marx21 Ausgabe Nummer 23 / 2011

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Š Maggie Osama


Ägypten

Liebe Leserinnen und Leser,

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s waren Luxusprobleme, aber doch Probleme: Was soll ein linkes Magazin noch drauflegen, wenn selbst die betuliche Zeit fragt: »Was sind die Alternativen zum Kapitalismus?« Wenn konservative Leitartikler wie Frank Schirrmacher den Ausverkauf der Demokratie an die Banken beklagen? Bei Lektüre der Artikel in den entsprechenden Blättern beantwortet sich die Frage dann doch fast von selbst. Denn die aufgeschreckten Bürgerlichen beschränken sich auf Appelle an Politik und Wirtschaft, doch endlich zur »Vernunft« zurückzufinden. Das lässt Raum für linke Antworten. Wir haben versucht, so viele wie möglich in diesem Heft unterzubringen. Deshalb gibt es diesmal einen extragroßen Schwerpunkt zur Krise – und zu Occupy, der neuen Bewegung gegen die Bankenmacht. Stellenweise wurde es während der Magazinerstellung so hektisch wie an den Finanzmärkten – kaum war ein Artikel fertig geschrieben, schon kam die nächste große Wendung. Gab der EU-Gipfel gerade noch Entwarnung, nahmen kurz darauf die Ratingagenturen Spanien und Portugal in die Zange. Wurde Italien den einen Tag noch von Silvio Berlusconi regiert, führte am nächsten Tag schon der ehemalige EU-Kommissar Mario Monti die Regierungsgeschäfte. Mit einem solchen Tempo kann das beste Zweimonatsmagazin nicht mithalten. Deshalb haben wir uns die übergeordneten Fragen zur Krise vorgenommen. Aktuelle Kommentare und Berichte findet ihr wie immer auf marx21.de. Was ihr in dieser Ausgabe leider nicht findet, ist die versprochene Antwort auf den Artikel zum Bedingungslosen Grundeinkommen von Werner Halbauer. Die Autoren haben uns um Aufschub gebeten, den wir gerne gewährt haben. Die Debatte wird dann in der nächsten Ausgabe fortgesetzt. Auch in dieser Ausgabe gibt es wieder eine neue Rubrik. Sie heißt »Mein Lieblingsbuch«. Die Idee kam von unserem Leser Thomas Haschke aus Stuttgart. Er sprach uns beim »Marx is’ muss«-Kongress in Berlin dazu an. Wir fanden die Idee gut – und luden ihn ein, gleich den ersten Beitrag zu schreiben. Welches Buch Thomas schon fünfmal gelesen hat, entdeckt ihr auf Seite 88. Abschließend möchten wir euch noch das marx21-Jahresabo als Weihnachtsgeschenk ans Herz legen. Es ist erschwinglich, hat politischem Mehrwert und eine dicke Buchprämie gibt’s dazu. Das ist doch schon einiges, oder? Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

Unmittelbar vor den Parlamentswahlen in Ägypten flammt der Kampf um die Zukunft des Landes erneut auf. Nach massiven Protesten räumten ägyptische Sicherheitskräfte gewaltsam den Tahrir-Platz in Kairo. Sie setzten Tränengasbomben und Gummigeschosse ein. Mehrere Menschen starben, hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. Die Demonstranten behaupten, die aus den USA importierten Geschosse enthielten kein gewöhnliches Tränengas, sondern ein schweres Nervengift. Der ungeheuren staatlichen Repression trotzend haben sich die Massen den Tahrir-Platz zurückerkämpft. Die Revolte gegen das Regime entwickelt sich immer mehr zu einem Aufstand gegen die Vorherrschaft des Militärs. Nach Monaten blutiger Auseinandersetzungen sind die Menschen nicht gewillt, den Kampf für ein anderes Ägypten aufzugeben.

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Tariq Ali im Gespräch mit Oliver Stone

Streik bei ver.di Stuttgart

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Schwerpunkt: Strategien gegen Bankenmacht

Schwerpunkt: Strategien gegen Bankenmacht

Aktuelle Analyse 08 Rechter Terror: Nazis schlagen statt Daten jagen Von Jan Maas

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»Wir haben nicht das Interesse, die Währungsunion zu retten« Interview mit Costas Lapavitsas

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»Private Banken in öffentliche Hand« Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine und Jürgen Habermas über die Krise

30 Bankenmacht: Die Fesselung der Giganten Von Stefan Bornost 34

DIE LINKE: Mut zum Aktivismus Von Luigi Wolf

Unsere Meinung 10 Drogenpolitik: Eine scheinheilige Debatte Kommentar von Carolin Hasenpusch 11 Willy-Brandt-Korps: Ärzte statt Militär Kommentar von Klaus-Dieter Heiser neu auf marx21.de

Wie weiter?

In Ägypten wird gewählt. Wir liefern eine Einschätzung der Ergebnisse und fragen, wie es mit der Revolution weitergeht. 4

Ein Blick lohnt sich:

www.marx21.de

Schwerpunkt: 10 Jahre Afghanistankrieg 39 NATO: In Feindesland Von Christine Buchholz und Stefan Ziefle

22 Weltwirtschaftskrise 1929: Crash Reloaded? Von Arno Klönne

42 Taliban: Die Mehrheit im Rücken Von Paul Grasse

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Die Stunde der Technokraten Kommentar von David Meienreis Occupy: »Der Geist ist aus der Flasche« Interview mit Joel Geier

Ohne Abzug kein Frieden Kommentar von Paul Grasse


Schwerpunkt 10 Jahre Afghanistankrieg

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Prostitution: Skandal im Sperrbezirk

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Mad Men: Früher war alles schlimmer

Internationales

Geschichte

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»Der nächste Chávez könnte aus China kommen« Tariq Ali und Oliver Stone im Gespräch

52 Tunesien: Vormarsch der Islamisten? Von Frank Renken

Kampf um den Südpol: Wo die Titanflagge weht Von Jan Maas

Kultur

Betrieb und Gewerkschaft 56 Prostitution: Kriminalisierung beenden Von Rosemarie Nünning 60 Nahverkehr: »Wir können gewinnen« Interview mit Wolfgang Hoepfner Netzwerk marx21 66

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Mad Men: Früher war alles noch schlimmer Von Helen Scott

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Nachruf auf Franz Josef Degenhardt Von Martin Haller

78 Klassiker des Monats: Dawid Rjasamow: Marx und Engels nicht nur für Anfänger Von Tobias Paul

82 Die Geschichte hinter dem Song: Nneka: »Soul is Heavy« Von Yaak Pabst Rubriken 03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 46 Weltweiter Widerstand 64 Neues aus der LINKEN 69 Was macht das marx21-Netzwerk? 82 Review 91 Quergelesen 92 Preview

Serie: Was will marx21 (9) Was ist Internationalismus? 5


marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 5. Jahrgang Nr. 23, Winter 2011/12 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Natalie Dreibus, Lisa Hofmann, Jan Maas, Tobias Paul (Neues aus der Linken), Michael Ferschke, Veronika Hilmer (Was will marx21), Win Windisch (Quergelesen) Mitarbeit an dieser Ausgabe Carla Assmann, Nils Böhlke, Michael Bruns, Christine Buchholz, Jens Fischer, Nicole Gohlke, Werner Halbauer, Martin Haller, Carolin Hasenpusch, Klaus-Dieter Heiser, Brian Janßen, Hans Krause, Sven Kühn, Volkhard Mosler, Rosemarie Nünning, David Paenson, Jonas Rest, Marijam Sariaslani, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Janine Wissler, Luigi Wolf Übersetzungen Marcel Bois, David Meienreis, Rosemarie Nünning, David Paenson Infografiken Karl Baumann Layout Yaak Pabst Covergestaltung Yaak Pabst , Illustration Carlos Latuff Redaktion Online Frank Eßers, Ole Guinand, Jan Maas (verantw.) Druck Druckhaus AJSp, Ateities g. 10, LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 - 89 56 25 11 Fax: 030 - 56 82 28 84, Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank | Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21- Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im Februar 2012 (Redaktionsschluss: 18.01.)

Lisa Hofmann, Rubrik »Neues aus der LINKEN«

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on dort berichten, wo man oft selber nicht ist. Das ist die Aufgabe, der sich die Genossinnen und Genossen unseres »Neues aus der LINKEN«-Teams stellen. »Wir wollen auf der Doppelseite über Aktivitäten der Partei berichten, bei denen sie als aktionsorientierte Mitgliederpartei in Erscheinung tritt. Dadurch möchten wir zum Mit- und Nachmachen einladen«, sagt Lisa Hofmann. Gibt es irgendwo eine spannende Aktion der LINKEN, lassen Lisa und ihre Kollegen nichts unversucht, einen Bericht zu ergattern. Sie rufen potenzielle Autoren an, schicken Mails an Ortsverbände der Partei oder fahren selber hin. Für Lisa kein Problem. Als Vorstandsmitglied der hessischen LINKEN ist sie ohnehin stets in Bewegung. Politisiert hat sich Lisa während des Studierendenstreiks 1997/98. Sie war damals noch Schülerin und in der Schülervertretung aktiv. »Wir haben auf einer Vollversammlung spontan beschlossen uns mit den Studierenden, die ihre Unis besetzt hatten, zu solidarisieren und haben auch unsere Schule besetzt«, erinnert sie sich. Nach ihrem Abitur im Jahr 2003 engagierte sich Lisa vor allem in der DGB-Jugend. Kurz nach der hessischen Landtagswahl 2008 trat sie in DIE LINKE ein. Wenn sie sich mal nicht mit Politik beschäftigt, liest und zeichnet sie gerne. Im Zentrum von Lisas Aktivitäten steht schon lange der Kampf für mehr Ausbildungsplätze. Bei der DGB-Jugend koordinierte sie eine bundesweite Kampagne mit, zudem ist sie Co-Autorin des Buches »Ausbildung für Alle!« (VSA-Verlag 2008). Für marx21 findet sie jetzt heraus, an welchen Fronten sonst noch gekämpft wird. Was Lisa und ihre Kollegen zusammengetragen haben, lest ihr auf den Seiten 64 und 65.

Das Nächste Mal: David Paenson 6


LeserbriefE Zum Artikel »Sieg ins Ungewisse« von Paul Grasse (Heft 22)

Zum Artikel »Falsche Feinde« von Volkhard Mosler und zum Kommentar »Antirassismus braucht kein antireligiöses Bekenntnis« von Marwa Al-Radwany (Heft 22) Mir fehlen die Worte: Verrat der Linken an religionskritischen, aufklärerischen Idealen. Ich schäme mich, jemals DIE LINKE gewählt zu haben. Dirk Jäckel, per E-Mail Volkhard Mosler und Marwa Al-Radwany fehlt es nicht an analytischer Klarheit und politischer Orientierung. Die Hinwendung zum islamischen Fundamentalismus ist eine nachvollziehbare Reaktion von Migranten und Migrantinnen, die in vielen Lebensbereichen benachteiligt und diskriminiert werden. Bei diesen Gruppierungen erfahren sie die Anerkennung und das Selbstbewusstsein, was ihnen ansonsten in der deutschen Gesellschaft verwehrt wird. Die Islamfeindlichkeit ist ein ideologisches Instrument, um Verständigung und gemeinsames Handeln von Muslimen und Nichtmuslimen gegen die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus zu verhindern. Wenn wir eine gerechtere Welt haben wollen, dann müssen wir gemeinsam dafür kämpfen.

Ich selbst bin zweimal in Libyen gewesen, in den Jahren 2000 und 2006, jeweils auf Outdoor-Offroad-Abenteuerreise. Ich neige stets dazu, den direkten Kontakt zu den Menschen in einem Land zu suchen, deren Lebensweise und freilich auch soziale und politische Hintergründe zu erkunden. Und so kann ich bezeugen, dass es zwischen 2000 und 2006 einen ungeheuren Sprung in der libyschen Gesellschaft gegeben hat. Von einer straffen Diktatur hin zu scheinbar mehr Freiheiten, die sich freilich zunächst auf geschäftliche Dinge beschränkten. In deren Folge kam es aber auch zu gesellschaftlichen Veränderungen. Während man in älteren Büchern über Libyen lesen muss, dass dort nur Araber und arabisierte Berber leben würden und alles, was die Identität der Berber fördern könnte, unterdrückt und verboten war, wurden 2006 an den Schulen wieder die Berbersprachen unterrichtet. 2000 gab es keine Beschilderung in Sprachen außer Arabisch. Niemand sprach mit Touristen auf Englisch. Im Jahr 2006 gab es überall auch englischsprachige Schilder. Alles war irgendwie freier. Und die Menschen waren mutiger. Schon damals hat es Demonstrationen gegen das Regime gegeben. Und überall traf ich auf Leute, die auf Gaddafi schimpften – in ganz unterschiedlichen Ausprägungen. Auffällig war die Aufgeschlossenheit, das Interesse an den Gästen aus allen Teilen der Welt. Und diese Entwicklung schließlich ermöglichte die Demokratiebewegung im Land. Bis hier dienen Paul Grasses Ausführungen auch meinem Verständnis. Was ich mir jedoch nicht erklären kann und worauf auch Paul keine Antwort geben konnte sind die Fragen: Was ist da eigentlich

wirklich passiert? Wie konnte es zu diesen Gewaltexzessen kommen? Woher kamen plötzlich diese Milizen? Wieso hatte von heute auf morgen jeder diese Fahnen des alten Königreichs? Wieso tragen die Fahnen das Wappen des Königreichs? An den ersten Tagen des Aufstandes waren lediglich selbstgenähte Fahnen in den drei Farben aber ohne Wappen zu sehen. Wieso kämpfen Leute gegen die Rebellen aber nicht für Gaddafi? In Sirte befanden sich Kämpfer, die nie kämpfen wollten. Es sind Leute darunter, die eigentlich gegen das Regime engagiert waren. Sie verteidigten Sirte gegen die Rebellen, gegen Söldner und NATOAngriffe. Vor allem begreife ich all diese Gewalt nicht! Ich kenne diverse Libyer, mit allen möglichen politischen Ansichten. Aber das was dort passiert ist, wollte niemand von ihnen. Dass das Bild in deutschen Medien aus Halbwahrheiten und Lügen besteht, ist klar. Und dass als Gegenstück auch eine Reihe Bilder in stalinistischer Tradition existieren, ist auch klar. Aber ich kenne keine Analyse, die mir erklären kann, was sich wirklich abspielt. Mir tun die Menschen und das Land sehr leid! Es gibt keinen Platz, an dem ich herzlicher und ehrlicher empfangen wurde als in Libyen. Und nun dieser Scherbenhaufen, diese Gewalt. Erklärt mir das bitte! Marco Gerlach, Pößneck

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de ANZEIGE

Santosh Reichert, Hamburg

Dislike! In der jetzigen Situation, wo diejenigen, die den UN-Antrag ablehnen, in die Defensive kommen, die diplomatische Offensive von Abbas recht erfolgreich ist und 80 Prozent der Palästinenserinnen und Palästinenser diesen Antrag unterstützen, ist es völlig kontraproduktiv, die Hoffnung auf eine Ablehnung zu lenken. Die Perspektive, die im letzten Absatz aufgemacht wird, ist die Perspektive eines Blutbads im Nahen Osten. Andrej Hunko, auf unserer Facebook-Seite

AKTUELLE ANALYSE

Zum Artikel »Zwei-Staaten-Lösung beerdigt« von Paul Grasse (marx21.de, 06.10.2011)

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Aktuelle Analyse

Jusos.de / flickr.com / CC BY-NC

Nazis schlagen statt Daten jagen Der radikalen Rechten muss die Öffentlichkeit genommen werden. Staatliche Repressionen werden dabei nicht helfen Von Jan MAAS

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JAN MAAS ist Online-Redakteur von marx21.de.

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s scheint verrückt: Die Mordserie der Jenaer/Zwickauer Naziterroristen deckt eine Staatsaffäre auf – und die Regierung setzt auf noch mehr Staat. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) fordert eine Verfassungsschutzreform, Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) will ein Zentralregister für Nazis einführen. Der Präsident des Bundeskriminalamts Jörg Ziercke verlangt, dass Polizei und Verfassungsschutz enger zusammenarbeiten und stellt damit eine Konsequenz aus dem Gestapo-Terror der Jahre 1933 bis 1945 in Frage. Dass der Sicherheitsapparat ungeeignet ist, Naziterror zu bekämpfen, ist schon deswegen klar, weil er ihn meistens ignoriert. Ein Park am Leipziger Hauptbahnhof, Oktober 2010: Als zwei Betrunkene seinen Freund anpöbeln, schreitet der 19-jährige Kamal Kilade ein. Die beiden mit Hakenkreuzen tätowierten Männer prügeln ihn zu Boden und rammen ihm ein Messer in den Bauch. Der gebürtige Iraker verblutet kurze Zeit später. Die Ermittler finden in der Wohnung des Haupttäters kistenweise Nazipropaganda und NPD-Zeitungen. Beide Täter waren vorbestraft und erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden. Trotzdem unterstellt die Leipziger Staatsanwaltschaft den beiden keinen Rassenhass als Motiv, sondern bewertete die Tat

bis zuletzt als eine alkoholisierte Prügelei mit Todesfolge: »Hinreichende Anhaltspunkte für eine ausländerfeindliche Motivation der beiden Angeschuldigten bei der Tat haben die Ermittlungen nicht ergeben.« So kommt es, dass staatliche Stellen 46 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 zählen, antifaschistische Initiativen dagegen 182. Der Staat ist also auf dem rechten Auge blind. Das hat eine historische Dimension. Schon als die Alliierten 1950 den Verfassungsschutz gründeten, griffen sie auf zahlreiche frühere Mitglieder der Gestapo zurück, die vor allem Linke als ihre Feinde betrachteten, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 2009 berichtete. Als die Regierung Adenauer 1955 die Kontrolle über den Verfassungsschutz übernahm, setzte sie mit Hubert Schrübbers (CDU) für 17 Jahre einen Mann an seine Spitze, der dem Nazi-Regime als SA-Mitglied und Oberstaatsanwalt gedient hatte. Schrübbers musste zwar 1972 seinen Hut nehmen, aber rechte Überzeugungen existieren bis heute beim Inlandsnachrichtendienst. Helmut Roewer leitete von 1994 bis 2000 den Thüringer Verfassungsschutz, also zu jener Zeit, als die Jenaer/Zwickauer Terroristengruppe entstand. Unter seiner Federführung produzierte das Erfurter Landesamt ein Video für den Schulunterricht, in dem der Neonazi und V-Mann Tino Brandt die angebliche Friedfertigkeit seiner Ka-


meradschaften loben durfte. Seit Roewer vom Dienst suspendiert wurde, veröffentlicht er Schriften in einem österreichischen Verlag, in dem auch ehemalige Gestapo-Mitglieder und bekennende Neofaschisten publizieren. Über das parlamentarische Kontrollgremium, das die Geheimdienste eigentlich überwachen soll, schreibt die stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN, Halina Wawzyniak: »Geheimdienste heißen Geheimdienste, weil sie geheim arbeiten und wer geheim arbeitet, lässt sich nicht kontrollieren.« Entsprechend fordert DIE LINKE in ihrem neuen Programm, alle Geheimdienste abzuschaffen. Zu Recht: Der Staatsapparat ist kein geeigneter Bündnispartner im Kampf gegen Nazis. Auch eine demokratische Wahl tauscht immer nur eine kleine Schicht von Abgeordneten, Ministern oder Senatoren und Staatssekretären aus. Hier und da können diese noch auf das Personal für manche leitende Funktionen Einfluss nehmen, wenn diese in der Legislatur neu besetzt werden. Aber die Mehrheit des Apparates bleibt unangetastet. Für den Konservatismus des Staatsapparats gibt es eine strukturelle Ursache: seine Verknüpfung mit dem Kapitalismus. Staat und Kapital sind voneinander abhängig. Kurz: Das Kapital braucht eine verwertungsfreundliche Umgebung, der Staat eine starke wirtschaftliche Basis. Und da Naziterror zwar Menschenleben gefährdet, nicht aber diese wirtschaftliche Basis, interessiert sich der Staat auch nicht in dem Maße dafür wie für Atomkraftgegner, die Sitzblockaden organisieren, oder Linke, die eine andere Wirtschaftsordnung fordern. Vor allem sind Staat und Kapital auch noch verantwortlich für das gesellschaftliche Klima, in dem Nazis gedeihen. Arbeitslosigkeit, Hartz IV und befristete Billigjobs ohne jede Perspektive zerstören das Vertrauen auf eine sichere Existenz und unterminieren zugleich den solidarischen Zusammenhalt zwischen den Menschen. Rassismus wird geschürt, um von den Verursachern der Krise abzulenken und die Verzweifelten, Ausgegrenzten und vom Abstieg Bedrohten gegen Sündenböcke aufzuhetzen. Sarrazins Hetze gegen Muslime und Unterschichten in seinem Buch »Deutschland schafft sich ab« ist beispielhaft dafür.

siko für die Gesellschaft erklärten, schürten sie den Rassismus gegen Muslime. Der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime Aiman Mazyek sagte der Mitteldeutschen Zeitung: »Für mich ist das ein klassischer Fall von home grown terrorists – und zwar über Jahre hinweg« und fügte hinzu: »Wir dürfen Islam- und Fremdenfeindlichkeit nicht bagatellisieren.« Wenn der ehemalige bayerische Innenminister Beckstein im Jahr 2005 im Bierzelt auf dem Gillamoos-Volksfest unter lautem Gejohle forderte: »Das Kruzifix bleibt in den Klassenzimmern, aber der Schleier und das Kopftuch kommen raus!«, dann ist es kein Wunder, dass die NPD im Bundestagswahlkampf desselben Jahres erstmals ein Foto von Frauen mit Kopftuch unter dem Slogan »Gute Heimreise!« plakatiert hat. Im Schatten des 11. September 2001 sei einseitig ermittelt worden, meint Mazyek. »Der Rechtsterror konnte so gedeihen.« Es habe genug Momente für eine Hinterfragung dieser Anti-Terror-Strategie gegeben, kritisierte Mazyek. Zum Beispiel die Wohnungsbrände in türkischen Häusern, Anschläge auf muslimische Gotteshäuser und den »islamfeindlichen Mord« an der Ägypterin Marwa El-Sherbini.

Sündenböcke, das sind heute vor allem Muslime oder Menschen, die für Muslime gehalten werden. Von daher ist es kein Zufall, dass acht der zehn Opfer der Naziterroristen türkischer Abstammung waren. Indem die Innenminister von Schily bis Friedrich vor allem angebliche Islamisten zum Sicherheitsri-

Die Forderung nach einem NPD-Verbot ist zwar richtig, aber auch kritisch zu bewerten. Selbst wenn die Partei verboten wird: Das würde die Nazis zwar beim Aufbau stören, beispielsweise dadurch, dass sie kein Geld mehr aus der staatlichen Parteienfinan★ ★★ zierung erhielten. Doch in der Vergangenheit sind WEITERLESEN immer wieder Naziparteien verboten worden, ohne Linke Argumente gedass dadurch die rechten Strukturen nachhaltig gegen rechte Hetze. Thilo schwächt worden wären. Sarrazins Rassismus und die Krise, Broschüre Entscheidend ist es, den Nazis überall dort, wo sie der LINKEN. Download auftreten, massenhaft und entschlossen entgegenzuunter: treten: Ihre Aufmärsche zu stoppen, ihre Treffpunkte die-linke.de/fileadmin/ zu schließen. Dafür braucht es jetzt eine massenhafte download/folder/sarrazin-broschuere.pdf. antifaschistische Bewegung auf den Straßen. Nur so können die harten Nazis von ihrem Umfeld isoliert werden, ohne das auch die Jenaer/ZwiAppell gegen Neonazis ckauer Terrorzelle nicht hätte Was jetzt zu tun ist bestehen können. Um die Gefahr dauerhaft zu bannen, ist allerdings eine gesellschaftliVor-Ort-Initiativen gegen rechte Gewalt che Alternative nötig, die den und Projekte zur Hilfe von Opfern forMenschen ein Leben ohne Ardern eine Umkehr in der Politik staatlimut und Ausgrenzung ermögcher Behörden gegen Rechtsradikalislicht. Hoffnung gibt es: Denn mus. Die taz dokumentiert den Appell. dafür gehen gerade rund um http://tinyurl.com/antinazi den Erdball Zehntausende auf die Straße – von Kairo bis Oakland. ■

AKTUELLE ANALYSE

Bis heute sind rechte Ansichten beim Verfassungsschutz präsent

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Drogenpolitik

Eine scheinheilige Debatte Von Carolin Hasenpusch

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s ging ein Raunen durch die deutsche Medienlandschaft. »Heroin, Kokain, Haschisch: Alles gleich, findet die Linkspartei«, hieß es beim Stern. Ähnlich die Schlagzeilen anderer Zeitungen. Allgegenwärtig war der erhobene Zeigefinger der öffentlichen Sittenwächter, als DIE LINKE ihre Drogenpolitik vorstellte. Doch die Forderungen ihres Erfurter Parteitags sind richtig: Die Entkriminalisierung der Konsumenten und die Legalisierung von Drogen ist die einzige Lösung, wenn man den Menschen in den Mittelpunkt der Debatte stellen möchte. Rund 1,6 Millionen Personen in Deutschland sind abhängig von Alkohol, weitere 9,5 Millionen konsumieren ihn in gesundheitsgefährdender Menge. Forscher der Universität Bristol haben eine Rangliste der gefährlichsten Drogen erstellt. Alkohol rangiert auf Platz fünf – noch vor Ecstasy und LSD. Dennoch wird das flüssige Suchtmittel oft als »Volksdroge« verharmlost und gemeinschaftliches Trinken als gesellig und normal angesehen. Bier gilt als »deutsches Kulturgut«. Wie selbstverständlich lassen sich namhafte Politiker auf dem Oktoberfest mit der Maß in der Hand fotografieren. Die Debatte über die Legalisierung von Drogen ist daher zunächst erst einmal eins: scheinheilig und voller Doppelmoral. Die Grenze zwischen »harten« und »weichen« Drogen ist willkürlich konstruiert. Aber auch die Position, die Drogenkonsum – vor allem den von Cannabis – als subkulturellen »Lebensstil« feiert und daher für die Legalisierung plädiert, wird der Situation nicht gerecht. Sowohl »konservative Moralisten« als auch »Hobby-Kiffer« klammern aus, dass Drogensucht Teil unserer Gesellschaft ist und längst den Weg in deren Mitte gefunden hat. Auch die von Konservativen befürwortete repressive Drogenpolitik trägt keinesfalls zur Lösung dieser Problematik bei. Vermeintliches Ziel einer solchen Politik ist die Bekämpfung des Drogenhandels, die Eindämmung organisierter Kriminalität und die Verknappung des Angebots. Die Realität ist aber eine andere, wie die Situation in Anbau- und Transitländern wie Mexiko, Kolumbien oder Afghanistan zeigt. Dort

herrschen unkontrollierbare Schwarzmärkte, riesige Drogenkartelle führen ein autarkes Dasein, von dem Warlords profitieren. Korruption ist an der Tagesordnung. Vor allem in Mexiko wird auf traurige Weise deutlich, wozu eine stark repressive Drogenpolitik führt: 50.000 Menschen haben bislang ihr Leben im »Krieg gegen Drogen« gelassen und das Land versinkt in bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die Forderung nach Prohibition ist daher nicht nur nicht zielführend, sondern sie spart eine wichtige Komponente des Drogenkonsums aus: den Konsumenten. Ganz anders die von der LINKEN geforderte Entkriminalisierung und Legalisierung. Sie würde für abhängige Personen vor allem bedeuten, dass sie bei Bedarf professionelle Hilfe gestellt bekämen, ohne sich gleich als »Kriminelle« outen zu müssen. Eine Legalisierung hätte zudem Auswirkung auf die Reinheit der Substanzen oder der Injektionswerkzeuge. Drogenkonsumenten würden nicht mehr – gemäß des neoliberalen Credos der »Selbstverschuldung« – an den gesellschaftlichen Rand gedrängt und stigmatisiert werden. Stattdessen wäre ein sicherer und kontrollierter Zugang zu den Substanzen gewährleistet. Auf struktureller Ebene könnte zusätzlich durch lizenzierte Fachgeschäfte oder Apotheken ein Gegengewicht zum Schwarzmarkt etabliert werden. Erst durch einen Preiseinbruch können die exorbitanten Gewinne der Drogenkartelle eingedämmt und ihnen ihre Existenzgrundlage entzogen werden. Auch wenn eine Legalisierung nicht automatisch als Garant für eine drogenfreie Gesellschaft angesehen werden kann, so kann sie aber eins: das Leben von Konsumenten und das der Bevölkerung in Anbaugebieten sicherer gestalten.

Die Legalisierung von Drogen hilft sowohl Konsumenten als auch der Bevölkerung in den Anbaugebieten

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★ ★★ Carolin Hasenpusch ist Mitglied der LINKEN in Berlin. Sie studiert Soziologie und Politikwissenschaft.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Willy-Brandt-Korps

Ärzte statt Militär Von Klaus-Dieter Heiser Einsatz von Waffengewalt zu flankieren. Türöffner für Militäroperationen sind oft humanitäre Notsituationen. Was für ein Zynismus! Eine »Armee im Einsatz« kann weder Hunger stillen, Durst löschen oder Krankheiten heilen, noch Bildung ver-

Die SPD-Spitze ist nicht amüsiert mitteln oder gar Flut- oder Dürrekatastrophen bekämpfen. Sie ist ausgebildet für den militärischen Kampf, für das Töten. Eine strikte Trennung internationaler Katastrophenhilfe und Entwicklungszusammenarbeit vom Militär ist nötig, um ihre Instrumentalisierung für militärische Zwecke zu verhindern. Deshalb schlägt

DIE LINKE vor, die Milliarden, die gegenwärtig für Kriege ausgegeben werden, für Hilfe bei der Bewältigung internationaler Krisen und Katastrophen einzusetzen und dafür eine zivile Organisation aufzubauen. Benötigt wird kein Militär, sondern Ärztinnen und Ärzte, Technikerinnen und Techniker oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Mit dem Namen Willy-Brandt-Korps erinnert DIE LINKE an einen Sozialdemokraten, der Krieg als »Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln« ablehnte. Steinmeier & Co. an der Spitze der heutigen SPD sind darüber nicht amüsiert. ★ ★★ Klaus-Dieter Heiser ist Mitglied im Bezirksvorstand der LINKEN in Berlin-Neukölln. Beim Erfurter Parteitag setzte er sich für das Willy-Brandt-Korps ein.

UNSERE MEINUNG

uf ihrem Parteitag hat DIE LINKE beschlossen, die Aufstellung eines »Willy-Brandt-Korps« zu fordern. Das ist genau die richtige Antwort auf die Kriegspolitik der Bundesregierung. »Ausländische Soldaten sind nach unserer und der Erfahrung auch anderer Hilfsorganisationen eher Bedrohung als Schutz«, berichtet der Leiter der »Kinderhilfe Afghanistan«, Reinhard Erös. Seit mehr als 25 Jahren ist er in Afghanistan engagiert. Als deutsche Truppen zum Hindukusch geschickt wurden, quittierte der Oberstarzt a. D. im Frühjahr 2002 seinen Dienst bei der Bundeswehr. Er trennte sich, als der Umbau der Bundeswehr zu einer international einsatzfähigen Interventionstruppe vorangetrieben wurde. Seit den 1990er Jahren sind deutsche Regierungen bestrebt, systematisch die Fähigkeit zu erweitern, ihr wirtschaftliches Gewicht international auch durch den

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TITELTHEMA Strategien gegen Bankenmacht

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Lösungsansätze Stimmen prominenter Linker zur Krise

Der große Crash Die Linke in der Krise von 1929

Das Ende der Demokratie Bankenrettung vs. Volkes Wille

„Der Geist ist aus der Flasche“ Interview zur Occupy-Bewegung

Bankenmacht Wie kann sie gebrochen werden?

Diskussion suchen Occupy und DIE LINKE


»Wir haben nicht das Interesse, die Währungsunion zu retten« Griechenland soll raus aus dem Euro und die deutsche Linke dringend ihre Haltung zu Europa überdenken. Costas Lapavitsas ist nicht nur Professor für Ökonomie, sondern auch ein Freund der klaren Worte. Ein Interview, das reichlich Diskussionsstoff liefert

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ostas, zu Beginn ein Blick in die Kristallkugel: Werden wir im Jahr 2015 noch mit dem Euro bezahlen? Einige Länder werden 2015 noch den Euro haben, aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass alle Länder, die jetzt in der Eurozone sind, ihn noch als Zahlungsmittel nutzen werden. Der Euro in seiner jetzigen Form ist nicht zu halten, und er wird nicht erhalten werden. Die Kräfte, die seinen Zusammenbruch vorantreiben, sind

Costas Lapavitsas

offensichtlich: Während wir uns unterhalten, bricht der europäische Anleihenmarkt zusammen, weil die Investoren sich auf deutsche Staatsanleihen verlegen und damit die Zinsraten der Anleihen anderer Staaten in die Höhe treiben. Wenn der Anleihenmarkt auf diese Weise weiter unter Druck gerät, ist der Euro in wenigen Wochen erledigt.

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Costas Lapavitsas ist Professor für Wirtschaftswissenschaften. Er lehrt an der School of Oriental and African Studies in London.

undeskanzlerin Angela Merkel betont stets den Unterschied zwischen der Banken- und der Schuldenkrise. Erstere hätten, so sagt Merkel, verantwortungslose Banker durch Fehlspekulationen verschuldet. Die Schuldenkrise sei hingegen von den Regierungen der Mittelmeerstaaten verursacht worden, indem sie ihre Schulden außer Kontrolle geraten ließen. Ist diese Unterscheidung sinnvoll? Nein, keineswegs. Wir haben es nur mit einer Krise zu tun. Sie begann im Jahr 2007 in den USA als Immobilienkrise. Verursacher waren Banken und andere Finanzakteure. Auch deutsche Investoren waren in großem Ausmaß daran beteiligt. Als die Immobilienblase platzte, verloren die Banken viel Geld. Daher wurde eine Bankenkrise daraus, die wiederum zu einer globalen Rezession führte. Dieser Krise begegneten die Industriestaaten mit staatlichen Interventionen in nie gekanntem Ausmaß. Ziel war es, die Banken zu

TITELTHEMA Strategien gegen Bankenmacht

ür den Redaktionskollegen war klar: »Der Mann muss ins Blatt!« Der Mann ist Costas Lapavitsas. marx21-Redakteur Marcel Bois saß im Publikum, als Costas sich bei einer Konferenz der Zeitschrift Historical Materialism in London eine Redeschlacht mit anderen linken Ökonomen geliefert hatte. Thema war die Eurokrise und die Zukunft der europäischen Gemeinschaftswährung. Die Kontaktaufnahme gestaltete sich dank Facebook einfach und drei Tage später stand ein ebenso engagierter wie freundlicher Costas am Telefon Rede und Antwort. Seine Bitte zum Schluss: Die europäische Linke brauche dringend eine Debatte über ihre Haltung zum Projekt Europa. Er hofft, mit diesem Interview einen Anstoß zu geben und freut sich über jede Antwort. Diese Bitte geben wir hiermit an unsere Leser weiter. Anmerkungen und Kritik bitte an: redaktion@marx21.de.

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retten und die Nachfrage zu stabilisieren. Der gegenwärtig explodierende öffentliche Schuldenstand ist also eine unmittelbare Folge der Staatsintervention der Jahre 2008 bis 2010 – und nicht von ausgabewütiger Regierungspolitik. Und nun sind wieder die Banken verantwortlich, diesmal vor allem europäische Banken, da sie die Hauptgläubiger der Staatsschulden sind. Die Krise der Jahre 2007 und 2008 wurde nie vernünftig gelöst, weder in Europa noch anderswo. Jetzt, da europäische Staaten schwere finanzielle Problemen haben, besteht die Hauptgefahr darin, dass noch mehr Banken pleitegehen. Die Krise kehrt an ihren Ausgangspunkt zurück.

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o interpretierst du die Geschichte. Aber was sagst du zu dieser Version: Die Deutschen haben durch Privatisierung, Haushaltskonsolidierung und Lohnzurückhaltung eine Menge Entbehrungen auf sich genommen und so unter Schmerzen ihr Haus in Ordnung gebracht. Derweil haben es sich alle anderen gut gehen lassen und die Deutschen sollen jetzt dafür zahlen. Das lehnen sie verständlicherweise ab. Ich habe volles Verständnis dafür, wenn Arbeitnehmer in Deutschland mit Skepsis auf den Euro schauen. Es ist nachvollziehbar, dass sie keine Lust haben, öffentliches Geld für die Rettung der Gemeinschaftswährung auszugeben, zumal es ja de facto eine weitere milliardenschwere Bankenrettung ist. Seit 15 Jahren sinken die Einkommen der Beschäftigten in Deutschland und finden staatliche Kürzungen statt. Im Prinzip haben die deutschen Lohnabhängigen die Kosten der deutschen Wiedervereinigung und die Kosten der Umstrukturierung des deutschen Kapitalismus getragen. Der wichtigste Grund für den Erfolg der deutschen Exportwirtschaft und ihre gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit ist der Druck, der auf die Beschäftigten in Deutschland ausgeübt wurde. Die deutsche Wirtschaft war bereits sehr viel wettbewerbsfähiger als andere, hat aber erst richtig zugelegt, als die Arbeitskosten über Jahre eingefroren blieben. Grund war also keine gesteigerte Produktivität, Effizienz oder besonderer Einfallsreichtum, womit normalerweise der Erfolg des deutschen Kapitalismus erklärt wird. Viele Länder an der Peripherie Europas hatten da eine bessere Bilanz. Es war allein der Druck auf die Beschäftigten und

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Generalstreik in Athen am 19. Oktober: Nachdem die EU-Troika Papandreou nicht mehr zutraute, die Sparpolitik durchzusetzen, übernahm mit Lucas Papademos der Liebling der Finanzmärkte die Regierungsgeschäfte

Merkels Politik ist ein todsicheres Rezept, die Eurozone zu zerstören

die Stagnation der Löhne. Insofern kann ich die Reaktion der deutschen Arbeitnehmer gut verstehen, wenn es darum geht, jetzt weitere Steuergelder freizugeben um den Euro, beziehungsweise die Banken, zu retten. Ich bin jedoch der Meinung, dass es zumindest teilweise eine fehlgeleitete Reaktion ist. Es stimmt keinesfalls, dass die Beschäftigten anderswo in den vergangenen 15 Jahren aus dem Vollen geschöpft hätten. Der Druck auf sie war in ganz Europa erheblich, überall ist von Arm zu Reich umverteilt worden. Die herrschenden


Klassen anderer europäischer Staaten waren bei der Durchsetzung von Haushaltskürzungen und Senkung des Lohnniveaus nicht so erfolgreich und skrupellos wie die deutsche herrschende Klasse, aber sie haben versucht, in dieselbe Richtung zu gehen. Wenn sich die Arbeiter in Deutschland angegriffen fühlen und besorgt sind, sollten sie ihren Zorn gegen ihre eigenen Unternehmen und ihre Regierung richten. Denn von dort kommt der Druck – und nicht von den Arbeiterinnen und Arbeitern in Griechenland, Italien und Spanien.

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olker Kauder, der Fraktionsvorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, sagt, Europa sollte »Deutsch lernen«, also Haushaltskonsolidierung betreiben und exportorientiert wirtschaften, um aus der Krise herauszukommen. Ist das eine erfolgversprechende Strategie? Nein, das ist ein todsicheres Rezept, um die Eurozone zu zerstören. Der Druck auf die Beschäftigten hat den deutschen Unternehmern einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Sie haben diesen Vorteil sehr geschickt genutzt, um sich Handelsbilanzüberschüsse zu sichern. Diese Überschüs-

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as ergibt keinen Sinn. Warum sollte die deutsche herrschende Klasse eine Strategie vorschlagen, die die Eurozone zerstört, wenn sie selbst die größten Profiteure der Währungsunion sind? Über diese Frage zerbrechen sich auch viele Wirtschaftswissenschaftler den Kopf. Zuerst einmal verfolgt die deutsche herrschende Klasse natürlich nicht bewusst das Ziel, die Eurozone zu zerstören. Das ist das Letzte, was sie will, denn sie zieht, wie du sagst, erheblichen Profit aus ihr. Aber das bedeutet nicht, dass sie die Folgen und inneren Widersprüche ihres Handelns versteht. Indem sie ihre eigenen unmittelbaren nationalen Interessen verfolgen, unterminieren sie unabsichtlich die Stabilität des gesamten Systems. Indem sie darauf bestehen, dass alle »deutsch werden« sollen, sagen sie, dass alle Länder mit einem Haushaltsdefizit staatliche Kürzungen vornehmen und Druck auf die Arbeiter ausüben sollen. Wahrscheinlich meinen die deutschen Herrschenden, dass dies zu einem neuen wirtschaftlichen Gleichgewicht auf einem allgemein niedrigeren Einkommensniveau führen wird und dass nach 10 bis 15 Jahren wieder Wachstum einsetzen wird. Aber das wäre

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© Odysseas Galinos Paparounis / CC BY-NC-SA

se stammen zum allergrößten Teil aus der Eurozone, die zu einer Art deutscher Binnenmarkt geworden ist. Das ist der größte Vorteil, den die Eurozone der deutschen Kapitalistenklasse bietet. Durch das Einfrieren der Löhne in der Heimat haben sie enorme Vorteile auf diesem Markt. Wenn aber eine Seite große Überschüsse erwirtschaftet, müssen andere große Defizite tragen. Das heißt: Die Defizite am Rande der Eurozone korrespondieren mit den Überschüssen Deutschlands. Dieses Ungleichgewicht bildet den Kern der Instabilität der Eurozone. Wenn die deutsche herrschende Klasse einen Funken Weitsicht hätte, würde sie sich um diese Ungleichgewichte kümmern und ihre eigenen Überschüsse reduzieren. Stattdessen raten sie allen anderen, auch Überschüsse zu erwirtschaften. Das ist eine Milchmädchenrechnung. Nicht jeder in der EU kann Überschüsse haben, insbesondere dann nicht, wenn der Kurs des Euros im Verhältnis zum Dollar hoch ist und dadurch den Handel außerhalb der Eurozone erschwert. Wer alle zwingt, die Löhne und damit die allgemeine Nachfrage zu drosseln, legt das Fundament für die Zerstörung der Eurozone.

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© European People’s Party / flickr.com

Kanzlerin Merkel und ihre Kollegen von der Europäischen Volkspartei. Es war der letzte offizielle Fototermin von Italiens Ministerpräsident Berlusconi (links neben Merkel). Nach seinem Rücktritt jubelten die Menschen auf den Straßen nicht die Folge, denn die Eurozone würde in einem solchen Fall vorher zusammenbrechen.

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ie langfristige Lösung, auf die sich der EU-Gipfel geeinigt hat, ist eine gemeinsame europäische Wirtschaftsund Finanzpolitik. Die deutschen Sozialdemokraten begrüßen die Erklärung, weil sie genau das sei, was sie schon immer wollten. Erleben wir die Sozialdemokratisierung Europas? Mit Sicherheit nicht. Die Sozialdemokraten interpretieren falsch, worum es bei der »europäischen Idee« und dem Prozess der europäischen Einigung eigentlich geht. Sie hören »Koordination« und »Staatsintervention« und denken, dass die EU ein progressives, keynesianisches Projekt ist, das den Sozialstaat ausbauen wird. Sie hoffen, dass die Linke, wenn sie sich für dieses Projekt engagiert, dem Ganzen eine noch fortschrittlichere Richtung geben kann, zum Beispiel durch die Verabschiedung einer Europäischen Sozialcharta oder ähnlicher Dinge. Das war nie so und gerade die letzten zwei Jahren haben gezeigt, wie falsch diese Annahme ist. Nehmen wir das Ergebnis des letzten EU-Gipfels: Falls sich die verschiedenen Regierungen auf eine stabile Wirtschafts- und Finanzpolitik einigen – was ich bezweifle –, bestünde diese mit Sicherheit nicht darin, die Löhne zu erhöhen, die Rechte der Beschäftigten zu stärken oder in öffentliche Güter zu in-

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vestieren. Der Konsens würde eher in die Richtung neigen, die Volker Kauder angedeutet hat: permanente Kürzungspolitik und permanenter Druck auf die Einkommen. Das ist die langfristige Lösung, die sich die deutsche herrschende Klasse vorstellt, und daran gibt es nichts zu begrüßen.

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ostas, du bist für den Austritt Griechenlands aus der Eurozone. In Deutschland stehst du damit Seite an Seite mit den reaktionärsten Kräften der nationalistischen Rechten. Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen? Ich habe nicht das Gefühl, mich verteidigen zu müssen. Die großen linken Parteien in Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern mögen sich selbst verteidigen und bitte einmal ihre Haltung zur Krise der Eurozone erklären. Mir scheint, sie haben sich faktisch der zentralen Strategie der herrschenden Klassen Deutschlands und Frankreichs angeschlossen, nämlich der Verteidigung des Euro. Das wesentliche politische Problem ist im Moment nicht die Haltung der extremen Rechten in Deutschland oder Frankreich. Das wesentliche Problem ist das, was Merkel und Sarkozy sagen und tun: Rettung des Euro, Veränderung des institutionellen Rahmens der Gemeinschaftswährung und das alles auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung. Zu meinem großen Erstaunen stehen weite Teile

Wenn die Linke die Euroskepsis nicht aufgreift, profitiert die extreme Rechte


wobei das nicht bedeutet, dass sie dabei Erfolg haben werden. Ich glaube, die Linke, insbesondere die radikale Linke, sollte erkennen, dass dies der entscheidende Frontverlauf ist, und sich entsprechend positionieren. Sie sollten sich nicht daran beteiligen, die Währungsunion zu retten. Die europäische Arbeiterklasse hat kein Interesse an der Währungsunion. Aber die Linke hat ein entscheidendes Interesse daran, die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen. Wenn das bedeutet, dem Euro zu schaden, dann soll es so sein. Mir ist klar, dass die Rufe nach dem Austritt aus der Eurozone auch von den Rechtsextremen kommen. Deshalb sollte die Linke für einen fortschrittlichen Austritt stehen. In Griechenland brauchen wir eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung im Interesse der arbeitenden Menschen. Ein Austritt aus dem Euro kann ein Katalysator für einen solchen Umbruch sein. Er müsste beinhalten: die Überführung der Banken in öffentliches Eigentum, die Einführung von Kapitalkontrollen, eine durchgreifende Umverteilung des Reichtums und Zugriff auf die Schaltstellen der Industriepolitik. Ziel muss es sein, Arbeitslosigkeit zu beseitigen und die Einkommen und die Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse zu verteidigen. Dazu brauchen wir einen Bruch mit der neoliberalen Politik der letzten drei Jahrzehnte. So betrachtet sollten die Menschen in Griechenland und anderen Randstaaten

für ein Übergangsprogramm wie eben skizziert kämpfen und auf dieser Grundlage die Kräfteverhältnisse verändern. Innerhalb der Zwangsjacke der Währungsunion ist dies unmöglich. Wenn die Linke diese Fragen nicht aufgreift und den völlig gerechtfertigten Euroskeptizismus der europäischen Arbeiterklasse in einen Kampf gegen die Diktate der Währungsunion verwandelt, werden die Rechtsradikalen davon profitieren. Wenn der Zusammenbruch des Euro näher kommt, werden wir erleben, dass rechte Interpretationen in Europa plötzlich mehrheitsfähig werden – sofern die Linke keine radikale Alternative bietet. Einen Vorgeschmack darauf haben wir bekommen, als die deutschen Medien die unglaublichsten Geschichten über die Griechen geschrieben haben und in Griechenland ähnliches über die Deutschen veröffentlicht wurde. Das kann äußerst unappetitlich werden, wenn die Linke nicht bald erkennt, dass der Euro nicht das ist, wofür sie ihn hält.

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ntschuldige, aber nach Jahrhunderten bewaffneter Streitigkeiten zwischen den Staaten Europas und nach zwei Weltkriegen hat die Linke doch ein Recht, in der Europäischen Union ein fortschrittliches Projekt zu sehen. Willst du zurück zum guten alten Nationalstaat ohne irgendeine Form gemeinsamen politischen Überbaus?

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der deutschen Linken und der deutschen Gewerkschaften sowie Teile der französischen Linken zu dieser Politik. Sie scheinen tatsächlich zu glauben, dass Merkel und Sarkozy ein gemeinsames »europäisches Haus« bauen, in dem die Linke nun versucht, die Türen auszutauschen, den Boden zu putzen und eine neue Küche einzubauen. Es scheint, als hätten die wichtigsten Parteien der Linken ihre Fähigkeit eingebüßt, von der herrschenden Klasse unabhängige Strategien zu entwickeln. Wenn ich den Austritt der Randstaaten aus dem Euro fordere, dann geht es um einen radikalen Bruch mit den Klasseninteressen und nationalen Hierarchien, die gegenwärtig den Kontinent beherrschen. Die europäische Währungsunion ist mitnichten eine Allianz für Solidarität, Frieden und Völkerverständigung. Die Währungsunion ist ein Mechanismus, der primär dem Zweck dienen soll, die Interessen der großen Banken und Konzerne in Europa zu verteidigen. Und dieser Mechanismus wird so eingesetzt, dass er dabei den Interessen der Kernländer wie Deutschland und Frankreich auf Kosten der Länder der Peripherie wie Griechenland, Portugal und Spanien dient. Um es mal altmodisch zu formulieren: Die Währungsunion ist ein imperialistisches Machtinstrument. Selbstverständlich wollen die herrschenden Klassen Deutschlands und Frankreichs den Euro erhalten,

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Die Währungsunion ist kein Schritt hin zur Einheit Europas Ja klar, das erzählen uns die Regierungen die ganze Zeit – und leider auch die Linken und die Gewerkschaften. Ich akzeptiere das trotzdem nicht. Ich halte die Europäische Union nicht für das progressive Projekt, als das sie permanent unterschwellig angepriesen wird. Aber der Charakter der EU hat sich im Laufe der Zeit erheblich verändert. Sie ist heute nicht mehr die Gleiche wie vor 50 Jahren. Die gegenwärtige Europäische Union und insbesondere die Währungsunion dient den äußerst klaren und rücksichtslosen Klasseninteressen der Großindustrie und des Finanzsektors. Zudem hat die EU in der Krise zwei weitere problematische Aspekte offenbart. Zum einen beschneidet sie die Souveränität der Nationalstaaten, gerade einiger kleinerer Staaten. Europa erlebt gerade wieder, wie Leute aus dem Zentrum – Deutschland hat sich hier besonders hervorgetan – Ländern der Peripherie vorschreiben, was sie zu tun haben. Sie diktieren deren nationale Wirtschaftsund Sozialpolitik. Zum anderen verletzt die EU die Demokratie. Lange Zeit wurde sie als Garant der Demokratie dargestellt, als Instrument zur Sicherung der Freiheitsrechte der Europäer. Nun stellt sich heraus, dass sie das nicht ist. Wir sehen jetzt, dass die EU und insbesondere die Währungsunion dazu dienen, rücksichtslos Partikularinteressen – in diesem Fall die der Banken – auf der politischen Bühne durchzusetzen. Die Banker schreiben jetzt nicht nur die Wirtschaftspolitik vor – das machen sie seit Langem. Sie diktieren nun auch das politische Verfahren. Sie ernennen oder entlassen Regierungschefs. Sie ernennen oder entlassen ganze Regierungen. Es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass die Dinge anfangen auszusehen wie in der Weimarer Republik. Immer mehr Menschen in Europa haben den Eindruck, dass die parlamentarische Demokratie versagt, dass sie korrupt ist, von Leuten außerhalb des Parlaments kontrolliert wird, die lieber per Erlass regieren als durch Abstimmungen. Es entsteht gerade eine ziemlich unglaubliche und gefährliche politische Situation. Diejenigen, die die EU aufgrund vergange-

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ner Versprechen verteidigen, sollten sich die gegenwärtige Situation sehr genau anschauen. Ich will betonen: Das Argument für einen Austritt aus der Eurozone ist keines für Isolationismus oder eines gegen die Einheit der Menschen Europas. Es geht um den Charakter der Währungsunion, um die Wahrnehmung, wie sich die EU entwickelt, und auch darum, die Forderung nach einer europäischen Einheit wieder auf die Tagesordnung zu setzen – aber auf einer anderen Grundlage. Eine wirkliche europäische Einheit kann es nur geben, wenn sie auf den Interessen der Arbeiterklasse und der Solidarität der arbeitenden Menschen gründet. Europa braucht heute einen Schock, der den ganzen Kontinent durchrüttelt. Diesen Schock können nur die Beschäftigten herbeiführen. Der Kampf hat in der Peripherie angefangen, aber er muss sich in die Kernländer ausweiten. Der Rest Europas wartet darauf, dass die Beschäftigten in Deutschland sich gegen ihre Regierung wenden und ihre Innen- wie Außenpolitik angreifen. Das würde sofort den auf Peripherie lastenden Druck verringern und wäre ein erster Schritt zu einer europäischen Einigung von unten.

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eine zentrale Forderung scheint zu sein, dass die Linke in den europäischen Kernländern, also Deutschland und Frankreich, eine unabhängige und gegen die Regierungen gerichtete Position zum Euro vertreten sollte. Wie sollte die aussehen? Du bittest mich um ein vollständiges Programm für die gesamte europäische Linke? Das kann ich natürlich nicht leisten. Aber ich kann sicher sagen, dass das eine gemeinsame Anstrengung sein müsste, die im Austausch innerhalb der europäischen Linken entstehen sollte. Ich für meinen Teil denke, zwei Dinge sollten klar sein: Erstens brauchen wir einen Bruch mit Merkels Vorstellung von Europa – einen Bruch mit der Idee, dass die Währungsunion ein Schritt hin zur Einheit Europas sei. Die Idee von einer gemeinsamen europäischen Identität ist nobel und be-

rührt die Menschen. Aber eine EU, die als hierarchisches Kartell der herrschenden Klassen Europas organisiert ist, kann diese europäische Identität sicherlich nicht schaffen. Im Gegenteil, die gegenwärtige EU hetzt die Menschen gegeneinander auf, wie wir es im Fall der Deutschen und Griechen erlebt haben. Wir müssen die Einheit neu definieren, und das geht nur auf der Grundlage von Respekt für nationale Souveränität und Demokratie sowohl im Kern als auch am Rand. Eine europäische Einheit sollte von einem gemeinsamen Kampf ausgehen mit gemeinsamen Forderungen und gegenseitiger Unterstützung. Sie erfordert echte Solidarität, die von unten aufgebaut werden muss. Wie schaffen wir das? Wir müssen gemeinsame Kampffelder finden. Gerade dafür bietet uns die Krise die Gelegenheit. Natürlich gibt es große nationale Unterschiede, die Krise stellt sich in der Peripherie anders dar als im Zentrum. Dennoch gibt es viele Berührungspunkte. Wir können uns zum Beispiel alle auf die Forderung nach einer Umverteilung des Reichtums einigen. Die Arbeiter in Deutschland brauchen ganz klar höhere Löhne und die Umverteilung des Bruttoinlandsprodukts zu ihren Gunsten. Sie brauchen das Ende der Lohnzurückhaltung und die Umkehr von der Politik, die ihnen Regierung und Bosse aufgezwungen haben – Exporte auf Kosten des Lebensstandards der Beschäftigten. Umverteilung ist auch in den Randstaaten wichtig, die zentrale Frage ist hier der Euro. Also sollte die Linke in den Randstaaten ihren Kampf für Umverteilung in dem Kontext führen, der durch den Austritt aus dem Euro gesetzt wird. Die Linke im Kern kann den Rand unterstützen, indem sie für finanzielle Unterstützung der Menschen in den Randstaaten kämpft, die vor der Aufgabe stehen, ihre Wirtschaften neu zu strukturieren. Wir sind uns auch alle einig, dass wir die Banken in öffentlicher Hand sehen wollen, damit die Banken in den Dienst der Interessen der arbeitenden Menschen gestellt werden. Ebenso brauchen wir Kapitalkontrollen und die Unterbindung von Finanztransaktionen, von denen die arbeitenden Menschen keinen Vorteil haben. Von hier ist es kein großer Schritt zu der Feststellung, dass Finanzpolitik nicht die Domäne sogenannter Experten in Frankfurt sein sollte, deren Bilanz in den letzten Jahren mehr als schlecht war. Finanzpolitik sollte demokratischer Kontrolle unterliegen.


Wir brauchen keine elitäre, undemokratisch besetzte Europäische Zentralbank, um für unsere Interessen zu entscheiden. Die Schulden in Europa müssten komplett gestrichen werden. Wir müssen sehen, dass die sogenannten Rettungspakete nichts anderes sind als teure Kredite an die Randstaaten, um die Banken in Kerneuropa zu retten. Die Lasten tragen die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Randstaaten, die unter gigantischer Arbeitslosigkeit und Lohnverfall leiden. Das sind einige Forderungen, die mir sofort einfallen, die eine Grundlage für einen gemeinsamen Kampf und echte Solidarität darstellen können. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter in Mitteleuropa diese Linie verfolgen und für diese Forderungen in strukturierter Weise Druck machen, werden sie den Euro mit anderen Augen sehen. Und wenn die Beschäftigten in Deutschland einen spürbaren Lohnzuwachs erkämpfen würden, sähe auch die deutsche herrschende Klasse den Euro mit anderen Augen, weil er dann kein Mechanismus zur Gewinnung von Handelsüberschüssen mehr wäre. Dann hätten wir eine Basis für eine wirkliche europäische Einheit. Die Linke gemeinsam im Kern und an der Peripherie ist durchaus in der Lage, Europa aus dieser Krise zu holen. Dazu muss sie sich aber aus der Zwangsjacke der gängigen Europavorstellung befreien und eine eigene schlüssige Position entwickeln.

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Die Fragen stellte Stefan Bornost ★ ★★ MARX21.DE

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Christakis Georgiou: Europäischer Kapitalismus unter Druck, online unter: http://marx21.de/content/ view/1262/32/

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»Private Banken in öffentliche Hand« Wie kann die Krise beendet werden? marx21 dokumentiert Analysen und Lösungsvorschläge

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Oskar Lafontaine ist Fraktionsvorsitzender der LINKEN im saarländischen Landtag.

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eine Regierung ist in der Lage, sich aus dem Griff der Finanzwelt zu befreien. Auch gegen den Euro wurde munter spekuliert, ohne das effektiv etwas Vernünftiges unternommen wurde. Sie lassen sich alle wie ein Bär am Nasenring durch die Manege führen, entweder, weil sie direkt von der Finanzindustrie finanziert werden oder, weil ihnen weisgemacht wird, ohne das derzeitige System breche die Weltwirtschaft zusammen. Ein erster Schritt wäre es, Parteispenden von der Finanzindustrie zu verbieten. Leider werden CDU und CSU, SPD, FDP und Grüne von der Finanzindustrie gesponsert. (…) Es ist pure Ideologie zu glauben, es gäbe funktionierende Finanzmärkte. Was wir jetzt erleben, ist ein System, das zu falschen Preisen führt und überhaupt nicht funktionieren kann. Immer wieder entstehen durch unregulierte Märkte riesige Spekulationsblasen und enorme Ver-

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werfungen, die die Stabilität gefährden. Die Theorie, dass Märkte immer effizient sind, ist Unsinn. Im Finanzsektor muss der Staat seine starke Rolle zurückfordern, denn dieser Sektor hat eine ähnliche Bedeutung für die Wirtschaft wie der Blutkreislauf für den Menschen. Ich schlage für Deutschland vor, das öffentlich-rechtliche Banksystem einzuführen, wie wir es von den Sparkassen von früher kennen, einschließlich der Haftung durch die öffentliche Hand. Wir wollen eine durchgreifende öffentlich-rechtliche Organisation des Bankensektors. Im ersten Schritt müssen Privatbanken zumindest stark verkleinert werden. Keine Bank darf eine Bilanzsumme haben, die mehr als ein Zehntel des deutschen Bruttoinlandsprodukts beträgt.

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ie Staaten der EuroZone müssen endlich aus dem Würgegriff der Finanzmärkte befreit werden. Andernfalls wird ein Land nach dem anderen in den Teufelskreis aus steigenden Zinsen, wachsender Verschuldung und brutalen Kürzungsprogrammen getrieben. Es kann nicht sein, dass Merkel die Finanzkrise benutzt, um von immer mehr Eurostaaten brutale Kürzungsprogramme und Sozialdumping zu erpressen. In der jetzigen Situation ist die Finanzierung der Staatsschulden über die EZB nötig, sie kann allerdings nur eine vorübergehende Lösung sein. Langfristig muss die Geschäftemacherei der Privatbanken mit der Staatsverschuldung beendet und eine öffentliche Bank gegründet werden, die zinsgünstige Kredite an alle Euro-Staaten ausreicht. Darüber hinaus müssen die Staatsschulden über einen Schuldenschnitt sowie

Sahra Wagenknecht ist stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag.

OSKAR LAFONTAINE

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eine europaweite Vermögensabgabe für Millionäre auf ein tragbares Niveau gesenkt werden. Schließlich müssen alle privaten Banken in öffentliche Hand überführt und streng reguliert werden. Ohne eine Abschöpfung hoher Geldvermögen und ohne eine strikte Regulierung des Bankensektors führt die Finanzierung der Staatsverschuldung über die Zentralbank nur zu neuen Finanzblasen und Krisen, während die Zockerei an den Finanzmärkten weitergeht.

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SAHRA WAGENKNECHT


JÜRGEN HABERMAS

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Jürgen Habermas war bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1994 Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt.

© David Shankbone

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tik wäre eine solche Initiative gar nicht mehr zuzumuten, wenn sie sich tatsächlich zu einem selbstbezüglichen System geschlossen und gegenüber der Umwelt einer nur noch administrativ als Stimmenreservoir wahrgenommenen politischen Öffentlichkeit abgekapselt hätten. Dann könnten sich die Parameter für das, was in der Öffentlichkeit als selbstverständlich gilt, nur noch im Zuge einer sozialen Bewegung verschieben.

Wer die überregionale Presse in Amerika verfolgt hat, wird über die Reaktionen erstaunt sein, die »Occupy Wall Street« ausgelöst hat. Que de d lle: Jürg Zeit er Dem en Hab ung e o , 04 kratie, rmas: R .11.2 F e 011 rankfu ttet die . rter Allg Würeme ine

von den politischen Eliten nicht nur den üblichen Spagat zwischen Bürgerinteressen und dem Rat der Experten. Die erneute Anbahnung eines verfassungsgebenden Prozesses würde vielmehr ein Engagement verlangen, das von den Routinen des Machtopportunismus abweicht und Risiken eingeht. Dieses Mal müssten die Politiker in der ersten Person sprechen, um die Bürger zu überzeugen. Der Politik und Parteipoli-

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»Wake up« – »Wacht auf«, steht auf dem Schild dieses amerikanischen Demonstranten. Im Hintergrund der Zuccotti-Park, Basislager und Ausgangspunkt der Occupy-Bewegung

ie Hauptdarsteller auf der Bühne der EU- und Euro-Krise, die seit 2008 an den Drähten der Finanzindustrie zappeln, plustern sich empört gegen einen Mitspieler auf, der es wagt, den Schleier über dem Marionettencharakter ihrer Muskelspiele zu lüften. Inzwischen ist der Gemaßregelte eingeknickt. Über dieser Wendung sollten wir nicht vergessen, was aus dem Schauspiel zu lernen ist. Ist es wirklich der glückliche Sieg des Sachverstandes über den befürchteten Unverstand des Volkes oder eines Spielers, der sich zum Anwalt des Volkes aufwirft? Das griechische Desaster ist eine deutliche Warnung vor dem postdemokratischen Weg, den Merkel und Sarkozy eingeschlagen haben. Eine Konzentration der Macht bei einem intergouvernementalen Ausschuss der Regierungschefs, die ihre Vereinbarungen den nationalen Parlamenten aufs Auge drücken, ist der falsche Weg. Ein demokratisches Europa, das keineswegs die Gestalt eines europäischen Bundesstaates annehmen muss, muss anders aussehen. Dieses Projekt verlangt nicht nur institutionelle Phantasie. Die überfällige Kontroverse über Notwendigkeit und Nutzen eines solchen Projekts muss in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen werden. Das verlangt allerdings

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Kehraus an der New Yorker Börse: Die Party der »goldenen Zwanziger« fand ein jähes Ende – sie war auf Spekulation gebaut

Der letzte Crash Finanz- und Wirtschaftkrisen gehören zur Geschichte des Kapitalismus. Sie erzeugen Verlierer und Gewinner, verteilen Märkte und Profite neu – und geben die Gelegenheit, die gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse zu verändern. Nur zu wessen Gunsten?

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© www.wikimedia.de

Von Arno Klönne

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ktienabstürze, heftige Turbulenzen im so genannten Finanzmarkt, scheiternde Großbanken, Staatspleiten und die atemlose Suche nach »Rettungsschirmen« – neu oder überraschend ist all das nicht im historischen Prozess der auf Maximalprofit drängenden Verwertung von Kapital. Spekulation war und ist stets ein Element kapitalistischer Ökonomie. Der Spekulant aber, schrieb Friedrich Engels 1844, »rechnet immer auf Unglücksfälle«. Finanz- und Wirtschaftskrisen wirken durch Zerstörung »schöpferisch«, Konkurrenten können niedergemacht, Marktanteile neu erobert werden, die Hackordnung bei Unternehmen und Banken wird


novelliert, innerstaatlich und international. Ein weitreichender Crash setzt die Politik unter Druck, gesellschaftliche und zwischenstaatliche Machtstrukturen werden umgestaltet. Nicht anders war es nach dem »Schwarzen Freitag« 1929, in jener Weltwirtschaftskrise, die vielfach eine Erinnerungsfolie abgibt für den Diskurs über die aktuellen Brüche und Umbrüche im kapitalistischen Finanzsystem. Auslöser der weltwirtschaftlichen Turbulenzen ab Ende der 1920er Jahre war ein jäh auftretender Wertverfall von Aktien an der Wall Street, eine spekulative Großblase platzte. Nach Ende des Ersten Weltkrieges hatten die USA den Spitzenplatz im internationalen Kreditgeschäft erobert. Der Börsencrash in New York führte dazu, dass Anleihen im großen Stil zurückgezogen, Investitionsgelder gekündigt und Handelsbeziehungen reduziert wurden – die weiter aufstrebende wirtschaftliche Supermacht war nun für eine Weile damit beschäftigt, ihre inneren Verhältnisse zu stabilisieren. Der Hintergrund: Industriekapitalistische Massenproduktion braucht, wenn sie sich rentieren soll, massenhaften Absatz, möglichst viel Kaufkraft auch bei der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit – aber ein hohes Lohnniveau schmälert die Gewinne. Ein dauerhaftes Dilemma kapitalistischen Wirtschaftens, dem sich eine Kräftigung der Nachfrage durch Konjunkturspritzen oder kreditfinanzierte Aufträge des Staates am ehesten als Ausweg anbietet. Wirtschaftspolitik à la Keynes also, wenn man das so nennen will. Mit dem »New Deal« versuchte die US-amerikanische Politik diesen Weg zu gehen und nahm dabei einige Rücksicht auf die Konsumkraft der eigenen Bevölkerung. Wirklich erfolgreich war diese Politik aber erst, als unter den Bedingungen des Zweiten Weltkrieges die Rüstungsproduktion florierte, auch die für den Export. Die Kriegsituation gab den USA die Chance, im internationalen Kredit- und Währungsverkehr endgültig den ersten Rang zu besetzen und hier auch die britische Konkurrenz zu verdrängen. Ebenso profitabel war der nun erleichterte Zugriff auf die Bodenschätze ferner Territorien. Die epochenbestimmende weltwirtschaftliche Hegemonie der USA kam nun zustande. Anders der »deutsche Weg« nach dem Finanzcrash von 1929: Der Niederlage im Ersten Weltkrieg, der Inflation von 1923 und der harten politischen Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Verfassung der Weimarer Republik in ihren ersten Jahren war eine

kurze Zeit der »relativen Stabilisierung« gefolgt, auch des Wiederaufbaus industriekapitalistischer Fähigkeiten. Doch der eben zitierte Begriff täuscht hinweg über brisante Probleme und Konflikte der sogenannten »Goldenen Zwanziger Jahre«. Von einer in sich soliden, von parlamentarisch-demokratischen Kräften der »Mitte« regierten, nur durch »Extreme rechts und links« belästigten Republik kann auch für diese Phase gar keine Rede sein. Das deutsche Industrie- und Bankkapital hatte sich vom Ersten Weltkrieg einen »Platz an der Sonne« erhofft, die Vorherrschaft in einem »europäischen Wirtschaftsraum« und den Zugriff auf »Raum im Osten«. Diese Ambition war nach 1918 keineswegs aufgegeben. Der populäre Spruch, die »Fesseln von Versailles« müssten »gelöst« werden, zielte vorrangig auf solche wirtschaftsimperialistischen Pläne ab. Zudem wollten die meisten »Wirtschaftsführer« jene Konzessionen wieder rückgängig machen, die sie unter dem Druck der Arbeiterbewegung in den Jahren ab 1918 den sozialen Interessen der »Unterschichten« hatten machen müssen: Das Mitreden von Betriebsräten, den gewerkschaftlichen Einfluss auf die Tarife, die Fortschritte im gesetzlichen Sozialversicherungssystem, die Beschränkung der Arbeitszeit. Und selbstverständlich war es ihrer Meinung nach erforderlich, alle kommunistischen, rätedemokratischen und auf Sozialisierung drängenden Organisationen und Ideen von Staats wegen zu unterdrücken. Der »Schwarze Freitag« im Oktober 1929 und seine Folgen, so unangenehm sie zunächst für den einzelwirtschaftlichen Ablauf in Deutschland sein mochten, boten die Gelegenheit, diese Ziele operativ umzusetzen. Das verlief freilich nicht reibungslos und nicht ohne Risiken und »Kolalateralschäden«. Aber zum Kapitalismus gehört eben auch politische Spekulation. US-amerikanische Kredite wurden aus der deutschen Wirtschaft abgezogen, die industrielle Produktion ging drastisch zurück und viele Menschen wurden arbeitslos. Einige Banken mussten vom Staat »rettend« übernommen werden – als das Finanzgeschäft wieder Rendite abwarf, wurden sie reprivatisiert. An die Stelle parlamentarisch legitimierter Regierungen traten die Präsidialkabinette, vom Reichspräsidenten eingesetzt und mit »Notverordnungen« autoritär regierend. Das erste, unter dem Kanzler Heinrich Brüning, schlug einen rigorosen »Spar«-Kurs ein, mit existenzgefährdenden Einschnitten bei sozialen Leistungen und Kürzungen der Gehälter im öffentlichen Dienst. Massenarmut breitete sich rasch aus, die

An die Stelle demokratisch gewählter Regierungen traten autoritär herrschende Präsidialkabinette

Arno Klönne ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21.

TITELTHEMA Strategien gegen Bankenmacht

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Kaufkraft sackte ab. Deflation war das Resultat. Brüning ließ sich bei dieser Politik auch von der Absicht leiten, Zahlungsunfähigkeit bei den Reparationsverpflichtungen zu demonstrieren, auch er wollte »Versailles« sprengen. In diesem gesellschaftlichen Klima konnte sich Hitlers NSDAP mit ihrem rasanten Erfolg bei den Reichstagswahlen 1930 als Massenpartei etablieren, sie wurde bündnisfähig für die Deutschnationalen und die dieser Partei nahestehenden Verbände. Nun flossen ihr auch Gelder aus der Wirtschaft zu, und bei maßgeblichen Unternehmern und Bankern kam das Kalkül auf, die »Hitlerbewegung« als Vehikel für den Übergang in eine andere Staatsform, in eine kapitalistische Diktatur zu nutzen. Als die Präsidialkabinette von Papen und von Schleicher auch in den Augen ihrer schwarz-weiß-roten Freunde versagten und die Wählerzahlen für die NSDAP etwas zurückgingen, schien eine durchgreifende »Reichsreform« das Gebot der Stunde zu sein. Reichspräsident von Hindenburg, Symbol »preußischer« Tradition, wurde dazu animiert, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Im ersten Kabinett des »Dritten Reiches« waren deutschnationale »Fachleute« noch in der Mehrheit, aber der Weg war geebnet für den deutschen Faschismus. Dieser änderte den finanzpolitischen Kurs, in Richtung auf Staatsverschuldung, Konjunkturförderung durch Aufrüstung und Ausbau eines politisch sowie militärisch einzusetzenden »öffentlichen Dienstes«. Die Arbeiterbewegung wurde in die Illegalität verbannt und dort brutal verfolgt, die Betriebe wurden auf das Prinzip »Führer und Gefolgschaft« umgestellt. Militär- und außenpolitisch kamen die alten Ziele deutscher Großunternehmen und Banken wieder ohne Einschränkungen zur Geltung. Ein neuer Krieg als Mittel, den »europäischen Wirtschaftsraum« unter deutscher Herrschaft nun endlich durchzusetzen, war einkalkuliert. Deutsches Kapital konnte sich die schönsten Hoffnungen machen, und Staatsverschuldung war unter diesen Umständen kein Problem.

stiegshelfer verhindert, liegt nahe und ist keineswegs falsch. Aber sie reicht nicht aus. Um die Situation ab 1929 zu betrachten: Wie haben Sozialdemokraten hier und Kommunisten dort die anbrechende wirtschaftliche Krise gedeutet, welche Entwicklungen im politischen System haben sie erwartet, was waren ihre jeweiligen Handlungskonzepte? Etwas verkürzt: Die SPD vertraute auf rasche Rückkehr kapitalistischen Wirtschaftens zum Business as usual. Das mögliche Ausmaß und die gesellschaftspolitischen Folgen der Arbeitslosigkeit hat sie völlig unterschätzt. Dass im Rahmen kapitalistischer Ökonomie eine faschistische Staatsform sich etablieren würde, konnte sie sich nicht vorstellen. Gewaltbereiten Wirtschaftsimperialismus hielt sie für eine theoretische Konstruktion, von der man sich praktisch nicht in Unruhe versetzen lassen müsse. Schon bald, so ihre Erwartung, werde der Parlamentarismus wieder funktionieren. Also galt es, organisationsfest zu bleiben, nichts zu riskieren und auf wiederkehrende Vernunft der Wählerinnen und Wähler zu setzen. Die KPD glaubte an den großen Kladderadatsch zumindest des deutschen Kapitalismus, auf den Zusammenbruch des ökonomischen Systems. Überall identifizierte sie schon vor 1933 Faschismus, hielt aber dessen Politikfähigkeit für nur kurzzeitig, den Prozess der Hinwendung zur radikalen Linken objektiv beschleunigend – »Nach Hitler kommen wir«. Hitlers Zeit, so meinte die KPD, sei kurz bemessen, die repressive, aber auch integrative Energie des Faschismus wurde sehr unterschätzt. In einem merkwürdigen Widerspruch dazu stand die warnende Agitation der Kommunisten: »Hitler bedeutet Krieg.« Offensichtlich rechnete man aber nicht damit, dass diese realistische Voraussage sich bewahrheiten werde. Und so konzentrierte sich die KPD in der Phase der Wirtschaftskrise darauf, weiteren Anhang für’s Wählen und Demonstrieren zu finden und »Sowjetdeutschland« zu versprechen. Noch einmal anders eine Lageeinschatzung und Perspektive bei der damaligen Gewerkschaftsbewegung, zumindest einer Führungsgruppe des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes: Hier wurde mit einem politischen Formwandel des deutschen Kapitalismus gerechnet, in Richtung auf ein nationalkorporatives System. In diesem aber, so meinten die Gewerkschaftsführer, würden die Gewerkschaften ihren Platz behalten können. Diesem Wunschbild entsprach der gewerkschaftliche Aufruf im Frühjahr 1933, am »Tag der nationalen Arbeit« teilzunehmen. Am 2. Mai 1933 war eine solche, an der gewerkschaftlichen Basis illusionäre Verwirrung stiftende Ein-

Die damalige SPD hat Ausmaß und Folgen der Krise völlig unterschätzt

Arbeitslosigkeit gab es ab 1935 auch nicht mehr – was dazu beitrug, einen Teil der deutschen Arbeiterbevölkerung in die faschistische »Volksgemeinschaft« einzupassen. Dahin wirkte allerdings auch Resignation, Enttäuschung darüber, dass die deutsche Linke in ihren verschiedenen Richtungen dem an die Macht drängenden Faschismus den Weg nicht hatte versperren können. Woran lag es? Die Antwort, die Verfeindung innerhalb der Arbeiterbewegung habe eine gemeinsame Abwehrfront gegen die Nazis und ihre Auf-

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Reichspräsidentenwahl am 10. April 1932: Kanzler Brüning kommt aus dem Wahllokal in der Berliner Kanonierstraße. Zu diesem Zeitpunkt führten die SATruppen der Nazis den Kampf um die Straßen schon mit voller Härte schwach. Sie hat tiefgreifende historische Enttäuschungen hinter sich, in ihrem kommunistischen wie in ihrem sozialdemokratischen Sektor. Den »epochalen Veränderungen«, von denen die deutsche Bundeskanzlerin jetzt gern und etwas nebulös spricht, steht sie gedanklich und praktisch weitgehend hilflos gegenüber. Noch immer ist links die Hoffnung weit verbreitet, der Kapitalismus werde, wenn man ihm gut zurede und ihn durch bessere linke Wahlergebnisse beeindrucke, sich sozialpolitisch wieder freundlich zeigen. Der geheimnisvolle Finanzmarkt, glaubt die »linke Mitte«, werde sich mit Regulierungen anfreunden, die ihm die Turbulenzen abgewöhnen. Und daneben gibt es andere Linke mit einer ganz anderen Hoffnung: Noch ein Crash und der Kapitalismus werde zusammenbrechen, so meinen sie, bestärkt durch Trauergesänge im Feuilleton von Zeitungen, die sich über Anzeigen aus dem Finanzmarkt finanzieren. Aber die kapitalistische Ökonomie schafft sich nicht selbst ab, und in Krisenzeiten entwickelt sie neue Formen politischer Verwaltung und sozialer »Ordnung« – jetzt im europäischen Raum: »Postdemokratie« und Einrichtung dauerhafter Armutszonen. Die Linke, wenn sie in diesen Prozess eingreifen will, mit Wirkung auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, wird ohne neue analytische Anstrengungen nicht auskommen. ■

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Nicht anders als Ende der 1920er Jahre entzündeten sich die heutigen Turbulenzen im weltweiten kapitalistischen Getriebe an spekulativen Finanzoperationen in den USA, an deren Crash. Mehr noch als damals spielen sie sich in der Sphäre der großen Kreditgeschäfte ab, der Finanzmarkt hat gegenüber der so genannten Realökonomie, mit der er verknüpft bleibt, an Stellenwert gewonnen. Die Verschuldung von Staatshaushalten und die Sicherung des Profits, der daraus zu ziehen ist, stellen heute besonders wichtige Schauplätze des Kampfes um Verwertung von Kapital dar, auch die Konkurrenz um Terrain im Weltmarkt. Der europäische Wirtschaftsraum ist davon gegenwärtig heftig betroffen, es geht dabei nicht nur um Bestand oder Zerfall des Euro-Währungssystems. Die internationale Kapitalverflechtung ist, verglichen mit der Krise von 1929, dichter geworden. Als Administratoren von Kapitalinteressen sind neue Akteure im Spiel: der Internationale Währungsfond, die Europäische Zentralbank, der Europäische Stabilitätsfond, die Europäische Kommission. Aber nationale Regierungspolitik ist damit für die »Märkte« nicht überflüssig geworden, sie hat ihren instrumentellen Rang. Dabei zeichnet sich ein verändertes Politikmuster ab, hier auf den europäischen Kontinent hin betrachtet: Die parlamentarische Demokratie wird nicht abgeschafft, aber sie erfährt einen stetigen Verlust an Funktionen. In Staaten, die nicht mehr als kreditwürdig gelten, übernehmen »Fachleute« des internationalen Finanzmarktes die Regierungsgeschäfte. Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt in Kontinentaleuropa die wirtschaftspolitische Führungsrolle. Sie hat dafür zu sorgen, dass die »Schuldenbremse« streng eingesetzt wird, dass Sozialleistungen gestrichen und Löhne gesenkt werden. In Europa werde künftig »Deutsch gesprochen«, hieß es auf dem CDU-Parteitag in Leipzig. »Rechtspopulistische« Parteien in vielen Schattierungen greifen den Unmut über diese Entwicklungen auf, organisieren mittelständische nationale Unzufriedenheiten, stellen sich als anschlussfähig dar – auch für sozialen Protest aus der Arbeiterbevölkerung. Noch haben sie nicht die politische Kraft der historischen faschistischen Bewegungen, auch fehlt es ihnen an direkter Nützlichkeit für das große Kapital. Indirekt ist der »Rechtspopulismus« hilfreich für kapitalistische Vormacht: Er lenkt ideologisch ab von der sozialen Frage, biegt diese um in Ressentiments gegen die »Fremden«, gegen die »Bedrohung des Abendlandes«. Die Linke – hier als diffuses Potenzial begriffen – ist in den meisten europäischen Ländern

© Deutsches Bundesarchiv / Bild 102-13357

schätzung von der Geschichte überholt. Die Gewerkschaften wurden verboten. All das ist Vergangenheit. Trotz der katastrophalen Folgen von 1939 bis 1945 hat der deutsche Kapitalismus letztendlich nicht gelitten. Inzwischen existiert er auch wieder gesamtdeutsch.

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KOMMENTAR

Die Stunde der Technokraten Von David Meienreis

D

ie Krise fordert viele Opfer. Eines davon ist die Demokratie. Die Rettung der Banken auf Kosten der Bevölkerung verträgt sich einfach nicht mit öffentlicher Debatte und demokratischen Entscheidungsfindungen. In der Krise sollen die Interessen des Kapitals schnell, diskret und reibungslos durchgesetzt werden. Man stelle sich vor, es gäbe einen Volksentscheid über die Frage, ob die Masse der Bevölkerung weitere Einschnitte, Lohnkürzungen, Steuererhöhungen, Arbeitslosigkeit und Altersarmut akzeptieren möchte, um so hehre Werte wie den Jahresgewinn der Deutschen Bank zu retten. Das gesamte bisherige Krisenmanagement würde wohl quietschend zum Stillstand kommen. Deswegen werden die ohnehin mageren demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung weiter eingeschränkt. Hohe Beamte, Regierungsvertreter und Bankmanager ziehen die Geschäfte an sich – und aus dem Licht der Öffentlichkeit. Sowohl in den Krisen- als auch in den Gläubigerländern erleben wir den Übergang zu einem autoritär-technokratischen Regierungsstil. Um Widerstand im Keim zu ersticken, versucht ein breites Bündnis aus Politikern, Unternehmensvertretern und Medien jegliche Kritik an ihrem Vorgehen als unverantwortlich, irrwitzig und gemeingefährlich zu verschreien. »Wer das Volk fragt, wird zur Bedrohung Europas. Das ist die Botschaft der Märkte«, beklagt sogar der Chefredakteur der konservativen FAZ, Frank Schirrmacher. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums stellt der linke Philosoph Slavoj Žižek fest: »Die Ehe zwischen Demokratie und Kapitalismus zerbricht.« Beide Aussagen waren Reaktionen auf die Absage des griechischen Referendums. Aber man muss gar nicht ans andere Ende Europas schauen. Auch hierzulande musste erst das Bundesverfassungsgericht die Regierung zwingen, den Euro-Rettungsschirm

dem Bundestag zur Abstimmung vorzulegen. Vorgesehen war eigentlich, ein ungewähltes »Expertengremium« entscheiden zu lassen. Die gegenwärtige Krise ist tief. Nicht nur in dem Sinne, dass sie Geldmengen in historisch einmaliger Größenordnung verschlingt, sondern auch, weil sie die Funktionsweise des Kapitalismus und damit die politische und gesellschaftliche Herrschaft der Kapitalbesitzer in Frage zu stellen droht. Es geht nicht mehr nur um Quartalszahlen oder den Bankrott einzelner Unternehmen oder Staaten. Die Weltwirtschaftskrise stellt die Funktionsfähigkeit des gesamten Wirtschafts- und damit des Gesellschaftssystems in Frage. Massenobdachlosigkeit in den USA, hohe Arbeitslosigkeit in sämtlichen Industrieländern und exorbitant hohe Verschuldung von Unternehmen, privaten und öffentlichen Haushalten sorgen dafür, dass sich die Einschätzung immer weiter ausbreitet: Es kann nicht so weitergehen wie bisher. Die Herrschenden können nicht mehr so, wie sie wollen. Und die Beherrschten fangen an, ihre Beherrschung zu verlieren, weil zunehmend ihre Perspektiven und Lebensgrundlagen zerstört werden – ohne Aussicht auf Besserung. Die Krise ist deshalb kein rein wirtschaftliches Problem – ebenso wenig wie die Wirtschaft je »rein« wirtschaftlich war, sondern schon immer in enger Verzahnung mit dem Staat und der politischen Macht funktionierte. Diese Verzahnung wird jetzt sichtbarer, weil die Gangart rauer wird. Dementsprechend ist jede Bewegung gegen die Macht der Banken gleichzeitig auch eine Demokratiebewegung.

Die Ehe zwischen Demokratie und Kapitalismus zerbricht

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★ ★★ David Meienreis ist wirtschaftspolitischer Referent der Linksfraktion im hessischen Landtag.


Die Tea Party war gestern, jetzt prägt Occupy die politische Debatte in den USA. Steht die amerikanische Linke vor einem Comeback? Kaum einer kann das besser wissen als der langjährige Aktivist Joel Geier. Wir haben uns mit ihm getroffen

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»Der Geist ist aus der Flasche«

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ache Augen hinter den dicken Gläsern einer WoodyAllen-Brille, ein ironischer Zug um den Mundwinkel – wenn Joel Geier der Intercontinentalflug zugesetzt hat, dann verbirgt er es. Die Hände sind noch nicht geschüttelt, da kommen schon die ersten Fragen: Wie ich die Eurokrise einschätze, ob die MerkelRegierung überhaupt einen Plan hat, wie sich DIE LINKE in der Krise verhält. Der Mann ist auch im fortgeschrittenen Alter ein Lernender. »Ich war länger nicht in Berlin«, erzählt er. Eine Untertreibung, wie sich herausstellt. Joels letzter Besuch fand im Jahr 1968 statt. Er war damals auf Durchreise nach Prag, wo er sich den Aufbruch live anschauen wollte. Eigentlich wollte er sich in Ost-Berlin mit einer Genossin treffen. Der Termin platzte, weil nach einem ähnlichen Treffen SEDkritische Linke Besuch von der Staatsmacht bekamen. »›Bleib mal im Westen, ist besser für uns beide‹, hat sie gesagt«, so sein lakonischer Kommentar. Ein erster Interviewversuch scheitert an der Lautstärke im vollen »Schwarzen Café«. Dafür gibt es reichlich Eindrücke aus über 50 Jahren Aktivität als revolutionärer Sozialist – in den USA »und überall wo was los war«, vom Prager Frühling 1968 über die Portugiesische Revolution 1974 bis zum Occupy-Camp in New York. Der Abend vergeht schnell, der nächste Tag beginnt mit dem nachgeholten Interviewtermin im marx21-Redaktionsbüro. Die Polizei hat das Protestcamp in New York geräumt. Ist das das Ende der Bewegung? Sicherlich nicht. Selbst wenn der Staat erfolgreich alle Zelte abreißen sollte – der

Joel Geier

Joel Geier ist seit über 50 Jahren in der US-amerikanischen Linken aktiv. Er ist Herausgeber des Magazins International Socialist Review.

Geist der Bewegung ist aus der Flasche. Vielleicht wird sie in dieser Form nicht weitermachen können. Doch unabhängig davon hat Occupy die amerikanische Politik verändert. Vor Beginn der Proteste hatten öffentlich nur zwei Flügel der herrschenden Klasse miteinander gestritten. Auf der einen Seite die Tea Party, die die Restbestände des Sozialstaats abräumen will. Auf der anderen Seite die Regierung Obama, die auch starke Einschnitte durchführen will, aber nicht sofort, damit die Wirtschaft nicht einbricht. Die Millionen enttäuschter Obama-Wähler, die verhindern wollen, dass sich auch dieser Präsident den Banken an den Hals schmeißt, hatten überhaupt keine Stimme. Occupy

Besetzung des Betriebsgeländes im Hafen von Oakland, einem der vier größten Umschlagplätze der USA. Aktivisten und Gewerkschafter hatten zum ersten Generalstreik in der Stadt seit 1946 aufgerufen

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hat das geändert. Der Slogan »Wir sind die 99 Prozent« bringt dies fantastisch auf den Punkt: Eine winzige Minderheit bestimmt, und zieht die große Mehrheit über den Tisch. Die Bewegung hat zudem der darbenden Gewerkschaftsbewegung neue Impulse gegeben. Die Zeltlager sehen nun aber nicht wie eine klassische Gewerkschaftsveranstaltung aus... Klar, die meisten Gewerkschafter arbeiten tagsüber, die können nicht zelten. Aber die Zeltcamps sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Die Bewegung hatte von Anfang an die passive Unterstützung der Mehrheit, auch in der Arbeiterklasse. Wir sind im fünften Jahr der Krise und fast jeder Amerikaner ist davon betroffen. Von 150 Millionen Arbeitern sind 15 Millionen arbeitslos, weitere 10 Millionen befinden sich in äußerst prekären Jobs. Wenn nicht der Partner arbeitslos ist, dann die Geschwister. Die Kinder verlieren ihre Arbeit und müssen wieder bei ihren Eltern einziehen. Fast jede Familie ist von der Krise betroffen. Die Wohnsituation verschlechtert sich drastisch, Millionen haben ihr Haus verloren, viele werden folgen. Die Hauspreise sind um ein Drittel gefallen, die Hypotheken hingegen nicht. Dadurch sitzen viele Familien jetzt in der Schuldenfalle. Auch die Löhne sind in den letzten fünf Jahren um zehn Prozent gesunken, in der Erholung schneller als in der Rezession. Die Renten werden gekürzt, ebenso die staatlichen Beihilfen zur Krankenversorgung. Jeder weiß, dass die soziale Ungleichheit enorme Ausmaße angenommen hat: Die Löhne sind nicht höher als vor 40 Jahren, die Reichen haben alle Früchte des Wachstums der letzten 30 Jahre in ihre Tasche


Hoffnungsträger? Das war doch der Job von »Yes, we can!«-Barack-Obama... Ja, war. Obama wurde gewählt, weil er versprach, Bushs Kriege zu beenden, die soziale Ungleichheit zu bekämpfen, eine Krankenversorgung für alle zu schaffen. Die Resultate liegen bei nahe null. Die meisten Menschen sehen die ObamaRegierung mittlerweile als eine Fortsetzung der Bush-Regierung an. Das hat zu einer tiefen Demoralisierung geführt, auf deren Grundlage die Tea Party aufsteigen konnte. Dann kam die massive Bewegung in Wisconsin, wo sich Arbeiter und Angestellte gegen die Einschränkung von Gewerkschaftsrechten wehrten. Hunderttausende waren auf den Beinen, Studenten besetzten den Regierungssitz in Madison – und hatten die Unterstützung der großen Mehrheit. Der Kampf in Wisconsin ging zwar verloren, hat aber zusammen mit dem Arabischen Frühling den Impuls für Occupy gegeben. Du siehst Occupy sehr positiv. Dabei gibt es doch viele problematische Aspekte. Kalle Lasn, Chefredakteur des AdbustersMagazin und einer der Occupy-Initiatoren hat gesagt, er träumt davon, zusammen mit der Tea Party eine dritte Partei zu gründen. Wenn die Linke ihre Haltung zu einer Bewegung davon abhängig macht, was ein Clown darin sagt, dann hat sie ein Problem. Die meisten Occupy-Aktivisten sehen sich als Antithese zur Tea Party und nicht als Bündnispartner. Der Kontext ist doch dieser: Die Linke in den USA wurde vor 35 Jahren besiegt. Und zwar nicht nur die politische Linke, sondern auch die Gewerkschaftsbewe-

gung, die Arbeiterklasse insgesamt. In den 1960er Jahren war die Linke in den USA noch sehr groß, in den neoliberalen 1980ern marginal. Dies hier ist das erste große Revival der Linken seit vier Jahrzehnten. Es richtet sich gegen die Reichen und wird getragen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Arbeiterklasse und den unteren Mittelschichten, die keine Jobs finden und vor einer ungewissen Zukunft stehen. Das ist eine große Par-

Die meisten Bürgermeister, die den Aktivisten die Polizei auf den Hals gehetzt haben, sind Mitglied der Demokraten

allele zum arabischen Frühling und zu den Protesten in Spanien und Griechenland. Mit der Tea Party wird es kein Bündnis gegen die Reichen und die Banken geben – die Tea Party ist ja nun gerade der Sturmtrupp für die Reichen und die Banken. Nein, was wir hier sehen, ist der Start einer linken Bewegung. Hunderttausende sind aktiv, die Bewegung hat sich in jede größere Stadt ausgebreitet und hat nach Umfragen über 100 Millionen Sympathisanten – normale Menschen aus der Arbeiterklasse, deren Klassenbewusstsein nach Jahren der Demoralisierung angesprochen wurde. Die Bewegung hat sich unter dem Slogan »Occupy the hood« in die schwarzen Communities ausgebreitet. Das Thema Polizeigewalt führt die Leute zusammen – viele Occupy-Aktivisten erleben jetzt am eigenen Leib, womit die schwarze Community tagtäglich zu tun hat. Die Bewegung hat sich an den Universitäten ausgebreitet. Gewerkschaftsgliederungen im ganzen Land unterstützen die Bewegung, in Oakland gab es nach brutalen Attacken der Polizei sogar einen Generalstreiksaufruf, der in der Besetzung des Hafens münde-

te. Die Bewegung radikalisiert sich schnell durch Erfahrung. Am Anfang war die Mehrheitsposition »Die Polizei ist Teil der 99 Prozent, lasst uns kooperieren«. Mehr als 4000 Festnahmen und hunderte Verletzte später denken die meisten, dass die Polizei der knüppelnde Arm der Reichen und Banken ist. Anfangs war die vorherrschende Meinung, dass alle Entscheidungen im Konsens fallen müssen – eine völlig verständliche Situation in einem Land, wo die Meinung des Einzelnen in der Politik überhaupt nichts zählt und keinen Einfluss hat. Doch als in Oakland die Frage nach einem Aufruf zum Generalstreik diskutiert wurde und eine Entscheidung getroffen werden musste, hat sich die 2000 Leute starke Versammlung in kleinere Gruppen aufgeteilt und abgestimmt – der Generalstreiksvorschlag wurde mit 1484 zu 46 Stimmen angenommen. Die Situation ist sehr dynamisch. Klar ist nur, dass die Bewegung weitergehen wird. Wirklich? Im Norden der USA wird es jetzt bitterkalt, da ist Zelten recht hart... Klar, die jetzige Bewegungsphase wird bald enden. In manchen Städten haben die Aktivisten jetzt den Takt der Assembleas von täglich auf ein- oder zweimal die Woche geändert. Sie suchen Hallen, um sich drinnen, im Warmen zu treffen. Das heißt aber nicht, dass der politische Prozess endet. Ein Beispiel: Die meisten Bürgermeister, die den Aktivisten die Polizei auf den Hals gehetzt haben, sind Mitglieder der Demokratischen Partei. Das führt natürlich zu einer noch tieferen Entfremdung von den Demokraten, als es durch Obamas Versagen eh schon gegeben war. Das begrenzt den Spielraum der Demokraten, die Bewegung auf eine reine Wahlperspektive zu lenken, so wie sie es in der Vergangenheit gemacht haben. Das macht die weitere Entwicklung schwer vorhersehbar. In den 1960ern hat es Jahre gedauert, bis die verschiedenen Bewegungen wie die der Bürgerrechtler und die Vietnamkriegsgegner zusammenkamen und eine neue radikale Linken geboren haben. Damals gab es Höhepunkte der Bewegung, aber auch Tiefpunkte, an denen es schien, als wäre der vorherige Aktivismus verpufft. Wir stehen jetzt am Anfang eines ähnlichen Prozesses – und werden sehen, wie weit er führt. Die Fragen stellte Stefan Bornost

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fließen lassen. Gerade hat eine OECDStudie bestätigt, dass die ungleiche Verteilung des Reichtums in den Vereinigten Staaten zur größten in allen sogenannten entwickelten Ländern gehört. Die Studie stellte fest, dass die USA keineswegs das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« sind, sondern zu den Ländern gehören, in denen es am schwersten ist, die soziale Leiter empor zu klettern. Das alles wussten die Menschen natürlich oder fühlten es zumindest – dachten aber, sie könnten eh nichts ändern. Und dann kommt diese Bewegung, die ausspricht was alle denken. Occupy ist ein Hoffnungsträger dafür, dass ein anderes Amerika möglich ist.

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Die Fesselung der Giganten Die Macht der Banken muss gebrochen oder zumindest eingeschränkt werden – darin sind sich von Occupy, Attac über DIE LINKE bis hin zu SPD und Grünen alle einig. Doch wie soll das funktionieren?

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Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

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Von Stefan Bornost

it den Banken und anderen Großinstitutionen der Finanzwirtschaft hat sich die Occupy-Bewegung nicht den leichtesten Gegner ausgesucht. Im Oktober zeigte eine Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich auf, wie einflussreich die Finanzinstitute sind. Aus Daten von 37 Millionen Unternehmen schälten sie eine Supereinheit von 147 besonders mächtigen Unternehmen heraus. Diese Supereinheit ist ein in sich geschlossenes System. Ihre Mit-

glieder kontrollieren sich gegenseitig, weil sie sich über ein kompliziertes Geflecht von Beteiligungen größtenteils in wechselseitigem Besitz befinden. Die Analyse zeigt zudem die große Macht der Finanzinstitute: Der Kreis der 50 mächtigsten Unternehmen ist ein fast exklusiver Club von Banken, Fondsgesellschaften und Versicherungen. Insgesamt sind drei Viertel der Unternehmen der Supereinheit Finanzfirmen. Das heißt, eine kleine, ungewählte Minderheit von Superreichen und Managern verfügt über tausende Milliarden Euro. Sie entscheiden über Investitionen und über Schaffung oder Abbau von Arbeitsplätzen.


Einen kreativen Vorschlag, wie mit dieser Machtballung umzugehen ist, machte der ehemalige Fussballprofi Eric Cantona, der in einem Internetaufruf »eine Revolution« forderte. Da das System auf der Macht der Banken beruhe, könne es durch die Banken zerstört werden, lautet seine Analyse. Die Revolution wäre deshalb einfach. Es genüge, dass die Kunden ihr angelegtes Erspartes zurückfordern: »Wenn 20 Millionen Leute ihr Geld abheben, bricht das System zusammen, ohne Waffen, ohne Hass, ohne Blutvergießen.« Nun zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre, dass es gar nicht Massenabhebungen von Bankkunden bedarf, um Finanzinstitute in die Pleite zu treiben – das bekommen die Banken durch Spekulationen mit Schrottpapieren ganz alleine hin. Die Folge war aber nicht eine Revolution und der Zusammenbruch des Systems, sondern eine massive Staatsintervention zugunsten der Banken. Die Aberbillionen, die dafür eingesetzt wurden, werden jetzt mittels Sparprogrammen von der Bevölkerung geholt. Solange der Staat also im Interesse der Banken agiert, wird Cantonas Strategie nach hinten losgehen. Aber könnte der Staat nicht auch ganz anders handeln? Staatliches Handeln hat die Banken groß gemacht – es war der Staat, der ab Ende der 1970er Jahre schrittweise die Regulierung des Finanzsektors aufgehoben hat. Das hatte drastische Folgen, wie das Beispiel USA zeigt: Im Jahr 2010 hielten die sechs größten US-Geldinstitute ein Vermögen, das rund 63 Prozent der US-Wirtschaftsleistung entspricht. 1995 waren es lediglich 17 Prozent. Wenn der Staat die Banken von der Kette gelassen hat, dann liegt es sicherlich auch in seiner Macht, sie wieder an die Kette zu nehmen und sie auf die Rolle lokaler Kreditgeber zurechtzustutzen.

der Welt gegründet: die IG Farben. Während der NSZeit spielte der Konzern eine zentrale Rolle bei den Kriegsanstrengungen des Regimes. 1945 wurde das Unternehmen dann vom Alliierten Kontrollrat in Einzelunternehmen wie Bayer und BASF zerschlagen. Theoretisch haben staatliche Akteure also durchaus die Möglichkeit, gegen hohe wirtschaftliche Machtkonzentrationen vorzugehen. Tatsächlich hatten viele, auch Linke, nach der Lehmann-Pleite 2008 ebenfalls erwartet, dass der Staat den mittlerweile systemgefährdend operierenden Banksektor auseinander nehmen würde. Warum sollte er auch einen Wirtschaftssektor so weiterbestehen lassen, für dessen Versagen er fortwährend gerade stehen muss? Das »Ende des Neoliberalismus« wurde ausgerufen, »die Rückkehr des Staates« gefeiert. Vier Jahre später hat sich diese Hoffnung zerschlagen, denn es ist nichts passiert. Nicht mal auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in Höhe von 0,05 Prozent haben sich die EU-Finanzminister einigen können. Von der Enteignung oder Zerschlagung von Banken redet niemand mehr. Die Spekulation geht munter weiter und hat mittlerweile sogar Bereiche wie den Lebensmittelmarkt erfasst.. Die Folge: globalen Hungerkrisen trotz eines Überangebots an Nahrungsmitteln.

Tatsächlich hat es solche Einschnitte in der Geschichte des Kapitalismus schon gegeben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schockierte US-Präsident Theodore Roosevelt Großunternehmer wie J.P. Morgan, die mit ihren Konzernen zu viel Marktmacht und politischen Einfluss gewonnen hatten, mit einschneidenden Gesetzesänderungen. Ihr Monopol wurde stark beschnitten, der Wettbewerb verschärft. Das geschah aufgrund hohen öffentlichen Drucks. 1912, zehn Jahre nach diesen Reformen, war die öffentliche Meinung so weit gegen die Monopole radikalisiert, dass auch John D. Rockefellers Megakonzern Standard Oil in 34 kleinere Unternehmen aufgeteilt wurde. In Deutschland hatte sich 1925 durch Unternehmenszusammenschlüsse das größte Chemieunternehmen

Warum ist der Staat untätig geblieben? Zum einen hat das damit zu tun, dass die Banken nicht nur Kreditgeber für Privatpersonen und Unternehmen sind, sondern auch für die Staaten. Paradoxerweise hat die Bankenrettung die Abhängigkeit des Staates von den Banken nicht gelockert, sondern verschärft. Denn die Staatsschulden sind durch die Rettung explodiert. Hauptgläubiger sind die Banken. Dadurch haben sie eine Machtposition, die zum Beispiel Standard Oil niemals hatte. An dieser Realität werden auch Vorschläge wie die des SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel nicht vorbeikommen. Er möchte den Geschäftsbankbereich vom Investmentbanking trennen. Eine Geschäftsbank bietet Dienstleistungen für den Zahlungs-, Kredit- und Kapitalverkehr von Kleinkunden an, im Investmentbanking wird das große risiko- und profitträchtige Spekulationsrad gedreht. Warum sich die Banken von ihrer Cash-Cow trennen sollten, weil nun gerade die Sozialdemokratische Partei Deutschlands das fordert, bleibt Gabriels Geheimnis. Wir sind auf der sicheren Seite, wenn wir annehmen, dass die Neuordnung der Banken im Falle einer SPD-Regierungsübernahme 2013 kein Thema mehr sein wird. Denn die Umstrukturierung, Zerschlagung oder gar Enteignung der

SCHWERPUNKT 10 Jahre Afghanistankrieg

Der Staat hat sehr wohl die Möglichkeit, gegen wirtschaftliche Machtkonzentrationen vorzugehen

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Es wäre nicht das erste Mal, dass staatliche Intervention gegen das Kapital das Tor für weitergehende Forderungen nach Vergesellschaftung öffnen würde. Nach dem Sieg über Nazi-Deutschland machten sich die Alliierten in den westlichen Besatzungszonen an die Entflechtung der in der Hitlerischen Kriegswirtschaft entstandenen wirtschaftlichen Strukturen. Ihr Ziel war natürlich nicht der Sozialismus, sondern die Etablierung eines leistungsfähigen, aber nicht zu zentralisierten Kapitalismus im Frontstaat des heraufziehenden Kalten Krieges. Doch die Eingriffe traten insbesondere im Ruhrgebiet eine Bewegung los, deren Forderungen mit »Großindustrie in Volkeshand« und »Enteignet die Kriegsverbrecher und Ruhrbarone« weit über die Vorstellungen der Alliierten hinausging. Die Bewegung konnte nur durch Waffengewalt gebrochen werden. Aufgrund solcher Erfahrungen, auch in anderen Ländern, sind Regierungen grundsätzlich sehr vorsichtig, was Eingriffe in die Verfügungsgewalt des Kapitals angeht. Einige wenige Regierungen sind, meist unter massiven Druck von Bewegungen, über ihren Schatten gesprungen und haben den Angriff auf das Kapital gewagt – und sich die Zähne ausgebissen. Dieses Schicksal ereilte zum Beispiel die Mitterand-Regierung Anfang der 1980er in Frankreich. Getragen von einer weit verbreiteten linken Stimmung und Mobilisierungen von unten, startete Mitterand 1981 ein ambitioniertes Reformprogramm, schuf Stellen im öffentlichen Dienst und hob Löhne und Renten an. Im folgenden Jahr verstaatlichte die Regierung 39 Banken, zwei Finanzholdings und fünf Industriekonzerne. Die Unternehmer, die Teile dieser Politik finanzieren sollten, schlugen zurück. Sie hörten auf, zu investieren, die Banken brachten ihr Geld in andere Länder. Die französische Währung wurde dreimal abgewertet. Daraufhin brach Mitterand ein. Er beendete sein Reformprogramm und machte fortan neoliberale Politik im Interesse der Großunternehmen und Banken. Mit welcher Härte die Herrschenden ihren Besitzstand verteidigen, erlebten im September 1973 auch der chilenische Präsident Salvador Allende und seine Anhänger. Mindestens 3000 Menschen starben beim vom General Augusto Pinochet angeführten Militärputsch. Unter den Ermordeten war auch Allende selbst. Er hatte versucht, die von ausländischen, vor

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© Banksey / Foto: caruba / flickr.com

Banken von Seiten des Staates wirft Fragen auf, die man als treuer Verwalter des kapitalistischen Systems in Regierungsverantwortung nicht gerne hört: Wenn die Banken in öffentliche Verantwortung gebracht werden können, warum nicht andere Bereiche der Wirtschaft? Ist es ein Naturgesetz, dass die Wirtschaft demokratischer Kontrolle weitgehend entzogen ist? Wenn Wirtschaft dazu gebracht werden kann, für die Menschen zu funktionieren und nicht nur für Profit, wozu brauchen wir dann »Unternehmer«?

allem amerikanischen Konzernen kontrollierten Bodenschätze und die landwirtschaftliche Produktion zu verstaatlichen, um die chilenische Bevölkerung am Reichtum ihres Landes zu beteiligen und eine eigenständige Entwicklung zu ermöglichen. Staatliches Handeln zur Einschränkung der Banken- und Konzernmacht stößt also an Grenzen: Entweder wollen die staatlichen Verantwortlichen nicht oder sie können nicht oder sie werden nicht gelassen. Dennoch sollten wir den Staat nicht aus der Verantwortung lassen. Trügerisch ist nur die Hoffnung, dass der Staat agiert, weil wir eine Forderung in den Raum stellen oder weil linke Parteien Mehrheiten im Parla-


ment haben. Um sich der realen Macht der Konzerne und ihrer bewaffneten Helfer entgegenzustellen, ist eine ebenso reale Gegenmacht notwendig. Dafür ist die Occupy-Bewegung ein Kristallisationspunkt. Aber auch ein optimistischer Aktivist kann nicht davon ausgehen, dass ein Protest von Zehn- oder auch Hunderttausenden das Räderwerk der Finanzindustrie zum Halten bringen wird. Ist der Protest deshalb fruchtlos, sollten sich die Aktivisten lieber »ein Bad nehmen und sich danach einen anständigen Job suchen«, wie der Republikaner Newt Gingrich empfahl? Nein, denn es besteht die reale Möglichkeit, den Protest weit über die Zahl derer auszuweiten, die jetzt schon involviert sind. Breite Mehr-

heiten unterstützen die Bewegung – Arbeiter, Arbeitslose, Rentner, Jugendliche, all diejenigen, die unter der neoliberalen Politik gelitten haben. In Deutschland sind es zwar nicht 99 Prozent, aber immerhin 78 Prozent, die die Proteste berechtigt finden. Darunter befinden sich auch viele Mitglieder der Gewerkschaften, die große organisatorische Kapazitäten haben, um Gegenmacht auf die Straße zu bringen. In den USA ist an vielen Stellen der Brückenschlag von Occupy zur Gewerkschaftsbewegung, aber auch zur Schwarzen- und Anti-Kriegs-Bewegung gelungen. Hier steht dieser Prozess noch ganz am Anfang – es ist aber eine Einheit, um die zu kämpfen es sich lohnt. ■

TITELTHEMA Strategien gegen Bankenmacht

Wandgemälde des Streetart-Künstlers Banksy. Er spielt auf die französische Königin Marie Antoinette an, die 1789 angesichts der revolutionären Massen ausgerufen haben soll: »Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie Kuchen (cake) essen.«

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Mut zum Aktivismus Die Occupy-Bewegung ist in Deutschland angekommen. Sie betrachtet alle Parteien mit Skepsis – auch DIE LINKE. Doch die braucht eine ehrliche und offene Debatte nicht zu scheuen

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Luigi Wolf war im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 im Bundeswahlbüro der LINKEN tätig. Derzeit schreibt er eine Doktorarbeit über »Führung und Partizipation in gewerkschaftlichen OrganizingKampagnen«.

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Von Luigi Wolf

oziologen sollen ja eigentlich die Gesellschaft erklären können – im Idealfall sehen sie deren Entwicklungen sogar voraus. »Vergiss die USA. Es ist das letzte Land, in dem irgendeine progressive Massenbewegung entstehen wird.« So schätzte noch im Sommer Michael Burawoy, einer der prominentesten und dazu einer der wenigen marxistischen Soziologen der USA, die Lage in seinem Land ein. Vielleicht erklärt das die Überraschung und Begeisterung, die »Occupy Wallstreet« hervorrief. Die Proteste vor der New Yorker Börse zeigten auf, dass Verzweiflung und Zerfall in der US-Gesellschaft nicht nur den organisierten rechten Wahnsinn der Tea-Party-»Bewegung« nähren müssen. 200 Menschen, die vor knapp drei Monaten vor der Wall Street demonstrierten und dann eine kleine Zeltstadt errichteten, wurden plötzlich zu einer landesweiten politischen Kraft. Die Occupy-Wallstreet-Bewegung – oder OWS, wie sie sich in den US-Medien als selbstverständliche Abkürzung etabliert hat – ist mittlerweile laut landesweiten Umfragen wesentlich beliebter als die mit vielen Millionen Dollar gesponserte Tea Party. OWS löste eine globale Mobilisierungswelle aus. Nur vergleichbar mit dem 15. Februar 2003, als weltweit 15 Millionen Menschen gegen den damals drohenden Irakkrieg demonstrierten, inspirierte OWS Menschen rund um den Globus. Mit einer Mobilisierungszeit von lediglich vier Wochen gelang es, am 15. Oktober Millionen Menschen in über 1000 Städten auf der ganzen Welt auf die Straße zu bringen. An diesem Tag kam die Bewegung auch in Deutschland an. 20.000 Demonstranten in Berlin und Frankfurt und Zeltlager von einigen hundert Aktivisten mögen da zunächst bescheiden anmuten. Und in der Tat ist die Basis in Deutschland eine andere als in anderen europäischen Ländern. Während in Portugal, Griechenland und Spanien die Wirtschaftskrise so existentiell geworden ist, dass sie allgemein mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er verglichen wird, scheint sich

Deutschland von dieser Entwicklung abzukoppeln. Die niedrigste Arbeitslosigkeit seit zwanzig Jahren und ein Exportrekord scheinen dem Krisenkorporatismus von Regierung Merkel und der IG Metall (Verlängerung des Kurzarbeitergeldes, Abwrackprämie, kaum Entlassungen gegen Lohneinbußen und sozialen Frieden) zu bestätigen. Angesichts dessen ist die Resonanz erstaunlich, auf die die Occupy-Bewegung in Deutschland stößt. Schon im August fragte der Herausgeber der FAZ, des Flagschiffs des deutschen Konservatismus, ob die Linke mit ihrer Kapitalismuskritik nicht doch Recht hatte. Damit war das Wirkungsfeld der Occupy-Bewegung zunächst bestimmt. Nicht Massenprotest, sondern eine tiefgreifende ideologische Grundsatzdebatte ist der Hauptverdienst, der weit über die Mobilisierung von 20.000 Demonstranten hinausgeht und sich in Umfragen in einer Unter-


Die Repräsentanten haben die Repäsentierten zu oft verraten

umarmen!«, rief deswegen der marxistische Philosoph Slavoj Žižek bei einer viel beachteten Rede vor 10.000 Menschen in New York. Die Abwehrreaktionen solcher Vereinnahmungsversuche treffen manchmal auch DIE LINKE. Die Partei braucht allerdings eine ehrliche und offene Debatte nicht zu fürchten. So haben beispielsweise die Empörten, wie die Bewegung in Spanien heißt, sich zwar angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen nicht zu einer parteipolitischen Positionierung durchringen können. Auf der letzten großen Demonstration vor der Wahl trugen sie stattdessen die regierende sozialistische Partei in einem großen symbolischen Trauerzug zu Grabe, weil diese alle ihre Ideale verraten habe. Gleichzeitig führte die Bewegung aber eine eigenständige, unabhängige Massenaufklärungskampagne zu den Wahlen durch. Sie warnte vor der Stimmenthaltung, die nur den Konservativen nützen würde. Und sie stellte Solidaritätsaktion mit Occupy beim Parteitag der LINKEN. Politisch steht die Partei der Bewegung sehr nahe – wird aber von ihr verdächtigt, Teil des etablierten Systems zu sein

TITELTHEMA Strategien gegen Bankenmacht

Schnell werden die Linken Gelegenheit haben, sich in den Augen der Aktiven zu beweisen. Alle äußern sie

Verständnis für die Bewegung. Selbst Angela Merkel ist nun für eine Börsentransaktionssteuer und von Sigmar Gabriel ist Selbstkritik an der letzen sozialdemokratischen Regierung zu hören. »Lasst Euch nicht

© DIE LINKE

stützung von 87 Prozent für die Bankenproteste ausdrückt. Um so irritierender ist es, wenn diejenigen, die seit vielen Jahren die Kapitalismuskritik öffentlich geübt haben und immer vor der Krise gewarnt haben – nämlich Anhänger und Mitglieder der LINKEN –, nicht die Träger dieser Bewegung darstellen und auch nicht unbedingt mit offenen Armen auf den Protestversammlungen der Occupy-Bewegung empfangen werden. Die Bewegung ist in der ganzen Welt sehr parteien- und organisationskritisch. Sogar von Handgemengen ist berichtet worden, wenn Mitglieder der LINKEN nicht ihre Fahne einrollen wollten, falls diese auf den Protestversammlungen als unerwünscht erklärt wurden. Die Skepsis der Aktivisten ist verständlich. Sie drückt aus, dass die Repräsentanten die Repräsentierten zu oft vertreten und dann verraten haben. Dass sie wie die Grünen als Friedenspartei gestartet sind und als Kriegspartei endeten. Oder wie Michael Sommer, der am 3. April 2004 der rot-grünen Regierung auf einer Großdemonstration von einer halben Million Menschen gegen die Agenda 2010 einen »heißen Herbst« ankündigte, um dann im September des gleichen Jahres Wahlkampf für die SPD zu machen. Der Anspruch der neuen Aktivisten-Generation, die eigenen Interessen von niemanden vertreten zu lassen, sondern die Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, sollten wir als Stärke verstehen, die einem Sozialismusverständnis der Selbstbefreiung sehr verwandt ist.

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das Abstimmungsverhalten und die politischen Positionen aller – also auch der kleinen linken – Parteien vor. Bei der Wahl am 20. November konnte Izquierda Unida, die Vereinigte Linke, ihre Stimmenzahl um 700.000 steigern und damit fast verdoppeln. Auch andere linke Unabhängigkeits- und Autonomielisten gewannen massiv Stimmen hinzu.

Deutschland ist mittlerweile der letzte Ort, wo eine radikale Widerstandsbewegung erwartet wird

Auch in Deutschland werden die Menschen von der Occupy-Bewegung konkrete Antworten erwarten. Sowohl die Regierung Merkel als auch Sozialdemokraten und die Grünen bieten nun die Regulierung jener Finanzmärkte an, deren Deregulierung sie gemeinsam durchgeführt haben. Gleichzeitig betreiben sie die Euro-Diktatur, die in Griechenland im Interesse der Banken die Demokratie aushebelt, wie die Verhinderung des Referendums gezeigt hat. »Echte Demokratie jetzt« fordert die Occupy-Bewegung. Das kann nur die demokratische Kontrolle über den Bankensektor bedeuten – eine Forderung, die DIE LINKE als einzige politische Partei aufstellt. Auch in der Schuldenfrage hält die Occupy-Bewegung schon jetzt einen entscheidenden Schlüssel in der Hand. Wenn sie verkündet: »Wir sind die 99 Prozent«, dann meint sie damit, dass ein Prozent der Superreichen das Problem sind. Was nach einer einfachen, eingängigen, populistischen Parole klingt, beschreibt die Realität erstaunlich präzise: In Deutschland gibt es 830.000 Millionäre, die zusammen 2,2 Billionen Euro Finanzvermögen besitzen. Das ist mehr als jene 2 Billionen Euro, mit denen Bund, Länder und Kommunen zusammen verschuldet sind. Der Reichtum dieses einen Prozents der Bevölkerung ist noch dazu in direkt umgekehrtem Verhältnis zum Wachstum der Staatsschulden entstanden. Oder anders gesagt: Der Reichtum der Wenigen ist identisch mit der Verschuldung der Vielen. DIE LINKE schlägt nun vor, eine einmalige Abgabe von 50 Prozent auf dieses Finanzvermögen vorzunehmen und damit auf einen Schlag die Staatsschulden zu halbieren. Schuldenfrage und Bankenrettung zeigen exemplarisch, wie demokratisches Denken und gesunder Menschenverstand die Occupy-Bewegung zur Programmatik der LINKEN bringen könnte. Der enorme Popularitätsschub, den Sahra Wagenknecht in letzter Zeit durch ihre Kapitalismuskritik erfuhr, ist dafür ein ermutigender Hinweis. Das sollte den LINKEN die

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nötige argumentative Geduld und das Selbstbewusstsein geben, in einen offenen Dialog mit der OccupyBewegung zu treten und gemeinsam mit dieser nach spanischem Vorbild Volksuniversitäten in Zelten, auf öffentlichen Plätzen und in Universitätsräumen zu errichten. Aber DIE LINKE hat auch schon lange die Erfahrung machen müssen, dass allein die Popularität ihrer Forderungen noch keine Durchsetzungsmacht bedeutet. Hier könnten die Erfahrungen von Occupy Oakland in Kalifornien lehrreich sein. Dort hat die Occupy-Bewegung, nachdem eine Zeltstadt gewaltsam geräumt wurde, die Empörung darüber zur mutigen Mobilisierung genutzt. Intensiv in Arbeitsgruppen von je 40 Personen diskutiert, stimmten auf einer Generalversammlung 1484 Aktivisten für und 40 gegen einen Aufruf zu einem eintägigen Protestgeneralstreik. Eine fieberhafte – systematisch organisierte, aber bisweilen auch karnevalesk-ausgelassene Mobilisierung in der Stadt führte schließlich dazu, dass Lehrer, Krankenschwestern und Hafenarbeiter den Streik mehr oder weniger aktiv unterstützten und erstmals seit 1946 ein Generalstreik eine US-amerikanische Stadt lahmlegte – und damit den fünftgrößten Hafen des Landes. Eine Portion aktivistischen Mutes könnte auch die bundesdeutsche Linke vertragen. Es geht eben nicht nur darum, gute Forderungen aufzustellen und zu warten, bis sich diese in Gewerkschaften und Verbänden oder aber auch durch geduldige Aufklärung in einer Hegemonie in den Köpfen der Mehrheit festsetzen. Aktivistischer Mut kann selbst zu einer aufklärerischen Kraft werden, da er Ohnmacht und Zynismus in einer kollektiven Erfahrung überwindet und damit die Köpfe der Menschen für neue Argumente und Erfahrungen zugänglich macht. Auch wenn unklar ist, ob die Occupy-Camps überwintern können, konstituieren die Occupy-Aktivisten eine neue politische Generation. Das Verhältnis zu dieser wird über die Zukunft der Linken entscheiden. Überwindet sie Pessimismus und Selbstbeschäftigung, kann DIE LINKE hierzulande eine produktive Rolle spielen. Wenn sich jahrelanges, geduldiges, strategisches Netzwerken mit der Energie der Occupy-Bewegung verbindet, kann die Linke zu einem Motor gesellschaftlicher Aktivierung werden. In den USA waren es gerade radikale Linke, die in OutreachCommitees (Ausweitungskomitees) ihre Rolle in der Bewegung fanden. Der Generalstreik von Oakland zeigt, dass dies durchaus zu beiderseitigem Vorteil geschah. Sollten ein durch die Eurokrise bedingter Einbruch des Exportes oder Attacken auf den öffentlichen Dienst in Vorwegnahme der Schuldenbremse den deutschen Sonderzustand beenden, wäre die Linke dann gut platziert. Auch hierzulande könnten wir die Soziologen überraschen. Denn Deutschland ist mittlerweile der letzte Ort, an dem sie eine radikale, massenhaft getragene Widerstandsbewegung erwarten. ■


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TITELTHEMA Strategien gegen Bankenmacht


SCHWERPUNKT 10 Jahre AfghanistankrieG

ŠThe U.S. Army

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Von westlichen Gnaden Die Geschichte der Taliban


In Feindesland Zehn Jahre nach Beginn des Afghanistankriegs wird die Niederlage des Westens immer deutlicher. Doch ein kompletter Truppenabzug kommt für die NATO nicht in Frage. Dafür steht zu viel auf dem Spiel Von Christine BuchHolz und Stefan Ziefle

Anfang Dezember findet in Bonn die Internationale Afghanistan-Konferenz statt. Laut Auswärtigem Amt wird die internationale Staatengemeinschaft dort zusammenkommen, um »die Weichen für die Zukunft Afghanistans« zu stellen. Doch betrachtet man die Situation in dem asiatischen Land genauer, so wird schnell deutlich, dass es keine Zukunft hat, solange sich westliche Truppen dort befinden. Auch im zehnten Jahr des ISAF-Einsatzes kontrollieren Aufständische oder regierungsfeindliche Grup-

pen weite Teile Afghanistans. Dementsprechend bleibt der Schwerpunkt der Bundeswehr-Aktivitäten laut Verteidigungsministerium, »die Stabilisierung des Kundus-Baghlan-Korridors«. Als »Gesamtziel der Operation« benennt die Hardthöhe: »In der Provinz Kundus den gegnerischen Einfluss auf die Verbindungsstraße zwischen dem Grenzübergang nach Tadschikistan und der südlichen Nachbarprovinz Baghlan zu neutralisieren.« Das verdeutlicht: Die NATO verfügt über nicht mehr als ein paar Inseln der Kontrolle in einem Meer der Feindseligkeit. Auch die im November 2009 von USPräsident Barack Obama beschlossene Truppenaufstockung und der massive Ausbau der afghanischen »Sicherheitskräfte« konnten den Aufstand gegen die Regierung Karsai und die NATO nicht ersticken. Ein Grund dafür ist, dass die westlichen Truppen als Besatzer wahrgenommen werden. Laut einer im Oktober veröffentlichten Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung sehen das 56 Prozent der afghanischen Bevölkerung so. Vermutlich ist die Stimmung im Land sogar noch feindseliger, denn die Umfrage war keineswegs repräsentativ. Sie wurde nur in einem dem Westen »freundlichen« Umfeld durchgeführt. Eine andere, Mitte September veröffentlichte Studie zeigt auf, wie die Zivilbevölkerung von der Besetzung betroffen ist – etwa durch nächtliche Razzien. Mittlerweile führen die ISAF-Truppen durchschnittlich 19 solcher Kommandoaktionen pro Tag durch. Laut Studie hat die Ausdehnung der Razzien »das Schlachtfeld direkt in die Häuser der Afghanen gebracht«. Unter der Bevölkerung habe sich die Ansicht verstärkt, dass »das internationale Militär die nächtlichen Razzien nutzt, um straflos Zivilisten zu töten, zu bedrohen und zu drangsalieren«. Die Zahl der Todesopfer hierbei stieg im vergangenen Jahr um 84 Prozent. Den Blutzoll des Krieges trägt hauptsächlich die afghanische Bevölkerung. Alleine von Juni bis August wurden laut UN monatlich zwischen 971 und 1411 afghanische Zivilisten getötet. Das sind noch einmal fünf Prozent mehr als während desselben Zeitraums im vergangenen Jahr. Auch wenn die meisten dieser

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Christine Buchholz ist friedenspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.

Stefan Ziefle ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik der LINKEN.

SCHWERPUNKT 10 Jahre Afghanistankrieg

n bester Body-Count-Manier verkündet die ISAF Monat für Monat den Tod hunderter Aufständischer. Es wirkt, als wolle die »Internationale Schutztruppe« für Afghanistan der kriegsmüden Bevölkerung zu Hause signalisieren: Es geht voran! Seit Mai 2011 habe man »mehr als 450 feindliche Kämpfer getötet und fast 300 gefangen genommen«, teilte die Truppenführung Ende September mit. Die aktuelle Zahl »feindlicher Kämpfer« schätzt die ISAF auf rund 25.000. Das sind – trotz der Festnahmen und Tötungen – genauso viele wie letztes Jahr und wie im Jahr zuvor. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass der Krieg des Westens nicht so läuft wie erhofft. Die Bundesregierung weiß genau, wie die »Sicherheitslage« ausschaut. Die ISAF hat beispielsweise allein in der Woche vom 10. bis zum 16. Oktober diesen Jahres 732 »Sicherheitsvorfälle« registriert. Dabei handelte es sich um 493 Schusswechsel und Gefechte, 119 Sprengstoffanschläge sowie 100 Vorfälle von indirektem Beschuss (Mörser und Raketen) und 20 sonstige Vorfälle. Insgesamt wurden bei den Vorfällen sieben ISAF-Soldaten getötet und 82 verletzt. Woche für Woche geschieht praktisch dasselbe. Einzig die Zahlen verändern sich – und zwar tendenziell nach oben. Laut Vereinten Nationen nahmen die »gewaltsamen Vorfälle« im ersten Halbjahr um 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Im Oktober bekamen die Parlamentarier zudem die Zunahme posttraumatischer Belastungsstörungen bei zurückgekehrten Soldaten präsentiert. 587 Fälle wurden zwischen Januar und September gemeldet.

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Menschen bei Angriffen von Aufständischen zu Tode kamen, sind sie doch Opfer der Besetzung. Ähnlich unbeliebt wie die NATO ist auch die von ihr unterstützte afghanische Regierung. Präsident Hamid Karsai wurde vor zehn Jahren bei der Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn in sein Amt eingesetzt. Seitdem hat er ein Bündnis ehemaliger und aktueller Regionalfürsten und Kriegsverbrecher geschmiedet, das bis heute vollkommen vom Westen abhängig ist. So herrscht es lediglich über jene Teile des Landes, die von der NATO kontrolliert werden. Karsais Regierung ist durch und durch korrupt. Sämtliche bisherigen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden massiv gefälscht. Minister sind in Rauschgiftproduktion und -handel verstrickt. »Die Drogenindustrie durchdringt Politik und Wirtschaft in Afghanistan wie ein Krebsgeschwür«, urteilt Cita Maaß von der Stiftung für Wissenschaft und Politik. Ein Halbbruder des Präsidenten, Ahmad Wali Karsai, galt bis zu seiner Ermordung durch Aufständische im August als der Pate von Kandahar. Ein anderer Bruder, Mahmud Karsai, hat von afghanischen Geschäftsleuten einen Kredit in Höhe von fünf Millionen US-Dollar erhalten, um sich als Anteilseigner in die Kabul Bank einkaufen zu können. In der Folge wurde die Bank ausgewählt, die Lohnzahlungen aller öffentlichen Bediensteten abwickeln zu dürfen. Die Bank steuerte auch illegal hohe Summen zum Wahlkampf des Präsidenten bei. Regierungsmitglieder bekamen Kredite, um sich an Luxusprojekten zu beteiligen. Dreißig Millionen Dollar flossen so in die Aufschüttung von künstlichen Inseln vor der Küste des Golfemirats Dubai. Mittlerweile hat die Kabul Bank Verbindlichkeiten ohne Sicherheiten in Höhe von rund 900 Millionen Dollar angehäuft. In einem Land mit einem Bruttosozialprodukt von gerade einmal zwölf Milliarden Dollar ist das eine erhebliche Summe. Für die Verbindlichkeiten werden letztlich die Geberländer aufkommen müssen. Während sich die korrupte Elite mit Unterstützung des Westens bereichert, lebt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in absoluter Armut. Die Hilfsorganisation Oxfam machte darauf aufmerksam, dass ein Drittel der afghanischen Kinder unterernährt sei. Drei Millionen Menschen sind unmittelbar von Hilfslieferungen abhängig, sodass die Vereinten Nationen die Geberländer in diesem Jahr um eine Mittelerhöhung von 160 Millionen US-Dollar bitten mussten. Oxfam stellte im Übrigen fest, dass die Aufständischen besonders starke Unterstützung der Bevölkerung dort erhielten, wo die Not am größten sei. Gescheitert ist die NATO auch mit ihrem Konzept der »Aufstandsbekämpfung« (»Counter Insurgency«). Dessen Grundannahme war, dass es gelänge, »die Herzen und Köpfe« der Bevölkerung zu gewinnen,

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wenn das Territorium erst einmal durch massive Militärpräsenz gesichert sei. Eine wichtige Rolle sollte hier die »zivilmilitärische Zusammenarbeit« spielen. Letztendlich bedeutet das nichts anderes, als dass die NATO Hilfsorganisationen für ihre Interessen einspannt. Das hat wiederum zu der Situation geführt, dass es Hilfsangebote hauptsächlich dort gibt, wo die NATO auf Widerstand trifft – eine gute Motivation also für die Bevölkerung, Aufständische zu unterstützen. Die militärische Strategie der NATO sieht den zunehmenden Aufbau lokaler Sicherheitskräfte vor. Im

Die NATO verfügt über ein paar Inseln der Kontrolle in einem Meer der Feindseligkeit

US-Haushalt des kommenden Jahres sind 12,8 Milliarden Dollar für die Ausbildung und Ausrüstung dieser Kräfte eingeplant. Zum Vergleich: Der Gesamtetat des afghanischen Staats beträgt nur rund 1,5 Milliarden Dollar. Um die Kosten für die über 300.000 afghanischen Soldaten und Polizisten möglichst gering zu halten, liegen deren Löhne meist unter dem Existenzminimum. Je nach Rang verdienen die Sicherheitskräfte 165 (Einstiegsgehalt) bis 945 US-Dollar (General) im Monat. Um in Kabul eine Familie ernähren zu können sind rund 400 Dollar erforderlich. Dementsprechend sind Nebenverdienste für das Sicherheitspersonal eine Selbstverständlichkeit. So gelten Polizisten unter der afghanischen Bevölkerung als moderne Straßenräuber. Überhaupt sind der Besitz von Waffen und die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen, eine wichtige Einkommensquelle in Afghanistan. Etwa 20.000 der insgesamt 126.000 Polizisten sind letztes Jahr desertiert oder übergelaufen. Auch die von den USA geförderten lokalen Milizen, Privatarmeen lokaler Würdenträger, bieten ihre Dienste meistbietend an. Eine Untersuchung des US-Kongresses zeigte im vergangenen Jahr auf, dass hunderte Millionen Dollar der NATO an Aufständische geflossen sind. Das westliche Militärbündnis bezahlt private Sicherheitsdienste zur Bewachung von Nachschubkonvois. Davon gehen mindestens zehn Prozent als Bestechungsgelder an Aufständische, um Angriffen vorzubeugen. Dementsprechend haben alle Beteiligten ein Interesse an regelmäßigen Angriffen auf die Konvois, um die Einnahmequelle nicht versiegen zu lassen. Der Krieg der NATO schafft Bedingungen, unter denen die Aufständischen beständig stärker werden.


Auch die Nachbarstaaten Afghanistan, allen voran Pakistan, haben ein Interesse daran, dass von ihnen abhängige Gruppen an Einfluss gewinnen. Kürzlich von Wikileaks veröffentlichte Berichte belegen, dass die CIA überzeugt ist, dass es eine direkte Einmischung des pakistanischen Geheimdienstes aufseiten der Aufständischen gibt. Die Unterstützung geht von Geld über Munition und Waffen bis hin zur direkten Beteiligung an militärischen Aktivitäten. Zunehmend setzt sich in Washington die Überzeugung durch, dass die Aufständischen nicht geschlagen werden können. Aber ähnlich wie 1968 in Vietnam nach der Tet-Offensive, ziehen die Regierungen daraus nicht den Schluss, abzuziehen. Zu viel steht für die NATO auf dem Spiel. Einerseits will die US-Regierung an ihren strategischen Zielen festhalten: die militärische Präsenz in Zentralasien und Interventionsfähigkeit in Richtung Iran, China und Russland. Andererseits würde ein Eingeständnis ihrer Niederlage die NATO als interventionsfähige Ordnungsmacht im Interesse westlicher Konzerne erheblich schwächen. Am Ende könnte sie mangels Durchsetzungsfähigkeit dasselbe Schicksal erleiden, wie der Warschauer Pakt 1990. Präsident Obama und die anderen beteiligten Regierungen können aber die aktuellen Anstrengungen nicht ewig fortsetzen. Bisher kostete der Afghanistankrieg

Finanz- und Wirtschaftskrise ist das der amerikanischen Bevölkerung nicht mehr lange zu vermitteln. Im August wurde bei einer Umfrage in den USA zum ersten Mal eine Mehrheit für einen schnellstmöglichen Abzug festgestellt. Ein Flügel der US-Administration plant daher einen Strategiewechsel. Demnach sollen 100.000 Soldaten abgezogen werden, 30.000 Kämpfer würden in Afghanistan bleiben. Sie sollen sich auf Kabul und einzelne Stützpunkte konzentrieren, von denen aus Kommandoaktionen, Bomben- und Drohnenangriffe gestartet werden können. So könnten die Kosten erheblich gesenkt und dennoch, so die Hoffnung der Militärs, die offene Niederlage vermieden werden. Ein solches Szenario wäre kein Abzug und schon gar kein Ende des Krieges. Die NATO würde alle Anstrengungen unternehmen, den Konflikt in Afghanistan, hauptsächlich zwischen lokalen Rivalen, aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass sich eine antiwestliche Regierung durchsetzt. Dass solche Formen von »Kriegen niedriger Intensität« wenig mit Frieden zu tun haben und welches Leid dadurch verursacht wird, konnte man seit den 1970er Jahren in Lateinamerika beobachten. Ein wirkliches Ende des Krieges kann es nur geben, wenn die NATO vollständig abgezogen ist. DaDiefür NATO verfügt über eindie paar Inseln der zu kämpfen, bleibt Kontrolle in einem Meer Aufgabe der Friedens- der Feindseligkeit bewegung. ■

SCHWERPUNKT 10 Jahre Afghanistankrieg

allein die USA rund 600 Milliarden Dollar. Für Rentenansprüche und die Nachversorgung der eingesetzten Soldaten werden weitere 900 Milliarden anfallen. Die Tendenz ist steigend: Dieses Jahr gibt die USRegierung 135 Milliarden Dollar für den Krieg aus. Das entspricht rund einer Million pro eingesetztem Soldat.In Zeiten der

©The U.S. Army

US-Fallschirmjäger in der afghanischen Provinz Paktia. Nach dem »Truppenabzug« sollen 30.000 US-Soldaten im Land bleiben

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Die Mehrheit im Rücken Die Taliban führen den Widerstand gegen die NATO-Besatzung Afghanistans an. Wir erzählen ihre Geschichte und die ihrer Förderer

© Balazs Gardi

Von Paul Grasse

Dorfbewohner in Afghanistan: Im Jahr 2001 wurden die NATO-Truppen noch mehrheitlich unterstützt. Mittlerweile erhalten die Taliban wieder Zulauf

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ie NATO kann den Krieg in Afghanistan nicht gewinnen. Obwohl neben der Anwesenheit von ausländischen Besatzungstruppen auch die ehemaligen afghanischen Warlords und ihre Armeen massiv unterstützt werden, ist der Widerstand gegen die Besatzer und ihre afghanischen Verbündeten nicht zu bezwingen. So sieht sich das Militärbündnis inzwischen gezwungen, im Geheimen mit den Taliban zu verhandeln – zehn Jahre nach Beginn des Krieges, der zu einem schnellen Sturz des damaligen Taliban-Regimes führen sollte. Heute wird »Taliban« von Medien und Politikern als Überbegriff für den Widerstand in Afghanistan verwendet. Tatsächlich sind sie auch die größte Gruppe. In ihrer Geschichte spiegelt sich die afghanische Tragödie: Das Land ist aufgrund seiner strategisch wichtigen Lage beständig Ziel der direkten und indirekten Intervention fremder Mächte. Das gilt auch für die Taliban. Sie sind ein Produkt der pakistanischen und US-amerikanischen Intervention in den afghanischen Bürgerkrieg nach dem Abzug der Sowjetarmee 1989.

Paul Grasse ist Mitglied im Sprecherrat der Landesarbeitgemeinschaft Frieden und Internationale Politik der Berliner LINKEN.

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Schon in den sowjetisch-afghanischen Krieg hatte die USA mit Waffenhilfe eingegriffen. So gelang es den islamistischen Mujaheddin, die überlegen scheinende Sowjetarmee in einem Guerillakrieg zu zer-

mürben. In einer Geheimaktion wurden, unterstützt von saudischem Geld und in enger Kooperation mit der pakistanischen Regierung und deren Geheimdienst ISI, in den 1980er Jahren jährlich Ausbilder und Waffen im Wert zwischen drei und sechs Milliarden US-Dollar geliefert. Allein 1987 erreichten so 65.000 Tonnen US-amerikanisches Militärmaterial Pakistan. Die Attacken der Kämpfer wurden von mindestens elf Teams des pakistanischen Geheimdienstes ISI koordiniert, die von der CIA trainiert und ausgebildet worden waren. Das Ziel des ISI war es, die Transportwege durch Afghanistan wieder für Pakistan zu öffnen. Dazu musste die sowjetische Besatzung verschwinden. Die meisten Mujaheddin-Gruppen hatten ihr Hauptquartier im pakistanischen Peshawar inmitten der afghanischen Flüchtlingslager. Mehr als drei Millionen Afghanen waren vor dem Bürgerkrieg geflüchtet. Aus diesen Lagern kamen die meisten der Mujaheddin. Die pakistanische Militärregierung gründete um die Lager herum hunderte Koranschulen – Madrasas –, die zu »Universitäten« des islamischen Widerstands wurden. In den 80er Jahren wurde Osama Bin Laden zum Leiter einer vom ISI gegründeten Organisation, die dafür zuständig war, Gelder, Waffen und Kämpfer von außerhalb Afghanistans in das Land zu schleusen. Er und andere gewannen bis zu 35.000 Kämpfer aus


Die USA hatten 1996 noch kein Problem mit dem Durchmarsch der Taliban

seinen früheren Verbündeten Burhānuddin Rabbani zu vertreiben. Die traditionellen gesellschaftlichen Strukturen waren zerstört, die Bevölkerung wurde terrorisiert, es gab massenhaft Morde und Vergewaltigungen durch Gruppen von Mujaheddin. Währendessen wurden in den pakistanischen Madrasas auch die späteren Taliban ausgebildet. Die meisten der Taliban waren Paschtunen, die dominierende Stammesgruppe in Afghanistan, deren traditionelle Siedlungsgebiete von der afghanisch-pakistanischen Grenze zerschnitten werden. Der ISI erhoffte sich, über die Taliban die Kontrolle über die Handels- und Schmuggelrouten durch Afghanistan wiederzuerlangen, die nach dem Abzug der Sowjetunion nun durch die Kämpfe zwischen den Mujaheddin-Warlords nicht mehr benutzbar waren. Nachdem die USA die millionenschweren Hilfsgelder für die Flüchtlingslager stoppten, bekamen die vor allem von Saudi-Arabien finanzierten Taliban immer größeren Zulauf. Nach der Erfahrung der sowjetischen Besatzung waren linke Ideen für die Afghanen keine vorstellbare Alternative mehr. Die jungen Männer, die sich den Taliban anschlossen, waren die Opfer des Krieges: Oft Waisen, ohne Bildung, eine Generation, die keinen Frieden kannte. Die Taliban folgten einer sehr einfachen und puritanischen Auslegung des Islam, die in Afghanistan nicht heimisch war. Sie waren durch ihre Herkunft aus den Flüchtlingslagern nicht in der afghanischen Gesellschaft verwurzelt. Das machte sie der Bevorzugung irgendeiner der verschiedenen ethnischen Gruppen

und Stämme Afghanistans unverdächtig und ihr Versprechen, Recht und Ordnung zu schaffen und das Land zu befrieden, glaubwürdig. Mit ihrem Eingreifen zum Beispiel bei Vergewaltigungen durch die Truppen der Warlords konnten sie sich unter den Afghanen gewisse Sympathien erwerben. Nach 16 Jahren Krieg, Besatzung und Terror gegen die Zivilbevölkerung erschienen sie als eine Alternative. Das (und die massive Unterstützung Pakistans) ermöglichte den Taliban 1994 die Eroberung Kandahars – der nach Kabul zweiten großen Stadt Afghanistans. Zwei Jahre später marschierten die Taliban mit der Unterstützung pakistanischer Waffen, saudischer Gelder und fast 30.000 pakistanischer Soldaten in Kabul ein und übernahmen die Regierung. Die USA hatten damals keine Probleme mit diesem Durchmarsch. Im Gegenteil: Sie versprachen sich stabile Verhältnisse von einer Taliban-Regierung. Sicherheit für den Öltransport schien endlich in Reichweite. Eine von Unocal geführte Gruppe von US-Ölkonzernen legte Pläne für den Bau einer Pipeline durch Afghanistan im Wert von 4,5 Milliarden Dollar vor. »Die Taliban werden sich wahrscheinlich entwickeln wie die Saudis. Es wird Aramco (ein Öl-Konzern) geben, Pipelines, einen Emir, kein Parlament und eine Menge Scharia. Damit können wir leben«, so ein hochrangiger US-Diplomat im Jahr 1997, zitiert in Ahmed Rashids Standardwerk über die Taliban. Die Rechnung ging nicht auf. Osama Bin Laden hatte 1998 Anschläge auf US-Botschaften in Afrika organisiert. Die Taliban weigerten sich, Bin Laden an die USA auszuliefern, und die USA antworteten mit Angriffen auf deren Stellungen. Zudem waren die Taliban auch nicht bereit, dem Bau einer Pipeline durch das Land durch US-Unternehmen zuzustimmen, auch nicht in den über 1998 hinausgehenden Verhandlungen, bei denen Taliban mit Vertretern der Ölunternehmen und Vertretern der USA und Pakistans an einem Tisch saßen. Jedoch waren auch die Taliban nicht in der Lage, die Armut im Land zu beenden und Stabilität zu garantieren. Zwar bekämpften sie erfolgreich die massive Korruption, aber sie verboten Frauen zu arbeiten, was besonders angesichts der vielen Toten des Krieges – vor allem Männer – ein soziales Desaster war. Ihr Tugendministerium bestrafte Frauen für fehlende Schleier, Männer für fehlende Bärte, verbot traditionelle Bräuche wie das Drachenfliegen und bestrafte Verstöße öffentlich und brutal. Dass die Taliban den Mohnanbau bekämpften und ihn im Jahr 2000 um zwei Drittel gesenkt hatten, führte bei vielen Bauern zum Verlust ihrer Lebensgrundlage. Die Unterstützung für die Taliban im Land schwand rapide. Noch dazu waren zwei Drittel der Taliban keine Afghanen, sondern arabische Islamisten. Je unbeliebter sie sich machten, desto mehr wurden auch sie als Eindringlinge gesehen. Vor diesem Hintergrund rauften sich die Warlords Dostum und Massoud wieder zusammen und grün-

SCHWERPUNKT 10 Jahre Afghanistankrieg

arabischen Ländern für den Krieg um ein islamisches Afghanistan. Bin Ladens Netzwerk wurde später unter dem Namen Al Qaida bekannt. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen stürzten Machtkämpfe der verschiedenen Gruppen von Mujaheddin untereinander das Land in den Jahren 1989 bis 1991 noch tiefer ins Chaos. Ein Viertel der Bevölkerung lebte in Flüchtlingslagern. Die US-Waffenlieferungen hatten sich in den späten 1980ern auf die Partei Hizb al Islami von Gulbuddin Hekmatyar konzentriert, der damit Kabul in Grund und Boden schoss, um

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deten eine vereinte Front gegen die Taliban, um ihre Gebiete zu verteidigen. Diese »Einheitsfront« war die Basis der Nordallianz, die an der Seite der NATOTruppen ab 2001 gegen die Taliban in den Krieg zogen. Sie bestand aus den Warlords, die sich im Bürgerkrieg vor der Machtübernahme der Taliban brutal an der afghanischen Bevölkerung vergangen hatten.

★ ★★ WEITERLESEN Ahmed Rashid: Taliban. Militant Islam, Oil, and Fundamentalism in Central Asia (Yale University Press, 2000)

Noch bis kurz vor dem 11. September 2001 konnten die Taliban in New York eine diplomatische Vertretung betreiben. Erst nach den Osama Bin Laden und Al Qaida zugeschriebenen Anschlägen auf das World Trade Center machten die USA gemeinsam mit ihren Verbündeten gegen Afghanistan und die Taliban mobil. Sie klagten die Islamisten an, Osama bin Laden Schutz zu bieten und verlangten seine Auslieferung. In Wahrheit hatten die Taliban inzwischen mehrmals einer Auslieferung zwar nicht in die USA, aber an Saudi Arabien zugestimmt. Die Zeitschrift Village Voice berichtete sogar, dass die Taliban den USA angeboten hatten, Bin Laden so lange festzuhalten, bis die USA ihn töten könnten. Darum ging es den USA aber nie an erster Stelle. Der Plan der USA, Afghanistan unter Druck zu setzen und anzugreifen, stammt schon aus der Regierungszeit Bill Clintons. Bereits einen Tag vor dem 11. September beschloss die Bush-Regierung, ihn in die Tat umzusetzen. Jetzt, da die Taliban unter dem Druck der Warlords standen und in der Bevölkerung immer unbeliebter wurden, sahen die USA die Gelegenheit, mit einem schnellen militärischen Sieg Afghanistan unter Kontrolle zu bekommen. Die USA dachten, in

Das erneute Erstarken der Islamisten ist das Resultat der Besetzung und einer korrupten Regierung

Afghanistan eine stabile militärische Basis etablieren zu können, um die rohstoffreiche Region strategisch zu beherrschen und den Iran unter Druck zu setzen: »Zentralasien ist von dauerhafter Priorität für unsere Außenpolitik«, heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA aus dem Jahr 2006. Anfangs hießen viele Afghanen die NATO-Truppen willkommen, weil sie sich soziale Verbesserung und ein Ende der Despotie der Taliban versprachen. Der Krieg schien zunächst erfolgreich: Die Taliban zogen sich zurück, die Warlords der Nordallianz konnten mit Karsai als Galionsfigur die Regierung übernehmen. Die Truppen der Taliban verringerten sich laut einem Bericht der Washington Times auf 20.000 im Jahre 2008. Jedoch waren sie 2010 schon wieder auf 227.000 Kämpfer angewachsen. Die Taliban haben in den vergangenen Jahren ein massives Comeback ge-

GLOSSAR ISI - Inter-Services Intelligence, 1948 als militärischer Geheimdienst Pakistans gegründet, enge Kooperation mit der CIA besonders während der sowjetischen Besatzung Afghanistans, riesiger Unterdrückungs- und Überwachungsapparat. Mujaheddin - Muslimischer Kämpfer gegen die sowjetische Besatzung, oft ausgebildet vom ISI. Abdul Raschid Dostum - usbekisch-afghanischer Milizenführer, auf Seiten der sowjetischen Besatzung, dann Teil der Regierung Karsai, Kriegsverbrecher.

Ahmad Schah Massoud - Anführer einer Mujaheddin-Gruppe, Anti-Taliban, 2001 ermordet, von Karsai zum Nationalhelden ernannt. Gulbuddin Hekmatyar - Chef der vom ISI rekrutierten als besonders fanatisch geltenden Mujaheddin-Gruppe Hizb al Islami, vom ISI und den USA zur stärksten Gruppe ausgerüstet, kämpfte gegen die pro-sowjetische Regierung ab 1978 und später gegen die sowjetische Besatzung, 1993 und 1996 Premierminister in Afghanistan.

Burhānuddin Rabbani - afghanisch-tadschikischer Warlord, Führer der Nordallianz, ab 1978 bekämpfte er die pro-sowjetische Regierung, ab 1992 bis zum Einmarsch der Taliban Präsident Afghanistans, im September als Unterhändler der afghanischen Regierung in Verhandlungen mit den Taliban ermordet.

Unocal - Bis zur Übernahme durch Texaco einer der größten Erdöl- und Erdgaskonzerne der Welt, wollte eine Ölpipeline durch Afghanistan bauen, laut Le Monde war Karsai in den 1980er Jahren Berater für Unocal.

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schafft – nicht nur an Kampfstärke, sondern auch an gesellschaftlicher Unterstützung. Mittlerweile haben sie wieder einen großen Teil der Bevölkerung hinter sich. Nach Einschätzung des US-Thinktanks RANDCorporation gründet die Unterstützung nicht in geteilten islamistischen Zielen, sondern im Widerstand gegen die Besatzung. Auch die Zusammensetzung der Bewegung sei anders als früher: »Der Hauptteil der Taliban besteht aus tausenden lokalen Kämpfern und ihren Unterstützernetzwerken. Die meisten kämpfen nicht für den Dschihad. Vielmehr motiviert sie ihre Arbeitslosigkeit, die Enttäuschung über das Ausbleiben von Veränderungen seit 2001 oder ihre Wut über einen von den afghanischen, US- oder NATO-Armeen getöteten Nachbarn oder Verwandten«. Die kanadische Denkfabrik Senlis Council ist ebenfalls überzeugt, dass der Großteil des Widerstands gegen die NATO-Truppen aus »armutsgetriebenen Graswurzelgruppen« stammt. Die Unzufriedenheit mit der Karsai-Regierung und die Ablehnung der NATO-Besatzung sind die großen Rekrutierungshelfer der Taliban. In Umfragen in der Provinz Helmand werteten mehr als die Hälfte der Befragten die Taliban als »vollkommen fair und vertrauenswürdig«. Das erneute Erstarken der Taliban ist also das Resultat der NATO-Besatzung und der Korruption der vom Westen gestützten Karsai-Regierung. Solange die NATO in Afghanistan steht, solange werden auch die Taliban Zulauf haben. Ob bei der Entstehung oder bei der Wiederauferstehung der Taliban – der Westen hat die Geister gerufen, die er heute wieder loswerden will. ■

kommentar

Ohne Abzug keinen Frieden Von Paul Grasse

SCHWERPUNKT 10 Jahre Afghanistankrieg

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ie Ideologie der Taliban widerspricht allen linken Idealen. Trotzdem unterstützen viele Linke in Afghanistan den Widerstand der Taliban gegen die Besatzung - verständlicherweise. Denn bei aller Kritik an den Taliban: Der Abzug der NATO und nationale Selbstbestimmung sind die Voraussetzung dafür, in Afghanistan überhaupt einen Kampf für soziale Gerechtigkeit und die Befreiung der Frauen führen zu können. Eine Linke, die sich vom Kampf für Unabhängigkeit distanziert, wird keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung haben, um die künftigen Machthaber herauszufordern. Anzuerkennen, dass die Taliban das Gesicht des Widerstands sind, bedeutet nicht, ihre Ideologie oder gesellschaftlichen Visionen zu teilen.

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WELTWEITER WIDERSTAND

Indien Mehrere tausend Arbeiterinnen und Arbeiter der Maruti-Suzuki-Autofabrik im nordindischen Manesar befinden sich seit Monaten im Arbeitskampf. Bereits im Juni kam es zu wilden Streiks und Besetzungen. Trotz permanenter Polizeirepressionen halten die Proteste bis heute an. Die Beschäftigten fordern höhere Löhne, die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und das Recht, eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen. Die Kämpfe sprangen auf andere Fabriken über. So legten die Beschäftigten das weltweit drittgrößte Autowerk im benachbarten Gurgaon lahm. Es ist die wohl bedeutendste Klassenkonfrontation in Indien seit 20 Jahren. 46


Griechenland

»Wir wollen unser Leben zurück« Griechische Arbeiter rufen Kolleginnen und Kollegen aus Europa zur Solidarität auf. Wir lassen sie hier zu Wort kommen

★ ★★ Mitsos Argirokastritis ist ein Aktivist der Druckergewerkschaft aus Athen

8 Pakistan Seit Wochen streiken die Arbeiter der modernsten Nestlé-Milchverarbeitungsanlage Pakistans in der Stadt Kabirwala. Sie kämpfen gegen die Entlassung von 250 Leiharbeitern und für die Wiedereinstellung von 35 Gewerkschaftsaktivisten, darunter ihr im Jahr 2006 gewählter Gewerkschaftspräsident.

8 Neuseeland

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n meinem Berufsalltag bekomme ich die Probleme der Familien meiner Patienten mit. Ihnen fehlen grundlegendste Dinge wie vernünftige Nahrungsmittel, Kleidung oder Schulbücher. Unser Krankenhaus ist völlig unterfinanziert. Es fehlt an Medikamenten und Personal. Auch die Gebäudeinstandhaltung wird vernachlässigt. Das gefährdet die Patienten. Für die Belegschaft ist es die Hölle. Es gelingt uns kaum, die Notfälle zu behandeln. Die steigende Zahl von Herzinfarkten und Schlaganfällen ist eine direkte Folge von zunehmenden Stress und Depressionen. Viele Menschen haben ihr ganzes Leben rund um die Rückzahlung ihrer Hypotheken und Schulden organisiert. Jetzt bricht alles zusammen. Mein Gehalt ist von 1000 auf 600 Euro gekürzt worden. Wir kämpfen nicht nur um unsere Jobs, es geht um unser Überleben. Die Kollegen hier sind alle Teil des allgemeinen Widerstandes. Wir haben zahlreiche Aktionen gestartet, von Streiks bis hin zu Besetzungen. Trotz der Drohungen des Managements und der Hinhaltemanöver der Gewerkschaftsbürokratie ist die Organisation an der Basis so stark wie nie zuvor. Meine Kollegen und Kolleginnen sagen, wir könnten das Krankenhaus besser leiten als jedes Management. Die Bewegung wird sich nicht aufhalten lassen, bis die Kürzungspolitik, egal unter welcher Regierung, ein Ende hat. Menschen, die seit über einem Jahr kämpfen, werden nicht zurückstecken. Wir wollen unser Leben zurück.

★ ★★ Argyro ist Krankenschwester in der Ippokrateio-Klinik in Athen.

Im November sperrte der Großkonzern CMP 111 streikende Arbeiter einer Fleischfabrik im neuseeländischen Distrikt Rangitikei aus. Die übrige Belegschaft wurde gezwungen, aus der Gewerkschaft auszutreten und drastischen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zuzustimmen. Gewerkschafter aus dem ganzen Land kamen daraufhin nach Rangitikei, um die Kollegen zu unterstützen.

8 Namibia Mitte November sind Arbeiter der Lewcor Goldmine in Namibia in den Streik getreten. Sie verlangen gleiche Löhne wie die Maschinisten. Statt einem US-Dollar pro Stunde fordern sie drei Dollar, außerdem geringere Steuern, bessere medizinische Versorgung und die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen.

Kanada

Hotelbeschäftigte kämpfen für Gewerkschaftsrechte Schon seit drei Jahren kämpfen die Beschäftigten der Hotelkette Novotel in Kanada für einen Tarifvertrag und das Recht, der Hotel-, Gastronomie- und Kleidungsgewerkschaft »Unite Here« beizutreten. Der französische Mutterkonzern Accor, der sich als »sozial verantwortliches Unternehmen« bezeichnet, hat mit dem Gewerkschaftsdachverband IUF vereinbart, einer Organisierung keine Steine in den Weg zu legen. Doch stattdessen werden aktive Kollegen drangsaliert.

Weltweiter Widerstand

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ch bin Drucker in Athen. Zwanzig Jahre lang hat unsere Gewerkschaft stillgehalten. Aber das Ausmaß der Krise zwingt sie nun dazu, eine kämpferischere Haltung einzunehmen und zu handeln. Jeden Tag erleben wir Kündigungen und es wird uns mit Lohnkürzungen gedroht. Die Bosse meiner Firma haben schon mehrmals die Auszahlung der Löhne hinausgezögert. Das ist keineswegs unüblich: Auch die Drucker der populären linken Zeitung Eleutherotupia haben seit August keinen Lohn erhalten. Anfang des Monats haben sie zusammen mit den Redakteuren gestreikt.Wir haben uns dazu entschlossen, in jeder Schicht die Arbeit für zwei Stunden ruhen zu lassen. Wir wollen die Sache eskalieren, bis wir uns durchgesetzt haben. Unsere Druckergewerkschaft hat in Athen 2000 Mitglieder. Wir haben uns an allen Generalstreiks der vergangenen Monate beteiligt. Hinzu kamen viele weitere Streiks in einzelnen Betrieben. An jedem Arbeitsplatz organisieren wir Komitees, um den Arbeitern das nötige Selbstvertrauen zu geben, um Widerstand zu leisten. Es ist wichtig, alle an unserem Kampf zu beteiligen. Wir brauchen dringend eine gemeinsame Front aller Arbeiter, um die Angriffe der Bosse zurückzuschlagen und den Kahlschlag zu stoppen. Meine Botschaft an die Arbeiter Europas ist: Nur im Kampf liegt die Lösung. Wir brauchen Streiks und Besetzungen, um unser Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.

8NEWS

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© marx21

»Der nächste Chávez könnte aus China kommen« Der eine dreht gesellschaftskritische Hollywoodfilme, der andere ist einer der bekanntesten linken Intellektuellen Großbritanniens. Oliver Stone und Tariq Ali trafen sich in Los Angeles und sprachen über neue Hoffnung in Lateinamerika, die Schwächen des US-amerikanischen Imperialismus und die Hexenprozesse von Salem 48


nfang des Jahres 2009 erhielt ich einen Anruf aus Paraguay. Oliver Stone war am Apparat. Er hatte mein Buch »Piraten der Karibik: Achse der Hoffnung« gelesen, meine Essaysammlung über die neue Politik in Lateinamerika, und er fragte mich, ob ich seine Arbeiten kenne. Ich kannte sie, insbesondere die politischen Filme, mit denen er die verlogene Darstellungen des Kriegs in Vietnam angriff, wie sie in den B-Movie-Jahren der Präsidentschaft Ronald Reagans in Mode gekommen waren. Stones Weigerung, die »Wahrheiten« des Establishments gelten zu lassen, ist der wichtigste Aspekt in seinem Filmschaffen. Stone fragte mich, ob wir uns treffen könnten, um sein ambitioniertestes Projekt, eine zwölfstündige Dokumentationsreihe mit dem Titel »The Untold History of the United States« zu diskutieren. Einen Monat später trafen wir uns in Los Angeles. Oliver Stone: In deinem Buch »Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung« schreibst du: »Es gibt eine universale Wahrheit, die sich Philosophen und Politiker gleichermaßen eingestehen müssen: Sklaven und Bauern gehorchen nicht immer ihren Herren. Seit den Tagen des Römischen Imperiums wurde die Welt immer wieder von Aufständen erschüttert, und ein Zusammentreffen bestimmter Ereignisse hat zu völlig unerwarteten Ausbrüchen geführt. Warum sollte es im 21. Jahrhundert anders sein?« Tariq Ali: Es wird nicht anders sein, da bin ich mir sehr sicher. Wir können nicht vorhersagen, was für Ereignisse das sein werden oder wo sie sich abspielen werden, aber sie werden die Welt überraschen. Gerade weil wir um frühere Ereignisse in der Geschichte wissen, können wir mit gewissem Optimismus in die Zukunft blicken. Die lateinamerikanischen Entwicklungen wurden von niemandem vorhergesehen.

Oliver Stone ist ein US-amerikanischer Regisseur, Drehbuchautor und Produzent. Zu seinen bekanntesten Filmen zählen »Platoon«, »John F. Kennedy – Tatort Dallas« und »Natural Born Killers«. Stone wurde für seine meist politischen Werke dreimal mit dem Oscar ausgezeichnet. Zuletzt lief sein Film »Wall Street 2: Geld schläft nicht« in den Kinos.

Tariq ALi

Tariq Ali ist ein britischer Autor, Filmemacher und Historiker. Er war einer der bekanntesten Vertreter der 68er-Bewegung und ist langjähriger Redakteur der Zeitschrift New Left Review. Er ist Autor von »Fundamentalismus im Kampf um die neue Weltordnung«, »Bush in Babylon« und »Piraten der Karibik«. Zuletzt erschien auf Deutsch sein Roman »Die Nacht des goldenen Schmetterlings« (Heyne 2011).

Aus welchem Land könnte ein neuer Chávez kommen? Nun, das ist schwer zu sagen, aber ich denke, Südasien und der Ferne Osten halten noch einige Überraschungen für uns bereit. Wir sprechen über China als Wirtschaftsriesen, aber wir sprechen sehr selten über die Auswirkungen dieses Systems auf China. Bauernaufstände, Fabrikbesetzungen von Arbeitern, eine ruhelose Intelligenz, all das könnten wir noch erleben. Und gibt es einen möglichen Joker, der einen inneren Zusammenbruch des Imperiums beschleunigen könnte? Einige haben behauptet, wir können uns all diese Truppen, all diese Militärstützpunkte nicht leisten. Ich denke, vieles wird von der Wirtschaft abhängen. Vieles wird davon abhängen, was die amerikanische Öffentlichkeit tun wird, wenn die Ökonomie weiter so den Bach runtergeht wie jetzt. Wenn die amerikanische Bevölkerung dagegen zu rebellieren beginnt, nun, das wird das Ende des Imperiums sein. Es wird nicht weitermachen können. Es ist sehr schwer für die Bevölkerung, gegen die Armee auf­zustehen. Das ist geschichtlich gesehen immer schwierig. Ja, aber die Leute könnten jemanden wählen, der sagt, wir waren schon viel zu lange im Ausland, das hat uns sehr viel gekostet, und jetzt lasst uns mit derselben Energie unser Land hier umgestalten. Wenn ein Politiker das jetzt sagen würde, bekäme er bestimmt viel Unterstützung. Obama hatte Möglichkeiten, aber offensichtlich

INTERNATIONALES

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Oliver Stone

Niemand hat erwartet, dass Venezuela, ein Land, das kaum jemand auf der Welt kannte, plötzlich Teil der »Achse der Hoffnung« werden könnte, wie ich das nenne. Chávez hat Venezuela zu weltweiter Bedeutung verholfen. Weißt du, als Chávez zum ersten Mal in den Nahen Osten reiste, interviewte al-Dschasira ihn eine ganze Stunde lang. Weil die arabischen Zuschauer Untertitel hassen, sprach ein sehr guter Schauspieler seine Sätze auf Arabisch. Chávez ist ohnehin sehr anziehend, aber danach sagte mir der Aufnahmeleiter von al-Dschasira, der für die Sendung verantwortlich war: Wir haben Tausende von EMails bekommen, mehr als je zuvor. Und in neunzig Prozent dieser E-Mails hieß es in der ein oder anderen Variante: Wann wird die arabische Welt einen Chávez hervorbringen?

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wollte er diesen Weg nicht beschreiten. Er würde es vielleicht tun, gäbe es eine große Volksbe­wegung in den Vereinigten Staaten, die diese Forderung erhebt. Die gibt es nicht. Das wäre meiner Ansicht nach aber notwendig. Ein anderer möglicher Joker, der sich vielleicht abzeichnen könnte, wäre eine

Nein, und weil so viele Menschen lieber in der Gegenwart leben – und auch darin bestärkt werden –, wollen sie nicht über das Morgen nachdenken. Sie leben für den Tag. Ist das US-Imperium wegen seiner besonderen Ursprünge in irgendeiner Form anders oder anfälliger dafür, Ge-

Der »Hinterhof« des Imperiums ist völlig außer Kontrolle geraten

große Umweltkrise. Das würde jeden sofort aufrütteln. Nun, zweifellos. Ich meine, wenn das allen klar wird. Aber auch dann stellt sich die Frage, wie wir die Welt umbauen wollen. Dann wird es notwendig … … zusammenzuarbeiten, zu planen, eine Planwirtschaft zu haben. Würde es gleich einen Plan geben? Ja, das würde es. Würden die Leute ihre alten marxistischen Lehrbücher hervorkramen und nachsehen, wie das geht? Gibt es genaue Vorgaben? Nun, ich glaube nicht, dass es brauchbare Handbücher für gute Planung gibt, aber immerhin wissen wir, wie wir es nicht machen sollten. Und wir wissen, dass der Plan die ganze Bevölkerung mit einbeziehen muss, die den Überblick von unten beisteuern kann. Was ist der beste Planungsstaat der Welt? Die Schweiz? Ich denke, das ist vermutlich einer der kleineren skandinavischen Staaten. Die Norweger haben eine ziemlich gute Planung. Die Kubaner haben in Bezug auf ihre soziale Infrastruktur eine gute Planung. Sie haben es getan und so gezeigt, wie es geht. Das wäre wohl die größte Über­raschung überhaupt, weil die Leute immer sagen, ja, irgendwann wird es passieren, aber sie erwarten es nicht gleich morgen.

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schichte zu ignorieren oder zu leugnen? Wenn ich über die Ursprünge des amerikanischen Imperiums nachdenke, dann fällt mir natürlich als Erstes ein, dass die Kolonisten anfingen, die Urbevölkerung, der sie begegneten, auszurotten, und das war verknüpft mit einem religiösen fundamentalistischen Glauben an die eigene Güte und Größe. Ich meine, die Denkweise der Fundamentalisten, die hierherkamen, der Pilgerväter, unterschied sich nicht grundlegend von der der Wahhabiten oder der Osama bin Ladens. Genaugenommen gibt es sogar eine Menge Gemeinsamkeiten zwischen protestantischem Fundamentalismus und wahhabitischem Fundamentalismus, und du erkennst das daran, wie sie Frauen behandeln, all diese Feldzüge. Die Hexenprozesse von Salem? Genau! Weißt du, Frauen sind vom Teufel besessen. Prügel ihn aus ihnen heraus. Das war also der Anfang. Dann gab es die Sklaverei, die Grundlage für einen Großteil des in den Vereinigten Staaten geschaffenen Reichtums. Dann gab es die gewaltsame Ausdehnung des Imperiums, was Cormac McCarthy sehr gut in einem seiner besten Romane, »Die Abendröte im Westen«, beschreibt. Dann gibt es den Bürgerkrieg, bei dem es angeblich um die Befreiung der Sklaven ging, was in gewisser Hinsicht auch stimmt, aber der im Wesentlichen der Versuch war, die Vereinigten Staaten gewaltsam zu vereinigen. All das hat also zur Entstehung der Vereinigten Staaten, wie wir sie heute kennen, beigetragen. Und seit dem Ersten Weltkrieg gewannen die Vereinigten Staaten an

Größe und Einfluss und wurden zu einer beherrschenden Macht, die sich nach dem Kalten Krieg zum Ultraimperialismus entwickelte, ohne Herausforderer und militärisch nicht zu schlagen, sehr stark, ohne Konkurrenten. Das ist das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass ein Imperium ohne einen einzigen Rivalen dasteht. Wirklich das erste Mal? Die Römer dachten das manchmal auch von sich, aber nur, weil ihnen nicht wirklich bewusst war, wie stark die Perser oder eben die Chinesen waren. Sie dachten im Rahmen der mediterranen Welt, nicht global. Das ist also jetzt das erste Mal, dass so etwas passiert. Und das macht die Führung dieses Imperiums außerordentlich selbstgefällig, sie halten die Zustimmung ihrer Bevölkerung für gegeben. Aber was ist, wenn dieser Konsens plötzlich zerbricht? Die großen Probleme, vor denen das Imperium jetzt steht, sind wirtschaftlicher Natur, der Zustand der Wirtschaft im eigenen Land und militärische Überbeanspruchung. Irak ist ein verheerender Krieg. Afghanistan verwandelt sich in dieselbe Katastrophe. Der »Hinterhof« des Imperiums, wie er seit der Zeit der Monroe-Doktrin bekannt ist, ist völlig außer Kontrolle geraten, mit einer ganzen Reihe radikaler Politiker, den bolivarischen Politikern unter Führung von Hugo Chávez, unterstützt von Evo Morales und Rafael Correa und den Kubanern, und Bischof Lugo aus Paraguay, und, wenn auch nicht im selben Maße, mit Rückendeckung von Lula in Brasilien und Bachelet in Chile und Kirchner in Argentinien, die den Vereinigten Staaten sagen, wir werden es nicht mehr dulden, dass ihr uns isoliert. Wir werden zusammenarbeiten. Wir werden es nicht noch einmal zulassen, dass ihr ein einzelnes Land benutzt, um ein anderes zu zerstören. Und die Führung der Vereinigten Staaten ist jetzt gezwungen, diesem neuen Lateinamerika ins Gesicht zu sehen. Von hier aus ist es natürlich ein langer Weg bis zu einem Zusammenbruch der Vereinigten Staaten. Ich glaube, die Leute, die über den automatischen Zusammenbruch von Imperien reden, haben Unrecht. Das geschieht nicht automatisch. Aber wenn die Wirtschaftskrise so weitergeht, wenn die Milliarden zur Bankenrettung keine Wirkung zeigen, dann könnten auf unsere Herrscher unangenehme Überraschungen zukommen. Das sind dann vielleicht keine Überraschungen, die den Linken


© Nicolas Genin

Oliver Stone mit dem Hauptdarsteller seines Dokumentarfilms »South of the Border«: Der Regisseur hat Hugo Chávez immer wieder gegen die Angriffe der US-Presse verteidigt

gefallen, aber es werden Überraschungen sein. Es wird eine neue Stimmung geben, die Leute werden fragen, warum wir so viel Geld im Ausland ausgeben. Warum sollten wir diesen Regimen und Ländern helfen? Was hat das mit uns zu tun? Lasst uns unser eigenes Land verbessern. Und wie sich solch eine Bewegung entwickeln wird, werden wir sehen. Aber ich denke, eins können wir jetzt schon sagen: Das Auftrumpfen und die Hochstimmung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind so gut wie ver­flogen. Alle wissen, dass dies eine schwierigere Welt ist, der sie sich stellen müssen. Das ist nicht das »Ende der Geschichte«? Das ist keineswegs das Ende der Geschichte und auch nicht einfach ein »Kampf der Zivilisationen«. Ich denke, selbst Francis Fukuyama hat begriffen, dass die Welt sich weit über das hinaus verändert hat, was er sich vorstellen konnte, und Samuel Huntington hat in seiner letzten veröffentlichten Arbeit den Kampf der Kulturen hinter sich gelassen und vor einem Kampf innerhalb des Christentums gewarnt, er behauptet, die weiße angelsächsische und protestantische Elite in den Vereinigten Staaten sei ernsthaft durch die Latinos gefährdet. Sie seien eine Art katholischer Christen aus Südamerika, die unsere Lebensweise bedrohen. Er irrte sich in dieser Hinsicht, aber er hatte insofern recht, als

die Latinobevölkerung in den Vereinigten Staaten jetzt größer ist denn je. Das Bevölkerungswachstum bei ihnen ist viel, viel höher als bei der nichtkatholischen Bevölkerung. Und die neuen Einwanderer aus Südamerika dienen als Brücke nach Südamerika. Sie interessieren sich dafür, was im mexikanischen Chiapas passiert. Sie beschäftigen sich mit Zentralamerika. Sie beschäftigen sich mit den Bolivarern, und das meistens auf positive Weise. Und die junge Generation Kubaner in Florida will keinen Angriff der Vereinigten Staaten auf Kuba. Florida und andere Orte waren bisher einfach nur reaktionäre Nester mit alten Konterrevolutionären, die sich dort ein hübsches Heim gesucht haben, aber inzwischen hat sich einiges verändert. Es hat sich eine ganze Menge bewegt. Die interessante Frage, die ich mir in meinen eher utopischen Momenten stelle, lautet, ob die Veränderungen in Südamerika über diese Brücke und über die Latinobevölkerung in den Vereinigten Staaten etwas erreichen werden, das niemand von uns vorhersehen kann. ■

★ ★★ Bei diesem Text handelt es sich um Auszüge aus dem Gesprächsband Oliver Stone/Tariq Ali: Zur Geschichte, aus dem Englischen von Rosemarie Nünning, Laika-Verlag 2011 (ISBN 978-394228116-4, 96 Seiten, Preis 14,90 EUR). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Laika-Verlags.

INTERNATIONALES

Die Hochstimmung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist verflogen

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INTERNATIONAL

© Stefan de Vries

Die Qual der Wahl: Insgesamt kämpften rund 80 verschiedene Parteien, verteilt auf mehreren tausend Listen, um die Gunst der Wähler

Kapern die Islamisten die arabische Revolution? Der Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali hat die arabischen Revolutionen ausgelöst. Nun gewinnt die islamistische En-Nahda-Partei die ersten freien Wahlen im Land und nicht wenige Beobachter fürchten, dass diese Entwicklung erneut wegweisend für die Region sein könnte. Von Frank Renken

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as Ergebnis der Wahlen vom 23. Oktober spricht eine deutliche Sprache: Die islamistische EnNahda-Partei konnte 89 der 217 Sitze der verfassungsgebenden Versammlung erobern. Es folgen die linksliberale Republikanische Kongresspartei (29 Sitze), die populistische Millionärspartei »Volkspetition« (26 Sitze) und das sozialdemokratische »Forum für Arbeit und Freiheit« (Ettakattul, 20 Sitze). Den Rest der Sitze teilen sich über 20 weitere Parteien. Die vom ehemaligen Außenminister des Ben-Ali-Regimes geführte »Initiative« errang lediglich 5 Sitze. Vor den Wahlen grassierte in liberalen Kreisen angesichts des bevorstehenden Durchbruchs der Islamisten um En-Nahda eine gewisse Hysterie, es drohe

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eine Theokratie wie im Iran. Das war vor allen Dingen die Angst der wohlhabenderen Schichten. Den Islamisten wurde Stimmenkauf unterstellt und eine Anfechtung der Wahlen ins Spiel gebracht, lange bevor die Ergebnisse feststanden. Die Süddeutsche Zeitung zitierte eine Dame aus La Marsa, eines der vornehmen Viertel der Hauptstadt: »Von mir aus können sie die Wahlen fälschen, Hauptsache, wir verhindern EnNahda!« Das reflektierte die Denkweise mancher Liberaler. Doch nun hat sich die Situation etwas beruhigt. EnNahda ist sehr wohl bereit, eine Politik für das tunesische Kapital und die säkularen Mittelschichten zu betreiben. Verhältnismäßig problemlos ist sie mit der Kongresspartei und dem Ettakattul eine Koalitionsregierung eingegangen und überließ dem renommier-


ten Menschenrechtler und Führer der Kongresspartei Moncef Marzouki das Amt des Staatspräsidenten. EnNahda empfiehlt sich dem internationalen Kapital so als Garant für die Stabilität im Land, der nach allen Seiten integrierend wirkt. Diese Entwicklung kann nur jene überraschen, die sich durch das Zerrbild haben täuschen lassen, das arabische Diktatoren wie Ben Ali und ihre westlichen Bündnispartner vom Islamismus gezeichnet haben. Der Islamismus ist keine Bewegung von Fanatikern, die die Welt ins Mittelalter zurückbomben wollen. Sie ist eine moderne Erscheinung, die in unterschiedliche Strömungen zerfällt. Ihren Hauptflügel bilden heute sozialkonservative Parteien, die wie die ägyptische Muslimbruderschaft und En-Nahda die Aussöhnung der Klassen in einer religiösen Gemeinschaft predigen. Sie sehnen sich nach einem prosperierenden Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, in der die Mittelschichten ihr Auskommen haben und die Armen in der Moschee Trost finden. Im Großen und Ganzen ist diese Strömung nicht sehr weit von jener Ideologie entfernt, für die in Deutschland die CDU/CSU steht – allerdings unter gänzlich anderen historischen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Der Aufstieg des Islamismus in den arabischen Ländern seit den 1970er Jahren ist nur im Wechselverhältnis mit der Enttäuschung einer ganzen Generation von Intellektuellen über den arabischen Nationalismus zu erklären. Der Lebensweg von Rachid al-Ghannouchi, der Führungspersönlichkeit der tunesischen En-Nahda, verdeutlicht dies. 1964 ging er erst nach Kairo, dann nach Damaskus, um Philosophie zu studieren. Die Hauptstädte Ägyptens und Syriens zogen ihn als Zentren der panarabischen Bewegung an, die von linken Kräften unterschiedlicher Schattierungen dominiert wurden. Zu dieser Zeit übernahm in Syrien die Ba’ath-Partei die Macht und versprach, wie auch der damalige ägyptische Präsident Nasser, den Aufbau eines arabischen Sozialismus. Doch in der Praxis lief dieser »Sozialismus« auf die Errichtung staatskapitalistischer Einparteiendiktaturen hinaus, wie sie al-Ghannouchi bereits aus Tunesien kannte. Auch der Panarabismus, das Überwinden der nationalstaatlichen Rivalitäten unter den arabischen Staaten, war nur eine Worthülse. Die verschiedenen nationalen Führer konnten sich zu keinem Zeitpunkt einigen und wurden von Israel 1967 in einem Blitzkrieg vernichtend geschlagen. In der Folge zog sich al-Ghannouchi auf sein Philosophiestudium zurück

und suchte nach den Wurzeln des »ursprünglichen Islam«. Diese Hinwendung zum Spirituellen stand sowohl unter dem Einfluss der syrischen und ägyptischen Muslimbrüder und auch des algerischen Geistlichen Malek Bennabi. Dieser sah die empfundene Unterlegenheit der arabisch-islamischen Welt in der Unterwürfigkeit gegenüber dem Westen begründet. Die Abkehr von den überkommenen Traditionen des Islam habe zum moralischen Verfall im Innern geführt. Nach der Dekolonisierung der arabischen Länder müssten nun auch die Seelen dekolonisiert werden. Auf dieser Grundlage baute Ghannouchi mit anderen im Tunesien der 1970er Jahre die »Islamische Vereinigung« auf, aus der später die »Bewegung der islamischen Tendenz« und 1988 schließlich die »Bewegung der islamischen Wiedergeburt« – Harakat en-Nahda al-Islami – hervorging, die nun zur stärksten Kraft im Land gewählt wurde. Der Weg bis dahin war von scharfen Repressionen geprägt. Ghannouchi selbst wurde mehrfach inhaftiert, wie viele Zehntausende anderer Anhänger seiner Bewegung. Dieses Schicksal der Inhaftierung und Exilierung der Islamisten, wie auch ihre politische Ausgrenzung, haben ihre Politik wesentlich radikaler erscheinen lassen, als sie wirklich war. Zugleich war es dieser Leidensweg, der der Partei einen enormen Kredit in der Bevölkerung einbrachte. Dies beflügelte den Elan der Anhänger unter den Bedingungen der neugewonnenen Freiheiten nach dem Sturz von Ben Ali. Wie keine andere politische Kraft gelang es En-Nahda, neben der Ausrichtung von Großveranstaltungen einen Wahlkampf von Tür zu Tür durchzuführen. In den Tagen vor der Abstimmung sagte mir ein Bekannter, der keineswegs aus einem geistlichen Umfeld stammt, er überlege EnNahda zu wählen. Denn eigentlich sei En-Nahda die »einzige wirkliche Partei«, die es in Tunesien gäbe. Dieser Eindruck ist sowohl den Basisaktivitäten ihrer Anhänger geschuldet, als auch der unerträglichen Zersplitterung der anderen politischen Kräfte. Insgesamt kämpften rund 80 verschiedene Parteien, verteilt auf mehreren tausend Listen, um die Gunst der Wähler. Das staatliche Fernsehen brauchte einige Tage, um in einer ununterbrochenen Abfolge von Dreiminuten-Auftritten sämtliche Spots der Führer der konkurrierenden Listen auszustrahlen. Das islamische Lager war das einzige politische Lager, das unter der Fahne der En-Nahda zentralisiert angetreten ist. Ihre Sammlungspunkte bilden die Moscheen

INTERNATIONALES

Die En-NahdaPartei empfiehlt sich dem internationalen Kapital als Garant für Stabilität

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Š European Parliament / Ezequiel Scagnetti


und die Märkte. Das unter religiösen Parolen vereinte Kleinbürgertum konnte so erst die Armen, und von dort ausstrahlend bedeutsame Teile der Arbeiterklasse erreichen. Die Betriebe fielen demgegenüber als alternative Sammlungspunkte aus. So gelang es nicht, aus der einzigen relevanten organisierten Kraft des Januar-Aufstandes, dem Gewerkschaftsverband UGTT, eine gemeinsame linke Arbeiterpartei herauszubilden. Im Gegenteil haben sich in der Übergangsperiode seit Januar – unterstützt von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung – konkurrierende gewerkschaftliche Verbände entwickelt. Mit Ausnahme der aufflackernden Streiks im Mai und Juni waren überdies praktisch keine landesweiten Klassenkämpfe zu verzeichnen, die eine politische Vereinheitlichung der Linken hätten vorantreiben können. So trat die Linke gleich mehrfach gespalten an. Neben der revolutionären Kommunistischen Arbeiterpartei (PCOT) standen vier verschiedene relevante Formationen zur Wahl, die allesamt sozialdemokratisch oder linksliberal ausgerichtet waren. Innerhalb dieses Lagers haben mit Ettakattul und der Kongresspartei jene Kräfte das Rennen gemacht, die als prinzipientreue Gegner des Ben Ali-Regimes galten und zugleich auf einen scharfen Anti-Islam-Wahlkampf verzichtet haben. Dagegen gewann die linksliberale »Demokratisch-fortschrittliche Partei« PDP nur 16 Sitze, der postkommunistische »Demokratische modernistische Pol« enttäuschende 5 Sitze. Beide Parteien waren unter Ben Ali als eine »anerkannte Opposition« eingerichtet und beschworen im Wahlkampf nun erfolglos die islamische Gefahr, die von der einst unterdrückten En-Nahda ausginge.

nicht mehr als 55 Prozent. Ungeachtet dieser eher verhaltenen Quote wurde die Wahl als solche dennoch nach all den Jahren der Diktatur zu Recht als ein großartiges Ergebnis wahrgenommen, als einen zählbaren späten Erfolg der Revolution. Zugleich verkörpert der En-Nahda-Erfolg in den Augen der Bevölkerungsmehrheit nicht nur den völligen Bruch mit der Ära Ben Ali und seinen Leuten. Er war auch einen Denkzettel in Richtung Big Business, das in Tunesien traditionell säkular ist und gute Geschäfte mit Europa macht. Dieser Widerspruch wird leider nicht von allen Linken in Tunesien als Chance, sondern von manchen gar als Problem wahrgenommen. Maya Jribi, Führerin der PDP, schimpft: »Tunesien ist das einzige Land in der Welt, wo die Linke bourgeois ist und die Rechte proletarisch.« Diese Auffassung verdeutlicht nicht nur die totale Entfremdung der alten, institutionalisierten Linken der Ben-Ali-Ära von den täglichen Sorgen der arbeitenden Bevölkerung. Sie beruht auch auf einer vollkommenen Überschätzung der inneren Festigkeit von En-Nahda. Nur weil sie von Arbeitern gewählt wird, ist En-Nahda noch keine Arbeiterpartei geworden. So haben die Islamisten es nie geschafft, in der UGTT Fuß zu fassen. Mit über zwei Millionen Mitgliedern verfügt der Gewerkschaftsverband weiterhin über ein enormes politisches und soziales Gewicht. En-Nahda ist als kleinbürgerliche Partei vielmehr an einer Aussöhnung mit dem tunesischen und internationalen Kapital interessiert. Sie wird selbst Anziehungspunkt für die tunesischen Geschäftsleute und Karrieristen werden. Diese Entwicklung kann nur zu Lasten der Arbeiterklasse erfolgen. En-Nahdas Stärke und seine innere Einheit beruhen darauf, dass es an der industriellen Front ruhig bleibt. Jede Neubelebung des Klassenkampfes um die unbefriedigten Grundbedürfnisse, jede Neubelebung des revolutionären Prozesses hingegen wird die inneren Widersprüchlichkeiten der Partei heraufbeschwören. Ein wichtiger Faktor wird sein, wie sich die revolutionäre Linke in den kommenden Monaten positioniert. Denn nur, wenn genügend politische Kräfte innerhalb der Gewerkschaften wirken, die nicht durch ihre Einbindung in die Regierungsgeschäfte gebunden sind, bieten sich Perspektiven für eine neue Sammlung der revolutionären Kräfte. Das ahnt auch die Führung der En-Nahda. Deshalb wurde trotz des schwachen Ergebnisses der linken PCOT, die nur drei Sitze erringen konnte, ihr angesehener Vorsitzender Hamma Hammami zur Beteiligung an der Regierung eingeladen. Er hat abgewunken und stattdessen die Fortsetzung des Kampfes angekündigt. Ein positives Zeichen, das hoffen lässt. ■

Den Islamisten ist es nie gelungen, in den Gewerkschaften Fuß zu fassen

Frank Renken hat seine Doktorarbeit zu den französischalgerischen Beziehungen geschrieben. Er lebte bis vor kurzem in Nordafrika.

INTERNATIONALES

Dies verdeutlicht, dass der Islamismus nicht bekämpft werden kann, indem die Linke abstrakt gegen Religion polemisiert. Vielmehr muss die Auseinandersetzung auf dem sozialen und politischen Feld fortgeführt werden, auf dem die Islamisten am Ende nicht mehr zu bieten haben als durchschnittliche Konservative im Westen. Auf diesem Feld werden sich unweigerlich jene Spannungen aufbauen, die den Euphoriestoß unter der armen Bevölkerung nach dem En-Nahda-Wahlsieg rasch verfliegen lassen werden. Im Grunde genommen war die Stimmung vor den Wahlen ohnehin nicht besonders gut. Das konnten alle Beobachter spüren, die sich vor dem 23. Oktober im Land aufhielten. Viele Jugendliche waren und sind angesichts der hohen Arbeitslosigkeit frustriert und trauten keiner Partei eine Verbesserung ihrer Lage zu. Die Beteiligung an der Wahl lag denn auch real bei

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BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Skandal im Sperrbezirk Um Prostituierte zu schützen, soll das Gewerbe wieder schärfer kontrolliert werden. Doch letztendlich gefährdet das die Frauen. Ein Diskussionsbeitrag

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Von Rosemarie Nünning

undesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) hat sich eingereiht in den Chor der Innenminister von CDU bis SPD, die im Verbund mit Kriminalämtern eine schärfere Überwachung des Prostitutionsgewerbes verlangen. Sie fordern unter anderem die Konzessionierung von Prostitutionsstätten, wozu auch Wohnungen gehören sollen, die Ausweitung der rechtlichen Grundlagen zur Prostitutionskontrolle, eine engmaschige Meldepflicht und Kondompflicht. Die dafür genannten Gründe klingen ehrenwert: So sollen Gewalt gegen Prostituierte, »Flatrate«-Bordelle und Zuhälterei, sexuelle Übertragung von Krankheiten und Menschenhandel bekämpft werden. Zur Grundierung dieses Vorhabens wird jetzt auch medial mobil gemacht gegen das unter der ersten rotgrünen Regierung erlassene Prostitutionsgesetz. Das ARD-Magazin »Panorama« schlug kürzlich Alarm: »Liberales Prostitutionsgesetz: Wie Deutschland zum Puff Europas wurde.« Tatsächlich ist mit der Unterordnung aller Aspekte des gesellschaftlichen Lebens unter Kapitalverwertungsinteressen die Prostitution inzwischen ein gigantisches Geschäft. Die Gewerkschaft ver.di schätzt, dass allein im Jahr 2004 in diesem »Gewerbe« ein Umsatz von 14,5 Milliarden Euro erzielt wurde. In der Sexindustrie im weiteren Sinne kassieren Sexunternehmen, Medien- wie Telefonkonzerne ab. Sexualität und vor allem Frauenkörper werden vollvermarktet und sogar als Managerbonus benutzt, wie der Skandal um die Ergo-Versicherung gezeigt hat. Aber dafür ist nicht das Prostitutionsgesetz verantwortlich.

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Im Prostitutionsgewerbe wird ein jährlicher Umsatz von über 14 Milliarden Euro erzielt

Als die Grünen-Bundestagsfraktion im Jahr 1990 zum ersten Mal einen Gesetzesentwurf zur Legalisierung der Prostitution vorlegte, stellte sie die Rechtlosigkeit von Prostituierten, ihre Kriminalisierung und Diskriminierung in den Vordergrund. Das schließlich im Jahr 2002 in Kraft getretene Gesetz ist nur drei Paragrafen kurz. Festgeschrieben wird, dass sexuelle Handlungen gegen ein vereinbartes Entgelt wie jedes andere Geschäft und jede andere Erwerbsarbeit zu behandeln sind und Prostituierte sich regulär sozialversichern können oder müssen, wenn sie angestellt sind. Mit der Einbeziehung ins Sozialversicherungssystem sollten Prostituierte auch vor Verelendung im Alter oder bei Krankheit geschützt werden. Damit sollte gekaufter Sex auch nicht mehr als »sittenwidrig« gelten, was bis dahin staatliche Übergriffe auf Prostituierte legitimierte und sie gegenüber ihren Kunden rechtlos stellte. Die Grünen hatten zusammen mit der Hurenbewegung auf Erlass dieses Gesetzes gedrängt und zur Einstimmung große Hurenbälle veranstaltet. Als es Ende des Jahres 2001 von der rot-grünen Regierung verab-


schiedet wurde, stießen eine grüne und eine sozialdemokratische Ministerin und eine Bordellbesitzerin mit einem Gläschen Sekt auf den Erfolg an. Das spiegelt bei allen guten Absichten, Prostitution zu entkriminalisieren und Sicherheit für Prostituierte herzustellen, auch die soziale Basis der Grünen wider: die sich im Mittelschichtbereich bewegenden unabhängigen, gutverdienenden Prostituierten, die »aufgeschlossenen« Studierenden, die sich ihr Studium so finanzieren, oder auch die Unternehmerinnen der Sexindustrie. Das ist aber nur ein sehr kleiner Ausschnitt des Prostitutionsgewerbes. Das Durchschnittseinkommen der geschätzt 400.000 Prostituierten, von denen immer noch 90 Prozent Frauen sind, liegt unter 1.500 Euro im Monat. Nach einer Studie von Tampep, einer Hilfsorganisation vor allem für zugewanderte Prostituierte, waren in den Jahren 2008 und 2009 etwa 63 Prozent aller Sexarbeiterinnen Migrantinnen, vor allem aus Osteuropa – Tendenz jährlich steigend. Rund 13 Prozent arbeiten auf der Straße, die große Mehr-

heit in Privatwohnungen und Bordellen. Was die Auswirkungen des Gesetzes betrifft, sind bisher nur wenige Prostituierte als »Angestellte« gemeldet. Kaum eine Prostituierte gibt wegen des Stigmas bei einer Krankenkasse ihre wahre Tätigkeit an. In den Bordellen werden sie am ehesten als geringfügig Beschäftigte geführt. Meistens »mieten« Frauen ihren Arbeitsplatz dort oder gelten als »freie Mitarbeiterinnen«. Auch von der Möglichkeit, nicht zahlende Freier anzuzeigen, wurde fast kein Gebrauch gemacht. Die Gewerkschaft ver.di sieht sich mit ihrem dreizehnten (und letzten) Fachbereich Besondere Dienstleistungen auch für Prostituierte zuständig. Das Ergebnis ihrer Bemühungen beläuft sich bisher – abgesehen von einigen nützlichen Studien – auf die Erstellung eines Musterarbeitsvertrags als »guter Anfang für maßgeschneiderte Hilfe«, was die Hilflosigkeit der Gewerkschaft auf diesem Terrain zeigt. Das Prostitutionsgesetz hat auf dieser Ebene so gut wie keine Wirkung gezeigt. Aber schlimmer noch: Um Wind aus der Empörung über das Gesetz zu neh-

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Kontrolle statt Hilfe: Das Prostitutionsgesetz von 2001 sollte Sexarbeit entkriminalisieren – doch nach wie vor sind Razzien an der Tagesordnung

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★ ★★ WEITERLESEN Judith Orr, Katrin Schierbach, Maya Mosler: Wie frei ist die Frau? Marxismus und Frauenbefreiung im 21. Jahrhundert (Edition Aurora 2010).

men, versprachen die Grünen den Ausbau von Hilfseinrichtungen und Beratungsstellen für den Ausstieg aus der Prostitution. Doch stattdessen wurden Beratungsstellen aufgelöst und die staatliche Verantwortung wurde häufig an christliche Einrichtungen wie die Mitternachtsmission abgegeben. Auch die Idee von repressionsfreier Prostitution hat sich nicht erfüllt: Unter dem Vorwand möglicher Steuerhinterziehung oder nicht gemeldeter Beschäftigung führen Polizei, Steuerfahndung und Staatsanwaltschaft regelmäßig Kontrollen durch. Um angeblich gegen Menschenhandel vorzugehen, werden Großrazzien in Bordellen veranstaltet. Die Prostituiertenorganisation Doña Carmen führt einen »Razzienspiegel« darüber: Die letzte Großrazzia fand im Mai dieses Jahres in 1.000 Bordellen statt. Beteiligt waren Europol und die Polizei aus 13 Bundesländern. Die Aktion kostete 1 Million Euro, rund 6.000 Prostituierte wurden kontrolliert, handfeste Beweise für Menschenhandel wurden nicht gefunden, dafür ein paar Frauen ohne Aufenthaltsgenehmigung.

Dazu kommen weitere Kontrollinstrumente, die Repression durch die Hintertür ermöglichen. Eine »Sittenwidrigkeit« kann nach dem Gaststätten- und Gewerberecht festgestellt werden. Kommunen können Sperrbezirke einrichten. Einige, wie Stuttgart, Dresden und neuerdings Dortmund, haben die ganze Stadt zum Sperrbezirk erklärt, andere diese so aufW. I. Lenin: Der Fünfte gesplittert, dass Prostituierte sich irgendwann schon Internationale Kongress deshalb strafbar machen, weil sie den Überblick verfür den Kampf gegen die Prostitution (1913), lieren. Je mehr Sperrbezirke, je weiter Prostitution in Online unter: www. Randbezirke abgedrängt wird, desto eher mischen marxists.org/deutsch/ auch Zuhälter mit. Im bisher sperrbezirkfreien Berarchiv/lenin/1913/07/ lin arbeitet die überwiegende Zahl der Prostituierten prostitution.html. selbstständig, in Hamburg mit seiner hochregulierten Friedrich Engels: Der Prostitutionspolitik haben 80 Prozent der Frauen ZuUrsprung der Familie, hälter. des Privateigentums Eins der dramatischsten Beispiele von Repression geund des Staats (1884), Online unter: www. gen Prostitution gepaart mit staatlichem Rassismus mlwerke.de. spielte sich dieses Jahr am Straßenstrich in der Dortmunder Nordstadt ab. Unter dem Vorwand des Jugendschutzes wurde er geschlossen. Vorher hatte es dort medizinische Versorgung, Drogen- und Schuldnerberatung und Ausstiegshilfe gegeben, »VerrichtungsboHilfe für Prostituierte xen« waren aufgestellt worden, der Schutz der dort arbeitenDer Kommunikations- und Beratungsden Frauen war weitgehend stelle für Prostituierte (Kober) in Dortgesichert. Der Strich wurde sogar als »Dortmunder Modell« mund setzt sich unter anderen für Romgelobt, bis immer mehr Frauafrauen im Rotlichtmilieu ein. Infos en dorthin strömten. Sie kaunter: www.kober-do.de. men aus dem Romaghetto in Die Prostituiertenorganisation Doña CarPlovdiv, Bulgarien. Dort leben men führt einen »Razzienspiegel«, in 50.000 Roma in heruntergedem sie Polizeirazzien dokumentiert: kommenen Plattenbauten zwischen Müllhalden. Die Sterbwww.donacarmen.de. lichkeit ist hoch, viele Kinder

Jane Pritchard: Sexarbeiterinnen – eine Debatte (2010), Online unter: www.marxists. de/gender/pritchard/ sexarbeit.html.

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sind Waisen. Wegen des staatlichen Rassismus sind neunzig Prozent der Roma arbeitslos. Verbindungen zu Dortmund gab es durch den Nachwendeboom, als viele Roma dort Arbeit auf Baustellen fanden. Der Prostituiertenhilfe Kober gelang es, mit den Romafrauen zusammenzuarbeiten, für Kondombenutzung und HIV-Prävention zu sorgen und den Frauen auf diese Weise mehr Sicherheit zu verschaffen. Der Dortmunder Oberbürgermeister aber fand, so erzählte er der Süddeutschen Zeitung, den Zuzug von »Kriminellen« statt der erwarteten »Kreativen, Studenten und Familien« unerträglich. Die Polizei veranstaltete Großrazzien auf der Straße. Antirassistische Organisationen, Prostituiertenhilfe und Huren machten gegen die Schließung des Strichs mobil. Seit April ist er dennoch dicht, viele Frauen sind untergetaucht, Prostitution findet jetzt wieder in der schutzlosen Illegalität statt. Im August wurde eine bulgarische Prostituierte in der Dortmunder Nordstadt von ihrem Freier aus dem Fenster gestoßen und schwer verletzt. Sie dürfte ein Opfer der Schließung des Straßenstrichs gewesen sein. Welche Doppelmoral die herrschende Klasse in der Frage von Prostitution aufbringt, zeigt sich auch daran, dass für die Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006 in Köln auf einer Brache extra Boxen aufgestellt worden waren, wo Frauen arbeiteten. Nach der WM wurden sie abgeschoben. Solche Beispiele zeigen: Der kapitalistische Staat ist kein Partner, um sexuelle Ausbeutung zu beseitigen. Im Gegenteil ist er unmittelbar verantwortlich für diese Ausbeutung, weil er die Grundlage für Frauenunterdrückung schafft und aufrechterhält und wirtschaftliche Not erzeugt, die gerade heute wieder viele Frauen in die Prostitution treibt. Prostitution ist unlösbar verknüpft mit Klassengesellschaft, Frauenunterdrückung und Armut. Sie wird durch Verbote, polizeiliche Überwachung oder Bestrafung von Freiern nicht verschwinden. Rechtliche Verschärfungen bringen nur weitere Repression mit sich. Eine gesetzliche Kondompflicht kann letztlich nur überwacht werden, wenn regelmäßig »Ordnungshüter« präsent sind. Das Bundeskriminalamt wünscht sich die Möglichkeit zur anlasslosen polizeilichen Kontrolle von Prostitutionsstätten und möchte so das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung weiter einschränken. Solche Maßnahmen werden die Frauen des Gewerbes verstärkt in den Untergrund treiben, mit allen Gefahren, die das mit sich bringt. Die Gesetze zur Bestrafung von Freiern in Schweden zeigen das: Die sichtbare Prostitution ist gesunken, die unsichtbare spielt sich in Dunkelzonen eines illegalen Markts ab. Frauen werden vermehrt überfallen, die Polizei veranstaltet Razzien auf Wohnungen, das Vorhandensein von Kondomen und Gleitmitteln wird bereits als Beweis für illegale Prostitution gewertet. Da auch


hier die Mehrheit der Prostituierten Migrantinnen sind, wird das Verbot des Sexkaufs als gesellschaftlich akzeptierter Vorwand benutzt, um gegen unerwünschte Migration vorzugehen. Was wäre nötig? Wir müssen gegen eine reaktionäre Phalanx antreten, die mit dem Angriff auf das Prostitutionsgesetz Repression ausweiten will, statt Schutz und Hilfe anzubieten. Ihnen geht es nur darum, allein schon den Gedanken eines liberalen, unterdrückungsfreien Umgangs mit Prostitution auszumerzen und repressiven Handlungsspielraum mit Zustimmung der Bevölkerung zu erweitern. DIE LINKE hat, wie die Grünen, Protest gegen den Vorstoß der Innenminister eingelegt. Sie fordert zu Recht die Streichung der »Sittenwidrigkeit« im Gaststätten- und Gewerberecht. Sie fordert aber auch in anderen Bereichen eine weitere gesetzliche Verregelung der Prostitution und greift damit fehl. Prostitution muss an allererster Stelle vollständig entkriminalisiert werden. Die polizeilichen Prostituiertenkarteien müssen abgeschafft, die Gebietsbeschränkungen aufgehoben werden. Um Menschenhandel zu unterbinden, müssen die Grenzen geöffnet und Opfer vor Abschiebung geschützt werden. Hilfs- und Beratungsstellen müssen geschaffen werden. Jede geforderte Hilfe zur Herstellung von Arbeitssicherheit wie für einen Ausstieg muss gewährt, andere Arbeitsplätze müssen geschaffen werden. Stattdessen wird der Wunsch von Frauen nach Ausstieg und Umschulung von Arbeitsämtern schon mal abgelehnt, weil sie schließlich ein Einkommen hätten. All das ist aber nicht gleichbedeutend mit der Forderung nach Legalisierung. Jede gesetzliche Regelung unter dem Stichwort Prostitution oder sexuelle Dienstleistungen ist ein Sonderrecht und heißt nur, andere Wege staatlicher Repression zu eröffnen, ohne den Frauen ernsthaft zu helfen, das haben die Erfahrungen mit dem Prostitutionsgesetz gezeigt. Ähnliche Beispiele sind die gesetzlichen Regelungen zur Abtreibung oder zu Drogen. Noch wichtiger aber ist der Aufbau neuer Bewegungen gegen Frauenunterdrückung und die Folgen der kapitalistischen Krise. Beispiele dafür sind die Proteste Hunderttausender in 300 italienischen Städten gegen den Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und seinen zynischen Missbrauch Minderjähriger als Prostituierte unter der Parole: »Italien ist kein Bordell!« Mit den »Schlampendemos« gingen im Sommer in vielen Ländern Frauen auf die Straße, um gegen Sexismus zu protestieren. Und weltweit wehren sich in vielen Bewegungen Menschen dagegen, dass das Versagen des Systems auf uns abgewälzt wird. Letztendlich geht es also auch darum, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der die wirtschaftliche Not beseitigt ist, die Menschen in die Prostitution treibt, in der Sexismus und Unterdrückung jeder Art aufgehoben sind. ■

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Rosemarie Nünning ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Neukölln. Bei vorliegenden Beitrag handelt es sich um die Kurzfassung eines Vortrags, den sie bei der Konferenz »Marx is’ muss« Anfang Juni diesen Jahres gehalten hat.

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Um Menschenhandel zu unterbinden, müssen die Grenzen geöffnet werden

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t n e m u g r A e t s g i t »Das wich « n e n n i w e g n e n war: Wir kön Die Beschäftigten des Nahverkehrs in Baden-Württemberg haben einen neuen Tarifvertrag erkämpft. Wolfgang Hoepfner war dabei. Im Gespräch mit marx21 berichtet er von der Strategie seiner Gewerkschaft – und warum die Bahnkunden trotz Streik zufrieden waren Wolfgang, die Gewerkschaft ver.di hat im Oktober für einen eigenständigen Lohntarifvertrag für den baden-württembergischen Nahverkehr gestreikt. Wieso wollt ihr aus dem bundesweiten Tarifvertrag aussteigen? Der baden-württembergische Nahverkehr war immer ein kampffähiger und kampfwilliger Bereich. Aber seit 20 Jahren ha-

ben wir das Problem, dass in den Tarifverhandlungen für den gesamten deutschen öffentlichen Dienst meist die kampfschwächsten Bereiche und vor allem die ängstlichsten Gewerkschaftssekretäre die Strategie vorgeben. Manchmal durften wir ein paar Tage streiken, aber dann wurde auf Bundesebene trotzdem ein schlechter Kompromiss unterschrieben.

Was sind das für Kompromisse? Viele Gewerkschaftssekretäre unterschreiben auf Wunsch der Mitglieder alles, wo das Wort »Beschäftigungssicherung« draufsteht. Und zwar buchstäblich um jeden Preis. Wenn man Arbeitszeit und Lohn zusammenzählt, haben wir im Nahverkehr seit 1992 zwischen 25 und 30 Prozent Kürzung hinnehmen müssen. ▶ Weiter auf Seite 62

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© Jo Röttgers

Wolfgang Hoepfner ist Mitglied der ver. di-Landestarifkommission Nahverkehr Baden-Württemberg sowie Schwerbehindertenvertreter und Betriebsratsmitglied der Stuttgarter Straßenbahn AG (SSB). Er ist zudem Mitglied der LINKEN.

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Wolfgang Hoepfner

Erfolgreicher Arbeitskampf durch gute Vorbereitung: ver.di hat unmittelbar vor dem Streik 300 neue Mitglieder gewonnen

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Was habt ihr dagegen unternommen? Der Nahverkehr Baden-Württemberg hat innerhalb der Funktionäre und mit den Beschäftigten seit 2005 intensiv diskutiert, wie wir aus dieser Abwärtsspirale rauskommen. Das Ergebnis war einmütig, dass wir einen eigenständigen Lohntarifvertrag brauchen. Ist das nicht unsolidarisch? Nein. Wie bei der IG Metall wollen wir als kampffähiger Bereich vorangehen. Wenn wir Erfolg haben, werden bundesweit alle davon profitieren. Ihr habt den Streik am 2. November mit einer Einigung mit den Gemeinden beendet. Der eigenständige Lohntarifvertrag kommt aber frühestens 2014. Seid ihr gescheitert? Nein. Wir haben in drei Jahren ein Sonderkündigungsrecht des bestehenden Vertrages, das wir höchstwahrscheinlich wahrnehmen werden. Dann haben wir die Eigenständigkeit. Die Arbeitgeber haben sich diese Zeit mit deutlichen Verbesserungen bei Arbeitszeit und Weihnachtsgeld erkauft. Das war ein Angebot, das wir annehmen mussten. Welche Strategie hattet ihr für den Streik? Wir haben uns den Streik der Erzieherinnen im Jahr 2009 genau angeschaut. Sie hatten Erfolg, weil sie trotz des schwierigen Bereichs der Kinderbetreuung die öffentliche Meinung bis zum Schluss auf ihrer Seite hatten. Das ist im Nahverkehr sicher sehr schwierig. Aber wir haben es überwiegend geschafft. Die Fahrer haben nur tageweise gestreikt, obwohl die Kollegen zum wochenlangen Vollstreik bereit waren. Stattdessen haben wir Bereiche dauerhaft bestreikt, die den Verkehr nicht lahmlegen und den Arbeitgebern gleichzeitig finanziell wehtun. Wie das? Dauerhaft gestreikt haben vor allem die Arbeiter in den Werkstätten und KundenCentern, die Fahrkartenkontrolleure und der Automatendienst. Dadurch konnten die Leute zwar fahren, aber oft keine Fahrkarten kaufen, und sie wussten, dass sie nicht kontrolliert wer-

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Durch die neue Strategie haben wir einen Organisationsgrad von fast 100 Prozent erreicht den. Außerdem sind die Automaten bald ausgefallen, weil die Münzspeicher voll waren und sie nicht gewartet wurden. Kann man die Arbeitgeber dadurch wirklich finanziell schädigen? Ja. Allein die Stuttgarter Straßenbahn hatte durch weniger verkaufte Fahrkarten jeden Tag geringere Einnahmen im fünfstelligen Bereich. Durch den Streik der Werkstätten fielen immer mehr Bahnen aus. Die Arbeitgeber mussten die Fahrer aber trotzdem bezahlen, weil sie ja nicht gestreikt haben. Ist das eine neue Strategie? Ja. Bisher kannten wir hauptsächlich den Vollstreik der Fahrer. Jetzt sind wir vor dem Streik gezielt in die Kunden-Center gegangen. Wir haben den Kolleginnen erklärt, dass es auf sie ganz besonders ankommt, weil bei Ihnen die Einnahmen entstehen. War das erfolgreich? Und wie. Dadurch haben wir vor dem Streik in diesem Bereich einen Organisationsgrad von fast 100 Prozent erreicht. Obwohl sich Gewerkschaften ja traditionell schwer tun, Frauen und Angestellte zu gewinnen. Es war beeindruckend, wie dann während des Streiks die Kollegen und Kolleginnen alle an einem Strang gezogen haben. Zwischen Serviceangestellter und Werkstattmonteur ist echter Teamspirit entstanden. Mit welchem Argument habt ihr die Kollegen vom Streik überzeugt? Das wichtigste Argument war: Wir können gewinnen. Diesmal werden wir nicht darum betteln, dass die Kürzungen ein bisschen kleiner ausfallen. Es ging darum, einen Strich zu ziehen und zu sagen: Bis hierher und nicht weiter. Ab jetzt drehen wir den Spieß um und werden die Kürzungen Stück für Stück rückgängig machen. Hat das überzeugt? Ja. Selbst Kollegen, die aus ver.di ausgetre-

ten waren, haben gesagt: Wenn ihr es diesmal ernst meint, treten wir wieder ein und streiken mit. So wurde die abstrakte Forderung nach einem eigenständigen Lohntarifvertrag für Baden-Württemberg zum Hauptmobilisierungsfaktor. Wie viele Kolleginnen und Kollegen sind eingetreten? Wir haben in der Vorbereitung des Streiks bei 7500 Angestellten im Nahverkehr Baden-Württemberg mindestens 300 neue Mitglieder gewonnen. Die Eintritte im Streik selbst sind noch nicht erfasst. Die Stuttgarter Straßenbahn hatte während des Streiks eine faktische Aussperrung der Fahrer verhängt, die am nächsten Tag wieder zurückgenommen wurde. Wie erklärst du dir diesen aggressiven Schritt? Die Arbeitgeber gerieten in Panik. Sie wussten, dass wir die Kürzungspolitik der letzten 20 Jahre grundsätzlich umkehren wollen. In vielen Regionen sind die Belegschaften des Nahverkehrs weit weniger kampffähig als in Baden-Württemberg. Wie kommt das? Die Schwächung der Gewerkschaften entstand vor allem durch Privatisierung oder angedrohte Privatisierung des Nahverkehrs. Die städtischen Verkehrsbetriebe werden ständig mit Angeboten privater Konkurrenten verglichen und sollen ihre Kosten senken. Außerdem hat der europäische Rechtsrahmen Privatisierungen erleichtert und die kommunale Direktvergabe gezielt erschwert. Was bedeutet das für die Gewerkschaften? Bei Tarifverhandlungen sitzt unsichtbar immer der private Konkurrent am Tisch, der Niedriglöhne anbietet. Die Gemeinden nehmen sich dann vor, die Löhne auf dasselbe Niveau zu drücken. Allein der Stuttgarter Nahverkehrsbetrieb hat seit 1992 seine Schulden von 64 auf 19 Millio-


Der Streik war auch deshalb möglich, weil der Organisationsgrad im Nahverkehr Baden-Württemberg besonders hoch ist. Habt ihr etwas richtig gemacht, was woanders falsch gemacht wurde? Ich denke schon. Der Nahverkehr war bis vor 15 Jahren sehr »patriarchalisch« mit mächtigen Betriebsratsvorsitzenden organisiert, in vielen Regionen wie dem Ruhrgebiet auch mit starken SPD-Seilschaften zwischen Gewerkschaft und Politik. Im öffentlichen Dienst bedeutet das: zwischen Arbeitnehmervertreter und Arbeitgeber. Wie wirkt sich das aus? Die Betriebsräte im öffentlichen Dienst lassen sich vom Bürgermeister erklären, wie groß die finanziellen Spielräume für Lohnerhöhungen sind oder eben nicht. In den 1980er Jahren waren so noch kleine Verbesserungen möglich. Heute werden nur noch Kürzungen durchgesetzt. Die Arbeitgeberposition zu übernehmen funktioniert natürlich leichter, wenn man sich aus dem SPD-Kreisvorstand kennt. Was ist in Baden-Württemberg anders? Im Betriebsrat des Stuttgarter Nahverkehrs haben sich bei der Wahl im Jahr 2002 die Mehrheitsverhältnisse verändert. Bis dahin verstand die Mehrheit den Betriebsratsposten als einen angenehmen Job und als eine Sprosse auf ihrer Karriereleiter. Aber es gab immer eine Opposition, die Betriebsrat wurde, um die Arbeitsbedingungen der Kollegen zu verbessern. Seit neun Jahren sind letztere die Mehrheit. In den anderen Betrieben gab es ebenfalls personelle Wechsel, die auch zu strategischen Neuorientierungen führten. Was hat sich seitdem verändert? Im Stuttgarter Nahverkehr gibt es seit 2002 eine neue Strategie der ver.di-Betriebsräte. Wir haben versucht, Tarifpolitik wieder an die Basis zurückzubringen. Dafür mussten wir Vertrauensleutekörper komplett neu aufbauen. Was bedeutet diese Basis-Orientierung konkret? Wir arbeiten viel mit Aushängen, machen Flugblätter und verteilen sie im Betrieb.

Unsere Betriebsversammlungen sind echte Diskussionsforen, wo Kritik an Betriebsrat und Gewerkschaft ausdrücklich erwünscht ist. Habt ihr das im Streik auch gemacht? Natürlich. Während des Streiks gab es tägliche Streikversammlungen an allen Bahn- und Bus-Depots und im Gewerkschaftshaus. Ver.di hat täglich ein neues Flugblatt verteilt und ständig E-Mails mit den neuesten Entwicklungen an alle Kollegen verschickt.

»Ich habe den Koran gelesen, um die muslimischen Kollegen besser zu verstehen« Klingt nach Selbstverständlichkeiten für eine große Gewerkschaft. Das ist es aber leider überhaupt nicht! Gerade bei bundesweiten Tarifverhandlungen legt irgendjemand in Berlin fest: Wir fordern dieses und jenes. Wem das nicht gefällt, der hat Pech gehabt und kein Mensch spricht mit den Kollegen im Betrieb. Diese üble Tradition haben wir durchbrochen. Warum fällt die Arbeit mit der Basis den Gewerkschaften oft so schwer? Viele Gewerkschaftssekretäre und -funktionäre gehen, wenn überhaupt, ohne jede Strategie in einen Streik und verlieren. Sie wissen oft einfach nicht mehr, wie man einen Arbeitskampf führt. Auch wir mussten manches neu lernen. Leidet die Schlagkraft der Gewerkschaften nicht hauptsächlich unter einem grundsätzlichen Desinteresse der Beschäftigten? Nicht unbedingt. Kollegen haben in den letzten Jahren immer wieder kritisiert, dass ver.di nicht versucht hat zu streiken. Dass wir nicht getestet haben, was drin ist und zu früh unterschrieben haben. Viele treten auch aus, weil die Gewerkschaft nicht genug für sie durchsetzt.

Könnten die Gewerkschaften mit eurer Arbeitsweise auch in anderen Bereichen wieder schlagkräftiger werden? Gut möglich. Wichtig ist vor allem, dass ver.di auch im privatisierten Nahverkehr stark wird. Auch unser Abschluss gilt zum Beispiel nicht in Mannheim und Heidelberg, weil die dortigen kommunalen Betriebe eigene Tarifverträge haben. Gibt es gewerkschaftlich gut organisierte private Nahverkehrsbetriebe? Ja. Der privatisierte Nahverkehrsbetrieb in Pforzheim ist zu mehr als 90 Prozent organisiert. In Ludwigsburg sind es 98 Prozent. Die Pforzheimer haben jetzt auch mitgestreikt. Teile des Abschlusses sind auch für sie gültig. Du bist auch Mitglied der LINKEN. Brauchen wir mehr linke Betriebsräte? Kommt drauf an, was links im Betrieb bedeutet. Wir brauchen auf jeden Fall mehr mutige und kämpferische Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre. Und wir müssen viel mit den Kollegen kommunizieren, damit sie keine Angst haben, sich zu engagieren. Kämpfen ist doch links, oder? Das schon. Aber das geht nur, wenn man genau weiß, wann die Kollegen kämpfen wollen und wann nicht. Manche Linke meinen, durch ihr politisches Verständnis wüssten sie, was gut für die Arbeiterklasse ist. Und das mag objektiv auch richtig sein. Aber wenn die Arbeiter selbst das anders sehen, nützt dem linken Betriebsrat die schönste Analyse nichts. Wie kann man als Betriebsrat nah an der Basis bleiben? Ein kleines Beispiel: Im Stuttgarter Nahverkehr arbeiten viele Muslime, einige auch strenggläubig. Ich habe mal den Koran gelesen, um besser zu verstehen, was sie denken und wovon sie reden. Je mehr man sich auf die Leute einlässt, desto besser. Linke im Betrieb müssen den Menschen zuerst mal zuhören, ihre Probleme verstehen und mit ihnen gemeinsam konkrete Lösungen und Handlungsoptionen erarbeiten. Die Fragen stellte Hans Krause ★ ★★

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nen Euro gesenkt. Bei gleichzeitiger Ausweitung des Angebots. Alles auf Kosten der Angestellten.

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NEUES AUS DER lebt von der Die Rubrik »Neues aus der LINKEN« Redaktion kann Mitarbeit der marx21-Leser. Die azin und seine nicht überall sein – aber das Mag Leser schon. über interessante Auf dieser Doppelseite wollen wir EN berichten Aktionen und Kampagnen der LINK igen. Wenn ihr sowie spannende Termine ankünd eine etwas beizutragen habt, schickt . Die Redaktion 1.de arx2 n@m ktio E-Mail an reda l und Kürzung vor. behält sich das Recht auf Auswah

10 Jahre Krieg in Afghanistan

LINKE grüßt Occupy DIE LINKE solidarisiert sich mit den weltweiten Protesten der Occupy-Bewegung, die am 15. Oktober in mehr als 480 Städten stattgefunden haben. Der Bundesparteitag in Erfurt hat beschlossen: »DIE LINKE ist Teil der demokratischen Erneuerungsbewegung für Europa. Sie unterstützt den Widerstand von Beschäftigten und Gewerkschaften gegen die unsozialen Kürzungsauflagen in Europa.«

Protest gegen Naziaufmarsch Rund 400 Menschen sind am 17. September in der Heimatstadt von Karl Marx auf die Straße gegangen, um gegen einen Naziaufmarsch zu demonstrieren. Hintergrund war der damals geplante und mittlerweile auch beschlossene Ausschluss des NPDManns Safet Babic aus dem Trierer Stadtrat. Babic hatte im Jahr 2009 einen Studenten zusammengeschlagen und wurde nun wegen schwerer Körperverletzung verurteilt.

Grohnde abschalten Bis zum Jahr 2021 darf das Atomkraftwerk Grohnde weiter in Betrieb bleiben, so wollen es die Bundesregierung und der Betreiber Eon. Die Menschen in Niedersachsen sehen das aber anders und haben am 2. und 3. Oktober für die sofortige Stilllegung demonstriert. Auch DIE LINKE.Niedersachsen, die sich aktuell auf die kommenden Castor-Proteste im Wendland vorbereitet, rief ihre Mitglieder zur Teilnahme an den Protesten auf. 64

Aktivistinnen und Aktivisten der LINKEN , der Linksjugend [´solid] und des Stud ierendenverbandes Die Linke.SDS sind am 6. Oktober in Dinslaken (Kreis Wes el) auf die Straße gegangen, um auf den Krieg in Afghanistan aufmerks machen. An diesem Abend nahm am zu auch Gregor Gysi an einer Veransta ltung des Stadtverbandes Dinslake solidarisierte sich mit den Demonst n teil und rierenden. Serd ar Agit Bo ztem

ur, Dü sseld or f

Erfolgreicher Protest gegen Bundeswehr Schon seit langem finden in fast jeder Stadt regelmäßig Berufsinformationsbörsen statt. Veranstaltet von Schulämtern oder dem Arbeitsamt sollen Schüler der Klassen 8 bis 10 auf das Berufsleben vorbereitet werden. Eine schlechte Tradition ist, dass sich auch die Bundeswehr dort präsentieren darf. In Bielefeld war in diesem Jahr alles anders. DIE LINKE hat die Veranstalter in einem offenen Brief aufgefordert, die Bundeswehr auszuladen. An den beiden Veranstaltungstagen im Oktober haben wir uns unter die mehr als 4000 Besucher gemischt und Flugblätter und Aufkleber der Linksjugend [‚solid] verteilt. Die Resonanz war überwältigend. Fast 2000 Flyer wurden verteilt und die Schüler rissen uns die Aufkleber aus den Händen. »Die Frau von der Bundeswehr ist völlig außer sich«, sagte uns eine Lehrerin. Nichts ließen Bundeswehr und Schulleitungen unversucht, um das Verteilen zu unterbinden. Anderseits kamen immer wieder Lehrkräfte zu uns und erklärten ihre Freude über unseren Auftritt. »Ich bin total wütend«, sagte uns eine Lehrerin. »Im November sollen wir an unserer Schule Friedenstage organisieren und heute müssen wir unsere Schüler hier zum Bundeswehrstand schicken.« Überzeugen mussten wir kaum einen. Aber wir haben viele zum Widerspruch ermutigt. Heinz Willemsen, Bielefeld


Gemeinsam gegen Krankenhausprivatisierung Die Stadt Wiesbaden will ein kommunales Krankenhaus privatisieren. Die Verantwortlichen haben allerdings die Rechnung ohne den Widerstand gemacht Nach dem Willen von CDU und SPD sollen 49 Prozent der kommunalen Dr.-Horst-Schmidt-Klinik (HSK) in Wiesbaden verkauft werden. Die beiden Parteien, die gemeinsam über die Mehrheit der Sitze in der Stadtverordnetenversammlung verfügen, wollen beim Verkauf der Anteile öffentlich-rechtliche sowie freigemeinnützige Träger gegenüber privaten Konzernen bevorzugen. Allerdings soll laut Stadtverordnetenbeschluss durch den Verkauf die vollständige Entschuldung des Krankenhauses gewährleistet werden. Die HSK sitzt auf einem Schuldenberg von 73 Millionen Euro, die Kosten des geplanten Neubaus inklusive der Medizintechnik werden auf 230 Millionen Euro geschätzt. In den vergangenen beiden Jahren wurde ein Verlust in Höhe von 14 Millionen Euro eingefahren. Im Bieterverfahren hat sich zwar neben der Rhön AG und Asklepios auch der kommunale Krankenhausbetreiber Gesundheit Nordhessen eingeschaltet, aber angesichts der finanziellen Si-

tuation in Wiesbaden wird voraussichtlich nur ein privater Konzern über die notwendigen Kapitalsummen verfügen. DIE LINKE in Wiesbaden ist gegen eine Privatisierung der HSK, weil diese zu schlechteren Bedingungen für Patienten und Beschäftigte führen wird. Auch der ver.di-Bezirksvorstand hat sich gegen die Privatisierung ausgesprochen. DIE LINKE hat bereits zwei Flugblattaktionen am Klinikum durchgeführt und unter anderem auf das erfolgreiche Bürgerbegehren gegen den Verkauf von drei kommunalen Krankenhäusern im bayerischen Landkreis Rottal-Inn hingewiesen. Weiter heißt es im Flugblatt: »Privatisierung ist kein Naturgesetz. Sie kann auch gestoppt und sogar wieder rückgängig gemacht werden. (…) Wehren wir uns gemeinsam! Noch ist es nicht zu spät!«. Ein Bürgerbegehren gegen den Verkauf wird gegenwärtig vorbereitet. Tobias Paul, Darmstadt

Im Februar kommenden Jahres wollen erneut Neonazis durch Dresden marschieren und anlässlich des Jahrestages der Bombardierung der Stadt ihre menschenverachtende Ideologie verbreiten. Wie in den letzten beiden Jahren werden wir von Bündnis Dresden Nazifrei auch 2012 alles tun, um den Naziaufmarsch zu verhindern. Daher fand am 10. Oktober in Dresden eine Aktivierungskonferenz für die Aktionen im kommenden Februar statt. Neben der LINKEN ist ein breites Spektrum von Aktivisten vertreten, um auf Grundlage des erneuerten Aktionskonsens die Gegenaktionen vorzubereiten. Ein wichtiges Thema war der Umgang mit staatlichen Repressionen, die in diesem Jahr stark zugenommen haben. Datenspeicherung, Hausdurchsuchungen und Extremismusklausel sind ernstzunehmende Probleme. Als Fazit kann man festhalten: ein klares Ja zu Blockaden, zu einer pluralistischen Bewegung gegen den Naziaufmarsch und ein eindeutiges Nein zu Spaltungen. Infos unter: www.dresden-nazifrei.com. Natalie Dreibus, Frankfurt

NEUES AUS DER LINKEN

Dresden nazifrei

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© Han Soete / CC BY-NC-SA

SERIE: WAS WILL MARX21?

Grenzübergreifende Hafenarbeiterstreiks brachten das »Port Package«, eine Initiative zur Privatisierung von Hafendienstleistungen, zu Fall

Gegenwehr ohne Grenzen Mit der Serie »Was will marx21« möchten wir die politischen Grundlagen des marx21-Netzwerkes vorstellen. Diesmal fragen wir: Was ist Internationalismus? Teil 9 der Serie

er soll den Griechen noch glauben?« Oder: »Warum zahlen wir den Griechen ihre Luxus-Renten?« So hetzt die Bild-Zeitung seit Beginn der Eurokrise und schürt nationalistische Vorurteile. Wohlmeinende Befürworter weiterer Kredite für Griechenland entgegnen, dass sie damit »Absatzmärkte für Deutschland« sichern wollen. Auch das ist im Kern eine nationalistische Argumentation, die lediglich die Interessen der hiesigen Wirtschaftsbosse wiedergibt. Die Arbeiterbewegung sollte sich in der aktuellen Auseinandersetzung um die Krise mehr denn

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je auf ihre internationalistischen Traditionen berufen. Marxismus unterscheidet sich radikal von jeder Spielart nationalistischer Ideologie. Im »Kommunistischen Manifest« schreiben Karl Marx und Friedrich Engels: »Die Arbeiter haben kein Vaterland«. An anderer Stelle erklärt Marx: »Die Nationalität des Arbeiters ist nicht französisch, nicht englisch, nicht deutsch, sie ist die Arbeit, das freie Sklaventum, die Selbstverschacherung. Seine Regierung ist nicht französisch, nicht englisch, nicht deutsch, sie ist das Kapital. Seine heimatliche Luft

Marx sah den Hauptkonflikt nicht zwischen den Nationen, sondern zwischen den Klassen


alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.« Diese Internationalisierung der Produktivkräfte stellte für Marx und Engels die objektive Grundlage zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft dar.

Die Alternative zum Standortnationalismus ist, dass Arbeiter sich genauso international organisieren wie die Konzerne

sen: zwischen der internationalen Arbeiterklasse und der internationalen Kapitalistenklasse. Nationalisten sehen es genau umgekehrt: Die Welt ist aus ihrer Sicht in Nationen gespalten. Für sie kommen die nationalen Interessen vor den Interessen von Klassen, die nur einen Teil des gemeinsamen Ganzen darstellen. Für den Nationalismus in seinen verschiedenen Formen müssen Arm und Reich »zusammenstehen«: Arbeiternehmer und Unternehmer, Proletarier und Bourgeois haben ein gemeinsames Interesse – die Nation. Der Klassenkampf stellt für den Nationalismus eine große Gefahr dar, weil er die Einheit der Nation unterhöhlt. Marxismus unterscheidet sich nicht nur in der Theorie vom Nationalismus. Seine Strategie der Revolution ist internationalistisch. Marx und Engels sahen die geschichtliche Rolle des Kapitalismus darin, eine Weltwirtschaft zu schaffen, in der die einzelnen Nationalwirtschaften untrennbar verbunden sind. Der Kapitalismus ist das erste wirklich weltweite System: Der Weltmarkt regiert bis in den letzten Winkel der Erde. »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel«, heißt es im »Kommunistischen Manifest« – zu einer Zeit, als der moderne Kapitalismus noch in seinen Kinderschuhen steckte. Und weiter: »an die Stelle der

Weil der Kapitalismus ein internationales System ist, so Marx, muss der Kampf der Arbeiterklasse zur Überwindung des Kapitalismus auch international geführt werden. Das »Kommunistische Manifest« endet mit dem Schlachtruf: »Proletarier aller Länder vereinigt euch!« Tatsächlich bedeutet Kapitalismus als Weltsystem zugleich Konkurrenz der verschiedenen nationalstaatlich organisierten Kapitaleinheiten auf den globalen Märkten. Aus diesem Grund führt die Globalisierung nicht zu einer friedlicheren und harmonischeren Weltordnung, sondern zu schärferen Rivalitäten der Staaten und Blöcke untereinander. Nationalistische Ideen finden hier immer neuen Nährboden. Die scharfe internationale Konkurrenz zwingt die Kapitalisten zu Angriffen auf die Arbeiterklasse, um billiger produzieren zu können. In den großen transnationalen Konzernen werden die Belegschaften eines Standortes gegen die der anderen ausgespielt. Häufig lassen sich die Gewerkschaften dabei unter der Drohung, dass ansonsten Standorte verlagert würden, auf Lohnverzicht und Arbeitszeitverlängerung ein. Nationalistische Ideen in Form solcher »Standort«Sicherungslogik sind ein großes Hindernis für den Klassenkampf und stellen die größte politische Herausforderung für Marxisten in der Arbeiterbewegung dar.

Bereits Marx konnte beobachten, dass auch die Kapitalisten sich länderübergreifend zusammentaten, um ihre Privilegien gegen die Arbeiterklasse zu verteidigen, wie er in einer Rede von 1847 hervorhob: »Es existiert allerdings eine gewisse Art Verbrüderung unter den Bourgeoisklassen aller Nationen. Es ist dies die Verbrüderung der Unterdrücker gegen die Unterdrückten, der Exploiteurs gegen die Exploitierten. Wie die Bourgeoisklasse eines Landes gegen die Proletarier desselben Landes vereinigt und verbrüdert ist, trotz der Konkurrenz und des Kampfes der Mitglieder der Bourgeoisie unter sich selbst, so sind die Bourgeois aller Länder gegen die Proletarier aller Länder verbrüdert und vereinigt, trotz ihrer wechselseitigen Bekämpfung und Konkurrenz auf dem Weltmarkte.« Gegen diese Einheit der Kapitalisten müssen die Arbeiter ihre eigene Einheit in die Waagschale werfen. Die Alternative zum Standortnationalismus ist, dass Arbeiter sich genauso international organisieren wie die Konzerne selbst und sich gegen die Konkurrenzlogik stellen. Das erfordert ein grundsätzliches Umdenken in der Gewerkschaftsbewegung. Jahrzehntelang haben sich Gewerkschaften als »Sozialpartner« ihrer nationalen Konzerne verstanden. Was gut ist für die deutsche Exportwirtschaft, ist auch gut für die deutschen Arbeiter – das war der Leitgedanke. Unter den Umständen der weltweiten Krise ist das Gegenteil der Fall: Den Konzernen kann es nur gut gehen, wenn es den Arbeitern schlechter geht – in Deutschland und weltweit. Die Logik dieser kapitalistischen Konkurrenz um Absatzmärkte und Profite führt zu einer Abwärtsspirale von immer schlechteren Lebensbedingungen für die Arbeiterklasse, von Lohndumping und Sozialabbau. Der richtige Weg ist die Organisation der Solidarität der Arbeiter auf internationaler Ebene und nicht die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des »eigenen« Landes. Das Ziel der sozialistischen Revolution ist, in den Worten von Engels, »die Konkurrenz aufzuheben und die Assoziation an ihre Stelle zu setzen.« Die Aufhebung der Konkurrenz ist allerdings unvollständig, wenn sie lediglich innerhalb der Grenzen eines Landes vorgenommen wird. Der Kapitalismus ist ein internationales System, deswegen kann er nur international besiegt werden. Der Sozialismus kann auf der rein nationalen Ebene nicht überle-

WAS WILL MARX21

ist nicht die französische, nicht die deutsche, nicht die englische Luft, sie ist die Fabrikluft. Der ihm gehörige Boden ist nicht der französische, nicht der englische, nicht der deutsche Boden, er ist einige Fuß unter der Erde.« Marx sah den zentralen Konflikt nicht zwischen Nationen, sondern zwischen Klas-

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ben, weil der Kapitalismus als weltweites Wirtschaftssystem sich stets gegen kleinere Ökonomien durchsetzen wird. So weit die Theorie. In der Praxis ist diese internationalistische Perspektive für die Kämpfe von heute mehr denn je gefragt. Die europäischen Hafenarbeiter haben vor fünf Jahren eindrucksvoll gezeigt, wie neoliberale Politik durch internationalen Widerstand verhindert werden kann. Schiffseigner, Transportkonzerne und die EU-Kommission wollten 2006 die so genannte »Port Package 2«-Richtlinie verabschieden. Demnach hätten zum Beispiel Schiffe auch von Seeleuten oder Zeitarbeitskräften be- und entladen werden

Bei der heute üblichen Just-in-timeProduktion hat ein Streik sofort heftige Auswirkungen auf die Wirtschaft

können anstatt von dafür ausgebildeten Hafenarbeitern. Die Folgen wären Lohndumping, mehr Arbeitsunfälle und geringere soziale Leistungen. Ohne internationale Zusammenarbeit wären die Hafenarbeiter von den Unternehmern gegeneinander ausgespielt worden. Deshalb hatten sich die gewerkschaftlich organisierten Hafenarbeiter europaweit vernetzt. 40.000 Kollegen aus zwölf Ländern streikten gemeinsam im Januar 2006: Schiffe wurden nicht be- oder entladen und kein Container verließ die Terminals, so dass die Waren nicht weitertransportiert werden konnten. Wenige Tage später haben zudem 8000 Hafenarbeiter aus vielen Ländern vor dem EU-Parlament in Straßburg gegen »Port Package 2« protestiert. Danach hat das Parlament die Richtlinie abgelehnt. Die Macht der Hafenarbeiter lag darin, dass bei der heute üblichen Just-In-Time-Produktion eine Unterbrechung der Transportkette sofort heftige Auswirkungen auf die Wirtschaft hat. Das funktio-

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niert nur, wenn sich die Kollegen über die Ländergrenzen hinweg einig sind und zusammenhalten. Dann muss jeder Reeder, der versucht, seine Schiffe mit eigenem Personal gegen den Willen der Hafenarbeitergewerkschaften zu be- oder entladen, damit rechnen, dass seine Schiffe weltweit boykottiert werden. Auch aus den USA und Australien waren damals Delegationen von Hafenarbeitern angereist und haben an Protestkundgebungen vor dem EU-Parlament teilgenommen. Sie waren solidarisch mit dem Kampf, denn sie wussten genau: Wenn ihre europäischen Kollegen verloren hätten, wären sie die nächsten gewesen. Ähnliche Beispiele gibt es viele in der Geschichte der Arbeiterbewegung: 1919 weigerten sich die Hafenarbeiter in Seattle, London und anderswo, Waffen für Weißgardisten zu verladen, die in Russland die neue Arbeiterregierung bekämpften. Der Geist des Internationalismus ist prägend für die neue Bewegung, die sich derzeit weltweit ausbreitet. Ausgangspunkt war die arabische Revolution, die als inspirierendes Beispiel den weltweiten Widerstand gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die breiten Bevölkerungsschichten anspornte. Die globale Krise des Kapitalismus untergräbt die Zukunftsperspektiven der Mehrheit, während sich eine Minderheit von Bankern, Konzernbossen und Politikern bereichert. Der Slogan »Wir sind 99 Prozent« bringt diesen Missstand deutlich zum Ausdruck. Wirkliche Demokratie und soziale Gerechtigkeit stehen auf der Tagesordnung der Bewegung. Von Kairo über die Platzbesetzungen und Generalstreiks in Griechenland und Spanien, bis hin zur Wall Street und der globalen Occupy-Bewegung hat sich der Protest-Virus bereits ausgebreitet, Aktionsformen und Losungen werden übertragen. Die Ansätze der neuen Bewegung mischen sich vielerorts mit Kampftraditionen der Arbeiterbewegung: Platzbesetzungen, Streiks und Demonstrationen verstärken sich gegenseitig. Die Bewegung zeigt in Ansätzen bereits praktisch auf, wie die Gegenmacht einer demokratischen Alternative zur Herrschaft von Banken und Konzernen aufgebaut werden könnte. Aus diesen Kämpfen kann sich eine neue internationalistische Linke formen, die einen neuen Anlauf nimmt, den Kapitalismus weltweit in den Mülleimer der Geschichte zu befördern. ■


Was macht Marx21?

Schieben und packen Himmelfahrt 2012 wird der nächste »Marx is’ muss«-Kongress in Berlin stattfinden. Die Planungen laufen schon jetzt auf Hochtouren

M

ittwoch, 9:15 Uhr: Im marx21-Redaktionsbüro wird tüchtig gewerkelt. »Den schieben wir rüber, die packen wir zusammen und dann passt es.« Renovierungsarbeiten am frühen Morgen? Das beliebte Bau- und Schiebespiel Tetris auf dem Handy? Nein, wir erleben das allwöchentliche Treffen der Vorbereitungsgruppe für den Kongress »Marx is’ muss 2012«. Die Aufgabe der Anwesenden: Ein attraktives Programm zusammenstellen. Grundsätzliche Entscheidungen sind schnell gefallen. Der erfolgreiche Seminartag zu »Einführung in den Mar-

xismus«, an dem sich in diesem Jahr knapp 200 Aktivisten beteiligt haben, soll auch 2012 im Angebot sein und sogar noch ausgebaut werden. Die inhaltlichen Blöcke sollen aktuelle Debatten und Entwicklungen widerspiegeln. Dementsprechend finden sich im ersten Programmentwurf Themenblöcke wie »Die arabische Revolution« und »Die Krise – eine marxistische Analyse«. Im vorläufigen Entwurf stehen 82 Veranstaltungen – zu viele, schmerzhafte Kürzungen sind unvermeidlich. Schließlich sollen die Besucher zwischen den Diskussionen genügend Zeit haben,

TOP TEN Oktober – November 2011

sich auszutauschen, auszuruhen und auch einen Happen zu essen. In diesem Jahr platzte der Kongress mit mehr als 500 Teilnehmern aus allen Nähten. Die Konsequenz für 2012: Ein Ortswechsel. »Die letzten Jahre fand der Kongress in der Alten Feuerwache in BerlinKreuzberg statt – eine schöne Location, bei der auch die Zusammenarbeit mit den Betreibern reibungslos geklappt hat. Doch sollten mehr Gäste als 2011 kommen, und das ist unser Ziel, dann sind die Grenzen der Zumutbarkeit für die Besucher erreicht. Niemand sollte in die Situation gera-

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Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Portugal: Generalstreik in Vorbereitung Grundeinkommen für alle Bankenprotest: Auf die Straße am 15. Oktober LINKE-Parteitag: Auf antikapitalistischem Kurs Nahost: Zwei-Staaten-Lösung beerdigt Piratenpartei: Freibeuter ohne Kompass Wall Street belagert Punk ist Energie und Revolution Bundeswehr nutzt Girls Day zur Rekrutierung Unikrise: Welcome to the machine

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ten, dass er eine interessante Veranstaltung nicht besuchen kann, weil der Raum voll ist«, sagt Michael Ferschke, der für die Kongressorganisation verantwortlich ist. Daher wird »Marx is’ muss 2012« im »Neues Deutschland«-Gebäude am Berliner Ostbahnhof stattfinden, das neben guter Erreichbarkeit auch ausreichend große Veranstaltungsräume bietet. Bis Januar soll der erste Flyer fertig und die Online-Anmeldung möglich sein. Und dann kann sie losgehen: die Mobilisierung zu einem hoffentlich erfolgreichen »Marx is’ Muss 2012«.

ABO KAMPAGNE

Insgesamt waren 13.990 Besucher im Oktober (13.689 im September) auf marx21.de

Stand: 892 (+24)

Ziel: 1000


Geschichte

Wo die Titanflagge weht Vor 100 Jahren gewann der Norweger Amundsen den Wettlauf zum Südpol gegen seinen britischen Konkurrenten Scott. Um die Ressourcen an den Polen streiten Nationalstaaten noch heute

A Von Jan Maas

ls die Männer sich endlich ihrem Ziel nähern, bricht für sie eine Welt zusammen.

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Auf dem Plateau in der Mitte der antarktischen Schneewüste knattert bereits eine Flagge im Wind: die norwegische. Roald Amundsen und seine Begleiter sind den fünf Briten zuvorgekommen. Sie haben am 14. Dezember 1911 als erste den geografischen Südpol erreicht. Resigniert notiert Expeditionsleiter Robert Scott am 18. Januar 1912 in sein Tagebuch: »Das Furchtbare ist eingetreten (…) Traum meiner Tage – leb wohl!« Auf dem Rückweg gerät die Gruppe immer wieder in Orkane. Alle fünf Männer sterben. Knapp 100 Jahre später begeben sich die Besatzungen zweier Tauchboote des Forschungsschiffes »Akademik Fjodorow« in Lebensgefahr. Ihre Mission: Am Nordpol

in 4261 Metern Tiefe eine russische Flagge aus Titan in den Meeresboden zu senken. Die U-Boot-Mannschaften müssen das Loch im anderthalb Meter dicken Eis wiederfinden, bevor sie den Sauerstoff verbrauchen. »Es ist wie das Hissen der Flagge auf dem Mond«, sagt der Sprecher des zuständigen Instituts für Arktis- und Antarktisforschung, Sergej Baljasnikow, im russischen Fernsehen. Im Gegensatz zu den fünf Briten kehrten die Tauchboote heil zurück. Mit der Expedition »Arktika 2007« versuchte die russische Regierung, ihre Ansprüche in der Arktis zu untermauern. Die UN-Seerechtskonvention (SRÜ) gewährt jedem am Meer gelegenen Land eine 12-Meilen-Zone für seine Hoheitsgewässer. Am


ßerdem schlummern der Studie zufolge dort etwa 30 Prozent der unentdeckten Gasreserven. Umweltschützer kritisieren die geplanten Erschließungen mit Verweis auf die empfindliche arktische Natur und die Umweltkatastrophe mit der OffshoreBohrinsel "Deepwater Horizon" im Golf von Mexiko. Dessen ungeachtet fordern kanadische und russische Politiker einen noch größeren Gebietsanteil als bislang, um mehr von diesem Reichtum in Anspruch nehmen zu können. Sie vertreten die Position, die Arktis nicht nach dem SRÜ zu behan-

In der Arktis werden etwa 30 Prozent der unentdeckten Erdgasreserven vermutet

rien bis Grönland quer über den Nordpol. Sowohl die kanadische als auch die dänische Regierung vertreten jedoch die Ansicht, dass der Rücken näher an Inseln liege, die zu ihrem jeweiligen Staatsgebiet gehören, und stellen die russische Landnahme am Meeresgrund sogleich in Frage. Während die Anrainer der Arktis sich weiter um die Rechtmäßigkeit ihrer Ansprüche streiten, hat die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen schon begonnen. Im Sommer 2011 haben der US-Konzern ExxonMobile und die staatliche russische Rosneft ein strategisches Abkommen geschlossen. In der Vereinbarung, die ein Volumen in Höhe von 3,2 Milliarden USDollar umfasst, haben die beiden Konzerne im Beisein des russischen Regierungschefs Wladimir Putin beschlossen, neben Ölvorkommen im Schwarzen Meer auch Felder innerhalb der russischen Wirtschaftszone im Nordmeer auszubeuten. Diese Vorkommen in der westsibirischen Karasee gehören nach Angaben von ExxonMobile zu den vielversprechendsten weltweit. Generell vermuten Experten unter dem auftauenden arktischen Eis riesige Öl- und Gasressourcen, um deren Erschließung die fünf Anrainerstaaten konkurrieren. Dem Circum-Arctic Ressource Appraisal des Geologischen Dienstes der USA zufolge liegen rund 13 Prozent der noch nicht von Geologen aufgespürten Ölvorräte der Welt in der Arktis. Au-

deln, sondern sie vollständig in nationale Sektoren aufzuteilen, so wie es zu Anfang des 20. Jahrhunderts schon einmal vorgeschlagen wurde. Mit dieser »Sektorenlösung« würde die Arktis in Abschnitte aufgeteilt, die vom Nordpol entlang der Längengrade bis zu den westlichsten und östlichsten Punkten der Nordküsten der Anrainerstaaten verlaufen würden. Auf der anderen Seite des Globus, am Südpol, ist die »Sektorenlösung« längst umstrittene Realität. Im Jahr 1908 erklärt Großbritannien als erster Staat einen Teil der Antarktis zu seinem Gebiet. Nachdem der Rest der Welt kolonisiert ist, sehen die imperialistischen Mächte die Eiswüste als letzten Flecken an, den es zu erobern gelte. Beim Abschiedsessen für Scott sagt Leonard Darwin, Präsident der Royal Geographical Society: »Scott wird erneut beweisen, dass die Männlichkeit unserer Nation nicht tot ist und dass die Eigenschaften unserer Vorfahren, die das Empire errungen, noch unter uns gedeihen.« Während Scott und Amundsen im Juni 1911 in der Antarktis auf den Südfrühling und günstiges Wetter warten, spitzt sich der imperialistische Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte an anderer Stelle zu. Französische Truppen besetzen die marokkanischen Städte Fes und Rabat, der deutsche Kaiser Wilhelm II. schickt als Reaktion darauf das Kanonenboot »Panther« nach Agadir. Vor dem Hintergrund des deutsch-britischen Flottenrüstens wächst

die Kriegsgefahr. Die Krise wird zwar beigelegt, weil Deutschland auf Ansprüche in Marokko verzichtet, doch drei Jahre später münden die konkurrierenden Weltmachtansprüche in Europa in den ersten Weltkrieg. Am Südpol erheben bis 1946 sieben Staaten Anspruch auf Sektoren. Nach Großbritannien und Norwegen kommen Neuseeland, Australien, Frankreich, Chile und Argentinien. Die USA und Russland behalten sich bis heute eigene Ansprüche vor, obwohl der Status der Antarktis seit 1961 im Antarktisvertrag festgeschrieben ist. Demnach wird der Kontinent internationaler friedlicher Nutzung vorbehalten, besonders der wissenschaftlichen Forschung. Das Madrider Protokoll von 1991 schränkt auch die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ein. Doch Forscher vermuten ähnlich große Rohstofflager wie in der Arktis: 6,3 Milliarden Tonnen Erdöl und 115 Billionen Kubikmeter Erdgas, das entspricht 7 bzw. 48 Prozent der unerschlossenen Ressourcen weltweit. Dazu kommen Titan, Chrom, Eisen, Kupfer, Kohle und Uran sowie Platin und Gold. Entsprechend rangeln die Rivalen trotz aller Abkommen weiter. Chile und Argentinien standen 1978 wegen des Grenzverlaufs in Patagonien am Rande eines Krieges, weil nach der »Sektorenlösung« die Grenzlinie die Größe der antarktischen Tortenstücke bestimmt. Und kurz nachdem die russische Expedition 2007 ihre Fahne am Nordpol versenkt hatte, meldete am anderen Ende der Erde die britische Regierung Ansprüche auf ein Seegebiet von einer Million Quadratkilometer an. Darauf reagierte die chilenische Regierung umgehend und kündigte an, eine verlassene Antarktisstation wieder eröffnen zu wollen, um eigene Gebietsforderungen zu unterstreichen. Inzwischen ist im November 2011 auch das russische Forschungsschiff »Akademik Fjodorow« wieder in See gestochen. Ziel diesmal: die Antarktis. Auch deutsche Forscher reisen mit. Diesmal vermessen sie nur Gletscher und unterirdische Seen. ■ ★ ★★ JAN MAAS ist Online-Redakteur von marx21.de.

GESCHICHTE

Nordmeer liegen neben Russland: Norwegen, Dänemark, die USA und Kanada. Außerdem gewährt die SRÜ den Staaten eine Wirtschaftszone, die bis 200 Meilen vor die Küste reicht und erweitert werden kann, wenn sich der Festlandsockel am Meeresboden über diese Entfernung hinaus erstreckt. Dass dies für Russland zutrifft, sollte die Expedition beweisen. Noch vor Ort erklärte eine Gruppe von 50 Wissenschaftlern, dass der Lomonossow-Rücken den russischen Festlandsockel fortsetzt. Dieser unterseeische Gebirgszug zieht sich von Sibi-

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KULTUR

© amctv

Nur auf den ersten Blick verklärt die Fernsehserie »Mad Men« die Vergangenheit. Tatsächlich illustriert sie aber die Unmöglichkeit, im Kapitalismus ein selbstbestimmtes Leben zu führen

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D Von Helen Scott

ie Fernsehserie »Mad Men« bietet Unterhaltung auf Spielfilmniveau. Mit hohem qualitativem Anspruch und Blick für Details beleuchtet sie die Welt der Werbeindustrie im New York der frühen 1960er Jahre. Der Erfinder von »Mad Men«, Matthew Weiner, war bereits für die preisgekrönte Fernsehserie »Die Sopranos« als Drehbuchautor tätig. Dort ging es um Mafiosi aus New Jersey. Auch bei »Mad Men« lässt Weiner den Zuschauer in den Alltag eines untypischen gesellschaftlichen Milieus eintauchen und gewährt wie nebenbei einen Einblick in tiefer liegende Wahrheiten über die kapitalistische Gesellschaft.

KULTUR

Im Vorspann ist in stilisierter Grafik die schwarze Silhouette eines leitenden Angestellten in seinem Büro zu sehen. Plötzlich löst das Büro sich auf, die Figur fällt in die Tiefe, entlang eines Bürohochhauses, dessen Fassade mit Werbemotiven von sexy Frauen und heilen Kleinfamilien bedeckt ist. Damit wird das zentrale Thema der Se-

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rie gesetzt: Alles ist Illusion, niemand ist, was er zu sein scheint, alles Ständische und Stehende verdampft. Die Serie beginnt, und von da an ist auch jede weitere Einstellung ein Kunstwerk. Die Macher haben peinlich genau auf jedes Detail geachtet – Mitglieder der Produktionscrew berichteten von ausführlichen Debatten über Aschenbecher und Armbanduhren – und jede Folge nimmt den Zuschauer mit in eine andere Welt.

ner deutlich gezwungenen Ungezwungenheit. Die Doppelmoral hinter der gediegenen Oberfläche ist ständig präsent im allgegenwärtigen Antisemitismus, Rassismus und in den abfälligen Witzen über »Homos« und »Perverse«. Nur scheinheilige Spießer überkommt Nostalgie beim Anblick einer solchen Welt. Sexismus ist allgegenwärtig. Die Frauen – durchgängig als »Mädchen« bezeichnet – arbeiten als Sekretärinnen (es gibt nur

Alles ist Illusion, niemand ist, was er zu sein scheint

Schon die Kameraführung vermittelt den Bruch mit der heutigen Zeit. Kameramann Chris Manley war früher Filmvorführer und hatte sich auf alte Klassiker spezialisiert. Deshalb ist er bestens mit altmodischen Kameras, Kamerawagen und Einstellungen vertraut. In »Mad Men« werden fast nur Aufnahmetechniken angewendet, die schon in den 1960er Jahren möglich waren. Im Einklang mit einer insgesamt langsameren Erzählgeschwindigkeit hebt sich »Mad Men« so deutlich von den üblichen, durch schnelle Schnitte und Spezialeffekte geprägten Fernsehproduktionen ab. Jedoch ist der bleibende Eindruck, den die Serie hinterlässt, alles andere als beruhigend. In den Geschichten herrscht eine bedrückende Atmosphäre unbestimmter, allgegenwärtiger Bedrohung. Einige Rezensenten haben die Sendung nostalgisch genannt, aber tatsächlich sind nur die Kleidung und die Möbel mit viel Liebe fürs Detail nachgearbeitet worden. Die dargestellte Welt selbst ist brutal und kalt. Der Großteil der Handlung spielt in den luxuriösen Büros der Werbeagentur Sterling Cooper, im Mittelpunkt steht der Creative Director Don Draper (Jon Hamm). Die Konkurrenz unter den Angestellten ist mörderisch und der Alltag im Büro geprägt von eisernen Hierarchien. Alle trinken ständig harten Alkohol (im Büro, zum Mittag, nach der Arbeit, zu Hause), rauchen ununterbrochen und üben sich im Umgang miteinander in ei-

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eine Ausnahme). Ihre Aufgabe besteht darin, nicht nur die Büroarbeit zu erledigen und dabei makellos auszusehen, sondern allgemein unterwürfig und dienstbeflissen zu sein. In einer Folge verrät eine verwirrte Sekretärin, dass ihr Chef nicht im Büro war, als er es eigentlich hätte sein sollen. Sie entschuldigt sich bei ihm dafür, dass sie ihn nicht gedeckt hat. Darauf antwortet er, es sei nicht ihre Aufgabe, ihn zu decken, sondern die Erwartungshaltung der Leute zu beeinflussen – und feuert sie prompt. In einer anderen Folge versucht die einzige weibliche Werbetexterin, sich in den Kreis ihrer männlichen Kollegen zu integrieren und schließt sich ihnen auf einen Drink nach Feierabend an – um dann festzustellen, dass sich die gesellige Runde in einem Striplokal trifft. Herablassendes Gaffen, anzügliche Sprüche, entwürdigendes Betatschen und Anmachen gehören zur Routine. Zudem herrscht unter den Frauen eine eigene Hierarchie, an deren Spitze die glamouröse Chefsekretärin Joan Holloway (Christina Hendricks) steht. Anscheinend verdankt sie diese Rolle nicht zuletzt der Tatsache, dass sie ein Verhältnis mit dem Firmeninhaber Roger Sterling (John Slattery) hat, der doppelt so alt wie sie und natürlich verheiratet ist. Während das Leben der arbeitenden Frauen in der Serie hart ist, ist das der Mittelschichtshausfrauen klaustrophobisch. Die Hauptfigur Don Draper ist mit Betty,

einem ehemaligen Fotomodell, verheiratet, deren Traum von der Erfüllung im Eheleben sich Stück für Stück in verblödende häusliche Routine auflöst. Ihr JaWort hat sich für Betty in das Versprechen gewandelt, ihrem Mann den Haushalt zu schmeißen – obwohl es tatsächlich eher die schwarze Haushälterin Carla ist, die das Kochen und Putzen erledigt. Nachdem die Ärzte festgestellt haben, dass die gelegentliche Taubheit in ihren Händen psychosomatische Ursachen hat, wird Betty zu einem Therapeuten geschickt. Sie sei hysterisch und infantil, schlussfolgert der Therapeut, und übermittelt die Diagnose ohne Bettys Wissen umgehend an ihren Ehemann. Während Betty das Abendessen vorbereitet, die Kinder diszipliniert und sich für ihren Gatten hübsch macht, treibt sich Don mit seinen Bürokollegen in Kneipen herum – oder schläft mit seiner aktuellen Geliebten. Dabei ist er jedoch kein Stück zufriedener als seine Frau. Die Welt der Werbeagentur Sterling Cooper ist zutiefst entfremdet. Die Männer verbringen ihr Leben damit, Produkte zu verkaufen, deren Wertlosigkeit oder gar tödliche Wirkung ihnen bekannt ist. Beim Nachdenken über eine Werbekampagne für Lucky Strike sinniert Don: »Alles, was ich anbieten kann, ist eine stabile Verpackung, und vier von fünf Leuten, die heute sterben, haben Ihre Marke geraucht.« Die Werber setzen dabei Bilder und Worte ein, deren Verlogenheit sie kennen. Ihre übertriebene Geselligkeit verdeckt ihre allgegenwärtigen Rivalitäten und nagende Unsicherheit nur unzureichend. Und bald erfahren die Zuschauer, dass Don Draper buchstäblich nicht der ist, für den er sich ausgibt. Diese Zustände schildert die Serie mit reichlich Sinn für schwarzen Humor. Firmenchef Roger Sterling erleidet eine Herzattacke und bemerkt die Ironie darin, dass er auf Anraten seines Arztes täglich fette Sahne zu sich nimmt, um sein Magengeschwür zu beruhigen. Als Betty ihre kleine Tochter mit einer Plastiktüte über dem Gesicht durchs Haus rennen sieht, droht sie ihr Strafe an – falls das Kleid Schaden nehmen sollte, das in der Tüte gekommen ist. Die erste Staffel spielt 1960, die zweite 1962. Anfangs scheint Sterling Cooper gegen die stürmischen Veränderungen im Land immun, aber Schritt für Schritt dringt die Außenwelt ein: Ein Werbetexter hat eine schwarze Freundin, die sich an Akti-


onen der Bürgerrechtsbewegung beteiligt. Ein freier Mitarbeiter der Agentur sorgt für Aufregung im Büro, als er sich offen zu seiner Homosexualität bekennt. Dons Frau scheint kurz davor, »Feminine Mystique« der Feministin Betty Friedan zu lesen. Und das Wettrüsten nimmt Fahrt auf. Keine dieser Fragen bestimmt die Handlung, die Serie verfolgt keinen politischen Anspruch. Die Geschichten drehen sich ausnahmslos um die persönlichen Konflikte, die kleinen Siege, Affären und Frustrationen dieser »Mad Men«. Zudem gibt es eine Menge zynischer Schleichwerbung. Aber durch die überzeugende Darstellung der Schalheit dieses Lebens – Don sagt einmal nach einer durchzechten Pokernacht zu Roger Cooper: »Das hier kann doch nicht alles sein, oder?« – erfasst die Serie doch etwas von der Leere des Konsumkapitalismus und macht diesen historischen Moment

am Vorabend tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderung erfahrbar. »Mad Men« illustriert drastisch, wie dringend notwendig die sozialen und politischen Bewegungen der sechziger Jahre waren, um die erdrückende gesellschaftliche Ordnung der Nachkriegszeit aufzubrechen. Die Serie positioniert sich eindeutig gegen wieder in Mode kommende reaktionäre Lebensmodelle wie die Erfüllung der Frau in der Rolle als Hausfrau und Mutter. Gleichzeitig nimmt ihre Darstellung des ausschweifenden Lebens der Superreichen die Exzesse der heutigen wohlhabenden Elite vorweg. Im historischen Rückblick wird zudem wieder einmal die Instabilität des gesellschaftlichen Systems vor Augen geführt. Wie die Welt der »Mad Men« aufgehört hat zu existieren, so wachen auch wir eines Morgens auf um festzustellen, dass das gesamte globale Finanzsystem in einer tiefen Krise steckt. ■ ★ ★★ Hellen Scott lehrt Postcolonial Studies an der Universität von Vermont. Sie schreibt regelmäßig für socialistworker.com, wo dieser Text auch zuerst erschienen ist.

Die Serie »Mad Men” wird in den USA seit 2007 ausgestrahlt. Im deutschen Fernsehen ist sie momentan immer mittwochs um 22:30 Uhr bei ZDF.neo zu sehen. Ab 5. Januar wird der Sender die erste Staffel wiederholen.

KULTUR

Die Welt der Werbeagentur Sterling Cooper ist zutiefst entfremdet

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KULTUR

© Heinrich Klaffs

Das poetische Megaphon Er war der Altmeister des politischen Liedes. Deutschlands dienstältester Liedermacher Franz Josef Degenhardt ist kurz vor seinem 80. Geburtstag verstorben. Ein Nachruf ★ ★★

Martin Haller studiert Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitglied von Die Linke. SDS.

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B

Von Martin Haller

ei den Demonstrationen von Heißspornen in Universitäten und Biersälen gegen alles, was in unserem Staat und anderswo nicht zu gefallen vermag, spielen Männer eine besondere Rolle, die man Protestsänger – Problemsänger nennt. Vernachlässigt ist die Kleidung, laienhaft das Spiel auf der Gitarre, aber mutig und kompromisslos ist der Text ihrer Lieder. Was sind das eigentlich für Leute, die dieses Wagnis auf sich nehmen, von der Masse in die Nähe von Rummelplatzsängern gerückt zu werden? Sind sie Fantasten? Wollen sie nur das magere Geschäft beleben? Oder sind sie wirklich politisch engagiert?« Diese Fragen stellte der Moderator des Fernsehmagazins Monitor im Jahr 1967, als er einen Beitrag über den Liedermacher Franz Josef Degenhardt ankündigte. Ein Fantast war Degenhardt keinesfalls. Kaum ein anderer Künstler der deutschen Nachkriegsgeschichte stand in solch kompromissloser Gegnerschaft zu den herrschenden Verhältnissen und wahrte den-

noch stets einen scharfen Blick für die Realität. Auch sein politisches Engagement ist unbestreitbar. Sein gesamtes Leben über blieb er seinen Idealen treu, auch wenn er dafür verhöhnt oder beschimpft wurde. Im Protestjahr 1968 beendete der promovierte Jurist seine akademische Laufbahn, verzichtete auf die Habilitation und begann als Rechtsanwalt mit der Verteidigung von Mitgliedern der Außerparlamentarischen Opposition. »Als Protestsänger bin ich nur ein Alibi für die herrschende Klasse. Zweitausend Demonstrantenprozesse stehen an. Da genügen keine Lieder mehr.« Als aktives SPD-Mitglied setzte er sich für eine Zusammenarbeit mit der neu konstituierten Kommunistischen Partei, der DKP, ein. 1971 wurde er aus der SPD ausgeschlossen. Er hatte im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf die DKP unterstützt. Zum Vorwurf mangelnder Solidarität mit seiner Partei erklärte Degenhardt, er empfinde »Solidarität mit den rechten Parteiführern vom Schlage der Herren Schmidt, Schiller und Leber als Zumutung«. 1978 trat er schließlich der DKP bei.


Neben seiner politischen Arbeit hielt er der Kunst stets die Treue und feierte als Liedermacher und Schriftsteller große Erfolge. Man nannte ihn das »poetische Megaphon der westdeutschen Linken«. Radikal und lyrisch, zynisch-heiter und provozierend, zuweilen aber auch melancholisch und nachdenklich befasste er sich in seinen Texten mit der Aufarbeitung seiner politischen Erfahrungen sowie der Kritik an den herrschenden Verhältnissen. Seinen ersten großen Erfolg feierte Degenhardt bereits vor dem Höhepunkt der APO mit dem Album »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern«. In ihm thematisiert er die Spießigkeit der Nachkriegsjahre, den deutschen Faschismus, den Vietnamkrieg sowie die Gefahr einer atomaren Katastrophe. Das gleichnamige Lied erzählt die Geschichte eines Jungen aus bürgerlichem Hause, der sich regelmäßig aus dem Haus schleicht, um mit Arbeiterkindern zu spielen. Seine Eltern zwingen ihn jedoch, die Oberschule zu besuchen und den ihm vorbestimmten Karriereweg zu gehen. Der Ausspruch »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern« wurde zum geflügelten Wort und dient auch heute noch als Metapher für bürgerliche Arroganz. Immer wieder behandeln Degenhardts Lieder die Widersprüchlichkeit zwischen dem sorglosen Alltagsgeschehen in der BRD und dem in weiten Teilen der Bevölkerung noch präsenten faschistischen Gedankengut. Eines seiner unverwechselbaren Stilmittel ist es, durch die folkloristischen Motive seiner Lieder eine Idylle vorzutäuschen, welche dann durch die Brisanz der Texte wieder aufgebrochen wird. Der starke Kontrast zwischen Musik und Texten steht dabei als ein Sinnbild für die immanenten gesellschaftlichen Widersprüche im Nachkriegsdeutschland. Je fröhlicher die Musik und warmherziger der Gesang, detso schärfer die Kritik und böser die Texte. Beispielhaft hierfür ist das Lied »Deutscher Sonntag«. Hinter der Darstellung einer spießbürgerlichen Kleinstadtatmosphäre wird nach und nach die Fratze des Faschismus sichtbar: »Da hockt die ganze Stadt und mampft, dass Bratenschweiß aus Fenstern dampft. Durch die fette Stille dringen Gaumenschnalzen, Schüsselklingen, Messer, die auf Knochen stoßen, und das Blubbern dicker Soßen. Hat nicht irgendwas geschrien? Jetzt nicht aus dem Fenster sehn, wo auf Hausvorgärtenmauern ausgefranste Krähen lauern. Was nur da geschrien hat? Ich werd’ so entsetzlich satt.« Mit dem Aufkommen der Studentenbewegung wurden Degenhardts Lieder zunehmend agitatorischer. Er versuchte, seiner Musik eine »Nutzanwendung« zu geben und unmittelbar in die Debatte einzugrei-

fen. Nicht nur hier wird deutlich, dass er an die Tradition politischer Kunst, wie sie beispielsweise Berthold Brecht verstanden hatte, anknüpfen wollte. Nur Hohn und Spott hatte er in seinem 1968 erschienen Album »Wenn der Senator erzählt« für missmutige Gewerkschafter und Sozialdemokraten übrig, die gegen die Radikalität der APO wetterten. »Aufbauen, Schritt für Schritt, sagt der alte Sozialdemokrat und spricht und spricht, nur die richtigen, die wilden Streiks, die macht der nicht«, heißt es in einem seiner Stücke.

»Als Protestsänger bin ich nur ein Alibi für die herrschende Klasse«

★ ★★ WEITERHÖREN Am 19. Dezember wird das Berliner Ensemble in Kooperation mit der Tageszeitung junge Welt und der Musikzeitschrift melodie&rhythmus ein Konzert zu Ehren des Verstorbenen veranstalten. Auftreten werden sowohl ehemalige Weggefährten Degenhardts wie Konstantin Wecker und Hannes Wader als auch Künstler wie der Satiriker Wiglaf Droste.

KULTUR

In Folge des Niedergangs der 68er-Bewegung begann der überzeugte Kommunist, sich der Kritik an der sozial-liberalen Einstellung vieler ehemaliger Kampfgenossen zu widmen. Im 1977 erschienen Album »Wildledermantelmann« verarbeitet er seine Enttäuschung über einstige Genossen und bezichtigt sie des Verrats an den sozialistischen Idealen. Doch auch seine eigene Rolle als Künstler, Revolutionär und Trinker wurde von Degenhardt selbstkritisch reflektiert. Er bezeichnete sich als einen »versoffenen Chronisten« und gab die Parole aus: »Schöne Poesie ist Krampf im Klassenkampf.« Mit dem Abflauen der Arbeiterbewegung in der BRD wandte sich Degenhardt zunehmend der DDR zu. Der positive Bezug zum »Arbeiter-und-BauernStaat« in Liedern wie »Ja, dieses Deutschland meine ich« veranlasste westdeutsche Medien zu Boykottaufrufen. Degenhardt begriff die DDR als »Relais- und Hilfsstation im antiimperialistischen Kampf«. Für ihn waren dort »Leute aus dem revolutionären Teil der deutschen Arbeiterbewegung an der Macht«. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks bezeichnete er seine unkritische Haltung gegenüber der DDR zwar als schweren Fehler, seine falsche Einschätzung des Charakters dieses Regimes jedoch hielt er bis zuletzt aufrecht. Sein Kampfgeist war allerdings gebrochen. »Unsere Generation hat diese letzte Schlacht verloren – in den Bauernkriegen hieß es: Unsere Enkel fechten’s besser aus. Heute müssen wir wohl auf die Urenkel hoffen.« Doch trotz seiner Resignation hörte Degenhardt nie auf, Musik zu machen und wetterte weiter in gewohnt bitter-süffisanter Ironie gegen die Selbstherrlichkeit der Herrschenden. Bis zuletzt gelang es ihm auf einzigartige Weise, Poetisches mit Politischem zu vereinen. Franz Josef Degenhardt verstarb am 14. November, kurz vor seinem 80. Geburtstag. Er wird in Erinnerung bleiben als Meister des politischen Liedes und radikaler Kämpfer für die Sache der Arbeiterklasse. ■

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Klassiker des Monats

Köpfe und Kämpfer Karl Marx und Friedrich Engels sind als Vordenker der Arbeiterbewegung bekannt. Dass sie auch wichtige Aktivisten und Organisatoren waren, zeigt die Doppelbiografie von Dawid Rjasanow Von Tobias Paul

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eschichte fällt nicht einfach vom Himmel, noch wird sie einfach beliebig von Menschen bestimmt. Vielmehr ist sie das Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Kräfteverhältnisse. Dennoch haben einzelne Personen unbestreitbar Einfluss auf ihre Epoche und nachfolgende gesellschaftliche Entwicklungen und Bewegungen ausgeübt – also ein Stück Geschichte geschrieben. Dies gilt nicht zuletzt für Karl Marx und Friedrich Engels. Die Rolle des Individuums im historischen Prozess richtig einzuordnen und zu verstehen, stellt eine große Herausforderung für die von den beiden entwickelte Methode des historischen Materialismus dar.

die Bedeutung, die die industrielle Revolution in England und die politische Revolution von 1789 in Frankreich für das geistige und politische Klima in Europa hatten. Auf die Entstehung der Arbeiterbewegung in England sowie den Einfluss der französischen Revolution auf Deutschland legt Rjasanow besonderes Augenmerk. Knapp, aber anschaulich schildert er das Leben von Marx und Engels. Von den philosophischen Runden der Berliner Salons über die schriftstellerische Tätigkeit bei der Rheinischen Zeitung und ihre Beschäftigung mit der Gesellschaft ihrer Zeit, beschreibt Rjasanow die Entwicklung zweier radikaler Demokraten hin zu entschiedenen Verfechtern der Arbeitersache. Besonders die Auseinandersetzung mit der deutschen Philosophie, die seinerzeit eine hochpolitische Angelegenheit war, bestimmte die weitere Entwicklung von Marx und Engels: »Jedes große Genie, das Neues hervorbringt, bringt dieses Neue auf der Grundlage des Alten hervor (…). Das Genie wächst nicht aus dem Nichts. Mehr noch: wenn Ihr das wirkliche Maß an Genialität, an Originalität eines bestimmten Menschen feststellen wollt, könnt Ihr das nur tun, wenn Ihr eine annähernde Vorstellung davon habt, was bis zum Auftreten dieses Menschen erreicht wurde, welche Entwicklungsstufe das menschliche Denken, die menschliche Gesellschaft zu dem Punkt erreicht hat, zu dem er beginnt, den Einfluss seiner Umgebung in sich aufzunehmen«, schreibt Rjasanow.

Marx saß nicht nur am Schreibtisch. Er war auch aktiv in der sozialistischen Bewegung

★ ★★

Tobias Paul ist Kreisvorsitzender der LINKEN in Darmstadt und dort mitverantwortlich für die politische Bildungsarbeit.

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Dawid Rjasanow widmet sich in seinem Buch »Marx und Engels nicht nur für Anfänger« der Aufgabe, diese Methode auf das Leben der beiden Revolutionäre selbst anzuwenden. Der Autor war Mitglied der Bolschewiki und von 1920 bis 1930 Leiter des Marx-EngelsInstituts in Moskau. Wie viele langjährige russische Kommunisten wurde auch er 1931 aus der Partei ausgeschlossen und verbannt, nachdem er mehrfach in Konflikt mit der stalinistischen Bürokratie geraten war. Anfang 1938 wurde Rjasanow im Zuge des »Großen Terrors« ein fünfzehnminütiger Schauprozess gemacht, unmittelbar danach wurde er hingerichtet. Sein Buch gliedert sich in neun zusammenhängende Vorträge, die er im Jahr 1922 vor russischen Arbeitern gehalten hat. Es beginnt mit einem Text über


Carlos Latuff

DAS HABE ICH DOCH GESAGT!

Marx saß auch aus diesem Grund nicht nur am Schreibtisch und schrieb geistreiche Bücher, sondern begann sich aktiv in die Organisationen der Arbeiterbewegung einzumischen, ebenso Engels. Beide kamen so mit der englischen, französischen und deutschen Arbeiterklasse in Berührung. Dieses Vorgehen entsprang der Einsicht, dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, in der den Arbeitern die Rolle zukommt, für die Überwindung des Kapitalismus zu kämpfen. Ab dieser Zeit befasste sich

Marx auch verstärkt mit ökonomischen Studien, um die Besonderheiten der kapitalistischen Gesellschaft zu erforschen. Man kann davon ausgehen, dass die Erfahrungen dieser Jahre einen wichtigen Anstoß zur Entstehung von Marx’ epochalem Werk »Das Kapital« lieferten. Ein wichtigen Schwerpunkt legt Rjasanows in seinem Buch auf die Rolle, die Marx und Engels als politische Organisatoren spielten. Sei es während der Revolution von 1848 in Deutschland, bei der Reorganisation des Bundes der Kommunisten oder der Tätigkeit im Generalrat der Ersten Internationale: Rjasanow übt mit seiner Darstellung Kritik an der üblichen Geschichtsschreibung, die vor allem Marx auf seine intellektuelle Rolle als Ideengeber der Arbeiter reduziert. Die Leser bekommen einen lebhaften Eindruck von den Debatten, Streitigkeiten und praktischen Schwierigkeiten der organisierten Arbeiterbewegungen, an denen Marx und Engels teilnahmen. Dass dies nicht immer zugunsten aller Beteiligten ablief, wird dabei ebenso wenig verschwiegen wie taktische Fehler, die den beiden Revolutionären unterliefen. Gerade auch weil Rjasanow seinen Blickwinkel nicht auf die beiden Revolutionäre verengt, sondern die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ihrer Zeit mitberücksichtigt, sticht »Marx und Engels nicht nur für Anfänger« gegenüber anderen Biografien hervor. ■

★ ★★ DAS BUCH Dawid Rjasanows (David Rjazanovs) Werk »Marx und Engels nicht nur für Anfänger« ist zuletzt 1974 im Rotbuch Verlag erschienen und kann antiquarisch bezogen werden.

KLASSIKER DES MONATS

Er zeigt darüber hinaus auf, wie Marx seine Theorie eines »dialektischen« Materialismus aus der Philosophie Kants, Hegels, Feuerbachs sowie dem französischen utopischen Sozialismus entwickelte. Er überwand damit die bis dato erreichten Schranken der materialistischen Denkweise, die, vereinfacht ausgedrückt, den Menschen bloß als Widerspiegelung der Natur begriff: »Dieser Überzeugung setzte Marx eine andere entgegen: Alles, was sich im Menschen vollzieht, die Veränderungen des Menschen selbst, sind Resultate nicht nur der Einwirkung der Natur auf ihn, sondern in noch größerem Maß Resultat der Einwirkung des Menschen auf die Natur. (…) und indem er die Natur verändert, (verändert er) gleichzeitig auch sich selbst (...). So führte Marx in die passive Philosophie Feuerbachs ein revolutionäres, aktives Element ein.«

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Geschichte hinter dem Song

Nneka: »Soul is Heavy« Von Yaak Pabst

Mit ihrem Song »Soul is Heavy« holt die Sängerin Nneka die Soul-Musik aus den Luftschlössern des Pop zurück zu ihren politischen Wurzeln. Das Lied ist eine energische Kritik an den herrschenden Verhältnissen in ihrem Heimatland Nigeria und zugleich eine Erinnerung an den traditionsreichen Widerstand gegen Unterdrückung, Korruption, Umweltzerstörung und die Ausbeutung des Landes durch internationale Ölkonzerne s ist der 30. Oktober 1995. Die nigerianische Militärjunta will sich mit aller Gewalt der wachsenden Opposition im Land entledigen. Diese richtet sich gegen den Ölmulti Shell und die Diktatur der Generäle. »Tod durch Erhängen« lautet das Urteil der Richter des Sondertribunals, das sich gegen die politischen Aktivisten Ken Saro-Wiwa und acht seiner Mitkämpfer richtet. Der Schriftsteller und Träger des alternativen Nobelpreises Saro-Wiwa ist Angehöriger des Volkes der Ogoni, die im Nigerdelta leben, wo Shell im Jahr 1956 die ersten Erdölvorkommen in Nigeria entdeckte. Seitdem steht die Bevölkerung unter der Fuchtel der transnationalen Ölgesellschaften, die das Land mit Bohrtürmen, Pipelines und Ölförderstationen überziehen. Für das Geschäft mit dem »schwarzen Gold« gehen die Ölgiganten Shell, Chevron, ExxonMobil und Total über Leichen. Im Nigerdelta werden aus 5000 Bohrquellen und über 7000 Kilometer Rohrleitungen mehr als zwei Millionen Fass Öl pro Tag gefördert. Während in anderen Ländern die Pipelines unter der Erde vergraben sind, liegen sie in Nigeria wie eine Narbe offen in der Landschaft – das spart Kosten. Im Zickzack durchkreuzen die bleiernen Rohre die Dörfer, landwirtschaftlichen Flächen und die Mangrovensümpfe.

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Für die Menschen und die Umwelt ist die Ölförderung zum Super-Gau geworden. In den vergangenen 50 Jahren sind nach UNAngaben mehr als zwei Milliarden Liter in das sensible Ökosystem des Deltas geflossen. Die Folgen: Schmutziges Trinkwasser, verseuchte Böden und steigende Krebsgefahr für die Bevölkerung. Die Lebenserwartung der 30 Millionen Menschen, die im Nigerdelta leben, sank im Vergleich zum Rest des Landes um zehn Jahre auf 40 bis 45 Jahre. Eine Tochterfirma von Shell betreibt die meisten Anlagen in der Region und hat seit 1960 mit dem Öl geschätzte 600 Milliarden Dollar verdient. Doch die Mehrheit der Ogoni profitiert davon nicht – wie die meisten Menschen in Nigeria. Obwohl das Land die größten Erdölvorkommen Afrikas besitzt und heute der sechstgrößte Erdölexporteur der Welt ist, leben 70 Prozent der Bevölkerung in Armut und müssen mit weniger als einem US-Dollar am Tag auskommen. 60 Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, 38 Prozent keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen wie Toiletten und Abwassernetzen. Um dem verheerenden Agieren der Konzerne, insbesondere dem von Shell, ein Ende zu setzen, gründen Ken Saro-Wiwa und weitere Aktivisten 1989 die »Bewegung für das Überleben des Ogoni-Volkes« (MOSOP). Sie fordern politische und

kulturelle Autonomie, die Sanierung der verschmutzten Gebiete sowie eine Beteiligung an den Erdöleinnahmen. Schnell werden sie zum Kristallisationspunkt der Opposition. Der Widerstand erreicht im Januar 1993 einen Höhepunkt, als MOSOP friedliche Demonstrationszüge durch Ogoniland organisiert, an denen 300.000 Menschen – also die Hälfte der gesamten Ogoni-Bevölkerung – teilnehmen. Shell gerät so unter Druck, dass es vorübergehend die Ölförderung in dem Gebiet einstellt. Doch stattdessen besetzt das nigerianische Militär das Ogoniland und die Militärjunta leitet die Gegenoffensive ein. Die Bilanz der Militäroperation ist düster: 2000 Tote und 80.000 Vertriebene. Ken Saro-Wiwa spricht aus, was viele denken: »Sie werden uns alle verhaften und hinrichten. Alles für Shell«. Er soll recht behalten. Im Mai 1994 wird er verhaftet und ein Schauprozess gegen die Aktivisten beginnt. Elf Tage nach der Urteilsverkündung im Oktober 1995 werden die »Ogoni Nine« in der Millionenstadt Port Harcourt öffentlich gehängt. Mit ihrem Song »Soul is heavy« (Meine Seele ist voller Schwermut) erinnert die nigerianische Sängerin Nneka daran und zeigt, dass sich auch unter dem neuen Präsidenten Goodluck Jonathan die Situation wenig geändert hat. Der Song startet entsprechend düster: Ein Glockenspiel erklingt traurig über dem langsam nachhallenden Beat, der Bass ist so reduziert wie Nnekas Klagelaute. Pause. Dann beginnt Nneka zu rappen, eine Gitarre zupft die Melodie des Glockenspiels mit. Der Strophentext verdichtet lyrisch die dramatische Geschichte Nigerias: Der Kampf für die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Großbritanniens, die zehntausenden Hungertoten, das Hauen und Stechen um das »schwarze Gold« und der unüberhörbare Wunsch nach einem Leben in Würde. Im letzten Vers reimt sie:


Nneka ist die Tochter eines Nigerianers und einer Deutschen. Sie ist in der nigerianischen Stadt Warri aufgewachsen und siedelte im Alter von 18 Jahren nach Deutschland über. 2011 zog sie zurück nach Nigeria. © Vince Kmeron / CC BY-NC-ND

Der Chorus trumpft mit Dynamik auf. Bass und Gitarre erhöhen die Taktzahl, eine Hammondorgel brummt zielstrebig, die Band signalisiert: Ey! Zuhören! Und Nneka haut die Message des Songs durch die Boxen. Kämpferisch stellt sie sich in die Tradition von nigerianischen Widerstandskämpfern wie dem antikolonialen Held Jojo of Opovo (1821–1891), dem militanten Bürgerrechtler Isaac Boro (1938– 1968) und eben Ken-Saro Wiwa (1941– 1995). Zugleich attackiert sie die Öl-Bosse, die korrupten Eliten und das Militär. Und das geht so: I am, the voice of Isaac Boro, I speak Ken Saro Wiwa / I am, the spirit of Jaja of Opobo, fight for right, for our freedom / You? A power hungry class of army ar-

rangements, stealing money in my country’s plight / A soldier pretending to be a politician, you teacher who know nothing, do not teach me lies. (Ich bin die Stimme von Isaac Boro, ich spreche wie Ken Saro-Wiwa / Ich bin der Geist von Jaja of Opobo, kämpfe für Recht, für unsere Freiheit / Und ihr? Eine machthungrige Klasse im Pakt mit dem Militär, stehlt Geld in meinem notleidenden Land / Ein Soldat, der vorgibt, ein Politiker zu sein, du bist ein Lehrer der nichts weiß, also bring mir keine Lügen bei.) Nneka agitiert, als sei sie auf einer Kundgebung mitten in London vor der Konzernzentrale von Shell. Obwohl der Gegner übermächtig erscheint, strahlt sie Optimismus aus. Das kommt an. Mit ihrer Musik erobert die 1980 geborene Sängerin die Herzen nicht nur ihrer Generation. In Nigeria ist sie ein Star, im September 2009 gewinnt sie bei den Mobo Awards den Preis als beste afrikanische Künstlerin. Die internationale Presse feiert sie wahlweise

als die neue Lauryn Hill, Erykah Badu oder Neneh Cherry. Wie auch immer – ihre Musik ist für alle da: Abwechslungsreich, erfrischend und intelligent. Sie vereint dicke Beats und zarte Streicher-Parts, Vintage Soul und Reggae-Rhythmen, Disco-Bass und Afro-Pop, Flamenco und Desert Blues. Und wer nicht glaubt, dass neben Jesus auch Gandhi und Malcom X ihre Vorbilder sind, dem sei dieses Zitat von ihr ans Herz gelegt: »Alle, die in kolonialen und postkolonialen Zeiten nur dafür gekämpft haben, um an die Macht zu kommen und noch heute diese Macht ohne Rücksicht auf das Volk festhalten, diese alten Männer müssen verstehen, dass es endlich Zeit ist, zu gehen.« In diesem Sinne: Irhal Mubarak, Ciao Berlusconi und Ọ dàbọ Jonathan! ■ ★ ★★ Yaak Pabst ist Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.

GESCHICHTE HINTER DEM SONG

Wie ein Geist / fühle ich das Leid der Zahllosen, noch weiß ich nicht, wie viel Qualen es noch braucht / Naija (Nigeria), ich wandere auf der Insel, ich laufe auf dem Festland, ich sehe die Vielfalt, ich sehe die Möglichkeiten, aber immer noch leiden wir, warum?

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Review


SERIE

Nordlicht – Mörder ohne Reue| Regie: Birger Larsen, Nils Nørløv, Kasper Barfoed

Düsteres aus Dänemark Man nehme spannende Plots, smarte Hauptdarsteller und gesellschaftliche Missstände – fertig ist der erfolgreiche skandinavische Krimi. Auch die exzellent produzierte Serie »Nordlicht« funktioniert nach diesem Prinzip. Nur eins lassen die Macher im Dunkeln Von Marcel Bois ie erste Staffel nähert sich ihrem Finale, als dieser eine Moment Ruhe einkehrt. Katrine und Thomas kommen sich auf einmal so nahe, wie man es als Zuschauer schon fünf Folgen lang erwartet hat. Sie sitzen im Auto, ihre Hände berühren einander. »Ich muss jetzt los«, zerstört Katrine die Situation. Eine Sequenz als Kondensat einer ganzen Serie. Es ist das Spannungsverhältnis zwischen den beiden smarten Hauptfiguren, das den großen Reiz von »Nordlicht – Mörder ohne Reue« ausmacht. Hier die selbstbewusste junge Kommissarin, da der nachdenkliche Kriminalpsychologe. Die beiden lernen sich in der ersten Folge kennen. Thomas Schaeffer hat schon einmal für die Polizei gearbeitet, ist nach einem Fehler aber ausgestiegen und hat nun einen – im wahrsten Sinne des Wortes – sicheren Job an der Universität. Doch Katrine Ries Jensen will den undogmatischen Arbeiter unbedingt in ihrem Team haben. Ihr Chef ist dagegen, Thomas selber zögert. Letztendlich obsiegt seine professionelle Faszination für die Mordserie, die Katrine gerade aufzuklären versucht. »Nordlicht« ist eine aufwendig produzierte Krimiserie dänischer Schule. Vier Jahre haben die Dreharbeiten gedauert, insgesamt zwölf Millionen Euro hat der Sender TV2 investiert. Drei

verschiedene Regisseure haben die insgesamt sechs Folgen gedreht. Genau wie die Erfolgsserien »Die Spezialisten« oder »Das Verbrechen« braucht die Serie den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Das liegt an schnellen Schnitten, spannenden Plots und engagierten Hauptdarstellern. Allen voran Laura Bach, die die toughe Katrine spielt. Überhaupt sind starke Frauen ein Erfolgsrezept skandinavischer Krimis der letzten Jahre. Man denke an Lisbeth Salander aus Stieg Larssons MilleniumTrilogie oder die Kommissarin Sarah Lund aus »Das Verbrechen«. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass die Filmemacher die Zuschauer in die Niederungen der skandinavischen Gesellschaft begleiten. Kinder, die von ihren Eltern misshandelt werden. Ein junger Flüchtling aus Uganda, der im Gefängnis von seinen Mithäftlingen brutal gequält wird. Es sind in »Nordlicht« nicht nur die Kameraeinstellungen, die das ehemals sozialdemokratische Musterland düster erscheinen lassen. Einmal fragt Thomas seine Kollegin: »Träumst du nie von einem anderen Leben?« Er trifft damit den wunden Punkt: Die aufstrebende Kommissarin ist erfolgreich in ihrem Job, mit gerade einmal 27 Jahren wird sie stellvertretende Leiterin der Ko-

penhagener Mordkommission. Doch ihre Arbeit zermürbt sie, lässt sie keine Minute ruhen. Das Wort Freizeit kennt Katrine nicht. Thomas Frage durchzieht die gesamte Staffel: Ist ein Beruf es wert, sich selbst zu vernachlässigen? Die beiden Hauptfiguren beantworten sie für sich auf sehr unterschiedliche Weise. »Nordlicht« ist keineswegs so explizit politisch wie »Das Verbrechen« oder die MilleniumTrilogie. Das ist nicht schlimm. Es ist ein anderer Unterschied, der »Nordlicht« nicht die Klasse dieser beiden Serien erreichen lässt: Die Zuschauer erfahren nur sehr wenig über die Motivationen der einzelnen Mörder. Vielmehr werden die als durchgeknallte Psychopaten präsentiert. Gesellschaftliche Umstände scheinen in ihrem Handeln keine Rolle zu spielen. Ein weiterer kleiner Kritikpunkt: Zum Teil überreizen die Macher gelungene Einfälle. Dass Katrine fast selber Opfer des Tatverdächtigen wird, ist im ersten Fall überraschend und schockierend. In Folge fünf ist es dann nur noch sehr vorhersehbar. Dennoch: »Nordlicht« ist spannend gemachte und gut produzierte Krimiunterhaltung. Die erste Staffel wurde kürzlich im ZDF ausgestrahlt. Wer sie verpasst hat, bekommt nun eine zweite Chance: Vor einigen Tagen ist die DVD-Box erschienen.

★ ★★ SERIE | Nordlicht – Mörder ohne Reue, erste Staffel |Regie: Birger Larsen, Nils Nørløv, Kasper Barfoed | Dänemark 2011 | 540 Minuten Seit dem 18. November auf DVD erhältlich

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Lou Reed & Metallica | Lulu

CD DES MONATS Der Songwriter Lou Reed und die Rockband Metallica interpretieren den deutschen Dramatiker Frank Wedekind neu. Sie hinterlassen einen verstörten, aber doch zufriedenen Rezensenten Von Phil Butland

© Mercury (Universal)

ulu« ist ursprünglich ein Theaterstück des radikalen deutschen Dramatikers Frank Wedekind, das später vom Komponisten Alban Berg als Oper adaptiert wurde. Die Neuinterpretation durch Lou Reed und Metallica erhielt fast nur negative Rezensionen. Beinahe jeder Kritiker vergleicht es mit »Metal Machine Music«, Reeds unerträglichem Album von 1975. Darauf befindet sich nichts als eine Stunde Rückkopplungen und Gitarreneffekte – angeblich hatte er das Album nur gemacht, um einen ausstehenden Vertrag zu erfüllen. Man könnte die These aufstellen, dass Reed und Metallica genau die Schockreaktion auslösen möchten, die Wedekind dem Bismarckdeutschland versetzt hat. Also sollte die Musik nicht nach ihrem Wohlklang bewertet werden, sondern danach, wie sehr sie uns zu beunruhigen vermag. Das Problem dabei ist, dass die harten Gitarren hier eher altmodisch klingen – der Sound eines vergangenen Jahrzehnts, nichts, was der Wirkung des Expressionismus gleichkommt, mit dem Wedekind das bürgerliche Publikum schockierte. Auch Reed hat so etwas schon besser gemacht – und zwar vor knapp 40 Jahren, mit »Berlin«, einem tatsächlich verstörenden Album über Drogenabhängige, Depressionen und staatlichen Kindesentzug. Aber »Berlin« klang wie nichts, was davor kam (und wenig danach). Zu viel von »Lulu« ist uns schon bekannt. Von diesen Überlegungen abgesehen: Haben die Kritiker Recht, wenn sie »Lulu« zur schlimmsten Platte des Jahres, wenn nicht aller Zeiten, küren? Ich glaube nicht. »Lulu« ist zwar das beste Argument für den Download von Musik – ich bin froh, wenn ich manche Spur nie wieder hören muss. Doch hält das Album Außergewöhnliches für uns bereit. Vom ersten Lied an – »Brandenburg Gate« mit den Eröffnungszeilen »I would cut my legs and tits off / When I

★ ★★ Lou Reed & Metallica | Lulu (Doppel-CD) | Mercury (Universal) 2011 think of Boris Karloff and Kinski In the dark of the moon« (»Ich würde mir meine Beine und Titten abhacken / Denk’ ich an Boris Karloff und Kinski im Dunkel der Nacht«) – weiß man, dass diese Musik mit jedem Wort und jedem Ton provozieren will. Und in gewisser Weise gelingt das auch. Wir begleiten Lulu durch ihre private Hölle und werden dabei akustisch und lyrisch geschlagen. Es ist das absolute Gegenteil von Unterhaltungsmusik. Das Zuhören strengt an und einige Passagen sind einfach langwei-

lig. In den besten Teilen des Albums jedoch sind sowohl Text als auch Musik wirklich herausfordernd. Wir müssen dafür kämpfen, es zu genießen, aber letztendlich lohnt sich dieser Kampf. Allerdings hinterlässt ein Aspekt einen bitteren Nachgeschmack. Wie Wedekinds Stück erzählt auch das Album »Lulu« vom entwürdigenden Leben einer Prostituierten, die seit ihrem siebten Lebensjahr Opfer sexuellen Missbrauchs wurde. Diese Erfahrungen führen zu Selbsthass und Abhängigkeit von ihren Freiern: »I wish you’d

tie me up and beat me / Crush me like a kick / A bleeding strap across my back / Some blood that you could kiss … / I beg you to degrade me / Is there waste that I could eat? / I am a secret lover I am your little girl / Please spit into my mouth« (»Ich wünsche mir, dass du mich fesselst und schlägst / Vernichte mich mit einem Schlag / Ein blutiger Riemen auf meinem Rücken / Etwas Blut, das du küssen könntest… / Ich flehe dich an, mich zu erniedrigen / Gibt es Abfall, den ich essen könnte? / Ich bin die heimliche Geliebte Ich bin dein kleines Mädchen / Bitte spuck in meinen Mund) Offensichtlich wollen Reed und Metallica (ebenso wie Wedekind) Lulu als Opfer einer entfremdeten und brutalen kapitalistischen Welt darstellen. Wir leben aber in einer sexistischen Welt, deren Ideologie Vergewaltigungsopfern die Schuld an ihrem eigenen Schicksal zuschiebt. Die Worte, die man Lulu sagen lässt, können als Kritik, aber eben auch als Reproduktion von herrschenden rückschrittlichen Vorstellungen interpretiert werden. Der Text ist zwiespältig, weil er die Ideologie der Gesellschaft widerspiegelt. Ein Künstler, der die bürgerliche Moral angreifen will, darf sich um diese Debatte nicht drücken. Kurz: »Lulu« ist kein Kunstwerk, an dem man wirklich Vergnügen finden kann. Auch wenn man der Kunst das Recht zugesteht, nicht nur zu erfreuen, sondern auch zu erschüttern, ist die Beziehung zwischen der jungen Lulu und dem 69-jährigen Mann, der ihr die Worte in den Mund legt, keinesfalls unkompliziert. Jedoch entsteht die Problematik aus der Frage, wie man Zusammenhänge in unserer gespaltenen Gesellschaft eindeutig darstellen und diskutieren kann. Lou Reed sagt: »Ich will euch Gemeinheit, Angst und Blindheit lehren, nicht gesellschaftliches Heil.« Als Hintergrundmusik für einen angenehmen Abend hat »Lulu« ihre Schwächen, aber als Aufschrei einer kranken Welt doch die Macht, zu erschrecken.


BUCH

Eckart Spoo (Hrsg.) | Oppositionsfähig werden!

Mut zum Dissens Schon sein ganzes Leben lang vertritt Arno Klönne unangepasste Ansichten. In diesem Jahr ist er 80 Jahre alt geworden. Seine politischen Freunde gratulieren mit einem Sammelband

m Mai 2011 feierte Arno Klönne, den Leserinnen und Lesern als langjähriger Kolumnist dieser Zeitschrift bekannt, seinen 80. Geburtstag. Zu diesem Anlass widmeten ihm politische Freunde und Bündnispartner aus verschiedenen Lebensphasen einen kleinen Sammelband, der einen Einblick in die Bandbreite seines intellektuellen Wirkens gibt. Klönne (geboren 1931) wuchs in einer katholischen Familie in Paderborn auf und blieb zeit seines Lebens der westfälischen Region verbunden. Nach seinem Studium (Geschichte, Soziologie, Politik) in Köln und Marburg promovierte er bei Wolfgang Abendroth über die Jugend im Nationalsozialismus, als Professor für Soziologie kehrte er 1978 nach Paderborn zurück. Er forschte zunächst unter anderem zur Geschichte der Arbeiterbewegung und zum Faschismus, später zu einem weiten kapitalismuskritischen Themenfeld. Bis zum Jahr 2004 war er mit Unterbrechungen ein kritisches und unbequemes Mitglied der Sozialdemokratie und engagiert sich bis heute in außerparlamentarischen Bewegungen und bei kleineren Zeitschriftenprojekten. Die sechzehn Beiträge des Sammelbands geben exemplarische Einblicke in historische und politische Fragestellungen, die Klönne beschäftigen, und bezie-

hen dabei zum Teil Persönliches mit ein. Das Spektrum der Autoren umfasst Friedensforscher und Sozialwissenschaftler, Parteipolitiker und Bewegungsaktivisten sowie Redakteure politischer Zeitschriften. Hierin deutet sich auch die Bandbreite der intellektuellen Einflüsse von Arno Klönne an: Bündische, linkskatholische, pazifistische, bildungspädagogische, sozialistische und kommunistische Positionen und Strömungen werden vorgestellt. Bereits der Titel »Oppositionsfähig werden!« weist dabei auf den Stellenwert von widerständigen und eigensinnigen Interventionen hin. Aus den ersten sechs Beiträgen, unter anderem von Andreas Buro und Eckart Spoo, sticht hervor, wie bedeutsam die aufrichtige politische Haltung von wenigen, der Mut zum Dissens, für die politische Linke sein kann. Ob im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in kleinen Zeitschriften und innerhalb politischer Großorganisationen oder der Wissenschaft: Die Entschlossenheit, seinen begründeten Standpunkt auch gegen Widerstände zu verteidigen und sich nicht von modischen Schwankungen beeindrucken zu lassen, ist wohl ein wesentlicher und auch höchst aktueller Fixpunkt im Leben von Klönne. Die Aufsätze spiegeln andererseits aber

auch die Bedeutung von persönlichen Freundschaften, politischen Netzwerken und intellektuellen Gruppenbildungen wider, die zusätzlich zu der Positionierung des Einzelnen eine Grundvoraussetzung sozialer Bewegungen darstellen. Ein zweiter Themenkomplex mit drei Aufsätzen widmet sich dem Rechtspopulismus und Möglichkeiten zur Gegenwehr. Christoph Butterwegge nimmt Sarrazins Thesen eindrucksvoll auseinander, während Angela Klein und Franz Kersjes Geschichte und Gegenwart von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften kritisch bilanzieren. Die zweite Hälfte des Buches bleibt historisch-politischen Analysen und aktuellen Debatten vorbehalten. Wie in Festschriften anscheinend kaum zu vermeiden, stehen hier sehr unterschiedliche Themen und Textarten lose nebeneinander, was den Lesefluss nicht immer leicht macht. Behandelt werden unter anderem die Geschichte der Spartakusgruppe, die jüngste Kommunismusdebatte in der LINKEN, historische Fehleinschätzungen oder die Politik der USA. Insgesamt bietet das Buch eine erste Annäherung an das reichhaltige Schaffen von Klönne, die zu einer erneuten Lektüre seiner zentralen Werke anregen mag.

★ ★★ BUCH | Eckart Spoo (Hrsg.) | Oppositionsfähig werden! Einsendungen zum 80. Geburtstag von Arno Klönne | Ossietzky, Hannover 2011 | 160 Seiten, 12,00 Euro

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© Ossietzky

Von Philipp Kufferath

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BUCH

Elisabeth Filhol | Der Reaktor

Neutronenfutter Wanderarbeiter reinigen die französischen Atomkraftwerke und sind dabei permanent radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Doch Angst haben sie vor etwas anderem Von Lisa Hofmann

© Edition Nautilus

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★ ★★ BUCH | Elisabeth Filhol | Der Reaktor | Edition Nautilus, Hamburg 2011 | 128 Seiten , 16,00 Euro

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er Reaktor« ist ein Roman über die Wanderarbeiter des Atomzeitalters und ihren verzweifelten Kampf um Sicherung der eigenen Existenz. Sie sind gezwungen neben ihrer Arbeitskraft auch die Unversehrtheit ihres Körpers zu verkaufen. Die einzig relevante Größe in ihrem Leben ist die Höhe ihrer eigenen Strahlenbelastung. Wird sie überschritten, was bei 20 Millisievert im Jahr der Fall ist, werden sie gesperrt und dürfen bis zum Jahresende nicht mehr arbeiten. Die Orte, an denen die Arbeiter eingesetzt werden, sind oft so stark verstrahlt, dass sie die Arbeit auf dreiminütige Einsätze aufteilen müssen, um die Strahlenbelastung auf möglichst viele Menschen zu verteilen. Dennoch haben die Arbeiter mehr Angst vor dem drohenden Verdienstausfall als vor dem gesundheitlichen Risiko, das mit der überschrittenen Strahlenbelastung einhergeht. Yann ist einer dieser Wanderarbeiter, die während des Austauschs der Brennelemente den Reaktor reinigen und den Primärkreislauf auf undichte Stellen überprüfen. Er und seine Kollegen sind als Leiharbeiter meist drei Wochen am selben Ort, so lange dauert die Wartung eines Reaktors. Sie wohnen zusammen in Wohnwagen am Rande von Dörfern wie Chi-

non oder Blayais, den Standorten französischer Reaktoren. Nach getaner Arbeit ziehen sie weiter. Das einzige, das vom jeweiligen Einsatz bleibt, ist etwas Geld und die Erhöhung ihrer Strahlendosis. Selbstironisch bezeichnen sich die Wanderarbeiter als Neutronenfutter. Weder für Arbeitsschutz noch für die Gewerkschaften haben sie Verständnis, denn die vertreten im Zweifel die Stammbelegschaft und machen das Leben der Wanderarbeiter durch Vorschriften noch komplizierter. Als Yann in einem unbedachten Moment eine Mutter vom Boden aufhebt, wird er so stark kontaminiert, dass er nicht mehr arbeiten darf. Er befürchtet, dass er wie einer seiner Kollegen in das Innere eines Kühlturms versetzt wird und diesen reinigen muss. In seinen Augen ist diese Arbeit viel gefährlicher als das Reinigen der Abklingbecken, denn im Inneren der Kühltürme wimmelt es nur so von Keimen und Bakterien, die schwere Krankheiten auslösen können. Die Gefahr, die mit der Verstrahlung seines Körpers einhergeht, blendet er aus. Arbeitsmediziner werden von den Arbeitern als hinderlich oder zusätzliches Risiko wahrgenommen. Denn niemand weiß am Anfang eines Einsatzes, wie viele Strahlen er abbe-

kommen wird. Das können nur die Ärzte mit ihren Dosimetern messen. Durch dieses NichtAbschätzen-Können der eigenen Dosis wird das ohnehin sehr prekäre Leben der Wanderarbeiter noch unsicherer. Jede Schicht könnte die letzte für dieses Jahr sein. Als ihre Gegner nehmen diese Männer nicht die großen Atomkonzerne wahr, sondern die, die sie als privilegiert ansehen. Das sind zum einen die Stammbelegschaften, die nicht gezwungen sind, sich einem solchen Risiko aussetzen, ohne sozial abgesichert zu sein. Zum anderen sind es die Aktivisten von Umweltorganisationen, die das Bewusstsein der Arbeiter wecken wollen, aber kein Verständnis für den psychischen Druck haben, dem diese ausgesetzt sind. Elisabeth Filhol, die als Beraterin für französische Betriebsräte gearbeitet hat, schildert das Leben und Arbeiten dieser Männer in einem sehr kühlen, nüchternen Ton und zeigt an vielen Stellen, wie sich prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse und die Spaltung in Leiharbeiter und Stammbelegschaft auf das Bewusstsein und das Handeln der Arbeiter auswirken. Ein eindringliches Buch, dessen Lektüre ich uneingeschränkt empfehlen kann.


BUCH DES MONATS Politiker fordern den Übergang zu einem »grünen Kapitalismus«, der Klimaschutz und Ökonomie versöhnt. Doch der ist trotz des Ausbaus erneuerbarer Energien nicht in Sicht. Das behauptet zumindest Jonas Rest in seinem neuen Buch Von Frank Eßers

★ ★★ BUCH | Jonas Rest | Grüner Kapitalismus? Klimawandel, globale Staatenkonkurrenz und die Verhinderung der Energiewende | VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011 | 252 Seiten, 29,95 Euro

nen Kapitalismus« bereits im Entstehen sehen, kann Jonas Rest eine solche Entwicklung nicht feststellen. Dafür gibt er eine ganze Reihe von Gründen an, von denen hier nur einige wichtige genannt werden können: »Die Abnahme der Verfügbarkeit fossiler Energieträger und ihre hohe Konzentration in einigen wenigen, ›politisch instabilen‹ Staaten bei gleichzeitig steigender Nachfrage hat dazu geführt, dass erneuerbare Energien im Rahmen einer Strategie der Diversifizierung der Energieversorgung primär zur Erhöhung der Energiesicherheit an Bedeutung gewonnen haben« – eine Entwicklung, die nicht mit einem Umstieg auf erneuerbare Energien verwechselt werden dürfe. Vielmehr wirke diese »gleichzeitig als Triebkraft für die Entscheidung für CO2-emissionsintensive energiepolitische Optionen. Zu diesen gehören insbesondere die Kohlekraft (…) und der Abbau der besonders klimaschädlichen, unkonventionellen Erdölreserven wie der kanadischen Öl-Sande«. Ein weiterer Grund sei die marktbeherrschende Stellung fossil-atomarer Energiekonzerne, die »ein Interesse an einer Verzögerung der Umstrukturierung des Energiesystems« hätten. Die ungebrochen hohe strategische

und ökonomische Bedeutung solcher Unternehmen für die Staaten im internationalen Konkurrenzkampf drücke sich deshalb »auch in der für eine Umstrukturierung des Energiesystems zu erneuerbaren Energien nicht zielführenden Ausrichtung und Ausgestaltung der klimapolitischen Instrumente aus«. Gemeint ist damit eine auf Marktmechanismen ausgerichtete internationale Klimapolitik, die das weitere Ansteigen des Treibhausgasausstoßes nicht verhindert hat. In einem eigenen Kapitel untersucht der Autor die strukturellen Schwächen marktbasierter Klimapolitikansätze und erklärt die Gründe für deren Scheitern. In einem weiteren Kapitel beschreibt Rest die Mechanismen internationaler Staatenkonkurrenz und ihre fatalen Auswirkungen auf die Klimapolitik. Einen Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien wird es, so das Fazit des Buches, in absehbarer Zeit nicht geben – zumindest wenn man die Entwicklung den Märkten überlässt. »Eine Transformation zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft bedeutet der vorliegenden Untersuchung nach die Entmachtung einiger der global stärksten und bestorganisierten Kapitalgruppen« der fossil-atomaren Industrien. Der Umstieg ist also keine rein technische oder ökonomische Frage, sondern bedeutet gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen. Rest sieht die Notwendigkeit, dass Massenbewegungen in Konflikt mit den Protagonisten des herrschenden fossil-atomaren Energieregimes treten, um einen solchen Umstieg zu bewirken. Der Autor liefert mit seinem Buch neue Fakten und Argumente für die strategischen Debatten in den Umweltschutz- und sozialen Bewegungen. Obwohl es sich um eine politikwissenschaftliche Untersuchung handelt, ist sie verständlich geschrieben und kann damit auch Nichtakademikern ohne Abstriche empfohlen werden. REVIEW

Jonas Rest | Grüner Kapitalismus?

© VS Verlag für Sozialwissenschaften

rotz Wirtschaftskrise steigen die Treibhaus­ gas­emissionen weiter. Im vergangenen Jahr wurde gar ein Rekordanstieg verzeichnet. Dementsprechend gedämpft sind die Erwartungen an den diesjährigen UN-Klimagipfel im südafrikanischen Durban. Trotz Kyoto-Protokoll und zahlreicher Ankündigungen, eine umweltfreundliche Transformation der Wirtschaft einzuleiten, sind bisher alle Versuche gescheitert, eine weitere Erderwärmung zu stoppen. Auch der Ausbau und die Weiterentwicklung von Erneuerbare-EnergienTechnologien konnten diese zerstörerische Entwicklung nicht aufhalten. Wie wahrscheinlich ist angesichts dieser ernüchternden Bilanz die Etablierung eines »grünen Kapitalismus«, der die Anforderungen des Klimaschutzes mit der konkurrenzgetriebenen Kapitalakkumulation in Einklang bringt? Ist ein Green New Deal in Sicht, der diesen Namen auch verdient? Diesen Fragen geht Jonas Rest in seinem Buch »Grüner Kapitalismus? Klimawandel, globale Staatenkonkurrenz und die Verhinderung der Energiewende« nach. Dabei untersucht er klimapolitische Instrumente wie das KyotoProtokoll und das europäische Emissionshandelssystem, analysiert die Strategien unterschiedlicher Kapitalgruppen und Unternehmen und nimmt die Energie- und Klimapolitik von China, Europa und der USA unter die Lupe. Da fossile Energien den Großteil der Treibhausgas­ emissionen verursachen, muss laut dem Autor die Umstrukturierung der Energieversorgung im Zentrum der Bemühungen um eine klimaverträgliche Wirtschaft stehen. Doch trotz aller Erfolgsmeldungen aus dem Bereich der erneuerbaren Energien steht es um genau diese Umstrukturierung schlecht. Im Gegensatz zu anderen Publikationen zum selben Thema, die einen »grü-

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Mein Lieblingsbuch

ein Lieblingsbuch heißt »Olga Forever« von Paco Ignacio Taibo II und ist im Jahr 1998 erschienen. Leider kennen Taibo hierzulande nur wenige Menschen und wenn, dann nicht seine Romane, sondern seine Biographie über Che Guevara. Taibo wurde 1949 im spanischen Gijón geboren, 1958 emigrierten seine Eltern wegen des Franco-Regimes gemeinsam mit ihm nach Mexiko-Stadt. Dort studierte er später Literatur, Soziologie und Geschichte. Seine historischen Kenntnisse flossen vor allem in sein Werk »Erzengel. Geschichten von 12 Häretikern der Revolution« von 1988 ein, in dem er über den Revolutionär Max Hölz schrieb. Dass Taibo als Mexikaner sich dem »Robin Hood des Erzgebirges« widmete, ist umso beeindruckender, wenn man weiß, dass Hölz selbst unter deutschen Linken wenig bekannt ist. Politische Ereignisse und bekannte Revolutionäre spielen in allen Werken Taibos eine große Rolle. Dabei kommt auch der Humor nicht zu kurz, ganz im Gegenteil. In den meisten von Taibos Kriminalromanen ermittelt der Detektiv Héctor Belascoarán Shayne. Doch in »Olga forever« schickt er die 23-jährige Journalistin Olga Lavanderos durch sein zugleich geliebtes und gehasstes Mexiko-Stadt, um nacheinander zwei Fälle zu lösen. Was dabei gleich bleibt, ist die Kritik an der konservativen Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die zwischen 1929 und 2000 alle Präsidenten des Landes stellte und zeitweise nur mithilfe von Wahlfälschungen und Korruption die Wahlen gewinnen konnte. Olga wohnt in einer kleinen Wohnung in der 26. Etage eines Hochhauses, wie es sie in Mexikos Satellitenvorstädten zuhauf gibt. Ihre unmittelbaren Nachbarn sind ihre Tante und deren Sohn Toñin, dessen

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Von MARX21-Leser THOMAS HASCHKE

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem ihr denkt, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreibt uns – und präsentiert an dieser Stelle euer Lieblingsbuch. Diesmal: »Olga Forever« von Paco Ignacio Taibo II

★ ★★ Paco Ignacio Taibo II | Olga forever | Edition Nautilus | Hamburg 1998 | 192 Seiten | 15,80 Euro

kleinen Sprachfehler Taibo liebevoll im ganzen Buch pflegt. Olga ist fast immer pleite, als Journalistin der Zeitung »La Capital« verdient sie nicht viel: Ihr wöchentliches Einkommen entspricht dem Gegenwert von 46 Viererrollen Toilettenpapier oder 312 Familienflaschen Coca Cola. Trotzdem – oder gerade deswegen – geht Olga liebevoll solidarisch mit ihren Mitmenschen um. So trifft sie einmal im Supermarkt auf eine junge, alleinstehende Mutter von etwa 16 Jahren, die ein anderthalbjähriges Kind auf dem Arm trägt. Das Kind heißt Pancho, benannt nach dem mexikanischen Revolutionär Pancho Villa. Als die junge Mutter versucht, ein paar Schuhe für Pancho einzustecken, wird sie von einem Hilfspolizisten erwischt. Olga kommt ihr zur Hilfe und bezahlt die Schuhe für Pancho – und das, obwohl sie selber fast pleite ist. Aber ihr ist wichtiger, dass sie geholfen hat. Episoden wie diese und viele gute Dialoge machen die Stärke dieses Buches aus. Ich habe »Olga forever« schon fünf Mal gelesen und entdecke immer wieder Textstellen, die mich begeistern. Ein paar Tote gibt es in dem Roman übrigens auch. Im ersten Fall werden fünf Leichen im Abwasserkanal gefunden. Am Ende kann Olga das Rätsel lösen, aber ihre Zeitung weigert sich, den Artikel zu veröffentlichen. Warum? Am besten selber lesen und den zweiten Fall gleich hinterher. Zum Schluss noch eine Anekdote, die Paco Ignacio Taibo II schön charakterisiert. Einst traf der damalige USPräsident Bill Clinton die beiden Schriftsteller Gabriel García Márquez und Carlos Fuentes. Ihnen erklärte er, dass ihre Literatur zwar gut und schön sei, aber sein Lieblingsautor hieße Paco Taibo. Der kommentierte später trocken: »Der Leser kann seinen Autor aussuchen. Umgekehrt kann das der Autor leider nicht.« Ich hoffe, dass ich seine Bücher mag, geht in Ordnung.


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Eyal Weizman | Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung

In Material gegossene Politik Die Kolonialisierung Palästinas äußert sich auch in der Architektur, meint Eyal Weizman. In seinem Buch »Architektur der Besatzung« geht es aber um mehr als Elektrozäune und Mauern Von Mona Mittelstein

★ ★★ BUCH | Eyal Weizman | Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung | Edition Nautilus, Hamburg 2009 | 352 Seiten, 24,90 Euro

ie »Mauer« ist wohl das markanteste Beispiel für die israelische Besetzung Palästinas. Jenes Gebilde, das die Westbank in etwa 200 kleine Einzelparzellen unterteilt – und an vielen Stellen in Wirklichkeit ein auf Berührung reagierender Elektrozaun ist. Doch auch in vielfältigen anderen architektonischen Elementen spiegelt sich die Besetzung wider, so etwa im Bau und der Struktur von Städten, Flüchtlingslagern und Siedlungen. Das ist eine beeindruckende Beobachtung, die Eyal Weizman in seinem Buch »Sperrzonen – Israels Architektur der Besatzung« aufzeigt. Weizman, der als israelischer Architekt und Journalist in engem Kontakt zu sowohl israelischen als auch palästinensischen Menschenrechtsorganisationen steht, nennt diese Architektur »in Material gegossene Politik«. Sein Buch macht deutlich, dass sie zugleich Aufbau und Zerstörung sein kann: Sie ist durchdrungen von eindeutig separierenden Motiven, unterstreicht die Dominanz und permanente Präsenz der Besatzer. Doch gleichzeitig laufen Bestimmungen wie die Jerusalemer Steinverordnung dem Wunsch nach schneller Faktenschaffung zuwider. Diese verlangsamt die Landnahme, in dem sie sämtliche Neubauten in und um Je-

rusalem der »orientalistischen Ästhetik«, einer aufwendigen und teuren Baumaßnahme, unterwirft, um sie als organischen Teil der biblischen Umgebung erscheinen zu lassen. Daran erkennt man, dass die kolonialistische Architektur verändernd-prägend und zugleich anpassend-verbindend ist. Für Weizman zählen zur Architektur der Besatzung nicht nur die Ausgestaltung von Gebäuden, sondern auch die von Gesetzen, ebenso urbane Kriegsführung, gezielte Tötungen und kriegerische Handlungen wie der Angriff auf Gaza. Die urbane Kriegsführung beleuchtet Weizman am Beispiel der zweiten Intifada, während der die israelische Armee vor allem im Jeniner Flüchtlingslager und in der Kasbah von Nablus verheerende Schäden hinterließ. Solche Angriffe werden gezielt verübt. So unterhält die israelische Armee im Negev ein Trainingslager für urbane Kriegsführung. Das Lager ist der Nachbau einer typischen arabischen Stadt, ursprünglich entwickelt als Vorbereitung der Soldaten für den Libanonkrieg, später erweitert um die engen Gassen der Flüchtlingslager. Die Löcher in den Wänden, durch die sich die Soldaten durch die Stadt bewegen können, ohne sich auf der Strasse zu zeigen, sind hier bereits vorbereitet – anders in den rea-

len Städten, wo sie von den Soldaten geschlagen werden. Weizman verdeutlicht, dass Israel oft Vorreiter globaler Entwicklungen ist. Als im Jahr 2000 die Politik der »gezielten Tötungen« publik wurde, gab es von Seiten der US-Regierung zurückhaltende Kritik – gepaart mit dem Vorschlag, sie könne »die Leistungen und Ergebnisse der israelischen Luftwaffe analysieren, um daraus Schlüsse für ihre eigenen Kriege zu ziehen«. Elf Jahre später ist diese Praxis fest im Repertoire des amerikanischen Militärs verankert. Das bekannteste Beispiel hierfür ist sicher die Liquidierung von Osama bin Laden. Auch das Ein- oder Ausmauern von Slums an den Rändern der globalen Metropolen lässt gewisse Ähnlichkeiten mit Israels Architektur der Besatzung erkennen. Weizmans Buch ist voll von Fakten, Hintergrundinformationen und Zitaten aus teilweise unveröffentlichten Dokumenten. Leider werden manche Themen zunächst vage gehalten, um sie dann in späteren Kapiteln gründlicher aufzubereiten. Das führt zu Wiederholungen und stört den Lesefluss. Dennoch ist dieses Werk für den interessierten Leser eine Schatzkammer unterschiedlichster Informationen, die Weizman zu einem strukturierten Ganzen zusammensetzt. REVIEW

© Edition Nautilus

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Laurent Binet | HHhH: Himmlers Hirn heißt Heydrich

Zwischen Himmler und Hölle Kann man Unterhaltungsliteratur über einen nationalsozialistischen Völkermörder schreiben? Schwer vorstellbar, doch dem Franzosen Laurent Binet ist dieses Kunststück gelungen Von David Paenson

© Rowohlt

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★ ★★ BUCH | Laurent Binet | HHhH: Himmlers Hirn heißt Heydrich | Rowohlt, Reinbek 2011 | 448 Seiten, 19,95 Euro

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er Titel lässt aufhorchen: »Himmlers Hirn heißt Heydrich«. Heydrich. Er war Chef des Sicherheitsdienstes SD unter SS-Führer Himmler. Mit ihm leitete er die Gestapo, er war der Organisator des Holocausts, er war der »Henker von Prag«, er starb am 4. Juni 1942 an den Folgen eines Attentats. Ein Roman über einen Völkermörder? Über den Erfinder der industriellen Vernichtung von Millionen Juden? Kaum vorstellbar. Dennoch gelingt dem französischen Autor Laurent Binet genau dieses Kunststück. Und dafür hat er im Jahr 2010 den hoch angesehenen Prix Goncourt erhalten. Verdientermaßen, wie ich meine. Der Roman ist unterteilt in 257 nummerierte Abschnitte. Er verwebt sehr gekonnt vier Erzählstränge. Einmal die Biografie Heydrichs selbst, seines Aufstiegs in Hitlers Machtapparat, die kaltblütige Ausschaltung von möglichen Konkurrenten. »Ist er noch nicht tot? Lasst das Schwein verbluten!« Das sind die letzten Worte, die Hitlers langjähriger Weggefährte Gregor Strasser nach dem nicht tödlichen Schuss durch die Luke der Zellentür vernahm. Es war die Stimme Heydrichs. Die Niederschlagung des sogenannten Röhm-Putschs war sein Werk.

In einem zweiten Erzählstrang verfolgt Binet den Weg der beiden Heydrich-Attentäter, des Slowaken Jozef Gabcík und des Tschechen Jan Kubiš, von ihrem Trainingslager in England über ihren Fallschirmsprung in feindliches Gebiet, die fieberhaften Monate der Vorbereitung im Untergrund, das Attentat selbst, als die notorisch unzuverlässige »Sten«-Maschinenpistole aus britischer Produktion wegen einer Ladehemmung den Dienst versagt und Jozefs Kumpan Jan stattdessen eine Handgranate auf Heydrichs Mercedes werfen muss. Danach ihre Flucht, ihr Versteck in einer Kirche, zu dem die Gestapo erst durch Verrat eines dritten Beteiligten fand. Schließlich die sechsstündige Belagerung durch 700 Waffen-SS-Männer, bis die Eingesperrten sich mit ihren letzten Kugeln selbst töten. Die beiden jungen Männer, mit ihren Ängsten, Sehnsüchten, Liebschaften und ihrer Opferbereitschaft, sind die eigentlichen Helden des Romans. In einem dritten Strang geht es um den Autor selbst, um seine jahrelange Recherchearbeit, seine Motive, seine Begegnungen mit Zeitzeugen, die glücklichen Zufälle während seiner mühsamen Puzzlearbeit, um seine Freundinnen, ohne deren Hilfe er es niemals geschafft hätte. Schließlich wirft das Buch in ei-

nem vierten Strang einen weiteren Blick auf die europäische Geschichte. Auch hier ein Geflecht aus Schicksalen – zum Beispiel schildert Binet, wie im 13. Jahrhundert Silbererz in Böhmen entdeckt wurde, woraufhin der damalige Herrscher Ottokar II. hunderttausende deutsche Siedler anwarb, um die Minen auszubeuten, deren Nachfahren sich von der HitlerPropaganda so begeistert missbrauchen ließen. Das Buch ist so spannend und kurzweilig, dass man es beim besten Willen nicht aus der Hand legen kann. Da schützen Kenntnisse der Geschichte nicht. Die Schilderungen der Gräueltaten, aber auch der Kämpfe dagegen, packen einen, als ob sie gerade gestern geschehen wären. Einziger Wermutstropfen ist die Übersetzung. So wird beispielsweise in Abschnitt 60 dem französischen Premierminister Edouard Daladier der Wille unterstellt, »die 40-StundenWoche wieder einzuführen«. Im französischen Original steht aber »revenir sur« (rückgängig machen), was ja genau das Gegenteil bedeutet. Leider ist die Übersetzerin auch an vielen anderen Stellen ziemlich sorglos vorgegangen. Das ist wirklich schade, aber vielleicht Ansporn, seine Französischkenntnisse auf die Probe zu stellen und die Originalausgabe zu lesen.


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ünktlich zu den anstehenden Castor-Protesten hat die Zeitschrift analyse & kritik (November 2011) eine kostenlose Sonderbeilage mit dem Titel »Neue Energiekämpfe« herausgebracht. Die Autoren des vierseitigen Extrablatts analysieren die Situation nach der Atomkatastrophe von Fukushima und diskutieren Gegenstrategien. Einen Ansatz, den sie anbieten, ist die Rekommunalisierung der Stromnetze. Als langfristige Alternative zu konzerngesteuerten Großprojekten schlagen sie eine Energiedemokratie vor, die durch neue Technologien dezentrale, flexible Lösungen finden kann. Die Sonderbeilage kann kostenlos auf der a&k-Website heruntergeladen werden.

In der aktuellen Ausgabe der Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung (Nr. 87, September 2011) gibt es gleich zwei interessante Fundstücke. Zum einen ist Andreas Fisahns lesenswerte Analyse der Europäischen Union zu nennen, wo der Autor der Frage nachgeht, ob sich die »EU auf dem Weg in eine autoritäre Wirtschaftregierung« befindet. Zum anderen bietet das Heft den Schwerpunkt »Klassen und Krisenbewusstsein«. Die einzelnen Artikel analysieren die Situation in Deutschland und bieten alle einen ähnlichen Befund: In den Betrieben und der Gesellschaft sei ein »erhebliches, allerdings recht diffuses

Der »Wutbürger« wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2010 gekürt. Aber wer ist er oder sie wirklich? Der SpiegelRedakteur Dirk Kurbjuweit verwendete diesen Begriff beispielsweise für die Menschen, die gegen das Bahnhofsprojekt Stuttart21 auf die Straße gingen, und stellte sie als gesättigte, veränderungsfeindliche Rentner dar. Dem widerspricht Stefan Stürmer in der neuen Zeitschrift Politische Psychologie (Heft 1/2011). Er verweist auf eine Studie über die soziale Basis der Proteste und zeigt auf, dass sich Protest nicht aus irrationalen, individuellen Emotionen heraus erklären lässt.

von Win Windisch und Marcel Bois

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Zeitschriften und Magazinen

Weblinks:

★ ★★ WEBLINKS analyse & kritik: www.akweb.de Hintergrund: www.hintergrund.de Z.: www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de Politische Psychologie: www.psychologie-aktuell.com/index. php?id=politische-psychologie JBzG: arbeiterbewegung-jahrbuch.de

Schon seit einiger Zeit befindet sich die Forschung zur Geschichte der Arbeiterbewegung in einer institutionellen Krise. Zahlreiche wissenschaftliche Zeitschriften sind in den vergangenen Jahren eingestellt worden oder erscheinen nur noch sehr unregelmäßig. Umso erfreulicher ist, dass sich das Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (JBzG) in diesem Feld etabliert hat. Es informiert über Forschungsergebnisse zur internationalen Arbeiterbewegung, zur Sozialgeschichte und Geschichte der Arbeitswelt sowie zur Geschichte demokratischer sozialer Bewegungen und zur Alltagsgeschichte. Anders als der Name vermuten lässt, erscheint das Jahrbuch alle vier Monate. Mit der Septemberausgabe durften die JBzG-Herausgeber nun ihr zehntes Jubiläum feiern. Wir gratulieren herzlich und hoffen auf viele weitere Ausgaben. ■ REVIEW

Im Frühsommer sorgte eine Studie der beiden Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn und Sebastian Voigt für großen Wirbel. Unter der Überschrift »Antisemiten als Koalitionspartner?« versuchten die Autoren darzulegen, dass es einen tief verankerten Antisemitismus in der Partei DIE LINKE gebe. Die Redaktion der Zeitschrift Hintergrund (Heft 3/2011) wollte wissen, was die Studie wissenschaftlich taugt – und baten Moshe Zuckermann um eine kleine Expertise. In seinem lesenswerten Beitrag weist der israelische Historiker Salzborn und Voigt eklatante methodische Mängel nach.

Protestpotenzial« vorhanden – eine »adressatenlose Wut«, die mit einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Wirren des Systems und dem Fehlen einer Alternative zusammengehe. Diese Legitimationskrise des Kapitalismus sei gerade für Gewerkschaften ein Ansatzpunkt, ihr politisches Mandat entschlossener wahrzunehmen.

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Š Tom Morello / http://4.bp.blogspot.com

Preview


BUCH

Terry Eagleton | Warum Marx recht hat

Noch lange nicht überflüssig Zahlreiche Vorurteile kursieren über Karl Marx. Mit ihnen hat sich Terry Eagleton in seinem neuen Buch auseinandergesetzt, das im März auf Deutsch erscheinen wird. Wir haben es jetzt schon gelesen Von Gareth Jenkins

Wunder ist es, dass er sich seine eigenen Totengräber schaffe. Arbeiterinnen und Arbeiter sind nicht nur Opfer dieses System, sondern haben grundsätzlich die Fähigkeit, seine Reichtümer gerecht zu verteilen, zum Nutzen aller Menschen. Terry Eagleton befasst sich mit verschiedenen Vorurteilen über Marx. So setzt er sich zum Beispiel mit der Behauptung auseinander, Marx sei »Determinist« gewesen. Angeblich habe er gedacht, der Sieg der Arbeiterklasse sei unvermeidlich. Aber wenn das tatsächlich so gewesen wäre, warum sprach er dann so viel über den Einfluss von Klassenkämpfen auf gesellschaftliche Entwicklungen? Auch betont Eagleton, dass Marx Revolution und Demokratie nicht für Gegensätze hielt. Das Gegenteil sei der Fall gewesen. Er trat letztendlich für eine Gesellschaft ein, in der alle öffentlichen Aufgaben unter der demokratischen Kontrolle der Bevölkerung stehen. Marx stand auch für Individualität. Es ist der Kapitalismus, der alle auf dasselbe reduziert. Der Zweck des Sozialismus war für Marx, dass jeder die Möglichkeit bekommt, seine individuelle Persönlichkeit zu entfalten – auf Grundlage der gemeinschaftlichen Entwicklung der

Gesellschaft. Kann der Marxismus die menschliche Natur erklären? Was hat er mit Moral zu tun? Was bedeutet die Beziehung zwischen Basis und Überbau? Terry Eagleton beleuchtet all diese komplizierten Fragen. »Warum Marx recht hat« ist ein wunderbares Buch, das alle Sozialisten in ihren Regalen stehen haben sollten – auch wenn es noch ein paar Monate dauert, bis es auf Deutsch herauskommt.

★★★ Terry Eagletons Buch »Warum Marx recht hat« wird Anfang März 2012 auf Deutsch bei Ullstein erscheinen. Die englische Ausgabe »Why Marx Was Right« (Yale University Press 2011) ist bereits im Buchhandel erhältlich.

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ie oft haben wir es zu hören bekommen? Marxismus ist nicht relevant. Er führt nur zu Diktatur und Tyrannei. Er macht den Menschen zu einem Rädchen im System. Er ignoriert die menschliche Natur. Er ist utopisch. Er ist antidemokratisch und gewaltätig. Außerdem will er alle Bereiche des Lebens durch den Staat bestimmen lassen. Terry Eagletons neues Buch »Warum Marx recht hat« begegnet all diesen Vorurteilen mit Witz und Leidenschaft. Es ist keine todernste Verteidigung der Ideen von Karl Marx, gespickt mit langen Zitaten. Vielmehr ist es ein undogmatisches, aber keineswegs unparteiisches Buch. Auf entwaffnende Weise leitet Eagleton sein Buch mit den Worten ein: Wie großartig wäre es, wenn der Marxismus überflüssig wäre. Das würde nämlich bedeuten, dass der Kapitalismus überwunden ist und die Menschen sich mit anderen Dingen beschäftigen können. Eagleton betont, dass nicht Marxisten Utopisten sind, sondern diejenigen, die glauben, der Kapitalismus »funktioniere«. Selbstverständlich lobte auch Marx die Wunder des Kapitalismus. Aber dessen größtes

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»Junge Akademiker sind ein wichtiger Teil der Bewegungen« Studiengebühren, übervolle Hörsäle, fehlende Wohnheimplätze – an den Hochschulen liegt einiges im Argen. Im Dezember will die Linksfraktion mit Studierenden über Möglichkeiten zur Gegenwehr diskutieren. Nicole Gohlke gibt einen ersten Einblick ins Programm der Konferenz »Krise. Bildung. Zukunft.«

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icole, die Universitäten platzen aus allen Nähten: Durch die doppelten Abiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflicht haben in diesem Herbst so viele junge Leute wie lange nicht mehr ein Studium begonnen. Wie haben die Hochschulen auf diese Situation reagiert? Auf zwei Arten: Zum einen gab es schon vor diesem Wintersemester einen enormen Anstieg von Zugangs- und Zulassungsbeschränkungen. Mittlerweile unterliegen mehr als die Hälfte aller Studiengänge örtlichen Beschränkungen. Manche Hochschulen haben bei bestimmten Studiengängen den Numerus clausus um eine ganze Note hochgesetzt. Das hat dazu geführt, dass eine Menge Studienbewerberinnen und -bewerber im Wintersemester keinen Studienplatz bekommen hat. Etwa 50.000 junge Leute sind davon betroffen. Zum anderen gehen die Universitäten an die Grenze ihrer Kapazitäten. Das führt bei den ohnehin schon unterfinanzierten Hochschulen zu katastrophalen Lehr- und Lernbedingungen. Das fängt beim miserablen Betreuungsverhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden an und geht bis zum bekannten Raummangel weiter: Vorlesungen werden in Sporthallen, Kinosäle oder auch Kirchen ausgelagert. Seminare werden spät am Abend oder samstags angeboten, was eine extreme Belastung für die Lehrenden bedeutet.

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ber diese Themen werdet ihr bei Studierendenkonferenzen sprechen, die die Linksfraktion organisiert. Ihr habt ja schon mehrere solcher Konferenzen veranstaltet. Was ist denn das Besondere in diesem Jahr? Der gesellschaftliche Kontext hat sich verändert. Die Konferenz findet inmitten einer enorm zugespitzten Wirtschaftskrise statt.

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Nicole Gohlke

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hr werdet auch eine Veranstaltung machen, in der ihr der Frage nachgeht, weshalb die Wirtschaftswissenschaften in der gegenwärtigen Krise versagen. Genau, diese Frage wollen wir gleich zur Eröffnung der Konferenz stellen. Sie soll die Veranstaltung in gewisser Weise in die momentane Wirtschaftskrise einbetten. Die Referentin ist Sahra Wagenknecht.

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Nicole Gohlke ist hochschulpolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag.

★ ★★ DIE KONFERENZ Krise. Bildung. Zukunft. – Die Studierendenkonferenz der Linksfraktion findet am 11. Dezember im Bundestag in Berlin statt. Weitere Infos und Einladung unter: www.linksfraktion.de/termine/krise-bildung-zukunft

Außerdem hat es in diesem Jahr erstmals auf internationaler Ebene Widerstand gegen die Auswirkungen der Krise gegeben. Junge Akademikerinnen und Akademiker, aber auch Studierende, waren ein wichtiger Teil der Bewegungen – gerade in Griechenland, Großbritannien und Spanien. Über deren Erfahrungen wollen wir reden und daraus Rückschlüsse für die Situation in der Bundesrepublik ziehen. Daher haben wir Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Ausland zu unserer Konferenz eingeladen.

elche Themen werden noch diskutiert? Es soll verschiedene Workshops geben, bei denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Chance haben, sich relativ intensiv mit einem Thema zu befassen. Einer dieser Workshops wird Gentrifizierung und das Recht auf Stadt thematisieren. Denn gerade hier erleben wir ja, dass Studierende einerseits aktiver Teil der Proteste sind, aber andererseits – ähnlich wie Künstlerinnen und Künstler – den Prozess ungewollt verschärfen. Wir wollen daher die Frage aufwerfen: Sind sie Teil des Problems oder der Lösung? Außerdem möchten wir darüber diskutieren, wie es zu einer sozialen Öffnung der Hochschulen kommen kann, gerade angesichts von Maßnahmen wie der Bologna-Reform, der Einführung von Studiengebühren oder den gegenwärtigen Zulassungsbeschränkungen. Ein weiteres Thema wird die Hochschule im Kapitalismus sein. Wir wollen versuchen zu umreißen, wie groß die Spielräume für Reformen an der Hochschule unter kapitalistischen Bedingungen sind. Außerdem werden wir fragen, wie sehr die Hochschule im Kapitalismus eine bestimmte Rolle einnimmt und Bildungsinhalte besonderen Restriktionen unterliegen. Die Fragen stellte Marcel Bois


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marx

is muss 2012 [

Kongress 17. BIS 20. MAI

]

Berlin ND-Haus

Franz-Mehring-Platz 1 Ostbahnof / F-Hain


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