unterschied zum Rassismus einer NPD oder eines Sarrazins, der der »deutschen«, »christlichen« Mehrheit das Gefühl vermittelt, sie seien die besseren Menschen und die Muslime seien genetisch oder wegen ihrer religiösen Tradition »dümmer«. Es ist etwas anderes, wenn eine unterdrückte Minderheit sich moralisch erhöht, als wenn dies im Namen der unterdrückenden »christlich-abendländischen« oder »weißen« Mehrheitsgesellschaft geschieht. Um einen historischen Vergleich zu ziehen: Es ist rassistisch, wenn eine weiße Mehrheit die Überlegenheit der eigenen »Rasse« betont, wenn die schwarze Minderheit darauf mit einem »black is beautiful« antwortet, ist das der (unzulängliche) Versuch einer Gegenwehr. Es gab und gibt keinen »schwarzen Rassismus« in den USA und es gibt auch keinen »islamischen Rassismus« in Deutschland. Zudem war die Kundgebung Vogels kein Aufmarsch von »Faschisten«, sie war in ihrer großen Mehrheit ein trotziger Aufschrei einer Schicht von Jugendlichen, die oft sozial entrechtet sind und sich zunehmend kulturell unterdrückt sehen. Etwa 2000 vorwiegend junge Muslime waren dem Aufruf Pierre Vogels gefolgt. Das war keine Versammlung türkischstämmiger Geschäftsleute und anderer Mittelständler, die in den etablierten muslimischen Gemeinden meist das Sagen haben, es waren junge Muslime aus Frankfurts Vorstädten. In der Frankfurter Rundschau kam die Journalistin Canan Topcu zu folgender Einschätzung der wachsenden Popularität eines Pierre Vogel: »Den Nährboden für fundamentalistische Idole (…)

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Volkhard Mosler ist Sprecher des Kreisverbands der LINKEN in Frankfurt am Main.

★ ★★ marx21.de Bei vorliegendem Text handelt es sich um eine stark gekürzte und leicht überarbeitete Version eines Artikels, der Anfang August unter dem Titel »Islamischer Fundamentalismus und die Linke« auf marx21.de erschienen ist. http://tiny. cc/fundamentalismus SCHWERPUNKT DIE NEUE RECHTE

gar nicht in Erscheinung zu treten brauchte, um ihr Ziel zu erreichen.

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Schwulenfeindliche Kundgebung der Piusbruderschaft gegen den Christopher Street Day in Stuttgart. Die christlich-fundamentalistische Organisation fordert einen Gottesstaat – und wird trotzdem mit öffentlichen Geldern subventioniert

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bilden das gesellschaftliche Klima und die gefühlte oder tatsächliche Ablehnung.« Dieses »Klima« ist am besten in einer im Oktober 2010 veröffentlichten Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung dargestellt: Danach ist die antiislamische Einstellung in Deutschland binnen kurzer Zeit von 34 auf über 50 Prozent angewachsen. Khaled Elsayed vom Verein IIS, einem Treffpunkt für junge deutschsprachige Muslime in Frankfurt, sieht die Ursache für Vogels Popularität in »Kränkung und Demütigung. Es sind Jugendliche, die nach Identität und Anerkennung suchen (…) und der Prediger vermittelt ihnen das Gefühl, die besseren Menschen zu sein.« Die vorangegangene Verbotsdebatte hat es Vogel erleichtert, sich mit seinen fundamentalistischen Ideen zum Anwalt des Islams und gegen dessen zunehmende Diskriminierung zu machen. Selbst wenn man zu dem Urteil käme, bei Pierre Vogel und seinen Anhängern handele es sich um eine »islamofaschistische« Bewegung, wäre eine Gleichstellung ihres Gefährdungsgrades mit den Sarrazinisten politisch ein großer Fehler. Die reale Gefahr eines neuen Rassismus und – dahinter lauernd – eines neuen Faschismus geht in Deutschland (und in ganz Europa) nicht von Pierre Vogel und seiner re-

ligiösen Sekte aus, sondern von der wachsenden Anhängerschaft eines Sarrazins. Die Salafisten sind eine kleine Minderheit in der Minderheit der Muslime Deutschlands. Der Frankfurter »Rat der Religionen« warnte ebenfalls davor, sich dem Protest gegen Vogel anzuschließen. Es gebe in jeder Religion »Fundamentalisten und Extremisten«. In der Tat: Die Bewertung der Homosexualität als »schwere Sünde« erinnert mich an meine katholische Kindheit. Damals lernte ich, dass Ehebruch und jeder außereheliche Geschlechtsverkehr eine der »Todsünden« sei (neben Mord und dem Abfall vom Glauben). Die in der Presse mit Empörung aufgenommene Trennung von Vogels Zuhörerschaft nach Geschlechtern findet bis heute auch noch in den meisten Synagogen statt und hat es vor einigen Jahrzehnten auch noch in der katholischen Kirche gegeben. Auch eine »Scharia« – ein spezielles Religionsrecht – gibt es in Deutschland als religiöses Sonderrecht der katholischen Kirche (kanonisches Recht). Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche bestand ja nicht zuletzt darin, dass pädophile Übergriffe von Priestern nicht nach dem geltenden Strafrecht, sondern


Wer einem Pierre Vogel den Boden entziehen will, und das sollten wir als Linke und Sozialisten wollen, der darf nicht nach der Polizei und schärferen Gesetzen rufen, wie Boris Rhein es tut. Hier ist die Pfarrerin der Frankfurter evangelischen Stadtkirche, Ilona Klemens, viel näher an einer Lösung als CDU, SPD und Grüne mit ihren Verbotsforderungen: »Um die fatale Entwicklung aufzuhalten, braucht es mehr Unterstützung der Schulen und der Jugendarbeit in und mit Moscheen.« Auch das reicht freilich nicht, und wir als LINKE müssen uns fragen, welchen Beitrag wir leisten können, um diesen Jugendlichen am Rande der Gesellschaft ein lebenswertes Leben schon im Diesseits zu ermöglichen, oder zumindest den Kampf darum zu eröffnen. Es ist beispielsweise ein Skandal, dass hunderttausende Jugendliche im sogenannten Übergangssystem ohne berufliche Ausbildung geparkt bleiben. Hier müssen wir als LINKE handeln. ■

DIE LINKE hat sich an der Kundgebung gegen Pierre Vogel nicht beteiligt

kommentar

Antirassismus braucht kein antireligiöses Bekenntnis Von Marwa Al-Radwany

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bwohl sich der norwegische Terrorist Anders Breivik als Kreuzritter gegen den Islam verstand, lief er nicht etwa Amok in der Osloer Moschee, sondern griff Sozialdemokraten und linke Jugendliche an: Für ihn sind sie die Schuldigen, da sie für ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion eintreten. Antimuslimischer Rassismus ist also nicht nur für Muslime eine Bedrohung. Die politischen Feinde von Nazis und Rechtspopulisten sind – damals wie heute – Linke, Kommunisten und Sozialdemokraten. Die Islamfeindlichkeit ist bloß das Vehikel für ihre totalitären Anschauungen. Leider gibt es auch unter Linken manche, die im Namen der Säkularisierung gegen den Islam kämpfen. Dabei gehen sie zuweilen fragwür-

dige Allianzen ein. Hier gilt es, achtsam zu sein: Religionskritik muss sich ihrer genauen Ziele bewusst sein und darf nicht zu einer Pauschalverurteilung von Muslimen führen. Angesichts von nicht einmal fünf Prozent Muslimen in Deutschland und deren marginalem gesellschaftlichen Status ist es absurd, einer angeblichen Islamisierung den Kampf anzusagen. Die wirkliche Gefahr lauert von rechts – und von oben, denn der herrschenden Politik kommt es gerade recht, wenn sie Sündenböcke präsentieren kann, um von ihrer eigenen katastrophalen Krisenpolitik ablenken zu können. Linke Atheisten sollten sich überlegen, ob sie sich zu Handlangern der Rassisten machen lassen wollen, oder ob sie gemeinsam mit muslimischen Migranten für eine gerechtere Welt kämpfen.

SCHWERPUNKT DIE NEUE RECHTE

nach dem Kirchenrecht geahndet wurden. Der Papst und Pierre Vogel sind in ihrem Familien- und Frauenbild, in ihrer Auffassung von Sexualität und Homosexualität nicht sehr weit auseinander. Und doch käme niemand auf die Idee, an Fronleichnam die öffentlichen Umzüge der Kirche zu stören oder gar zu verhindern. Völlig richtig hat der Frankfurter Rat der Religionen betont: Fundamentalistische Strömungen gibt es in allen Religionen. Die Piusbruderschaft tritt ähnlich wie Pierre Vogel für die Errichtung eines Gottesstaates ein, in dem die Gewalt von Gott und nicht vom Volk ausgehen müsse. Sie tritt für die Wiedereinführung der Todesstrafe ein, sie fordert, dass die Frau wieder dem Manne »dienen« müsse, sie fordert die strenge Bestrafung der Homosexualität, nicht nur durch Höllenstrafe im Jenseits, sondern durch die Wiedereinführung des alten Schwulenparagrafen 175, der erst im Jahr 1994 abgeschafft wurde. Die Piusbruderschaft hat heute europaweit etwa 600.000 Anhänger. Sie erinnert uns daran, dass das christliche Mittelalter noch nicht so lange hinter uns liegt. Wenn es einen Unterschied zwischen Pierre Vogels Salafisten und der Piusbruderschaft gibt, dann den, dass die Piusbruderschaft bis heute staatlich subventioniert und nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Umgekehrt: Sie unterhält sogar mit staatlicher Unterstützung Schulen und Kindereinrichtungen. Der Frankfurter Rat der Religionen nannte noch einen zweiten Grund, warum er die Gegendemonstration nicht unterstützte. Demonstrationen gegen islamische Fundamentalisten wie Pierre Vogel »bergen die Gefahr der Pauschalisierung von Vogels Positionen auf den Islam allgemein«. Wie recht der Rat mit seiner Warnung hatte, zeigten die Ereignisse des 20. April. Hinter den Absperrgittern sammelten sich Autonome, Grüne und ein breites Spektrum von Rechten und Rassisten. Der Sprechchor der Autonomen (»Halt die Fresse, halt die Fresse!«) war kaum geeignet, die 2000 jungen Muslime kritisch anzusprechen. Über den ganzen Platz verstreut waren Plakate mit der Aufschrift »Der Islam gehört nicht zu Deutschland« und »Demokratie statt Scharia«. Die Plakate stammten sehr wahrscheinlich von der rassistischen »Bürgerbewegung Pax Europa«, die zum Ziel hat, »die Öffentlichkeit über die Gefahr einer europaweiten Islamisierung« zu warnen.

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Kein Geld für »linke Hobbys« Rechtspopulisten hetzen nicht nur gegen Muslime. In den Niederlanden haben sie erhebliche Kürzungen im Kulturbereich durchgesetzt. Ihr Ziel: Kritiker mundtot machen

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uf den ersten Blick wirkt es so, als interessiere sich die Partei für die Freiheit (PVV) nicht für Kultur. Im letzten Wahlprogramm der niederländischen Rechtspopulisten nahm das Thema nur knapp zwei Seiten ein, wovon die Hälfte aus Illustrationen bestand. Ihre Kritik richtet sich gegen die anderen Parteien, die angeblich zu viel Geld für »linke Hobbys« wie Entwicklungshilfe und Künstlersubventionen verschwenden. Hauptgegner der PVV sind die öffentlichen Rundfunkanstalten: »Die staatlichen Medien brillieren in den letzten Jahren vor allem mit ihren Warnungen vor der Partei für die Freiheit. Abend für Abend marschieren dort die Linksmenschen auf, die von linken Nachrichtensendern eingeladen werden, ihre politisch korrekten Meinungen zu präsentieren. Und das alles auf Ihre Kosten. So haben die öffentlichen Sender in den letzten Jahren Millionen Euro versenkt, um die Klimahysterie weiter zu schüren. Wir warten immer noch auf eine Entschuldigung dafür. Die öffentlichen Medien tun so, als seinen sie neutral, dabei sind sie alle gleich links.« Die konkreten Forderungen der PVV sehen wie folgt aus: Die Partei möchte, dass die niederländische Fahne auf

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Von Mona Dohle jedem öffentlichen Gebäude gehisst wird, sie verlangt den Schutz nationaler Traditionen und will, dass die Nationalhymne in allen Schulen gesungen wird. Vor allem aber verlangt sie drastische Sparmaßnahmen bei den öffentlichen, angeblich linken Sendern. Hier zeigt sich, dass Muslime nicht die einzigen Feinde der PVV sind. Ein Großteil der Kritik richtet sich gegen das linke Spektrum, das im Buch des PVV-Chefideologen Martin Bosma als »Scheinelite der Falschmünzer« beschrieben wird. Bosmas Hauptziel besteht darin, den Antikommunismus des Kalten Krieges mit Angriffen auf die »traditionelle Sozialdemokratie« zu verbinden. Er wirft den heutigen Sozialdemokraten vor, sich von den Interessen der einfachen Wähler entfernt zu haben. Hierbei knüpft er geschickt an die herrschende Unzufriedenheit an. Denn ähnlich wie New Labour in Großbritannien oder die SPD unter Schröder haben auch die niederländischen Sozialdemokraten durch ihre katastrophale Sozialpolitik viel Vertrauen verloren. Diese sozialpolitischen Aspekte ignoriert Bosma allerdings völlig, stattdessen wirft er den Sozialdemokraten »Kulturmarxismus« vor, der durch die Förderung von Massenzuwanderung die westliche Kultur vernichten wolle. Man könnte dieses Gerede

Bild des Street-Art-Künstlers Banksy. Die verwelkten Sonnenblumen spielen auf ein Gemälde des niederländischen Malers Vincent van Gogh an. Auch die gegenwärtige Kultur der Niederlande soll ausgetrocknet werden

Die Christdemokraten wollen nicht offiziell mit den Rechtsextremen ins Bett steigen


Wilders will den Antikommunismus des Kalten Krieges mit Angriffen auf die »traditionelle Sozialdemokratie« verbinden

bei den öffentlichen Medien zwischen 120 und 135 Millionen Euro eingespart werden, was zu einem Verlust von 600 Arbeitsplätzen führen wird. Begründet werden die Kürzungen mit den bekannten populistischen Phrasen: Subventionen für öffentliche Medien seien »linke Hobbys«, eine Verschwendung von Steuergeldern. Es ist wichtig, Geert Wilders und seine Politik hierbei nicht als individuelles Phänomen zu behandeln, sondern als Symptom einer Gesellschaft, die in den letzten Jahren stark nach rechts gerückt ist. Es handelt sich um einen sehr subtilen Prozess, der schwer in

Daten und Fakten zu fassen ist. So gibt es zum Beispiel kaum Statistiken über die politische Ausrichtung der Medien. Die meisten Niederländer nehmen die Medien als weder rechts noch links wahr. Es existiert jedoch eine Studie des NRC Handelsblad, einer liberalen Zeitung. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass die Medien seit 2008 deutlich nach rechts gerückt sind. In jenem Jahr gehörten von 100 eingeladenen Talkshowgästen 35 einer rechten Partei an und 28 einer linken. Im Jahr 2010 waren schon 47 Gäste Mitglied einer rechten Partei, während nur noch 17 Mitglieder einer linken Partei eingeladen wurden. Auch andere Indikatoren sprechen für einen wachsenden Einfluss vor allem der Rechtsextremen in den Medien. So weigerte sich das NRC Handelsblad vor vier Jahren noch, Wilders Hetztiraden abzudrucken. Inzwischen werden seine Artikel in allen großen Zeitungen veröffentlicht. Trotzdem gibt es immer noch mutige Künstler, Intellektuelle und vereinzelte Politiker, die sich gegen seine Parolen aussprechen. Diese werden allerdings erheblichem Druck ausgesetzt. Der sozialdemokratische Kolumnist der Volkskrant, Thomas von der Dunk, wurde beispielsweise als Redner zu einer Gedenklesung für den antifaschistischen Widerstandskämpfer Willem Arondéus eingeladen. Daraufhin drohte der PVV-Abgeordnete Hero Brinkman: »Wenn ihr diesem Antisemiten von der Dunk ein Podium gebt, um die PVV zu kritisieren, werde ich ihm nicht nur in der Debatte die Füße abhacken, dann könnte das hier auch die letzte Arondéus-Lesung gewesen sein.« Von der Dunk wurde daraufhin ausgeladen. Auch Jan Marijnissen, ehemaliger Vorsitzender der Sozialistischen Partei, wurde von einer Talk-

show ausgeladen, nachdem sich der PVV-Politiker Martin Bosma weigerte, mit ihm gemeinsam aufzutreten. Jüngstes Opfer der Angriffe ist der Direktor des Popfestivals Lowlands, Eric van Eerdenburg. Als er sich sowohl gegen die Sparmaßnahmen als auch gegen die PVV aussprach, wurde ihm von einem PVV-nahen Kolumnisten vorgeworfen, er verschwende mit seinem Festival Steuergelder. Bislang handelt es sich hier um Einzelfälle, sie zeigen allerdings die radikale Bereitschaft der PVV, jedes kritische Geräusch zu unterdrücken. Die Kürzung des Kulturetats um 200 Millionen Euro sind hierbei eine mächtige Waffe. In den letzten Monaten hat sich allerdings auch Widerstand gegen die Kürzungen entwickelt. Im Juni haben Tausende an einem »Marsch der Zivilisation« teilgenommen. Die Demonstration richtete sich explizit nicht nur gegen die Sparmaßnahmen im Kulturbereich, sondern auch gegen die Kürzungen im Bildungsbereich, in der Forschung und im Sozialwesen. Die Sparmaßnahmen haben in den Niederlanden für eine ungewöhnliche Polarisierung gesorgt. Die Angriffe der PVV auf den Kunstsektor und die staatlichen Medien zeigen deutlicher als je zuvor, dass die Partei alles andere als eine Vorkämpferin für freie Meinungsäußerung ist. Genau darum bildet sich jetzt eine wachsende Gegenbewegung. Gewerkschaften, Künstler und linke Parteien rufen zu einem heißen Herbst auf. ■

★ ★★ Mona Dohle hat Internationale Beziehungen im niederländischen Groningen studiert. Sie ist Mitglied der Gruppe Internationale Sozialisten.

SCHWERPUNKT DIE NEUE RECHTE

mit einem Schmunzeln abtun, wenn sich nicht der politische Kontext, in dem die PVV diese Forderungen erhebt, grundsätzlich geändert hätte. Im Jahr 2010 endeten die Parlamentswahlen mit einer Pattsituation. Keiner einzigen Partei gelang es, eine Mehrheit zu gewinnen. Dieses Dilemma wurde durch einen schmutziges Abkommen überwunden. Offiziell waren zwar alle großen Parteien vorsichtig, eine Koalition mit der PVV einzugehen. Inoffiziell waren die liberale VVD und die christdemokratische CDA allerdings schnell bereit, ihre rechtsstaatlichen Prinzipien über Bord zu werfen, um eine Regierung bilden zu können. Da sie allerdings nicht offiziell mit den Rechtsextremen ins Bett steigen wollten, einigten sie sich auf einen typischen niederländischen Kompromiss, den »gedoogakkord« (Duldungabkommen). Offiziell bilden CDA und VVD eine Minderheitsregierung, die bei parlamentarischen Abstimmungen jedoch von der Unterstützung der PVV abhängig ist. Wie groß das inoffizielle Mitspracherecht der PVV ist, zeigte sich schon daran, dass sie an den Koalitionsverhandlungen zwischen CDA und VVD teilnehmen durfte. Dadurch konnte die Partei erheblich Einfluss nehmen auf wichtige politische Entscheidungen – beispielsweise im Kulturbereich, wo erheblich gespart werden soll. Nun ist es wenig überraschend, dass eine rechtskonservative Regierung gerade im Kultur- und Medienbereich kürzen will. Doch das Ausmaß ist erschreckend: Von 2013 an soll der Kulturetat um 20 Prozent abgebaut werden, das entspricht Kürzungen in Höhe von etwa 200 Millionen Euro. Besonders betroffen sind davon staatliche Orchester und junge Nachwuchskünstler. Außerdem sollen

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© ver.di

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

»Kollektive Stärke organisieren« »Der Druck muss raus!« nennt ver.di ihre neue Kampagne für das Gesundheitswesen. Im Gespräch mit marx21 erklärt Gewerkschafter Fabian Rehm, warum der Markt niemanden gesund macht und wie im Krankenhaus erfolgreich gestreikt werden kann

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ie Privatisierungswelle im Gesundheitswesen rollt. Für die Beschäftigten bedeutet das mehr Arbeit und geringeren Lohn. Was hat die am Markt orientierte Gesundheitspolitik in den letzten Jahren angerichtet? Das Krankenhaus ist eine Fabrik geworden, es wird dort nicht nur Gewinn erwirtschaftet, sondern auch gearbeitet wie in einer Fabrik. Ältere Menschen können

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sich vielleicht noch an Pflegekräfte erinnern, die Zeit für Gespräche hatten. Das ist heute kaum mehr möglich. Von diesem Wandel sind auch die Beschäftigten betroffen: Sie sollen nicht mehr in erster Linie heilen und pflegen, sondern sind für das wirtschaftliche Wohlergehen ihrer Klinik verantwortlich. Zu dem Druck, der von den Patienten ausgeht, kommt der wirtschaftliche Druck hinzu. Gleichzeitig re-

FABIAN REHM

Fabian Rehm ist Gewerkschaftssekretär im ver.di-Landesbezirk Hessen. Er ist Autor des Buchs »Krankenhausprivatisierung. Ein Beispiel für die neoliberale Umstrukturierung öffentlicher Dienste« (Tectum Verlag 2007).


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Streiks sind die verlässlichste Form der Erwachsenenbildung

n Deutschland befindet sich die Mehrheit der Klinken in öffentlicher Hand. Stimmt die Gleichung: Öffentlich heißt mehr Zeit für die Patienten? Ja, wenn ich mir beispielsweise den Krankenhauskonzern Asklepios anschaue, der die Beschäftigten auspresst, Tarifverhandlungen konsequent verweigert und weit unter Branchenniveau bezahlt, kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass öffentliche Häuser für die Beschäftigten besser sind. Zumal eine Pflegerin in einem öffentlichen Haus weniger Patienten zu versorgen hat als in einem privaten und somit auch mehr Zeit für die Pflege hat. Doch die fortschreitende Ökonomisierung ist überall zu spüren. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Fallpauschalen. Ein Krankenhaus bekommt für eine bestimmte Behandlung nur einen einheitlichen Preis erstattet, höherer Aufwand, Komplikationen oder andere Abweichungen sind nicht vorgesehen und belasten folglich das wirtschaftliche Ergebnis. Wenn ich die Leistung billiger anbieten kann, mache ich sogar Extraprofit. Teilweise wird in diesem Zusammenhang von blutigen – also zu frühen – Entlassungen der Patienten gesprochen, da sich die Liegezeiten im Krankenhaus immer weiter verkürzen. Kaum eine öffentliche Klinik ist noch ein städtischer Eigenbetrieb. Meist wurden die Häuser in GmbHs umgewandelt, Servicegesellschaften gibt es hier genauso wie einen stetigen Personalmangel. Leicht aus dem Blickfeld geraten die vielen sogenannten freigemeinnützigen Kliniken. Die Belastungszahlen sind hier ähnlich wie in privaten Kliniken. Insbesondere die Diakonie senkt Löhne, verweigert jegliche tarifliche Vereinbarung, beruft sich auf die kirchlichen Sonderrechte und klagt gegen Streiks in ihren Einrichtungen. Eigentlich ist es unglaublich, dass es Arbeitgeber gibt, die ihr eigenes Arbeitsrecht gestalten dürfen.

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iele öffentliche Krankenhäuser arbeiten defizitär. Treiben Lohnerhöhungen und Streiks die Kliniken nicht in die Hände von privaten Konzernen? In der Tat sind wir als Gewerkschaft mit solchen Argumentationen konfrontiert. Den Gürtel enger schnallen und ver-

meintliche Privilegien abgeben – dieses Programm wird in Griechenland nicht funktionieren und hierzulande klappt es auch nicht. Öffentliches Eigentum sollte aus meiner Sicht ohnehin kein Selbstzweck sein. Es gibt durchaus Kliniken, die schwarze Zahlen schreiben und öffentlich betrieben werden. Aber Gewinn ist nicht das Ziel eines Krankenhauses. Vielmehr sollte es um die bestmögliche Versorgung der Bevölkerung gehen.

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ach der gewerkschaftlichen Kampagne »Der Deckel muss weg!« im Jahr 2008 läuft jetzt die ver.di-Kampagne »Der Druck muss raus!«. Was wollt ihr damit bewirken? Wir wollen über die Arbeitsbedingungen reden und für Entlastung sorgen. Viele Beschäftigte können einfach nicht mehr. Personalabbau und steigende Fallzahlen führen zu einer immensen Verdichtung der Arbeit. Pausen können nicht genommen werden, Auszubildende werden wie Ausgelernte eingesetzt und Überstunden sind die Regel. Was auf der Strecke bleibt, ist die Pflege und vor allem die Gesundheit und die planbare Freizeit der Beschäftigten. Abgesagte private Verabredungen und Termine sind für viele Pflegekräfte mittlerweile Alltag. Hinzu kommt die belastende Schichtarbeit, die eine geregelte Freizeit erschwert. Arbeitgeber setzen auf das Verantwortungsgefühl der Beschäftigten für »ihre« Patienten und gehen davon aus, dass das Personal schon springt. Auf die Idee, mehr Leute einzustellen, kommen sie nicht. Hier wollen wir eine Veränderung erreichen. Auch wenn die Bezahlung immer ein Problem ist, scheint mir in vielen Häusern der Arbeitsdruck die drängendere Frage zu sein. Eine Möglichkeit wäre es, Tarifverträge zur Belastungsbegrenzung oder auch zur Ausbildungsqualität zu verhandeln. Dabei werden die Forderungen nicht von oben vorgegeben, sondern von unten diskutiert und für die jeweiligen Bereiche beschlossen.

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ie wird die Kampagne angenommen? Bei den bisher stattgefundenen Konferenzen waren Kollegen aus öffentlichen, privaten und diakonischen Kliniken. Noch steht die Kampagne am Beginn, aber was sich jetzt schon sagen lässt: Sie wird überall diskutiert und trifft den Nerv vieler. Gleichzeitig gibt es die Skepsis, ob ver.di

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

agieren viele Klinikbetreiber, insbesondere die privaten, mit Stellenabbau und dem Einstellen von gering qualifiziertem Personal.

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in der Lage sein wird, hier erfolgreich zu sein. Der Erfolg steht und fällt mit der Bereitschaft, für die eigenen Interessen einzutreten. Bei der von dir angesprochenen Deckel-Kampagne ist es ja durchaus gelungen, mehr Geld in die Krankenhäuser zu bekommen und zumindest einige zusätzliche Stellen zu schaffen.

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eshalb ist es so schwierig, im Krankenhaus für Arbeitskampfmaßnahmen zu mobilisieren? Ich finde das gar nicht so schwer. In jeder Branche gibt es unterschiedliche Begründungen, warum Streiks angeblich nicht möglich sind. Eine Besonderheit ist, dass es im Krankenhaus um Menschen und oft auch um Leben und Tod geht. Wir wollen mit Streiks niemanden gefährden und deshalb wird – wo es notwendig ist, um Gefahren für Leib und Leben auszuschließen – auch eine Notbesetzung aufrechterhalten. Wir müssen mit der Tatsache um-

ist unerlässlich. Am Uniklinikum GießenMarburg gibt es einen Tarifvertrag auf Niveau des öffentlichen Dienstes, viele Beschäftigte sind Mitglied der ver.di und haben Erfahrungen mit Warnstreiks. Im Wicker-Konzern gab es am Anfang nichts von dem. Ausschlaggebend war hier die miserable Bezahlung. Wenn eine Krankenpflegerin viel weniger als im öffentlichen Dienst verdient, muss ich niemandem das Problem erklären. Stattdessen muss ich unseren Weg vorstellen. Er lautet: kollektive Stärke organisieren. Ohne Mitglieder und ohne die Bereitschaft, sich zu engagieren, werden wir nichts erreichen. Das haben wir mit den Kolleginnen und Kollegen diskutiert und viele haben sich für die gewerkschaftliche Organisierung entschieden. Mitte August haben wir in drei Kliniken zeitgleich gestreikt – das erste Mal in der Unternehmensgeschichte. Die Beteiligung war super.

»Ein Streik soll ja nicht der Arbeitskampf der hauptamtlichen Gewerkschafter sein, sondern der Beschäftigten« gehen, dass es eine starke Identifikation mit der Arbeit gibt und leider auch eine hohe Bereitschaft, schlechte Bedingungen zu ertragen. Beispielsweise ist es gang und gäbe, dass man während der Freizeit angerufen wird, ob man denn nicht einspringen könne. Hier wird zu selten Nein gesagt. An solchen Punkten gilt es anzusetzen, über vorhandene Rechte aufzuklären und die Kollegen zu stärken. Jedoch werden Gegenwehr und Streiks im Gesundheitswesen auch normaler und immer mehr Belegschaften entwickeln Erfahrungen in Auseinandersetzungen.

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u warst in Hessen an mehreren Streiks beteiligt. Wie ist es euch gelungen, die Beschäftigten zu mobilisieren? Prinzipiell sind eine gute Vorarbeit und das »Mitnehmen« der Beschäftigten zentral. Ein Streik soll ja nicht der Arbeitskampf der hauptamtlichen Gewerkschafter sein, sondern der der Beschäftigten. Dementsprechend muss es um ihre Ziele gehen. Eine demokratische Beteiligung

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ie lief die Mobilisierung unter den Beschäftigten? Egal ob am großen Uniklinikum oder in einer kleinen Rehaklinik: Die Mobilisierung ist nur so gut wie die Aktiven. Wir bieten jedwede Unterstützung an und begleiten die Auseinandersetzung mit regelmäßigen Mitgliederversammlungen, Flugblättern und anderem Material. Die größten Erfolge erzielen aber die Kollegen selbst: Die Physiotherapeutin, die in der Pause mit ihren Kollegen redet und sie auf eine Gewerkschaftsmitgliedschaft anspricht, wirkt »echter« als ein Hauptamtlicher der Gewerkschaft. Genauso verhält es sich mit der Forderungsfindung. Wenn die Tarifkommissionsmitglieder im Betrieb über Probleme sprechen und mögliche Forderungen diskutieren, sorgt man automatisch für die Verankerung der Tarifbewegung. In Gießen-Marburg hat zudem der hohe Organisationsgrad der Auszubildenden für Durchsetzungsstärke gesorgt. Für sie war die Frage der Übernahme zentral. Bisher klärte sich die Übernahme immer

erst sehr kurzfristig und auch nicht für alle. Diesen Zustand wollten die Azubis nicht mehr erdulden, zumal es in der Klinik offensichtlich genug zu tun gibt und sich die Überstunden türmen. Schon vor dem ersten Streiktag gab es eine große Protestaktion in Marburg: 100 Azubis demonstrierten vor der Geschäftsführung. In Gießen wurde der Besuch des Gesundheitsministers anlässlich der Einweihung des Neubaus eines Klinikgebäudes für eine Aktion genutzt. »Während ihr hier feiert, wird auf Station geschwitzt«, haben sie den Gästen vorgesungen.

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aren die Auseinandersetzungen erfolgreich? Der Schriftsteller Dietmar Dath hat Streiks als die verlässlichste Form der Erwachsenenbildung im Kapitalismus bezeichnet. Ich sehe das ähnlich. Es geht darum, zu lernen, dass sich Gegenwehr lohnt, dass es möglich ist, für die eigenen Interessen aufzustehen und dass diese Auseinandersetzungen nur kollektiv gewonnen werden können. Erfolg würde ich dementsprechend nicht nur an den materiellen Ergebnissen messen, sondern auch daran, ob sich Kerne von Aktiven gefestigt haben und neue Aktive gewonnen wurden. Eine funktionierende Vertrauensleutestruktur wäre schon ein schönes Ergebnis. Materiell betrachtet waren die Auseinandersetzungen am Uniklinikum Gießen-Marburg erfolgreich: Wir haben eine gute Übernahmeregelung und einen zusätzlichen freien Tag erkämpft. Im Wicker-Konzern ist noch alles offen. Die Unternehmensleitung verweigert Verhandlungen mit ver.di und versucht durch Einmalzahlung die Auseinandersetzung zu befrieden.

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elche Perspektiven siehst du für die Zukunft der Beschäftigten im Krankenhaus? Wenn sie sich ihrer eigenen Stärke bewusst werden, halte ich die Entwicklung für offen. Es gibt massive Bestrebungen, Arbeit zu dequalifizieren, die Privatisierungswelle rollt weiter, tarifliche Standards werden infrage gestellt und die Arbeitsverdichtung nimmt zu. Gleichzeitig organisieren sich immer mehr Beschäftigte und Arbeitskämpfe im Gesundheitswesen nehmen zu. Das stimmt mich optimistisch. Die Fragen stellte Nils Böhlke


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BETRIEB & GEWERKSCHAFT


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n e m m o k n i e d n Gru ? e l l A r fü Hartz IV ist Armut per Gesetz. Das bedingungslose Grundeinkommen verspricht dagegen Abhilfe, führt aber letztendlich in eine strategische Sackgasse. Ein Debattenbeitrag

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Von Werner Halbauer

as Modell eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) der Bundesarbeitsgemeinschaft BGE in und bei der Partei DIE LINKE sieht vor, dass alle Menschen bis zum Alter von 16 Jahren 505 Euro und alle über 16 Jahren 1010 Euro Grundeinkommen beziehen, das über ein Steuermodell finanziert werden soll, bei dem alle mit einem Einkommen von unter 6000 Euro monatlich Geld bekommen und alle mit höherem Einkommen Steuern zahlen sollen. Darüber hinaus soll es neben Zuschüssen für Personengruppen mit besonderem Mehrbedarf Wohngeldzuschüsse geben, um die großen Un-

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Wer die bürokratischen Schikanen in den Jobcentern kennt, findet das Konzept verlockend


Die Schwäche des Widerstands gegen die Agenda 2010, die Hartz-IV-Gesetze und die Ursachen des Niedergangs der Sozialsysteme werden durch die linken Vertreter des BGE implizit auf das Fehlen eines radikaleren Modells der sozialen Grundsicherung zurückgeführt: Im Vorwort der Broschüre »Bedingungsloses Grundeinkommen« der Bundesarbeitsgemeinschaft stellt die stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN, Katja Kipping, die Frage, »ob wir eher bescheidenere Forderungen aufstellen bzw. uns vorrangig um die Abwehr anstehender Sozialkürzungen kümmern sollten oder ob es in sozialen Kämpfen nicht doch auch eines überschießenden Momentes

bedarf, welches die Tücken und Ungerechtigkeiten des traditionellen Sozialstaates überwindet.« Sie hält das BGE für eine »wirkungsmächtige Idee«, ja argumentiert sogar, »nichts ist wirkungsmächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.« Dementsprechend soll das BGE nicht nur Armut beseitigen und unwürdige Bedürfnisprüfungen abschaffen, sondern darüber hinaus eine Hilfe bei der Durchsetzung von Mindestlohn und Arbeitszeitverkürzung gegen die Massenarbeitslosigkeit sein und tendenziell den Zwang zur Lohnarbeit, also die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft durch Kapitalisten, aufheben. Somit wird dem BGE auch eine Art systemüberwindende Funktion zugeschrieben. Es wird in der Broschüre argumentiert, dass die Einführung des Grundeinkommens für alle den Zwang enorm lockere, sich als Lohnarbeiter zu verdingen, »und zwar auf individueller Ebene und dadurch, weil es für alle gilt, auf gesellschaftlicher Ebene«. Diese Behauptung hält einer Überprüfung allerdings nicht Stand. Das BGE soll aus dem Steuereinkommen finanziert werden. Steuern sind im Kapitalismus an

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Werner Halbauer ist Mitglied im Vorstand der LINKEN in BerlinNeukölln.

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terschiede bei den Warmmieten zu kompensieren. Wer die Drangsalierung der Erwerbslosen in den Jobcentern, den verzweifelten Existenzdruck durch Massenarbeitslosigkeit, die Angst um ihre Kinder, die Demütigung und Entwürdigung wahrnimmt, versteht, dass dieses Modell auf den ersten Blick attraktiv für Erwerbslose, prekär Beschäftigte und Scheinselbständige erscheint.

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Lohnarbeit und Wertschöpfung gebunden. Besteuert werden Löhne oder Gewinne, die bei der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft anfallen. Im Kapitalismus besteht also mit dem BGE ein gesellschaftlicher Zwang zu Erwerbsarbeit, mit der die Finanzierung des BGE gesichert werden muss. Solange die Produzenten nicht die demokratische Kontrolle über die Produktionsmittel haben, sind sie gezwungen, ihre Ware Arbeitskraft an die Produktionsmittelbesitzer zu verkaufen.

DIE LINKE hat bessere Alternativen als das Grundeinkommen

★ ★★ WEITERLESEN Die Zitate im Text stammen aus der Broschüre »Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen« (Oktober 2010). Online unter: www.die-linkegrundeinkommen.de

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Das angepeilte Grundeinkommen orientiert sich in der Höhe an dem, was Sozialverbände als Existenzminimum ansehen. Es mag Leute geben, die sich damit zufriedengeben und Arbeiten nachgehen, für die es keinen Markt gibt und damit für sich aus der Lohnarbeit aussteigen können. Dem Grundsatz der sozialistischen Idee, durch bewusste demokratische gesellschaftliche Organisation und Planung der Produktion und Reproduktion die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen und alle Gesellschaftsmitglieder daran zu beteiligen, wird beim BGE implizit der individuelle Ausstieg aus der Marktlogik entgegengesetzt. Mit der Orientierung auf individuellen Ausstieg zur Lösung des Problems der Massenarbeitslosigkeit wird der Wunsch von Menschen nach Teilhabe am gesellschaftlichen Produktionsprozess auf der einen Seite und nach mehr Freizeit auf der anderen Seite ignoriert. Damit steht das BGE im Widerspruch zur notwendigen Perspektive kollektiver Arbeitszeitverkürzung, auch wenn deren Vertreter dies auch fordern. Es konterkariert auch die Forderung nach einem massiven Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge. Für die Masse wird der Wunsch bestehen bleiben, an den über das Existenzminimum hinausgehenden Möglichkeiten in der Gesellschaft und am gesellschaftlichen Arbeitsprozess teilzuhaben. Im Kapitalismus ist das aber im Allgemeinen nur möglich durch die Aufnahme von gut bezahlter Erwerbsarbeit. Die linken Vertreter des BGE fordern zusätzlich zum Grundeinkommen einen gesetzlichen Mindestlohn. Sie argumentieren, dass das BGE hilfreich für die Durchsetzung von guten Löhnen und Arbeitsbedingungen sei, weil mit dem BGE niemand gezwungen sei, Erwerbsarbeit zu schlechten Bedingungen aufzunehmen, man quasi durch individuelle Verweigerung Druck auf das Kapital ausüben könne. Wenn das richtig wäre, bräuchte man keine Forderung nach ei-

nem gesetzlichen Mindestlohn aufzustellen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Einführung eines BGE würde der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn faktisch den Boden entziehen. Wenn der Staat die Existenz aller durch ein Grundeinkommen absichert (nicht nur die der Bedürftigen), wird die Forderung »Von Arbeit muss man leben können« praktisch hinfällig. Damit gewinnt der Lohn den Charakter eines Zusatzverdienstes zum Grundeinkommen. Es wäre eine Abkehr vom Prinzip, dass die Entlohnung für die Ausbeutung von Arbeitskraft wenigstens zur Sicherung von deren Reproduktion reichen muss. Von der Systematik würde mit dem BGE der Einführung eines universellen Kombilohns der Weg geebnet, also der Subventionierung der Unternehmer aus Steuermitteln. Ein zentraler Angriff der Neoliberalen zielt gegenwärtig auf die Entlastung der Kapitalisten von den Kosten für die Arbeits-, Sozial- und Rentenversicherungen. Ein staatliches Grundeinkommen würde die Kapitalisten auf der Betriebsebene vollständig aus dieser Verpflichtung entlassen. Der Wegfall jeglicher hochbürokratischer Bedürfnisprüfung wird als ein besonderer Vorzug des BGE herausgestellt. Wer die bürokratischen Schikanen an den Jobcentern kennt, findet dieses Versprechen verlockend. Aber auch das BGE sieht neben Zuschüssen für Personengruppen mit besonderem Mehrbedarf Wohngeldzuschüsse vor, um die großen Unterschiede bei den Warm-Mieten zu kompensieren. Also muss auch hier die Bedürftigkeit geprüft werden. Die Probleme würden sich nur verlagern, wenn das Sozialsystem ins Steuersystem eingefügt würde. Mit der Einführung eines Grundeinkommens steigt die Tendenz, darüber hinaus gehende Lohnarbeit mit dem Charakter des Zuverdienstes durch Scheinselbstständigkeit oder Schwarzarbeit zu organisieren. Das Problem mit dem BGE geht allerdings über die Frage der Ausgestaltung hinaus. Die Forderung nach dem BGE ist auch strategisch problematisch. So wird in der Broschüre behauptet: »Mit der Grundeinkommensthematik wird zum Beispiel die strategische Frage aufgeworfen, wie der alte Streit zwischen Reform und Revolution dialektisch aufgelöst werden kann. Sie wird mit einem Ja zur gesellschaftlichen Transformation beantwortet und das bedingungslose Grundeinkommen als ein linkes Projekt im Rahmen einer transformatorischen und emanzipatorischen Veränderung der Gesellschaft beschrieben.« Das BGE wird damit »als ein Baustein«, als ein Weg gesehen, über den individuellen Ausstieg aus der entfremdeten kapitalistischen Warenproduktion zu einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft zu kommen, zu einer teilweisen Aufhebung der Warengesellschaft in der Warengesellschaft, ohne die Frage der Entmachtung des Kapitals und Enteignung der zentralen Produktionsmittel stellen zu wollen.


Die linken Vertreter eines Grundeinkommens setzen sich von den rechten Vertretern, wie Götz Werner, Dieter Althaus von der CDU oder den Bürgergeldbefürwortern der FDP, vor allem dadurch ab, dass sie zur Finanzierung die Steuerlast für hohe Einkommen massiv ausweiten wollen. Doch auf die Frage nach der Durchsetzung eines derart finanzierten BGE mit einer massiven Steuererhöhung für Reiche und Konzerne bleiben sie eine wirkliche Antwort schuldig: »Eine Idee muss zur materiellen Gewalt werden, damit sie gesellschaftlich wirkungsmächtig ist. Viele in der Gesellschaft plädieren bereits für ein Grundeinkommen: 34 Prozent der Bevölkerung in den ostdeutschen Bundesländern, 68 Prozent der Mitglieder der Partei DIE LINKE und 87 Prozent der Wählerinnen und Wähler der LINKEN. Damit das Grundeinkommen weitgehend Konsens in der Gesellschaft wird, muss natürlich noch mehr darüber debattiert werden.« Es muss bezweifelt werden, dass die Kapitalbesitzer nach einer Debatte einem solchen gesellschaftlichen »Konsens« zustimmen werden. Wenn es nur um Ideen ginge, und nicht um reale gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, hätten wir in Deutschland den Sozialismus. Solange für Arbeitsplätze, Solidarität und Sicherheit gesorgt wäre, könnten sich 80 Prozent der Ostdeutschen und 72 Prozent der Westdeutschen ein Dasein in einem sozialistischen Staat vorstellen, ergab eine Emnid-Umfrage im März 2010. Es bedarf vielmehr einer »materiellen Gewalt«, um die sozialen Interessen der Mehrheit gegen die Minderheit der Kapitalbesitzer durchzusetzen. Alle großen gesellschaftlichen Veränderungen wurden nicht durch Modelle einer anderen Gesellschaft bewirkt, sondern entwickelten sich aus den konkreten, unmittelbaren sozialen und politischen

Konflikten (die übrigens meistens den Charakter von Abwehrkämpfen hatten), bei denen die organisierte Arbeiterbewegung die Kraft war, die durch Massenstreiks die Macht des Kapitals in Frage stellte. Die russische Revolution von 1917 war nicht unter dem Banner »Sozialismus« erfolgreich, sondern mit den Parolen »Land, Brot und Frieden«.

Auch im Sozialismus wird es notwendige Arbeit geben, die solidarisch organisiert werden muss

Die heutigen Schwächen und politischen Probleme der Arbeiterbewegung lassen sich nur durch eine Reorganisierung im Kampf um die Verteidigung der sozialen Interessen der Mehrheit entwickeln. Die Entwicklung einer »materiellen Gewalt« zur Durchsetzung einer anderen Gesellschaft verwirft Katja Kipping praktisch, wenn sie es ablehnt, sich »vorrangig um die Abwehr anstehender Sozialkürzungen« zu kümmern. Im Gegensatz zu vielen anderen Sozialisten hat Karl Marx die Arbeiterklasse nicht nur als Opfer der kapitalistischen Ausbeutung gesehen, sondern auch als potentiellen Totengräber des Kapitalismus, weil sie von ihrer objektiven Lage her ein Interesse an der Beendigung dieses Systems entwickeln kann und weil sie ihre Ziele nur erreichen kann, wenn sie im Kampf um diese Ziele die Solidarität entwickelt, die auch eine notwendige Grundlage für das Funktionieren einer sozialistischen Gesellschaft ist. Es ist die Aufgabe von Linken, diese Selbstemanzipation und Organisierung zu stärken. DIE LINKE hat mit den Forderungen für einen gesetzlichen Mindestlohn, für eine sanktionsfreie, existenzsichernde Grundsicherung, für die Vergesellschaftung und den Ausbau der öffentlichen Daseinsfürsorge und für die radikale Verkürzung der Arbeitszeit eine gute programmatische Grundlage im Kampf gegen Dumpinglöhne und Massenarbeitslosigkeit, die auf breite gesellschaftliche Resonanz trifft. Es ist nicht ersichtlich, warum das BGE einfacher durchsetzbar sein soll. Im Gegenteil: Diejenigen, die für die Transferleistungen bezahlen sollen, machen Solidarität im Allgemeinen von der Bedürftigkeit abhängig. Die Vertreterinnen und Vertreter des BGE lenken vom konkreten Kampf ab, öffnen die Tür zum universellen Kombilohn und vertrösten auf die Einführung eines Gesellschaftsmodells, das die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus nicht löst. ■

★ ★★ DEBATTE Das bedingungslose Grundeinkommen ist innerhalb der LINKEN umstritten. Wir möchten diese Diskussion im Heft begleiten. Daher wird in der nächsten Ausgabe ein Befürworter des Konzepts zu Wort kommen.

KONTROVERS

Diese Vorstellungen, durch Kommunen oder Genossenschaften den kapitalistischen Markt überwinden zu können, sind Illusionen. Die oben beschriebenen Probleme mit dem BGE wären nur vermeidbar, wenn die Produzenten die Kontrolle über die Produktionsmittel hätten. Damit ist das BGE kein Weg zur Abschaffung der kapitalistischen Warenproduktion, sondern setzt deren Abschaffung voraus, um funktionieren zu können. Die heutige Industriegesellschaft hat das Potential, ein würdiges Leben aller zu ermöglichen. Der massenhaften Armut steht ein gigantischer Reichtum einer Minderheit gegenüber. Aber auf absehbare Zeit wird es auch im Sozialismus notwendige Arbeit geben, die solidarisch organisiert werden muss. Als Vision für eine gerechtere Gesellschaft ist das BGE unzureichend, weil es die zentrale Ursache der kapitalistischen Krisen nicht thematisiert, nämlich den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Arbeit und deren privater Aneignung. Deshalb macht die LINKE im neuen Programmentwurf die Eigentumsfrage im Gegensatz zu den Vertretern des BGE zu Recht zu einem zentralen Punkt.

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© marx21 / Kartsen Schmitz

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Welcome to the Machine Übervolle Hörsäle, überbelegte Seminare – zum Semesterstart heißt es an den Hochschulen mal wieder: Nichts geht mehr. Ergebnis kurzsichtiger Politik oder eine gewollte Dauerkrise? Von Nicole Gohlke

S

pätestens wenn Hochschulverwaltungen überlegen, Kinosäle oder Kirchenräume anzumieten, um Kapazitäten für Vorlesungen zu schaffen, ist klar: Die Universitäten stecken in der Krise. Diese Krise zeigt sich in verschiedenen Punkten: Es gibt viel weniger Studienplätze als Menschen, die studieren möchten. Die Gebäude sind marode, die Ausstattungen mangelhaft und die Betreuungsverhältnisse vielerorts katastrophal: Zu viele Lernende kommen auf zu wenig Lehrende. Derzeit betreut ein Professor oder eine Professorin im Schnitt 60 Studierende. Anfang der 1970er Jahre lag dieses Verhältnis bei etwas mehr als 1:30. Das macht die Lehr- und Lernbedingungen oft unzumutbar. Die Ursache für diese Probleme ist eine mittlerweile Jahrzehnte anhaltende Unterfinanzierung des Hochschulsystems.

nächst noch mit Konjunkturpaketen, dann mit neoliberaler Politik. Deren Kern ist die Behauptung: Was gut für die Unternehmen ist und deren Gewinne erhöht, ist auch gut für die Gesellschaft als Ganzes. Altkanzler Helmut Schmidt brachte diese Überzeugung auf die Formel: »Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen.« In der Sozialdemokratie angekommen erfasste der Neoliberalismus in den Folgejahren alle Bereiche der Gesellschaft, natürlich auch die Hochschulen, wenngleich in paradoxer Weise: Einerseits folgte man der Ideologie, den Unternehmen Steuergeschenke zu machen und die öffentlichen Ausgaben zu drücken. Die Universitäten sollten also so wenig wie möglich kosten. Andererseits sollten sie gleichzeitig Spitzenforschung und hochqualifizierte Arbeitskräfte hervorbringen, um die deutsche Wirtschaft in die Lage zu versetzen, den Weltmarkt zu erobern und das Land im internationalen Wettbewerb an die Spitze zu katapultieren. Ende der neunziger Jahre wurden eine Reihe von Hochschulreformen verabschiedet, um diese teilweise widersprüchlichen Ziele miteinander vereinbar zu machen: zunächst im Jahr 1998 die Novelle des Hochschulrahmengesetzes durch die Regierung Kohl, dann die Bologna-Reformen unter Rot-Grün. Ihnen ist gemein, dass sie vor allem großangelegte Sparprogramme und Programme der betriebswirtschaftlichen Optimierung der Hochschulen sind. Der Spargedanke wird auch deutlich in den Verschulungstendenzen an der Hochschule. So sollen beispielsweise die vermeintlichen »Bummelstudenten« durch ständige Leistungskontrollen oder Anwesenheitspflichten diszipliniert werden.

★ ★★

Nicole Gohlke ist hochschulpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.

Nicht zufällig fällt der Beginn dieser Misere mit dem Ende der außerordentlichen wirtschaftlichen Dynamik der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zusammen. Der seit den 1950er Jahren anhaltende Boom endete Anfang der 1970er Jahre. Während die Wachstumsraten damals allerdings noch durchschnittlich 2,9 Prozent im Jahr betrugen, lagen sie in den Achtzigern nur noch bei 2,3 Prozent und in den Neunzigern fielen sie in Gesamtdeutschland auf 2,1 Prozent. Im vergangenen Jahrzehnt ergab sich – auch aufgrund der scharfen Krise von vor drei Jahren – ein durchschnittliches Wachstum von gerade einmal 0,6 Prozent. Mit anderen Worten: Seit fast 40 Jahren hat man das Problem des niedrigen Wirtschaftswachstums nicht mehr in den Griff bekommen. Die einzelnen Bundesregierungen haben unterschiedlich auf diese Situation reagiert: zu-

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Der Neoliberalismus hat die Hochschulen erfasst

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Diese Neuausrichtung der Hochschule hat den weiteren Abbau von inneruniversitärer Demokratie zu Folge, zum Beispiel durch die Einrichtung aufsichtsratsähnlicher Gremien wie dem mit zahlreichen Wirtschaftsvertretern besetzten Hochschulrat. Darüber hinaus hat sie auch Auswirkungen auf die Inhalte von Studium, Lehre und Forschung. Die unternehmerische Hochschule, die im Zuge der Reformen als Leitbild vorgegeben wurde, befindet sich in zunehmender ökonomischer und struktureller Abhängigkeit von hochschulexternen Finanzierungsquellen. Das ermöglicht Unternehmen nicht nur den direkten Zugriff auf Forschungsergebnisse. Auch sonst profitieren sie in hohem Maße vom Einfluss auf Wissenschaft und Forschung. So gibt es an der Goethe-Universität Frankfurt mit der Aventis-Stiftungsprofessur für chemische Biologie eine eigene Professur des größten europäischen Pharma-Unternehmens. Auch die Schweizer Bank UBS, die zu den weltweit größten Vermögensverwaltern zählt, hat eine Stiftungsprofessur für Finanzen inne, die Dresdner Bank eine für Wirtschaftsrecht. Man kann sich ausmalen, wie an diesen Lehrstühlen über Genmanipulation oder über die Regulierung der Finanzmärkte diskutiert und geforscht wird. Zudem nutzten der Neoliberalismus und seine politischen Verfechter die Unterfinanzierung der Hochschulen für ein weiteres politisches Ziel: nämlich das einer neuen Elitebildung. Mit leeren Kassen und einem ständigen Mangel lassen sich Zulassungsbeschränkungen zum Master oder ein Mangel der Qualität in der Breite politisch gut rechtfertigen. Bei der neu eingeführten gestuften Studienstruktur von Bachelor und Master geht es im Kern auch um den Gedanken der Kostensenkung und zwar in mehrfacher Hinsicht: Das auf sechs Semester zusammengestauchte Bachelorstudium braucht natürlich geringere öffentliche Ausgaben. Es erlaubt den Arbeitgebern, niedrigere Löhne für Hochschulabsolventen und -absolventinnen zu zahlen. Und als dritter Aspekt kommt hinzu, dass die Verkürzung des Studiums letztlich auch Teil des Projektes ist, die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Hierzu gehören auch das Abitur nach 12 Schuljahren, die Rente ab 67 und die Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Diese, auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zugeschnittene Logik, sieht Menschen in erster Linie als Objekte der Verwertung: Man lebt, um zu arbeiten, und ein Studium darf nicht länger dauern, als unbedingt notwendig ist.

Viele Studierende haben sich mit so einer Logik nicht abgefunden: Europaweit haben sie demonstriert und protestiert, auch in der Bundesrepublik blicken wir zurück auf einige Semester Bildungsstreik, Hörsaalbesetzungen und Demonstrationen. Der Zusammenhang zwischen Sozialabbau und Bildungsabbau liegt auf der Hand: Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen und die Schuldenbremse strangulieren alle öffentlichen Ausgaben, sowohl die Sozialkassen als auch die Finanzierung der Hochschulen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen guten Studienplätzen und guten Arbeitsplätzen. Wenn in öffentlichen Krankenhäusern, Schulen oder Kindergärten immer mehr qualifiziertes Personal eingespart wird, lässt sich der Mangel an Studienplätzen auch leichter rechtfertigen. Und solange die Wirtschaft weitestgehend undemokratisch organisiert ist, solange nur eine Minderheit entscheidet und die Mehrheit ausführt, solange liegt es nahe, dass eben auch nur eine Minderheit zum Entscheiden und eine Mehrheit zum Ausführen ausgebildet wird. Und solange wir in einer Gesellschaft leben, in der sich alles um Profit dreht, brauchen wir uns nicht wundern, wenn Bildung auf die Vermittlung von wirtschaftlich nützlichen Fertigkeiten und Forschung auf rein anwendungsorientierte Produktforschung reduziert wird. Dass man Bildung auch ganz anders gestalten kann, hat der Sozialdemokrat Carlo Schmid im Jahr 1964 sehr schön formuliert: »Es ist kein Zufall gewesen, dass gleich zu Beginn der Arbeiterbewegung die Forderung nach besseren Bildungsmöglichkeiten für alle bestand. Bildung sollte die Menschen in die Lage versetzen, mit den Bedingungen und Folgen der Industriegesellschaft fertig zu werden, sich von all dem zu emanzipieren, was sie zu bloßen Werkzeugen in der Hand von Gebietern machte, die sie um des täglichen Brotes willen in Abhängigkeit zu halten vermochten. Bildung sollte dem Menschen das Rüstzeug vermitteln, dessen er bedurfte, um die Welt zu verändern. Dies war der Zweck der Arbeiterbildungsvereine, die vor den Parteien und Gewerkschaften existierten.« Einen solchen Bildungsbegriff sollten wir uns als LINKE zu eigen machen. Er macht aber nur Sinn, wenn man glaubt, dass Beschäftigte mehr sein können als Inputfaktoren und dass wir die ganze Gesellschaft und damit auch das Bildungssystem in diesem Sinne verändern können. ■

Die Krise der Hochschulen ist das Ergebnis ihrer betriebswirtschaftlichen Optimierung

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© andih. / flickr.com

Am Rande der Erschöpfung: Die Verkürzung des Studiums im Zuge des Bologna-Prozesses führt zu wachsender Arbeitsbelastung Studierender. Zudem sind zwei Drittel auf einen Nebenjob angewiesen. 50 Wochenstunden und mehr sind keine Seltenheit

Zwischen Campus und Call-Center Von Martin Haller

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s sei »einer Krankenschwester nicht zuzumuten, über Steuerabgaben die Ausbildung ihrer zukünftigen Vorgesetzten zu finanzieren.« So rechtfertigte der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch die Einführung von Studiengebühren zum Wintersemester 2007/08. Koch ging es da-

bei weniger um die Interessen der »kleinen Leute«. Vielmehr versuchte er, die massiven Proteste Studierender zu delegitimieren und sie als elitär zu brandmarken. Studierende, so der Vorwurf, ließen sich vom Steuerzahler subventionieren, obwohl sie ohnehin einer privilegierten Elite angehören. Der Bildungsstreik wäre

demnach lediglich eine Art Lobby-Unterfangen, das dazu diene, studentische Privilegien zu sichern. Doch stehen die Interessen Studierender und der lohnabhängigen Bevölkerung tatsächlich konträr zueinander? Warten auf Studierende auch heute noch nach einer angenehmen Phase der geistigen Ertüchtigung hochdotierte Posten in Wirtschaft und Bürokratie? Sind sie wirklich noch »Elite«? Wie lässt sich ihr Protest einordnen? Bis ins 20. Jahrhundert war die Aufnahme eines Studiums tatsächlich der herrschenden Klasse vorbehalten. Die Universität

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Von der Uni auf den Chefsessel – das war einmal. Mittlerweile platzen die Hochschulen aus allen Nähten. Ein Beitrag zur Klassenlage von Studierenden

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diente der Reproduktion gesellschaftlicher Eliten und stand lediglich der Bourgeoisie und jenem kleinen Teil der Mittelschicht offen, der unmittelbar ihren intellektuellen wie ideologischen Bedürfnissen diente. Das Studium war auf jene zugeschnitten, deren Beschäftigung darin bestand, von Mehrwert statt von produktiver Tätigkeit zu leben. Es diente der Aneignung einer bestimmten Geisteshaltung sowie der Befähigung zum Befehlen und Ausbeuten. So war es auch gekennzeichnet durch eine hohe Realitätsferne. Man befasste sich mit Freizeitvergnügungen und dem Studieren der »Klassiker«. »Das

infolge der »68er-Bewegung« viele studentische Freiheiten verteidigt werden. Zudem führte der Protest der Studierenden zur Etablierung eines breiten Spektrums geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer – obwohl deren Bedeutung für die kapitalistische Akkumulation begrenzt blieb. Mit Beginn des neoliberalen Umbaus der Hochschulen gingen jedoch viele Errungenschaften der »68er« wieder verloren. Die Studiensituation verschlechterte sich zusehends. Das wird gerade in den letzten Jahren deutlich. Die Masse der Studierenden soll schnell durch das Studium

Die Arbeitsbelastung im Bachelorstudium geht an der sozialen Realität der Studierenden vorbei Studium des Vortrefflichen und die fortwährende Ausübung des Vortrefflichen musste notwendig aus einem Menschen, den die Natur nicht im Stich gelassen, etwas machen«, so Goethe. Mittlerweile erfordert erfolgreiche kapitalistische Akkumulation jedoch die beständige und systematische Anwendung von Wissenschaft und Technologie. Dementsprechend ist gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Bedarf an Ingenieuren, Verwaltungskräften und leitenden Angestellten stark angestiegen. Daher wurden die Hochschulen schrittweise für eine größere Zahl Studierender geöffnet. Die Entstehung von Massenuniversitäten setzte allerdings erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahre und der Studentenrevolte der 1960er und 70er Jahre ein. Sie bedeutete das Ende des zutiefst elitären Wesens des deutschen Hochschulsystems. Es war nun einer breiten Masse möglich, ein Studium aufzunehmen. Selbst Arbeiterkinder hatten die Chance, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Mit den Veränderungen im Hochschulwesen wandelte sich jedoch auch der Charakter des Studiums. Durch die Öffnung der Universitäten für die Arbeiterklasse bedurfte es eines Ausbildungssystems, das auf der ökonomischen Verwertbarkeit von Wissen beruht. Das Studium musste sich verstärkt an den Anforderungen der Wirtschaft ausrichten und war nicht länger eine Zeit der Muße und des Vergnügens. Dennoch konnten

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geschleust werden, um die zu erwartende steigende Studentenzahl ohne zusätzliche Finanzmittel bewältigen zu können. Das hat zur Folge, dass der Arbeitsaufwand Studierender stark angestiegen ist. So ist ein Bachelorstudium auf 40 Wochenstunden ausgelegt, was jedoch an der sozialen Realität eines Großteils der Studierenden vorbeigeht. Die steigenden Lebenshaltungskosten führen dazu, dass mittlerweile etwa zwei Drittel aller Studentinnen und Studenten auf einen Nebenjob angewiesen sind. Das betrifft insbesondere jene, die aus einkommensschwachen Haushalten stammen. Durchschnittlich gehen Studierende zusätzlich zum Vollzeitstudium 13,5 Stunden in der Woche einer Erwerbsarbeit nach – nicht selten im Callcenter oder abends in einer Kneipe. Gleichzeitig lebt ein Drittel von ihnen von weniger als 600 Euro im Monat. Das Klischee des faulen und wohlsituierten Studenten ist bei Betrachtung der sozialen Situation Studierender nicht aufrechtzuerhalten. Jedoch, so wird häufig argumentiert, seien Lehrjahre nun mal keine Herrenjahre. Die Gesellschaft, die die Kosten der privilegierten Ausbildung übernehme, habe das Recht Studierenden eine gewisse Leistungsbereitschaft abzuverlangen. Denn nach dem Studienabschluss ergäben sich durch den akademischen Grad hervorragende berufliche Perspektiven. Wer Spitzenpositionen bekleiden wolle, dürfe sich auch nicht beschweren, dass der Weg dorthin mit erheblicher Arbeit verbunden

sei. Allerdings haben sich in dem gleichen Maße, wie sich die Zusammensetzung der Studierendenschaft geändert hat, auch deren berufliche Perspektiven und damit ihre mögliche soziale Bestimmung gewandelt. Die große Mehrzahl derjenigen, die heute studieren, wird in abhängiger Beschäftigung landen, die meisten als Lohnarbeiter. Eine ansehnliche Zahl geht zwar auch in der Mittelschicht auf, jedoch wird nur einem marginalen Anteil der Aufstieg in die hohen Gehaltsgruppen gelingen. Auch Arbeitslosigkeit unter Akademikerinnen und Akademikern ist keine Seltenheit mehr. Allein im Jahr 2009 ist die Quote um 11,3 Prozent gestiegen. Die Einstiegsgehälter vieler Hochschulabsolventen sind heute nur noch unwesentlich höher als in Lehrberufen. Hinzu kommt, dass eine große Zahl nach dem Studium nicht die Möglichkeit hat, in feste Arbeitsverhältnisse zu gelangen. Viele hangeln sich von einem unbezahlten Praktikum zum nächsten und werden höchstens befristet eingestellt. Selbst unter den Leiharbeitnehmern steigt die Zahl von Akademikern. Jeder sechste, der von einer der 15 größten Leiharbeitsfirmen vermittelt wird, hat studiert. Studierende sind also nach wie vor noch privilegiert, aber längst keine gesellschaftliche Elite mehr. Ein Studium ist heute keineswegs mehr mit erheblichen sozialen Aufstiegschancen verbunden. Die Mehrzahl der Studierenden profitiert daher auch nicht von der allgemeinen Senkung des Lebensstandards, sondern ist vielmehr selbst davon betroffen. Auch sie wird im Berufsleben mit sinkenden Löhnen, steigenden Arbeitszeiten und drohender Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Der von Roland Koch kritisierte Bildungsstreik war also alles andere als elitär, sondern wendete sich gegen die gleiche neoliberale Politik wie die Arbeitskämpfe der lohnabhängigen Beschäftigten. Doch welche Schlussfolgerungen lässt dies für das Potenzial einer Studierendenbewegung zu? Welche Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Interessen haben Studierende? Die marktrationale Umstrukturierung des Lehr- und Lernbetriebs geht mit einer Entpolitisierung vieler Studierender einher. Überfüllte Stundenpläne sowie gesteigerter Leistungs- und Konkurrenzdruck führen zu einer isolierten Einzelperspektive, in der nur noch die Hürden des eigenen Fortkommens registriert


© Gonzalo Zapata

Studierende waren der Zündfunken der Proteste in Chile. Nun gehen sie gemeinsam mit Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten auf die Straße

zipien, der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse sowie von wachsender Arbeitslosigkeit betroffen sind, entstehen zunehmend Möglichkeiten zur Bildung von Koalitionen mit der Arbeiterklasse. Nicht erst die Aufstände und Revolutionen des »Arabischen Frühlings« haben gezeigt, dass Studierende und Akademiker Teil einer revolutionären Bewegung sein können. Auch in Griechenland oder Spanien haben sie bei den Protesten gegen die Kürzungspolitik der neoliberalen Regierungen in erster Reihe gekämpft. Zuletzt bewiesen die Bildungsstreiks in Chile das Potenzial studentischer Proteste, auf andere Gesellschaftsgruppen überzugreifen. Auch in Deutschland ist dies möglich. Daher sollte DIE LINKE den Bildungsstreik unterstützen und als parlamentarischer Arm der Bewegung für die Interessen der Studierenden eintreten. Der Studierendenverband Die Linke.SDS könnte dabei eine Art Scharnierfunktion zwischen Studierenden und der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse einnehmen und so dazu beitragen, den Zündfunken studentischer Proteste auf die gesamte Gesellschaft überspringen zu lassen. ■

★ ★★ WEITERLESEN

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Im Anschluss an den Bildungsstreik 2009 veröffentlichte der SDS eine Auswertung der Proteste: http://tiny. cc/streikgruende. Für Smartphone-Benutzer Bildcode scannen, etwa mit der App »Scanlife«.

Martin Haller studiert Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitglied von Die Linke. SDS.

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werden. Die Sicht auf eine strukturelle und damit alle betreffende Dimension geht dabei oft verloren. Doch gleichzeitig bieten die soziale Situation der Studierenden und die zunehmenden Missstände an den unterfinanzierten Universitäten Potenzial für Widerstand. Dies zeigten zuletzt die Bildungsproteste im Sommer 2009. Damals gingen 270.000 Schülerinnen und Schüler, Studierende, Lehrende und Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter für bessere Bildung und ein anderes Bildungssystem auf die Straße. Ein Bildungsstreik, der zu einer breiten Bewegung anwächst, könnte dazu beitragen, die individualisierte Perspektive vieler Studierender aufzubrechen. Kollektiver Protest kann ihrer Vereinzelung entgegenwirken und zur Politisierung der Studentenschaft beitragen. Eine Bildungsstreikbewegung sollte sich daher nicht politisch einengen und lediglich auf bereits Überzeugte beschränken. Die Offenheit gegenüber allen Studierenden, die für Veränderungen in der Bildung streiten wollen, ist Voraussetzung für eine starke und durchsetzungsfähige Bewegung und damit auch Vorbedingung für eine Radikalisierung der Proteste. Nur durch Mehrheiten kann sich der Protest zur Lahmlegung des gesamten universitären Betriebs durch Besetzungen zuspitzen. Der »Lucky Streik« 1997 oder die Protestbewegung 2003 haben gezeigt, dass Studierende – obwohl sie nicht wie Arbeitnehmer im Betrieb durch einen Streik ökonomischen Druck ausüben können – in der Lage sind, konkrete Forderungen durchzusetzen. Da sie nicht in den unmittelbaren Produktionsprozess einbezogen sind, genießen sie größere Freiheit als abhängig Beschäftigte: Sie können protestieren, ohne gleich »entlassen« zu werden. Dadurch haben sie das Potenzial, sich zu einer vorwärtstreibenden Kraft innerhalb der Gesellschaft zu entwickeln. Ihr Protest kann der Ausgangspunkt einer Bewegung gegen die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien in allen Lebensbereichen, gegen die massive Verschlechterung der Arbeits- und Studienbedingungen oder sogar gegen das kapitalistische System als Ganzes sein. Indem das Kapital und seine politischen Vertreter gegen die Interessen aller Lohnabhängigen agieren, schaffen sie zugleich die Voraussetzungen für eine allgemeine Gegenwehr. Da auch Studierende von der Ausbreitung neoliberaler Marktprin-

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WELTWEITER WIDERSTAND

Mehr als einhundert Studierende und Sch端ler kommen auf einem zentralen Platz in Chiles Hauptstadt Santiago zusammen, um k端ssend gegen die neoliberale Bildungs足 politik der Regierung zu demonstrieren

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Chile

8NEWS

Tanz für Demokratie

8 USA

Von Mike Gonzalez

M

ehr als 600.000 chilenische Arbeiter befolgten Ende August den Aufruf des Gewerkschaftsdachverbands zu einem 48-stündigen Streik. Sie legten das ganze Land lahm. Treibende Kraft der Bewegung waren aber die Gymnasiasten und Hochschulstudenten, die sich schon seit drei Monaten im Kampf befinden. Die staatliche Bildung in Chile ist miserabel und trotzdem extrem teuer. Arbeiterfamilien, die ihren Kindern eine Zukunft bieten wollen, müssen große Opfer bringen. Zwischen 250 und 600 Euro monatlich kostet der Universitätsbesuch. Der Mindestlohn im Land liegt bei 310 Euro, der monatliche Durchschnittsverdienst bei knapp 800 Euro. Siebzig Prozent der Studierenden müssen daher Kredite aufnehmen. Die Hälfte bricht ihr Studium vorzeitig ab, weil sie die Zinsen nicht mehr aufbringen kann. Die Sprecher der Bewegung erklären, dass es nicht nur um die hohe Verschuldung der Studierenden gehe, sondern insgesamt um Klassenungleichheit. Zur Zeit der Diktatur von Augusto Pinochet glich das Land einem Labor des globalen Neoliberalismus. Das gegenwärtige Bildungssystem wurde nach dem Militärputsch von 1973 eingeführt und hat die Militärdiktatur um fast 20 Jahre überlebt. Bemerkenswert an den Protesten ist die Militanz und die Kreativität, aber auch die politische Klarheit der jungen Aktivisten. »Das Denken wird nicht gelehrt. Informatik ja, aber keine Geschichte, Naturwissenschaften schon, aber Philosophie: Fehlanzeige«, sagt Carmen Sepúlveda, Vorsitzende der Schülergewerkschaft von Santiago. Das Denken haben sie sich offensichtlich selbst beigebracht. Die Bildungsproteste haben nicht nur Schüler und Lehrer zusammengebracht, sondern auch Forderungen anderer Gesellschaftsgruppen aufgegriffen, beispielsweise die der Bewegung gegen ein gigan-

tisches Staudammprojekt in Patagonien. Auch die indigene Mapuche-Bewegung, die seit Jahren gegen Diskriminierung, Unterdrückung und den Raub ihres Lan-

Viele Chilenen leben in Armut des kämpft, wird von den Studierenden willkommen geheißen. Sie haben zudem in Solidarität mit den Opfern des Erdbebens von 2008, die immer noch obdachlos sind, demonstriert und unterstützen die Proteste der Bewohner der Provinz Magallanes gegen steigende Gaspreise. Die Studierenden haben ganz bewusst diese verschiedenen Proteste zusammengeführt. Die chilenische Wirtschaft erlebt gegenwärtig einen kräftigen Aufschwung, dennoch leben 15 Prozent der Bevölkerung in bitterster Armut. »Bezahlt es mit Kupfer«, sagen die Studierenden. Kupfer ist das Hauptexportgut Chiles. Es wurde fast vollständig privatisiert. Die Ausbeutung der Minen bringt enorme Profite – auf Kosten der Minenarbeiter, wie das Schicksal der 33 Kumpel zeigt, die zwei Monate unter der Erde eingeschlossen waren. Die neue Protestbewegung ist furchtlos. Während vergangene Generationen der chilenischen Linken von der Niederlage von 1973 geprägt waren, haben die jungen Leute die Sprache des Protests wiederentdeckt. Eine ihrer spannendsten Demonstrationen lief unter dem Motto »Thriller für die Verfassung«. Es war eine massenhafte Inszenierung von Michael Jacksons Zombietanz. Die Protestierenden forderten Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung, um das alte neoliberale Regime ein für alle Mal auszuhebeln. ★ ★★ Mike Gonzalez ist Professor für Latein­ amerika­ studien Glasgow.

an

der

Universität

von

45.000 Arbeiter des Telekommunikationsunternehmens Verizon streikten im August, um die Zerschlagung ihrer Pensionskassen und den drastischen Abbau von Gewerkschaftsrechten abzuwenden. Unter dem massiven Druck der Proteste zog die Konzernleitung ihre Pläne vorerst zurück.

8 China Im August demonstrierten über 12.000 Menschen in der Stadt Dalian im Nordosten Chinas gegen eine die Umwelt vergiftende Chemiefabrik. Daraufhin schlossen die Behörden die Anlage. Es war der größte Protest, den die Stadt seit 1989 erlebt hat. 90.000 solcher »Vorkommnisse« – so die Amtssprache – hat es allein im Jahr 2009 gegeben.

8 Indien Hunderttausende – Studenten, Lehrer, Rechtsanwälte, Beamte – sind in Indien auf die Straße gegangen, um ihre Unterstützung für den Aktivisten Hazare zu bekunden, der gegen die grassierende Korruption im Land in einen Hungerstreik getreten ist. Durch Bestechungen ist dem Staat allein im Telekommunikationsbereich ein Schaden von Schätzungsweise 27 Milliarden Euro entstanden.

GroSSbritannien

Nazis gestoppt Ein seit Monaten angekündigter Aufmarsch der English Defence League (EDL) durch das multikulturelle Eastend Londons wurde am 3. September durch einen Massenprotest der Einwohner gestoppt. Das Anti-Nazi-Bündnis unter Beteiligung von Gewerkschaften, Vertretern der muslimischen Gemeinschaft und Sozialisten hatte schon seit Juni für die Gegenmobilisierung geworben. Angestellte der U-Bahn trugen ihren Anteil zum Erfolg bei, indem sie etwa 1000 Nazis eine halbe Stunde lang den Zugang zur Station King’s Cross verwehrten. David Peanson

Weltweiter Widerstand

Junge Menschen haben die Straßen Chiles in Beschlag genommen. Theateraufführungen, Zirkusvorstellungen und Redeplattformen dominieren das Bild

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INTERNATIONALES

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Gefährliche Offensive Nach dem Wahlsieg will Ministerpräsident Erdogan im Kurdenkonflikt hart gegen die PKK »durchgreifen«. Doch diese Politik verschärft den Konflikt. Frieden ist nur durch eine umfassende Anerkennung der politischen und kulturellen Eigenständigkeit Kurdistans möglich

ürkische Streitkräfte bombardieren seit Wochen Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der OstTürkei und im Nordirak. Begründet werden die Angriffe auf die kurdischen Guerilleros mit einem Zwischenfall vom 17. August, bei dem 12 türkische Sicherheitskräfte, die an der türkisch-irakischen Grenzregion Militäroperationen gegen die PKK durchführten, zu Tode kamen. Ministerpräsident Recep Erdogan schlägt harte Töne an gegen jeden, der vermeintlich mit der PKK sympathisiert. Darunter versteht er auch Anhänger der einzigen pro-kurdischen Partei im türkischen Parlament, der Partei für Frieden und Demokratie (BDP). Offensichtlich will er auch die friedlichen Aktivitäten der pro-kurdischen Bewegung stärker verfolgen. Eine chauvinistische Stimmung, die sich auch gegen die zivilgesellschaftlichen kurdischen Organisationen richtet, beherrscht seit einiger Zeit das Land. Schon am Tag nach dem tödlichen Angriff der PKK titelte die Zeitung Yeni Safak im Hinblick auf die BDP: »Ihr seid die Mörder«. Damit reihte sich die Zeitung in die Mehrheit der türkischen Medien ein, die an der Seite der Regierung Stimmung gegen Kurden machen. Nun sollen »Spezialkräfte« stärker gegen Demons-

tranten in den Städten vorgehen. Bereits jetzt sind über 1700 kurdische Politiker in Haft, darunter viele Bürgermeister und Stadträte sowie ein Parlamentsabgeordneter. Gegen sie wird seit etwa zwei Jahren unter dem Vorwand der politischen Unterstützung der PKK ein Prozess geführt. Doch die kurdische Bewegung, die mehrheitlich mit der PKK sympathisiert, ist längst nicht mehr eine – wie vom Staat jahrelang

Auch die Politik der kurdischen Bewegung hat dazu beigetragen das der Konflik wieder eskaliert gerne propagiert – marginalisierte Strömung. Längst stellt sie mit ihren Frauen- und Jugendsektionen eine Massenbewegung dar. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die massiven Angriffe und die Kriminalisierung der pro-kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen zu einer weiteren Verschärfung des Konfliktes führen werden. Die kurdische Bewegung wird sich durch diese Drohungen nicht von ihrem Kampf für Gleichberechtigung und Anerkennung sowie gegen Diskriminierung abbringen lassen. In den letzten Monaten haben ihr die Revolutionen in den arabischen Ländern neuen Schwung gebracht. Im Juni beschlossen kurdische Organisationen Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die politischen und militärischen Angriffe des türkischen Staates. So wurden auf den Straßen aufgeschlagene »Friedenszelte« zu einem Ort der Debatten und des Protests für eine Lösung des Konfliktes. Seit den neuesten Kämpfen blockierten Aktivisten Straßen, auf denen das Militär Nachschub für den Krieg gegen die PKK-Kämpfer transportiert. Tausende Men-

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Serdar Damar studiert Politikwissenschaften in Frankfurt am Main und schreibst seine Diplomarbeit über den Aufstieg der Türkei zu einer Regionalmacht. Er ist Mitglied der LINKEN.

INTERNATIONALES

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Von Serdar Damar

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Die Kurden zwischen Widerstand und Unterdrückung: Die meisten von ihnen sympathisieren mit der PKK. Doch die Organisation hat nicht angemessen auf die veränderte politische Lage reagiert

schen kommen in die Kampfgebiete und stellen sich dort als »lebende Schutzschilde« zwischen die Fronten. Das türkische Militär geht brutal gegen den friedlichen Widerstand vor und erschoss am 28. August einen jungen Aktivisten. Dennoch gehen die Aktionen weiter. Trotz der Übergriffe des Staates ist die kurdische Bewegung gegen eine Einmischung des Westens in den Konflikt. Der stellvertretende Vorsitzende der PKK, Murat Karayilan, hat sich in einem Interview mit dem kurdischen Fernsehsender ROJ TV ausdrücklich gegen eine militärische Einmischung der NATO in Syrien und Iran ausgesprochen, obwohl auch dort die Kurden seit Jahren für ihre Rechte kämpfen. Die PKK ist der Ansicht, dass eine solche Einmischung nur den imperialen Interessen diene und die kurdische Bewegung schwächen würde.

Mittlerweile ist die kurdische Bewegung die größte Demokratiebewegung in der Türkei Vor den jüngsten Zwischenfällen herrschte eine dreijährige Phase der relativen Entspannung im Konflikt um die kurdischen Gebiete. In dieser Zeit wuchs die Hoffnung auf Frieden in der Türkei. Dass diese Phase nun so abrupt beendet wurde, lag einerseits an der Halbherzigkeit der türkischen Regierung in der Kurdenfrage. Doch auch die Politik der kurdischen Bewegung hat dazu beigetragen. Der Umgang der Erdogan-Regierung mit den Kurden unterscheidet sich stark vom Vorgehen der vorherigen Regierungen. So wurde dem Druck der kurdischen Bewegung teilweise nachgegeben und kurdische Bedürfnisse – wenn auch nur verbal – teilweise anerkannt. In den Medien wird über den Konflikt offen debattiert

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und Demonstrationen werden nicht mehr niedergeschossen wie in den 1990er Jahren. Die Zustimmung unter der Bevölkerung für eine Demokratisierungspolitik ist groß. Dennoch änderte die Regierung weder jene Gesetze, die beispielsweise den Gebrauch anderer Sprachen als Türkisch in Ämtern und Schulen verbieten, noch stoppte sie die Militäroperationen gegen die kurdische Guerilla, die mehrmals einseitig die Waffen niedergelegt hat. Allein zwischen Mitte März und Mitte Juli wurden 49 kurdische Guerilleros vom Militär getötet. Viele Kurden halten die Politik der Regierung für eine Hinhaltetaktik. Deshalb empfinden sie verbale Zugeständnisse ohne rechtliche Garantien als zu vage, da diese von einer Nachfolgeregierung schnell zurückgenommen werden können. Außerdem sind viele der Ansicht, dass die von der Regierung gemachte Unterscheidung zwischen den PKK-Kämpfern und der kurdischen Zivilbevölkerung die kurdischen Realität verkennt. PKK und BDP haben auf die veränderte politische Lage in der Türkei unangemessen reagiert. Sie setzten die gegenwärtige Regierung mit den alten nationalistisch-militärischen Eliten gleich und vergeben damit Chancen. Denn gerade in den letzten Jahren wurde unter dem Druck verschiedener gesellschaftlichen Kräfte die Macht des Militärs erheblich beschnitten, zugleich die Rechte der Gewerkschaften und religiöser Minderheiten gestärkt. Während die liberal-konservative AKP von Ministerpräsident Erdogan offensiver als alle vorherigen Regierungen gegen den Status quo und somit gegen die verkrusteten Verhältnisse zwischen dem Militär und dem Staatsapparat vorging und dabei die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit genoss, hielt sich die kurdische Bewegung zurück und nahm in dieser Auseinandersetzung eine »neutrale« Position ein. Außerdem hat die BDP – unter dem Druck der PKK – im Parlament ihre Zustimmung für die bislang umfassendste Verfassungsreform verweigert. Diese hat


Der Konflikt um Kurdistan stellt zweifellos das größte Problem in der Türkei dar. Er ist letztendlich auf die jahrzehntelange Verleugnung und Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung durch den türkischen Staat zurückzuführen. Bis heute sind etwa zwölf Millionen Kurdinnen und Kurden von jeglichen verfassungsrechtlich gesicherten Garantien ausgeschlossen. Ihre Anerkennung als ein eigenständiges Volk in der Verfassung, die Einführung der kurdischen Sprache als Amtssprache in der Region, die Rückbenennung kurdischer Städte und Ortschaften, die momentan türkische Namen tragen, und die Errichtung eines Regionalparlaments in Kurdistan, das sich direkt um die Belange der ökonomisch unterentwickelten Region kümmert, sind für die Lösung des Konfliktes unabdingbar. Auch die nun seit mehr als elf Jahren andauernde Gefängnishaft des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, der von der Mehrheit der Kurden als Führungsfigur der Bewegung angesehen wird, steht dem Frieden im Weg. Mittlerweile ist die kurdische Bewegung die größte und bestorganisierte Demokratiebewegung in der Türkei und durchaus in der Lage, durch friedliche Aktionen und Proteste zusammen mit anderen außerparlamentarischen Kräften wie der Antikriegsbewegung, den Gewerkschaften und der Umweltbewegung in der

Türkei gemeinsam Rechte zu erkämpfen. Um die Bedingungen dafür zu verbessern, ist es wichtig, dass die PKK sich mehr auf die zivilen außerparlamentarischen Bewegungen stützt und der parlamentarischen Kraft BDP größere Handlungsspielräume eröffnet. Die türkische außerparlamentarische Bewegung und die kurdische Bewegung müssen sich mehr aufeinander beziehen und solidarisieren, um eine blutige Teilung der Türkei zu vermeiden. Die Unterdrückung der Kurden in der Türkei wäre in dem Umfang nicht möglich, hätten westliche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA die Türkei nicht jahrelang politisch und militärisch unterstützt. So ist das Land seit langem größter Abnehmer für Kriegsgeräte des drittgrößten Rüstungsexporteurs Deutschland. Noch im Frühjahr des vergangenen Jahres sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel der Türkei die Lieferung von 56 »Leopard II«-Panzern zu. Darüber hinaus werden die politischen Handlungsmöglichkeiten von Kurden in Deutschland durch das Verbot der PKK und ihr nahe stehender Vereine nach wie vor massiv eingeschränkt. Linke sollten sich für das Selbstbestimmungsrecht der Kurdinnen und Kurden einsetzen. Auch in Deutschland kann hierzu ein Beitrag geleistet werden. So fordert etwa die Föderation kurdischer Vereine in Deutschland, YEK-KOM, eine Anerkennung der etwa 800.000 in der Bundesrepublik lebenden Kurdinnen und Kurden als eigenständige Migrantengruppe sowie ihre rechtliche Gleichstellung mit Migranten anderer Herkunft. Die Repression gegen die kurdischen Vereine muss ein Ende finden. Außerdem müssen die Waffenexporte an die Türkei eingestellt werden. Derartige Schritte könnten auch für die Türkei Signalwirkung haben: Nur durch eine umfassende Anerkennung der politischen und kulturellen Eigenständigkeit Kurdistans kann die Türkei den Weg zu Demokratie und Frieden finden. ■

INTERNATIONALES

unter anderem mehr Rechte für Frauen, mehr Einfluss der Gewerkschaften und eine Schwächung des Militärs vorgesehen. Die Begründung der BDP: Die Reform habe die Kurdenfrage nicht beinhaltet. Angesichts des historisch tiefverwurzelten Misstrauens gegenüber dem türkischen Staat möchte die PKK keine andere Lösung für den Konflikt zulassen, die nicht ihre Führung über die kurdische Bewegung untermauert. Doch diese Politik isoliert die kurdische Bewegung von Bündnispartnern in der türkischen Gesellschaft, die sich sowohl für die Rechte der Kurden einsetzen als auch für soziale Gerechtigkeit und gegen die Militärs auf die Straße gehen.

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SERIE: WAS WILL MARX21?

»Bis alle besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind« Mit der Serie »Was will marx21« möchten wir die politischen Grundlagen des marx21-Netzwerks vorstellen. Diesmal möchten wir die DNA von Revolutionen entschlüsseln: Wann führt ein Aufstand zum Umsturz, was unterscheidet eine politische von einer sozialen Revolution? Teil 8 der Serie

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hawra, thawra, hatt an-nasr!«, arabisch für »Revolution bis zum Sieg!«, erschallte ebenso als Schlachtruf auf den Straßen Ägyptens wie bei den weltweiten Solidaritätsdemonstrationen mit der arabischen Demokratiebewegung. Der »Arabische Frühling« hat die Revolution aus den Geschichtsbüchern zurück in die aktuelle Debatte geholt.

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Massenaufstände brachten despotische Machthaber in Tunesien und Ägypten zu Fall. Die Bewegung breitete sich wie ein Lauffeuer in Nordafrika aus – und darüber hinaus: Mitte Mai sprang der Protestfunke über die Straße von Gibraltar und das östliche Mittelmeer und löste in über 60 spanischen und griechischen Städten und Dörfern die Besetzung zentraler Plätze nach dem Vorbild Kairos aus.

Die soziale Frage ist die Triebfeder der Revolution


nach dem Sturz der Diktatoren. Die Beherrschten wollen nicht mehr wie bisher. Die Bewegungen in Tunesien und Ägypten hatten eine solche Dynamik, dass die Despoten sie selbst durch harte Repressalien nicht mehr eindämmen konnten.

Der Arabische Frühling hat die Revolution aus den Geschichtsbuchern zurück in die aktuelle Debatte geholt

werks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier, Journalisten. Aber an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich wird, durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen, überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung die Ausgangsposition für ein neues Regime.« Diese Zeilen notierte der russische Sozialist Leo Trotzki im Vorwort seiner »Geschichte der Russischen Revolution«. Sie umschreiben treffend, was in Ägypten in den Wochen vor dem Sturz Husni Mubaraks im Februar geschehen ist. Eine revolutionäre Bewegung zeichnet sich dadurch aus, dass sie alles in Frage stellt, untergräbt, hinwegfegt, was jahrzehntelang unveränderbar schien. So wie die Herrschaft der Diktatoren in Nordafrika, die sich fest im Sattel wähnten. Nach dem russischen Revolutionär Lenin ist das wesentliche Merkmal einer revolutionären Situation, dass »die ›Unterschichten‹ nicht in der alten Weise leben wollen, und die ›Oberschichten‹ nicht in der alten Weise leben können«. Die allgemeine Krise der Gesellschaft spitzt sich zu. Wesentliche Triebfeder für die Massenaufstände in Nordafrika sind die sozialen Verwerfungen, die aus jahrelanger neoliberaler Politik und der aktuellen Weltwirtschaftskrise resultieren: zunehmende Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, und steigende Lebensmittelpreise. Allein der Getreidepreis stieg im vergangenen Jahr um über 30 Prozent. Dem zunehmenden Elend der Massen steht eine unglaubliche Bereicherung der oberen Zehntausend gegenüber. Der Drang nach sozialer Gerechtigkeit drückt sich vordergründig aus im Schrei nach Demokratie,

Die Umbrüche in Ägypten und Tunesien lassen sich bisher als politische Revolution bezeichnen, nicht jedoch als soziale Revolution. Letztere kennzeichnet einen Zustand, in dem die herrschende Klasse entmachtet und das gesamte Gesellschaftssystem umgekrempelt wird. Klassisches Beispiel ist die Französische Revolution von 1789, in der sich das Bürgertum gegen Adel und Klerus als neue herrschende Klasse durchsetzte. Die Epoche des Feudalismus wurde abgelöst vom Kapitalismus. In der Russischen Revolution von 1917 wurde das Rad der Geschichte noch weitergedreht: Die Revolution der Arbeiter und Bauern stürzte nicht nur den Zaren, sondern ging auch über die Grenzen bürgerlicher Herrschaft hinaus, indem Großgrundbesitzer und Fabrikherren enteignet wurden. Der Anlauf zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, der allerdings später scheiterte, wurde genommen. Durch die politische Revolution wird zunächst ein personeller Wechsel an der Spitze der Staatsgewalt erzwungen und Kurs genommen auf weitergehende Veränderungen der staatlichen Ordnung. Das geht nicht zwingend einher mit der Entmachtung der gesamten herrschenden Klasse oder dem Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse. In den arabischen Revolutionen stehen zunächst Forderungen nach Demokratie und bürgerlichen Freiheiten im Vordergrund. Es entstehen neue Parteien, freie Wahlen werden ausgerufen, unabhängige Gewerkschaften gründen sich. Revolutionär ist dieser Prozess, weil er sich außerhalb der vorgesehenen Rechtsformen des alten Systems vollzieht und nach dessen Definition illegal ist.

Revolutionär im sozialistischen Sinne wird eine Bewegung, sobald der Grundpfeiler der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Frage gestellt wird: die Verfügungsgewalt des Kapitals über die Fabriken und Büros. Dann gerät die Bewegung nicht nur in Konflikt mit den Eigentümern dieser Produktionsmittel, sondern auch verschärft mit dem Staatsapparat, der geschaffen ist, um diese Verhältnisse aufrecht zu erhalten. In Ägypten sind politische und wirtschaftliche Herrschaft sehr eng verflochten. Über Jahrzehnte hat sich eine Vetternwirtschaft von hohen Militärs und Kapitalisten entwickelt. Dabei steht etwa ein Fünftel der Wirtschaft unter Kontrolle der Armeeführung. Ohne weitreichende Eingriffe in die Wirtschaft, also in die Eigentums- und Vermögensverhältnisse, können die sozialen Verwerfungen nicht behoben werden. Der Staat, ob er nun ein despotischer oder parlamentarisch-demokratischer ist, kann dabei kein Instrument für den Kampf um eine andere Gesellschaftsordnung sein. Karl Marx schrieb, dass der bürgerliche Staat den »Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft« habe. Im Kern sei er undemokratisch, denn hinter der Fassade der parlamentarischen Demokratie verbergen sich wesentliche Bereiche, die keiner demokratischen Kontrolle durch die Bevölkerung unterlägen: »(...) stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand.« Der neutrale Schein der parlamentarischen Form verschwinde, sobald die unterdrückten Klassen aufbegehrten. Dann benutze »die vereinigte besitzende Klasse (...) die Staatsmacht rücksichtslos als das nationale Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Arbeit«. In Ägypten zeigt sich dies an der Rolle des Militärs. Für einige Zeit betrachteten die Aufständischen das Militär als Verbündeten. Tatsächlich hielt es sich zurück, als klar war, dass Mubarak stürzen würde. Mittlerweile ist die Beziehung zwischen Armee und Bewegung alles andere als harmonisch: Es gibt Räumungen des TharirPlatzes und verstärkte Repressalien wie Verhaftungen und Folter gegen jene Kräfte, die die Bewegung weiter vorantreiben wollen. Da sich die Dynamik der arabischen Revolution aus drastischen sozialen Missständen als Folge von Neoliberalismus

WAS WILL MARX21

»Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen Zeitläufen erhebt sich der Staat, der monarchistische wie der demokratische, über die Nation; die Geschichte vollziehen die Fachmänner dieses Hand-

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und Krise der Wirtschaft speist, vermischen sich politische und soziale Forderungen und die Bewegung steht vor neuen Herausforderungen. Der revolutionäre Prozess ist längst nicht abgeschlossen. Unterschiedliche Akteure treten auf den Plan, mit unterschiedlich weitreichenden Forderungen. Zum einen gibt es die bürgerlich-liberalen Kräfte, die sich über demokratische Reformen mehr Gestaltungsspielraum als Akteure auf dem kapitalistischen Markt versprechen. Zum anderen entwickelt sich aus der Arbeiterbewegung eine antikapitalistische Stoßrichtung, die über die Grenzen des Kapitalismus hinausweist.

»Nur in einer Revolution kann sich die stürzende Klasse den ganzen alten Dreck vom Halse schaffen« Karl Marx

★ ★★ WEITERLESEN Alex Callinicos: Die Rückkehr der arabischen Revolution, online unter: http://tiny. cc/callinicos

Leo Trotzki: Geschichte der Russischen Revolution, 2 Bände (Mehring 2010).

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Die Arbeiterklasse hat aus zwei Gründen eine entscheidende Bedeutung für den Verlauf der Revolution. Erstens verfügt sie aufgrund ihrer ökonomischen Stellung über enorme Machtressourcen im Kampf gegen das Establishment. Die großen Streikbewegungen der Arbeiter haben den Despoten in Tunesien und Ägypten den Todesstoß versetzt. Auch Syriens Herrscher Assad würde bald fallen, wenn die Demokratiebewegung sich auf die Betriebe mit Streikaktionen ausweitet. Zweitens kann die Arbeiterklasse als kollektiver Akteur effektive Strukturen von Gegenmacht aufbauen, über die der Widerstand sich organisiert: in Betrieben, in Wohnvierteln und auf öffentlichen Plätzen. Diese Strukturen sind einerseits entscheidend, um weitere Zugeständnisse zu erzwingen. Zweitens können dadurch von unten Ansätze einer sozialistischen Gesellschaftsordnung entstehen und die Demokratie auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt werden. Marx meinte, der revolutionäre Prozess habe eine Doppelfunktion: »(...) dass sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen notwendig ist,

die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also eine Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.« In Ägypten wird dieser emanzipatorische Charakter der Revolution besonders deutlich: Christen und Muslime kämpfen und beten gemeinsam gegen die Provokationen der alten Herrscher. Frauen kämpfen an vorderster Front, ob mit oder ohne Kopftuch, und stellen die traditionellen Rollenbilder in Frage. Auch Schwule und Lesben tankten Selbstbewusstsein in der Massenerhebung und wagen den Schritt aus dem Verborgenen. Die bisher erkämpften Errungenschaften können ein Schritt auf dem Weg zu noch grundlegenderen Veränderungen werden. Diese sind auch notwendig, um die gewonnenen Freiheiten abzusichern. Denn die derzeit Herrschenden werden versuchen, die alten Ausbeutungsverhältnisse gegen das Aufbegehren der Massen abzusichern. Entscheidend hierfür ist, dass die Arbeiterklasse als eigenständiger politischer Akteur eingreift, sich mit eigenen Parteien von der Führung durch bürgerliche Kräfte und Parteien emanzipiert. So schrieb Karl Marx bereits 1850 angesichts der Unfähigkeit des Bürgertums, die revolutionäre Welle gegen den Feudalismus in Europa zum Erfolg zu führen, über die Aufgabe der revolutionären Sozialisten: Während die demokratischen Vertreter des Bürgertums die Sache möglichst schnell über die Bühne bringen wollten, um ihr politisches Mitspracherecht gegenüber den feudalen Herrschern durchzusetzen, »ist es unser Interesse, und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind.« Dies gilt nicht nur für den Nahen Osten und Afrika. Die Verbreitung der Kürzungspolitik in Europa hat in diesem Jahr zu erheblichem Widerstand geführt, von den Generalstreiks in Griechenland bis zu Studentenprotesten und Straßenunruhen in Großbritannien. Damit eröffnet sich auch in Europa mehr Spielraum für weitreichende gesellschaftliche Umbrüche. ■


Was macht Marx21?

Ein guter Mix

Die Lesekreise über die revolutionären Ideen von Karl Marx haben begonnen. Sie führen Interessierte aus mehreren Generationen zusammen

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it 276 Seiten sind »Die revolutionären Ideen von Karl Marx« deutlich schmaler als Marx’ Hauptwerk »Das Kapital«. Dennoch ist Alex Callinicos’ Buch umfangreich genug, um mehrteilige Lesekreise zu veranstalten. Im Sommer haben in mehreren Städten erste Treffen stattgefunden. Zum Beispiel in Berlin: Dort glich der Tagungsort Omayra einem Mehr-GenerationenHaus. »Der Mix von Leuten war gut – Studierende haben mit Genossinnen und Genossen im Rentenalter zusammengesessen und diskutiert« berichtet Frank, der bei der ersten Session dabei war. Am Anfang stand eine Debatte über das Verfah-

ren: Das Buch ist in inhaltlich abgeschlossene Kapitel eingeteilt, von »Das Leben eines Revolutionärs« bis zu »Marx heute«. In Berlin einigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer darauf, das Buch Kapitel für Kapitel durchzugehen. Der Lesekreis wird also bis zum Winter dauern. »So können wir das Gelesene intensiv diskutieren und die aufkommenden Fragen vernünftig beantworten«, erklärt Silke, eine der Organisatorinnen des Lesekreises. Ein erstes Treffen gab es auch schon in Köln, im westfälischen Soest - und in Offenbach, von wo Per berichtet: »Zwölf Gäste folgten der Einladung zur Buch-

TOP TEN JUNI – AUGUST 2011

vorstellung in der ›Linken Ecke‹. David lieferte den Einstieg in die beschriebenen Themen, im Anschluss fand eine angeregte Diskussion statt, die nach Ende der

Termine Berlin 15. Oktober, 14:00 Uhr, Mehringhof (Versammlungsraum), Gneisenaustr. 2a, U6/U7 Mehringdamm Köln 22. September, 19:30 Uhr, Café Sandspur, Bachemer Str. 27 Soest 29. September, 18:30 Uhr, Kreisgeschäftsstelle DIE LINKE, Thomästraße 11 Weitere Termine unter marx21.de

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Ehec: Das Bakterium schlägt zurück Frauenfußball-WM: Den Platz erobert Tod von Amy Winehouse: Blut, Schweiß und Tränen Islamischer Fundamentalismus und die Linke Zur Nahost-Erklärung der Linksfraktion Lafontaine nennt Grüne »gewaltige Mogelpackung« Solidarität mit den Palästinensern – gegen Antisemitismus Politik Israels: Eine berechtigte Kritik Der syrische Aufstand und die Linke Žižek: »Israels größte Hoffnung liegt in einem eigenen Staat«

Veranstaltung in einem ›gemütlichen Teil‹ bis spät in die Nacht andauerte.« Hier zeigte sich, dass die Altersunterschiede der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch zu einer Herausforderung werden können: »Vier der anwesenden Genossen haben das Thema Marx bereits genau so lange diskutiert wie einige der jüngeren Genossen überhaupt auf der Welt sind. Das war für die jüngeren etwas anstrengend.« Wenn ihr Interesse an einem Lesekreis habt: Wir freuen uns über jeden neuen Besucher. Das Buch gibt es als Prämie für ein marx21-Abo, ansonsten im Buchhandel oder direkt beim VSA-Verlag (vsa-verlag.de).

(1998) (1773) (1236) (1130) (1054) (887) (708) (687) (564) (545)

Insgesamt waren 11.077 Besucher im August (10.085 im Juli) auf marx21.de

ABO KAMPAGNE Stand: 868 (+29)

Ziel: 1000


ARNOS KOLUMNE

Zeit zum Erwachen Massenproteste in Spanien und Griechenland, rebellierende Jugendliche in Großbritannien – auf dem ganzen Kontinent geht es rund. Nur der Europäische Gewerkschaftsbund befindet sich im Tiefschlaf Von Arno Klönne ★ ★★

Arno Klönne ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21.

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icht nur in Nordafrika und in Israel wird sozial rebelliert, auch in europäischen Ländern wächst der Protest derjenigen an, denen kapitalistische Politik eine menschenwürdige Existenzweise verweigert oder entzieht. Und die europäische Gewerkschaftsbewegung? Sie bewegt sich nicht, viele ihrer professionellen Funktionäre setzen immer noch auf Partnerschaft mit dem Spitzenmanagement. Sechzig Millionen Mitglieder aus verschiedenen Ländern repräsentiert der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) als Dachverband. Als »die Stimme der europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer« weist er sich selbst aus. Aber diese Stimme ist schwach und in den aktuellen, sich verschärfenden sozialen Konflikten zumeist gar nicht zu hören. Es ist nicht so, als seien die üblichen Aktivitäten des EGB sinnlos: die Bemühungen, ein europaweites Arbeitsrecht zu entwickeln oder europäische Strukturen bei den Betriebsräten multinationaler Unternehmen zu schaffen. Auch initiiert der EGB gelegentlich länderübergreifende Demonstrationen für ein »soziales Europa«. In die gegenwärtige Auseinandersetzung um die künftigen Kräfteverhältnisse der sozialen Klassen in Europa jedoch greifen solche Formen der politischen Teilnahme nicht ein. Der EGB hat sich ausgerichtet auf den »sozialen Dialog«, auf das sozialpartnerschaftliche Aushandeln im Raum der Verbände und Institutionen. Wo sich öffentliche Empörung äußert, massenhaft und zugespitzt, fällt er höchstens durch Abwesenheit auf.

Gewerkschaften haben in Europa sehr unterschiedliche nationale Traditionen

Zweifellos steht jeder Versuch, die Interessen national organisierter Gewerkschaften auf der europäischen Ebene zusammenzuführen und in eine »Bewe-

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gung« umzusetzen, vor großen Schwierigkeiten. Die multinationalen Konzerne und Banken haben es da leichter, sie müssen aufs jeweilige »Vaterland« keine Gedanken verschwenden. Das Kapital hat einen Mobilitätsvorteil gegenüber der lohnabhängigen Arbeit. Gewerkschaften haben in Europa sehr unterschiedliche nationale Traditionen und Formen, das Arbeitsrecht ist überwiegend national ausgestaltet, die Europäische Union ist schon von ihrer Entstehungsgeschichte her ein Instrument politischer Interessen der Kapitalseite – nicht eine Einrichtung zum Wohle der lohnabhängig Beschäftigten. Die Konkurrenz um nationale »Standorte« ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine bittere Realität. Aber exakt das ist die wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften: Konkurrenzdenken und -handeln auf der Seite der Lohnarbeit abzubauen und zu überwinden – in den einzelnen Branchen, in den Ländern und zwischen den Nationen. In der Geschichte der Arbeiterbewegung finden sich Beispiele dafür, dass dies gelingen kann, wenn konkrete Ziele sichtbar werden. Der 1. Mai wurde international zum Kampftag der Arbeiterschaft mit der gemeinsamen Forderung: Acht Stunden schuften pro Tag – mehr nicht. Sozialer Protest auch in europäischen Ländern, und hier nicht nur in Spanien, ist derzeit vor allem die Sache junger Menschen, denen die herrschende Ökonomie und Politik die Zukunft verdirbt. Ganze Teile der jungen Generation werden abgehängt von der Aussicht auf eine anständig entlohnte Arbeit. Dass gute Ausbildung vor einem solchen Schicksal bewahre, stellt sich als Märchen heraus. Fällig wäre also eine gesamteuropäische Kampagne der Gewerkschaften gegen Jugendarbeitslosigkeit, für eine gesetzlich ver-


Proteste von Studierenden in Barcelona. Das sind die Bilder, die Die Zeit vom »Aufstand der Jugend« sprechen lassen. Der Europäische Gewerkschaftsbund glänzt mit Abwesendheit

Bei den Gewerkschaften in Europa melden sich jetzt einzelne zu Wort, die in diese Richtung zielen. Das DGB-Internetmagazin Gegenblende, sonst eher akademischen Erörterungen zugeneigt, bringt einen Beitrag des norwegischen Gewerkschaftsaktivisten Asbjorn Wahl, in dem es heißt: »Europaweit herrschen anti-soziale Politiken vor, einschließlich scharfer Angriffe auf Gewerkschaften, Löhne, Alterssicherung und wohlfahrtstaatliche Leistungen. Während somit Arbeitgeber und Regierungen vollständig mit den konsensorientierten Politiken der Nachkriegszeit brechen, klammern sich viele Gewerkschaften immer noch an die Illusion einer funktionierenden Sozialpartnerschaft, in der sich vernünftige Arbeitgeber durch Argumente überzeugen lassen würden (…) Wir werden angegriffen und es ist höchste Zeit, dagegen zu halten (…) Wir müssen die unterstützen, die kämpfen, und ihrem Beispiel folgen.« Wahl, Funktionär der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft und Initiator der »Kampagne für den Wohlfahrtstaat« in Norwegen, plädiert für »Gewerkschaften als unabhängige politische Akteure« und eine »europaweite gewerkschaftliche Koordination«, um jenseits des Parteienbetriebs »progressive soziale Bündnisse« zu entwickeln.

Norwegen als Beispiel: Dort wirkt seit Ende der 1990er Jahre mit Erfolg und unter Beteiligung von Gewerkschaften die erwähnte »Kampagne für den Wohlfahrtsstaat«, unabhängig von Parteien, aber mit deutlichem Effekt auf die Politik, auch auf die Wahlen und das Parlament. Sie setzt den Gegenpol zu jenem »Rechtspopulismus«, der soziale Probleme in nationale oder ethnische Ressentiments verdreht. Auch das ist ein gesamteuropäischer Konflikt. In den Staaten Europas macht sich ein durchgängiger Trend stark: systematisches Abdrängen eines wachsenden Teils der Bevölkerung in dauerhafte Armut, Wegschieben der Arbeitnehmerorganisationen ins gesellschaftspolitische Abseits, Ablenken sozialer Unzufriedenheit in nationalistische und rassistische Politikkanäle. Den Gewerkschaften in Europa, wenn sie sich weiter schläfrig verhalten, steht ein böses Erwachen bevor. Noch haben sie die Chance, sich aufzuraffen und sich einzumischen, präsent zu werden in der Auseinandersetzung um das künftige soziale Profil der europäischen Gesellschaften. Den strategischen Zentralen der Konzerne und Banken kann man Schläfrigkeit nicht nachsagen. Den demagogischen »Rettern Europas« von rechts auch nicht. Und die bequemen Zeiten der »Sozialpartnerschaft« werden nicht wiederkehren. Gemütlich wird es auch in Europa in Zukunft nicht zugehen. Vielleicht sollten Vorstand und Sekretariat des EGB mal einen Betriebsausflug machen – von Brüssel nach England oder nach Spanien. Demnächst kommen aller Wahrscheinlichkeit nach noch andere Länder dafür in Betracht. ■

ARNOS KOLUMNE

bürgte Kürzung der Regelarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich (um Arbeit »umzuverteilen«) und für einen Ausbau der öffentlichen Dienste. Und dabei wäre klarzustellen: So etwas geht nur im Konflikt mit Kapitalinteressen, nur bei Umverteilung in den Vermögensverhältnissen. Der »soziale Dialog« hilft da nicht weiter.

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»Punk ist Energie und Rebellion« Jello Biafra legte mit seiner Band Dead Kennedys den Grundstein für die amerikanische Punkszene und beeinflusste Generationen von Musikern. Mit seiner neuen Band The Guantanamo School of Medicine ist er nicht minder angriffslustig. Ein Gespräch über langweilige Bands, die Tea Party und einen entzauberten Präsidenten

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KULTUR

© Montecruz Foto


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KULTUR

Jello Biafra

Jello Biafra ist ein US-amerikanischer Hardcore- und Punkrockmusiker. Von 1978 bis 1986 war er Sänger der Dead Kennedys, später arbeitete er als Solokünstler. Ende der 1970er Jahre gründete er das Underground-Plattenlabel Alternative Tentacles. Biafra ist aktives Mitglied der Green Party in den USA.

ello, du bist seit mehr als 30 Jahren einer der wohl aktivsten politischen Musiker. Bevor wir über dein neues Album sprechen, würden wir gerne wissen, warum deine neue Band The Guantanamo School of Medicine heißt. Der Name soll daran erinnern, dass das Gefangenenlager in der Guantánamo Bay noch immer existiert, obwohl Barack Obama versprach, es zu schließen. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass er als Staatsoberhaupt versagte. Was ich wirklich erschreckend finde, ist, dass die Regierung keinerlei Anstrengungen unternimmt, die Kriegsverbrecher der Bush-Administration der Justiz zuzuführen. Das Problem ist, dass diese Leute bei den kommenden Präsidentschaftswahlen entweder in einem oder in fünf Jahren wieder an die Macht gelangen könnten. Und wenn sie nicht jetzt für die begangenen Kriegsverbrechen und andere Missetaten zur Rechenschaft gezogen werden, wird dann alles noch schlimmer. Denn dann wissen sie, dass sie mit allem durchkommen. Aus diesem Grund heißt unser neues Album »Enhanced Methods of Questioning« (»Verbesserte Befragungsmethoden«). Das ist die von der BushRegierung verwendete Bezeichnung für verschiedene Arten der Folter, wie das Waterboarding.

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eit Mai ist euer neues Album erhältlich. Kannst du uns mehr über die Musik erzählen? Das Herz und die Seele meiner Musik ist Punkrock. Aber Musik ist dazu da, den Horizont zu erweitern. Deswegen verarbeite ich alle möglichen musikalischen Stilrichtungen wie Rock oder Surfmusik. Als Punk vor mehr als 30 Jahren entstand, war er als etwas vollkommen Neuartiges gedacht, um das Korsett der langweilig gewordenen 70er-Jahre-Rockmusik abzulegen. Heute wird genau diese Musik »oldschool« genannt und hemmungslos kopiert, anstatt wieder etwas Neues zu entwickeln. Daher klingen manche Punkbands von heute einfach ziemlich langweilig. Ich bin stolz darauf, dass sich keine zwei Alben von mir gleich anhören. Bei mir wird es immer Überraschungen geben. Ich habe so viele Einflüsse und bevor es Punk gab, war ich ein richtiger HardcoreHippie. An Punkrock begeisterten mich die Energie und die Rebellion in der Musik. Als diese Musikrichtung immer mehr

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Anhänger fand und richtig abging, begriff ich, dass ich nicht zu spät geboren war, sondern genau zur richtigen Zeit.

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u wurdest 1958 geboren, bist also heute 53 Jahre alt und giltst als einer der Veteranen des Punkrock. Wie kamst du zu dieser Bewegung? In den 1960ern war ich noch nicht an Punk interessiert. Mein Ding waren später die härteren Garage Bands: Also die frühen Rolling Stones oder später Steppenwolf. Es ist erstaunlich, wie sehr manche Bands heute teilweise in Vergessenheit geraten sind, vor allem in Anbetracht der Tatsache, wie enorm einflussreich sie damals waren. Ich weiß, dass sie auch in Deutschland sehr groß waren. Als Teenager entdeckte ich dann The Stooges, MC5 und den Detroit Sound. Ich stand eigentlich immer auf das Krasseste. Und so um 1977 herum wurde das dann plötzlich Punk genannt. Doch die Punk-Attitüde, die wilde Energie, hat ihre Wurzeln bei den Beatpoeten (Beatniks), dem Rock ’n’ Roll von Little Richard, bei Oscar Wilde oder bei der antifaschistischen Widerstandsgruppe Weiße Rose. Es ist die gleiche Art von rebellischem Geist. Aber ich habe Punk niemals als »Bewegung« gesehen. Er ist eine Kultur, eine große, rebellische Kultur, die wir alle lieben, die uns inspiriert. Aber »Bewegungen« sind politisch, sie haben ein Ziel vor Augen oder hoffentlich wenigstens eine Vorstellung davon, wie eine mögliche Veränderung aussehen sollte. Aber wenn Punk eine Bewegung wäre, was wäre dann sein Ziel? Ich glaube auch nicht, dass die Hippies in den 1960ern eine wirkliche Bewegung waren. Auch das war eine Kultur, die jedoch viel Kraft und Energie in den Kampf für Menschenrechte brachte, in die Anti-Kriegs-Bewegung, den Kampf gegen Rassismus, für das Recht auf Abtreibung und schließlich auch in den Umweltschutz. Das alles sind Bewegungen. Punk ist eine Kultur.

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u hast dich immer für politische Bewegungen eingesetzt und engagiert. Auf deiner Homepage (www.alternativetentacles.com, Anm. d. Red.) kann man jetzt einen offenen Brief an Barack Obama lesen. Er klingt verbittert. Nennt mich verrückt, aber ich war so kühn zu hoffen, dass Obama vielleicht wirklich etwas verändern könnte. Obwohl ich nicht für ihn gestimmt habe, weil ich denke, dass er sich im Senat viel zu sehr für die


»Nennt mich verrückt, aber ich war so kühn zu hoffen, dass Obama vielleicht etwas verändern könnte«

»The Audacity of Hype« (Mut zum Spektakel) ist das erste Album von Jello Biafras neuer Band. Der Name parodiert Barack Obamas Buch »The Audacity of Hope« (Mut zu Hoffnung)

Belange der Konzerne und des schmutzigen Bush-Regimes einsetzt. Die USA sind heute ein echter Einparteienstaat, maskiert als Zweiparteiensystem. Du kannst wählen wen du willst, das System arbeitet wie ein Münzautomat: Du wirfst eine Münze in den Soda-Automaten, drückst den Knopf und es kommt auf jeden Fall Soda heraus. Du steckst deine Münze in die Politikmaschine und heraus kommen noch mehr Gesetze, die den Reichen und den Konzernen mehr Geld einbringen. Momentan stehen die Republikaner für Gier, Korruption, Umweltverschmutzung und Krieg. Die Demokraten stehen für das Gleiche, nur geben sie vor, dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Das ist der einzige Unterschied. Wir wählen den Präsidenten anhand seiner Fernsehauftritte. Wir wählen das hübschere Gesicht. Um zu erken-

nen, was in Amerika los ist, muss man nur betrachten, welcher Zensur die Medien unterliegen. Ich war schockiert, wie groß die Unterschiede beispielsweise nach dem 11. September 2001 waren. Kurz nachdem die Flughäfen wieder geöffnet waren, begann unsere Europatournee in Wien. Zu meiner Überraschung konnte ich feststellen, wie viel besser die Medieninformationen in Europa im Vergleich zu denen in den USA waren. Die Menschen wussten viel mehr über das Thema und es gab verschiedene Ansichten dazu – anders als im Rupert-Murdoch-Land. Ich dachte nur: »Holy shit! Amerikanische Medien orientieren sich viel enger an der Sowjetunion und der ›Prawda‹, als ich das je für möglich gehalten hätte.« Jetzt, zehn Jahre später, ist alles noch viel schlimmer. Vor allem die Fernsehnachrichten gleichen einer Cartoonshow. Sie suchen sich

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© Jessie Reeder

Demonstranten besetzen wochenlang das Capitol in Madison, Wisconsin. Biafra kritisiert, dass solche Proteste in den Nachrichten nahezu untergehen eine einzige Geschichte heraus und berichten ausschließlich darüber. Ansonsten reißen sie Witze über Sarah Palin, anstatt über Themen zu berichten, die für die Menschen wichtig wären. Dadurch wird nicht nur die Öffentlichkeit abgelenkt, es wird dafür auch wertvolle Sendezeit verschwendet. Selbst die Moderatoren der großen TV-Stationen, die sich für eher fortschrittlich halten, tun in der Realität genauso viel für Palin und die Tea Party wie Murdoch selbst.

»Schließ dich einer größeren Organisation an. Auch wenn du nicht immer mit all ihren Ansichten übereinstimmst«

I

n den deutschen Medien wird nahezu gar nicht über die ökologischen und politischen Konsequenzen aus der schrecklichen Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko berichtet, die im vergangenen Jahr die Welt bewegte. Wie sieht das bei euch aus? Nicht so, wie es zu erwarten wäre. Als das Öl in den Golf von Mexiko strömte, war es – abgesehen von Charlie Sheens Drogenproblemen – das einzige Thema sowohl im Fernsehen als auch in den Zeitungen. Doch irgendwann wurde es langweilig und die Medien wechselten das Thema. Die Reporter von CNN und allen anderen Sendern packten ihre Sachen und zogen zum nächsten Schauplatz. Seitdem ist fast nichts geschehen. Niemand von BP wurde irgendwie zur Re-

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chenschaft gezogen. Der Tenor in den Medien lautet: »Keine Sorge, das Öl war von anderer Konsistenz als damals in Alaska, das Wasser war wärmer, daher hat sich das Öl aufgelöst und alles ist wieder in Ordnung.« In dem seltenen Fall, dass wirklich einmal ein Fischer mit ökologischem Sachverstand zu Wort kommt, hört man dann eine ganz andere Geschichte. Die ganze Gegend ist total verseucht und wird das auch für sehr lange Zeit bleiben. Was die Medien überhaupt nicht erzählen: Klammheimlich erlaubt Obama schon wieder die Erschließung neuer Ölquellen im Golf. Es wird einfach nichts zur Verhinderung eines erneuten Unglücks dieser Art

unternommen. Es gibt einige unscheinbare Bemühungen, den Ölverbrauch der Bevölkerung zu senken, aber im Endeffekt erhalten die Ölunternehmen sogar noch Geld vom Staat, das dieser vom Bildungsund Sozialwesen abzieht. Es wird schlimmer und schlimmer und Obama sieht dabei nur zu. Die Ölkatastrophe hält also an. Vor kurzem war ich in New Orleans. Die Menschen dort sind sehr unglücklich, viele Wohngebiete wurden nach dem Hurrikan Katrina nicht wieder aufgebaut. Das Krankenhaus in der Innenstadt steht noch genauso verwüstet da, mit eingeschlagenen Scheiben und verbarrikadierten Türen. Anstatt die dringend benötigte Klinik wiederzueröffnen, wurde eine neue teure in einem wohlhabenden Stadtteil gebaut. Die haben kein Problem mit einem auf Höchstprofit orientierten Gesundheitssystem. Deshalb ist es wichtig, wählen zu gehen, obwohl die landesweiten Wahlen nichts sind als ein Puppentheater. Es lässt sich aber immer noch entscheiden, wer Bürgermeister wird, wer im Stadtrat sitzt, wer über die regionalen Belange der Bevölkerung entscheidet.

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in relativ neues Phänomen ist die Tea-Party-Bewegung. Wie schätzt du sie ein?


Hände (die Koch Brothers übrigens) geben will, findet das so gut wie keine Erwähnung in den Nachrichten. Auch über die Arbeitskämpfe in Michigan und Ohio wird kaum berichtet. Man hat den Eindruck, es geschähe gar nicht. Eine andere Form des Widerstands, die niemals in den Medien auftaucht, ist nach einer Pfändung das eigene Haus zu besetzen, bevor die Bank es sich zurückstehlen kann. Howard Stern berichtet, das hätte schon in den 1930er Jahren, während der letzten großen Depression, gut funktioniert. Aber wann immer sich Menschen erfolgreich wehren, findet es in unserem Nachrichtensystem keine Erwähnung. Was man aber meiner Meinung nach nur tun müsste, um die Schulden abzubauen und die Neuverschuldung zu stoppen, ist die Steuern für die Reichen zu erhöhen. In den USA jammern alle über die schreckliche Schuldenlast und Obama verkündet, dass man dafür eben das Budget zusammenstreichen muss. Müssen wir aber eigentlich überhaupt nicht. In den 1950er Jahren betrug der Spitzensteuersatz 91 Prozent! Der erste Präsident, der diesen Satz drastisch senkte, und zwar auf 76 Prozent, war ausgerechnet John F. Kennedy. Unter Ronald Reagans Regime wurde er weiter auf 50 Prozent gesenkt – genau zu jener Zeit, als der Präsident ankündigte aus Kostengründen die Sozialhilfe abzuschaffen. Schließlich, unter George W. Bush, wurde die Spitzensteuer auf 39 bis 35 Prozent gesenkt. Rauf mit diesen Steuern und das Problem wäre gelöst! Eine weitere Methode zum Schuldenabbau wäre, das Militärbudget zu beschneiden oder am besten gleich auf Null zu kürzen.

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at der desaströse Krieg in Afghanistan direkte Auswirkungen auf das amerikanische Wahlverhalten? Gibt es eine neue Friedensbewegung? Leider ist sie nicht mehr so gut organisiert und lange nicht so stark wie zu Bushs Zeiten. Es ist immer das Gleiche. Die Men-

schen denken sich: »Okay, Obama ist Präsident, da ist alles gut und ich muss nicht mehr das System bekämpfen.« Und sie unternehmen nichts. Sie bleiben auf ihren Hintern sitzen und die Tea Party bekommt die ganze Aufmerksamkeit der Medien. All die Menschen, die Obama einst in die Wahllokale lockte, die so von ihm begeistert waren und für ihn stimmten, werden sich wieder verkriechen und aus Enttäuschung nie wieder wählen. Die Rechtsextremen und die Christlich-Konservativen jedoch bleiben bei der Stange, gehen fleißig wählen und ermöglichen immer neue Wege, die Armen zu schröpfen. Das ist einer der Gründe, weshalb die Tea Party momentan so erfolgreich ist. Die Menschen wieder aufzuwecken, sie für Politik zu interessieren und zur Teilnahme an den Regionalwahlen zu bewegen, darin sehe ich meine Aufgabe. Und wenn die Menschen denken, es wäre aussichtslos, gegen die Konzernherrschaft zu kämpfen, gegen Krieg und gegen die Zerstörung der letzten noch bestehenden Überbleibsel des Sozialstaats, muss ihnen aufgezeigt werden, dass es immer noch im Kleinen verschiedene Alternativen des Kampfes gibt, zum Beispiel Produkte dieser Konzerne zu meiden oder nach Möglichkeit nicht bei ihnen zu arbeiten. Nicht zu vergessen all die Wege bis hin zur Sabotage, die uns durch das digitale Zeitalter ermöglicht werden. Ich bekomme viele Briefe, in denen es sinngemäß heißt: »Jello, ich bin jung und will die Welt verändern, ich werde eine Organisation gegen die Zensur gründen oder gegen den Krieg.” Ich antworte immer: »Nein, tu das nicht! Gründe nicht selbst eine Organisation, sondern schließ dich einer größeren, schon bestehenden an. Auch wenn du nicht immer mit all ihren Ansichten übereinstimmst, findest du hier eine Basis und viele Leute, die dir helfen können.« Die Fragen stellten Julia Dobberstein und Stephanie Hanisch

CD TIPP / Enhanced Methods of Questioning Im Sommer ist das neue Album von Jello Biafra and the Guantanamo School of Medicine erschienen. Es heißt »Enhanced Methods of Questioning«, was auf Deutsch so viel bedeutet wie »verbesserte Befragungsmethoden«. Das war die von der BushRegierung verwendete Bezeichnung für verschiedene Arten der Folter.

KULTUR

Die Tea Party ist, obwohl das Gegenteil behauptet wird, keine Graswurzelbewegung. Sie wurde initiiert von rechtsgerichteten Stiftungen und Personen wie den berüchtigten Koch Brothers. David und Charles Koch stecken seit 40 Jahren Unmengen Geld in rechts orientierte Studiengruppen und Organisationen. Sie initiieren gefakte »Graswurzelgruppen«. Viele der Personen, die auf die Lügen der Tea Party hereinfielen, sind im Grunde Menschen wie du und ich, sie könnten eigentlich auf unserer Seite stehen. Sie haben Angst um ihre Jobs, um ihre Wohnung, sie fürchten um die Ausbildung ihrer Kinder. Diese ganze verlogene Kampagne wird also organisiert von Reichen für die Ärmeren, damit diese sich weiter ängstigen, die Bedrohung aber nicht bei den Reichen suchen, sondern bei Migranten, Menschen mit anderer Hautfarbe oder sozial noch schlechter gestellten. Damit entwickelt sich die Tea Party ähnlich wie die französische Front National oder die extrem rechten Parteien, die gerade bei euch in Deutschland versuchen einen Fuß in die Tür zu bekommen. Die gleiche Taktik, die gleiche ausländerfeindliche Rhetorik. Und sie wollen alle Steuern abschaffen, bis auf die natürlich, durch die sie finanziert werden. Ist es nicht verrückt, dass Menschen, die sich ängstigen, ihren Job an einen Mexikaner zu verlieren, absolut dafür sind, dass Millionäre Steuererleichterungen bekommen? Ich sage immer über die Tea Party: »Na ja, irgendjemand muss ja für die Dummen da sein!« Aber natürlich sind nicht alle Anhänger der Tea Party dumm, vielmehr sind sie verängstigt und deshalb leider leicht von organisierten Rassisten und migrantenfeindlichen Gruppierungen zu manipulieren, die ihre finanzielle Unterstützung von rechtsradikalen Milliardären erhalten. Der Grund für die Rockstar-Behandlung, die die Medien der Tea Party und den rechtsgerichteten Politikern zukommen lassen, ist einer organisierten Bewegung vorzubeugen, die ihnen tatsächlich schaden könnte. Wenn die Tea Party mal 50 Leute zu einer Veranstaltung zieht, wird das sofort in allen Nachrichten erwähnt. Wenn in Wisconsin über eine Million Menschen gegen den Gouverneur protestieren, der die Gewerkschaft der Staatsangestellten verbieten, das öffentliche Schulsystem abschaffen und das gesamte Stromnetz in private

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Klassiker des Monats

Selbst machen Häufig wird Lenin als fieser Diktator präsentiert. Sein kurzes Büchlein »Staat und Revolution« zeigt den russischen Sozialisten hingegen ganz anders: als einen Theoretiker der Demokratie, der erstaunlich aktuell ist Von Alexander Schröder ★ ★★

Alexander Schröder studiert Sinologie an der Universität Köln und ist Mitglied von Die Linke.SDS.

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roßbritannien, Anfang August: In verschiedenen Städten kommt es zu Aufständen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Über eintausend Menschen werden verhaftet, einige sterben sogar. Auslöser der Proteste war die Tötung eines Mannes durch die Polizei. Die sozialen Hintergründe sind Frust und Perspektivlosigkeit einer Bevölkerung, deren Freiheit und Entwicklung gehemmt wird. Der britische Staat unterdrückt den Protest seiner unzufriedenen Bevölkerung. Genau darum geht es auch in Lenins kurzer Broschüre »Staat und Revolution«. Der russische Sozialist verfasste den Text im August und September 1917 in einer Laubhütte im finnischen Exil. Wenige Monate zuvor hatte die Revolution in Russland begonnen. Die alte Ordnung schlug zurück, ließ Sozialisten von der Polizei und Armee verfolgen. Verkleidet und ohne den charakteristischen Bart floh Lenin über die Grenze. Fertig wurde er mit seinem Buch nicht – im Herbst setzte sich die Revolution fort, Lenin reiste zurück nach Petrograd und schrieb fast entschuldigend: »Allerdings wird der zweite Teil dieser Schrift wohl auf lange Zeit zurückgestellt werden müssen; es ist angenehmer und nützlicher, die ›Erfahrungen der Revolution‹ durchzumachen, als über sie zu schreiben.« Besonders originell ist das Buch nicht – Lenin trägt einfach zusammen, was bereits andere, im Wesentlichen Karl Marx und Friedrich Engels, über die Natur des Staates gesagt haben. Auch der knochentrockene Stil ist gewöhnungsbedürftig – ehrliches Handwerk

statt großer Literatur. Die Stärken von »Staat und Revolution« liegen im Inhalt und der klaren Struktur. Lenin setzt sich hauptsächlich mit einer weit verbreiteten Position auseinander: Der Staat ist neutral, ein bisschen wie ein Fahrrad – je nachdem, wer darauf sitzt, kann es nach rechts oder nach links fahren. Das ist bis heute das Staatsverständnis der Sozialdemokratie. Lenin ist anderer Meinung: Die Gesellschaft sei in Klassen gespalten, deren Interessen nicht miteinander vereinbar sind. Der Staat einer solchen Gesellschaft habe im Wesentlichen zwei grundlegende Aufgaben: Zum einen leite er den Klassenkonflikt in formale Bahnen, das heißt Konflikte werden meist nach gesetzlich fixierten Regeln ausgetragen. Zum anderen sichere er die bestehende gesellschaftliche Ordnung und damit die Position der momentan Herrschenden. Somit sei der Staat das »Organ der Herrschaft einer bestimmten Klasse«. Lenin zählt dazu Polizei und stehendes Heer, auch allgemein Beamte, Richter, Gefängnisse und »Zwangsanstalten aller Art«, die gemeinsam die »öffentliche Gewalt« des Staates bilden und sich der Kontrolle durch die Masse der Bevölkerung entziehen. In der Klassengesellschaft braucht die ausbeutende Minderheit Unterdrückungsmechanismen, sprich einen Staatsapparat, um ihre gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten Das gelte auch für parlamentarische Demokratien. Letztere ist als Staatsform durchaus ein immenser Fortschritt in der Geschichte und daher verteidigenswert. Doch Lenin verweist aber auf die Begrenztheit

Der geradezu libertäre Grundton des Buches ist verblüffend


Trotzki, Lenin und Kamenew auf der Rednertribüne nach einem Auftritt vor Rotarmisten im Jahr 1920. Die Revolution umzusetzen war ihnen wichtiger als weiter darüber zu schreiben eigene Organe ersetzen und einen eigenen, aber demokratischeren Staat aufbauen, wie es in der Pariser Kommune durch diverse Maßnahmen ansatzweise geschehen war: Abschaffung des stehenden Heeres und Bewaffnung des Volkes; Schaffung eines Rätesystems, in dem gesetzgebende und ausführende Gewalt vereint waren und in dem Delegierte aus der Arbeiterklasse überwogen; das Prinzip der Verantwortlichkeit der Rätedelegierten gegenüber den Wählern und ihrer jederzeitigen Abwählbarkeit; die Begrenzung aller Beamtengehälter auf den durchschnittlichen Arbeiterlohn; deren Kontrolle durch die Räte und weitere revolutionäre Maßnahmen. Die Kommune wurde niedergeschlagen, ihr Beispiel prägt die marxistische Staatstheorie aber bis heute. »Staat und Revolution« hat durch die systematische Zusammenstellung der Kernaussagen des Marxismus einiges dafür geleistet. Gerade in Hinblick auf die Diktatur, die Jahre später in Lenins Namen in der Sowjetunion errichtet wurde, verblüfft der geradezu libertäre Grundton des Buches. Manche Kritiker behaupten deshalb, Lenin habe »Staat und Revolution« gar nicht ernst gemeint, sondern nur geschrieben, um sich anderen radikaldemokratischen Strömungen anzubiedern und so die Macht zu erringen. Dagegen spricht, dass das Buch erst nach der Revolution veröffentlicht wurde, als die Machtfrage schon zugunsten der Bolschewiki entschieden war. Solange wir aufmarschierende Polizeikohorten im Fernsehen sehen, sei es in Athen, Kairo oder London, so lange lohnt sich der Griff zu »Staat und Revolution«. ■

★ ★★ DAS BUCH W. I. Lenin: Staat und Revolution, in: Ders.: Ausgewählte Werke, Band 3, Ostberlin 1970, S. 461-584. Online unter: http:// tiny.cc/leninstaat. Für Smartphone-Benutzer Bildcode scannen, etwa mit der App »Scanlife«.

KLASSIKER DES MONATS

der Demokratie im Kapitalismus: »Die modernen Lohnsklaven bleiben infolge der Bedingungen der kapitalistischen Ausbeutung so von Not und Elend bedrückt, dass ihnen ›nicht nach Demokratie‹, ›nicht nach Politik‹ der Sinn steht, sodass bei dem gewöhnlichen, friedlichen Gang der Ereignisse die Mehrheit der Bevölkerung von der Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben ausgeschlossen ist.« Dass diese Feststellung noch immer aktuell ist, auch in Ländern wie Deutschland, die ein Sozialstaatssystem besitzen und Teilhabe an politischen Prozessen ermöglichen, haben mehrere Umfragen gezeigt. Ein Beispiel: In einer Studie des Münchner Meinungsforschungsinstitut »polis + sinus« für die SPD-nahe Friedrich-EbertStiftung aus dem Jahr 2008, sagten vier von zehn Befragten, dass die Demokratie nicht funktioniere. Rund 30 Prozent gaben an, die Demokratie funktioniere »weniger gut«. Sechs Prozent meinten, sie wäre »schlecht«. 22 Prozent sagten, die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik sei nicht verteidigenswert. Lenin schwebte eine wesentlich radikalere Demokratievariante vor als die parlamentarische. Als Vorbild diente ihm wie auch Marx die Pariser Kommune von 1871. Damals übernahm die Bevölkerung der französischen Hauptstadt für einige Zeit die Verwaltung eines komplexen Gemeinwesens. Lenin zitiert wesentliche Schlussfolgerung aus der Kommune, die Marx gezogen hatte: »Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen.« Sie müsse vielmehr im Rahmen ihrer Selbstermächtigung die alten Unterdrückungsorgane durch

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Geschichte hinter dem Song

The Specials: »Ghost Town« Von Yaak Pabst

The Specials gelten als Erfinder des 2-Tone Sound – sie mixten jamaikanischen Ska und Rocksteady mit der Energie und der Attitüde des Punk. Mit dem Song »Ghost Town« vertonte die Band im Jahr 1981 den wirtschaftlichen Niedergang Großbritanniens und kreierte damit den Soundtrack zur Revolte gegen die Thatcher-Regierung

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m 4. Mai 1979 übernimmt mit Margaret Thatcher zum ersten Mal in der Geschichte Großbritanniens eine Frau das Amt des Premierministers. Sie steht für einen harten konservativen und wirtschaftsfreundlichen Kurs: Sie will keinen Sozialstaat, hasst die Gewerkschaften und attackiert Migranten. Vor den Parlamentswahlen behauptete sie: »Es ist keine Frage von links oder rechts, sondern eine sachliche Feststellung, dass wir nicht zu wenige sondern eher zu viele Ausländer haben.« Kaum an der Regierung verordnet die »Eiserne Lady« dem Sozialsystem ein rigides Kürzungsprogramm und verschlechtert die Aufenthaltsrechte für Migranten. Im Verlauf ihrer Regierungszeit privatisiert sie so gut wie alle Staatsbetriebe – von den Schiffswerften und Stahlwerken über die Kohlegruben und Flughäfen bis zur lokalen Trinkwasserversorgung und dem öffentlichen Nahverkehr. Nach nicht einmal zwei Jahren im Amt ist die Thatcher-Regierung eine der Unbeliebtesten in der britischen Geschichte. Kein Wunder: In Thatchers Großbritanni-

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en feiern die Reichen, die Armen werden ärmer. Im Jahr 1981 sind mehr als doppelt so viele Menschen ohne Job wie bei Thatchers Amtsantritt: Insgesamt gibt es 2,7 Millionen Arbeitslose. Die Wirtschaftskrise trifft die britischen Großstädte ins Herz. Die ehemals florierenden Handelsstädte London, Glasgow, Liverpool und Manchester schrumpfen: Leer stehende Lagerhäuser, verwahrloste Docks, verkommenen Eisenbahngelände, vernagelte Läden und unbewohnte Häuser. Jerry Dammers, Gründer und Keyboarder von The Specials und Komponist von »Ghost Town«, erzählt: »Wir tourten durchs ganze Land und wir konnten sehen, was los war. Ich erinnere mich wie wir nach Liverpool fuhren und ich sah, dass viele Geschäfte mit Brettern vernagelt waren. Als wir in Glasgow ankamen sah ich dort Menschen, die aus Verzweiflung ihre Wohnungseinrichtung auf der Straße verkauften. So etwas hatte ich nie zuvor gesehen.« In »Ghost Town« verarbeiten The Specials diese Eindrücke musikalisch. Das Lied startet mit heulenden Sirenen, klirrendem Windpfeifen und einem schummrigen Orgelsound: Willkommen in der Geisterstadt. Die Querflöte haucht das Songthema durch die Boxen. Spätestens jetzt denkt jeder an verlassene Straßen, eingestürzte Häuser und klappernde Fensterläden. Doch dann unterbrechen aufgeladene Bläser krachend die Szene, als wollten die Specials sagen: »Wach auf! Das hier ist kein Traum. Du befindest dich nicht in irgendeiner verlassenen Wild-West-Touristen-Geisterstadt. Das hier ist die Realität.« Die Band spielt einen klassischen Reggaedub: Die helle Gitarre kontert den dunklen Bass. Durch die Betonung des zweiten und vierten Taktteils entsteht der unverkennbare Grundrhythmus des Reggae. Das Schlagzeug, die Bläser und die Orgel kommen hinzu, doch der Sound bleibt

minimalistisch. Die Specials arbeiten mit Kontrasten. Über den »Gute-Laune-Riddim« propagieren die Sänger ihre ernste Botschaft: »In diesem Land gibt es keine Jobs« und »Die Regierung lässt die Jugendlichen im Stich« ruft eine Stimme. »Die Leute werden wütend«, dröhnt eine andere. Vierzehn Zeilen reichen den »Specials«, um eines der besten sozialkritischen Kommentare der Popgeschichte zu verfassen. Auch wenn der Text Thatcher mit keinem Wort erwähnt, wird das Lied zum Protestsong gegen die »Eiserne Lady«. Es entwickelt politische Sprengkraft, nicht weil der Text besonders radikal ist, sondern weil er treffend die Lebensrealität von Millionen Jugendlichen dokumentiert. Drei Wochen nach Veröffentlichung des Songs beginnt das, was als »Summer of Discontent« in die englischen Geschichtsbücher eingeht: Zwischen dem 3. und 11. Juli 1981 entladen sich Wut und Frustration über Armut, Arbeitslosigkeit und Polizeiwillkür. Zehntausende schwarze und weiße Jugendliche liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die Riots breiten sich über den Londoner Stadtteil Brixton nach Liverpool und Birmingham, Manchester, Derby, Blackburn, Bradford, Leeds und Leicester aus. Während das offizielle Großbritannien die Hochzeit von Diana Spencer und Prinz Charles im Sommer 1981 als die wichtigste Nachricht feiert, bahnt sich der Protest der Jugend seinen Weg von der Straße in die Charts. Einen Tag nach dem Abflauen der Kämpfe klettert »Ghost Town« auf Platz eins der englischen Singlecharts. Eine Million Tonträger werden die Specials von »Ghost Town« verkaufen. Zu dieser Zeit sind die Mitglieder der Specials bereits Stars in England. Im Jahr 1977 unter dem Namen »The Coventry Automatics« gegründet, haben sie in den da-


Die 2-Tone-Ska-Band The Specials ebnete den Weg für die multiethnische Musik in Großbritannien

rauffolgenden Jahren mit ihrem neuen Sound die Tanzbeine und musikalischen Herzen einer ganzen Generation erobert. Von Beginn an sind The Specials eine politische Band. 1978 touren sie als Support der Punkband The Clash und spielen mit ihnen beim ersten »Rock against Racism«Festival. The Specials wenden sich gegen rassistische Vorurteile, nicht nur in ihren Texten sondern auch durch die Tatsache, dass die Band selbst schwarze und weiße Musiker vereint. Anstatt ihre Musik von einem Majorlabel produzieren zu lassen, gründet der Specials-Keyboarder

Jerry Dammers das Indielabel »2-Tone«. Markenzeichen ist das schwarz-weiße Schachbrettmuster, das die anti-rassistische Haltung unter Vertrag stehender Bands symbolisiert. Das Logo des Labels: Ein junger Mann namens Walt Jabsco, der in typisch jamaikanischen Rude-BoyStil gekleidet ist: schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte, Pork-Pie-Hut, weiße Socken und schwarze Schuhe. Als die Specials 1979 ihre erste Single in Eigenfinanzierung veröffentlichen, ist mit ihnen eine neue Jugendkultur entstanden. Zehntausende kleiden sich schwarz-weiß und tanzen zu ihrem Ska-Beat oder dem anderer Bands des »2-Tone«-Labels wie The Beat, die Bad Manners oder Madness. Unter dem »2-Tone«-Banner versammeln sich die Kids der englischen Arbeiterklasse. Der Eintritt zu den Konzerten ist für jeden erschwinglich, die Liveauftritte voller Energie und Rebellion. Bei jedem Konzert der Specials stürmen nach ein paar Liedern die Fans auf die Bühne, um gemeinsam mit der Band den »Moonstomp« zu tanzen. Dass die Band mit ihrem Sound Thatchers No Future-Jugend begeistert, liegt vor allem daran, dass die Texte offen

aussprechen, was ist. Fünf Top-10-Singles und zwei Nummer-1-Platzierungen zwischen 1979 und 1981 sprechen für sich. »Ghost Town« ist die letzte Single der Specials – die Band bricht unter dem Druck des Erfolges Ende 1981 auseinander. Trotz der kurzen Wirkungsphase ist ihr Einfluss enorm. Die sieben jungen Männer ebneten den Weg für die multiethnische Musik in Großbritannien. Das Erbe der Specials setzen heute Bands wie Asian Dub Foundationen oder The Streets fort. An Aktualität haben die Songs der Specials nichts eingebüßt. Auf die Frage, worum es in dem Song »Ghost Town« vor allem geht, antwortete Schlagzeuger John Bradbury im Jahr 1981: »Ihre Wirtschaft macht alles kaputt«. ■

★ ★★ Yaak Pabst ist Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.

GESCHICHTE HINTER DEM SONG

Unter dem »2-Tone«-Banner versammeln sich die Kids der englischen Arbeiterklasse

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Review


FILM

Taste the Waste | Regie: Valentin Thurn

Harte Kost Ein neuer Dokumentarfilm geht der Lebensmittelvernichtung in den Industriestaaten nach. Die Hungerkrise in Ostafrika verleiht ihm zusätzliche Brisanz Von Martin Haller

ie Nahrungsmittelproduktion erfährt seit einigen Jahren vermehrte Aufmerksamkeit. Das äußert sich sowohl im »Bio-Boom« in den westlichen Wohlstandsgesellschaften als auch in Protesten an der globalen Peripherie gegen die drastischen Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln. Dokumentarfilme wie »Unser täglich Brot«, »We Feed the World« oder »Good Food, Bad Food« thematisieren die sozialen und ökologischen Folgen der industriellen Produktion von Nahrungsmitteln und üben scharfe Kritik an deren globaler Verteilung. In die gleiche Richtung geht auch Valentin Thurns neuer Film »Taste the Waste«, nur dass er nicht die Produktionsverhältnisse der globalen Agrarindustrie ins Zentrum stellt, sondern sich auf die stetige Überproduktion und Vernichtung von Lebensmitteln in den kapitalistischen Zentren konzentriert. In den westlichen Industrienationen besteht ein gewaltiges Überangebot an Nahrungsmitteln: »Jedes Jahr werden in der EU 90 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Geladen in Lastwagen wäre das eine Kolonne einmal rund um den Äquator.« Produkte, die nicht unmittelbar verkauft werden können, geringfügige Mängel aufweisen oder einfach nicht den Normen bezüglich der Größe, Farbe und Form entspre-

chen, die der Handel diktiert, werden vernichtet. So landet jeder zweite Kopfsalat, jede zweite Kartoffel und jedes fünfte Brot im Müll, bevor sie den Endverbraucher erreichen. »Taste the Waste« veranschaulicht anhand verschiedener Beispiele, dass eine Produktionsform, die sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen sondern an steigenden Profitraten orientiert, unfähig ist, gesamtwirtschaftlich rationales Handeln zu ermöglichen. Die Vernichtung von Millionen Tonnen von Lebensmitteln ist für den einzelnen Händler profitabler als deren Verkauf zu einem reduzierten Preis. Schimmeln einzelne Orangen in einer Transportkiste, ist es wirtschaftlich sinnvoller, die gesamte Lieferung wegzuschmeißen, als die unverkäufliche Ware auszusortieren. Das geschieht unabhängig davon, ob die Nahrungsmittel hoch subventioniert in der EU hergestellt wurden oder aus Ländern stammen, in denen – wie zuletzt in Ostafrika – immer wieder Hungersnöte ausbrechen. So zeigt der Film, wie grüne Bohnen aus Kenia in Mülltonnen auf einem Pariser Großmarkt landen. Eine dunkelhäutige Angestellte im Lebensmittellager der Pariser Tafel bemerkt resigniert: »Man füttert hier damit nicht mal die Schweine.« Thurns neuste Dokumentation bietet keine systematische Ana-

lyse der globalen Zusammenhänge der Produktion und des Handels mit Lebensmitteln. Er zeigt jedoch einzelne Glieder der Produktionskette, lässt unterschiedliche Marktteilnehmer unkommentiert zu Wort kommen und deckt so, ohne einen belehrenden Tonfall einzunehmen, die grundsätzlichen Widersprüche der Nahrungsmittelindustrie auf. Der Film lebt von seinem abrupten Schnitt und den vielen Perspektivwechseln. Durch die starke Wirkmacht der Aufnahmen gelingt es dem Regisseur, den Zuschauer zu fesseln und das abstrakte Thema spannend darzustellen. Dem Mangel an Lebensmitteln in der Peripherie werden in eindrucksvollen Bildern der Überfluss und die Verschwendung in den globalen Zentren gegenübergestellt. Jedoch folgt auf die scharfe Kritik eine weniger überzeugende Antwort. Dem systematischen Widerspruch von Hunger und Überfluss werden lediglich individuelle und sehr begrenzte Lösungsansätze gegenübergestellt. Trotz dieser teilweise naiven Sichtweise des Regisseurs ist »Taste the Waste« ein unterhaltsamer und faktenreicher Dokumentarfilm, der die Absurdität der kapitalistischen Nahrungsmittelproduktion und den alltäglichen Wahnsinn der Lebensmittelvernichtung in gewaltigen Bildern veranschaulicht.

★ ★★ FILM | Taste the Waste | Regie: Valentin Thurn | Deutschland 2011 | 88 Minuten Kinostart: 8. September 2011

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K.I.Z. | Urlaub fürs Gehirn

CD DES MONATS K.I.Z. schafft mit »Urlaub fürs Gehirn« den Spagat zwischen klassenkämpferischen Texten und Schwanzvergleich – und wird dafür mit Lob in Feuilletons und hohen Verkaufszahlen belohnt. Nur die Linke tut sich manchmal schwer damit Von David Jeikowski

© Vertigo (Universal)

eutscher Rap schien es einem früher einfacher zu machen: Es gab die Gangsta-Rapper à la Bushido und die »StudentenHip-Hopper« wie Curse und Freundeskreis. Während die einen sich damit brüsteten, den größten Penis und die dicksten Muskeln zu haben, rappten die anderen von Gefühlen und Politik. K.I.Z. hingegen machen nun schon seit ein paar Jahren beides. Auch sie rappen vom »Mutterficken« und von Hurensöhnen, würzen ihre Texte aber mit sprachlichem und politischem Witz und überzeichnen das Ganze am Ende so geschickt, dass schnell klar wird, wie viel mehr dahintersteckt. (»Scheiß Weiber – machen sich ’nen Lenz am Herd/ während der Mann nach Afghanistan zum Kämpfen fährt«) Das Feuilleton freut sich. K.I.Z. beweise, »dass es auch anders geht«, schrieb die Zeit. »Die Texte schlagen in eine karnevaleske Übergeschnapptheit um, die dem sonst so unentspannten Vokabular des BattleRap seine Schärfe nimmt.« K.I.Z. weisen aber immer wieder darauf hin, dass sie sich nicht von der Rapszene trennen lassen wollen. So rappten sie auf dem letzten Album ausgerechnet mit Sido über ihre Mikropenisse. Denn genau das ist es, was die Gruppe und auch ihren kommerziellen Erfolg ausmacht: Sie bedient Klischees, nur um dann geschickt mit ihnen zu brechen und sich im nächsten Stereotyp breitzumachen. Auf der Metaebene behalten K.I.Z. jedoch immer eine Linie bei: Satire darf alles. So sind dann in »Doitschland schafft sich ab« die Integrationsunwilligen nicht etwa die Migranten, sondern die Frauen. Aus der Parole »Ausländer zurück in ihr Land« wird »Frauen zurück ins All«: »Seit Millionen von Jahren sind sie hier / und wollen sich einfach nicht integrier’n / Ihre Hexerei lassen wir uns nicht gefall’n / Schießt, schießt sie zurück ins All!« Um dem noch eins draufzusetzen und analog

★ ★★ CD | K.I.Z. | Urlaub fürs Gehirn | Vertigo (Universal) 2011 zur Forderung Deutsche sollen unter sich bleiben, sollen auch die Männer unter sich bleiben: »Für mich sind Heteros ehrelos, ich kann’s nicht checken / wie kann man da, wo man raus kam, sein’ Schwanz reinstecken?« Musikalisch ist »Urlaub fürs Gehirn« noch elektrolastiger als die Vorgänger. Die stampfenden Beats und Synthesizer-Sounds sind eingängig und zum Teil selbst produziert. Nicht selten gibt es Drum-’n’-Bass-artige Einlagen, die das Album oft sogar tanzbar machen. Neben der Geschichte eines Abteilungsleiters, der sein

Selbstbild zu wahren versucht, während er die Kündigungen ausspricht (»Denn ich bleibe auch in Zeiten der Krise / Abteilungsleiter der Liebe«), und dem Song über einen Vater, der, nachdem er bei McDonald’s gefeuert wurde, seinem Sohn nur noch Menschenfleisch anbieten kann, gibt es aber auch genügend Lieder, die keiner Thematik folgen, sondern einfach in Battle-Rap-Manier auf imaginäre Gegner eindreschen. Dabei gibt K.I.Z. gerne den Asozialen, wie er in keiner RTLMittagssendung stumpfer dargestellt werden könnte: Hartz-

IV-Empfänger und Alkoholiker, streitsüchtig und berlinernd (»Wie, wat hier, Alimente? / Ik leb’ von Frührente / Ik jeh zum D-Jugend-Spiel und werf’ mit Bierbänke’ / Kee’n Abend ohne / die jute Adelskrone / (…) Raus aus dem Amt, ab an die Bar / Und alle: Schalalalalala!«). Ton Steine Scherbens »Paul Panzer« auf Speed, wie ein Magazin es letztens formuliert hat. Die Linke tut sich mit dieser Art von Humor schwer. Auf Indymedia schrieb jemand: »Heutzutage wird jeder noch so reaktionäre Sexismus mit ›Ironie‹ legitimiert und den KritikerInnen wie immer Humorlosigkeit vorgeworfen.« Auch das Jugendmagazin der MLPD vermutete hinter dem Titel des letzten Albums (»Sexismus gegen rechts«) eine bürgerliche Verharmlosung von Sexismus. Und natürlich machen es einem die derben Sprüche und ihr Logo (eine Symbiose aus Musiknote und erigiertem Penis: der »Notenständer«) nicht immer einfach, K.I.Z. von den üblichen Testosteron-Bündeln zu trennen, ohne ein zweites Mal hinzuhören. Doch sind die Tage, in denen Schimpfwörter die Hörer noch schockieren und den Verkauf beeinträchtigen, längst vorbei (»Wir sind radiotauglich, du Hurensohn…«). Was die vier Jungs damit schaffen, ist, auch ohne erhobenen Zeigefinger einer breitgefächerten Zuhörerschaft politische Aussagen zu vermitteln und dabei auch noch zu unterhalten. Der Vorwurf, die Hörer würden die Ironie in den Texten nicht verstehen (hierzu auf Indymedia: »Wer glaubt, K.I.Z. würde eine Persiflage der sexistischen Alltagskultur betreiben, müsste voraussetzen, dass (…) ihre Fans das auch so verstehen würden.«) ist durch ein Besuch auf einem K.I.Z.-Konzert leicht zu entkräften: Hier tanzen Antifa-Mädchen mit HipHop-Jungs und Studenten mit Gangsters in Bomberjacken. Außer am diesjährigen Weltfrauentag – da durften nur Frauen rein.


BUCH

Frank Deppe / David Salomon / Ingar Solty | Imperialismus

Ein brauchbarer Begriff Die Ausübung territorialer Herrschaft hat sich in den vergangenen hundert Jahren mehrfach verändert, aber das Phänomen ist das gleiche geblieben. Es nennt sich Imperialismus

mperialismus, von den Autoren der gleichnamigen Einführung definiert als »offene oder latente Gewaltpolitik zur externen Absicherung eines internen Regimes« (die kapitalistische Logik der Kapitalakkumulation vorausgesetzt), ist wandelbar. Er ist kein Schnee von gestern. Auch wenn die Analysen Lenins und Luxemburgs nicht fehlerfrei waren, haben sie ihre Relevanz nicht gänzlich verloren. Gleichwohl konfiguriert sich der »Zusammenhang zwischen der inneren und äußeren Bewegung der Widersprüche der Kapitalakkumulation (...) in jeder historischen Entwicklungsperiode des Kapitalismus neu«: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verursachte die ökonomische und geopolitische Konkurrenz zwischen den Industrienationen zwei Weltkriege, gefolgt von einer Periode des »Supermachtimperialismus« während des Kalten Krieges. Seit dessen Ende sind sowohl das Zusammenspiel aus politischer und ökonomischer Macht als auch die Art und Weise, wie territoriale Herrschaft ausgeübt wird, komplexer geworden. Eine multipolare Weltordnung ist entstanden. Der einstige Hegemon USA wird durch den ökonomischen Aufstieg von Regionalmächten (vor allem Chinas) herausgefordert.

Auch die Strategien zur Legitimierung von Kriegen haben sich dem neokonservativen Zeitgeist angepasst – die »guten Imperialisten« kämpfen heute vorgeblich gegen »islamistischen Terror« und für Zivilisation, Freiheit und Menschenrechte. Der von den Politologen Frank Deppe, David Salomon und Ingar Solty vorgelegte Band aus der Reihe »Basiswissen« liefert einen konstruktiven Beitrag zur Imperialismus-Debatte. Zugleich bietet er vor allem für Einsteiger einen hilfreichen Überblick sowohl über die Geschichte als auch über aktuelle Entwicklungen des Imperialismus und seiner analytischen Erfassung. Die Thesen der Autoren können und sollten als Plädoyer gelesen werden, die Kritik des Imperialismus nicht preiszugeben, sondern sie aus einer Analyse der aktuellen globalen politisch-ökonomischen Konstellation herzuleiten, ohne dabei von einer allgemeinen Begriffsklärung abzusehen. Die Lektüre regt dazu an, sich ebenso mit Klassikern wie Lenin oder Luxemburg wie mit aktuellen Beiträgen etwa von David Harvey auseinanderzusetzen. Eine Schwäche hat das Buch im letzten Kapitel »Antiimperialismus gestern und heute«: Die Autoren parallelisieren hier

verschiedene Varianten »mehr oder weniger antiimperialistischer Programmatiken«. Ohne notwendige Differenzierungen vorzunehmen, nennen sie den vermeintlichen Antiimperialismus des konservativen Staatsrechtlers Carl Schmitt oder den der Taliban in einem Atemzug mit dem bürgerlich-liberalen und dem sozialistischen Antiimperialismus. Meines Erachtens führt es politisch in die falsche Richtung, sozialistischen Antiimperialismus ohne weiteres als einen Punkt unter den genannten (falschen) Antiimperialismen aufzureihen. Außerdem stellt sich die Frage: An wen richten sich die Autoren hier? Linke, die die zuvor eingeführten Thesen zu (heutiger) imperialistischer Politik im Kern teilen, müssen nicht extra davon abgehalten werden, sich mit Herrschaftsprojekten, wie dem der Taliban, zu solidarisieren. Die abschließenden Handlungsaufforderungen von Deppe, Salomon und Solty sind jedoch ohne Frage zu unterstützen: Wir brauchen eine antiimperialistische Friedensbewegung, die sich Tendenzen der Entdemokratisierung und der Militarisierung der Gesellschaft entschieden entgegenstellt und erkennt, dass sie ohne einen »kapitalismuskritischen Kern (…) hilflos oder beliebig« wird.

★ ★★ BUCH | Frank Deppe / David Salomon / Ingar Solty | Imperialismus | Papyrossa, Köln 2011 | 134 Seiten, 9,90 Euro REVIEW

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© PapyRossa

Von Christin Bernhold

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BUCH

Frank Gerlach, Thomas Greven, Ulrich Mückenberger, Eberhard Schmidt (Hrsg.) | Solidarität über Grenzen. Gewerkschaften vor neuer Standortkonkurrenz

Gegenwehr ohne Grenzen Mit welchen Strategien können Gewerkschafter den Herausforderungen der Globalisierung begegnen? Wie können sie Standortkonkurrenz überwinden? Diesen Fragen geht ein neuer Sammelband nach Von Olaf Gerlach

© edition sigma

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★ ★★ BUCH | Frank Gerlach, Thomas Greven, Ulrich Mückenberger, Eberhard Schmidt (Hrsg.) | Solidarität über Grenzen. Gewerkschaften vor neuer Standortkonkurrenz | Edition Sigma, Berlin 2011 | 213 Seiten, 15,90 Euro

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ngesichts von Globalisierung, Produktionsverlagerungen und Standortwettbewerb fragen die Autorinnen und Autoren nach möglichen Formen internationaler Solidarität und gewerkschaftlicher Gegenmacht. Ein empirischer Teil klopft hierzu praktische Beispiele auf ihre Erfolge und Verallgemeinerbarkeit ab. Dem vorangestellt ist ein kleinerer, eher analytisch argumentierender Block. Nötig sei grundsätzlich, sich gegen Flexibilität zu wehren, die für die Belegschaften mehr Unsicherheit bedeutet. Flexibilität müsse stattdessen zu mehr Wahlfreiheit führen. Die Autoren plädieren weiterhin für die internationale Durchsetzung von Grundrechten und Mindeststandards. Ein »Protektionismus wider Willen« gegen die Entwicklungsländer sei dabei aber zu vermeiden, nötig ist mehr finanzielle Unterstützung und Wissenstransfer seitens der Industrieländer. Im ersten praktischen Beispiel geht es darum, wie mittels internationaler Rahmenabkommen die Kernarbeitsnormen der »Internationalen Arbeitsorganisation« durchgesetzt werden können. Im zweiten Fall wird die Entwicklung des Europäischen Betriebsrates bei General Motors untersucht. Welche Rolle

hat, drittes Beispiel, die Europäische Vertretung der Opel-Beschäftigten bei der Rettung des Konzerns gespielt? Außerdem werden zwei Kampagnen der US-Gewerkschaft »United Steelworkers« gegen den deutschen Konzern Continental sowie der Kampf der »Clean Clothes Campaign« zur Verbesserung der Arbeits- und Organisierungsbedingungen von Textilarbeiterinnen in Ländern der »Dritten Welt« vorgestellt. Der letzte Beitrag beleuchtet, welche Folgen die Verschlechterung von Perspektiven und Leistungsbedingungen bei Höherqualifizierten im Bereich der Informationstechnologie (IT) haben. Deren vormals symbiotisches Verhältnis zum Unternehmen erodiere und würde durch ein neues Arbeitnehmerbewusstsein ersetzt. Zu nennenswerten gewerkschaftlichen Organisierungserfolgen führe dies allerdings nicht: IT-Fachleute sehen die Gewerkschaften weiterhin als weitgehend gegenmachtlose Akteure an. Auch die anderen Fallbeispiele wissen – bislang – von keinen durchgreifenden Erfolgen zu berichten. In einigen Fällen konnten immerhin vorgesehene Verschlechterungen gemildert oder verhindert werden. Der Kampf auf der Ebene einzelner Unter-

nehmen wird daher, so das Fazit mehrerer Beiträge, lediglich als einer von mehreren Bausteinen angesehen, um einen weiteren Unterbietungswettbewerb der Unternehmen bezüglich Löhnen und Arbeitsbedingungen zu verhindern. Die Autoren des Sammelbands orientieren daher auf die Durchsetzung internationaler und branchenweiter Standards. Nötig sei hierzu generell, die Durchsetzungsfähigkeit auf nationaler Ebene zu steigern. Ohne dass es explizit so gesagt wird, verweist das auf die Notwendigkeit erfolgreichen Organizings, nicht nur als Instrument der Mitgliedergewinnung, sondern auch für mehr generelle Selbstermächtigung und weniger Stellvertreterpolitik. Allerdings entfalten die vorgestellten Konzepte an verschiedenen Stellen Stellvertreterdynamiken: Jedes »Monitoring-System zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen« beispielsweise »bleibt Stellvertreterpolitik, weil es die Beschäftigten nicht ermächtigt, weder im Betrieb, noch gesellschaftlich.« Diese Tendenz klarer zu benennen und stärker zu problematisieren, wäre wünschenswert gewesen. Dennoch: Der lesenswerte Band liefert facettenreiches Material. Ihm folgen hoffentlich bald weitere Studien.


BUCH DES MONATS Wer möchte sich in einer Diskussion schon gerne als »Antisemit« bezeichnen lassen? Moshe Zuckermann zeigt auf, wie dieser Vorwurf dazu verwendet wird, linke Kritik an Israel zu unterbinden Von Leandros Fischer

★ ★★ BUCH | Moshe Zuckermann | »Antisemit!« Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument | Promedia Verlag, Wien 2010 | 208 Seiten, 15,90 Euro

die Massaker der israelischen Armee in Gaza veröffentlichte. Sehr deutlich formulierte damals Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, wie er die öffentliche Empörung zu mildern gedenke: »Wir brechen jetzt auf, um jene zu delegitimieren, die versuchen, uns zu delegitimieren.« Zuckermanns Fazit: Der Antisemitismusvorwurf hat sich vom real existierenden Antisemitismus abgelöst und verselbstständigt und seiner Verwendung für fragwürdige Ziele steht nun nichts mehr im Wege. Auch in Deutschland, wie der Autor im zweiten Teil des Buches feststellt. Der hierzulande existierende fetischartige »Philosemitismus«, der für die kriegerische Politik Israels bedingungslose Solidarität einfordert, weise unangenehme Assoziationen mit antisemitischen Denkweisen auf, wo Juden und Israel als abstrakte Projektionsflächen für die Befriedigung eigener Befindlichkeiten erscheinen. Umso unangenehmer ist es dann, wenn diese Zuneigung in eine rassistische und militaristische Stimmung mündet. Als Beispiel hierfür nennt Zuckermann die »Antideutschen«. Diese mögen zwar das sein, was früher der westdeutsche Maoismus war,

nämlich eine von der breiten Gesellschaft abgekoppelte und zwischen Ultraradikalismus und konformer Anpassung schwankende Strömung. Nach Zuckermann sollten ihre Ideen jedoch nicht als Randerscheinung abgestempelt werden. Denn hier handelt es sich eigentlich um einen Herrschaftsdiskurs, der seinen Weg bis in die Linkspartei gefunden habe. Dies zeige sich beispielsweise an den Redeverboten für jüdische Israelkritiker wie Norman Finkelstein durch parteinahe Institutionen. Aber auch die Existenz von Zusammenschlüssen, »die so viel Israelsolidarität in die deutsche Öffentlichkeit performativ tragen, dass es Israelis unheimlich wird«, mache dies deutlich. Gerade erst diesen Sommer haben sich Zuckermanns Thesen bestätigt, als eine Medienkampagne gegen den angeblichen Antisemitismus in der LINKEN geführt wurde. Gemeint waren stets Akteure, die die Politik des Staats Israel kritisieren. Tatsächlich ist die irreführende und durchaus falsche Gleichsetzung von Judentum, Israel und Zionismus eine, der sich (neben Antisemiten) auch die Bundesregierung für die Durchsetzung imperialistischer Ziele bedient. Dies zeigt Zuckermann treffend anhand der Analyse einer Rede Angela Merkels vor der Knesset auf. Zuckermanns Buch ist eine nützliche Lektüre für alle, die an einer echten Bekämpfung des Antisemitismus interessiert sind. Sein Fazit lautet, dass dieses Ziel nur auf universalistische Prinzipien beruhen kann. Diese Prinzipien umfassen auch eine Kritik der diskriminierenden Praktiken Israels gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Und diese setzen schließlich eine Wachsamkeit gegen Herrschaftsdiskurse voraus, die durch einen linken emanzipatorischen Mantel den Weg für die moralische Akzeptanz imperialistischer Angriffskriege ebnen wollen. REVIEW

Moshe Zuckermann | »Antisemit!« Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrumen

© Promedia

ass der Titel seines Buches provozieren könnte, war Moshe Zuckermann bewusst. Dennoch erschien ihm das Bedürfnis, aktuelle israelische sowie deutsche Zustände anzuprangern, dringender denn je. »Antisemit! Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument« nennt der israelische Soziologe sein jüngstes Werk. Er will darauf aufmerksam machen, dass der inflationäre Gebrauch des Begriffs »Antisemit« oft weniger mit der Bekämpfung des durchaus vorhandenen Antisemitismus zu tun hat als mit der Verfolgung weniger nobler Interessen. Er diene dazu, linke oder auch jüdische Kritiker des Staats Israel mundtot zu machen. Welche Interessen dahinter stehen, macht der Autor im ersten Teil deutlich: Der Zionismus, eine Ideologie, die das Judentum in erster Linie als Nation und Israel als exklusiv jüdischen Staat begreift, sieht sich als Antwort auf den Antisemitismus in Europa. Das führt zu dem scheinbaren Paradox, dass der Zionismus die Existenz des Antisemitismus in gewisser Weise benötigt – vor allem, solange ein Großteil der jüdischen Diaspora sich dafür entscheidet, im Gegensatz zum zionistischen Imperativ nicht in Israel zu leben. Was das für die israelischen Zustände historisch bedeutete, skizziert der Autor mit einer Darstellung des oft kruden Verhältnisses des Staats zu den Schoah-Überlebenden. Trotz deren ideologischer Stilisierung zum ultimativen Argument für den Zionismus war das reale Verhältnis zu diesen als Menschen oft von Verachtung und materieller Vernachlässigung geprägt. In einem Überblick über die aktuelle politische Kultur Israels zeigt Zuckermann, wie die Regierung den Antisemitismusvorwurf immer wieder bewusst verwendet, um Kritik an ihrer Politik abzuwehren. So im Jahr 2009, als der UN-Menschenrechtsrat den Goldstone-Bericht über

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BUCH

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn | Tears into Energy. Das Theater der Unterdrückten in Afghanistan

Wenn die Burka in die Ecke fliegt Theater in einem vom Krieg zerrütteten Land? Das hat wenig mit klassischer Entwicklungshilfe zu tun. Ein mutiger Erfahrungsbericht zeigt, wie Kulturprojekte zur Emanzipation und Versöhnung beitragen können Von Barbara Fuchs

© ibidem

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★ ★★ BUCH | Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn | Tears into Energy. Das Theater der Unterdrückten in Afghanistan | ibidem-Verlag, Stuttgart 2011 | 226 Seiten, 19,90 Euro

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m Jahr 2007 ging der Theatermacher Hjalmar Jorge JoffreEichhorn nach Afghanistan, um am Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen mitzuarbeiten. Angesichts des Ausmaßes an Zerstörungen befielen ihn Zweifel, ob die Aufgabe zu bewältigen sei. Noch vor seiner Ankunft hatte er sich geschworen, sofort umzukehren, wenn seine Arbeit als kulturell unangebracht abgelehnt werden würde. Hjalmar Joffre-Eichhorn ist geblieben und hat sich der Herausforderung gestellt. Dabei ging es ihm niemals darum, westliche Werte zu vermitteln. Sein Ansatz ist ein anderer. Er hat die von dem brasilianischen Regisseur Augusto Boal entwickelte Methodik »Theater der Unterdrückten« (TdU), die auf politische Befreiung der Schwachen und Unterdrückten zielt, in Afghanistan weitergeführt. Er begegnete den im Alltag gedemütigten Menschen mit Behutsamkeit und Respekt auf Augenhöhe. So erreichte er Nähe, Offenheit und die Bereitschaft, sich auf künstlerische Arbeit einzulassen. Er war Lehrender und Lernender zugleich. Die tatsächliche Lebensrealität, geprägt von Krieg, struktureller Gewalt und Mangel, bildete die Folie für die künstlerische Arbeit. Nach vier Jahren Pionierarbeit mit dem TdU in Afghanistan

zog Joffre-Eichhorn Bilanz. Sein Bericht und seine Reflexionen sind differenziert und von emotionaler Offenheit. Überaus anschaulich beschreibt Joffre-Eichhorn das TdU als partizipative, an Emanzipation orientierte Theaterarbeit und stellt die verschiedenen Techniken vor, wie das nonverbale Statuentheater, das Forum-Theater und das Playback-Theater, bei denen Handlungsalternativen jeweils mit dem Publikum gemeinsam erarbeitet werden. Er lässt uns teilhaben an Workshops und Projekten mit verschiedenen sozialen Gruppen – mit trauernden Witwen, mit jungen Frauen, mit Folteropfern, mit Kindern, mit Jugendlichen verfeindeter Volksgruppen, mit Taubstummen oder mit Drogenabhängigen. Theater braucht wache Sinne und die Ausdrucksfähigkeit des Körpers. Wie ging Joffre-Eichhorn damit um, wo doch die Burka den weiblichen Körper verhüllt, Krieg und Not sich in die Körper eingeschrieben haben? Er hat die afghanischen Normen und Wertvorstellungen respektiert. So schuf er »safe spaces« – geschützte Räume, in denen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer geborgen fühlten. Dann waren sie bereit, Gefühle zu zeigen und entwickelten Fantasie. Auch um heik-

le Themen wie häusliche Gewalt wurde kein Bogen gemacht. Oft wurde geweint. Und es wurde gelacht. Die Burka flog dann schnell in die Ecke, es wurde getanzt und gesprungen. Eine besonders intensive Arbeitsphase begann in der Zusammenarbeit mit Opferverbänden. Dabei ging es um Vergangenheitsaufarbeitung, politische Folter und Traumata. Eine nicht ungefährliche Arbeit, sitzen die Warlords – dank Hamid Karzais Amnestiegesetz – doch heute als Wölfe im Schafspelz im Parlament. Joffre-Eichhorn gibt auch Einblick in die Arbeit von Hilfsorganisationen und die mitunter fragwürdige Verwendung der Gelder. Er übt zornig Kritik, wo er Irrwege und Doppelmoral in der internationalen Entwicklungsarbeit ausmacht, zum Beispiel bei neokolonialistisch anmutenden Attitüden oder einseitiger Orientierung an der korrupten Elite des Landes. Das Buch eröffnet eine andere Sicht auf Afghanistan. Es vermittelt lebhaft mit vielen Beispielen die Erfahrung, wie unterdrückte Menschen durch Theaterspiel Freiraum gewinnen, ihre Wahrnehmungen verändern, selbstbewusst werden und Motivation zum politischen Handeln finden. Eine andere, eine solidarische Welt scheint möglich.


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Ähnlich deutlich Stellung bezieht der US-amerikanische Marxist David Harvey in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Sozialismus (9/2011). Das eigentliche Problem sei die Gesellschaft, in der wir leben: »Wild gewordene Politiker schummeln bei ihren Ausgaben, verwilderte Bankiers plündern die öffentlichen Kassen bis auf den letzten Cent aus, Konzernchefs, Betreiber von Hedge Fonds und die Genies der Private-Equity-Firmen rauben die Reichtümer dieser Welt, Telefonund Kreditkartengesellschaften knöpfen uns rätselhafte Gebühren ab, der Einzelhandel betrügt bei den Preisen, und im Handumdrehen können Schwindler und Trickbetrüger mit ihren Hütchenspielen bis in die höchsten Kreise von Wirtschaft und Politik gelangen.« In der deutschsprachigen Ausgabe der Le Monde diplomatique (12.08.2001) erschien eine lesenswerte Reportage von Alain Gresh über die Rolle der ägyptischen Arbeiterbewegung in der Revolution. Der Autor stellt die wirtschaftliche Lage der Arbeiter und die Kontinuität innerhalb der herrschenden Elite dar. Er erklärt zudem, warum es in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu unkoordinierten kleinen Rebellionen kommt. Die Zentralität der Arbeiterbewegung könne man daran erkennen, dass

die Textilarbeiter von Mahalla schon in den Jahren zuvor die wichtigsten Protestformen entwickelt hätten, und daran, dass dem endgültigen Sturz Mubaraks ein Aufruf zum Generalstreik vorausging.

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von Win Windisch und Marcel Bois

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Zeitschriften und Magazinen

Weblinks:

★ ★★ WEBLINKS Blätter für deutsche und internationale Politik: www.blaetter.de Sozialismus: www.sozialismus.de Le Monde diplomatique: www.monde-diplomatique.de Widerspruch: www.widerspruch.ch tip Berlin: www.tip-berlin.de The Nation: www.thenation.com Homepage von Dave Zirin: www.edgeofsports.com

Seit der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima werden weltweit die Stimmen lauter, die ein Ende des Nuklearzeitalters fordern. Die schweizerische Zeitschrift Widerspruch (Nr. 60, 1. Halbjahr 2011) widmet der »Energiewende nach Fukushima« einen ganzen Schwerpunkt. Darin unter anderem ein Beitrag von Elmar Altvater über den »Green New Deal« der Grünen. Hin und wieder stößt man auch in Stadtmagazinen auf gute politische Artikel. tip Berlin (17/2011) titelte mit einem Foto der jungen Renate Künast unter der Überschrift »Das war die Alternative«. Der dazugehörige Artikel erklärt zwar nicht ausreichend den Wandel der Grünen. Seine Stärke ist aber die Darstellung vieler Szenen und Eindrücke aus den letzten 30 Jahren, die die Veränderung sehr schön illustrieren (Den Text kann man online lesen, wenn man sich kostenlos registriert). Einmal im Jahr widmet die traditionsreiche, linke USamerikanische Wochenzeitschrift The Nation (15./22.08.2011) eine ganze Ausgabe Themen rund um Sport und Gesellschaft. In diesem Jahr hat Dave Zirin das Heft konzipiert. Der Sportjournalist und revolutionäre Sozialist veröffentlicht regelmäßig in der Zeitschrift und in anderen wichtigen Sportmagazinen der USA. In seinen Büchern und Kolumnen zeigt er auf, wie die kommerzielle Ausrichtung den Sport kaputt macht. Immer wieder finden sich interessante Texte auf Zirins Homepage. So kritisierte er zuletzt die amerikanische Ausgabe des Männermagazins GQ, weil auf dessen Liste der »25 coolsten Sportler aller Zeiten« keine einzige Frau auftauchte. Zirin stellte dem seine persönlichen Top 6 entgegen. ■ REVIEW

m August brannten die britischen Städte. Nachdem die Londoner Polizei einen Jugendlichen erschossen hatten, breiteten sich die Ausschreitungen und Plünderungen in Windeseile aus. Einen pointierten Artikel hierzu hat der Soziologe Oliver Nachtwey in den Blättern für deutsche und internationale Politik (9/2011) geschrieben. Er argumentiert, dass es sich entgegen der Behauptung konservativer Politiker bei den Jugendlichen nicht um Kriminelle handele. Vielmehr seien die Riots »abnorme Kämpfe um Teilhabe in einer Gesellschaft, in der die Moral von den Eliten beständig unterlaufen wird«.

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Š Tom Morello / http://4.bp.blogspot.com

Preview


THEATER

Freedom Theatre | Sho Kman

Zukunft in einem Käfig Ein palästinensischer Regisseur wird vor seinem Theater ermordet. Seine Weggefährten machen weiter – und kommen nach Deutschland auf Tournee

unge Studenten der Theaterschule des Freedom Theatre aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Dschenin gehen im September und Oktober 2011 auf Tournee durch Deutschland. Sie führen die Performance »Sho Kman?« (Deutsch: Was noch?) auf, in der junge Palästinenser erkunden, wie Besatzung und Gewalt sich nach innen kehren und in einem brutalen, endlosen Teufelskreis aus Fallen und Unterdrückung münden. Diesem Teufelskreis der Gewalt ist auch Juliano MerChamis zum Opfer gefallen. Am 4. April 2011 wurde er direkt vor dem Theater, das er gegründet und geführt hatte, ermordet. Noch sind die Mörder nicht gefasst und Flugblätter kursieren, die gegen das Freiheitstheater hetzen. Doch seine Gefährten setzen weiter auf die Ausstrahlungskraft des Theaters. »Sho Kman« ist ein Zeichen für ihre Entschlossenheit, weiterzumachen, gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit eben jener Realität, die in dem Mord an Mer-Chamis kulminierte. Unterstützung finden sie bei namhaften Theaterschaffenden, die dazu aufrufen, das Theater als »einen Ort der künstlerischen und politischen Freiheit« zu unterstützen, das für »grenzüberschreitende Solidarität im Zeichen der Besatzung« steht. »Sho Kman« ist eine Performance über die Eindrücke junger Palästinenserinnen und Palästinenser von der Welt, die sie umgibt. Erkundet wird, wie Besatzung und Gewalt sich nach innen kehren und dort zum Chaos führen können. Freundschaften und Familien werden zerstört, ebenso wie Gesellschaft und Staat. Die Zuschauer folgen Träumen und Wünschen, Befürchtungen und Ängsten, dem Verbotenen und dem Verheimlichten. »Wie sieht die Zukunft in einem Käfig aus? Wie kannst du Gefühle ausdrücken, wenn du nicht weißt, mit wem du sie ausdrücken kannst? Was bedeutet es, an einem Ort aufzuwachsen, an dem andere deine Zukunft immer kontrollieren? Ein Ort, an dem die Schwachen keinen Platz in der Gesellschaft haben und der einzige Weg zu überleben ist, Stärke zu zeigen? Wer sind wir?« Die Performance nimmt das Publikum mit in die widersprüchliche Realität von Dschenin und in den Lebens-

rhythmus, der jungen Palästinensern, die im Flüchtlingslager von Dschenin, der Stadt und den Dörfern leben, die Frage aufzwingt: Wer sind wir? Ein wichtiger Meilenstein im Kampf, sich von den vielen Ketten zu lösen, die sie umschließen – mit dem Ziel, sich zu befreien. Die Performance basiert auf intensiver Körpersprache und zeigt ohne viele Worte Charaktere und Situationen des täglichen Lebens und der Geschichte Palästinas. Quelle: Medico International

Das Freedom Theatr

auf Deutschland-To

e

urnee

06.09. 15.09.

Braunschweig, Staatstheater Braunschweig Bremen, Kulturzentrum Sch lachthof 17./18.09. Münster, Theate r im Pumpenhaus 20.09. Aschaffenburg, Maintalhalle Mainaschaff 24.-27.09. Berlin, Schaubühn e am Lehniner Platz 28./29.09. Hamburg, Kampna gel 02.10. Bonn, Rheinische s Landesmuseum 09./11.10. Kiel, Theater im Werftpark 24.10. Freiburg, Das Jun ge Theater 25.10. Karlsruhe, Badisch es Staatstheater 28.10. Marburg, Waggo nhalle Kulturzentrum

Weitere Informationen

: www.medico.de

★★★ Hintergrund: Mehr Informationen über das Freedom Theatre unter: www. thefreedomtheatre.org.

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»Populär, ohne populistisch zu sein« Bernd Hüttner hat ein Handbuch alternativer Medien veröffentlicht. Im Interview erklärt er, warum linke Presse zu wenig Leser hat und wie das mit dem Unterschied zwischen innen und außen zusammenhängt

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ernd, du bist Mitherausgeber des „Handbuchs Alternativmedien“. Worum geht es in eurem Buch? Wir haben etwa tausend Adressen von alternativen Medien aus dem deutschsprachigen Raum zusammengetragen: Zeitschriften, Radios und Verlage. Über verschiedene Register sind sie in dem Buch erschlossen. Weiter sind dort 15 redaktionelle Beiträge abgedruckt, mit denen wir einige Medienprojekte näher vorstellen und auch theoretische Aspekte anschneiden.

Bernd Hüttner

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as verstehst du unter Alternativmedien und was ist ihre Aufgabe? Klar, der Begriff »alternativ« ist ausgelutscht, er hat sich auch stark verändert. Der Höhepunkt von alternativen Medien und Gegenöffentlichkeit waren die 1980er Jahre. Es handelte sich von der Idee her um basisdemokratische Einrichtungen, die Themen abseits des Mainstreams in einer nichtkommerziellen Weise publizierten. Ihr Politikverständnis beruhte auf einer Ablehnung von Stellvertreterpolitik. Daher sollten beispielsweise Betroffene selbst berichten. Dies führte aber schnell zu Wiederholungen und Langeweile in den Texten. Als Reaktion darauf wurden journalistische und redaktionelle Arbeitsweisen gestärkt. Die heutigen Alternativmedien haben meines Erachtens zwei Funktionen: Zum einen die interne Verständigung und die Debatte unter den Linken und Alternativen im weitesten Sinne. Zum anderen die Propagierung eigener Inhalte und Kritiken nach »außen«, also die Ansprache und Überzeugung anderer. Beides wird gerne mal verwechselt oder die Medienschaffenden versuchen, mit dem internen Modus eine große Öffentlichkeit zu erreichen. Das geht dann meistens schief.

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ab es seit der ersten Auflage eures Buches im Jahr 2006 gravierende Veränderungen in der alternativen Medienlandschaft? Quantitativ eigentlich nicht, die Zahl der Printmedien ist nahezu gleich geblieben. Gestiegen ist seitdem jedoch die Bedeutung von Publikationsorten im Netz, also beispielsweise Blogs. Wir haben uns letztendlich entschieden, diese nicht aufzunehmen. Es schien uns widersinnig, Internetadressen in einem Buch abzudrucken.

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Bernd Hüttner ist Vorsitzender des Vereins Linke Medienakademie e.V. Gemeinsam mit Gottfried Oy und Christiane Leidinger hat er eine Neuauflage des Handbuchs Alternativmedien herausgebracht.

★ ★★ DAS BUCH Bernd Hüttner / Christiane Leidinger / Gottfried Oy (Hrsg.): Handbuch Alternativmedien 2011/2012. Printmedien, Freie Radios, Archive & Verlage in der BRD, Österreich und der Schweiz (AG SPAK Bücher 2011). Weitere Informationen und eine Titel-Datenbank finden sich unter www.alternativmedien.org.

n einem deiner Beiträge kritisierst du die Medienstrategie der LINKEN. Was müsste sich ändern? Auf jeden Fall muss sich etwas ändern, denn vermutlich weniger als fünf Prozent der Wählerinnen und Wähler der Partei lesen linke Medien einschließlich der Tageszeitungen. Hier gibt es ein nennenswertes Potential, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Gleichzeitig wird die Bedeutung des Internet noch weiter steigen, gerade bei Jüngeren. In der LINKEN hängen noch zu viele den Top-Down-Kommunikationsstrategien der 1970er und 1980er Jahre an. Patentrezepte habe ich auch nicht. Vielleicht sollten die linken Medien ihre Leserinnen und Leser für klüger halten, als sie das manchmal tun. Sie sollten auch populärer werden, ohne populistisch zu sein. Kooperation, Kreativität, Gleichheit und Neugier – die Schlüsselbegriffe für eine neue progressive Ära werden bislang kaum mit der parteipolitischen Linken assoziiert. Dies sollte sich dringend ändern. Dazu sollten linke Medien einen Beitrag leisten – und ich denke, das können sie auch. Die Fragen stellte Martin Haller


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roße Zeitschriftenverlage sind durch das Anzeigengeschäft abhängig von Konzernen. marx21 ist anders: Wir bekommen kein Geld von der Wirtschaft. Aber auch marx21 kostet Geld. Vielleicht ahnst du es: Nur durch regelmäßige Spenden unserer Leserinnen und Leser kann das Magazin überhaupt erscheinen. Hier ein Überblick, wofür wir dein Geld brauchen: Neue Datenverwaltung: Seit der ersten Ausgabe des Magazins hat sich die Zahl unserer Abonnentinnen und Abonnenten verdreifacht. Das freut uns. Zugleich stellt es uns aber vor technische Herausforderungen. Wir benötigen ein neues Verwaltungsprogramm, damit wir für weitere neue Abonnentinnen und Abonnenten gerüstet sind. Fixkosten bezahlen: Druck, Büroräume, Vertrieb und Telefon sind nicht kostenlos. Wir träumen außerdem von farbigen Innenseiten. Schnellere Computer für besseres Arbeiten: Die Sanduhr dreht sich, »Die Anwendung wird aufgrund eines schweren Ausnahmefehlers geschlossen«, »Kein Netzwerkzugriff« … und der Drucktermin naht. Damit die Redaktion sich auf das Wesentliche konzentrieren kann, muss die Technik problemlos laufen. Wir müssen unsere überalterte Computerflotte austauschen: Wir brauchen schnellere Computer und flimmerfreie Bildschirme. Neue Homepage: Seit vier Jahren existiert nun marx21.de als eigenständiges Webangebot. Die Zahl der Besucher auf unserer Homepage hat sich ständig erhöht. Jeden Monat haben wir 10.000 Zugriffe. Das bedeutet: Wir erreichen auf diesem Weg mehr Menschen als mit dem Magazin. Deshalb möchten wir das Onlineangebot verbessern und ein Redesign der Home-

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