marx21 Ausgabe Nummer 24 / 2012

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marx 21

Nr. 24 | Februar / März 2012 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de

Magazin für internationalen Sozialismus

Gilbert Achcar

zieht eine Bilanz des Arabischen Frühlings

Boris Kagarlitsky berichtet vom Aufstand gegen Putins Russland

Christine Buchholz über linke Stimmungen und verpasste Chancen

Warum Merkels »Euro-Rettung« die Krise nicht löst und die Demokratie gefährdet



Ein Generalstreik legte am 30. Januar ganz Belgien lahm. Er beeinträchtigte auch den EU-Gipfel, der am selben Tag in Brüssel stattfand. Die Streikenden wehrten sich gegen die Kürzungspolitik der Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Elio Di Rupo. Die hatte in vorauseilendem Gehorsam bereits vor dem EU-Gipfel zahlreiche Sparmaßnahmen beschlossen. Schon in den Wochen zuvor kam es zu großen Demonstrationen, so am 2. Dezember, als 80.000 Menschen lautstark gegen die Kürzungspolitik protestierten. Am Tag des Generalstreiks fuhren im ganzen Land keine Busse und Bahnen mehr, in Antwerpen streikten die Hafenarbeiter und in den Autowerken von Audi und Volvo standen die Bänder still. Da auch der Brüsseler Flughafen bestreikt wurde, mussten Europas Staatsund Regierungschefs eine Luftwaffenbasis 40 Kilometer südlich von Brüssel anfliegen, um zum Gipfel zu gelangen.

Liebe Leserinnen und Leser,

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ier Tage vor Drucklegung dieser Ausgabe herrscht reges Treiben in den Redaktionsräumen: Wir feilen an den letzten Texten, telefonieren säumigen Autoren hinterher und begutachten die ersten Layoutfahnen. Plötzlich passiert es: Erst friert der Bildschirm ein, dann verabschiedet sich der ganze Computer – und reißt das fertig abgetippte Interview mit Andreas Wehr mit in den Datenabgrund. Der Text hat, nochmals abgetippt, doch den Weg ins Heft gefunden (Seite 30), die Tagesleistung eines Redakteurs war aber unwiederbringlich dahin. So etwas kann passieren. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es passiert, steigt natürlich, wenn man mit völlig veraltetem Equipment arbeitet – so wie wir. In solchen Momenten wird uns schmerzlich ins Gedächtnis zurückgerufen, dass zwischen unserem Anspruch, ein ansprechend gemachtes Magazin herauszubringen, und den dazu nötigen Mitteln eine Kluft liegt. Genau deshalb hatten wir euch zu Beginn des vergangenen Jahres gebeten, uns finanziell zu unterstützen und die Spendenkampagne »10.000 Euro für marx21« gestartet. Die erste Zwischenbilanz ist erfreulich: 3205 Euro habt ihr bisher auf unser Konto überwiesen. Dafür herzlichen Dank! Das ist sehr hilfreich – aber noch mehr Spenden wären selbstverständlich noch hilfreicher. Wir hätten gerne eine neue Datenverwaltung, schnellere Computer, bessere Vertriebsstrukturen und aktuellere Software. Das ist eine lange Liste. Wir hoffen, sie in diesem Jahr mit eurer Hilfe weitgehend abarbeiten zu können. Alle weiteren Infos zur Spendenkampagne findet ihr auf der Seite 95. Ansonsten gibt es erfreuliches zu berichten: Unser Praktikant Martin Haller, den wir euch in der vorletzten Ausgabe vorgestellt hatten, verstärkt auch nach Ende seines Praktikums unser Redaktionsteam. Auf Seite 16 könnt ihr seinen Kommentar zur »Kredit-Affäre« des Bundespräsidenten lesen. Auch ein Großteil der Bildunterschriften in diesem Heft sind Martins Werk. Ein herzliches Dankeschön an Karsten Schmitz, der die Illustration auf der Titelseite gestaltete. Nachdem wir viele positive Rückmeldungen auf den von ihm gezeichneten Sarrazin-Titel (Heft 17) erhalten hatten, haben wir mit ihm gemeinsam unsere Interpretation von Angela Merkels Rolle bei der Euro-Rettung entwickelt. Viele Autoren dieser Ausgabe haben eines gemeinsam: Sie werden im Mai bei unserem Kongress »Marx is’ muss« dabei sein. Worüber sie dort sprechen werden, haben wir jeweils bei ihren Artikeln vermerkt. Weitere Informationen zum Kongress findet ihr auf Seite 68. Wir würden uns freuen, wenn auch ihr dabei seid. Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

© Han Soete / flickr.com / CC BY- ND

Belgien

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Schwerpunkt: Antifaschismus

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Iran am Rande eines Krieges

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Schwerpunkt: Die Eurokrise

Aktuelle Analyse

Schwerpunkt: Antifaschismus

TITELTHEMA: Die Eurokrise und die Linke

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»Die gesellschaftliche Stimmung ist links« Interview mit Christine Buchholz

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»Das V-Leute-System gehört beerdigt« Interview mit Christoph Ellinghaus

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Iran: Am Rande eines Krieges Von Frank Renken

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Dresden: Den Erfolg ausbauen Von Azad Tarhan

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Aufhebung der Immunität: »Ein fatales Signal« Von Janine Wissler

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Dr. Aly oder: Wie ich lernte, die Linke zu hassen Von Arno Klönne

Unsere Meinung 16

BILD dir ein, du wärst Präsident Kommentar von Martin Haller

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Friedrich der Große: Der Durchregierer Kommentar von Marcel Bois

neu auf marx21.de

Bildung für alle Seit Monaten protestiert Chiles Jugend für kostenlose Universiäten. Ein Gespräch mit der Studierendenaktivistin Camila Vallejo. 4

Ein Blick lohnt sich:

www.marx21.de

»Deutschland exportiert die Agenda 2010« Interview mit Andreas Wehr

34 Thesen zur Krise: Der Fehler liegt im System Von Volkhard Mosler 37 Europa-Debatten: Vorwärts und doch vergessen... Von Stefan Bornost Internationales 42

Russland: Ein Patt mit Putin Von Boris Kagarlitsky


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Russland: Ein Patt mit Putin 45

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Arabischer Frühling: »Es fehlt die Alternative« Interview mit Gilbert Achcar

Kontrovers

Als die Monster menschlich wurden

Syrien: Wie hältst du es mit dem Regime?

Netzwerk marx21 64 Serie: Was will marx21 (10) Wie kann eine alternative Wirtschaft aussehen?

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Die Geschichte hinter dem Song: Florcence Reece »Which side are you on?« Von Yaak Pabst

Rubriken 68

Marx is’ muss 2012 Interview mit Veronika Hilmer

Kultur 52 Kuba: Sonne, Strand und Sozialismus? Beiträge von Edgar Göll und Lucia Schnell 58 Diskussion: Grundeinkommen für alle? (2) Von Ralf Peter Engelke und Ronald Blaschke

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Anthropologie: Wo bleibt der Mensch? Interview mit Christoph Jünke

74 Horrorfilm: Als die Monster menschlich wurden Von Frank Eßers 78 Klassiker des Monats: Paul Frölich: Rosa Luxemburg Von Lisa Hofmann

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 40 Weltweiter Widerstand 62 Neues aus der LINKEN 67 Was macht das marx21-Netzwerk? 82 Review 91 Quergelesen 92 Preview INHALT

48 Syrien: Wie hältst du’s mit dem Regime? Beiträge von Werner Pirker und Christine Buchholz

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 6. Jahrgang Nr. 24, Februar/März 2012 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller, Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Natalie Dreibus, Lisa Hofmann, Tobias Paul (Neues aus der Linken), Michael Ferschke, Veronika Hilmer (Was will marx21), David Jeikowski (Weltweiter Widerstand / CD des Monats), Win Windisch (Quergelesen) Mitarbeit an dieser Ausgabe Carla Assmann, Nils Böhlke, Michael Bruns, Christine Buchholz, Jens Fischer, Nicole Gohlke, Werner Halbauer, Carolin Hasenpusch, Klaus-Dieter Heiser, Brian Janßen, Sven Kühn, Volkhard Mosler, Rosemarie Nünning, David Paenson, Jonas Rest, Marijam Sariaslani, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Christoph Timann, Janine Wissler, Luigi Wolf Übersetzungen David Meienreis, David Paenson Infografiken Karl Baumann Layout Peter Kahlad, Yaak Pabst Covergestaltung Yaak Pabst, Karsten Schmitz Redaktion Online Frank Eßers, Jan Maas (verantw.), Leon Wagner Aboservice-Team Freek Blauwhof, Phil Butland, Stefan Hanczuch, Renate Heitmann Druck Druckhaus AJSp, Ateities g. 10, LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 - 89 56 25 11 Fax: 030 - 56 82 28 84, Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank | Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21- Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im April 2012 (Redaktionsschluss: 21.03.)

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David Paenson, ÜBERSETZER

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an muss das Rad ja nicht jedes Mal neu erfinden. Für unsere aktuellen Analysen aus der ganzen Welt greifen wir gelegentlich auch mal auf gute Texte aus anderen Publikationen zurück. Häufig sind die allerdings auf Englisch und müssen übersetzt werden. Diese Aufgabe übernimmt bei uns unter anderem David Paenson. Als Muttersprachler ist es ihm ein Leichtes, englische Texte ins Deutsche zu übertragen. Auch an längere Werke traut er sich heran: So verdanken wir ihm die Übersetzung unserer Aboprämie »Die revolutionären Ideen von Karl Marx«. Politisiert hat sich David in seiner Heimat England. In seiner Jugend las er »Der Entfremdungsbegriff bei Marx« von István Mészáros. Seither ist er davon überzeugt, dass es eine Welt jenseits des Kapitalismus geben kann und muss. Noch größere Bedeutung für seine politische Orientierung hatte jedoch das Werk des britischen Marxisten Tony Cliff. Dessen Analysen des Stalinismus in der Sowjetunion und des »Wirtschaftswunders« im Westen veranlassten David dazu, sich der von Cliff gegründeten Socialist Workers Party anzuschließen. Dort lernte er, wie Theorie und Praxis voneinander leben: »Wir gingen in unserem Stadtteil von Tür zu Tür, um eine hervorragende Wochenzeitung zu verkaufen und zugleich einen Mieterstreik zu organsieren.« Ein weiterer wichtiger Wegweiser auf Davids politischer Landkarte ist die Solidarität mit den Palästinensern. Er ist überzeugt, dass ein langfristiger Frieden nur durch die Schaffung eines gemeinsamen demokratischen Staats von Israelis und Palästinensern möglich ist. Seine Affinität für Themen des Nahen Ostens kam auch dieser Ausgabe zugute. So übersetzte David ein Interview mit Gilbert Achcar über die arabische Revolution. Ihr findet es auf Seite 45.

Das Nächste Mal: Carla Assmann


Zum Kommentar »Eine scheinheilige Debatte« von Carolin Hasenpusch (Heft 23) Sehr erfreulich ist es, dass Drogenpolitik auch in unserer Partei endlich ein Thema ist. Die Schlussfolgerungen, die Carolin Hasenpusch in ihrem Beitrag zieht, sind logisch und völlig richtig. Doch zwei Punkte stoßen mir etwas »seltsam« auf: So kritisiert sie die Position, die Cannabis angeblich als »subkulturellen« Lebensstil feiert und spricht von »Hobby-Kiffern«, die den Sachverhalt ausklammern würden, dass »Drogensucht« Teil unserer Gesellschaft ist. Mal ganz davon abgesehen, dass Cannabiskonsum heutzutage wohl kaum noch als »subkultureller« Lebensstil gefeiert wird, da er ein weit verbreiteter Teil der Reproduktionskultur geworden ist und in der Tat längst den »Weg in die Mitte« unserer Gesellschaft gefunden hat: Was soll damit ausgesagt werden? Und was sind bitteschön »Hobbykiffer«? Gibt es etwa auch »professionelle, ernsthafte« Cannabisgebraucher? Nein, natürlich nicht. Aber zweifellos gibt es Cannabisgebraucher, die aus ihrem »Laster« so etwas wie ein »Hobby« gemacht haben. Dies gilt insbesondere für den Aspekt des Anbaus zum Eigengebrauch. Was ist daran kritikwürdig? Hobbys gibt es bekanntermaßen sehr viele. Solange durch sie niemand anderem ein Schaden zugefügt wird, dürfte dies ja wohl für Linke kein Problem sein. Wenn schon die Droge Cannabis und deren Gebraucher besonders hervorgehoben wer-

In eigener Sache Leider ist uns in der vergangenen Ausgabe ein Fehler unterlaufen. Das Autorenfoto zum »Klassiker des Monats« auf Seite 78 zeigt nicht wie geplant Tobias Paul. Die abgebildete Rosemarie Nünning war zwar auch Autorin des Heftes, jedoch an ganz anderer Stelle. Wir bitten, diesen Irrtum zu entschuldigen.

den, dann kann dies nur unter dem Aspekt geschehen, dass Cannabis seit langem die mit Abstand am weitesten verbreitete illegalisierte Substanz ist und dass deren Gebraucher deswegen seit Jahrzehnten den höchsten Prozentsatz an Opfern der Prohibition darstellen! Gerade Linke sollten diesen Sachverhalt hervorheben und Cannabiskonsumenten als potentielle Bündnispartner im Hinblick auf positive Veränderungen der gegenwärtig herrschenden inhumanen Drogenpolitik wahrnehmen. Der zweite Punkt meiner Kritik betrifft die in meinen Augen zweifelhafte Annahme, von der Carolin Hasenpusch anscheinend ausgeht, dass eine »drogenfreie Gesellschaft« positiv und erstrebenswert sei. Wie sonst ist es zu verstehen, wenn sie schreibt, dass »eine Legalisierung nicht automatisch als Garant für eine drogenfreie Gesellschaft angesehen werden kann«? Inhaltlich ist diese Aussage selbstverständlich richtig. Doch beantwortet das noch nicht die Frage, ob eine »drogenfreie Gesellschaft« überhaupt realistisch sein kann – meines Wissens nach gab es so etwas noch nie – und ob sie erstrebenswert ist. Denn wir dürfen doch nicht vergessen, dass gerade auch die Forderung nach einer »drogenfreien Gesellschaft« im Versuch der Realisierung – durch den »War on drugs« – unzählige sinnlose Opfer gekostet hat. Martin Rediker, Lippstadt

Zum Artikel »Nazis schlagen statt Daten jagen« von Jan Maas (Heft 23) In seinem insgesamt guten Artikel argumentiert Jan Maas: »Die Forderung nach einem NPD-Verbot ist zwar richtig, aber auch kritisch zu bewerten«. Das sehen wir anders. Selbstverständlich sind Nazis Verbrecher, die kein Recht auf Redefreiheit verdienen, aber der Staat ist für uns kein Bündnispartner, an den wir appellieren können. Auch Jan Maas zeigt in seinem Artikel, dass der kapitalistische Staat letztendlich eher die Nazis schützt als die Linken, die das System infrage stellen. Schon jetzt spricht CSU-Generalsekretär Dobrindt über ein Verbot sowohl der LINKEN als auch der Nazis. Auch das Verbot einer Nazipartei im Jahr 1951 diente vor allem als Vorspiel für das KPD-Verbot von 1956. Ende letzten Jahres hat die rassistische English Defence League (EDL) versucht, in London zu demonstrieren. Ein Teil der Antifa-Bewegung forderte ein Verbot – mit dem Ergebnis, dass alle Demonstrationen für einen Monat verboten wurden, einschließlich der der

Occupy-Bewegung. Die EDL-Versammlung wurde dann doch erlaubt und konnte nur mit einer jetzt illegalisierten Antinazidemo verhindert werden. Staatliche Verbote sind nicht nur »kritisch zu bewerten«, sondern im besten Fall eine Ablenkung, meist jedoch ein Hindernis im Kampf gegen Nazis. Wer glaubt, eine Unterschrift reicht, um die NPD zu stoppen, ist oft schwerer auf die Straße zu bringen. Viele sind zu Recht empört, dass die NPD Staatsgelder bekommt, und fordern deshalb ihr Verbot. SozialistInnen sollten mit diesen Leuten reden und sie für Massenaktionen gegen Nazis gewinnen. Aber unsere Forderung lautet nicht Staatsverbot, sondern Aktionen wie die Demonstrationen und Blockaden, mit denen die Nazis tatsächlich gestoppt werden können. Phil Butland, Berlin / Lisa Hofmann, Darmstadt

Zur DVD-Besprechung von »Nordlicht« von Marcel Bois (Heft 23) Die Besprechung der Krimireihe »Nordlicht« fand ich trotz Kritik immer noch erheblich zu positiv. Die Macher dieses modern aufgemachten Krimis haben sich erstaunlich weit von jeder gesellschaftlichen Erklärung für das Begehen von Verbrechen entfernt. Am Ende bleibt nur die durchgedrehte Psyche einer Einzelperson. Damit wurde in dieser Serie ein neuerer Strang skandinavischer Krimis, den Kitzel vor allem aus der besonderen Gewalttätigkeit und Irrationalität von Morden zu ziehen, noch übertroffen. Sie reflektieren das Bemühen der herrschenden Klasse, Verbrechen von gesellschaftlichen Ursachen abzukoppeln. Die wirkliche Tradition skandinavischer Krimis haben Per Walhöö und Maj Sjövall in den 1960er und 1970er Jahren begründet, mit Kommissar Beck und seiner Crew (deutlich verflacht in der Fernsehadaption). Ihre Fälle haben sie in das System der langen und »versumpfenden« sozialdemokratischen Ära eingebettet. Sie kritisierten die kapitalistische Wirtschaft, zynische Politiker und den gesamten Polizeiapparat. Dieser Faden wird mit »Kommissarin Lund« und Stieg Larssons »Millennium«-Trilogie wieder aufgegriffen. Der Rest ist oft nur noch Effekthascherei mit reaktionären Implikationen. Rosemarie Nünning, Berlin

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

LeserbriefE

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©Foto: Michael Bruns / Künstlerin: Christel Spanke

AKTUELLE ANALYSE

»Die gesellschaftliche Stimmung ist links« Das vergangene Jahr war kein gutes für DIE LINKE. Nun soll 2012 alles besser werden. Wir fragten Vorstandsmitglied Christine Buchholz, wie die gebeutelte Partei wieder in die Offensive kommen kann. Ein Gespräch über Krisenproteste, Anti-Parteien und Verfassungsfeinde in der CDU

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hristine, du bist eine von 27 Bundestagsabgeordneten der LINKEN, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Hältst du tatsächlich nichts von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung? DIE LINKE will nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Mittlerweile sind wir ja gewohnt, dass das Parlament Entscheidungen gegen die Mehrheit der Bevölkerung trifft. Neuerdings hält es die Regierung aber nicht einmal mehr für nötig, das Parlament zu befragen – die Abstimmung über den Euro-Rettungsschirm wurde vom Verfassungsgericht erzwungen. Ganz zu schweigen von der Wirtschaft oder weiter Teile des Staatsapparats. Sie unterstehen überhaupt keiner demokratischen Kontrolle. Im Gegensatz zur Bundesregierung sind wir bereit, demokratische Rechte zu verteidigen. Wenn uns das schon verdächtigt macht, dann sagt das mehr über den Staat aus als über DIE LINKE. Überhaupt haben die Parteien, die die Bespitzelung der LINKEN verteidigen, ein sehr flexibles Verhältnis zur Verfassung. In den 1990er Jahren hat die Union beispielsweise – gemeinsam mit der SPD – das Grundrecht auf Asyl abgeschafft. Auch das bis dahin wie selbstverständlich angenommene verfassungsmäßige Verbot von Bundeswehreinsätzen außerhalb des Bündnisterritoriums der NATO haben sie außer Kraft gesetzt – mit der Weihe der obersten Richter in Karlsruhe. Schließlich ist auch noch das Grundrecht der Unverletzlichkeit der eigenen Wohnung ausgehebelt worden. Im Übrigen ist »Verfassungsschutz« ein irreführender Name. Wir haben es hier mit einem Inlandsgeheimdienst zu tun. Aber etwas Positives hat die Sache: Zum ersten Mal in seiner 50-jährigen Geschichte ist dieser Geheimdienst bei der Mehrheit der Bevölkerung in Misskredit geraten. In den 1980er Jahren konnte der Geheimdienst Linken einfach den Stempel »verfassungsfeindlich« aufdrücken. Das war ein Stigma und hat eingeschüchtert. Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz war Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die westdeutsche Linke im Kalten Krieg. Nun hat sich die Situation verändert. Es ist offensichtlich geworden, dass es nicht um den »Schutz« der Verfassung geht. Heute erkennen viele Menschen, dass der Inlandsgeheimdienst selbst die Freiheit be-

Christine Buchholz

Christine Buchholz ist Mitglied im geschäftsführenden Parteivorstand der LINKEN und friedenspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.

★ ★★ »MARX IS' MUSS«-KONGRESS 2012 Christine Buchholz spricht unter anderem zum Thema »Islamfeindlichkeit – der neue Rassismus?«

droht. Unter seinen Augen kann eine Nazibande über einen Zeitraum von zehn Jahren ungestört zehn Menschen hinrichten. Und nun kommen dieselben Leute an, und bezeichnen die LINKE als eine Bedrohung für die Bürger in diesem Land. Das nimmt ihnen doch kaum noch jemand ab. Auch mein eigenes Wahlkreisbüro im nordhessischen Schwalmstadt ist bisher fünf Mal angegriffen worden. Leider hat die »Beobachtung« meiner Aktivitäten durch den Staat nicht dazu beigetragen, die Täter ausfindig zu machen.

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aut Umfragen sagen 80 Prozent der Deutschen, dass die Occupy-Aktivisten mit ihrer Kritik an den Banken und den Regierungen recht haben. DIE LINKE versteht sich als Partei dieser Bewegung, verharrt aber nun schon seit Wochen bei sieben Prozent. Woher rührt dieser Widerspruch? Die gesellschaftliche Stimmung ist momentan links. Das sollte unser Ausgangspunkt sein. Der Zuspruch zu den Aktivitäten der Occupy-Bewegung ist ein Beleg dafür. Doch von der Sympathie für linke Ideen zur Selbstaktivität ist es manchmal ein großer Schritt. Occupy war ein wichtiger Impuls – trotzdem waren nur wenige Menschen direkt an der Bewegung beteiligt. Es gibt mehrere Studien über die Sicht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf die Krise. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass eine erhebliche Wut, Angst und Ohnmacht existiert, sich diese Wut aber nicht gegen klar definierte Adressaten richtet, sondern vor allem gegen korrupte Politiker. Sie bleibt deswegen hilflos. Zudem ist für viele die Krise noch nicht spürbar. Es scheint als wüte der Sturm woanders, in Griechenland etwa. Tatsache ist, dass die deutsche Wirtschaft momentan boomt, die Arbeitslosigkeit sinkt und daher von Seiten der Regierung auch keine großen sozialen Angriffe geplant werden. Das unterscheidet die Situation ganz klar von beispielsweise den Agenda-2010-Zeiten. Damals gab es mit Hartz IV und Gerhard Schröder klar umrissene Feindbilder, gegen die sich Aktivitäten und Gegenmobilisierungen richten konnten. Ohne solche Mobilisierungen hat es DIE LINKE schwer. Außerdem ist unser Bonus als neue Partei, die man wählt, um »die Etablierten zu ärgern«, mittlerweile aufgebraucht. Im Vergleich zur Piratenpartei

AKTUELLE ANALYSE

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wird DIE LINKE nun selbst als etablierte Kraft wahrgenommen. Gleichzeitig unternehmen die anderen Parteien und die Medien alles, um potenzielle Wähler, die an vielen Punkten mit uns übereinstimmen, abzuschrecken. In den letzten Jahren wurde die Partei entweder totgeschwiegen oder unter Feuer genommen.

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ber nun können wir ja nicht warten, bis sich die Bild-Zeitung entscheidet, DIE LINKE zu mögen... Nein, natürlich nicht. Wir können nicht auf die Gunst anderer hoffen, sondern müssen in der Lage sein, selber Gegenöffentlichkeit zu schaffen und Leute zu organisieren. Wir müssen einen Raum schaffen, in dem über die Hintergründe und Dimensionen der Krise diskutiert wird. Dort müssen wir deutlich machen, dass es eine Alternative zur Krisenpolitik der Regierung gibt. Wir sollten von den inspirierenden Beispielen des internationalen Widerstandes berichten und vor Ort lokale Kämpfe gegen Privatisierungen und für höhere Löhne unterstützen. Wo es keine Kämpfe gibt, auf die wir uns beziehen können, können wir ein eigenes Aktionsangebot schaffen. DIE LINKE muss die Partei werden, in und mit der Menschen aktiv werden können.

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tichwort Piraten: Es ist doch auffällig, dass sich das erfolgreichste Parteiprojekt des vergangenen Jahres als AntiPartei darstellt. Hat vielleicht einfach die Organisationsform »Partei« abgewirtschaftet? Schreckt sie viele derjenigen ab, die links aktiv werden wollen? Klar, »Partei« ist für die meisten erst einmal ein Schimpfwort. Das fußt auf den Erfahrungen mit dem Parteiensystem, mit zahlreichen gebrochenen Versprechen und der oftmals Aktivitäten abtötenden parteiinternen Kultur. Trotzdem: Wer sich politisch verbindlich organisiert und um Mehrheiten kämpft, bildet eine Partei. Die Frage ist jedoch: Was für eine Partei wollen wir? Parteien haben die Möglichkeit, über die parlamentarische Arbeit ein großes Publikum für ihre Ideen und Vorschläge zu erreichen. Ein Problem ist es allerdings, wenn die Tätigkeit im Parlament den Parteiaufbau und die Außenwendung ersetzt. Für DIE LINKE wäre dass tödlich, weil die Art von Gesellschaftsveränderung, die uns vorschwebt, sich gar nicht über das Parlament bewerkstelligen lässt. Davon ausge-

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Fraktion in Aktion: DIE LINKE gedenkt im Bundestag der Opfer des tödlichen Bombenangriffs auf zwei Tanklaster in Kundus

DIE LINKE sollte zur Selbstaktivität ermuntern

hend kommen wir zu einem Parteimodell, das sich stark von anderen unterscheidet. Wir wollen nämlich eine aktivistische und aktivierende Mitgliederpartei, die bundesweit und vor Ort wirkt, Menschen zur Selbstaktivität ermuntert und Bündnisse schließt, um real etwas anzustoßen. Eine solche Partei kann durchaus attraktiv sein.

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er SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat kürzlich Rot-Rot-Grün nach der kommenden Bundestagswahl eine Absage erteilt. Wie groß ist deine Enttäuschung? Zunächst einmal ist das ein Beleg dafür, dass Gabriel keinen wirklichen Politikwechsel will. Eine Neuauflage von RotGrün unter den Bedingungen der Krise würde da ansetzen, wo Gerhard Schröder im Jahr 2005 aufgehört hat. Außerdem meine ich: DIE LINKE sollte sich nicht über Konstellationen definieren, sondern offensiv begründen, warum eine starke LINKE in den Parlamenten ein Gewinn für Beschäftigte, Erwerbslose, Rentnerinnen, Rentner und


© Fraktion DIE LINKE / flickr.com / CC BY

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Studierende ist. Sie sollte erklären, dass sie gegen die Abwälzung der Krisenlast auf die Mehrheit der Menschen kämpft; dass sie für den Mindestlohn und gegen die Rente mit 67 ist; dass sie eine scharfe linke Kritik an der EU übt; dass sie verlässlich gegen den Krieg stimmt. Um diese Glaubwürdigkeit zu erhalten, muss DIE LINKE deutlich machen, dass sie sich nicht an einer Regierung beteiligen wird, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt und die Privatisierungen der Daseinsvorsorge oder Sozialabbau betreibt. Es gibt die weitverbreitete Hoffnung, dass Rot-Grün es anders machen wird als Schwarz-Gelb. Diese Hoffnung wird im Wahljahr 2013 wahrscheinlich noch stärker werden. Wir sind bereit, an geeigneten Punkten praktische Vereinbarungen für Aktionen zu treffen zum Beispiel im Kampf gegen Nazis oder für den gesetzlichen Mindestlohn. Wir sind, soweit es die Inhalte hergeben, für die Ein-

och einmal zurück zur LINKEN: Im Juni wird eine neue Parteiführung gewählt. Neues Personal – neues Glück? Wichtiger als eine Personaldebatte finde ich die Frage, warum es in letzter Zeit nicht so gut für uns gelaufen ist und welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen. DIE LINKE hat ein politisches Problem, kein technisch-handwerkliches. Wir haben zu spät auf die veränderten Rahmenbedingungen, die Feindseligkeit der Bürgerlichen und die Aufstellung von Rot-Grün als Opposition neben uns reagiert. Als die für uns selbstverständlich gewordenen Erfolge ausblieben, sind wir in die Innenwendung gerutscht. Da müssen wir jetzt raus. DIE LINKE hat es mit einer politischen Konstellation zu tun, die anders ist als vor der Bundestagswahl 2009. Damals gab es eine Große Koalition, die Grünen leckten noch ihre Wunden aus der Regierungszeit und wir standen als einzig wirkliche linke Opposition da. Jetzt sind die Grünen deutlich stärker und haben sich, genau wie die SPD, in der Opposition verbal radikalisiert. Es ist also objektiv schwerer – egal für welche Parteiführung. Zum einen sollten wir in die ideologische Debatte über die Krise eingreifen. Der Kapitalismus hat versagt. Mein Gefühl ist, dass wir hier mittlerweile wieder mehr Gehör bekommen. Zum zweiten sollten wir Ansätze von Bewegung und Widerstand aktiv aufnehmen. Aus einer solchen Aufgabenstellung ergibt sich auch das Profil für eine neue Führung. Es sollten Leute sein, die glaubwürdig diejenigen ansprechen können, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben und von Lohndumping betroffen sind. Es müssen Leute sein, die auf Aktivität und Widerstand orientieren, und gleichzeitig die Fähigkeit haben, die Partei zusammenzuhalten.

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er Parteivorstand hat kürzlich beschlossen, die Krisenproteste zu unterstützen. Nun befindet sich Deutschland aber nicht in der Krise, sondern im Aufschwung. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie lange nicht mehr. Wird da die Protestidee nicht schnell zu einer Totgeburt?

Wir haben hierzulande keine Generalstreikswelle wie in Griechenland, das ist offensichtlich. Doch die gewachsene Konkurrenzfähigkeit der deutschen Unternehmen wurde auf dem Rücken der Beschäftigten erkauft. Die Arbeiter und Angestellten leiden unter stagnierenden Löhnen, befristeten Arbeitsverträgen, Leiharbeit und Minijobs. Das Gefühl ist nach wie vor verbreitet, dass es in diesem Land sozial nicht gerecht zugeht. Und es ist eine Illusion zu glauben, dass sich Deutschland noch länger der Krise entziehen können wird. Wir haben im Winter bereits die Insolvenz des Druckmaschinenherstellers Manroland erlebt, eines weltweit agierenden Unternehmens. Dann kam die Pleite von Schlecker. Und nun will Nokia-Siemens Arbeitsplätze vernichten. Die Klassenkonfrontationen spitzen sich wieder zu. In dieser Situation kommen jetzt die Tarifrunden in der Metallbranche und im öffentlichen Dienst. Speziell ver.di steht – aufgrund der durch die Politik der Bundesregierung ausgetrockneten öffentlichen Kassen – unter Druck. Wir wissen nicht, wie sich die Arbeitgeber verhalten werden und ob die Tarifrunden eskalieren. Aber eines ist klar: Die Debatte darüber, warum wir in einem System, das enormen Reichtum produziert, immer mehr schuften müssen und trotzdem viele in Armut leben, wird bleiben. Die internationalen Erfahrungen können eine Inspiration sein. Interessant ist die große Resonanz auf die Veranstaltungstour der chilenischen Studentenaktivistin Camila Vallejo. Hunderte quetschten sich in die Hörsäle, um ihr zuzuhören. An einem Monatagabend Ende Januar kamen in Berlin 150 Personen zu einer Veranstaltung, um die ägyptische Revolutionärin Ola Shahba anzuhören. Hier drückt sich doch das Bedürfnis aus, vom internationalen Widerstand zu hören und zu lernen. Wir wollen dazu beitragen, ihn nach Deutschland zu holen. So haben wir zum Beispiel beschlossen, uns am internationalen Aktionstag gegen die Krisenauswirkungen zu beteiligen. Er findet am 12. Mai statt, dem Jahrestag der Besetzung der Puerta del Sol in Madrid. Auf diese Weise wollen wir Solidarität mit den Bewegungen in anderen Ländern wie Chile oder Griechenland üben. Die Fragen stellte Stefan Bornost

AKTUELLE ANALYSE

heit in der Praxis, nicht für die Bildung prinzipienloser Regierungskoalitionen.

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AKTUELLE ANALYSE

Am Rande eines Krieges Der Westen beschließt Sanktionen gegen den Iran. Angeblich soll das Land so daran gehindert werden, Atombomben zu bauen. Doch ginge es wirklich darum, würden USA und EU ganz anders handeln Von Frank Renken

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ie Außenminister der EU-Staaten haben ein Embargo gegen den Iran beschlossen. Die Einfuhr von Erdöl und petrochemischen Produkten aus dem Land am Persischen Golf soll zum 1. Juli gestoppt werden. Auch die Konten der iranischen Zentralbank werden eingefroren. Bundesaußenminister Guido Westerwelle behauptet, dass so »die Finanzquellen des iranischen Atomprogramms ausgetrocknet werden«. Doch vor allem hat mit diesem Schritt der seit langem schwelende Konflikt zwischen dem Westen und dem Iran eine neue gefährliche Stufe erreicht. Ausgangspunkt für die neuerliche Eskalation war eine über Wochen in aller Öffentlichkeit geführte Debatte der israelischen Regierung, ob und wie der Iran militärisch anzugreifen sei. Der im November vorgelegte Bericht der internationalen Atomenergiebehörde IAEA wurde in den deutschen Medien dann als eine Rechtfertigung für die aggressive Haltung der Regierung Netanjahu präsentiert. Der Tenor lautete: Der Iran habe die Welt getäuscht und heimlich sein Programm zum Bau von Atombomben fortgeführt. Das Land stehe an der Schwelle zur Fähigkeit, Israel und andere Staaten auszulöschen. Die von der EU beschlossenen Sanktionen gegen den Iran wurden mit dem IAEA-Bericht begründet. Bei genauem Hinsehen gibt der jedoch nicht viel Neues her. Jan van Aken, Bundestagsabgeordneter der LINKEN, stellt fest: »Fast alle Hinweise und Indizien, die der Bericht benennt, beziehen sich auf ein mögliches Atomwaffenprogramm vor 2003. Dies deckt sich mit den Informationen, die ich persönlich bei einem Gespräch in der IAEA im September 2011 bekommen habe (...), dass Teheran 2003 sein Atomwaffenprogramm eingestellt hat.« Auch das Pentagon teilt diese Auffassung. US-Verteidigungsminister Leon Panetta unterstrich noch Anfang Januar: Der Iran arbeite

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wohl daran, Nuklearstreitmacht zu werden, aber nur insofern, als dass er die Fähigkeit und das Know-how entwickelt, gegebenenfalls innerhalb weniger Monate einen Nuklearsprengkopf zu bauen. Für konkrete Maßnahmen zur Anreicherung von 90-prozentigen Uran oder zur Herstellung von Plutonium, den technischen Voraussetzungen für den Bau der Bombe, gibt es keinen Beleg. Das heißt, der Iran arbeitet auf einen Zustand hin, in dem sich auch Japan oder Deutschland befinden. Die Diskussion um die iranische Atombombe ist Teil einer Angstkampagne, die den Boden für eine neue imperialistische Aggression im Nahen Osten bereiten soll. So titelte Bild am 2. Januar: »Atomprogramm, Raketen-Tests, See-Blockade: Will Iran jetzt Krieg?« Weiter hieß es in dem Blatt: »Die Mullahs in Teheran verschärfen ihre Parolen gegen den Westen.« Schon am 30. November hatte Bild in dicken Lettern gemeldet: »Iran plant Anschläge in Deutschland«. Die Botschaft ist klar: Es ist besser, einen von irrational agierenden muslimischen Fanatikern geführten Iran mit kriegerischen Mitteln zu stoppen, bevor »die Mullahs« selbst über die Fähigkeit verfügen, einen Krieg mit Raketen und Atomwaffen zu führen. Bild spitzt dabei nur zu, was auch seriösere Medien suggerieren. Auch dort heißt es, die islamische Republik Iran werde von einer irrational agierenden Gruppe muslimischer Fanatiker geführt. Die Regierung von Präsident Mahmud Ahmadinedschad rüste sich auf und wolle, sobald die nukleare Erstschlagskapazität erreicht sei, einen Krieg gegen Israel und andere Länder vom Zaun brechen. Keine Frage: Die islamische Republik Iran ist eine Diktatur, wie auch viele der Verbündeten des Westens in der Region. Aber weder handelt die Regierung irrational, noch ist das Land so finster mittelalterlich, wie von den Medien vermittelt. Viel mehr durchleb-


te der Iran seit Beginn der 1990er Jahre einen Prozess der Liberalisierung, der sich nicht besonders von der grundlegenden Entwicklung im Rest der Welt unterschied. Im Jahr 1989 wurde mit Akbar Haschemi Rafsandschani ein Präsident gewählt, unter dem die Wirtschaft auf den freien Markt hin orientiert wurde. Er öffnete das Land für ausländische Konsumelektronik. Gegen die Anfeindungen von Klerikern wehrte er sich mit den Worten: »Warum solltest du dir selbst Dinge verbieten, die Gott erlaubt? (…) Askese und Vorenthaltung des heiligen Konsums bringt Entzugserscheinungen mit sich und erzeugt Antriebsarmut bei Produktion, Arbeit und Entwicklung.« Rafsandschanis Familie profitierte am meisten von den Privatisierungen. Das Entstehen einer neuen Schicht von Kapitalisten stieß auf den Widerstand der geistlichen Führung des Landes. Sie machte gegen Rafsandschani mobil und propagierte die Bewahrung der »islamischen Werte«. Der Angriff schlug fehl, da die Verstädterung den konservativen Werten mehr und mehr die Basis entzog. Im Jahr 1996 erreichte der Anteil der Frauen an den Universitäten 40 Prozent. Laut einer Umfrage aus jenem Jahr schauten nur 6 Prozent der jungen Fern-

sehzuschauer religiöse Programme an. 86 Prozent der Befragten gaben an, nicht täglich zu beten. Die Folge war, dass im Jahr 1997 der Reformer Mohammad Chatami unter riesigen Erwartungen zum Präsidenten gewählt wurde. Es wurde einfacher, kritische Zeitungen, Bücher und Filme zu verbreiten. Studenten- und Frauenorganisationen entstanden. Im Jahr 1999 explodierte eine Studierendenbewegung, die mehr demokratische Freiheiten forderte. In der herrschenden Klasse verlor Chatami an Boden. Die Fortsetzung des Privatisierungskurses und die damit einhergehenden Lohn- und Arbeitsplatzverluste minderten zugleich seine Unterstützung unter Arbeitnehmern. Bis zum Jahr 2005 eskalierte eine Serie von Streikbewegungen, teilweise verbunden mit der Bildung unabhängiger Gewerkschaften. Nun schlug die Stunde der neokonservativen Strömung unter Ahmadinedschad, der die Präsidentschaftswahl 2005 gewann. Der herrschenden Klasse versprach er die Stabilisierung ihrer Herrschaft. Den Armen versprach er Brot. Um sich kämpferisch zu präsentieren, schwang er Parolen gegen den USImperialismus. Tatsächlich öffnete er Armeeangehörigen die Korridore zu Macht und Wirtschaft, insbesondere den Offizieren aus den so genannten

© Margo Conner / flickr.com

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Frank Renken arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag zum Thema internationale Politik.

AKTUELLE ANALYSE

In den Medien laufen die Kriegsvorbereitungen. Opfer einer Intervention wäre vor allem die iranische Zivilbevölkerung

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© UK Ministry of Defence / flickr.com / CC BY-NC

sische Kriegsschiffe – ohne jede Gegenwehr des Iran. US-Präsident Barack Obama hatte die iranische Führung wissen lassen, dass die Blockierung der wichtigsten Ölroute der Welt einen Kriegsgrund darstellen würde. Davor ist Teheran zurückgewichen. Der Iran ist eine Regionalmacht, die im afghanischen Westen oder auf benachbarte zentralasiatische Republiken Einfluss ausüben kann. Doch der geballten militärischen Stärke des US-Imperialismus hat das Land ohne direkte Hilfe durch andere imperialistische Großmächte nichts entgegenzusetzen. Umso gravierender ist es für Teheran, dass sich die EU nun mittels der beschlossenen Sanktionen aktiver denn je in die US-amerikanische und israelische Drohfront eingereiht hat.

Säbelrasseln am Persischen Golf. Der Flugzeugträger »USS Abraham Lincoln« passiert die Straße von Hormus. Der Iran droht mit einer Blockade der Meerenge

Revolutionsgarden. Ansonsten gingen die Privatisierungen weiter. Es entstand in den Jahren vor der Krise 2008 sogar eine Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt, ganz wie in den Ländern des Westens. Ahmadinedschad gab den Armen gar nichts, nur die Parolen gegen den US-Imperialismus blieben. Das Säbelrasseln aus Israel oder den USA kommt Ahmadinedschad gelegen, der dadurch seine in der Heimat ramponierte Glaubwürdigkeit als Mann der Armen und der Armee aufpolieren kann. Die aktuellen Angriffsdrohungen des Westens festigen daher gerade die Herrschaft jenes Mannes, den der Westen am meisten verteufelt. In den westlichen Medien ist es hingegen der Iran, der mit einem Angriff »droht«. Dabei handelt es sich um nichts anderes als Kriegspropaganda. Militärisch kann der Iran nicht im entferntesten mit den Großmächten mithalten. Das weiß auch Ahmadinedschad. Im Dezember drohte die iranische Führung lautstark, ein Ölembargo werde sie mit der Verminung der Meeresenge von Hormus beantworten. Doch als die EU das Embargo beschlossen hatte, geschah nichts. Ebenso verhallten die iranischen Drohungen, die Verlegung eines weiteren US-Flugzeugträgers in den Persischen Golfs mit militärischer Gewalt zu beantworten. Nun patrouillieren zwei US-Flugzeugträger mit 150 Kampfjets und Hubschraubern vor der iranischen Küste, sowie zusätzliche britische und franzö-

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Tatsache ist: Washington hat die Entwicklung der pakistanischen Atombombe hingenommen, ebenso die der indischen. Auch die unzähligen israelischen Atombomben stellen für die USA kein Problem dar, obwohl diese den Ausgangspunkt für das fatale nukleare Wettrüsten in der Region bilden. Das bedeutet, dass die US-Regierung kein grundsätzliches Problem mit der Existenz von Atombomben im Nahen Osten hat. Aber Washington hat ein Problem mit der iranischen Regierung. Man kann den Konflikt nur verstehen, wenn man das historisch gewachsene Verhältnis der beiden Staaten zueinander versteht. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Etablierung und Sicherung der Vorherrschaft über den Nahen Osten eine zentrale Achse der geopolitischen Strategie der USA. Wie auch heute ging es damals vor allem um das in der Region lagernde Erdöl. Erdöl ist kein Rohstoff wie alle anderen. Es ist ein »strategischer« Rohstoff. Bis in die 1960er Jahre hinein wurde der Bedarf der amerikanischen Wirtschaft aus heimischen Ölquellen gedeckt. Doch Europa und Japan waren seit jeher in hohem Maße auf importiertes Öl angewiesen. Die globale Dominanz der USA basierte auf ihrer Fähigkeit, den Zugang ihrer Verbündeten zur erdölreichen Region rund um den Persischen Golf zu sichern und die Sowjetunion dort herauszuhalten. Dafür setzten die USA alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein. So organisierte die CIA 1953 im Iran einen Staatsstreich gegen den populären Premierminister Mohammad Mossadegh, nachdem dessen Regierung die Erdölindustrie verstaatlicht hatte. Diese hatte sich bis dahin fast vollständig im Besitz der britischen Anglo-Iranian Oil Company befunden, der heutigen BP. Nach dem Putsch wurde der persische Schah wieder auf seinem Thron installiert – und mit ihm ein brutales Regime, das mit Hilfe eines riesigen Geheimdienstes und der ausgiebigen Anwendung der Folter jegliche Opposition unterdrückte. In den 1970er Jahren wurde die Zahl der politischen Gefangenen im Iran auf 20.000 geschätzt. Den USA bot das Regime unter dem Schah die gewünschte Stabilität. Es war neben Israel der zweite wichtige Bündnispartner im Nahen Osten. Die CIA


errichtete im Iran ihr Hauptquartier für die Region, in dem 24.000 »militärische Berater« tätig waren. Umso größer war der Schock für Washington, als im Jahr 1979 im Iran eine Revolution ausbrach und der Schah 1979 aus dem Land fliehen musste. Die US-Armee war in ihrer globalen Handlungsfähigkeit nur wenige Jahre nach der Niederlage in Vietnam eingeschränkt. Hilflos musste die US-Regierung mit ansehen, wie einer ihrer zentralen Pfeiler in der Region zusammenbrach. Während der iranischen Revolution flohen viele Manager aus dem Land. Arbeiterräte übernahmen die Kontrolle über einen Großteil der Betriebe der Erdölindustrie. Im Februar 1979 erklärte sich der aus dem Exil zurückgekehrte Ayatollah Khomeini zum Staatsoberhaupt. Seine Regierung sammelte hinter sich die iranischen Kapitalisten, die Mittelschichten, Kleinhändler und Teile des Klerus. Unter Khomeinis Führung wurde die Revolution zurückgerollt, die Arbeiterräte aufgelöst und Minderheiten unterdrückt. Doch für die US-amerikanische Regierung war das kein Grund zur Erleichterung. Denn Khomeini nahm die Sprache der Linken an, um sie zu besiegen. Dementsprechend attackierte er auch den US-Imperialismus. Khomeini-treue Studenten drangen in die USBotschaft in Teheran ein und nahmen das Personal über Monate als Geiseln. Die iranische Revolution führte den US-Strategen vor Augen: Ihr Land hat nur einen wirklichen Bündnispartner in der Region – Israel. Dieser Staat funktioniert für die USA wie ein hochgerüstetes, prowestliches Bollwerk in einer feindlichen Umgebung. Keine der anderen Regionalmächte darf so groß werden, dass sie die israelische Dominanz gefährdet. So stifteten die USA zwar den irakischen Diktator Saddam Hussein im Jahr 1980 dazu an, den Iran anzugreifen, um die neue islamische Republik zu schwächen. Allerdings versorgten sie hinter den Kulissen beide Seiten mit Waffen, damit der Krieg zu einer Schwächung möglichst beider Regimes führte. Dual containment hieß das im Militäramerikanisch – »doppelte Eindämmung«. Nachdem der Iran im Jahr 1987 den Krieg zu gewinnen drohte, intervenierten die USA offen auf Seiten des Irak. Die US-Marine schreckte nicht davor zurück, über dem Golf ein iranisches Passagierflugzeug mit hunderten Zivilisten an Bord abzuschießen. Dank der amerikanischen Hilfe konnte der Irak den Krieg schließlich 1988 für sich entscheiden – und wurde den USA in der Folge zu stark. Zwei Jahre später organisierten die USA eine internationale Kriegsallianz, um nun das Regime Saddam Husseins in Bagdad zu

attackieren. Hunderttausende Iraker fielen dem wochenlangen Bombardement zum Opfer. Es folgten jahrelange Sanktionen. Im Jahr 2003 beendete USPräsident George W. Bush das begonnene Unternehmen und befahl eine erneute Invasion des Irak, um das Regime Saddams endgültig zu stürzen.

Den USA geht es darum, dass Israel sein nukleares Monopol behält

★ ★★ »MARX IS' MUSS« -KONGRESS 2012 Frank Renken spricht zur Frage »Unterstützen Linke jede Bewegung gegen den Imperialismus?«

AKTUELLE ANALYSE

Ursprünglich hatte Bush Anfang des Jahrtausends auch den Iran zu einem seiner nächsten Angriffsziele erklärt. Genau wie den Irak bezeichnete er das Land als Teil einer »Achse des Bösen«. Sein Ziel war es, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks die Handlungsunfähigkeit des russischen Rivalen zu nutzen, um zu einer dauerhaften Verschiebung der geopolitischen Gewichte in der Region zu kommen. Es ging um die Etablierung gleich mehrerer US-amerikanischer Vasallenregime im Nahen Osten. Doch der Plan scheiterte am bewaffneten Widerstand im Irak und in Afghanistan. Neun Jahre nach Beginn des Krieges haben sich die USA nun aus dem Irak zurückgezogen, ohne ihre Kriegsziele erreicht zu haben. Das einzige Ergebnis ist die relative Stärkung des Iran. Genau das wollen die USA nun erneut »korrigieren«. Hierzu verfolgen sie gemeinsam mit ihren Verbündeten eine Doppelstrategie. Auf der einen Seite wird diplomatischer Druck aufgebaut und es werden Sanktionen beschlossen, die den Iran an seiner empfindlichsten Stelle, den Öleinnahmen, treffen sollen. Auf der anderen Seite wird bereits ein geheimer Krieg durchgeführt. Dazu gehört eine Mordserie an iranischen Wissenschaftlern, das Eindringen in iranisches Territorium mit Militärdrohnen und Cyberattacken gegen iranische Einrichtungen. Allesamt terroristische Methoden. Wenn es den USA oder Israel wirklich um die Atombombe ginge, dann würden sie Teheran ein naheliegendes Angebot machen: Im gesamten Nahen Osten eine atomwaffenfreie Zone einzurichten. Doch es ist nicht ihr Ziel, die Region von Atomwaffen frei zu halten. Es geht darum, dass Israel sein nukleares Monopol behält. Die Sanktionen der EU gegen den Iran werden die aggressive Haltung der israelischen Regierung nicht beschwichtigen. Sie gehen Hand in Hand mit der militärischen Aufrüstung der USA am Golf. Sie sind Teil einer Eskalation, die die Region gefährlich nah an den Rand eines weiteren Krieges bringt. Das Szenario des Irak der Jahre von 1991 bis 2003 könnte sich wiederholen: Erst wurde das Land durch Wirtschaftssanktionen und punktuelle militärische Aktionen geschwächt, dann folgte der Krieg. Es ist die Zivilbevölkerung, die in beiden Fällen den höchsten Preis dafür zu zahlen hat. ■

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UNSERE MEINUNG

Kredit-Affäre

BILD dir ein, du wärst Präsident Von Martin Haller

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ie Frage muss erlaubt sein: Warum veranstaltet die Bild, bekanntlich ein konservatives Blatt, eine wochenlange Kampagne gegen einen konservativen Bundespräsidenten? War es die Kumpanei zwischen Bossen und Politikern, die das Blatt aus dem Hause Springer störte? Kaum vorstellbar. Bislang war so etwas für die Bild, die den Reichenkuschler Wulff ins Amt geschrieben hat, nie ein Problem. Schon Ex-Kanzler Gerhard Schröder bemerkte, fürs Regieren bräuchte er »Bild, BamS und Glotze«. Sich selbst bezeichnete er als »Autokanzler” und gab seine Nähe zur Wirtschaft als eine Kernqualifikation zur Kanzlerschaft aus. Bild stellte sich trotzdem hinter ihn. Mehr noch: So gut es ging unterstützte sie die Einführung der Agenda 2010. Auch für die »bedingungslose Solidarität« mit George W. Bushs Feldzügen und jede andere Sauerei stellt sie sich gerne zur Verfügung. Das anrüchige Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft, das die Zeitung nun aufzudecken vorgibt, ist das zentrale Element ihrer eigenen Macht. Auf Empfängen des rechten Springer-Verlags tummelt sich regelmäßig die wirtschaftliche und politische Elite des Landes und buhlt um seine Gunst. Nirgends wird die Verwobenheit von Politik, Wirtschaft und Medien deutlicher als bei Springer. Aufklärungswille oder die Sorge um journalistische Tugenden – im Bild-Duktus: »das hohe Gut der Pressefreiheit« – können auch nicht der Grund für den Angriff auf Wulff sein. Denn kein Blatt hat mehr dafür getan, Journalisten zu einer Berufsgruppe mit schlechtem Ruf zu machen. Die Zeitung mit den vier Buchstaben vernichtet Existenzen in Serie und hat ein zutiefst gestörtes Verhältnis zu den Persönlichkeitsrechten ihrer Opfer. Wenn es um Rügen vom Presserat geht, ist sie einsame Spitze. Die Zeit halboffener Mordaufrufe wie im Fall von Rudi Dutschke ist zwar vorbei, doch derselbe Ungeist spukt noch immer durchs Springerhaus. Nein, die Bild ist weder Wahrer der Unabhängigkeit der Politik noch Hüter der Pressefreiheit. Was sie stattdessen ist, hat kaum jemand besser ausgedrückt als Judith Holofernes, Sängerin der Band Wir sind Helden. Die Anfrage, für das Blatt Werbung zu machen, lehnte sie in einem offenen Brief ab. Dort hieß es:

»Die Bild-Zeitung ist ein gefährliches politisches Instrument – nicht nur ein stark vergrößerndes Fernrohr in den Abgrund, sondern ein bösartiges Wesen, das Deutschland nicht beschreibt, sondern macht. Mit einer Agenda.« Unter Berücksichtigung dieses Gedankens erscheint die »Affäre Wulff« in einem anderen Lichte. Die Liebesgeschichte zwischen dem SpringerBlatt und dem Bundespräsidenten fand ihr plötzliches Ende, als Wulff folgende fünf Worte aussprach: »Der Islam gehört zu Deutschland«. Er tat dies just zu dem Zeitpunkt, als die Bild Thilo Sarrazins antimuslimische Hetze verbreitete. Die Zeitung schlug umgehend zurück: »Warum hofieren sie den Islam, Herr Präsident?« Wulff relativierte daraufhin seine Rede, hielt aber am Thema Integration als Schwerpunkt seiner Präsidentschaft fest. Bild-Reporter haben durchblicken lassen, dass wenig später die Recherchen zu Vorwürfen gegen Wulff begannen, von denen das Blatt schon lange wusste, die es aber bislang nicht interessiert hatten. Bild rüstete sich mit Informationen auf, um dann aus allen Rohren zu feuern. Mit der Kampagne gegen Wulff will die Zeitung beweisen, dass gegen sie und ihre politische Linie keine Politik zu machen ist. Sie versteht sich als rechtskonservatives Bollwerk, als Vorposten der Aufrechten – da kann eine Machtdemonstration hier und eine politische Exekution da nicht schaden, um die entsprechende Demut zu erzwingen. »Wer mit ihr im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten.« So beschrieb Springer-Chef Mathias Döpfner das »Prinzip Bild«. Wulff fuhr ganz nach oben und glaubte wohl, er hätte den Aufzug bereits verlassen. Er wurde eines besseren belehrt. Gegenwärtig sieht es zwar so aus, als würde er sein Amt behalten. Dass er es allerdings ein zweites Mal wagen wird, seinen »alten Herren« auf die Füße zu treten, darf getrost bezweifelt werden.

Springer zerstört Existenzen in Serie

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★ ★★ Martin Haller ist Redakteur von marx21.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Friedrich der GroSSe

Der Durchregierer Von Marcel Bois schertypus dar. Friedrich war von den Ideen der Aufklärung beeinflusst. Mit Voltaire betrieb er einen jahrelangen Briefwechsel. Sich selbst sah Friedrich als »ersten Diener des Staates«. Und doch sollte man nicht übersehen: Er war ein

Mit der Eurokrise kehrt der Absolutismus zurück absoluter Herrscher, weder einem Kabinett noch einem Parlament, geschweige denn seiner Bevölkerung rechenschaftspflichtig. Genau diese Art der Regierungsführung erfreut sich angesichts der Eurokrise neuer Beliebtheit. »Weniger Demokratie wagen«, fordert etwa der Journalist Laszlo Trankovits. Er meint: Häufige Wahlen

oder Mitbestimmungsforderungen aus der Bevölkerung wie bei Stuttgart 21 behindern die Arbeit der Politiker. Die Staaten an der Peripherie Europas bekommen zurzeit zu spüren, was das bedeutet. Als Griechenlands Ministerpräsident Giorgos Papandreou die Bevölkerung über das Rettungspaket mitbestimmen lassen wollte, wurde er aus dem Amt gedrängt und stattdessen eine Regierung aus »Experten« eingesetzt. Nun stellt selbst die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung fest, dass gegenwärtig in Europa »eine Art absolutistische Demokratie« entsteht. Dem alten Fritz hätte es gefallen. ★ ★★ MARCEL BOIS ist Redakteur von marx21 und Mitglied der Historischen Kommission der LINKEN.

UNSERE MEINUNG

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s funktioniert immer nach dem gleichen Muster: Nähert sich der runde Geburtstag einer historischen Persönlichkeit, dann wird sie für kurze Zeit aus der Versenkung geholt und die Vermarktungsmaschine angeschmissen. Der 300. Geburtstag des Preußenkönigs Friedrich II. ist da keine Ausnahme. Sein Antlitz ziert derzeit Zeitschriftentitel, Fernsehdokumentationen schildern Preußens Glanz und Gloria. Der ganz normale Hype also. Und doch wird man den Verdacht nicht los, dass diesmal mehr dahinter steckt. Friedrich, dem man den Beinamen »der Große« gab, scheint gerade bei den Eliten dieses Landes eine gewisse Sehnsucht auszulösen. Das ist allzu verständlich, denn er konnte genau das tun, wovon Merkel und Rösler nur träumen: durchregieren. Als aufgeklärter Absolutist stellte er im 18. Jahrhundert einen ganz neuen Herr-

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SCHWERPUNKT Antifaschismus

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Die Empörung nutzen Wie weiter im Kampf gegen Nazis?

»Ein fatales Signal« Landtag hebt Immunität von Nazigegnern auf

Dr. Alys Thesen Waren die Braunen im Herzen Rote?

Das München-Komplott Buchtipp zum rechten Terror


»Das V-Leute-System gehört beerdigt« Nirgendwo sind Verfassungsschutz und extreme Rechte so verwoben wie in Thüringen. Dort entstand die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund«. Unser Gesprächspartner Christoph Ellinghaus informiert seit langem über die rechte Szene – und sieht noch viel Aufklärungsbedarf

hristoph, die Bundesregierung hat kürzlich einen Gesetzesentwurf für eine Neonazi-Verbunddatei verabschiedet. Ist das die richtige Konsequenz aus den Enthüllungen um die Zwickauer Terrorzelle? Nein, ist es nicht. Das Problem ist nicht Informationsverlust durch föderale Strukturen und auch nicht eine fehlende Verbunddatei. Das Problem ist vielmehr die fehlende Aufmerksamkeit gegenüber der extremen Rechten. Die Gruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) hätte mit den vorhandenen Mitteln gefunden werden können. Ganz konkret: Die Landespolizeibehörden benutzen ein Suchund Findprogramm mit dem Namen Findus. Dieses Programm ist erst mal auf die Länder ausgerichtet, die jeweiligen Datenbanken können aber miteinander vernetzt werden. Dazu muss lediglich ein Häkchen bei »Zentraler Abfrage« gesetzt werden. Das ist im Zusammenhang mit der Mordserie offensichtlich nicht geschehen, weil der Ermittlungsansatz nicht auf die extreme Rechte ausgerichtet war. Stattdessen hatten wir einen rassistisch gefärbten Ansatz, der ohne jeden Beleg von »Milieutaten« ausging – Stichwort: »Dönermorde« und »Soko Bosporus«.

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ber ist es nicht begrüßenswert, dass der Staat nach Jahren des Tiefschlafs endlich scharf gegen Nazistrukturen vorgeht? Wir müssen genau hinschauen, wie dieses Vorgehen aussieht. Seit Jahrzehnten träumen rechtskonservative Sicherheitsstrategen davon, die Trennung von Polizei und

Christoph Ellinghaus

Geheimdiensten aufzuheben. Die NSUMorde werden jetzt als Anlass genommen, diesen Traum zu verwirklichen. Das müssen wir kritisieren. Trotzdem bleibt natürlich für Linke die Frage, wie wir mit Rechtsterrorismus umgehen. Hier stößt nämlich der zivile Ungehorsam, mit dem wir zum Beispiel in Dresden erfolgreich Naziaufmärsche blockiert haben, an seine Grenzen. Ich kritisiere auch nicht per se, wenn der Staat gegen die extreme Rechte vorgeht. Die Frage ist nur: mit welchen Mitteln?

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Christoph Ellinghaus ist Gewerkschaftssekretär der IG Metall und aktiv im »Aktionsnetzwerk gegen Rechtsextremismus« im thüringischen Jena.

er Thüringer Verfassungsschutz war Mitte der 1990er Jahre gut im Bilde über die Entwicklung eines terroristischen Flügels innerhalb der Naziszene. Warum hat niemand gehandelt? Das ist tatsächlich die zentrale Frage. Die Spur der NSU und ihres Unterstützernetzwerks führt zurück in die neunziger Jahre. Diese waren insbesondere in Thüringen geprägt von dem Aufbau von Neonazistrukturen. Es gab starke Politisierungs- und Organisierungsschübe in der extremen Rechten. Wir haben uns lange gefragt, woher das kommt. Ab dem Jahr 2001 wussten wir es dann: Die Führungskader von Blood & Honour, NPD und Thüringer Heimatschutz waren V-Leute des Verfassungsschutzes. Sie wurden mit insgesamt 1,45 Millionen DMark finanziert. Das war eine große finanzielle Hilfe für den Aufbau der extremen Rechten in Thüringen. Gleichzeitig wurden antifaschistische und progressive Kräfte diffamiert. Das ging bis zur öffentlichen Namensnennung von Gewerkschaftssekretären im Monatsbericht des Verfassungs-

SCHWERPUNKT ANTIFASCHISMUS

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schutzes. In diesem Klima entstand die Generation, die dann die NSU gegründet hat.

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arum unterstützen staatliche Organe über die V-Mann-Gelder den Aufbau von Nazi-Strukturen? Ist das Unvermögen oder Strategie? Wir sollten uns die Wirkungsweise von Geheimdiensten anschauen. Das V-LeuteSystem ist Teil einer Logik innerhalb der Geheimdienstapparate, in der es darum geht, sich die eigenen Arbeitsplätze zu sichern. Wenn ich eine rechte Gefahr habe, die ich sehr gut beschreiben kann, dann bin ich ernst zu nehmen, weil ich ja offensichtlich gute Arbeit mache. Für die gute Arbeit bekomme ich Geld für weitere Stellen, für Personalaufbau. Auch gegenüber den anderen Landesämtern kann ich demonstrieren, wie gut ich an der rechten Szene dran bin. Wir haben also zum einen eine innerapparative Arbeitsplatzsicherungslogik, der die Verfassungsämter folgen. Zum anderen wirft der Verfassungsschutz einen sehr strengen Blick nach links, weil er eine politische Schlagseite nach rechts hat. Seit zwanzig Jahren sagt der Verfassungsschutz, dass links und rechts beides Probleme seien, wobei die steigende Gefahr von rechts ausgehe. Trotzdem sind die Landesämter ideologisch weiter auf den Kampf gegen links ausgerichtet. Damit ist meines Erachtens aber das Handeln des Thüringer Verfassungsschutzes nicht hinreichend erklärt. Ich will das mal als Frage formulieren: Gibt es Sympathisanten der extremen Rechten im Apparat? Gibt es alte Seilschaften? Ich halte nichts von verschwörungstheoretischen Ansätzen, aber nur mit dem Argument der Arbeitsplatzsicherung beim Verfassungsschutz lässt sich das Ausmaß der staatlichen Hilfen für die extreme Rechte in Thüringen nicht erklären. Ich hoffe, in den nächsten Jahren wird durch parlamentarische und vor allem außerparlamentarische Aufklärungsarbeit einiges klarer.

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inke sagen gerne, der Staat sei auf dem rechten Auge blind. Woher kommt diese Sehschwäche? Die Nachrichtendienste der Bundesrepublik hatten bei ihrer Gründung große personelle Kontinuitäten mit den Geheimdiensten des NS-Staates. Diese Gründungsgeneration ist schon lange nicht mehr im Amt, aber ihre Schüler sind natürlich entsprechend geprägt. Dazu gibt es eine Wesensverwandtschaft zwischen

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Wenn Journalisten Expertise brauchen, fragen sie nicht den Verfassungsschutz, sondern die Antifa

rechtskonservativen und rechtsextremen Positionen. Beide befürworten auf nationalistischer Grundlage einen starken oder gar autoritären Staat. Der Kapitalismus, wie er heute im Land aufgestellt ist, muss noch nicht auf die Nazis zurückgreifen. Trotzdem ist diese Nähe da, gibt es ideologische Verbindungslinien und eine Grauzone, in der der Verfassungsschutz platziert ist. Daher kommt der spezielle Druck auf die Linke mit ihren antinationalistischen und antiautoritären Positionen.

mationen über die extreme Rechte gesammelt als Antifa-Gruppen. Wenn Journalisten Expertise brauchen, fragen sie nicht den Verfassungsschutz, sondern AntifaRecherchegruppen, Antinaziarchive und andere Journalisten, die sich schon lange in das Thema eingearbeitet haben. Fachliche Expertise wird dem Verfassungsschutz kaum noch zugetraut. Seine nachrichtendienstlichen Mittel befördern nichts Neues ans Tageslicht. Sie sind aber höchst antidemokratisch.

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m auf die Konsequenzen aus dem NSU-Skandal zu sprechen zu kommen: Was wäre notwendig? Die V-Männer abschaffen? Ja, das V-Leute-System gehört schon lange beerdigt. V-Leute haben nicht mehr Infor-

n Thüringen läuft eine harte Auseinandersetzung zwischen dem Landeskriminalamt und dem Verfassungsschutz über die Verantwortung für die Pannen bei der NSU-Ermittlung. Kannst du etwas über die Hintergründe erzählen?


© Jakob Huber

Nicht auf den Staat vertrauen, sondern selber aktiv werden. Durch massenhafte Blockaden konnte in Dresden der größte Naziaufmarsch Europas bereits zweimal erfolgreich verhindert werden beamte immer zugeschaut und höchstens intern Veränderung angemahnt. Doch die trat nicht ein, weshalb jetzt gezielt aus der Polizei heraus Informationen über den Verfassungsschutz lanciert werden.

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IE LINKE fordert die Auflösung des Verfassungsschutzes. Richtig so? Würde die Partei diese Forderung noch erheben, würde ich sie unterstützen. Doch zumindest in Thüringen fordert DIE LINKE nicht mehr die Abschaffung des Geheimdienstes, sondern seine Umwandlung in eine »Informations- und Dokumentationsstelle für Menschenrechte, Grundrechte und Demokratie«. Ob das der richtige Weg ist, lässt sich schwer sagen. Es soll wohl ein Weg aufgezeigt werden, wie auch innerhalb der aktuellen Mehrheitsverhält-

nisse eine fortschrittliche und umsetzbare Haltung zum Verfassungsschutz aussehen kann. Ich bin skeptisch, ob das Personal des Bundesamtes für Verfassungsschutz einen großen Beitrag zur Information über Demokratie und Grundrechte leisten kann. In jedem Fall aufgelöst gehört das Landesamt für Verfassungsschutz in Thüringen. Sein Personal hat sich für jedwede Verwendung im Sinne von Demokratie und Grundrechten disqualifiziert. ★ ★★ WEITERLESEN Christoph Ellinghaus: Rechte Spitzel des Verfassungsschutzes. Nicht nur in Thüringen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP, Nr. 66 (2/2000), online unter: www.cilip.de/ausgabe/66/thuering.htm.

SCHWERPUNKT ANTIFASCHISMUS

Anders als in den 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre erleben wir heute massive Illoyalitäten von Polizeibeamten gegenüber dem Verfassungsschutz und den CDU-Sicherheitsstrategen. Viele der Informationen, die wir über das Verhältnis von Verfassungsschutz und NSU erhalten, stammen aus den Reihen der Polizei. Polizisten schweigen nicht mehr über das, was sie wissen. Diese Loyalitätskrise ist ein wesentlicher Grund dafür, dass wir heute der Aufklärung einen Schritt näher gekommen sind. Die Polizei hat jetzt zwanzig Jahre lang Erfahrung mit dem Verfassungsschutz gesammelt, und mit dessen routinemäßiger Überschreitung demokratischer Spielregeln. Wir erleben jetzt den vierten Verfassungsschutzskandal in Thüringen. Bisher haben leitende Polizei-

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Den Erfolg ausbauen Der Naziterror hat Millionen schockiert. Diese Empörung kann in effektive Mobilisierungen gegen rechts umgewandelt werden Von Azad Tarhan

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Azad Tarhan ist jugendpolitischer Sprecher der LINKEN in Nordrhein-Westfalen und aktiv in den Bündnissen »Dresden nazifrei – NRW« und »Dortmund stellt sich quer«.

★ ★★ »MARX IS' MUSS« -KONGRESS 2012 Azad Tarhan beteiligt sich an dem Podium »Wie stark sind die Nazis heute?«

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ür Antifaschistinnen und Antifaschisten ergibt sich Anfang 2012 eine neue Situation. Die Enthüllungen über die Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) haben vielen deutlich gemacht, dass Nazis ein relevantes gesellschaftliches Problem sind. Die Empörung über die militanten Faschisten ist so groß wie seit den Mordanschlägen von Mölln (1992) und Solingen (1993) nicht mehr. Das Potential für antifaschistische Mobilisierungen ist größer geworden Bei aller verbaler Distanzierung von den Nazis: Weder die Konservativen noch die Entscheider in den staatlichen Sicherheitsorganen wollen eine starke, womöglich links geprägte, Antinazibewegung auf der Straße. Vermutlich deshalb fiel diesmal die Inszenierung des staatlichen Antifaschismus, abgesehen von einer Schweigeminute im Bundestag, aus. Statt nach einem »Aufstand der Anständigen« schreit die Bundesregierung nach dem »starken Staat«. Das Zentralregister für Nazis ist beschlossene Sache. Hinzu kommen die verstärkte Kooperation von Polizei und Geheimdiensten, sowie ein erneutes Prüfverfahren für ein NPD-Verbot. Damit bewegt sich die Regierung auf sehr dünnem Eis. Denn die Hoffnung, dass der Staat das Nazi-Problem löst, hat sich spätestens seit Bekanntwerden der Verstrickung des Verfassungsschutzes mit der NSU als trügerisch erwiesen. Zudem wurde erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, wie Staatsorgane,

insbesondere in Sachsen und Thüringen, systematisch Antifaschistinnen und Antifaschisten kriminalisieren und in ihrer Arbeit behindern. Die Anklage gegen den im Antinazikampf engagierten Jenaer Jugendpfarrer Lothar König hat Menschen weit über das aktive antifaschistische Milieu hinaus entsetzt.

Die Massenblockaden sind ein Bruch mit der Tradition, Demonstrationen fernab der rechten Aufmärsche abzuhalten

Wie gehen wir mit dieser Situation um? Zuerst sollten wir uns die eigenen Erfolge bewusst machen. In den vergangenen Jahren ist es Antifaschistinnen und Antifaschisten gelungen, in Auseinandersetzung mit dem jährlich stattfindenden Naziaufmarsch in Dresden ein neues, erfolgreiches Aktionskonzept zu entwickeln: die breite und entschlossene Massenblockade. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe war noch nicht klar, ob die Nazis in diesem Jahr überhaupt wieder in der Elbstadt marschieren werden. Doch es zeichnete sich ab, dass sie in diesem Fall erneut auf entschlosseneren Widerstand treffen werden. Damit wird die Dresdner Erfolgsgeschichte fortgeschrieben. Worin besteht dieser Erfolg? Zwölf Jahre lang nahm die radikale Rechte das Gedenken an die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg zum Anlass für ihre Aufmärsche. Noch vor wenigen Jahren nahm diese beängstigende Dimensionen an. So standen 2009 etwa 7000 Nazis nur 4000 Antifaschisten gegenüber. Ganz anders im folgenden Jahr: Da gelang es 12.000 Antifaschistinnen und Antifaschisten den Aufmarsch von 6000 Nazis zu verhindern. Dem Erfolg vorangegangen war der Aufbau eines Bündnisses, das


Die Verstrickung von Nazis und Verfassungsschutz zeigt: Der Staat wird das Naziproblem nicht lösen

zu Massenblockaden aufrief. Sein Aktionskonsens lautete: »Wir leisten zivilen Ungehorsam gegen den Naziaufmarsch. Von uns geht dabei keine Eskalation aus. Unsere Massenblockaden sind Menschenblockaden. Wir sind solidarisch mit allen, die mit uns das Ziel teilen, den Naziaufmarsch zu verhindern.« Das Bündnis überwand einerseits die klassisch autonome Katz-und-Maus-Strategie, die in den Jahren zuvor immer weniger dazu in der Lage gewesen war, Naziaufmärsche, vor allem den in Dresden, zu stören, geschweige denn zu verhindern. Auf der anderen Seite waren die Massenblockaden auch ein klarer Bruch mit der Tradition, lediglich Kundgebungen oder Demonstrationen fernab der rechten Aufmärsche abzuhalten und an die Staatsmacht zu appellieren, gegen die Nazis vorzugehen. Das Ziel, Massenblockaden zu veranstalten, war der Ausgangspunkt des Bündnisses. Die Bereitschaft tausender Menschen, sich auf den vorgesehenen Nazirouten hinzusetzen oder im Stehen zu blockieren, war die Voraussetzung für den Erfolg. Effektiv konnte diese Taktik aber nur sein, weil die Blockaden so angelegt waren, dass eine polizeiliche Räumung einen zu hohen politischen Preis gefordert hätte. Dementsprechend entschied sich die Einsatzleitung im Endeffekt dafür, die Nazidemonstration abzusagen. Für diese Strategie ist die politische Zusammensetzung

Das bedeutet jedoch nicht, dass die radikale Rechte nun komplett auf Aufmärsche verzichtet. Vielmehr zeichnet sich ab, dass die Naziszene nach Ausweichorten und -terminen sucht. So versammelten sich am 14. Januar rund 1200 Nazis in Magdeburg zum bislang größten Aufmarsch in der jüngeren Geschichte der Stadt. Der Marsch konnte mehrfach durch Blockaden verzögert werden. Aber die Gegenaktionen waren von einer mit Dresden vergleichbaren gesellschaftlichen Breite noch weit entfernt. Es könnte ein Testballon der Rechten gewesen sein, um sich an andere Städte heranzutasten. Ähnliches wie in Magdeburg ist in Dortmund zu beobachten: Hier wollen Nazis, nachdem sie am Antikriegstag im September auf breiten Widerstand gestoßen sind, nun zusätzlich am 1. Mai einen Aufmarsch veranstalten. Die verschiedenen Bündnisse sind hier noch nicht zu einer ähnlich starken Einheit wie in Dresden gewachsen, aber erste Schritte in diese Richtung sind vollbracht, was vermutlich in Nazikreisen nicht unbeobachtet blieb. Die neue Strategie der Nazis und die Reaktionen auf den NSU-Terror definieren den nächsten Schritt, den die gesamte antifaschistische Bewegung vollziehen muss: Nämlich die in Dresden entwickelte Form der breiten aber entschlossenen Massenblockade in Strategie und Technik zu popularisieren und zu professionalisieren – wo immer Nazis auch marschieren wollen. Dafür bedarf es einer flächendeckenderen Blockadeausbildung von Aktivisten aus den unterschiedlichsten politischen Spektren. Dazu müssen lokale Akteure auch mal über ihren Schatten springen: Die autonome Linke kommt nicht umhin, bei SPD, Gewerkschaften und Grünen für die Blockaden zu werben und so die Basis der Proteste zu verbreitern. Andererseits müssen die gesellschaftlichen Kräfte ihre Berührungsängste zur radikalen Linken überwinden und einsehen, dass antifaschistisches Bratwurstessen kilometerweit vom Naziaufmarsch entfernt faschistische Propaganda und Machtdemonstrationen nicht beenden wird. Die größte Stärke der Solidarität unter den antifaschistischen Kräften ist die Hilflosigkeit des Polizeiapparates angesichts eines solchermaßen geschlossenen Agierens. ■

★ ★★ Weiterlesen Block Fascism! Geschichte, Analysen und Strategien für eine antifaschistische Praxis, herausgegeben von Linksjugend ['solid] Nordrhein-Westfalen und Die Linke.SDS (2., erweiterte und aktualisierte Auflage, Berlin/Düsseldorf 2011). Online unter. www. linksjugend-solid-nrw. de/material/blockfacism

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des Bündnisses entscheidend. Denn nur, wenn die Teilnehmerstruktur an den Blockaden politisch so plural ist, dass eine Räumung in der Gesellschaft große Empörung auslöst, kann das Konzept funktionieren. Genau das hatte das Bündnis durch seine Aktivitäten im Vorfeld erreicht: Über 2000 Einzelpersonen und 500 Organisationen hatten schließlich den Aufruf unterzeichnet. Im Jahr 2011 gelang eine Wiederholung des Erfolgs – nur noch halb so viele Nazis wie im Vorjahr kamen nach Dresden und wurden wieder blockiert. In diesem Jahr sieht es danach aus, als ob es keine zentrale Mobilisierung der Nazis nach Dresden am 18. Februar mehr geben würde.

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»Ein fatales Signal« Anfang Februar hat der hessische Landtag die Immunität der beiden Fraktionsvorsitzenden der LINKEN aufgehoben. Der Grund: Sie haben einen Naziaufmarsch friedlich blockiert. Wir dokumentieren dazu eine Rede, die nicht gehalten werden durfte Von Janine Wissler

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err Präsident, meine Damen und Herren! Ja, ich war am 13. Februar 2010 in Dresden, um gemeinsam mit über 10.000 anderen Menschen einen der größten Naziaufmärsche Europas zu blockieren. Nicht nur Willi van Ooyen und ich waren dort, sondern die gesamte LINKE Fraktion im Hessischen Landtag. Die Blockade, die von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen wurde, war erfolgreich. Die Neonazis konnten nicht marschieren. Die Dresdner Staatsanwaltschaft will wegen dieser erfolgreichen Blockade, an der sich auch prominente Vertreterinnen und Vertreter anderer Parteien beteiligt haben, ausschließlich gegen die Vorsitzenden der LINKEN Fraktionen aus den Landtagen von Sachsen, Thüringen und Hessen vorgehen und hat die Aufhebung unserer Immunität beantragt, weil wir die Rädelsführer der Anti-Nazi-Blockade gewesen seien. Deshalb hat sie beantragt, unsere Immunität als Landtagsabgeordnete aufzuheben. Wir sind zur Vernehmung ins LKA Sachsen vorgeladen worden, Absender war die Abteilung »Politisch motivierte Kriminalität links – Verratsdelikte und Kriegsverbrechen«. Absurder geht es kaum noch. Friedlicher Widerstand gegen neofaschistische Umtriebe ist keine Kriminalität, sondern ist Auftrag aller Demokraten. Erst vor wenigen Wochen ist eine von Neonazis verübte Mordserie bekannt geworden. Und diese Morde sind keine Einzelfälle. Seit 1990 sind mindestens 182 Menschen durch rechte Gewalt ums Leben gekommen. Neonazi-Strukturen bekämpft man meiner Überzeugung nach nicht mit Geheimdiensten, diese erweisen sich als Teil des Problems, nicht der Lösung. Neonazis können nur durch gesellschaftliche Mobilisierung und zivilgesellschaftliches Engagement nachhaltig bekämpft werden.

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»Ich blockiere ob mit oder ohne Immunität«

Deshalb ist es so wichtig, sich Nazis überall entgegenzustellen, wo sie aufmarschieren und wo sie agieren. Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte in seiner Rede im Deutschen Bundestag anlässlich des 67. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz vor wenigen Tagen: »Da sind Menschen, die den Rechtsextremen, die durch ihre Städte marschieren wollen, immer wieder entgegentreten und zeigen: Wir dulden eure Diffamierungen, euren Hass nicht, schon gar nicht eure Gewalt. Es sind Menschen, die Zivilcourage beweisen, die nicht wegsehen, Diskriminierungen nicht unwidersprochen stehen lassen. Es sind Menschen, die ein Beispiel geben und die Mut machen. Dieses Engagement werden wir brauchen und diesen Mut auch.« Wir halten die strafrechtliche Verfolgung und die Kriminalisierung breiter Anti-Nazi-Proteste für ein fatales Signal ins In- und Ausland und an alle Menschen, die Opfer von rechter Gewalt wurden. Die Neonazis dürfen marschieren, die breite Gegenmobilisierung wird durch das rechtswidrige Sammeln von Telefondaten, Hausdurchsuchungen und fragwürdige Ermittlungsverfahren eingeschüchtert. Eine mordende Nazi-Bande zieht ein Jahrzehnt lang ungehindert von den Sicherheitsbehörden durch die Republik, während linke Antifaschisten angeklagt werden sollen. Die CDU-Fraktion hat uns vorgeworfen,

die Justiz zu behindern, weil wir uns gegen die Immunitätsaufhebung wehren. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die Justiz behindert uns beim notwendigen Kampf gegen rechts. Unhaltbar ist auch der Vorwurf der CDU, wir würden eine Vorzugsbehandlung gegenüber anderen Bürgerinnen und Bürgern einfordern. Das ist grundfalsch. Über 10.000 Menschen haben in Dresden demonstriert, darunter auch viele Mitglieder und Abgeordnete von SPD und Grünen, aber ausschließlich vier LINKE Fraktionsvorsitzende sollen angeklagt werden. Wir sollen nicht trotz, sondern wegen unserer parlamentarischen Funktion angeklagt werden. Genau davor soll die Immunität aber schützen, nämlich vor der willkürlichen Verfolgung von politischen Aktivitäten. Ich sage – auch an die Adresse der Dresdner Staatsanwaltschaft: Wir werden auch dieses Jahr wieder nach Dresden fahren, als gesamte Fraktion und uns an der diesjährigen Blockade gegen die Nazis beteiligen, ob mit oder ohne Immunität. Ich hoffe, dass sich in diesem Jahr noch viel mehr Menschen den Neonazis in den Weg stellen, und rufe dazu auf, Nazi-Aufmärsche, ob in Dresden oder anderswo, entschlossen und massenhaft zu blockieren. Kein Fußbreit dem Faschismus. ★ ★★ Janine Wissler ist gemeinsam mit Willi van Ooyen Fraktionsvorsitzende der LINKEN im hessischen Landtag. Die Staatsanwaltschaft Dresden wirft beiden vor, im Februar 2010 Rädelsführer bei der Blockade des Naziaufmarsches gewesen zu sein. Daher hat der hessische Landtag mit den Stimmen von CDU und FDP ihre Immunität aufgehoben.


Er eckt gerne an und ist bekannt für steile Thesen. In seinem neuen Buch behauptet der Historiker Götz Aly: Es war der von Linken angestachelte „Sozialneid“, der zum „Terror der Gleichheit“ der Nazis führte. Waren die Braunen also im Herzen Rote?

Von Arno Klönne

Kommunistische Demonstration 1927 in Berlin. Für Aly sind die sozialen Forderungen der Arbeiterklasse Ausdruck einer deutschen »Gleichheitssucht«

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rovozierend sei es, ärgerlich für »Sozialpolitiker«, aber doch erhellend. So wertete Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung das jüngste Werk des Historikers und Publizisten Götz Aly. Es trägt den Titel: »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933« und erscheint im angesehenen Verlag S. Fischer. Aly gehe darin, so stellt es das Marketing für sein Buch dar, der Frage nach: »Warum ermordeten Deutsche sechs Millionen Juden?« Und er habe eine erklärungsfähige Antwort gefunden: »Sozialneid« sei es gewesen, der in den Zeiten der Industrialisierung und ihrer gesellschaftlichen Dynamik die trägen Deutschen zum Hass auf die bildungseifrigen und mit »unternehmerischer Initiative« ausgestatteten Juden getrieben habe. Eine seltsame, der sozialhistorischen Realität der deutschen Gesellschaft ziemlich entrückte Inhaltsangabe. Außerdem gibt sie die Geschichtsdeutungen, die im Buch selbst offeriert werden, nur sehr un-

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vollständig wieder. Aly hat weitaus mehr im Sinn als nur einen solchen Beitrag zur Psychologie des historischen Antisemitismus zu leisten. Ihm geht es, Geschichte aktuell verwertend, um einen Generalangriff auf die soziale »Gleichheitssucht«, von der seit jeher Sozialdemokraten und Kommunisten befallen gewesen seien und wodurch dann für die »nationalen Sozialisten«, also die deutschen Faschisten, und ihre

Arno Klönne

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ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21. Weitere Beiträge von ihm gibt es auf marx21.de.

Den Widerstand von Sozialdemokraten und Kommunisten gegen die Nazis verschweigt Aly weitestgehend

mörderische Politik eine systemtragende Folgebereitschaft hergestellt worden sei. Selbstverständlich steckt in diesem Bild der Historie eine Folgerung für die Gegenwart: Weg mit allen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit. In etlichen Interviews hat Aly seine Botschaft auf den Punkt gebracht, etwa im Deutschlandradio: »Dass sich rechte und linke Ideologien, die ja sozusagen beide Momente des Gleichheitsprinzips, nämlich des sozialen und des nationalen, verfolgen, sich geschichtlich immer wieder getroffen und vereinigt haben, das ist eine Tatsache. Es ist ja auch traditionell, auch in Deutschland so, dass rechte Parteien eigentlich immer dort Erfolge haben, wo zuvor linke Hochburgen waren.« In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hieß es: »›Typisch deutsch‹ war die Gleichheitssucht, die mit der Freiheitsangst korrespondierte. Im Kollektivismus fanden alle Parteien der späten Bismarckzeit den gemeinsamen politischen Nenner, von den Sozialdemokraten bis zu den Antisemiten.« Die Deutschen – was haben sie laut Aly alles angerichtet?

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In seinem Buch zählt er auf: »Sie brachten die wichtigsten Theoretiker des Kommunismus und Sozialismus hervor, sie erfanden die Systeme der Sozialversicherungen, den nationalen Sozialismus Hitlers, die in der DDR beschworene Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik und die in der Bundesrepublik gepflegte soziale Marktwirtschaft …« Und nun stehen wir da und sind den Herausforderungen des ungehemmten Kapitalismus, der »freien« Marktwirtschaft, emotional nicht gewachsen. Es sei denn wir lassen uns fit machen durch Dr. Alys historisch-politische Medizin. Der alten deutschen Sozialdemokratie, der vor dem Ersten Weltkrieg, hält Aly in seinem Buch ein ausführliches Sündenregister vor: Für »Umverteilung von Reichtum der Bemittelten zugunsten der Unbemittelten« sei sie eingetreten und habe dadurch »Neid zum politischen Programm« gemacht – ein Nährboden für Antisemitismus. Den Wunsch nach sozialem Aufstieg habe sie in der Arbeiterbevölkerung gefördert, was in der nächsten Generation zur Sympathie mit der NSDAP geführt habe, der »Partei der Aufsteiger«. Und vor allem: Mit Begriffen wie »Klasse«, »Klassenkampf« und weil sie sich »vorrangig für Gleichheit und für soziale Gerechtigkeit« engagierten, »relativierten die Sozialisten notwendigerweise die Werte der individuellen Freiheit«, »pflegten die grundsätzliche Gegnerschaft zum Liberalismus« und brachten so unseligerweise ein »kollektivistisches« Weltbild unter die Leute. Der »soziale Egalitarismus« von links, so Alys zentrale These, habe – wenn auch ungewollt – die Voraussetzungen für das »Dritte Reich« und für den vernichtenden Antisemitismus geschaffen. Aus der von Sozialdemokraten und dann auch Kommunisten inspirierten »Gleichheitssucht« habe die NSDAP ihren Erfolg ziehen können. Diese Partei sei »verwurzelt« gewesen in »revolutionär konnotierten Formen des Gleichheitsgedankens«. Ganz nebenbei bringt Aly auch ein Beispiel dafür, wie die Linie vom linken zum extrem rechten »Kollektivismus« sich in ein- und derselben Person biografisch finden lasse: Adolf Hitler, schreibt er, sei vor seinem Einstieg in die NS-Partei »Kleinfunktionär der kommunistischen Rätemacht« und »Verteidiger der Räterepublik« (in München) gewesen. Eine erstaunliche Formulierung eines Autors, der ausgebildeter Historiker ist (und der in weiter zurückliegenden Arbeiten seine methodische Qualifikation auch durchaus nachgewiesen hat). Noch erstaunlicher ist jedoch, dass die Rezensenten seines Buches diese Legende durchweg kritiklos hingenommen haben. Wer dem Publikum ein Zerrbild von Geschichte vermitteln will, wird tunlichst Versatzstücke historischer Realität mitverwenden. Und so greift Aly in seiner Studie gelegentlich Vorgänge aus der Vergangenheit der deutschen Arbeiterbewegung auf, die in der Tat höchst fragwürdig sind. Es gab sie ja wirklich: zum Beispiel kurzsichtig-taktische Einschätzungen


des Antisemitismus bei einigen prominenten Sozialdemokraten im Kaiserreich, die Hoffnung auf einen preußisch-deutschen »Staatssozialismus« bei Lassalleanern, »kriegssozialistische« Positionen bei Vertretern der SPD und der Gewerkschaften »im Geiste von 1914«, propagandistische Schmeicheleien der KPD für den deutschen Nationalismus um 1930 oder Sympathien von Führern der Freien Gewerkschaften für den »sozialen Führerstaat« am Ende der Weimarer Republik. Aber Aly verschweigt, dass solche Tendenzen in der Arbeiterbewegung auf heftigen Widerstand stießen, dass sie nicht bestimmend waren für die damalige Linke insgesamt. Um das Thema »Kriegssozialismus« herauszugreifen: Als sozialdemokratische und gewerkschaftliche Funktionäre und Publizisten die »nationale Planwirtschaft« im Ersten Weltkrieg als Schritt hin zur »sozialen Volksgemeinschaft« würdigten, war dies der Anstoß für eine gegenläufige Bewegung, die linke Opposition, die Entstehung der USPD und der kriegsgegnerischen Aktivitäten in den Betrieben. Wäre die Arbeiterbewegung in ihrer Mehrheit »unten« der »kriegssozialistischen« Ideologie gefolgt, hätte es kaum die Revolution von 1918 gegeben. Aly unterlässt es auch, wenigstens auf den machtstrategischen Zusammenhang des Konzepts vom »Kriegssozialismus« hinzuweisen: auf das Interesse der Führungsschicht in Staat und Militär und der Wirtschaftsherren an dieser Art der Disziplinierung der Arbeiterklasse. Die Forderung »Frieden und Brot« stand im scharfen Gegensatz zum »Kollektivismus«, den die Oberste Heeresleitung und die Rüstungsunternehmer sich wünschten. Karl Liebknecht war nicht im Mindesten empfänglich für die Botschaft vom »nationalen Sozialismus«. Und eben deshalb wurde er zum Sprecher einer aufbegehrenden Arbeiterschaft. Noch einmal zurück zur Situation vor dem Ersten Weltkrieg: Hat die deutsche Arbeiterbewegung damals den Wert der Freiheit missachtet, war ihr Verlangen nach Gleichheit die neidvolle Sucht nach jenen Reichtümern, über die feudale und bürgerliche Eliten verfügten? Dies annehmen oder behaupten kann nur jemand, der entweder die historischen Quellen nicht kennt oder deren Inhalt dem Publikum vorenthalten will. Die frühe Sozialdemokratie hatte sich, in der Auseinandersetzung mit Lassalle und seinen Anhängern, gegen den Obrigkeitsstaat entschieden. Die Forderung nach politischen Freiheiten stand bei ihr gleichrangig neben der nach sozialen Rechten. Nicht der Aufstieg zur Oberklasse war ihr Ziel, sondern die Abschaffung der Klassenherrschaft.

Ganz anders die damaligen »Nationalsozialen«, rechts stehend, zu weiten Teilen antisemitisch: Selbstverständlich war ihnen daran gelegen, in Zeiten des Parlamentarismus auch Wähler aus der Arbeiterbevölkerung für sich einzufangen, aber keineswegs wollten sie das obrigkeitsstaatliche System abschaffen oder gar die Macht der Kapitalisten brechen. Mit internationaler Solidarität hatten sie überhaupt nichts im Sinn. Es kann nicht darum gehen, die Verhältnisse in der einstigen Arbeiterbewegung zu glorifizieren und deren innere Schwächen zu verschweigen, aber eindeutig erkennbar ist: »Links« und »rechts« waren in wilhelminischen Zeiten klare politische Alternativen, gegensätzlich in ihren Grundanschauungen von Gesellschaft, Ökonomie und Kultur. Gleichheit und Freiheit waren die Zukunftshoffnungen der Arbeiterbewegung. Die Konservativen und die ihnen nahe verwandten »Nationalsozialen« verabscheuten Gleichheit und verstanden unter Freiheit nur die des feudalen oder bürgerlichen Eigentums – und die ungezügelte Ausbreitung deutscher Wirtschaftsmacht »out of area«, den freien Zugang des deutschen Obrigkeitsstaats zum weltpolitischen »Platz an der Sonne«. Die geschichtlich verhängnisvolle Schwäche des politischen Liberalismus im deutschen Kaiserreich und dann in der Weimarer Republik ist nicht der Arbeiterbewegung anzulasten. Sie kam zustande schon durch die Halbherzigkeit des deutschen Versuchs einer bürgerlichen Revolution 1848/49 und die Anlehnung an die Bismarck’sche Blut-und-Eisen-Politik. Das Bürgertum in seiner großen Mehrheit gab der Wahrung des Besitzstandes und dessen Ausdehnung den Vorrang vor dem Anspruch auf Demokratie. Aly schreibt, der organisierte deutsche Antisemitismus sei bereits im Kaiserreich »gegen die liberale Wirtschaftspolitik« und damit »gegen den Kapitalismus gerichtet« gewesen. Das ist schlicht falsch, sowohl die Zeit vor 1918 als auch die der Weimarer Republik betreffend. An anderer Stelle verweist Aly auf Heinrich Claß, den Ideengeber des Alldeutschen Verbandes und der antisemitischen Propaganda. Aber eben dieser Claß – und darin war er repräsentativ für die antisemitische politische Richtung in Deutschland – machte sich stark für eine gewaltförmige Expansion deutscher kapitalistischer Macht in andere Länder. Kapitalinteressen setzen nicht unbedingt auf »liberale Wirtschaftspolitik«. Im Gegenteil: In bestimmten Situationen bevorzugen sie staatliche Zugriffe und Zwangsmaßnahmen, innerhalb der Gesellschaft und nach außen hin. Antisemitismus war weder für die »Alldeutschen« noch für den deutschen

★ ★★ DAS BUCH: Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933 (Fischer 2011).

SCHWERPUNKT ANTIFASCHISMUS

Links und rechts waren in wilhelminischen Zeiten klare politische Alternativen

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Faschismus ein Grund, antikapitalistisch zu agieren. Die Sucht nach Enteignung jüdischen Eigentums betraf nicht »arisches« Kapital. Die Hasstiraden gegen »Plutokraten« während des »Dritten Reiches« hatten nicht deutsche Kapitalisten im Visier. Sie dienten nationalistischer Agitation, dem Raub ausländischer Ressourcen und der Aggression gegen das »Weltjudentum«. Nichts daran war antikapitalistisch. Geradezu systematisch stellt Aly die Herkünfte, den historischen Kontext, die Ideenwelt und die Praxis des Faschismus in Deutschland so dar, dass der Eindruck entsteht, es habe sich um einen »nationalen Sozialismus« gehandelt. Dieser sei historisch geboren aus »Gleichheitssucht«, im Aufwachsen nicht zuletzt von der deutschen Arbeiterbewegung gepflegt worden, lebte sich dann im Terror gegen das Judentum aus und sei im Kern gegen die »Liberalität« des Kapitalismus gerichtet. Nicht einen Blick wirft er dabei auf die faschistischen Bewegungen oder Systeme in anderen Ländern. Auch sie waren mitgeprägt durch rassistische und speziell antisemitische Ideologien. Dem nachzuforschen, ist erkenntnisfördernd, obwohl die Politik der »Endlösung der Judenfrage« eine deutsche Singularität war. Völlig klammert Aly aus, dass der deutsche Faschismus auch die Ausrottung anderer, nichtjüdischer, nach seiner Weltanschauung »minderwertiger« Bevölkerungsgruppen oder Völkerschaften betrieb. Das lässt sich mit dem »Sozialneid« erfolgloser Deutscher gegenüber erfolgreichen Juden nicht erklären. Von einer Ideologie der »Gleichheit« kann im Hinblick auf die faschistische Ideologie überhaupt keine Rede sein, prinzipiell ging diese von menschlichen Rangstufen und einer Hierarchie der Existenzrechte aus, von »Führern« und »Folgern«, von höherwertigen und minderwertigen Völkern, von »lebenswerten« und »lebensunwerten« Menschen. Glaubt man der Darstellung von Aly, so haben beim Aufstieg und Machtzugriff der NSDAP bürgerliche oder feudale Interessenten, Förderer und Helfer nicht mitgewirkt. Er fertigt mögliche Fragen hierzu kurz ab, indem er sich auf die Autorität von Wilhelm Röpke beruft. Der habe festgestellt, dass es nicht die Kapitalisten oder Großbürger gewesen seinen, die dem Nationalsozialismus zum Sieg verhalfen. Folgerichtig erwähnt Aly auch nicht, dass es ein wesentlicher Teil der faschistischen Programmatik und Praxis war, einen »Gefahrenherd« für kapitalistische Machtausübung zu beseitigen, nämlich die Arbeiterbewegung und ihre Organisationen, ihre Kultur und ihre Tradition. Wer sich die Deutungen von Aly zu eigen macht, wird glauben: Der Wunsch nach gesellschaftlicher Egalität sei kriminogen. Und die Braunen seien im Herzen Rote. Kein Pardon dürfe gegeben werden der Sucht nach sozialer Gerechtigkeit. Sie führe in den, wie Aly es nennt, »Terror der Gleichheit«. So sieht Geschichtspolitik aus, die auf aktuelle Effekte hin angelegt ist. ■

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Wolfgang Schorlau | Das München-Komplott

BUCH TIPP Von Lisa Hofmann

★ ★★ BUCH | Wolfgang Schorlau | Das MünchenKomplott | Kiepenheuer & Witsch | Köln 2009 | 344 Seiten | 8,99 Euro

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m 26. September 1980 explodiert in einem Papierkorb auf dem Münchner Oktoberfest eine mit Schrauben und Nägeln gefüllte Rohrbombe. 13 Menschen starben und über 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Es war einer der schwersten Terroranschläge in der Geschichte der Bundesrepublik. Die offiziellen polizeilichen Ermittlungen machen den Neonazi Gundolf Köhler für die Tat verantwortlich. Allerdings war diese Einzeltäterhypothese von Anfang an umstritten. Im November 2011 forderte der Münchner Stadtrat nach dem Bekanntwerden der Verbrechen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« eine Wiederaufnahme der Ermittlungen. Der Roman »Das MünchenKomplott«, des Schriftstellers und Stuttgart-21-Aktvisten Wolfgang Schorlau versucht mit den Mitteln des Kriminalromans der Frage nachzugehen, wer den Anschlag geplant hat, und wer einen Nutzen aus diesem Attentat ziehen konnte. Der Krimi beginnt damit, dass der ehemalige BKA-Zielfahnder und Privatermittler Georg Dengler den Auftrag erhält, eine Mordserie an ehemaligen NATOGenerälen aufzuklären. Bei sei-

nen Ermittlungen stößt er auf die Polizeiakten zum Attentat auf das Münchner Oktoberfest und einige Ungereimtheiten im Vorgehen der ermittelnden Kollegen. Er vermutet, dass, ähnlich wie beim Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof in Bologna 1980, neben rechtsextremen Kreisen auch Geheimdienst und NATO an dem Anschlag beteiligt gewesen sein könnten. Im Lauf der Ermittlungen fördert Dengler immer erschreckendere Details über die Verstrickungen zwischen Verfassungsschutz, der Neonazi-Szene und anderen Geheimdiensten, zutage, die bis in höchste Regierungskreise reichen. Als weitere NATO-Generäle ermordet werden, ein junger Antifaschist brutal zusammengeschlagen und eine Staatssekretärin bedroht wird, weil sie den Abzug der V-Leute aus der NPD fordert, beginnt für Georg Dengler ein Wettlauf gegen die Zeit. Wolfgang Schorlaus Krimi bietet eine belletristische Aufarbeitung des rechten Terrors und seiner Hintergründe. Er illustriert die gängigen Thesen zum Tathergang und der Täterschaft des Attentats sowie die Debatte rund um das NPD-Verbot. Im Nachwort zu seinem Buch nennt Schorlau seine Quellen und macht es dadurch möglich, zwischen Tatsachen und Fiktion zu unterscheiden. »Das München-Komplott« ist ein gut recherchierter und spannender Krimi, der durch die Verstrickungen um die Zwickauer Terrorzelle eine erschreckende Aktualität erhält. Er lohnt sich für alle, die einen spannenden Einstieg in dieses Thema suchen. Für diejenigen, die tiefer in das Thema einsteigen wollen, empfiehlt sich ein Blick auf die Homepage des Autors (www.schorlau.de). Hier gibt er weitere Literaturempfehlungen und dokumentiert die aktuelle Debatte um den rechten Terror und die Ermittlungen zum Oktoberfestanschlag.


SCHWERPUNKT DIE EUROKRISE UND DIE LINKE

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Die Agenda exportiert Interview mit Andreas Wehr

Systemfehler Elf Thesen zur Krise

Die Linke und Europa Eine alte Debatte, 端berraschend aktuell


»Deutschland exportiert die Agenda 2010« Europäischer Stabilitätsmechanismus, Fiskalunion, Sparkommissar – die Wirtschaftspolitik der EU klingt nach höherer Mathematik. Andreas Wehr bringt für uns Licht ins Dunkel

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inen passenderen Aufhänger kann man sich als Journalist nicht wünschen: Die Belgier gehen in den Generalstreik – just gegen die Art von Maßnahmen, über die wir einen Tag später im Interview mit Andreas Wehr reden wollen. Zentrum des Streiks ist Brüssel, Andreas’ Arbeitsplatz. Seit 1999 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Europaparlament und hat so über ein Jahrzehnt deutscher Europapolitik hautnah miterlebt.

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ndreas, zeitgleich mit dem EU-Gipfel standen alle Räder in Brüssel still, Generalstreik. Was treibt die Belgier auf die Barrikaden? Die neue belgische Regierung hat ein hartes Kürzungsprogramm aufgelegt, der Generalstreik ist die Antwort der drei größten Gewerkschaften darauf. Der Zeitpunkt war natürlich kein Zufall. Durch das Zusammenfallen mit dem EU-Gipfel sollte der politische Effekt vergrößert werden. Das hat funktioniert – quer durch die europäische Presse wurde berichtet, dass der bestreikte Flughafen Brüssel von den Regierungschefs nicht angeflogen werden konnte.

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st das belgische Kürzungspaket ein Vorgeschmack auf die kommenden Angriffe in anderen europäischen Ländern? Es fällt zumindest nicht aus dem Rahmen. Das belgische Parlament soll eine Schuldenbremse beschließen, wie sie in dem jetzt vereinbarten Fiskalpakt für alle teilnehmenden Länder vorgesehen ist. Hin-

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Andreas Wehr

Andreas Wehr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/ Nordische Grüne Linke des Europaparlaments in Brüssel. Er veröffentlichte zuletzt das Buch »Griechenland, die Krise und der Euro« (Neuauflage, PapyRossa 2011). Weitere Infos unter: www.andreas-wehr.eu

zu kommt für die Belgier die Aufhebung der automatischen Anpassung der Löhne an die Inflationsentwicklung, diverse Steuererhöhungen und die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters. Die Angriffe der jeweiligen Regierungen in der EU fallen natürlich entsprechend den nationalen Bedingungen unterschiedlich aus, die Systematik ist aber immer gleich: Die Haushalte sollen vor allem durch Kürzungen im öffentlichen Sektor und bei den Sozialleistungen saniert werden. Hinzu kommen Erhöhungen der indirekten Steuern, die von der Bevölkerung bezahlt werden. Fest steht, dass der beschlossene Fiskalpakt einen massiven Angriff darstellt – sowohl auf Sozialsysteme als auch auf die Demokratie.

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u spielst auf den von Merkel ins Spiel gebrachten Sparkommissar an ... Der ist eigentlich schon vor Ort. Die Regierungen der Defizitstaaten Griechenland, Irland und Portugal haben der Troika – sie besteht aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds – weitreichende Kontrollrechte einräumen müssen. Das war die Vorraussetzung, um Hilfszusagen von ihr zu erhalten. Wichtige Entscheidungen in den Kernbereichen staatlicher Politik werden seitdem von außen vorgegeben. Dies geschieht mit ausdrücklicher Billigung der national Herrschenden. Sie treiben ihre Länder in die Abhängigkeit, um jene Staatsanleihen zu sichern, die einheimische Banken dort gekauft haben. Diese Praxis soll durch die Fiskalunion zukünftig


© Künstler: Dolk Foto: svennevenn / flickr.com / CC BY-NC

Die Kürzungsprogramme sollen die Schuldenländer stabilisieren. Wahrscheinlicher ist aber, dass ihnen dadurch endgültig die Füße weggerissen werden

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ie Regierungen der EU-Staaten sagen, drastische Maßnahmen seien gerechtfertigt, weil die Krise mit allen Mitteln eingedämmt werden müsse. Sind die Gipfelbeschlüsse Schritte in Richtung Krisenlösung? Sicher nicht, die damit verbundenen Maßnahmen führen nur noch tiefer in die Rezession hinein. Geringere Löhne, Renten und Sozialleistungen senken natürlich den Konsum, was zur Pleite unzähliger Unternehmen, vor allem im Dienstleistungsbereich, führt. In Griechenland spitzt sich die Krise gegenwärtig zu. Immer mehr Beobachter gehen davon aus, dass es bald zu einem umfassenden Schuldenschnitt kommen muss.

Ein solcher »Haircut« wird auch die öffentlichen Gläubiger, etwa die Europäische Zentralbank und die Bundesregierung, treffen. Zu Beginn der Krise in Griechenland hatte das Land eine Schuldenlast von weniger als 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu tragen, heute sind es hingegen 198 Prozent. Berücksichtigt man, dass das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab inzwischen erheblich geschrumpft ist, so ist das Defizit tatsächlich noch größer. An der Notwendigkeit eines Schuldenschnitts für Griechenland kann es daher keinen Zweifel mehr geben. Portugal wird den gleichen Weg gehen. Das Land steckt tief in der Rezession und seine Verschuldungsquote steigt unaufhörlich. Schließlich sieht es auch in Irland nicht gut aus. Das schwache irische Wachstum des vergangenen Jahres, getragen von den Ausfuhren, ist vorbei. Für 2012 erwartet Irland einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts. Und schließlich sind da noch Spanien und Italien. Hier kommt alles auf die von den Finanzmärkten ver-

langten Renditen für die Staatsanleihen an. Steigen sie dauerhaft über sieben Prozent, so geraten auch diese beiden Länder in eine Situation, in der sie sich nicht mehr länger auf den Kapitalmärkten finanzieren können. Doch eine dann notwendig werdende Finanzierung ihrer Defizite durch die übrigen Euroländer wird deren Potential übersteigen. Dann stünde das gesamte Eurosystem vor dem Aus.

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as genau verbirgt sich eigentlich hinter Kürzeln wir EFSF und ESM und was bezwecken die EU-Regierungen mit diesen Instrumenten? Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität, kurz EFSF, wurde im Mai 2010 kurz nach der Auflage des »Rettungspakets« für Griechenland geschaffen. Aus ihr werden die Unterstützungsmaßnahmen für Portugal und Irland finanziert. Der ESM, der Europäische Stabilisierungsmechanismus, soll den EFSF demnächst ablösen und dann dauerhaft in Kraft bleiben. Beide Instrumente sind geschaffen worden, um

TITELTHEMA EUROKRISE UND DIE LINKE

in allen übrigen Ländern der EU, mit Ausnahme von Großbritannien und Tschechien, angewandt werden: Künftig sollen auch dort wichtige Haushaltsentscheidungen erst dann getroffen werden dürfen, wenn sie vorab von der Kommission genehmigt wurden.

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u arbeitest in Brüssel, deine Kolleginnen und Kollegen kommen aus verschiedenen Ländern Europas. Welchen Eindruck haben die Menschen in Resteuropa von der Politik der deutschen Regierung und von Angela Merkel? Es wird schon wahrgenommen, insbesondere natürlich in Ländern wie Griechenland und Portugal, Spanien und Italien, dass die momentan durchgesetzte Agenda eine deutsche Agenda ist. Alle Maßnahmen des letzten Jahres, der Europluspakt, die Verschärfungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und jetzt der Fiskalpakt gehen auf Initiativen der Bundesregierung zurück. So sollen die in Deutschland von der Regierung Schröder/Fischer auf den Weg gebrachten Maßnahmen des Sozialabbaus, als Stichwort nenne ich hier nur die Agenda 2010, mit dem Fiskalpakt in die übrigen EU-Länder exportiert werden. Das betrifft eine Schuldenbremse, die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, die Erhöhung des Renteneintrittsalters, die Abschaffung bestehender Lohnindexierungen an der Inflationsrate, Deregulierungen der freien Berufe, die Erhöhung der Verbrauchssteu-

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© Antonio Ponte / flickr.com / CC BY-NC

die Defizite jener Euroländer zu finanzieren, die auf den internationalen Kapitalmärkten nur noch zu unzumutbar hohen Bedingungen Kredite erhalten. Man kann die Situation so beschreiben: Griechenland, Irland und Portugal sind gegenwärtig einem »Käuferstreik« ausgesetzt. Die Finanzmärkte als potentielle Käufer von Anleihen bestreiken diese Länder, um sie so zu einem drastischen neoliberalen Umbau ihrer Gesellschaften zu zwingen. Dies ist eine Form des Klassenkampfs zwischen Kapital und Arbeit. Ein solcher »Käuferstreik« trägt aber natürlich immer das Risiko in sich, dass die betroffenen Länder eines Tages Bankrott anmelden, wie dies etwa Argentinien und Uruguay getan haben. Passiert das, so ziehen die Finanzmärkte den Kürzeren. Mit den Instrumenten EFSF und ESM sorgen nun die übrigen Euroländer dafür, dass ein solcher Bankrott nicht eintritt. Das heißt, sie garantieren mit Steuergeldern den Banken und Versicherungen, dass deren Forderungen weiterhin pünktlich bedient werden. Die Länder tun dies aber auch aus politischen Gründen, da sie die peinliche Pleite eines Eurolandes unbedingt vermeiden wollen. Was nun Griechenland angeht, so scheint diese Rechnung nicht länger aufzugehen.

Streik gegen Kürzungen in Belgien: Der IWF befürchtet, dass Europa vor einer »sozialen Explosion« steht

Europäische Politik war immer geprägt von nationalen Interessen

ern und Kürzungen bei Renten und Sozialtransfers. Damit wird die Ausbeutungsrate der Arbeit erhöht, und damit sollen – entsprechend der absurden neoliberalen Logik – die Bedingungen für höheres Wachstum geschaffen werden.

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ltkanzler Helmut Schmidt hat davor gewarnt, dass das Auftreten der Bundesregierung Ängste bei den Nachbarn wecken und dadurch die EU zerreißen könnte. Merkel hingegen sagt, ihre Politik sei alternativlos, um die EU zu erhalten. Wer hat Recht? Aus Sicht der Bundesregierung ist Merkels Politik folgerichtig. Sie will, dass die EU im Kern so bleibt wie sie ist: ein auf Währungsstabilität ausgerichteter Wirtschaftsblock mit einem freien Binnenmarkt. Von diesem Block profitieren vor allem die deutschen Konzerne, er ist Voraussetzung für den Erfolg ihrer Strategie zur Eroberung der Märkte in Europa und weltweit. Die Erhaltung der EU in der bisherigen Form liegt daher im nationalen deutschen Interesse, das wiederum vom deutschen Kapital de-


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PD-Chef Sigmar Gabriel positioniert sich gegen Merkel und fordert eine Föderation, also die »Vereinigten Staaten von Europa«. Wörtlich: »Wenn wir die Menschen für das europäische Projekt zurückgewinnen wollen, dann müssen wir die Reduktion Europas auf ein Wettbewerbseuropa beenden.« Hört sich doch gut an, oder? Das ist eben das Missverständnis, das die SPD und auch die Grünen gerne in die Welt setzen: Die Vorstellung, dass die EU über den nationalen Interessen schwebt, als eigenständiger politischer Körper. Diese Sicht ist aber falsch. Die EU ist vielmehr ein Rahmen, in dem die unterschiedlichen nationalen Interessen aufeinandertreffen. In einem komplizierten Aushandlungsprozess werden sie dort gebündelt – oder auch nicht. Manchmal setzt sich der Stärkere auch einfach auf Kosten der anderen durch – allein oder mit Verbündeten. Zur Zeit bestimmt ganz eindeutig die stärkste Wirtschaftsmacht die Agenda, nämlich Deutschland. Die nationale Politik Deutschlands setzt sich in europäische Politik um, nicht eins zu eins, aber doch in wesentlichen Zügen. Von daher geht auch die Warnung der SPD vor einem »Rückfall in den Nationalismus« fehl. Europäische Politik war immer geprägt von nationalen Interessen – zuvorderst natürlich von denen Deutschlands und Frankreichs.

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m 20. Jahrhundert war der historische Gegenentwurf zur europäischen Integration der aggressive deutsche Alleingang, der in zwei Weltkriegen mündete. Ist die EU, auch wenn sie von Deutschland dominiert wird, nicht das kleinere Übel? Zur Weltkriegssituation ist vieles das kleinere Übel. Trotzdem sollten wir nicht darüber hinwegsehen, dass sich die Grundlagen und Ziele des deutschen Imperialismus in den vergangenen hundert Jahren nicht wesentlich verändert haben. Nach 1945 drücken sie sich natürlich anders aus als vorher, nämlich in der Konzeption des freien und unbeschränkten Binnenmarkts und des Euros. Binnenmarkt und Euro sind so konstruiert, dass sie vor allem die deutsche, traditionell sehr produktive Wirtschaft extrem begünstigen, während sie schwächere Volkswirtschaften benachtei-

ligen. Dadurch kann der deutsche Kapitalismus seine Übermacht ausspielen und von einer starken europäischen Position aus die Weltmärkte erobern.

A

ber das Auftreten der deutschen Regierungen hat sich doch stark geändert. Ich erinnere mich, dass die Regierung Kohl peinlich darum bemüht war, den Eindruck zu vermeiden, Deutschland würde die anderen EU-Staaten gegen die Wand drücken. Die Kohl-Ära war in ihrer zweiten Hälfte geprägt von der EU-Osterweiterung. Mit Ausnahme von Polen und Rumänien sind hauptsächlich kleine Länder dazugekommen. Die deutsche Politik verfolgte das Ziel, diese kleineren Länder zu fördern und sie an sich zu binden, um sie – wenn nötig – in Stellung gegen größere Konkurrenten wie Frankreich und Großbritannien bringen zu können. Das hat sich nicht geändert. Die Bundesregierung versucht nach wie vor, die kleineren Länder vorab ins Boot zu holen, wenn es etwa darum geht, mit Frankreich strittige Dinge auszuhandeln.

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ine Kritik an der EU, auch von links, war immer, dass der Euro ohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitik eingeführt wurde. Die Verpflichtungen für die Staaten aus dem Fiskalpakt vereinheitlichen jetzt doch die Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Aus Anlass der Euroeinführung gab es eine solche Kritik sowohl von links wie von rechts. Man kritisierte damals, dass die Grundlagen für die neue Währung nicht vorhanden seien, da sie auf Dauer nur dann stabil sein könne, wenn sie von einer einheitlichen Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik getragen würde. Der Euro hätte nach dieser Kritik erst im Ergebnis einer langen Integrationsphase geschaffen werden dürfen, diese Position

nennt man auch »Krönungstheorie«. Anderer Meinung waren hingegen die Regierungen Deutschlands und Frankreichs. Sie setzten darauf, dass der Euro als Integrationsmotor schon genügen werde, und man auf diese Weise am Ende wie von selbst zu einer politischen Union käme. Die gegenwärtige Krise zeigt aber, dass diese Rechnung nicht aufgegangen ist. Die jetzt den Defizitländern auferlegten Maßnahmen führen zwar zu einer gewissen Angleichung der Wirtschafts- und Haushaltspolitiken, doch eine Vereinheitlichung ist das nicht. So bleiben etwa die Steuer- und die Sozialpolitik in den Händen der Mitgliedstaaten. Eine gemeinsame Politik wird es hier nur dann geben, wenn zugleich die Souveränitätsrechte der EULänder drastisch eingeschränkt werden, das ist aus meiner Sicht aber weder wünschenswert noch überhaupt möglich.

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er ESM soll in wenigen Monaten im Bundestag abgestimmt werden. Wie soll sich DIE LINKE deiner Meinung nach verhalten? Sie sollte natürlich dagegen stimmen. Sie muss sich aber genau überlegen, aus welchen Gründen sie es tut. Sie sollte nicht Eurobonds oder eine Finanzierung der Defizitländer durch eine Banklizenz für den EFSF oder den ESM als Alternativen dazu fordern, wie es SPD oder Grüne tun. All diese Instrumente laufen doch nur darauf hinaus, den beschriebenen »Käuferstreik« der Finanzmärkte abzusichern, indem man den Banken und Versicherungen das Risiko des Ausfalls ihrer Forderungen abnimmt. Und man sollte auch folgendes bedenken: Das Sagen bei Eurobonds und bei EFSF oder ESM haben immer die starken kerneuropäischen Länder und hier vor allem Deutschland. Sie verfügen über das nötige Geld, das verliehen werden kann. Und hier ist es natürlich wie überall im Leben: Wer bezahlt, bestimmt. Ländern, die über Eurobonds oder EFSF bzw. ESM finanziert werden, geht es dann so wie Griechenland, Irland oder Portugal. Ihnen wird eine harte und unsoziale Kürzungspolitik diktiert. DIE LINKE muss stattdessen an ihrer Forderung festhalten, dass zu einer Krisenlösung unbedingt die Streichung von Schulden der Defizitländer gehört, denn es geht um die Wiederherstellung ihrer Finanzsouveränität. Die Fragen stellte Stefan Bornost

TITELTHEMA EUROKRISE UND DIE LINKE

Deutscher Imperialismus heißt heute: Binnenmarkt und Euro

finiert wird. Die Bundesregierung verkauft dieses nationale Interesse dann als übergeordnetes europäisches Interesse.

33


1.

Es scheint unter Kritikern des Kapitalismus fast unumstritten, dass die gegenwärtige Krise daraus resultiert, dass sich das Finanzkapital von der Realwirtschaft gelöst hat. Daher könne sie – vereinfacht ausgedrückt – durch eine Rückführung und Anbindung des Finanzsektors an die »reale« Wirtschaft überwunden werden. Ich vertrete dagegen den Standpunkt, dass eine Trennung von Finanzkapital und Industriekapital nicht möglich ist und dass die Verselbständigung des Finanzkapitals nur Ausdruck einer zeitlich und ursächlich vorangegangenen Überakkumulation und daraus resultierender Realisierungsengpässe des Kapitalismus insgesamt war.

2.

Der Finanzsektor ist bis zur Wirtschaftskrise 2008/09 in bis dahin nie gekanntem Ausmaß gewachsen. Die Werte aller Aktien des Finanzsektors betrugen im Jahr 2004 in den USA 29 Prozent der Aktienwerte der Realwirtschaft. Damit lagen sie viermal so hoch wie der Vergleichswert von 1979. Im Jahr 2005 betrugen die Finanzwerte weltweit 316 Prozent des (jährlichen) Weltsozialprodukts, 1980 lag ihr Wert nur bei 109 Prozent. Mit anderen Worten: Seit Beginn der 1980er Jahre ist der Finanzsektor etwa dreibis viermal so schnell gewachsen wie die »Realwirtschaft«.

3.

Die wachsende Bedeutung des Finanzsektors hinterließ in der Weltwirtschaft deutliche Spuren. Jeder Aufschwung in den Konjunkturzyklen dieser Zeit war von Finanzspekulationen begleitet: Sie schlugen sich in massiven »Übertreibungen« (oder »Blasen«) auf den Aktienmärkten in den USA und Großbritannien (Mitte der 1980er und Mitte der 1990er Jahre) nieder, ebenso in einem gewaltigen Anstieg der Aktien- und Immobilienwerte in Japan Ende der Achtziger, im Boom der neuen Technologien (»dotcom«) zum Ende der Neunziger und schließlich im noch gewaltigeren Immobilien- und Häuserboom in den USA und großen Teilen Europas in den ersten sieben Jahren des neuen Jahrhunderts. Eine weitere Begleiterscheinung waren Wellen von Übernahmen und Zusammenschlüssen riesiger Firmen, finanziert durch Kredite der Finanzwirtschaft.

4.

Zugleich wuchs die allgemeine Verschuldung von Regierungen, großen Firmen der Realwirtschaft und Konsumenten. Das Kreditwesen wuchs um ein vielfaches im Vergleich zur Realwirtschaft. Das Kreditvolumen verdoppelte sich in den USA und verdreifachte sich in Japan in den 1980er Jahren. Der massive Boom im Eigenheimsektor in der Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts (2005/06) wurde in den USA, Großbritannien, Spanien und Irland von massiver Verschuldung des Mittelstands

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Der Fehler liegt im System »Spekulanten«, »Krisengewinner«, »Schmarotzer«: Der Finanzsektor steht am Pranger. Unser Autor erklärt in seinen elf Thesen zur Krise, woher die neue Macht des Finanzkapitals kommt und warum die Unterscheidung zwischen „bösen Banken“ und „guter Realwirtschaft“ wenig hilfreich ist Von Volkhard Mosler


6.

Die allmähliche und langfristige Verlangsamung der Akkumulation ist selbst Ausdruck des Rückgangs der Profitraten von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis Ende der Siebziger. Im Jahr 1973 waren die Profitraten weltweit auf ein so niedriges Niveau gefallen, dass eine Rohstoffkrise (Erste Ölkrise), verursacht durch einen Krieg im Nahen Osten, mit steigenden Ölpreisen ausreichte, um die erste Weltrezession seit 1945 auszulösen. Die Durchschnittsprofitrate aller Länder (Bruttogewinn im Verhältnis zum eingesetzten Kapital) betrug 1950 noch 22 Prozent. Sie fiel allmählich auf einen Tiefpunkt von nur 3 Prozent im Jahr 1986, stieg bis 2006 wieder auf 14 Prozent, um bis 2009 erneut auf 5 Prozent zu sinken.

»Kapitalismus funktioniert nicht« – ganz ihm Gegensatz zur Occupy-Bewegung. Erst der Winter und mehr als zehntausend Festnahmen holten die Bewegung von der Straße

und der Arbeiterklasse »finanziert«. Der italienischer Marxist Riccardo Bellofiore nannte diese Entwicklung treffend »privatisierten Keynesianismus«. Zusätzliche effektive Nachfrage wurde nicht durch Staatsverschuldung, sondern durch Verschuldung von privaten Haushalten erreicht.

5.

Das Wachstum des Finanzsektors geschah nie losgelöst vom produktiven Sektor. Es war das Produkt der Internationalisierung des Kapitalismus einerseits und einer auf lange Sicht allmählichen Verlangsamung der Akkumulation von Kapital andererseits. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs das Finanzkapital im Gleichklang mit der realen oder produktiven Wirtschaft. Auch auf die weniger industrialisierten Staaten wirkte der neue Finanzsektor. Seit den späten 1970er Jahren hatten Anleihen des IWF und von Banken eine endlose Kette aus Schulden, Zinsen, Tilgung und darauf folgenden »Umschuldungsprogrammen« geschaffen. Im Jahr 2003 betrug die Schuldenlast des globalen Südens 2,5 Billionen Dollar.

8.

Die relative Erholung der Profitraten in den 1980er und 1990er Jahren nahmen eine Reihe kritischer Ökonomen (Heiner Flaßbeck, Michael Houston, Michael Schlecht) zum Anlass zu argumentieren, dass es gerade die »zu hohen« Gewinne im Vergleich zu Löhnen und damit Massenkonsum seien, die zur Krise geführt hätten. Nach dieser als Unterkonsumtionsthese bezeichneten Annahme müssten eigentlich die Perioden mit einem relativ hohem Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen (Lohnquote) auch solche mit hohem Wirtschaftswachstum sein und umgekehrt müssten Perioden mit niedrigen Lohnquoten auch solche mit niedrigem Wachstum oder Kriseneinbrüchen sein. In der Realität war es aber genau umgekehrt. Im Durchschnitt der 1950er Jahre betrug die Lohnquote der Bundesrepublik 59,4 Prozent und das jährliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 8 Prozent. In den 1970er Jahren war die Lohnquote auf durchschnittlich 72,2 Prozent gestiegen, das jährliche BIP-Wachstum dagegen auf 3 Prozent zu-

TITELTHEMA EUROKRISE UND DIE LINKE

© tricky1800 / flickr.com

7.

Die Ursachen der sinkenden Profitrate können hier nur angedeutet werden. Karl Marx hat mit seinem »Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitraten« (Das Kapital, 3. Band) eine Erklärung für dieses Phänomen geliefert: Da nur die lebendige Arbeit Quelle von Wert sei, Maschinen und Anlagen im Laufe ihrer Lebenszeit ihren Wert nur auf die Produkte übertragen (»Abschreibung«) und weil der technische Fortschritt tendenziell mit einer Verdrängung der lebendigen durch »tote« Arbeit (Maschinen) einhergehe, wachse die »organische Zusammensetzung« des Kapitals, das heißt das Wertverhältnis von konstantem zu variablen Kapital (oder: »fixe Kosten« zu Arbeitskosten). Dass die Profitraten seit Mitte der 1980er Jahre wieder angestiegen sind, ist die Folge von erhöhten Ausbeutungsraten (Verhältnis bezahlter zu unbezahlter Arbeit) durch Lohnabbau, Arbeitszeitverlängerung und Deregulierungsmaßnahmen der Unternehmer in der Zeit des Neoliberalismus.

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rückgegangen. Es gibt kein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Einkommensverteilung so ungleich war wie in den 1950er Jahren und umgekehrt so hohe BIP-Wachstumsraten erzielt wurden. Umgekehrt waren die 1970er Jahren einerseits von den höchsten Reallohnzuwächsen und andererseits von einer Rückkehr von Wirtschaftskrisen geprägt. Höhere Lohnquoten waren also mit niedrigerem Wachstum verbunden. Marx’ These, dass steigende Löhne (im Verhältnis zu den Unternehmergewinnen) historisch als »Sturmvogel der Krise« oder als Vorboten der Krisen auftreten bestätigt sich also. Hohe Profitraten treiben die Akkumulation von Kapital an, niedrige lähmen sie. Damit soll freilich nicht die Unternehmerthese verteidigt werden, die auch bei Schröders Agenda 2010 Pate stand, dass nämlich die Senkung der Löhne und der Lohnstückkosten der Schlüssel zur Überwindung von Krisen seien. Marx’ Krisentheorie geht gerade umgekehrt davon aus, dass nicht die steigenden oder fallenden Lohnkosten die langfristig wirkende Ursache von Krisen sind, sondern die fixen oder Kapitalkosten. Deren langfristig steigende Tendenz im Verhältnis zum eingesetzten Gesamtkapital führt zum Fall der Profitraten und damit zur Krisenanfälligkeit des Systems.

von solchen Versprechungen auf zukünftige Wertsteigerung der realen Wirtschaft münden.

10.

Eine Trennung von »gutem« und »schlechtem« Kapital, von produktiver Realwirtschaft und unproduktivem Finanzsektor, macht keinen Sinn, wenn das Wachstum der Finanzwirtschaft nur Ausdruck und Folge einer Krise der Realwirtschaft ist. Umgekehrt: Das Wachstum des Finanzsektors und damit verbundener spekulativer Nachfrage nach bestimmten Anlagewerten (Gold, Kunstgegenstände, Nahrungsmittel, Immobilien oder neue Technologien) hat dazu beigetragen, die Krise der Realwirtschaft hinauszuzögern. Allerdings geschah das zu dem Preis, dass von Mal zu Mal die Einsätze steigen und damit auch die Risiken und Verluste – ähnlich wie bei Drogenabhängigen. Dementsprechend können die Krisen nicht mit Lohnerhöhungen und Steigerung des Massenkonsums überwunden werden, so wünschenswert diese Maßnahmen auch sind. Der Kampf für höhere Löhne kann von zwei gegensätzlichen Perspektiven geführt werden. Aus der unterkonsumtionistischen oder keynesianischen Perspektive führt er nicht nur zur Erhöhung von Löhnen und zu einem besseren Lebensstandard der Arbeiterklasse. Zugleich stellt er den Weg aus der Krise dar, indem er die Massenkaufkraft steigert. Doch diese Perspektive geht letztlich von einem gemeinsamen Interesse von Arbeit und Kapital aus. Die marxistische Perspektive hingegen unterstützt den Kampf für höhere Löhne nicht minder, aber er wird mit der Perspektive eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen den beiden zentralen Klassen geführt. Der Kampf für höhere Löhne und Sozialreformen schwächt die Kapitalistenklasse und stärkt die Arbeiterklasse.

Das Wachstum des Finanzsektors hat die Krise der Realwirtschaft hinausgezögert

★ ★★

Volkhard Mosler ist Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN in Frankfurt am Main.

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9.

Eine Folge fallender Profitraten war, dass die Konzerne und Unternehmen keine oder verringerte Gewinnchancen sahen und daher dazu tendierten, weniger in der Realwirtschaft zu investieren und stattdessen nach »anderen« Anlageformen im Finanzsektor suchten, wo höhere Gewinne in Aussicht standen. Der Soziologe und Geldtheoretiker Christoph Deutschmann schreibt: »Weil die Profitabilität der Unternehmen stagnierte, kam es nicht zu einem Anwachsen der Realinvestitionen, die die anwachsenden Finanzvermögen hätten verwerten und in den gesamtwirtschaftlichen Kreislauf zurücklenken können.« (Kapitalistische Dynamik, Wiesbaden 2008, S. 164) Volkswagen, General Motors, Siemens und viele andere Weltkonzerne haben seit den 1980er Jahren einen zunehmenden Teil ihrer Gewinne im Finanzsektor »investiert«. Die daraus entstandenen Gewinne sind freilich nur Papiergewinne, ihnen entsprechen keine wirklichen Werte. Dies stellt sich allerdings erst heraus, wenn die Finanz- (beispielsweise Derivate), Immobilien- und andere Spekulationsblasen (Dotcom) platzen, die in Erwartung von endloser Wertsteigerung durch die hohe Nachfrage nach solchen »Werten« entstehen, und sie in der Vernichtung

11.

Kapitalismus ist die Steuerung von Investitionen und Konsum vermittels des Profits am Markt. Dieses System hat abgewirtschaftet. Der Investitionsverweigerung stehen weltweit Mangel, Hunger und Not gegenüber. Deshalb muss die Produktion am Bedarf statt am Profit orientiert werden. Eine progressive Millionärssteuer (»Reichensteuer«) und eine demokratische Entscheidung über die daraus finanzierten staatlichen Investitionen wäre ein erster Schritt in diese Richtung. ■


Vorwärts und doch vergessen… Welches Europa wollen wir? Schon vor hundert Jahren spaltete diese Frage die deutsche Linke. Wir werfen einen Blick auf eine alte Debatte, die überraschend aktuell ist Von Stefan Bornost

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Weit gefehlt. Das Zitat stammt aus einer Rede des Reichstagsabgeordneten Richard Calwer. Gehalten hat er sie im Jahre 1905. Das zeigt: Weder ist die Debatte über Europa neu, noch sind es die sozialdemokratischen Irrwege in dieser Debatte. Calwers Logik ist wohlbekannt – es ist die Logik von Schröders Agenda 2010: Geht es der deutschen Wirtschaft gut, dann geht es auch dem deutschen Arbeiter gut. Damit es aber der deutschen Wirtschaft gut geht, braucht sie einen großen Markt – Europa. Und wenn sie diesen Markt dominiert, dann ist sie global konkurrenzfähig. So schwärmte denn auch schon Calwer von den Vorteilen, die sich aus einem einheitlichen europäischen Wirtschaftsgebiet ergäben. Sie seien »von so immensem Werte, dass gerade die sozialistische Arbeiterschaft in erster Linie auf die Verwirklichung dieses Zieles hinarbeiten muss. Der nächste Weg zum Sozialismus führt daher für die deutsche Arbeiterklasse über die Voraussetzung eines wirtschaftlichen Zusammenschlusses der europäischen Staaten«. In der Praxis hat diese Strategie kräftig Schiffbruch erlitten. Zwar ist das deutsche Kapital wie von Calwer vorausgesagt tatsächlich Nutznießer des europäischen

Fast 900 Delegierte aus 25 Ländern beschworen beim Sozialistenkongress 1907 in Stuttgart die internationale Solidarität. Aber schon damals waren in den Arbeiterparteien nationalistische Stimmen zu hören

TITELTHEMA EUROKRISE UND DIE LINKE

orneweg eine kleine Quizfrage: Von welchem Sozialdemokraten stammt das folgende Zitat? »Nichtsdestoweniger bleibt für Deutschland nur ein Weg übrig, seine wirtschaftliche Position zu behaupten und zu kräftigen: Es muss auf eine Beseitigung der wirtschaftlichen, politischen und nationalen Schranken zwischen den europäischen Ländern hinarbeiten und den großen Markt, den es außerhalb Europas nicht finden kann, sich in Europa selbst zu schaffen suchen.« War es Altkanzler Helmut Schmidt, der auf dem letzten SPDParteitag eine Grundsatzrede zu Europa hielt? Oder war es der Europaparlamentarier Martin Schulz, der sich ein wettbewerbsfähiges Europa wünscht?

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Massenmeeting während des Sozialistenkongress 1907: Als Redner traten August Bebel, Rosa Luxemburg und Jean Jaurès auf. 60.000 Menschen hörten zu

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Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

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Marktes. Doch die deutschen Arbeitnehmer haben davon wenig profitiert. Im Gegenteil: Sie und vor allem ihre europäischen Kollegen haben über den permanenten Angriff auf Löhne und Sozialstandards einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Auch die Idee der »Friedensmacht Europa«, wie sie die SPD in ihren aktuellen außenpolitischen Leitlinien formuliert, ist nicht sonderlich originell. Der Parteitheoretiker Karl Kautsky versuchte schon vor ziemlich genau 100 Jahren, nämlich 1911, seine Partei darauf einzustimmen. Damals schrieb er: »Für eine ständige Fortdauer des Friedens, die das Gespenst des Krieges für immer bannte, gibt es heute nur einen Weg: die Vereinigung der Staaten der europäischen Zivilisation in einem Bunde mit gemeinsamer Handelspolitik, einem Bundesparlament, einer Bundesregierung und einem Bundesheer – die Herstellung der Vereinigten Staaten von Europa.« Würde dieses Ziel erreicht, so Kautsky weiter, »wäre Ungeheures erreicht. Diese Vereinigten Staaten besäßen eine solche Übermacht, dass sie ohne jeglichen Krieg alle anderen Nationen, soweit sie sich ihnen nicht freiwillig anschlössen, dazu zwingen könnten, ihre Armeen aufzulösen, ihre Flotten aufzugeben.« Wäre ein solcher Zustand erreicht, höre auch für die Vereinigten Staaten von Europa »jede Notwendigkeit einer Bewaffnung auf«, frohlockte er. »Damit wäre die Ära des ewigen Friedens sicher begründet.« Dieser Vorstoß trat eine Debatte in der SPD los, die sich anzuschauen immer noch lohnt. Schärfste Kritikerin Kautskys war Rosa Luxemburg. Ihr Hauptargument gegen sein Konzept lautete: Kapitalistische Staaten ändern ihren Charakter nicht dadurch, dass sie sich zu einem Block zusammenschließen. Auch dann stünden sie weiter mit anderen Staaten und Staatenblöcken in Konkurrenz um Rohstoffe und Absatzmärkte. Die Auseinandersetzung würden sie wie gehabt mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln ausfechten. Einher ginge das ganze mit gesteigertem Rassismus: »Und jedes Mal, wo bürgerliche Politiker die Idee des Europäertums, des Zusammenschlusses europäischer Staaten auf den Schild erhoben, da war

es mit einer offenen oder stillschweigenden Spitze gegen die ›gelbe Gefahr‹, gegen den ›schwarzen Weltteil‹, gegen die ›minderwertigen Rassen‹, kurz, es war stets eine imperialistische Missgeburt.« Luxemburg zog daher die Schlussfolgerung, dass die Forderung nach einer Union der europäischen Staaten »objektiv innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur wirtschaftlich einen Zollkrieg mit Amerika und politisch einen kolonialpatriotischen Rassenkampf bedeuten« könne. Die Staaten eines geeinten Europas würden vielleicht keine Kriege mehr gegeneinander führen, dafür aber umso machtvoller gegen außereuropäische Staaten und die Kolonialvölker auftreten. Vom internationalistischen Standpunkt her sei das kein Fortschritt. In eine ähnliche Kerbe schlug der russische Sozialist Lenin mit seiner Kritik an Kautsky. Er schrieb: »Natürlich sind zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten möglich. In diesem Sinne sind auch die Vereinigten Staaten von Europa möglich als Abkommen der europäischen Kapitalisten.« Doch worüber, so fragte er rhetorisch, würden diese Abkommen gehen? »Lediglich darüber, wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken, gemeinsam die geraubten Kolonien gegen Japan und Amerika verteidigen könnte.« Ein Jahrhundert später sehen wir, dass sich Luxemburgs und Lenins Befürchtungen bewahrheitet haben. Zwar ist ein Krieg zwischen den europäischen Kernländern nun wirklich sehr schwer vorstellbar, doch stattdessen baut sich die EU als Militärmacht auf und führt außerhalb ihres Territoriums Kriege wie den in Afghanistan. Aber es gibt in der alten sozialdemokratischen Europadiskussion durchaus Ansätze, die DIE LINKE auch heute noch guten Gewissens vertreten kann. Den Überlegungen eines »Europa von oben« von Calwer und Kautsky stand eine andere Idee gegenüber: Internationalismus und Arbeiterverbrüderung. Im Jahr 1916 fasste Luxemburg diese Position zusammen: »Seit jeher galt in der Sozialdemokratie der Klassenkampf und die internationale Solidarität des Proletariats als oberster Grundsatz. In diesem Grundsatz wurzelt die ganze politische und wirtschaftliche Macht der Arbeiterklasse, in ihm wurzelt auch ihre künftige Befreiung, der Sieg des Sozialismus. Zwei Nationalitäten gibt es in Wirklichkeit in jedem Lande: die der Ausbeuter und die der Ausgebeuteten. Der eigene deutsche Kapitalist ist dem deutschen Proletarier Feind, der fremde Proletarier hingegen, ob Franzose, Engländer oder Russe, ist sein Bruder.« Luxemburg befürwortete durchaus auch die europäische Einheit – allerdings als eine Einheit »von unten«. Sie entstehe aus der Solidarität gemeinsamer Bewegungen und könne natürlich auch das Ergebnis einer länderübergreifenden sozialistischen Revolution sein. Höchste Zeit, diesen Faden eines vereinten Europas weiterzuspinnen. ■


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WELTWEITER WIDERSTAND WELTWEITER WIDERSTAND

Pakistan Seit Januar protestieren tausende Pakistaner gegen die Regierung des Landes. Auslöser für die Proteste war ein massiver Anstieg der Gas- und Strompreise. Viele der Stationen, an denen sich die Bevölkerung mit Gas versorgt, wurden geschlossen, um den Versorgungsengpass der Industrie auszugleichen. Die exportorientierte Textilbranche hatte mit ProduktionsverlaMehr als einhundert Studierende und Schüler kommen auf einem zentralen Platz gerungen gedroht. Nach einer Großdemonstration blockierten einige hundert Demonstranin Chiles Hauptstadt Santiago zusammen, um küssend gegen die neoliberale Bildungs­ politik der Regierung demonstrieren ten eine Schnellstraße. Die Polizei feuerte daraufhin Plastikgeschosse auf diezu Protestierenden. © Usman Malik / flickr.com / CC BY-NC

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Nigeria

Präsident Goodluck Jonathan hebt die Benzinsubventionen auf. Die Gewerkschaften legen daraufhin eine Woche lang ganz Nigeria lahm Von Baba Aye

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nfang Januar sind Nigerias Arbeiter in den Generalstreik getreten. Schon der erste Tag war ein überwältigender Erfolg. Etwa zehn Millionen Menschen protestierten auf den Straßen. Der Grund für die Proteste war, dass Präsident Goodluck Jonathan zu Beginn des Jahres die Subventionen für Treibstoff aufgehoben hatte. Die Mehrheit der 160 Millionen Nigerianer hat täglich weniger als 320 Naira zur Verfügung. Das entspricht etwa 1,50 Euro. Nach der Ankündigung des Präsidenten stiegen die Benzinpreise über Nacht von 65 auf 141 Naira pro Liter. Die beiden großen Gewerkschaftsverbände des Landes riefen zum Streik auf. Ihre Forderung lautete: Wiedereinführung der Subventionen. Ihre Mitgliedschaft beläuft sich zusammen zwar nur auf sieben Millionen, aber der Streik zeigte ihre strategische Macht. Die gesamte nigerianische Wirtschaft kam zum Stillstand. Fabriken, Banken und Behörden blieben geschlossen. Die meisten Geschäfte und die unüberschaubare Zahl von kleinen Läden machten dicht. In fast jeder großen Stadt, mit Ausnahme des Nordostens, der sich im militärischen Ausnahmezustand befindet, brachten die Menschen die Straßen und Viertel unter ihre Kontrolle. Doch selbst in den militarisierten Gebieten fuhren Beobachtergruppen in Bussen herum, um sicherzustellen, dass der Streik nicht zusammenbricht. Die nigerianische Gewerkschaftsbewegung ist die einzige landesweite demokratische Kraft, die Menschen über Bekenntnis- und ethnische Grenzen hinweg verbindet. Die Aktionen der Arbeiterklasse zeigen das Potenzial für ein anderes Nigeria, in dem die 99 Prozent nicht mehr marginalisiert und vom Kapitalismus geknechtet leben müssen. Nigerias Eliten gaben natürlich nicht einfach nach. Mehr als zwanzig Demonstran-

ten wurden verletzt, als die Polizeikräfte das Feuer auf Streikende in den Städten Lagos, Kano, Gusau und Asaba eröffneten. Mindestens drei starben. Die Täter in Lagos wurden von Beobachtern identifiziert. Sie notierten das Kennzeichen des Polizeiwagens und veröffentlichten es über die sozialen Netzwerke. Um die Wut der Bevölkerung zu dämpfen, hat der Staatsgouverneur von Lagos die Verhaftung der beteiligten Polizisten angeordnet. Die Spannungen zeigten sich schon im Vorfeld des Streiks. So war es in der Woche zuvor zu spontanen Demonstrationen in einem Dutzend Städten gekommen. In Kano besetzten zehntausende Protestierende das Stadtzentrum, das sie – inspiriert von der Protestbewegung in Ägypten – in »Freiheitsplatz« umbenannten. Religiöse Glaubenszugehörigkeiten spielten überhaupt keine Rolle. Die Polizei löste die Versammlung zwar brutal auf, aber viele Polizisten sympathisieren mit der sich entfaltenden Revolte. Etwa 300 von ihnen beteiligten sich sogar am Protestmarsch in Lagos Mitte Januar. Der Polizeichef bezeichnete sie als Meuterer. Knapp eine Woche legten die Proteste das Land lahm. Am 16. Januar beendete die Gewerkschaftsführung dann den Streik, nachdem die Regierung zugesagt hatte, die Treibstoffsubventionen zum Teil wieder einzuführen. Doch es ist nur ein halber Sieg. Für die Regierung stellte es zwar einen bedeutenden Rückschlag dar. Der Benzinpreis ist nun nur auf 97 Naira gestiegen, aber auch das belastet die Armen enorm. Was jedoch bleibt, ist die Einsicht von Millionen Nigerianern, dass sie gemeinsam erfolgreich für Veränderungen kämpfen können. ★ ★★ Baba Aye ist Sprecher der nigerianischen Socialist Workers League.

8Zypern In der sogenannten UN-Puffer-Zone, die die türkische von der griechischen Hälfte Zyperns trennt, haben Aktivisten ein Zeltlager im Stil der Occupy-Bewegung eingerichtet. Nachdem bereits im Oktober immer wieder »Asambleas« inmitten der demilitarisierten Zone abgehalten wurden, gibt es dort seit November ein permanentes »No-Border-Camp«, das unter anderem eine Lösung der »Zypernfrage« fordert und die Brutalität des türkischen Militärs anprangert.

8England Im Norden Londons demonstrierten Ende Januar etwa eintausend Kinder und Erwachsene gegen die geplante Privatisierung von vier Grundschulen. Die so entstehenden »Academies« würden von privaten Stiftungen finanziert und entzögen sich damit de facto der staatlichen Einflussnahme. Der Kultusminister kündigte nun an, die Pläne überprüfen zu lassen.

8SIMBABWE Die Regierungsmitarbeiter Simbabwes haben vier Tage lang gestreikt. Mit einem monatlichen Einkommen von unter 200 Euro liegen viele von ihnen deutlich unter der von der Regierung festgelegten Armutsgrenze. Sie fordern nun den doppelten Lohn und eine Sicherstellung von medizinischer Grundversorgung. Auch ein nach drei Tagen geführtes Gespräch mit Regierungsvertretern hat zu keiner Einigung geführt und der Streik wurde fortgesetzt.

Rumänien

Protest gegen Privatisierung Im Januar demonstrierten Tausende in Rumänien gegen die Privatisierung des Gesundheitssystems. Der von der Liberal-Demokratischen Partei auf den Weg gebrachte Gesetzesentwurf soll zu einem zusätzlichen Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern führen, außerdem werden die Leistungen der Krankenkassen beschnitten. Landesweit gingen mehr als 10.000 Menschen auf die Straße.

Weltweiter Widerstand

Treibstoff des Protests

8NEWS

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INTERNATIONALES

© Wolfgang Wildner / flickr.com / CC BY-ND

Ein Patt mit Putin

Massenproteste im russischen Winter: Vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen brodelt es im größten Land der Welt. Doch die Oppositionsparteien sind schlecht aufgestellt Von Boris Kagarlitsky

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m Dezember kam die globale politische Krise schließlich auch in Russland an. Hunderttausende protestierten gegen die Fälschungen bei der Parlamentswahl. Kurz darauf verfiel das Land jedoch in seinen traditionellen Winterschlaf. Zwischen dem 31. Dezember und dem 13. Januar passiert dort nie etwas, schon gar keine Revolution. Die zweiwöchigen Ferien stellten sich als Glück für die Regierung heraus. Sie betäubten die Leidenschaft der Opposition und brachten den Schwung, den die Protestbewegung gerade erst entwickelt hatte, zum Erliegen. Und obwohl die Russen im Dezember einen Sprung aus der Passivität zum aktiven Protest gemacht haben, müssen sie zunächst wieder in Schwung kommen, wenn die Demonstrationen wie geplant Anfang Februar weitergehen. Die Massenproteste waren das Resultat einer Unzufriedenheit, die seit einigen Jahren angewachsen war, aber nie einen Ausdruck gefunden hatte. Trotzdem war kaum vorhersehbar, dass der Staat ausgerechnet wegen der Wahlen zur weitgehend machtlosen Staatsduma in eine Krise geraten würde. Die Abgeordneten der Duma sind einschließlich der Opposition nur Marionetten der Regierung.

sogar über die der Regeln, nach denen es aufgestellt wird, hinaus. Die einzige politische Funktion der Duma-Wahlen war die Vorbereitung der im März stattfindenden Präsidentschaftswahlen. Doch auch die werden nicht darüber entscheiden, wer künftig die Geschicke des Landes in den Händen hält. Für die herrschende Elite ist Wladimir Putin, wenn er für weitere sechs oder zwölf Jahre an der Macht bleibt, ein Garant für Stabilität. Ihn werden sie nicht opfern, um den Demonstranten entgegenzukommen. Hier in Russland werden Entscheidungen nicht von den Wählern oder den Versammlungen der politischen Parteien getroffen – weder von der Putin-Partei Einiges Russland noch von ihren Vorgängerorganisationen – sondern von Zusammenkünften der Elite aus Bourgeoisie und Bürokratie. Die nötigen Informationen werden der Öffentlichkeit dann auf dem Parteitag von Einiges Russland bekannt gegeben, und damit erklärt man die Angelegenheit für abgeschlossen. Die Funktion der Duma-Wahlen besteht lediglich darin, bereits gefällte Entscheidungen zu legitimieren und Beziehungen rechtlich zu formalisieren, die ohnehin schon bestehen.

Selbst die Oppositionellen in der Duma sind nur Marionetten der Regierung

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Boris Kagarlitsky ist Direktor des Instituts für Globalisierungsforschung und Soziale Bewegungen in Moskau.

INTERNATIONALES

Noch vor wenigen Monaten, als ich die sich abzeichnende Krise mit Kollegen an meinem Institut diskutierte, konnten wir nicht ausmachen, was der Zündfunke für Massenproteste sein könnte. Die Einschätzung, zu der die Teilnehmer der Diskussion kamen, war, dass der Auslöser etwas Lächerliches sein würde, irgendeine eigentlich unbedeutende Befugnisüberschreitung der Behörden, wie sie an der Tagesordnung sind. Genau dies erfüllten die Wahlen. Der fiktive Charakter des ganzen Prozedere und die offenen Absprachen zwischen der Regierung und der Opposition waren der Öffentlichkeit und besonders den Demonstranten bekannt. Der massive, absurde und praktisch unverhohlene Betrug wurde daher weniger als politischer Akt denn als Geste plumper Überheblichkeit wahrgenommen. Es war, als ob die Gesellschaft nur auf einen Anlass für eine Revolte gewartet hatte und ihn nun fand, als die routinemäßig durchgeführte Wahlfälschung unerwartet zu einem öffentlich diskutierten Thema wurde. Gleichzeitig geht die Bedeutung des Dramas, das sich jetzt abspielt, weit über die Frage der Zusammensetzung des russischen Pseudoparlaments und

Die Krise vom Dezember hat das Szenario durcheinandergebracht, das die Herrschenden entworfen hatten. Durch den rapiden Popularitätsverlust von Einiges Russland, das Anwachsen der Protestaktivitäten und die Kritik am bislang immer akzeptierten Wahlablauf ist eine qualitativ neue Situation entstanden. Die Wahlen haben ihre grundlegende Funktion – die Wahl der Eliten des Landes zu legitimieren – nicht mehr erfüllt und sind zum Problem geworden. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Präsidentschaftswahlen im März »authentisch« werden. Es wird keinen einzigen Gegenkandidaten zu Putin geben – und selbst wenn doch, wäre das für die Gesellschaft kaum von Vorteil. Russlands Parteien sind entweder Splittergruppen der Elite oder randständige Kräfte unterschiedlicher Färbung, vor allem Liberale und Nationalisten. Die Tatsache, dass große Teile der Gesellschaft die Regierung ablehnen, wie es im Dezember deutlich wurde, bedeutet jedoch nicht, dass die Opposition beliebt wäre. Ebenso wenig spiegeln die Forderungen, die die Organisatoren der Demonstrationen aufgestellt haben, die wirklichen Ursachen der weit verbreiteten Unzufriedenheit wider. So sind die libe-

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★ ★★ marx21.de Gegen die umstrittene Parlamentswahl in Russland Anfang Dezember haben Zehntausende demonstriert. Andrej Kolganow und Alexander Busgalin beleuchten die Hintergründe: tinyurl.com/m21russland

ralen Oppositionsführer nicht bereit, die soziale Frage auf die Tagesordnung zu setzen. Leider verteidigt das gesamte Lager der linken Kommentatoren überschwänglich diese Haltung und erklärt, dass wir die Massenbasis der Proteste »einengen« würden, wenn wir soziale Forderungen erheben würden. Tatsache ist allerdings, dass den Menschen in Russland heute das Schicksal ihres örtlichen Krankenhauses weitaus wichtiger ist als die Wahlen. Am 10. Dezember beteiligten sich landesweit rund 250.000 Menschen an den Demonstrationen. Als im Jahr 2005 Proteste gegen die Sozialpolitik der Regierung ausbrachen, kamen trotz des Frosts im Januar 2,5 Millionen Menschen auf die Straße. Die Massenbasis für soziale Proteste ist um ein Vielfaches größer als die Gesellschaftsschichten, auf die sich die Organisatoren der jüngsten Proteste verlassen können. Daraus sollte man nicht den Schluss ziehen, dass die Russen keine ehrlichen Wahlen bräuchten. Aber die überwältigende Mehrheit der Menschen wird sich dem Kampf dafür nur anschließen und sich den Schlagstöcken der Polizei aussetzen, wenn klar ist, dass Wahlen Veränderungen in ihrem Leben bewirken können. In dieser Frage allerdings teilen die Oppositionspolitiker nicht die Sicht der Bevölkerung, sondern stehen im Gegenteil auf Seiten der Regierung. Das Problem liegt darin, dass ihre Haltung dazu führen wird, dass nicht einmal die minimalen »allgemein demokratischen« Forderungen, die jetzt erhoben werden, durchsetzbar sind. Entweder bauen wir eine wirklich massenhafte, mächtige Bewegung um ein echtes, umfassendes demokratisches Programm herum auf, das Forderungen enthält, die den grundlegenden Bedürfnissen der Mehrheit der Menschen in Russland entsprechen, oder die gegenwärtige Revolte wird einschlafen – ohne auch nur die begrenzten Ziele erreicht zu haben, die die Liberalen und ihre Unterstützer aus der »Linken« bereit sind mitzutragen. Die Situation gleicht einer Sackgasse. Denn ein echter Triumph der Demokratie wäre gleichbedeutend mit einem vollständigen Zusammenbruch der Opposition. Die Herrschenden sind nicht bereit zurückzuweichen, und die Opposition hat Angst zu gewinnen. Zweifelsohne würden beide Seiten am liebsten still eine Vereinbarung miteinander erreichen. Jedoch ist die Politik in Russland nun in den Bereich der Öffentlichkeit gedrungen und eine geheime Abmachung zwischen beiden Seiten würde den Konflikt nicht lösen. Im Schach nennt man eine solche Situation ein Patt. Das Leben ist jedoch kein Schachspiel, in dem man die Figuren einfach vom Brett nehmen und von vorne anfangen kann. Früher oder später wird die Lage außer Kontrolle geraten und in eine neue Phase des Konfliktes übergehen. Das wird passieren, wenn der politische Protest durch soziale Proteste ergänzt wird und neue Spieler das Feld betreten. Darauf werden wir nicht mehr allzu lange warten müssen. ■

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»Es fehlt eine glaubwürdige Alternative«

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it dem Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali begann der Arabische Frühling. Massenmobilisierungen folgten in Ägypten, Libyen, Jemen, den Golfstaaten und Syrien. Welchen Namen würdest du diesen Bewegungen geben? Gemeinsam ist ihnen die Forderung nach einem Regimewechsel, nach der Demokratisierung des politischen Lebens. Diese Forderung gibt einer breiten Masse von Menschen mit unterschiedlichen Ansichten die Möglichkeit, zusammenzukommen. In Tunesien standen politische Forderungen zunächst nicht im Mittelpunkt. Aber nachdem die Bewegung zu einem Kristallisationspunkt der Opposition gegen das despotische Regime geworden war, gewann sie enorm an Breite.

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ie schätzt du die Politik der USA und der EU in der Region ein? Hat der Westen nach den Wahlen in Tunesien, Marokko und Ägypten und dem militärischen Eingreifen in Libyen die Kontrolle zurückgewonnen? Die USA befanden sich nach den Aufständen in Tunesien und Ägypten in einer schwierigen Situation. Mittlerweile ist es ihnen gewissermaßen gelungen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Aber es wäre in meinen Augen übertrieben zu sagen, sie hätten wieder die Kontrolle über die Region. Insgesamt ist die amerikanische Hegemonie durch den Gang der Ereignisse geschwächt. Das zeigt sich in der relativen Handlungsunfähigkeit der USA

Gilbert Achcar

Gilbert Achcar ist Professor für Entwicklungsstudien und internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London und Autor zahlreicher Bücher. Seine letztes Buch »Die Araber und der Holocaust« (Nautilus) erscheint demnächst auf Deutsch.

★ ★★ »MARX IS' MUSS«-KONGRESS 2012 Gilbert Achcar spricht über die Perspektiven der Arabischen Revolution

in Syrien, vor allem aber im Fall Libyens. Es war ein Eingreifen aus der Ferne, ohne Bodentruppen, das keiner Fraktion eine wirkliche Kontrolle über das Land gab. In Ägypten haben die mit Washington verbündeten Militärs zwar noch die Lage im Griff, aber ihre Herrschaft wird von der Straße massiv infrage gestellt. Ihr Bündnis mit der Muslimbruderschaft ist alles andere als spannungsfrei. Unter Mubarak war die Lage noch eine ganz andere. Jetzt, wo die Volksbewegung sich auf der Straße behauptet, sind die USA auf der Suche nach neuen Verbündeten mit einer echten gesellschaftlichen Basis. Daher ihre Annäherung an die Muslimbruderschaft, die noch in jüngster Vergangenheit dämonisiert wurde, aber jetzt auf einmal als »moderate Muslime« im Gegensatz zu den Salafisten gelten. Die Monarchien am Golf haben gemeinsam mit den USA die Region zumindest kurzfristig zu stabilisieren versucht. Katar pflegt schon seit Jahren Beziehungen zur Muslimbruderschaft und ist mittlerweile zu ihrem wichtigsten Geldgeber aufgestiegen. Das Emirat stellt ihr mit dem Fernsehsender al-Dschasira eine wichtige politische Plattform zur Verfügung, viele Angestellte des Senders gehören der Bruderschaft an. Zugleich ist Katar ein bedeutender Bündnispartner der USA und beherbergt deren wichtigsten Militärstützpunkt in der Region. Parallel dazu hat es aber lange Zeit gute Beziehungen mit dem Iran gepflegt und mit der libanesi-

INTERNATIONALES

Vor einem Jahr begann der Arabische Frühling. Unser Interviewpartner Gilbert Achcar gibt einen Überblick über die gegenwärtige Situation und erklärt, warum auch die Machthaber im Westen auf der Hut sein sollten

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Die Arbeiterbewegung ist die einzige Alternative zu den islamischen Parteien

schen Hisbollah – sozusagen um das Risiko breiter zu streuen. Das alles steht auch noch im Zusammenhang mit der Rolle der Türkei als Regionalmacht: Das Land ist als NATO-Mitglied mit den USA verbündet, seine Regierung verfolgt gleichzeitig aber auch die spezifischen Interessen des türkischen Kapitalismus. Das sind die großen staatlichen Akteure in der Region. Der wichtigste aber ist die Massenbewegung. Auch in den Ländern, in denen sie bereits Halbsiege für sich verbuchen konnte, wie Tunesien oder Ägypten, macht sie weiter.

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ie sind die Wahlsiege der islamistischen Parteien in Tunesien, Marokko und Ägypten einzuordnen? Werden diese die Bewegung ähnlich wie in der Iranischen Revolution (1979–81) in die Schranken weisen? Oder handelt es sich hier um ein ganz anderes Phänomen? Das ist von Land zu Land unterschiedlich. Der Erfolg der Islamisten in Marokko ist sehr begrenzt, allein schon deshalb, weil die Wahlen von der Opposition, die ebenfalls einen starken islamischen Flügel besitzt, boykottiert wurden. Der Erfolg der »loyalen« Islamistischen Partei kam der Monarchie sicher sehr gelegen, wenn er nicht von ihr sogar befördert wurde. Denn damit konnte der Schein erweckt werden, Marokko habe die gleiche Wandlung vollzogen wie andere arabische Länder. Die Wahlerfolge der islamistischen Parteien in Tunesien und Ägypten hingegen sind schon beeindruckender. Die ägyptischen Wahlen fanden vor dem Hintergrund statt, dass die Muslimbruderschaft jahrzehntelang die einzige in der Bevölkerung verankerte Opposition darstellte. Sie hat zwar die Massenbewegung nicht ins Leben gerufen, war aber am besten platziert, um von ihr zu profitieren. Die Partei des Regimes wurde durch die Wucht der Massenbewegung weggefegt. Was ihre Organisationsformen betrifft, war diese Massenbewegung aber im Wesentlichen ein dezentralisierter Aufstand, angeführt von verschiedensten Netzwerken und nicht von irgendeiner Partei. Die Muslimbruderschaft war die einzige organisierte und mit materiellen Ressourcen ausgestattete Kraft in der Bewegung. In Tunesien wiederum war die islamische Partei Ennahda unter Ben Ali verboten und wurde systematisch verfolgt. Das repressive Regime verhinderte überhaupt die Entstehung jeglicher Opposition, auch

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einer linken oder demokratischen. Letztere hatte sich nicht so stark verankern können wie die Ennahda in den frühen 1990er Jahren noch vor ihrem Verbot. Daher konnte sich die islamische Partei im Laufe der Jahre den Ruf als stärkste und radikalste Kraft in den Reihen der Opposition gegen Ben Ali erwerben, obwohl auch sie den Aufstand nicht begann. Aber angesichts der knappen Zeit bis zu den Wahlen fand sie sich, ähnlich der ägyptischen Muslimbruderschaft, in einer viel günstigeren Ausgangslage wieder als die übrigen politischen Kräfte. Die islamischen Parteien hatten in beiden Ländern Geld – eine unerlässliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlkampf.

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önnten auf längere Sicht von unten aufgebaute Kräfte die islamischen Parteien ersetzen? Zurzeit ist das Hauptproblem, dass eine glaubwürdige Alternative fehlt. In meinen Augen ist die Arbeiterbewegung das einzige Gegengewicht zu den islamischen Parteien in der Region. In Ländern wie Tunesien und Ägypten stellt sie, ganz anders als die Liberalen, eine mächtige Kraft dar, die tief in der Bevölkerung verwurzelt ist. Der unmittelbar nach Mubaraks Sturz gegründete unabhängige Gewerkschaftsbund EFITU zählt bereits anderthalb Millionen Mitglieder. Es waren letztlich Streiks, die Mubarak den Garaus bereiteten. Aber die größte Schwäche der Arbeiterbewegung ist ihre fehlende politische Vertretung, sowohl in Ägypten als auch in Tunesien. Die Entstehung einer Massenarbeiterpartei gestützt auf Gewerkschaften sollte eigentlich im Mittelpunkt stehen, aber sie genießt leider keine Priorität im Denken der radikalen Linken in diesen Ländern.

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laubst du, die Revolutionäre in Syrien können den Sieg davon tragen? Welche Kräfte sind dort stark? Es handelt sich um einen extrem populären Massenaufstand. Das Land leidet schon seit Jahrzehnten unter der Wirtschaftsliberalisierung, die sich gerade in den letzten Jahren beschleunigt hat. Die schwindelerregenden Preissteigerungen sind Ausdruck davon. Die soziale Lage der Menschen hat sich drastisch verschlechtert, die Armut steigt dramatisch. Der Anstoß für den Sturz des Regimes kam aus Tunesien, Ägypten und Libyen folgten, und wir haben den Ausbruch einer Bewegung in Syrien erlebt, von der keine politi-


© Carlos Latuff

Ein zartes Pflänzchen: Die Bewegung in Ägypten hat mehr Demokratie erkämpft. Zeichnung des brasilianischen Künstlers Carlos Latuff

Nationalrat zusammengefasst, der von einem Großteil der Aufstandsbewegung als legitime Vertretung anerkannt wird. Und dann gibt es noch die Dissidenten aus der Armee. Der weit verbreitete Frust unter den Soldaten hat viele dazu gebracht, die Streitkräfte zu verlassen. Anfänglich geschah das ganz unorganisiert, mittlerweile gibt es die Freie Syrische Armee, die vor dem Hintergrund eines beginnenden Bürgerkriegs zwischen den Armeedissidenten und der Leibgarde des Regimes operiert.

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as denkst du über die Schwierigkeiten, in Europa Solidaritätskampagnen mit den arabischen Revolutionen zu organisieren? Ich glaube, dass die Aufstände in Tunesien, vor allem aber in Ägypten, auf breite Sympathie gestoßen sind, selbst in den USA. Die Proteste in Wisconsin beispielsweise hatten Ägypten zum Vorbild. Viele Transparente auf der Gewerkschaftsdemonstration in London im März vergangenen Jahres bezogen sich ebenfalls auf Ägypten, genau wie die Bewegung der In-

dignados in Spanien oder die Proteste in Griechenland und die Occupy-Bewegung. Die Menschen sagen: »Wir machen es ihnen nach« oder »Sie haben den Schritt gewagt, wir werden es auch tun.« Dabei bin ich mir der Begrenztheit von alledem bewusst. Derzeitig ist die Lage in keinem europäischen Land mit der in der arabischen Welt vergleichbar – damit meine ich jene Kombination aus scharfer sozialer Krise und illegitimer, despotischer Regierung. Noch greift der Westen nicht gegen die Aufstände in der Region ein. Sollte es so weit kommen, wäre es natürlich unsere Pflicht, dagegen zu mobilisieren. Aber gegenwärtig ist es wichtiger, dass wir von ihrem Beispiel lernen. Sie zeigen, wie eine Massenbewegung ein Land radikal verändern kann. ★ ★★ HINTERGRUND: Bei diesem Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Interview, das zuerst auf Englisch in der britischen Zeitschrift International Viewpoint (Nr. 444, Januar 2012) erschienen ist.

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sche Kraft behaupten könnte, sie zu kontrollieren oder gar ins Leben gerufen zu haben. Im Mittelpunkt der Aufstände stehen vor allem Jugendnetze in Gestalt von lokalen Koordinierungskomitees, die sich seitdem überregionale Strukturen gegeben haben und die Bewegung nach wie vor vorantreiben. Sie gehören zu keiner politischen Organisation. Es stehen aber politische Kräfte in den Startlöchern und schmieden Bündnisse, um die Bewegung zu »vertreten«. Zwei miteinander konkurrierende Gruppierungen haben sich herauskristallisiert. Die eine umfasst mehr oder minder linke Kräfte. Sie zählen keineswegs alle zur radikalen Opposition gegen das Regime und haben eine zweideutige Haltung ihm gegenüber. Die zweite umfasst radikalere Oppositionsparteien, eine Vielfalt an Kräften, von der Muslimbruderschaft, die auch hier eine zentrale Stellung innehat, über die Demokratische Volkspartei, eine Abspaltung der syrischen Kommunistischen Partei, bis hin zu kurdischen Parteien. Diese Gruppierungen sind im Syrischen

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KONTROVERS

Wie hältst du’s mit dem Regime? Syriens Diktator drangsaliert seine Bevölkerung und lässt auf Oppositionelle schießen. Wie sollten sich Linke dazu verhalten? Wir dokumentieren eine Debatte zwischen junge-Welt-Autor Werner Pirker und der Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz

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Revolution 21 Von Werner Pirker

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IE LINKE ist in ihrer Mehrheit, aber keineswegs in ihrer Gesamtheit eine Antikriegspartei. Dass sie in ihren Reihen mit dem BAK Shalom Kriegshetzer toleriert, sollte man nicht als Kuriosum abtun, da deren aggressiv prozionistische und proamerikanische Positionierung einen zunehmend zersetzenden Einfluss auf linke Bewusstseinsbildung ausübt. Dieser Bundesarbeitskreis der Linksjugend bringt in zugespitzter Form zum Ausdruck, worauf die Parteirechte letztendlich hinauswill: DIE LINKE kriegstauglich zu machen. Der vom BAK Shalom skandalisierte Aufruf zur Solidarität mit den Völkern Syriens und Irans hatte dann auch die entsprechenden Reaktionen des »Reformflügels« in der Linkspartei zur Folge – unter Reform wird die Aufweichung der Antikriegsposition und die Umdeutung imperialistischer Gewaltpolitik zur Schutzverpflichtung gegenüber den Völkern verstanden. Die massive Kritik des Bartsch-Lagers an den Autoren und Unterzeichnern des Aufrufs gegen die Kriegsvorbereitungen des Westens lässt deshalb auch nur den

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Schluss zu, dass die Rechten in der Linken Kriegen gegen Syrien und Iran nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen, sondern sie einer »Einzelfallprüfung« unterziehen wollen. Der Vorwurf an die Kriegsgegner, sich mit ihrem Appell an der Seite der Schlächter der Völker Syriens und Irans positioniert zu haben, wird nicht nur von den Freunden israelischer und amerikanischer Kriege erhoben, sondern auch von Anhängern der permanenten Weltrevolution. Zwar hat sich Christine Buchholz, Mitglied der Linksfraktion im Bundestag und Vertreterin der Strömung marx21, nicht direkt gegen den Friedensappell ausgesprochen. Dass sie aber ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Schmutzkampagne gegen die Friedensaktivisten mit einer Erklärung vorstellig wurde, in der sie ihre uneingeschränkte Solidarität mit der »syrischen Revolution« bekundet, lässt sich wohl nur als ein Akt der Distanzierung von den Aufrufunterzeichnern interpretieren. Im günstigsten Fall kann man ihr eine Position der Äquidistanz zubilligen, wie sie viele Linke in den Kriegen gegen Jugoslawien und den Irak eingenommen haben. Man verurteilte den Krieg, aber auch die Regime, gegen die er geführt wurde. Christine Buchholz unterstützt den »Volksaufstand in Syrien«. Gleichzeitig will sie aber auch gegen »westliche Interventionen« sein. Der Westen wird es sich freilich nicht nehmen lassen, für die von Genossin


© Gwenael Piaser / CC BY-NC-SA

»Die Märtyrer von Dar’a haben die Revolution begonnen.« (l.) In der südsyrischen Stadt nahmen die Proteste ihren Anfang. Das Regime riegelte die Grenzmetropole daraufhin ab und verübte ein Massaker an den Demonstranten. Aber die Bewegung ging weiter. Im April erreichten die Proteste die Hauptstadt. Zehntausende demonstrierten damals in Damaskus

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© Syrien Syriana 2011 / flickr.com / CC BY

Solidaritätskundgebung in Brüssel: Überall auf der Welt gehen Exilsyrer auf die Straße und demonstrieren ihre Verbundenheit mit den Aufständischen

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Buchholz unterstützte Seite im syrischen Bürgerkrieg Partei zu ergreifen. Und da stellt sich dann eben die Frage, ob diese Seite tatsächlich die fortschrittliche, die antiimperialistische in diesem Konflikt ist? Zumindest, ob sie es auch noch ist, nachdem die Westmächte den Regimewechsel in Damaskus zur Chefsache gemacht haben? Die in dem Aufruf bekundete Solidarität mit den Völkern Syriens und Irans bezieht sich auf deren Recht, frei von imperialistischer Einmischung über ihr Schicksal zu entscheiden. Die von Buchholz und Genossen bekundete Solidarität ist hingegen nichts anderes als der linke Flankenschutz für den westlichen Interventionismus. Und da erstaunt es dann auch nicht, dass die trotzkistische Abgeordnete die westlichen Propagandavorgaben vom massenmörderischen Assad-Regime, dem das Volk todesmutig die Stirn bietet, ungeprüft übernimmt. »Tag für Tag«, schreibt sie aus der bürgerlichen Presse ab, »werden 20, 30 oder 40 Personen im ganzen Land von Einheiten des Regimes getötet. Geschätzte 5000 Menschen wurden seit Beginn der Proteste ermordet, viele weitere inhaftiert, gedemütigt und gefoltert.« Unerwähnt bleibt, dass es sich längst nicht mehr um friedliche Proteste handelt, dass die Opposition, vom westlichen Machtkartell dazu ermutigt, alles auf die Karte einer bewaffneten Machtübernahme setzt. (...) Der Umsturz in Libyen und der Aufstand in Syrien sind nicht die Fortsetzung der arabischen Revolution, sondern ihre Eindämmung. (...) ■ Quelle: junge Welt, 21.01.2012

★ ★★ Werner Pirker ist freier Journalist, er schreibt regelmäßig für die Tageszeitung junge Welt.

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Solidarität mit den Unterdrückten

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Von Christine Buchholz

st es möglich, gegen Assad zu sein und sich zugleich gegen ausländische Einmischung in Syrien zu richten? Werner Pirker hält dies für unmöglich und greift mich deshalb in seiner Kolumne »Der Schwarze Kanal« an. Er behauptet, die von mir bekundete Solidarität mit der syrischen Revolution sei »nichts anderes als der linke Flankenschutz für den westlichen Interventionismus«. Dies ist eine Behauptung, für die Werner Pirker keinerlei Belege anführt. Er führt überhaupt nur eine einzige Stelle aus der von mir verfassten Stellungnahme an, in der ich das Assad-Regime für dessen Brutalität angreife: »Geschätzte 5000 Menschen wurden seit Beginn der Proteste ermordet, viele weitere inhaf-

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tiert, gedemütigt und gefoltert.« Zu dieser Aussage, die auch syrische Linke bestätigen, stehe ich. Warum Werner Pirker daraus einen »Flankenschutz für den westlichen Interventionismus« ableitet, bleibt sein Geheimnis. Anlass dazu gab ich ihm nicht. Er war jedenfalls gezwungen, den kompletten übrigen Text meiner Stellungnahme zu ignorieren. Bereits in der Überschrift fordere ich: »Nein zu westlicher Intervention«. Im weiteren Verlauf attackiere ich die heuchlerische Politik des Westens gegenüber Syrien und ihre Bündnispartner im konservativ ausgerichteten oppositionellen Syrischen Nationalrat. Schließlich stelle ich mich offensiv gegen die Sanktionspolitik, wie sie nun vom Westen beschlossen wurde. Zusammengefasst argumentiere ich: »DIE LINKE ist die einzige Partei im Bundestag, die gegen eine militärische Intervention des Westens im Nahen Osten steht. Ebenso steht sie als einzige Partei gegen eine Embargopolitik, die einzig die Armen in Syrien treffen und die Revolution schwächen würde.« Dies war, ist und bleibt meine Position. Hätte die junge Welt meine Stellungnahme abgedruckt, die ich ihr zur Verfügung gestellt habe, dann wäre deutlich geworden, dass Werner Pirkers Anwürfe völlig haltlos sind. Seit Jahren stelle ich mich im Bundestag und auf der Straße aktiv gegen alle westlichen Interventionen, ob in Afghanistan, Somalia, Sudan oder Libyen. Ich habe mich deshalb auch zu keinem Zeitpunkt von meinen eigenen Fraktionskollegen distanziert, die den Aufruf »Kriegsvorbereitungen stoppen! Embargos beenden! Solidarität mit den Völkern Irans und Syriens!« unterzeichnet haben. Claudia Wangerin hat in der jungen Welt vom 20. Januar zu Recht festgestellt, dass in dem Aufruf »keine Sympathien für die dortigen Regimes geäußert, sondern lediglich Maßnahmen abgelehnt wurden, die nach Einschätzung der Linken vor allem die einfache Bevölkerung treffen«. Werner Pirker wirft mir vor, ich übernähme unkritisch die Angaben bürgerlicher Medien. Zunächst einmal: Es ist das Assad-Regime, das jede freie Berichterstattung aus dem Land heraus unterbindet. Ich muss meine Aussagen deshalb auf die Informationen stützen, die Vertreter der Bewegung unter Gefahr für Leib und Leben nach draußen senden. Dank der weiten Verbreitung moderner Kommunikationsmedien können die von Handys aufgenommenen Bilder von Demonstrationen und bewaffneten Repressionsmaßnahmen jeden Abend im Internet oder auf al-Dschasira gesehen werden – sofern man die Realität sehen will. Werner Pirker tut diese Quellen ab. Er selbst stützt sich in seinem Kommentar stattdessen auf überhaupt keine Quellen. Es reicht ihm aus, dass das Assad-Regime beim Westen in Ungnade gefallen ist. Was ihn nicht interessiert, ist die langjährige Kooperation des Assad-Regimes mit den deutschen Repressionsbehörden, von der ich in meinem Artikel gesprochen habe. Ebenso wenig scheint er wahr-


© Syrien Syriana 2011 / flickr.com / CC BY

Straßengraffiti in Syrien: »Das Regime wird fallen.« Die Revolutionäre werden ihren Kampf nicht so schnell aufgeben

geht darum, sich mit den verschiedenen Positionen im brüderlichen Geiste auseinanderzusetzen, anstatt sie abzutun. Werner Pirker hält seine Position nur durch, weil er die Realitäten auf den Kopf stellt. So behauptet er ernsthaft, der syrische Aufstand sei »nicht die Fortsetzung der arabischen Revolution, sondern ihre Eindämmung.« Das hieße im Umkehrschluss: Das Assad-Regime, gegen das sich diese Bewegung richtet, sei die Bewahrerin der arabischen Revolution. Nicht einmal Assad selbst ist bisher auf diese groteske Idee gekommen. Es ist auch nicht überliefert, dass er sich mit den Bewegungen solidarisiert hat, die den tunesischen Diktator Ben Ali oder den ägyptischen Diktator Mubarak gestürzt haben. Die Bewegung in Syrien hat, wie ihre Vorbilder in den anderen arabischen Staaten, als eine friedliche Straßenprotestbewegung begonnen. Sie wurde von der tunesischen und ägyptischen Revolution inspiriert und teilt ihre Forderungen. Es ist für jeden Araber offensichtlich, dass Assad in einer Reihe mit anderen Staatschefs steht, mit Ben Ali, Mubarak, Gaddafi, König Khalifa und Saleh. Und er reagiert auch genauso brutal wie alle anderen. Es sollte für jeden Linken und jeden Antiimperialisten selbstverständlich sein, sich mit den Unterdrückten zu solidarisieren und nicht mit den Unterdrückern. Genauso selbstverständlich sollte es sein, im Meinungsstreit unter Linken auf Diffamierungen zu verzichten. Diese Methode können wir den Parteien überlassen, die wirklich auf militärische Interventionen oder neue Hungerembargos gegen Länder im Nahen Osten drängen. ■

★ ★★ Zu den Texten Der hier auszugsweise abgedruckte Text von Werner Pirker ist in der jungen Welt vom 21. Januar 2012 erschienen, er findet sich zudem auf der Website der Zeitung: www. jungewelt.de. Die hier dokumentierte Antwort von Christine Buchholz und auch ihre von Pirker kritisierte erste Erklärung (»Solidarität mit der Revolution – Nein zu westlicher Intervention«) stammen von der Homepage der Bundestagsabgeordneten: www.christinebuchholz.de. Der von Pirker erwähnte Aufruf zur Solidarität mit den Völkern Syriens und Irans lässt sich hier nachlesen: www.freundschaft-mitvaljevo.de.

Quelle: www.christinebuchholz.de

★ ★★ Christine Buchholz ist friedenspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag und Mitglied im geschäftsführenden Parteivorstand der LINKEN.

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zunehmen, dass in den vergangenen Jahren die Assad-Regierung die repressive staatskapitalistische Struktur Syriens einem Prozess der wirtschaftlichen Liberalisierung unterworfen hat. Von diesem Prozess profitieren nicht nur einige wenige Vertreter der herrschenden Staatspartei oder der mit ihnen kooperierenden Kommunistischen Partei Syriens, sondern auch deutsche Firmen wie Siemens. CDU/CSU und FDP möchten diese Kooperation zwischen Assad, dem deutschen Staat und dem deutschen Kapital vergessen machen. Deshalb haben sie eigens im Bundestag am 19. Januar eine »Aktuelle Stunde« einberufen, um ausgerechnet DIE LINKE als Kollaborateure des Assad-Regimes zu brandmarken. Ulrich Maurer verwies in seiner Reaktion darauf, dass es unsere Fraktion ist, die die linke Opposition in Syrien seit Monaten unterstützt und ein Ende der Abschiebungen von Regimegegnern über Ungarn nach Syrien fordert. Auch dazu stehe ich, wie die gesamte Linksfraktion. Jetzt, wo das Assad-Regime seinen Wert für den Westen verloren hat, positionieren sich die Regierungen in Berlin, Paris und Washington gegen ihn. Sie stellen sich heuchlerisch an die Seite der syrischen Revolution. Das allein ändert aber noch nicht den Charakter der revolutionären Bewegung. Vielmehr findet nun ein Positionskampf innerhalb der syrischen Opposition statt. Die westlich orientierten syrischen Geschäftsleute werden die ersten sein, die auf einen Dialog mit dem mörderischen Regime setzen, um den Staatsapparat zu stabilisieren. Ich habe in meiner Stellungnahme für die Solidarität mit der syrischen Revolution gestritten. Menschenmassen, die über Wochen und Monate trotz drohenden Beschusses durch Heckenschützen auf die Straße gehen, um ihre Wut gegen einen Diktator auszudrücken, gebührt unser Respekt und unsere Unterstützung. Diese Bewegung ist wie jede authentische revolutionäre Bewegung in all ihrer Lebendigkeit politisch vielfältig. Es

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Sonne, Strand und Sozialismus? Solidarität mit Kuba hat in der Linken eine lange Tradition. Doch taugt der Inselstaat noch als Alternativentwurf zum Kapitalismus? Das haben wir Edgar Göll und Lucia Schnell gefragt. Sie sind sehr unterschiedlicher Meinung

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Kuba aktualisiert seinen Sozialismus

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Von Edgar Göll

ls die kubanischen Revolutionäre 1959 trotz aller Widrigkeiten gesiegt und die US-gestützte Diktatur Batista überwunden hatten, war das Land noch eine Kolonie der USA, Plantage und Spielhölle, unterentwickelte kapitalistische Peripherie. Binnen kürzester Zeit wurde der Staat umgebaut und zum allgemeinen Steuerungszentrum der gesellschaftlichen Entwicklung. Durch Verstaatlichungen und weitere Maßnahmen erhielten planwirtschaftliche Steuerungsmechanismen die zentrale Rolle und Sozialismus konnte entwickelt werden. Der Handel mit den Staaten des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, wirtschaftlicher Zusammenschluss der realsozialistischen Staaten) führte zu einer selektiven internationalen Arbeitsteilung. Der Sozialismus in Kuba war selbst während der Kooperation mit dem RGW (insbesondere mit der Sowjetunion) ein »karibischer«, teilweise verschieden von den preußisch oder gar stalinistisch dominierten Varianten. Und der kubanische Sozialismus erbrachte im Vergleich zu Nachbarländern teilweise hervorragende Lebensverhältnisse. Diese Erfolge werden nicht nur von den Völkern der Region, sondern auch von westlichen Fachleuten bis heute als Vorbild angesehen. So stuft das Global Footprint Network Kuba als einziges Land als »nachhaltig/zukunftsfähig« ein,

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weil es sozialökologisch viel erreicht hat – mehr als kapitalistische Staaten. Auch UN und sogar Weltbank preisen Kubas soziale, ökologische, kulturelle und politische Errungenschaften. Doch von den Eliten im Westen wird all das nicht nur ignoriert, sondern durch dauernde Subversion und Aggression, vor allem des Imperiums, soll die Systemalternative in der Karibik geschädigt werden. Nach 1991 wurde der Kalte Krieg gegen Kuba nochmals verstärkt, zumal das Land der Bezugspunkt der aktuellen progressiven Entwicklungen in Lateinamerika ist. Die historische Herausforderung des heutigen Kuba ist politökonomisch: die Überwindung der wachsenden Kluft zwischen Produktion und Konsumtion, zwischen Leistung und Bedarf, Angebot und Nachfrage. Der hohe soziale Standard kann ohne wirtschaftspolitische Änderungen nicht mehr gehalten werden. Und dem liegt die unzureichende Produktivkraftentwicklung zugrunde: die heutigen Formen von Arbeitsorganisation, Technologieeinsatz, Effizienz und Effektivität, Sektorpolitik, Ressourcenzuteilung, Arbeitsmotivation, Anreizsysteme sind offensichtlich nicht in der Lage, die Bedarfe und Bedürfnisse der Bevölkerung hinreichend zu befriedigen und die Staatskasse zu füllen. Mit Appellen und Kampagnen werden nicht alle Kubaner überzeugt und nicht die notwendigen Resultate erzielt. Wenn zum Beispiel 80 Prozent der Nahrungsmittel importiert werden müssen, zugleich 60 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche nicht bearbeitet werden, liegt dies unter anderem daran, dass die gut qualifizierten Kubaner lieber in einer attraktiven Stadt wie Havanna leben und arbeiten möchten statt in einem Dorf in der Provinz.


© Patrick Thomas / Foto: duncan c / flickr / CC BY-NC

Es geht nicht darum, Kuba zu glorifizieren, sondern dem Land faire Entwicklungschancen zu lassen

Daher werden nun ergänzende, vor allem materielle Anreize gesetzt, um die Effektivität zu steigern und damit die produktiven Fähigkeiten der Kubaner besser zur Entfaltung kommen zu lassen. Das wurde und wird in unzähligen Nachbarschafts- und Betriebsversammlungen ausgiebig debattiert, so dass selbst Julia Sweig vom US Council on Foreign Relations von einer »enormous pulse-taking exercise« schrieb. Nach Wegfall von 85 Prozent der Importe und Exporte nach dem Ende des RGW musste sich Kuba außenwirtschaftlich neu positionieren, forcierte zum Beispiel Bio- und Medizintechnologie und Tourismus, modernisierte Nickelabbau, reduzierte den Zuckersektor, und erzielt durch medizinische Dienstleistungen im befreundeten Ausland wichtige Einkünfte. Binnenwirtschaftlich wurden Mindeststandards gehal-

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Che Guevara: Eine Ikone, mit deren Wiedererkennungswert Künstler gerne spielen – wie hier im Werk »American Investments in Cuba« von Patrick Thomas

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ten, doch Versorgungsengpässe gibt es weiterhin in wichtigen Bereichen des Alltagsbedarfs und in Bereichen wie Bauen und Infrastruktur. Die Herausforderungen sind immens. Die primär wirtschaftspolitischen Maßnahmen dienen der Weiterentwicklung des kubanischen Sozialismus, der Stärkung privater Initiative, der Entlastung des Staatshaushalts. Der Primat des Politischen und der Bedarfsorientierung in der Ökonomie wird gerade dadurch gesichert, gesellschaftspolitische Vorgaben und staatliche Rahmensetzungen werden in einigen Bereichen ergänzt durch marktförmige Elemente. Eigeninitiative ist im Rahmen des Sozialismus etwas anderes als im Kapitalismus. Kuba ist relativ frei von Kapitallogik, frei von Hyperkonsum und Überausbeutung von Mensch und Natur, frei auch von Expansionismus inklusive Krieg. Durch die linken Regierungen in Lateinamerika erhält Kuba mehr Spielraum und Anregungen – basisdemokratische Ansätze, Kooperativen außerhalb der Landwirtschaft für einen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Aber zugleich ist allen Beteiligten und nicht zuletzt der kubanischen Regierung klar, dass diese Maßnahmen eine Gratwanderung sind, dass die Folgen mancher Maßnahmen zur Stärkung von Eigeninitiative und Effektivität auch unerwünschte Effekte haben könnten, wie wir sie im kapitalistischen Westen oder in den Nachfolgesystemen der RGW-Staaten sehen können: Egoismus, soziale Polarisierung, Ausbeutung, Korruption und Kriminalität, Dominanz betriebswirtschaftlicher Ideologie, Konkurrenz statt Solidarität. Aber was sind denn die Alternativen für Kuba, was ist dessen »Möglichkeitsraum« in den heutigen globalen Verhältnissen und angesichts der eigenen Lage und Potenziale? Welche andere Politik, welche anderen Anreize können realisiert werden? Können Weltmarktsegmente erobert werden? Kann mit einem Ende der US-Blockade und US-Subversion sowie der gegnerischen Haltung der EU gerechnet werden? Sind linke Kräfte im Westen fähig, ihre Regierungen zu einer anderen Politik gegenüber Kuba zu bewegen? Prinzipiell gefragt: ist »Sozialismus auf einer Insel« möglich? Wie in früheren Epochen fehlen Revolutionen im Westen, und im Gegenteil wüten die angeschlagenen neoliberalen Mächte weltweit. »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«, schrieben Karl Marx und Friedrich Engels. In dieser Hinsicht scheinen die Kubaner unserm alten Marx besser gefolgt zu sein als manche Salonmarxisten, denen die Wirklichkeit hier und heute zu kompliziert und anstrengend ist, die sich an der schwierigen Alltagsrealität und den imperfekten Menschen nicht ihre feinen Hände und puristische Theoriekarteikarten schmutzig machen wollen,

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geschweige denn die Missverhältnisse praktisch verändern. Linke im Westen sollten Bedingungen schaffen, damit sich das sozialistische Kuba so weiter entwickeln kann, wie es selbst möchte. Und genau jenes vom Imperium verletzte und unterminierte Selbstbestimmungsrecht Kubas ist wesentliches Ziel der weltweit agierenden Solidaritätsorganisationen für Kuba. Es geht nicht darum, Kuba zu glorifizieren, sondern dem Land faire Entwicklungschancen zu lassen. Die antikommunistischen neoliberalen Hardliner des Westens wollen dies verhindern. Da ist es doch an linken, progressiven Kräften im Westen, Kubas Handlungsspielräume zu verbessern und im Westen und global endlich bessere Verhältnisse zu schaffen. ■ ★ ★★ Edgar Göll ist als wissenschaftlicher Zukunftsforscher in Berlin tätig. Seit vielen Jahren engagiert er sich für Kuba, unter anderem im Vorstand des Netzwerk Cuba e.V. und der Freundschaftsgesellschaft Berlin - Kuba e.V. Er ist Mitglied der LINKEN.

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Kein Sozialismus auf einer Insel

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Von Lucia Schnell

dgar Göll hat Recht. Die Menschen in Kuba brauchen unsere Solidarität gegen diejenigen, die ihre Selbstbestimmung in Frage stellen und ein Zurück zum Ausbeuterregime vor der Revolution wollen. Und: Ja, wir brauchen Revolutionen nicht nur »im Westen«, um global endlich bessere Verhältnisse zu schaffen. Die Kubanische Revolution in den 1950er Jahren war ein Signal der Hoffnung für ganz Lateinamerika. Die Supermacht USA war in ihrem eigenen Hinterhof geschlagen worden. Gleichzeitig darf DIE LINKE die Verhältnisse in Kuba nicht beschönigen. Wir brauchen eine kritische Solidarität. Denn in der größten Krise des Kapitalismus seit den 1930ern geht es auch um die Frage, auf welche Gesellschaftsalternativen sich Sozialisten im 21. Jahrhundert beziehen. Ist Kuba wirklich eine sozialistische Gesellschaft, wie Edgar Göll schreibt? Kann Kuba ein Vorbild für eine andere Gesellschaft sein? Trotz vieler Errungenschaften habe ich hier erhebliche Zweifel. Die Kubanische Revolution brachte ein antiimperialistisches Regime hervor, das seit über fünf Jahrzehnten dem von den USA verhängten Embargo trotzt. Die Revolutionäre enteigneten die Zuckerplantagen und verstaatlichten das gesamte Ackerland. Auch den US-amerikanischen Telefon-, Elektrizitäts- und Ölfirmen gingen


© Pietro Izzo / flickr.com / CC BY-NC

Die kubanische Guerilla unter der Führung von Fidel Castro und Che Guevara stürzte das proamerikanische Regime. Aber eine soziale Revolution fand nicht statt

Der kubanische Staat wird autoritär von einer privilegierten Minderheit geleitet Menschen erstens die Kontrolle über die Produktion und zweitens das Selbstvertrauen erlangen, die Gesellschaft von unten demokratisch und nach ihren Bedürfnissen zu organisieren. Auch nach der Revolution haben die Guerilleros stellvertretend für die Bevölkerung die Wirtschaft geleitet. Die Produktion haben sie auf die Anforderungen des Weltmarkts abgestimmt – bis 1990 vor allem der Sowjetunion und der Staaten des Warschauer Paktes. Um der Zwickmühle des Weltmarktdiktats zu entkommen, wollte Che Guevara die Revolution aus-

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sie an den Kragen. Sie bauten ein staatliches Gesundheitssystem auf und förderten Bildung und Kultur. Die Wirtschaft ist zwar seitdem verstaatlicht, aber es gibt keine Demokratie in den Betrieben. Auch der Staat wird keineswegs demokratisch kontrolliert, sondern autoritär von einer privilegierten Minderheit geführt. Die kubanischen Gewerkschaften sind de facto der verlängerte Arm des Staates und damit kein Ort für Gegenwehr und Selbstermächtigung von Arbeiterinnen und Arbeitern. Mit meinem Verständnis von Sozialismus hat das wenig zu tun. Verständlicherweise schreckt der autoritäre Charakter des kubanischen Staates und seine mittlerweile 50 Jahre währende EinParteien-Herrschaft viele Linke ab. Tatsächlich hat in Kuba auch während der Revolution nie eine Selbstbefreiung der arbeitenden Menschen stattgefunden. Stattdessen haben die Guerilleros die Revolution stellvertretend für die Masse gemacht. Doch gerade die Bewegung der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung war für Karl Marx zentrale Voraussetzung für den Sozialismus. Nur so können die

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breiten. Er weigerte sich, die bisherige Abhängigkeit vom Zuckerexport in die USA gegen eine neue Abhängigkeit, nun vom Zuckerexport in die Sowjetunion, zu tauschen. Er hatte in dieser Frage schon früh Meinungsverschiedenheiten mit Fidel Castro. Deshalb wollte er ab 1964 mit aller Kraft die Revolution durch die Methode des Guerillakampfes in andere Länder exportieren. Er versuchte dies im Kongo, aber auch in Bolivien – und scheiterte. Che zielte zwar nie auf die Selbstbefreiung der arbeitenden Menschen, aber mit der Idee der Ausbreitung des Kampfes lag er richtig. Denn Sozialismus auf einer Insel im Meer des Kapitalismus ist nicht möglich.

banischen Marktes für ausländische Investoren und »die Eroberung von Weltmarktsegmenten«, wie Edgar Göll schreibt. Genau das zeigt, dass Kuba nicht »frei von Kapitallogik« ist, wie er behauptet. Werden die entlassenen Staatsangestellten in der Privatwirtschaft oder als selbständige Straßenverkäufer ihr Leben bestreiten können? Schon heute floriert die Prostitution in der Tourismusbranche. Die staatliche Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, die »Libreta«, soll abgeschafft werden, obwohl ein Großteil der Bevölkerung davon abhängig ist. Viele Kubaner kritisieren das. Sie befürchten, dass in der Folge die Lebensmittelpreise steigen. Raúls Reformen sind keine Aktualisierung des Sozialismus, vielmehr bedrohen sie die Errungenschaften der Revolution. Woher sollen einfache Bauern das Geld nehmen, um Land zu erwerben? Selbst wenn sie dafür einen Kredit bekommen, haben sie keine Mittel für Maschinen und Saatgut. Es besteht die Gefahr, dass sich wieder einige wenige Plantagenbesitzer das Land aneignen. Die von Edgar Göll zu Recht beklagte Ineffizienz in der Landwirtschaft und die Landflucht werden so nicht gelöst. Kleine Landparzellen sind weniger produktiv als gemeinsame Kooperativen. Die Wirtschaftsliberalisierungen und der Sozialabbau werden nicht den sozialen Standard »halten«, sondern die bestehende Kluft zwischen arm und reich noch verschärfen. Auch das vergleichsweise gute Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung werden unter dem Personalabbau im Staatsdienst leiden. Schon jetzt gibt es in Kuba Ärzte- und Lehrermangel, weil die Regierung Ärzte und Lehrer ins Ausland – unter anderem nach Venezuela – »exportiert«, um im Austausch Devisen und vor allem Erdöl zu erhalten. Die unsozialen Reformen Raúl Castros können gestoppt werden, wenn die Kubanerinnen und Kubaner beginnen, selbst für eine andere Verteilung der Ressourcen ihrer Insel zu kämpfen. Dafür werden sie die Solidarität der LINKEN dringend brauchen. ■

Das Ziel von Castros Reformen ist eine Öffnung des Marktes für ausländische Investoren

Die Mehrheit der Kubanerinnen und Kubaner erhalten heute nur einen Monatslohn von umgerechnet 14 Dollar. Ihnen fehlen Dinge des täglichen Lebens wie Seife, Papier, Milch und Medikamente. Deswegen versuchen sie mit allen möglichen Mitteln an Dollars und damit an die begehrte Importware heranzukommen. Dieser Luxus bleibt jedoch nur einer kleinen Minderheit der Kubanerinnen und Kubaner sowie den Touristen vorbehalten. Kunst und Kultur sind auf der Karibikinsel inzwischen nicht mehr so stark zensiert wie noch in den 1970er Jahren, aber von Meinungs- und Pressefreiheit kann noch immer keine Rede sein. Trauriger Höhepunkt einer vermeintlichen antiimperialistischen Solidarität war die Staatstrauer, die Fidel Castros Bruder Raúl für den verstorbenen nordkoreanischen Diktator Kim Jong-Il verhängte. Ähnliches gilt für die Solidarität, die er mit dem libyschen Diktator Muammar Gaddafi erklärte. Seit 2010 führt Raúl Castro einen Reformprozess auf Kuba durch. Er kündigte an, 500.000 Menschen aus dem Staatsdienst zu entlassen und die Löhne zu senken. Neuerdings erlaubt das Regime, sich beruflich selbständig zu machen und Land zu erwerben. Aber nicht nur Bauern der staatlichen Kooperativen dürfen Land kaufen, sondern auch ausländische Investoren. Edgar Göll sieht im Reformprozess eine notwendige Aktualisierung des Sozialismus, ohne die der gegenwärtige Standard nicht zu halten sei. Eigeninitiative im Sozialismus sei etwas anderes als im Kapitalismus, schreibt er. Tatsächlich wäre Initiative von unten in einem demokratischen Sozialismus absolut wünschenswert. Doch handelt es sich hier weder um Sozialismus, noch um »Eigeninitiative«, sondern um Privatisierungen, Entlassungen und Deregulierungen. Ziel der Reformen ist eine teilweise Öffnung des ku-

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★ ★★ Lucia Schnell hat Lateinamerikanistik und Geschichte studiert. Sie ist aktiv in der LINKEN in Berlin und Mitglied des SprecherInnenRats der Sozialistischen Linken.


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TEIL 2

Linke kämpfen für die freie Entfaltung des Individuums – das Bedingungslose Grundeinkommen leistet dazu einen Beitrag. Eine Antwort auf Werner Halbauer Von Ralf Peter Engelke und Ronald Blaschke

★ ★★ marx21.de Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte Antwort auf Werner Halbauers Beitrag »Grundeinkommen für alle« (marx21, Nr. 22, November 2011). Die ungekürzte Version findet ihr online unter marx21.de.

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inige Kritiken am Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens haben erhebliche Schwierigkeiten beim Umgang mit gesellschaftlichen Alternativen und weisen ähnliche Mängel auf: Sie sind in sich widersprüchlich, kritisieren mit ihren Kritiken oft die eigenen Ansätze. Sie stellen Grundeinkommenskonzepte falsch oder verkürzt dar. Eigene Alternativen zum Grundeinkommen werden dagegen unkritisch dargestellt. Diese drei Mängel weist auch der Beitrag von Werner Halbauer zum Grundeinkommen auf (marx21, Nr. 22, November 2011). Erstens: Werner stellt fest, dass sich das Grundeinkommen in der kapitalistischen Ökonomie aus der Abschöpfung der in Lohnarbeit und kapitalistischer Wertschöpfung erwirtschafteten Mittel speist. Das ist teilweise richtig: Allerdings trifft dieses Argument ebenfalls auf die von ihm alternativ zum Grundeinkommen beschriebene sanktionsfreie Grundsicherung, die Arbeitszeitverkürzung (z. B. mit Lohnausgleich), den Mindestlohn und den Ausbau der vergesellschafteten Daseinsvorsorge zu. Auch die von ihm bezweifelte Lockerung des Arbeitszwangs auf individueller Ebene betrifft sowohl das Grundein-

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kommen als auch die sanktionsfreie Grundsicherung. Allerdings mit dem Unterschied, dass mit der Grundsicherung weiterhin ein stigmatisierendes und diskriminierendes Sozialsystem bestehen bleiben würde (siehe weiter unten). Darüber hinaus sind aber in linken Grundeinkommenskonzepten die von Werner Halbauer genannten anderen Ansätze – bis eben auf die Grundsicherung – mit eingeschlossen. Denn diese Ansätze befördern sich wechselseitig: Das Grundeinkommen stärkt die Kampfmacht der Lohnarbeitenden für kollektive Arbeitszeitverkürzung und ordentliche Löhne. Gleichzeitig sichert das Grundeinkommen individuell selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltungen ab und minimiert Möglichkeiten des Hintergehens von Mindestlohnregelungen. Kostenfreie, demokratisierte öffentliche Infrastrukturen und Dienstleistungen sind nicht Alternativen zum Grundeinkommen, sondern wie dieses bedingungslose Zugänge zur Existenzsicherung und Teilhabe für alle, allerdings in nichtmonetärer Form. Darüber hinaus behauptet er, dass die Diskussion der Idee des Grundeinkommens keine materielle Gewalt zur Veränderung der Gesellschaft erzeuge. Dann stellt er fälschlicherweise der Idee des Grundeinkom-


Zweitens: Werner stellt das Grundeinkommen wiederholt verkürzt und falsch dar. Aus Platzgründen sollen hier nur drei Beispiele dafür diskutiert werden: Beispiel 1: Er behauptet, die Höhe der Grundeinkommensforderung des emanzipatorischen Grundeinkommens der BAG Grundeinkommen DIE LINKE (1010 Euro) würde sich von Forderungen der »Sozialverbände« ableiten. Das ist falsch: Richtig ist, dass die eher staatstragenden Sozialverbände Regelleistungen von unter 450 Euro fordern, manche auch von um die 500 Euro. Das ergibt mit den bundesdurchschnittlich als angemessen anerkannten Kosten für Unterkunft und Heizung (ca. 304 Euro) zwischen 750 und 800 Euro. Dieser Betrag liegt weit unter der Armutsrisikogrenze von derzeit etwa 950 bis 1000 Euro (je nach Datenquelle). Beispiel 2: Werner behauptet, die Grundeinkommensbefürworter würden den Wegfall jeglicher bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen propagieren. Das ist falsch. Der Wegfall der Bedürftigkeitsprüfung ist konstituierendes Merkmal des Grundeinkommens, nicht aber der über das Grundeinkommen hinausgehenden Leistungen für bestimmte Lebenssituationen und Gruppen (etwa Schwangere, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderungen). Diese Zusatzleistungen erfordern aber auch keine Bedürftigkeits-

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Das Grundeinkommen stärkt die Kampfmacht der Lohnarbeitenden

mens die sozialistische Idee, »durch bewusste demokratische Planung der Produktion und Reproduktion die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen und alle Gesellschaftsmitglieder daran zu beteiligen«, gegenüber – ohne zu erklären, wie nun diese »sozialistische Idee«, die bei Werner nicht einmal in den grundlegendsten Zügen entwickelt wird, zur materiellen Gewalt werden könne. Seltsamerweise argumentiert er mit Lenin gegen die eigenen abstrakten Worthülsen: »Die russische Revolution von 1917 war nicht unter dem Banner ›Sozialismus‹ erfolgreich, sondern mit den Parolen ›Land, Brot und Frieden‹«. Und: »Alle großen gesellschaftlichen Verhältnisse wurden nicht nur durch Modelle einer anderen Gesellschaft bewirkt, sondern entwickelten sich aus den konkreten, unmittelbaren sozialen und politischen Kämpfen (…)«. Das sehen wir genauso und verweisen dabei zum Beispiel auf die Kämpfe der unabhängigen Erwerbslosenbewegung in Deutschland seit 1982. Sie haben mit ihren lohnarbeits- und staatskritischen Grundeinkommensdebatten dazu beigetragen, dass in Deutschland immer mehr politische Organisationen, Initiativen, Gewerkschafter und Gewerkschaftsgliederungen für das Grundeinkommen und Fortschritte in diese Richtung kämpfen. Ein weiteres Beispiel sind die Kämpfe der Basic-Income-GrantCoalition in Namibia zur landesweiten Durchsetzung des Grundeinkommens, die von verschiedenen sozialen Bewegungen (Kirchen, Gewerkschaften, Aidshilfe- und Jugendorganisationen) gegen Armut und Perspektivlosigkeit und für wirtschaftliche Selbstermächtigung geführt werden.

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★ ★★ WEITERLESEN: Ronald Blaschke, Adeline Otto und Norbert Schepers (Hrsg.): Grundeinkommen. Geschichte – Modelle – Debatten (Dietz Verlag Berlin 2010).

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Drittens: Ein weiterer Punkt, in dem wir nicht mit Werner konform gehen, ist seine unkritische Sicht auf die Grundsicherung. Er plädiert für eine sanktionsfreie, existenzsichernde Grundsicherung als eine

© #unibrennt / flickr.com / CC BY-NC-SA

prüfung (Einkommens-/Vermögensprüfung) wie heute bei Hartz IV, sondern lediglich einen unkomplizierten Nachweis der jeweiligen Lebenssituation. Selbstverständlich plädieren wir für ein Wohngeld für Menschen mit sehr hohen Mietbelastungen. Das sind also alles Leistungen über das Grundeinkommen hinaus, die Werner Halbauer sicher auch nicht abschaffen würde. Beispiel 3: Werner meint, die linken Vertreter würden sich von rechten Vertretern des Grundeinkommens vor allem dadurch absetzen, dass sie zur Finanzierung des Grundeinkommens eine massive Erhöhung der Steuerlast für hohe Einkommen vorsehen. Dieser argen Verkürzung sei mit einem Zitat aus der von ihm zur Kritik genutzten Konzeptbroschüre der BAG Grundeinkommen DIE LINKE entgegnet, die auch auf deren Website veröffentlicht ist: »Wir betrachten das Bedingungslose Grundeinkommen weder als Allheilmittel für wirtschaftliche und soziale Probleme noch als singuläres Projekt. Vielmehr ist das BGE Bestandteil einer emanzipatorischen und gesellschaftstransformatorischen Gesamtstrategie (…): arbeitsrechtliche Verbesserungen inklusive radikaler Arbeitszeitverkürzung und -umverteilung sowie einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde; massive Umverteilung von oben nach unten mittels BGE und Besteuerung, insbesondere durch eine stärkere Belastung von Kapital, Vermögen und hohen Einkommen; Ausbau und Demokratisierung der sozialen Sicherungssysteme; Ausbau und Demokratisierung öffentlicher Infrastrukturen und Dienstleistungen; Radikale Umverteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit (bezahlte wie unbezahlte) zwischen den Geschlechtern, (…) weitere Maßnahmen zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit (…), wie z. B. gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gleiche Zugangschancen zu Bildung und beruflichen Positionen; eine gesellschaftliche (inkl. wirtschaftliche) Entwicklung und ein Gesellschaftskonzept, das in hohem Maße auf ökologische Nachhaltigkeit setzt; Schaffung einer solidarischen, partizipativen und kooperativen Gesellschaft, die auf der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und der Freiheit des Einzelnen basiert; eine grundlegende Eigentumsumverteilung inklusive der Übertragung der realen Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel an die Beschäftigten und die BürgerInnen; das Grundeinkommen als Menschenrecht ist europa- und weltweit einzuführen.« Was bleibt von Werners Behauptung übrig, dass die Vertreterinnen und Vertreter des Grundeinkommens von gesellschaftlichen Kämpfen ablenken und auf die Einführung eines Gesellschaftsmodells vertrösten würden, welches die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus nicht löse?

Nicht nur in Deutschland wird das Bedingungslose Grundeinkommen diskutiert: Transparent bei einer Universitätsbesetzung in Wien im Jahr 2009

Alternative zum Grundeinkommen: Dabei blendet er aus, dass bedürftigkeitsgeprüfte Transfersysteme (Grund-/Mindestsicherungen) die Gesellschaft spalten, Grundrechte auf die Existenz- und Teilhabesicherung aushebeln und neoliberale Sozialabbauvorhaben befördern können. Denn: Diejenigen, die einen Anspruch auf bedürftigkeitsgeprüfte Transfers haben, sind immer in einer Minderheit. Die Mehrheit der keinen Transfer Beziehenden hat es jederzeit in der Hand, Grundsicherungshöhen zu reduzieren und Bedingungen des Bezugs zu verschärfen. Reduktionen der Höhe von Transfers führen zu (weiterer) Verarmung. Verschärfte Bedingungen grenzen noch mehr Menschen aus dem Transferbezug aus. Bei einem Grundeinkommen dagegen würde sich diese Mehrheit, die ebenfalls Anspruch auf das Grundeinkommen hat, selbst schädigen, wenn sie dessen Höhe reduzieren und Bedingungen einführen würde. Die Spaltung der Gesellschaft in Transferbeziehende und Nichttransferbeziehende leistet außerdem Missbrauchs- und Neiddebatten in der Gesellschaft, mithin einer weiteren Spaltung der Gesellschaft, Vorschub. Dies wiederum befördert neoliberale (und medial gesteuerte) Vorhaben der Reduktion von Transferhöhen und Verschärfung der Anspruchsbedingungen für Transfers mit oben genannten Folgen. Bedürftigkeitsgeprüfte Transfersysteme verursachen darüber hinaus verdeckte Armut, weil Bedürftigkeitsprüfungen immer mit Stigmatisierungen (man muss sich als Armer zu erkennen geben) und auch Diskriminierungen (Überprüfungen weit in die Privatsphä-


re hinein) verbunden sind. Verdeckte Armut bedeutet aber, dass ein Leben mit einem Einkommen unterhalb des grundrechtlich zu garantierenden existenzund teilhabesichernden Niveaus geführt werden muss. Derzeit sind davon in Deutschland rund vier bis fünf Millionen Menschen betroffen. Grundsätzlich: Eine falsche Analyse führt zu einer falschen Taktik und einseitigen Strategie. Werner meint, dass die politischen Konflikte in der Vergangenheit meistens in Form von Abwehrkämpfen ausgetragen worden seien und die organisierte Arbeiterbewegung die Kraft wäre, die die Macht des Kapitals in Frage stelle. Wer Realgeschichte kennt, muss feststellen, dass die organisierte Arbeiterbewegung (also in der Regel die Gewerkschaften) oft genug mit den Kräften des Kapitals kollaboriert hat. Und wird feststellen, dass es plurale Bewegungen gegen die Macht des Kapitals und gegen entsprechende Herrschaftsstrukturen und für emanzipatorische Veränderungen gab: zum Beispiel die Frauenbewegung, die für das Wahlrecht von Frauen, für ihre Teilhabe am Erwerbsprozess, an den sozialen Sicherungen und für Zugänge zur öffentlichen Daseinsvorsorge sowie gegen die Lohnarbeit als kapitalreproduzierende und die gesamte Gesellschaftlichkeit dominierende Tätigkeit gekämpft hat. Oder die Friedensbewegung, die gegen die Rüstungsproduktion, auch gegen damit verbundene Lohnarbeit und für Rüstungskonversion gekämpft hat. Oder die Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung, die dem Kapital in Deutschland die Macht entrissen hat, vollkommen selbstherrlich über das Wie der Energieproduktion zu entscheiden. Das waren aber keineswegs »Abwehrkämpfe«, sondern das waren und sind Kämpfe für gesellschaftlichen Fortschritt. Werners Taktik des Abwehrkampfes läuft dagegen Gefahr, patriarchalische, repressive und konservative kapitalistische Herrschaftsstrukturen zu bewahren und bestenfalls einseitig reformerische Ansätze zu propagieren. Eine emanzipatorische Taktik dagegen besteht darin, Kämpfe für die Emanzipation von Kapital- und patriarchalischer Herrschaft zu führen, die über Abwehrkämpfe hinausgehen. Linke und DIE LINKE müssen in die Offensive, raus aus der Defensive! Das setzt wiederum voraus, dass das von Katja Kipping benannte »überschießende Moment« in den sozialen Kämpfen diskutiert und erstritten werden muss – erst recht auch bezüglich des traditionellen Sozialsystems, will man nicht im konservativen Bismarckschen Sozialversicherungssystem und in der Fürsorgelogik des 19. Jahrhunderts stecken bleiben. Dazu wären dann die universalistischen Ansätze Bür-

gerversicherung, Grundeinkommen und kostenfreie öffentliche Infrastrukturen/Dienstleistungen gut geeignet, weil sie die Ungerechtigkeiten der traditionellen, selektierenden sozialpolitischen Ansätze überwinden. Wir meinen weiterhin, dass sowohl der romantisierende Blick Werner Halbauers auf die organisierte Arbeiterbewegung als auch die immer wieder in seinem Beitrag aufscheinende Romantisierung der Gesellschaft nach einer demokratischen Aneignung der Produktionsmittel grundlegende Marxsche Analysen und Vorstellungen nicht erfasst – beispielsweise nicht die Analyse und Idee der Überwindung der entfremdeten Arbeit (Ausschluss der Waren- und Äquivalenzlogik in Produktion und Distribution, der erzwungenen Arbeitsteilung und der Privatisierung gemeinsamer Güter in der Lohnarbeit und Kapitalbildung), nicht die Entwicklung der Produktivkräfte (hochproduktive, wissensbasierte Produktion, die die Waren- und Äquivalenzlogik in Produktion und Distribution in Frage stellt), letztlich nicht die damit in Frage gestellten selektiven Logiken der Existenzsicherung (Zugang nur über Lohn- bzw. Erwerbsarbeit bzw. über bedürftigkeitsgeprüfte Sozialsysteme). Auch das eigentliche Ziel der Aneignung der Produktionsmittel, der Abschaffung der Lohnarbeit und Aufhebung der Entfremdung, nämlich die freie Entwicklung der Individuen, wird von Halbauer nicht erwähnt. Der Begriff Freiheit fällt nicht einmal. Im Programm der LINKEN dagegen wird als erste Leitidee einer solidarischen Gesellschaft beschrieben: »Individuelle Freiheit und Entfaltung der Persönlichkeit für jede und jeden durch sozial gleiche Teilhabe an den Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens und Solidarität.« Wahrscheinlich ist Werner der Ansicht, dass eine demokratische Aneignung der Produktionsmittel automatisch diese Ziele realisieren würde. Wir dagegen meinen aber mit vielen linken Vertreterinnen und Vertretern des Grundeinkommens (zum Beispiel Charles Fourier, Erich Fromm, André Gorz, Antonio Negri, Michael Hardt), dass die individuelle Freiheit und Solidarität nicht ohne die unbedingte Absicherung der Existenz und Teilhabe an der Gesellschaft möglich ist. Oder anders ausgedrückt: Ohne Sozialismus und ohne Solidarität keine Freiheit. Ohne Freiheit kein Sozialismus und keine Solidarität. Das ist aber eine weitere spannende Diskussion, die es zu führen gilt. Ebenso die Diskussion über die von Elmar Altvater dargelegten wachstumskritischen Positionen und Überlegungen zu einer Gesellschaft mit einer ökologisch zukunftsfähigen Produktion und Distribution. ■

Die organisierte Arbeiterbewegung hat oft mit den Kräften des Kapitals kollaboriert

★ ★★ Ralf Peter Engelke ist Bundesschatzmeister der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und bei der Partei DIE LINKE.

ist Mit-Initiator des Netzwerks Grundeinkommen.

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Ronald Blaschke

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NEUES AUS DER lebt von der Die Rubrik »Neues aus der LINKEN« Redaktion kann Mitarbeit der marx21-Leser. Die azin und seine nicht überall sein – aber das Mag Leser schon. über interessante Auf dieser Doppelseite wollen wir EN berichten Aktionen und Kampagnen der LINK igen. Wenn ihr sowie spannende Termine ankünd eine etwas beizutragen habt, schickt . Die Redaktion 1.de arx2 n@m ktio E-Mail an reda l und Kürzung vor. behält sich das Recht auf Auswah

West-Castoren stoppen Dieses Jahr sollen 152 Castor-Behälter vom Forschungszentrum Jülich nach Ahaus im Münsterland transportiert werden. Bereits am 18. Dezember startete die Gegenkampagne mit einer Demonstration vor dem Atommülllager in Ahaus. Die Demonstranten werfen der rot-grünen Landesregierung in NordrheinWestfalen vor, zuwenig gegen die Transporte zu unternehmen. Deshalb soll nun Druck auf der Straße aufgebaut werden. DIE LINKE.NRW wünscht sich wendländische Verhältnisse und hilft mit beim Aufbau der Proteste.

Widerstand organisieren Die hessische Landtagsfraktion der LINKEN hat am 21. Januar 2012 einen politischen Ratschlag mit Betroffenen und Aktiven durchgeführt, um über Initiativen für ein soziales und gerechtes Hessen zu beraten. Die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen, Verbänden und Gewerkschaften soll ausgebaut werden, um den Widerstand gegen die Auswirkungen der Finanzkrise zu stärken.

Rüstungsproduktion in Hamburg »Made in Hamburg – tödlich weltweit«. So lautet der Titel des aktuellen Rüstungsatlas, der vom linken Bundestagsabgeordneten Jan van Aken herausgegeben wurde. Darin wird ein genauer Blick auf den militärisch-industriellen Komplex geworfen und aufgezeigt, welches Ausmaß die Rüstungsindustrie in der Hansestadt besitzt. Eine Vorabversion findet sich unter jan-van-aken.de. 62

Arbeitskampf bei Helios-Tochter in Erfurt Ü

ber sieben Jahre gab es für die 54 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der D.i.a.-Solution GmbH in Erfurt keine Lohnerhöhungen mehr. Mit der im Jahr 2003 durchgeführten Gründung der Tochtergesellschaft, die Hygiene- und Labordienstleistungen zusammenfasst, konnte der Klinikbetreiber Helios die Tarifbindung an den Konzerntarifvertrag kappen. Der Arbeitskampf ging am 15. Dezember 2011 mit einem Warnstreik in die zweite Runde. DIE LINKE war vor Ort und hat sich solidarisiert. »Nach sieben Jahren wäre eine Lohnsteigerung nur anständig und gerecht. Daher unterstützen wir die Beschäftigten in ihrer Forderung nach Aufnahme von Tarifverhandlungen«, sagte Karola Stange, sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Erfurter Stadtrat.

Teure Startbahnen braucht niemand S

eit Juli ist es amtlich: Der Münchner Flughafen soll eine dritte Startbahn bekommen. Die Kosten des drei Milliarden Euro teuren Ausbaus tragen neben dem Bund auch das Land Bayern sowie die Stadt München. Viele Bürger befürchten daher, dass die Startbahn nur finanziert werden kann, wenn an anderer Stelle gekürzt wird. Deshalb regt sich nun Widerstand in München und den umliegenden Gemeinden. Die Gegner der dritten Startbahn setzen sich auf allen Ebenen zur Wehr: Sie klagen, initiieren ein Bürgerbegehren und demonstrieren. Bisher wurden 22 Klagen gegen das Bauvorhaben eingereicht und mehrere Bürgerinitiativen haben sich gegründet. Seit Juli werden Unterschriften für eine Massenpetition an den bayerischen Landtag gesammelt, im September demonstrierten über 10.000 Menschen auf dem Marienplatz und im Oktober wurde ein Bürgerbegehren gegen den Flughafenausbau gestartet. Der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude (SPD), der auch im Aufsichtsrat der Flughafengesellschaft sitzt, versicherte, dass das Ergebnis des Bürgerbegehrens für ihn bindend sei. Für die Zulassung des Bürgerbegehrens müssen 34.000 Unterschriften gesammelt werden und bei der Abstimmung mindestens 100.000 wahlberechtigte Menschen gegen den Ausbau stimmen. DIE LINKE unterstützt die Proteste tatkräftig. Sie ist seit Protestbeginn Mitglied im »Münchner Bündnis gegen die 3. Startbahn«. Außerdem stellt sie prominente Redner für Demonstrationen, macht mit Infoständen auf das Bürgerbegehren aufmerksam und sammelt Unterschriften. Aktuelle Informationen zum Protest gegen die Startbahn und zum Bürgerbegehren finden sich auf der Homepage der Münchner LINKEN: dielinke-muc.de. Lisa Hofmann


Bundestagsfraktion klebt Plakate gegen Nazis m 18. Januar beteiligten sich viele Abgeordnete der Linksfraktion an der Plakatieraktion des Bündnisses »Dresden nazifrei«. Die Parlamentarier klebten Plakate, um die Mobilisierung für die Blockade gegen den geplanten Naziaufmarsch in Dresden aktiv zu unterstützen. Für den 8. Februar ist ein öffentliches Probesitzen vor der Sächsischen Landesvertretung geplant. Die Nazis beabsichtigen, am 18. Februar in Dresden aufzumarschieren. »Dresden nazifrei«, ein breites Bündnis aus außerparlamentarischen Gruppen, Gewerkschaften und Parteien, ruft zum dritten Mal dazu auf, diesen Aufmarsch zu blockieren. Bereits im Februar 2010 und 2011 konnten die Naziaufmärsche in Dresden durch friedliche Blockaden verhindert werden. An diesen Erfolg möchte man auch in diesem Jahr anknüpfen. Nicole Gohlke, Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion, bekräftigt noch einmal das Motto: »Wir protestieren bis der Aufmarsch Geschichte ist. Wir rufen alle auf, sich an den Blockaden gegen den Naziaufmarsch in Dresden zu beteiligen.« Steffi Graf

© Nicole Gohlke

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DIE LINKE und die Linksfraktion unterstützen das Bündnis »Dresden nazifrei« und mobilisieren zu den Aktionstagen am 13. und 18. Februar. Infos unter: http://www.dielinke.de/politik/aktionen/dresdennazifrei2012/

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er Ausbau eines Rheinhafens in Köln ist umstritten. Eine Bürgerinitiative setzt sich aktiv dagegen ein und argumentiert mit der Zerstörung eines Naturschutzgebietes und Unwirtschaftlichkeit. Auch DIE LINKE spricht sich gegen den Ausbau aus. Sie regte an, statt einer Bürgerbefragung alle Bewohner ab 16

Jahren zu befragen. So könnten auch die etwa 100.000 Menschen aus Nicht-EULändern mitentscheiden. Bei der Befragung stimmte eine große Mehrheit gegen den Ausbau. Aber die vereinbarte Hürde von 10 Prozent wurde nicht erreicht. Deshalb wird der Hafen nun doch ausgebaut. Für DIE LINKE war

es trotzdem ein Erfolg, weil viele seit langem in der Stadt lebende Menschen zum ersten Mal abstimmungsberechtigt und in die Entscheidung einbezogen waren. Das könnte ein Vorbild für ähnliche Abstimmungen in anderen Städten werden. Francis Byrne

NEUES AUS DER LINKEN

Kölner Linke kämpft erfolgreich für mehr Demokratie

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© César / flickr.com / CC BY-NC-ND

SERIE: WAS WILL MARX21?

Wir haben einen Plan Mit der Serie »Was will marx21« möchten wir die politischen Grundlagen des marx21-Netzwerkes vorstellen. Diesmal fragen wir: Wie kann ein alternatives Wirtschaftsmodell aussehen? Teil 10 der Serie

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ass im Kapitalismus etwas grundfalsch läuft, darüber sind Linke sich einig. Wie jedoch ein alternatives Wirtschaftsmodell aussehen soll, ist schon lange eine heiß diskutierte Frage. Eine Alternative bietet die derzeit wohl bekannteste deutsche Kapitalismuskritikerin Sahra Wagenknecht in ihrem aktuellen Buch »Freiheit statt Sozialismus« an. Dort beschreibt sie einen »kreativen Sozialismus«, in dem neben staatlichen Konzernen und Genossenschaften auch kapitalistische Unternehmen und die Marktwirtschaft noch eine wichtige Rolle spielen sollen. Dieses Modell unterscheidet sich recht deutlich von den klassischen marxistischen Vorstellungen, die Kapitalismuskri-

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tik auch immer als Marktkritik auffassen. Nicht die Konkurrenz auf dem Markt dürfe die Produktion leiten, sondern die Bedürfnisse der Menschen, nach denen die Wirtschaft geplant werden müsse. Zweifelsohne ist das Konzept der Planwirtschaft durch die Erfahrungen der ehemaligen Ostblockstaaten mit einer schweren Hypothek belastet. Dort erstellten die herrschenden Bürokratien umfassende Wirtschaftspläne und unterwarfen die Bevölkerung diesen Vorgaben. Statt mehr Demokratie und Wohlstand erlebten die Menschen Unterdrückung und Mangel. Diese Erfahrungen prägen die Debatte um Alternativen zum Kapitalismus. So ist auch einer der Ausgangspunkte von Sahra Wagenknecht: »Planwirtschaft funkti-

Das Konzept der Planwirtschaft ist mit einer schweren Hypothek belastet


oniert doch nicht.« Ihrer Meinung nach habe es zu viel Staatswirtschaft und zu viel zentrale Planung gegeben. Im Umkehrschluss müsse ein »moderner« Sozialismus Elemente des Marktes übernehmen, um Ineffizienz und Misswirtschaft einzudämmen. Ihr zweiter Hauptvorwurf gegen die Planwirtschaft lautet, dass sie ökonomisch nicht durchführbar sei. »Eine hoch entwickelte Wirtschaft kann man nicht im Detail planen. Da hat der Markt eine wichtige Funktion«, so Wagenknecht. Doch muss man aufgrund der Erfahrungen mit den Kommandowirtschaften des Ostblockes die Idee einer geplanten Wirtschaft per se ablehnen?

sondern weil es zu viele Güter gibt. Solche Wirtschaftskrisen sind untrennbar mit der Dynamik der Marktwirtschaft verbunden. Sie kommen und gehen, werden aber tendenziell schlimmer.

Planung ist schon heute ein zentrales Kennzeichen der entwickelten Marktwirtschaften. Die großen Autokonzerne beispielsweise fällen Investitionsentscheidungen und erstellen detaillierte Pläne für Multi-Milliarden-Projekte auf Jahre im Voraus. Sie betreiben im Vorfeld der Produktion umfassende Marktforschung, um mögliche Absatzchancen zu ermitteln, und überlegen sich ausgefeilte Werbestrategien, um die Produkte zu vermarkten. Auch gliedern sie die Herstellung von Komponenten in kleinere Betriebe aus. Die Produktion und Anlieferung der Komponenten muss geplant werden, damit sie den Produktionsanforderungen in der »Mutterfabrik« entspricht. Diese Form der Wirtschaftsplanung ist jedoch vollkommen auf die Profitmaximierung und die anarchische Konkurrenz zwischen den rivalisierenden Unternehmen ausgerichtet. Eine gesamtgesellschaftliche Planung der Wirtschaft gibt es nicht. Daher versucht jedes Unternehmen, einen größtmöglichen Marktanteil zu erlangen, indem es so viele Produkte wie möglich herstellt. Das führt dazu, dass ständig mehr hergestellt wird, als gekauft werden kann. Diese Produktionsüberschüsse schlagen sich auf die Profite der Unternehmen nieder und zwingen sie, den Druck an ihre Angestellten weiterzugeben: Die Arbeitszeiten werden verlängert, die Löhne gesenkt, Arbeitsplätze verlagert oder ganz abgebaut. Durch die Überproduktion verfallen die Preise und ein Teil der Unternehmen geht Pleite. Menschen werden ins Elend gestürzt, nicht weil es zu wenig,

Kommandowirtschaft. Sozialistische Planung wäre eine (ständig weiterzuentwickelnde) Technik zur Koordinierung wirtschaftlicher Tätigkeiten, die von der Bevölkerung gelenkt würde – und das auf verschiedenen Ebenen: in der Gesamtwirtschaft, in den Industrie- und Konsumsektoren und in den Betrieben und Haushalten. Demokratische Planung bedarf der Initiative, der Kontrolle und der ständigen Revision durch die Menschen, sowohl in ihrer Eigenschaft als Produzenten – um die Effizienz betrieblicher Prozesse zu steigern – als auch als Konsumenten, um die Produktion so eng wie möglich an die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung zu koppeln. Planung darf nicht bedeuten, dass jeder in seinen Möglichkeiten eingeschränkt wird, wie wir es aus den Ländern des »Realsozialismus« kennen. Unter demokratischen Vorzeichen könnte sich ein umgekehrter Effekt einstellen: Die individuelle Wahlfreiheit kann sich erhöhen, wenn endlich alle Ressourcen in umweltschonender Art und Weise zur Bedürfnisproduktion genutzt werden und nicht in unnötige Ausgaben wie für Werbung oder Rüstung fließen. Güter, die in ihrer Nachfrage oft unerwarteten Schwankungen unterliegen (zum Beispiel bestimmte Lebensmittel), müssten besonders aufmerksam reguliert werden: Niemand sollte auf einen Joghurt zwei Tage länger warten, wenn er oder sie nun spontan Lust darauf hat. Schon heute funktionieren bestimmte Supermärkte mithilfe moderner Technik so, dass jedes verkaufte Produkt sofort regist-

Angesichts dessen müsste eine geplante Wirtschaft als ein demokratischer und kooperativer Prozess organisiert sein. Es existieren durchaus ernstzunehmende Modelle für eine partizipative Wirtschaft jenseits von Markt und stalinistischer

riert und gegebenenfalls nachbestellt werden kann. Regelmäßige Umfragen und die partizipative Demokratie in Rätestrukturen könnten die tatsächlichen Konsumerwartungen viel eher erfassen als die heutige stichprobenartige Marktforschung. Einige Ökonomen meinen, dass eine demokratische Wirtschaft gerade dort rationellen Konsum fördern würde, wo Aspekte der Gesundheit und Nachhaltigkeit eine größere Rolle spielen. Eine alternative, auf horizontaler Koordination basierende Wirtschaft müsste aus dezentralen und zentralen Netzwerken von Produzenten und Konsumenten bestehen, die demokratisch darüber entscheiden, wofür und wie sie ihre Ressourcen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse einsetzen möchten. Planung muss nicht notwendigerweise ein System erzeugen, das von oben gesteuert wird. Kritische Wirtschaftswissenschaftler haben verschiedene Modelle solch einer Wirtschaft vorgestellt – Modelle einer »vereinbarten Koordination« oder »partizipatorischen Planung«. Die technische Leitung der Produktion kann jeweils von der Sache her gedacht werden. Bestimmte bedeutende ökonomische Fragen wie Umweltprobleme oder Ausgaben für das Verkehrswesen müssen überregional, manchmal auch global, also zentral entschieden werden, vielleicht durch gewählte Delegiertenräte, auf Basis unterschiedlicher Vorschläge. Viele andere Entscheidungen müssen das nicht und sollten dementsprechend dezentral getroffen werden – selbst wenn das mehr Zeit bedürfte. Demokratie erfordert Zeit. Wenn die Wirtschaft nicht mehr nach den Prämissen der kapitalistischen Konkurrenz um Märkte organisiert wird, kann die Arbeitszeit drastisch gesenkt werden. Vermutlich würden maximal fünf Stunden täglich ausreichen, wenn zum einen niemand zur Arbeitslosigkeit verdammt ist und zum anderen viele unnötige Tätigkeiten entfallen. Eine solch umfassende Demokratisierung der Produktion ist natürlich auf der Grundlage von privatkapitalistischem Eigentum nicht durchführbar. Wie allerdings ein Prozess von Enteignung und

WAS WILL MARX21

Planung ist schon heute ein zentrales Kennzeichen der entwickelten Marktwirtschaften

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★ ★★ WEITERLESEN Alex Callinicos: Ein Anti-Kapitalistisches Manifest (VSA 2004).

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Vergesellschaftung vollzogen werden soll, ist umstritten. Auch in der Partei DIE LINKE gibt es hierzu keine eindeutige Position. Dem gemeinsamen Kampf gegen Privatisierungen folgt selten eine Diskussion, was anstelle dessen folgen könnte – jenseits von Wiederverstaatlichung oder Rekommunalisierung. Unsere Machteliten argumentieren in dieser Frage unmissverständlich: Sie bestehen aggressiv auf das Recht des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Dem gegenüber muss hervorgehoben werden, dass es keine selbstregierte und demokratische Wirtschaft geben kann, solange reiche Individuen und private Konzerne die Möglichkeit besitzen, die Bevölkerung von den wesentlichen Mitteln der Produktion auszuschließen. Vergesellschaftung bedeutet etwas anderes als bloße Verstaatlichung. Staatsbesitz als Eigentumsform ist mit kapitalistischer Ausbeutung vereinbar – was sich im Stalinismus, in den verstaatlichten Wirtschaftszweigen im Westen oder den Entwicklungsdiktaturen des Südens gezeigt hat und noch heute zeigt. Entscheidend ist erstens die Frage der Kontrolle und der Selbstbestimmung: Kontrollieren die Beschäftigten die wirtschaftlichen Einrichtungen – oder eine Schicht von Bürokraten? Dabei muss die Kontrolle und das Ziel der Selbstverwaltung viel weiter reichen als die »Mitbestimmung« in einigen kapitalistischen Unternehmen. Das führt zum zweiten wesentlichen Kriterium, dem Markt. Solange die Tätigkeit des verstaatlichten Unternehmens dem Ziel der Konkurrenzfähigkeit auf dem kapitalistischen Markt unterworfen bleibt, kann es keine wirkliche Demokratie auf betrieblicher Ebene geben. Im Gegenteil: Die Konkurrenz unter den Arbeitern würde sogar noch verschärft. Sie müssten jetzt kollektiv darüber mitentscheiden, wie die Konkurrenzfähigkeit des Betriebes erhöht werden kann – sprich: sich selbst Lohnkürzungen und Personaleinsparungen verordnen. Die Produktion der verstaatlichten oder vergesellschafteten Betriebe muss sich nach den Bedürfnissen der Produzenten richten, und nicht nach den Gesetzmäßigkeiten des Marktes, also der Konkurrenz um Profite. Zweifellos dürfen nicht alle Entscheidungen der gesellschaftlichen Kontrolle unterliegen. Über unsere Arbeitskraft sollten wir beispielsweise frei verfügen können.

Der Kapitalismus zerstört in großem Ausmaß die Energie und Kreativität der Menschen

Die Freiheit des Individuums zu entscheiden, was es tun möchte, ist ein im Kapitalismus zwar versprochenes, aber nicht eingehaltenes Recht. Sie muss zum Wesen einer sozialistischen Gesellschaft gehören. Wie es sich mit dem persönlichen Eigentum und den Konsumgütern verhalten wird, müssten die Menschen debattieren und beurteilen. Die schrecklichen Erfahrungen der Zwangskollektivierungen in der Sowjetunion haben gezeigt, dass sozialistische Reformen unbedingt auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren müssen. Es ist durchaus vorstellbar, dass, wenn mehr Menschen an den Entscheidungen der Gesellschaft beteiligt sind, sie im Laufe der Zeit Wege finden werden, dies sehr effektiv zu tun. Auch wenn der Kapitalismus eine ungeheure Dynamik hat, so zerstört er doch gleichzeitig in großem Ausmaß die Energie und Kreativität der Menschen. Es besteht daher die Notwendigkeit für eine Wirtschaft, die die menschlichen Möglichkeiten besser zur Geltung bringen und sie zugleich in ein ausgewogeneres Verhältnis zur Natur setzen kann. Selbst wenn das sicherlich keine perfekte Welt wäre und neue Konflikte entstünden – möglicherweise aber auch vernünftigere Wege, diese zu lösen – drängen die aktuellen Verwerfungen geradezu nach einer neuen Diskussion über die Idee einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft. ■


Was macht Marx21?

Gemeinsam anpacken

Wie kann das marx21-Netzwerk die LINKE aufbauen? Diese Frage stand im Zentrum einer Versammlung in Berlin

E

nde Januar, der Tag ist trübe, die Diskussion hingegen nicht: Rund 40 Unterstützerinnen und Unterstützer des marx21-Netzwerks treffen sich in Berlin zu einer lokalen Unterstützerversammlung. Solche Zusammenkünfte sind wichtige Knotenpunkte im Netzwerk. Hier wird gemeinsam diskutiert, um vereint handeln zu können. Die Leitfrage in Berlin: Vor welchen Herausforderungen steht DIE LINKE in der Stadt und im Bund? Welchen Beitrag kann das Netzwerk zum weiteren Aufbau der Partei leisten? Einigkeit herrschte in der grundsätzlichen Analyse. Auch wenn die deutsche Wirtschaft boomt, ist die Eurokrise das dominierende Thema.

Über ihren weiteren Verlauf zu spekulieren, bringt wenig. DIE LINKE kann nicht auf den großen Knall warten, sondern muss jetzt der allgemeinen Stimmung gegen Kapitalismus wirksam Ausdruck verleihen und, wo möglich, sich an Protesten oder Kampagnen beteiligen. Das marx21-Netzwerk wird versuchen, für eine solche Orientierung der Partei einzutreten. Das hat im vergangenen Jahr nicht immer funktioniert. So beklagten sich mehrere Unterstützer, dass dem Streik der Charité-Beschäftigten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Sebastian Zehetmair aus dem Bezirk Neukölln warf die Frage auf, wie insgesamt ein stärkeres Engagement der

TOP TEN Dezember 2011 – Januar 2012

Partei in betrieblichen Auseinandersetzungen erreicht werden kann.Die nächste Diskussion drehte sich um die neue Rolle der Berliner LINKEN in der Opposition. Nach der

BUNDESWEITE UNTERSTÜTZERVERSAMMLUNG

des marx21-Netzwerks

25. & 26. Februar | 9:00 Uhr DGB-Jugendhaus | Frankfurt Anmeldung über: info@marx21.de Wahlschlappe hat die Landesparteiführung einen «Neuanfang“ versprochen. Bislang ist jedoch nicht klar, in welche Richtung der gehen soll. An der

ONLINE ANGEKLICKT marx21.de besser nutzen:

marx21 bei Facebook ★  plus 45 Fans in den letzten zwei Monaten (1124 Fans insgesamt) ★  48 Pinnwandeinträge, Kommentare und Verwendungen von »Gefällt mir« in den letzten vier Wochen ★  Wöchentliche Reichweite Ende Januar 2012: ca. 900 (Im Dezember 2011: ca. 650)

Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

1929 – Ein schöpferischer Crash NATO in Feindesland Die Fesselung der Giganten »Wir haben nicht das Interesse, die Währungsunion zu retten« Heißer Kampf im Eismeer Superstaat unter deutscher Führung Eine kurze Geschichte der Taliban Klassenkampf um Schloss Bellevue Occupy: Mut zum Aktivismus zeigen Occupy: »Der Geist ist aus der Flasche«

Insgesamt waren 12.170 Besucher im Januar (12.322 in Dezember) auf marx21.de

Basis gibt es große Offenheit für eine aktivistische, außengewandte Politik, allerdings sind die lokalen Strukturen oft sehr schwach und auch bei gutem Willen kaum aktionsfähig. Das soll Thema bei einer «Basiskonferenz“ im April sein, zu der der Landesvorstand eingeladen hat. Die Unterstützer waren sich einig, dass dies eine gute Gelegenheit sein kann, eine vorwärtsgewandte Debatte über eine Aufbaustrategie für die Berliner LINKE zu führen. Weitergeführt werden die Diskussionen Ende Februar – dann vom bundesweiten marx21-Netzwerk, das sich in Frankfurt am Main zu seiner jährlichen Unterstützerversammlung trifft.

(932) (881) (788) (669) (574) (555) (546) (378) (338) (315)

ABO KAMPAGNE Stand: 897 (+5)

Ziel: 1000


MARX IS MUSS 2012 Vom 17. bis 20. Mai 2012 findet in Berlin der Kongress »Marx is’ muss« statt. Wir sprachen mit Vernoika Hilmer, einer der Mitorganisatorinnen Veronika, in Deutschland gibt es jedes Jahr eine Vielzahl linker Veranstaltungen. Warum sollte ich ausgerechnet zum Kongress »Marx is’ muss« nach Berlin fahren? Ich denke, dass der Kongress für viele Linke attraktiv ist, weil den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine spannende Mischung geboten wird – das betrifft die Auswahl der Rednerinnen und Redner ebenso wie die Themen der verschiedenen Workshops. Letztes Jahr hatten wir populäre Referenten wie Slavoj Žižek und Oskar Lafontaine im Programm. Für dieses Jahr hat bereits Tariq Ali zugesagt. Es gab Workshops zur Frage, wie Linke zu Prostitution stehen oder ob Rosa Luxemburg sich heute an einer linken Regierung beteiligen würde. »Marx is’ muss« ist ein Kongress, der im Kern von Aktivistinnen und Aktivisten organisiert wird. Theorie ist für uns kein Selbstzweck. Wir wollen Ideen diskutieren, um die Welt zu verändern. Wie spiegelt sich das im Programm des Kongresses wider? DIE LINKE will gemeinsam mit linken Gewerkschaftern, der Interventionstischen Linken sowie Attacund Occupy-Aktivisten Proteste gegen die Krise in Deutschland aufbauen. Das ist längst überfällig. Aber ebenso wichtig ist es, die Ursachen der Krise zu analysieren und sozialistische Gegenstrategien zu diskutieren. Bei »Marx is’ muss« bieten wir einen ganzen Themenblock zur Wirtschaftskrise an. Wir meinen, wer die Krise verstehen will, kommt an Marx nicht vorbei. Deswegen wird es im Rahmen des Seminartags eine Einführung in Marx’ »Kritik der Ökonomie« geben.

Veronika Hilmer

Veronika Hilmer ist Mitglied im Organisationsteam des Kongresses »Marx is’ muss 2012«. Zudem bieten wir Veranstaltungen wie »Eurokrise: Was ist die linke Antwort?« oder »Böse Banken – gute Realwirtschaft?« an. Ich hoffe, wir finden dort gemeinsam Antworten, um gestärkt den außerparlamentarischen Protest aufzubauen. Am Donnerstag, den 17. Mai, startet der Kongress mit einem Seminartag. Was wird anders sein als bei den Workshops und Podien, die in den folgenden Tagen angeboten werden? In der politischen Arbeit vieler Aktiver kommt oft das Lesen zu kurz. Der Seminartag ist aus der Idee geboren, uns den Freiraum zu schaffen, verschiedene theoretische Fragen anhand ausgewählter Textbeispiele intensiver zu diskutieren. Letztes Jahr war

REDNERINNEN TARIQ ALI

[Autor »Piraten der Karibik«]

Alex Demirovic

Alex Callinicos

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NICOLE GOHLKE [MdB, DIE LINKE]

Gilbert Achcar

[Autor »Die Araber und der Holocaust«]

Katja Kipping

Elmar Altvater

Was kann ich tun, um den Kongress zu unterstützen? Wir sind definitiv ein »Mitmach-Kongress«. »Marx is’ muss« dient dazu, Menschen zu vernetzen, die die Welt verändern wollen. Wir können nicht auf reiche Sponsoren oder die großen Medien zählen. Jede und jeder, der oder die kommen möchte, meldet sich am besten jetzt schon an. Es gibt einen Frühbucherrabatt. Für uns sind die frühen Anmeldungen ein unverzichtbares finanzielles Fundament. Das Mobilisierungsmaterial ist bereits fertig, und wir schicken es gerne jedem kostenlos zu. Viele kennen »Marx is’ muss« nicht, und wir sind darauf angewiesen, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Kongress in ihrem persönlichen Umfeld bekannt machen. Bestellt also Plakate und hängt sie im Unicafé, am schwarzen Brett im Betrieb oder in der Mensa eurer Schule auf. Wir hoffen, dass dieses Jahr 800 Leute kommen. So können wir dieses Ziel vielleicht erreichen.

[bisherige Zusagen]

[Autor »Die revolutionären Ideen von Karl Marx«]

[Redaktion der Zeitschrift PROKLA] [MdB, stellvertretende Parteivorsitzende DIE LINKE]

die Nachfrage nach diesem Format sehr groß – erwartet hatten wir 100 Teilnehmer, gekommen sind 200. Aus diesem Grund bieten wir in diesem Jahr zwei Themenbereiche mehr an, in denen wir uns die marxistische Tradition aneignen wollen. Insgesamt wird es die Blöcke »Philosophie«, »Marxismus und Partei«, »Kritik der Ökonomie«, »Frauenbefreiung«, »Klassentheorie«, »Staatstheorie« und »Revolution« geben. Jeder besteht aus zwei Teilen, so dass wir am Vormittag und am Nachmittag Zeit haben, uns den Texten zu widmen. Die stehen ab März zum kostenlosen Download unter www.marxismuss.de zur Verfügung.

Christine Buchholz

[MdB, Parteivorstand DIE LINKE]

[Prof. em. Politikwissenschaft]

DIETMAR DATH

[Autor »Rosa Luxemburg«]

Janine Wissler

[FRAKTIONSVORSITZENDE, DIE LINKE Hessen]

Helga Baumgarten

[Prof. Politikwissenschaft Universität Bir Zait]

Claudia Haydt

[Informationsstelle Militarisierung]


THEMENBLÖCKE

Seminartag

 Philosophie  Marxismus und Partei  Kritik der Ökonomie  Frauenbefreiung  Klassentheorie  Staatstheorie  Revolution

Kampf gegen Rechts

Die LINKE kontrovers

 Gehört der Islam zu Deutschland?  Eine marxistische Analyse des Holocaust  Podium: Wie stark sind die Nazis heute?  Podium: Islamfeindlichkeit – ein neuer Rassismus?

 Wie soll sich DIE LINKE zum NahostKonflikt stellen?  Ist DIE LINKE Lohnarbeitszentriert?  Kommunalpolitik: Mehr als Elendsverwaltung?  Wie viel Markt braucht der Sozialismus?  ÖBS: Wie schafft DIE LINKE neue Arbeitsplätze?  Rätedemokratie: Schnee von gestern?  Podium: Die Linke und das Parlament

Die Wirtschaftskrise – eine marxisti- Betrieb und sche Analyse Gewerkschaft  Eurokrise: Was ist die linke Antwort?  Finanzwirtschaft und die »wirkliche Wirtschaft«  Mit dem Green New Deal die Krise lösen?  Podium: Wie brechen wir die Macht der Banken?

 Die erfolgreiche Betriebsbesetzung eines Eisenbahndepots gegen Privatisierung  Eine Alternative zum Krisenkorporatismus  Die Arbeiterklasse in Deutschland heute  Linke Konfliktkultur in Gewerkschaften aufbauen: Das Beispiel ver.di Stuttgart  Geschichte linker Betriebsgruppen: Was kann die LINKE daraus lernen?  Klassenkämpfe im Wirtschaftswunderland China

[Die Veranstaltungen und Themenblöcke sind vorläufig. Änderungen vorbehalten.]

(Anti-)Imperialismus  Brauchen wir heute noch eine Imperialismustheorie?  Der Zweite Weltkrieg und der Mythos von der »Anti-Hitler-Koalition«  Unterstützen Linke jede Bewegung gegen den Imperialismus?

ANMELDUNG

Arabische Revolution und der NahostKonflikt  Kapern Islamisten die arabische Revolution?  Die Rolle des Westens im Arabischen Frühling  Eine kurze Geschichte der PLO und der Hamas  Israel/Palästina: Ist eine 2-Staaten-Lösung noch möglich?  Podium: Wie weiter für die arabische Revolution?

Die DDR: Mythos und Wirklichkeit  Wem gehörte die Fabrik: Die Arbeiter und Arbeiterinnen im volkseigenen Betrieb  1968 in der DDR  Ist die DDR an der Planwirtschaft gescheitert?

Marxistische DenkerInnen

Buchvorstellungen

 Clara Zetkin und die Tradition der Frauenbewegung  Antonio Gramsci und der Kampf um Ideen  Walter Benjamin und die Bedeutung von Kultur  Che Guevarra und die Befreiung vom Imperialismus

 Tariq Ali: »Obama«  Gilbert Achcar: »Die Araber und der Holocaust«  Dietmar Dath: »Der Simplex: Geschichte der sozialen Bewegung«

Kultur  Podium: Alles Kinderkram? Kinderbücher und Politik  Podium: Wenn der Vorhang fällt: Welches Potential hat politisches Theater heute?  Gentrifizierung und Kultur: Kreative als Standortfaktor?

Links von der SPD  Einheitsfrontpolitik der KPD  Wolfgang Abendroth und der Linkssozialismus

Einfach online unter www.marxismuss.de anmelden, telefonisch unter 030 / 89 56 25 11 oder Brief an: marx21, Postfach 44 03 46, 12003 Berlin. Teilnehmerbeiträge [bis 1. Mai Frühbucher-Rabatt]: • Berufstätige: 40 Euro [statt 45 Euro] • Geringverdiener / Studierende: 20 Euro [statt 25 Euro] • Hartz-IV-Betroffene / Jugendliche unter 16 Jahren: 15 Euro [statt 20 Euro]

marx21 stellt sich vor  Warum und wie marx21 die LINKE aufbauen will  Magazin und Homepage: Das Publikationskonzept von marx21  Die Tradition des Sozialismus von unten

Marxismus und Frauenbefreiung  Streiks, Slutwalks und mehr - Frauen auf den Barrikaden  Wie stehen Linke zu Prostitution  Sind Frauen heute noch unterdrückt?  Alexandra Kollontai und die Oktoberrevolution 1917

JETZT ANMELDEN

WIE WAR'S 2011

Himmelfahrt

»Für Fundamentalopposition und gegen die ostdeutsche Regierungsbeteiligungslinke. marx21 sammelt für diese Linie die Truppen und rockt mit Slavoj Žižek das Haus.« Der Freitag, 09.06.2011

der Motor der

marx21 ist »Das Netzwerk schen Linken.« ut de len ka di ra 6.2011 taz-Blog, 09.0

2012 MARX

IS MUSS

KONGRESS BERLIN 17. Mai bis 20. Mai marxismuss.de

Kongress »Marx is’ muss«

l an »Die Systemfrage sol llt diesem Abend geste s Konwerden. Der Titel de ss‹, Mu is gresses ›Marx t flattert als Banner mi n de in st Fau r stilisierte kar Abendhimmel, als Os e beLafontaine die Bühn ichef rte Pa Exn tritt. Für de ftritt der Linken ist der Au ein Heimspiel.« Die Welt, 03.06.2011

listischen, isten der sozia »Hunderte Aktiv haftsjugend n und Gewerksc kommunistische tadt geeilt, um Ideen zur upts waren in die Ha ieren.« r Welt zu diskut Veränderung de 11 20 6. .0 04 d, hlan Neues Deutsc

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KULTUR

Wo bleibt der Mensch?

Die Linke diskutiert zu wenig über das Individuum. Das meint der Historiker Christoph Jünke. Im Interview erklärt er, warum eine marxistische Anthropologie notwendig ist – und was Sozialismus mit Würstchen zu tun hat

Leo Kofler war Professor an der Ruhr-Universität Bochum. Die Studentenbewegung hatte ihm 1972 die Vertretung für den Lehrstuhl Soziologie erkämpft

© Leo Kofler-Gesellschaft e.V

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er Mensch als solches – darüber haben Linke Anfang der 1980er Jahre noch diskutiert. Ein Autor wie Erich Fromm war mit seinem Humanismus sehr beliebt. Heute werden Debatten über marxistische Anthropologie kaum noch geführt. Warum? Das hat natürlich vor allem damit zu tun, dass die sozialistische, marxistische Linke seit den achtziger Jahren weitgehend zerrüttet, geschrumpft und marginalisiert ist. Mit dem historischen Moment, als die sozialistische Linke Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre weitgehend zerfällt, hört auch die Diskussion über Menschenbilder wieder auf und wird von rechts besetzt, vor allem von den damals aufkommenden Neoliberalen und Postmodernisten. Die Diskussion um den sozialistischen Humanismus und eine marxistische Anthropologie war aber auch damals schon nicht sehr hegemonial auf der Linken.

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omit hängt das deiner Meinung nach zusammen? Ich denke, dass wir es hier mit einem Bündel von Ursachen zu tun haben – zum einen historische: Im bürgerlichen Denken gibt es eine sehr starke Tradition, mit dem Menschen als solchem zu argumentieren, und zwar in abschreckender Weise. Mit dem Biologismus und Rassismus der bürgerlichen Denktradition, bis hin zum Faschismus, hatten Linke schon immer mächtige Probleme. Sie wollten nicht ins Fahrwasser dieses Denkens geraten. Es gibt aber auch theoretische, innermarxistische Gründe. Angetreten ist das marxistische Denken ja, sich auf die historisch-konkreten Zeitumstände einzulassen und das in der Geschichte Veränderliche mit der Maßgabe zu betonen, es in eine andere Richtung zu verändern. Der Marxismus besitzt daher eine starke Tradition, sich eben nicht auf die vermeintlich abstrakte menschliche Wesensschau einzulassen, sondern sich um das zu kümmern, was konkret zu verändern ist – im Gegensatz zur Anthropologie, die immer Wesensschau ist, das Betrachten des Unveränderlichen. Diese Nicht-Thematisierung hat eine lange Tradition. Schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat man sich zwar allgemein als Erbe des klassischen bürgerlichen Humanismus betrachtet, aber eigentlich war das kein besonderes Thema für sich. Und dass Marxisten im 20. Jahrhundert begonnen haben, sich expliziter mit Fragen der

Christoph Jünke

Christoph Jünke ist Vorsitzender der Leo Kofler-Gesellschaft e.V. (www.leo-kofler.de) und Autor von »Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907-1995)« (VSA 2007) sowie »Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute« (Neuer ISP-Verlag 2007). Zuletzt hat er »Begegnungen mit Leo Kofler. Ein Lesebuch« (Papyrossa 2011) mitherausgegeben.

Anthropologie zu beschäftigen, liegt natürlich vor allem an den Erfahrungen mit dem Faschismus und dem Stalinismus, aber auch mit der zunehmenden Integration der sozialdemokratischen Bewegung in den sozialstaatlichen Kapitalismus. Gerade das Scheitern linker Emanzipationsbewegungen spielt hier eine zentrale Rolle. Denn mit der Frage, in welcher Form und mit welchem Inhalt man diese nun nicht mehr emanzipativen Bewegungen kritisieren kann und soll, ist man schnell bei der Frage nach dem sozialistischen Menschenbild: Kann man an der sozialistischen Idee festhalten? Sind die Menschen zum Guten zu erziehen oder müssen sie sich selbst erziehen? Können sie das überhaupt und wenn ja, wie? Es war also die Erfahrung eines historischen Scheiterns, die viele Sozialisten und Marxisten vor allem in den 1950er und 1960er Jahren sich mit Menschenbildern auseinandersetzen ließ. Erich Fromm ist sicherlich einer der bekanntesten und wichtigsten dieser Vordenker, aber man findet vergleichbares auch bei Ernst Bloch oder Jean-Paul Sartre, bei Herbert Marcuse oder Henri Lefèbvre, bei Che Guevara oder Isaac Deutscher, bei den osteuropäischen Reformkommunisten oder den Lukács-Schülern Agnes Heller und György Márkus.

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HINTERGRUND LEO KOFLER Der deutsch-österreichische Soziologe und Philosoph Leo Kofler (1907-1995) war eine markante Gestalt des deutschen Nachkriegsmarxismus. Geboren im österreichisch-ungarischen Ostgalizien, aufgewachsen im »Roten Wien« der Zwischenkriegszeit und während Faschismus und Krieg in der neutralen Schweiz interniert, wurde Kofler 1947 an die ostdeutsche Universität Halle berufen. Ende 1950 floh der Bürokratiekritiker nach Westdeutschland, wo er als »heimatloser Linker« und marxistischer Einzelgänger zu einem wichtigen Vermittler von alter Arbeiterbewegung und Neuer Linker wurde.

u selbst hast dich am Beispiel des deutschen Marxisten Leo Kofler mit dieser Problematik beschäftigt. Ja, und ich halte Koflers Werk für einen der systematischsten und überzeugendsten Versuche einer solchen Neubearbeitung des anthropologischen Themas. Kofler hat bereits in den 1950er Jahren systematisch angesetzt und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass es eine spezifisch marxistische Anthropologie gibt – was andere, die sich damit beschäftigt haben, oft verneint haben. Kofler hat die Anthropologie als, so wörtlich, Wissenschaft von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderungen zu fassen versucht. Auch er betont in marxistischer Tradition, dass es vor allem die Arbeit als ganze, also die menschliche Tätigkeit ist, die den Menschen zum Menschen macht. Doch stärker als die meisten anderen Marxisten betont Kofler, dass man diese Arbeit nicht vom Bewusstsein des Menschen trennen könne. Er betont außerdem, dass Menschen danach streben, ihre Tätigkeit so spiele-

KULTUR

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risch wie möglich anzulegen, weil letztlich auch die Arbeit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient. Diese Bedürfnisse erschöpfen sich nicht im rein Materiellen, sondern haben immer auch einen im weitesteten Sinne des Wortes erotischen Zweck. Der Mensch ist nicht nur Ratio, er ist auch ein irrationales Triebwesen, das mittels der Ratio versucht, seine letztlich irrationalen menschlichen Triebe zu verwirklichen. Für Kofler ist jedoch, und das wurde selten verstanden, die marxistische Anthropologie keine direkte Anleitung zum Handeln, wohl aber unabdingbar bei der Kritik des Bestehenden und bei der Diskussion notwendiger und möglicher Alternativen. Kofler sieht den Menschen als ganzheitliches Wesen und plädiert für eine volle Entfaltung der Persönlichkeit dieses Menschen als eines Gattungswesens. Hierin steckt eine Kritik der kapitalistischen Klassengesellschaft, die dem menschlichen Wesen eben nicht gerecht wird und die beispielsweise immer auch auf einer repressiven, asketischen Arbeitsdisziplin gegründet ist.

dem Teller haben? Oder ist Sozialismus nicht etwas, das den Menschen von der Entfremdung befreit, in die er sich historisch hineinmanövriert hat? Ist er etwas, das den individuellen Menschen als integralen Teil des menschlichen Gattungswesens versteht, ohne dass sich das Individuum in seiner Einzigartigkeit aufgeben muss? Eine solche Sichtweise hat nur bedingt mit Ökonomie zu tun.

Der Mensch ist nicht nur Vernunft, sondern auch ein irrationales Triebwesen

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egen diese Sichtweise argumentierten Marxisten traditionell, dass es im Kampf für Befreiung doch vielmehr um Fragen der Ökonomie gehe, um die materiellen Interessen der Menschen, um Klasseninteressen und Klassenkämpfe. Auch das ist nicht verkehrt, wohl aber einseitig. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gibt es eine lange Tradition marxistischen Denkens, die man als dogmatisch und mechanistisch bezeichnen muss und die alles auf Fragen der Ökonomie reduziert. Das war zwar aus einer gewissen historischen Situation heraus geboren, nichtsdestotrotz in seiner Einseitigkeit falsch. Trotz aller Heterogenität waren sich die späteren Denker eines antidogmatischen Marxismus einig, dass das eine falsche Marx-Interpretation ist. Der Mensch ist ein aktives, ein tätiges Wesen und es geht ihm um mehr als nur um die Ökonomie, nämlich um menschliche Beziehungen und Selbstverwirklichung. Wie Brecht sagte: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein und hat auch dies nicht ohne Kultur. Kofler selbst sprach immer davon, dass man sich klar darüber werden muss, was man will, was man unter Sozialismus eigentlich versteht. Ist es Sozialismus, wenn wir zwei oder drei Würstchen mehr auf

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arum hat gerade Kofler dies so betont? Das ist natürlich auf seine praktischen Erfahrungen mit dem DDR-Sozialismus zurückzuführen – er lebte und wirkte von 1947 bis Ende 1950 in Ostdeutschland. Dort wurde ihm klar, dass man diese realsozialistischen Verhältnisse nicht angemessen kritisieren kann, wenn man keinen Begriff davon hat, wozu der Sozialismus eigentlich da sein soll, was das Ziel der menschlichen Emanzipation ist. Einen solchen Emanzipationsbegriff kann man aber nicht bekommen, wenn man nicht auch einen Begriff vom Wesen des Menschen hat: Wozu ist der Mensch da und wozu nicht, was kann und darf er machen und was nicht? Man kann die Menschen nicht mit bürokratischen Mitteln und nicht mit Gewalt zum Sozialismus erziehen; dieser stalinistische Technokratismus hat sich nicht nur historisch-praktisch als falsch und verheerend erwiesen.

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ieser Technokratismus hat interessante Ähnlichkeiten mit dem heutigen postmodernen Denken. Nichts ist unmöglich, heißt es. Alles sei veränderlich, auch der Mensch selbst. In der philosophischen Tradition gibt es zwei große Stränge. Die sogenannten Naturalisten führen alles auf die Natur der Welt zurück, während die Kulturalisten in allem die Kultur erkennen. Der Postmodernismus, das kann man trotz seiner umfangreichen Heterogenität sagen, steht eindeutig in der Tradition des Kulturalismus. Der Mensch ist ihm, pointiert gesagt, ausschließlich Kultur. Das hat natürlich einen wahren Kern, ist aber eben auch nicht wirklich richtig. Das Spannende bei einem Denker wie Kofler scheint mir zu sein, dass er diese Dichotomie von Naturalismus und Kulturalismus tendenziell überwindet. Auch die heutige Diskussion geht wieder in diese Richtung. Vor allem im angelsächsischen Marxismus, der ja seit den 1980er Jahren die Vorreiterrolle im internationalen Marxismus spielt, gibt es eine neue Beschäftigung mit Fragen der Anthropologie. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre spielte hier vor allem Norman Geras eine Pionierrolle. Im Übergang zu den 1990ern schärfte dann die Kritik des postmodernen Denkens den Blick für Fragen der Anthropologie, etwa bei Alex Callinicos oder Terry Eagleton. Vor allem Eagleton ist mit seinen zahlreichen Arbeiten einer marxistischen Anthropologie auf der Spur. Obwohl er ja aus einer ganz anderen Tradition kommt, aus dem Flirt mit dem antihumanistischen Strukturalismus eines Louis Althusser, betont er heute nicht nur, dass es ein menschliches Wesen gibt, sondern dass die Linke auch daran krankt, dass sie sich diesem Thema nicht stärker zuwendet. Wir Menschen sind, so Eagleton griffig, kulturelle Wesen aufgrund unserer Natur, aufgrund der Beschaffenheit unserer Körper und der Welt, zu der diese Körper gehören. Das scheint mir der zentrale marxistische Gedanke zu sein, der sowohl den einseitig zugespitzten Kulturalismus wie den einseitig zugespitzten Naturalismus überwindet. Der Mensch ist beides: Naturwesen ebenso wie Kulturwesen. Nichts anderes sagt Leo Kofler bereits fünfzig Jahre vorher. Ja, unsere Natur ist, dass wir kulturelle Wesen sind. Doch wir können uns nur bis zu einem bestimmten Punkt verändern, ohne aufzuhören, Menschen zu sein.


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och wie kommt man einem solchen Humanismus praktisch näher? Erich Fromm beispielsweise spricht zwar viel vom Menschen, geht aber kaum auf kollektiven Protest oder auf Streikbewegungen ein. Wir haben es bei diesem Menschen in der Regel mit einem abstrakten Individuum zu tun. Und auch bei Leo Kofler wird die Humanität vor allem durch Bewusstsein und Bildung gebildet. Es sind ja zwei große Quellen, aus denen sich die klassische sozialistische Bewegung speiste. Auf der einen Seite die radikale Tradition der Aufklärung, die vor allem auf Bildung und Erziehung setzt. Auf der anderen Seite haben wir den Emanzipationskampf der arbeitenden Klassen. Beide Elemente haben sich in der klassischen sozialistischen Bewegung tendenziell vereinigt, haben aber, für sich genommen, wenig miteinander zu tun. Gerade mit dem Ende dieser klassischen sozialistischen Bewegungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich diese tendenzielle

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Leo Kofler Ende der 1980er Jahre in KölnMülheim. Der undogmatische Theoretiker war der Ansicht, dass es eine spezifisch marxistische Anthropologie gibt

Einheit von Theorie und Praxis wieder gelockert. Davon ist natürlich auch das Werk eines Fromm, Marcuse oder Kofler betroffen. Ich denke, dass die Zeiten vorbei sind, wo man glauben durfte, dass die Menschen durch Erziehung zu Sozialisten werden. Die Erfahrung mit der alten Arbeiterbewegung zeigt sehr deutlich die Grenzen einer reinen Bildungsarbeit. Wenn es politisch auf sie ankam, haben diese Organisationen versagt, weil sie nicht verstanden haben, in welcher Form und in welchem Ausmaß das Bewusstsein breiter Teile der Bevölkerung über gesellschaftliche Praxis, über Demonstrationen, Aktionen und Streikbewegungen, über alltägliche Klassen- und Massenkämpfe geschaffen und geschärft wird. Das soll nicht heißen, dass die praktische Bewegung alles ist. Doch ohne praktische Bewegung kann die Theorie nicht nur nicht fruchten, sondern noch nicht einmal richtig erarbeitet werden. Man wird zum Sozialisten, indem man praktische Erfahrungen macht und diese Erfahrungen theoretisch verarbeitet. Beides kann aber nicht zusammenkommen, wenn man keine oder nur kleine soziale Bewegungen hat. Man muss wieder einen Weg finden, im Alltag Bewusstseinsarbeit, Theoriear-

st es in diesem Zusammenhang ein Vorteil für dich, dass die heutige Arbeiterklasse in der Regel besser ausgebildet und gebildet als früher ist? Man sollte meinen, dass dies ein Vorteil ist. Der heutige durchschnittliche Lohnarbeiter ist nicht nur weiblicher und ethnisch vielfältiger, er scheint auch aufgeklärter und gebildeter zu sein als vor 50 oder 100 Jahren. Auf der anderen Seite hat man es heute mit Phänomenen zu tun, die dieses aufgeklärte Bewusstsein partiell auflösen können. Es ist ja kein Zufall, dass sich Linke und Sozialisten seit Jahrzehnten so stark mit der Kulturindustrie und mit Medienpolitik auseinandersetzen. Im Bildungssystem oder Fernsehen bekommt man eine Aufklärung, die nicht praktisch ist. Gymnasialschüler müssen etwa Feinheiten der Mathematik pauken, von denen man kaum noch sagen kann, wozu sie diese Kenntnisse später einmal brauchen. Dementsprechend fehlt den meisten das Interesse, sich entsprechende Kenntnisse anzueignen. In der Schule kann man heute lernen, wie ein Computer aufgebaut ist, aber nicht, wie man verantwortlich mit ihm umzugehen hat. So ist der durchschnittliche europäische Mensch heute sicherlich aufgeklärter, geht aber deswegen nicht unbedingt für seine Bedürfnisse und Forderungen auf die Straße. Da sollte man sich nichts vormachen. Trotzdem kann man die Hoffnung haben, dass der Bewusstwerdungsprozess sehr viel schneller vonstatten gehen wird, wenn die Leute einmal aktiv werden und sich zu wehren beginnen. Die Fragen stellte Arthur Bruls (Amsterdam) ★ ★★ HINTERGRUND Eine ausführlichere Fassung dieses Interviews ist, allerdings auf Niederländisch, in der Zeitschrift Grenzenloos (Nr. 115, Dezember 2011) erschienen. Online unter: www.grenzeloos.org.

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beit, Bildungsarbeit zu verbinden mit Oppositionskämpfen im weiteren Sinne und mit Arbeiterkämpfen im engeren Sinne. Das scheint mir die Aufgabe, vor der heutige Marxisten stehen.

© Leo Kofler-Gesellschaft e.V

önnte der vorherrschende Neoliberalismus diese Sichtweise schärfen? Wo der Mensch dem Menschen ein Wolf ist; wo er als Ich-AG verstanden wird, als vereinzelter Einzelner, der seine individuellen Ressourcen in den Wettlauf der Warenförmigkeit zu werfen hat – dort sind linke, emanzipative Überlegungen zu einem anderen Menschenbild mehr als angebracht. Die marxistische Tradition steht und fällt damit, dass man trotz aller Individualität berücksichtigt, dass der Mensch Teil eines Kollektivs, dass er ein Gattungswesen ist – und eben nicht jener vereinzelte Einzelne, als der er heute gilt. Der Mensch, so Kofler, kann sich nur in der Gemeinschaft vereinzeln. Und was uns fehlt, ist ein Bewusstsein dieses Kollektiven, des Solidarischen. Was darf der Mensch, was darf er nicht? Kann man beispielsweise über das Klonen oder die Eugenik diskutieren, ohne sich über das eigene Menschenbild zu verständigen? Dass sich so wenig Marxisten einer solchen Diskussion stellen, zeigt, wie viel in den letzten drei Jahrzehnten verlorengegangen ist. Natürlich gab und gibt es Ausnahmen. Terry Eagleton hab ich ja schon erwähnt. Weitere Beispiele sind Pierre Bourdieu und Naomi Klein, die Ende der 90er Jahre ausgesprochen populär wurden, weil sie auf überzeugende Weise das neoliberale Menschenbild in Frage stellten.

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© Avatar Press / Night of the Living Dead: Comic von Mike Wolfer, John Russo, Aira Tomas

KULTUR

In den 1970er Jahren wird der Horrorfilm neu erfunden. Einer Gruppe junger US-amerikanischer Regisseure gelingt es, das Grauen des Vietnamkriegs und die Niederschlagung der Bürgerrechtsbewegung zu filmischen Albträumen zu verdichten

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Von Frank Eßers

ls der Regisseur George A. Romero die Filmrollen mit seinem gerade abgedrehten Horrorstreifen »Night of the Living Dead« (»Die Nacht der lebenden Toten«) in den Kofferraum packt und nach New York fährt, um einen Käufer zu finden, ahnt er noch nicht, dass er mit seinem ersten Spielfilm einen Nerv tref-

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fen wird. Auf der Fahrt hört er im Radio von der Ermordung des Bürgerrechtlers Martin Luther King. Wir schreiben das Jahr 1968. Der Mord an King ist der vorläufige Höhepunkt des rassistischen Hasses, den US-Regierung und -behören gegen die Bürgerrechtsbewegung schüren und gegen jene, die den Vietnamkrieg ablehnen.


Als die

Monster menschlich

Horrorstreifen sind nicht per se dumpf und reaktionär

Mit seiner apokalyptischen Grundstimmung und expliziten Darstellung von Gewalt drückte »Nacht der lebenden Toten« ein pessimistisches Gefühl aus, das sich vor allem in der jüngeren Generation angesichts der Gräuel des Vietnamkrieges und der brutalen Niederknüppelung der Bürgerrechtsbewegung durch den Staat verbreitet hatte. Von der Kritik wurde der Film zunächst zerrissen: Sie hängte sich in erster Linie an der ungeschönten und direkten Darstellung von Gewalt auf. »Gewaltverherrlichung« – so lautet auch heute noch das Label, das dem gesamten Horrorgenre anhaftet. Und doch fand gerade dieses Genre Ende der 1960er und in den 1970er Jahren neue filmische Ausdrucksmittel, um Vorgänge in der Gesellschaft realistischer und erschütternder darstellen zu können.

KULTUR

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© Night of the Living Dead / Internet Movie Firearms Database (IMFDB

Abknallen, was einem vor die Flinte kommt: In Romeros Zombieklassiker »Night of the Living Dead« ist die Bürgerwehr bedrohlicher als die Untoten ★ ★★

Frank Eßers ist aktiv im Kreisverband der LINKEN in Berlin-Neukölln und Filmfan. Diese Leidenschaft macht auch vor dem Horrorgenre nicht Halt. Sein größter (Alb-) Traum ist, einen Zombie in einem RomeroFilm zu spielen.

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Eine Riege junger Filmemacher brach zu dieser Zeit mit den vorherrschenden Konventionen des US-amerikanischen Films – und mit einer Reihe gesellschaftlicher Tabus: Geschockt vom Grauen des Vietnamkrieges, rassistischer Gewalt und Ereignissen wie dem »Kent-State-Massaker« der Nationalgarde an friedlichen Antikriegsdemonstranten, lieferten neben Romero Regisseure wie Tobe Hooper (»The Texas Chain Saw Massacre«), Wes Craven (»The Last House on the Left«) oder John Carpenter (»Halloween«) verstörende Filme ab. Deren wütendes Statement war: Der »amerikanische Traum« hat sich in einen Albtraum verwandelt. Zwei Neuerungen, eine inhaltlich und eine formal, zeichnen diese mittlerweile zu Klassikern des Genres zählenden Filme aus. Anhand dieser Innovationen kann erklärt werden, warum der pauschale Vorwurf der Gewaltverherrlichung so vehement geäußert wurde – obwohl er nicht zutrifft. Auf der inhaltlichen Ebene revolutionierte der Horrorfilm in den 1970ern die Darstellung des Grauens: Es waren nicht mehr mythische Monster wie Werwölfe oder Vampire, außerhalb der Gesellschaft stehende, übernatürliche Bedrohungen, die Schrecken verbreiteten. Das Grauen kam nun aus der Mitte der Gesellschaft. In Wes Cravens »The Last House on the Left« aus dem Jahr 1972 geht die Bedrohung von einer Gruppe sadistischer Krimineller aus. Im zweiten Teil des Films sind es dann die Eltern eines der Opfer, die sich in einer dem Sadismus der Kriminellen ebenbürtigen Gewaltorgie an den Tätern rächen. In Tobe Hoopers 1974 erschie-

nenem »The Texas Chain Saw Massacre« ist es eine Gruppe ehemaliger Schlachthausangestellter, die zu Kannibalen degenerieren. Der Gewalttäter in John Carpenters 1978 erschienenem »Halloween« ist ein entlaufener, psychisch gestörter Killer, der die vermeintliche Idylle einer Vorstadtsiedlung »stört«. In Romeros Zombiefilmen geht eigentliche Bedrohung nicht von den Untoten aus, sondern von den Lebenden. In »Die Nacht der lebenden Toten« ist dies eine an rassistische Südstaatler erinnernde Bürgerwehr, die ohne Wimpernzucken alles abknallt, was ihr vor die Flinte kommt. Am Ende des Films erschießen Angehörige einer solchen Gruppe auch die Hauptfigur, den Schwarzen Ben (dargestellt von Duane Jones). Danach folgt eine Sequenz, die in die Filmgeschichte eingegangen ist. In grobkörnigen Einzelbildern wird gezeigt, wie die Bürgerwehr die getöteten Zombies – und auch den irrtümlich für einen Zombie gehaltenen und erschossenen Ben – mit einer Art Fleischerhaken abtransportiert, zu Haufen schichtet und verbrennt. Das damalige Publikum assoziierte diese Sequenz mit Bildern realer rassistischer Lynchmorde und mit der Art und Weise, wie der Vietnamkrieg in den Nachrichten dargestellt wurde. Auch die Sprache der Filmfiguren erinnert an Vietnam. So redet die Hauptfigur Ben über seine Begegnung mit Zombies wie ein Veteran über seine Kriegserlebnisse: »50 oder 60 von diesen Dingern standen da und starrten mich an. Ich fahr auf sie zu, pflüge durch sie hindurch. Sie bewegen sich nicht von der Stelle. Sie standen da und starrten mich an. Es knirscht als ich durchfahre. Sie flatterten durch


und verliert damit sozusagen seinen Glanz. Klassische Monster wie Dracula oder Frankenstein hatten immer auch etwas Sympathisches oder Reizvolles. In den 1970er Jahren wird »das Böse« entmythologisiert und als Bestandteil menschlichen Verhaltens dargestellt. Obwohl die Kamera meist einen neutralen Blick vermittelt, wird »das Böse« durch diesen Kniff unerträglicher. In dem bereits zitierten Aufsatz schreibt Jerome Philipp Schäfer über diese Art Filme: »Im Terrorfilm wurde Blut nicht mehr um des Blutes willen gezeigt, sondern um eine ganz spezifische Atmosphäre der Gnaden- und Ausweglosigkeit zu erreichen (...). Es sollte sich ein Gefühl der Unerträglichkeit des Sichtbaren einstellen«. Diese Filme nahmen aber auch bestimmte Familienideale aufs Korn. Schockierend wirkte auf die damaligen Zuschauer etwa eine Szene aus Romeros »Night of the Living Dead«, in der ein kleines Zombiemädchen seine Eltern tötet und anschließend verspeist. Oder jene skurrile Episode aus »The Texas Chain Saw Massacre«, in der Sally von der Kannibalenfamilie gezwungen wird, mit dieser am Essenstisch »Platz zu nehmen«. Augenzwinkernd wird hier die Vorstellung von heiler Familie oder harmonischen Zusammenkünften der Sippe im wahrsten Sinne des Wortes auseinandergenommen. In John Carpenters »Halloween« verwandelt sich eine idyllisch anmutende Vorstadtsiedlung, in der weiße Mittelschichtler leben und sich in Sicherheit wägen, in einen Ort des Schreckens.

Der »amerikanische Traum« hat sich in einen Albtraum verwandelt

Doch ging es den genannten Horrorregisseuren keineswegs nur darum, Gewalt realistisch darzustellen. Der Zuschauer sollte auch die Leiden der Opfer in den Filmen und die Destruktivität von Gewalt nachempfinden können. In »The Last House on the Left« sind nicht nur die Kriminellen sadistisch-gewalttätig. Auch die gutbürgerlichen Eltern der Opfer geraten in einen Blutrausch und rächen sich an den Tätern. Dabei wird die Rache nicht verharmlost, verherrlicht oder gerechtfertigt. Der Auslöser, das an ihrer Tochter begangene Verbrechen, tritt in den Hintergrund. Stattdessen wird die Verselbständigung der Gewalt dargestellt. Sie hat keinen Sinn, dient keinem höheren Zweck (auch nicht der Selbstverteidigung) und endet in einer Sackgasse. Am Schluss des Films sieht man Vater und Mutter kraftlos und psychisch am Ende vor den Trümmern ihres Familienlebens stehen. In Tobe Hoopers »The Texas Chain Saw Massacre« vermeidet der von der Kamera eingenommene beobachtende Blick eine Aufteilung in Gut und Böse wie sie bis dato im klassischen Horrorfilm vorherrschte. Die wertenden Kategorien werden abgelöst durch die sachlichen Kategorien von Täter und Opfer. Dadurch wird »das Böse« nicht länger ins Mythische überhöht

Es gibt durchaus viele Horrorstreifen, die sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, blutrünstig, sadistisch oder frauenfeindlich zu sein. Das Genre ist keineswegs per se gesellschaftskritisch. Aber es ist eben auch nicht per se dumpf, konservativ oder reaktionär. Mittlerweile sind Horrorfilme längst im Mainstreamkino angekommen. Doch meist sucht man in heutigen Streifen vergebens ähnlich kritische Untertöne wie in den besprochenen Klassikern. Selbst in Remakes dieser Filme wird die Gesellschaftskritik ausgeblendet. Teilweise wird die ursprüngliche Aussage sogar ins Konservative gewendet – wie in Zack Snyders Neuverfilmung von George Romeros konsumkritischen »Dawn of the Dead«. Doch einige aktuelle Filme wie J. T. Pettys »The Burrowers« mit seiner deutlichen Kritik am Rassismus der US-Kavallerie zur Zeit des »Wilden Westens« oder Sam Raimis »Drag me to hell«, der unterschwellig die Verkommenheit der Finanzwelt aufs Korn nimmt, zeigen, dass das Genre die Gesellschaftskritik noch nicht ganz verlernt hat. ■

★ ★★ ANMERKUNG Das Frauenbild in Horrorfilmen ist nicht Thema des Artikels, aber zur Beurteilung des Genres ebenfalls wichtig. Verwiesen sei deshalb auf den Dokumentarfilm »Science of Horror« (Deutschland 2008) der Berliner Regisseurin Katharina Klewinghaus.

★ ★★ FILMTIPP

»The American Nightmare«, Dokumentarfilm, Regie: Adam Simon, USA 2000. KULTUR

die Luft wie Puppen.« Die zweite Innovation betrifft die Technik der Darstellung: Die Kamera nimmt meist eine beobachtende, neutrale Position ein und gibt den Filmen damit einen an Dokumentationen oder Nachrichtensendungen angelehnten Charakter. Dadurch, dass das Geschehen authentisch wirkt, wird der Schrecken potenziert. Diese stilistische Neuheit kann auf die bis dato ungekannte explizite Darstellung von Gewalt in den Nachrichten zurückgeführt werden. In seinem filmwissenschaftlichen Aufsatz »Die Position des Zuschauers im Terrorfilm« schreibt Jerome Philipp Schäfer treffend: »Tatsächlich war die TVBerichterstattung aus Vietnam eine entscheidende Zäsur (…) die Wirklichkeit wirkte bedeutend grausamer als die Fiktion der damaligen Zeit, so dass der Zuschauer im Hollywood-Film nur noch ›gesäuberte Versionen der Wahrheit‹ sah.« Reale Bilder wie jenes vom Polizeichef von Saigon, General Nguyen Ngoc Loan, der 1968 vor den Kameras westlicher Reporter den Vietcong-Angehörigen Nguyen Van Lem mit einem Kopfschuss hinrichtete, brannten sich ins kollektive Gedächtnis ein. Wes Craven erklärte in einer Fernsehdokumentation, dass jene Szene in »The Last House on the Left«, in der Mari von einem der Kriminellen angeschossen wird, der Erschießung Nguyen Van Lems nachempfunden sei.

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Klassiker des Monats

Gedanke und Tat Paul Frölich war Mitkämpfer Rosa Luxemburgs. Seine Biografie über die Sozialistin liest sich streckenweise wie ein Politthriller Von Lisa Hofmann

★ ★★

Lisa Hofmann ist Mitglied im Landesvorstand der hessischen LINKEN.

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ach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg entbrannte Anfang der 1920er in der kommunistischen Bewegung ein heftiger Streit über die Frage nach der richtigen Kampfstrategie. In Deutschland war die Bewegung in mehrere Strömungen zersplittert und jede nahm für sich in Anspruch, die Theorien von Rosa Luxemburg zu vertreten und sie richtig an die neuen Umstände anzupassen. In dieser aufgeheizten Situation entschied das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, eine Kommission zur Herausgabe des Nachlasses von Rosa Luxemburg zu berufen. Dieser Kommission gehörte unter anderem Rosas Freundin Clara Zetkin an. Paul Frölich, Gründungsmitglied der KPD und erprobter Kämpfer der Arbeiterbewegung, wurde mit der Verwaltung und Sichtung des Nachlasses beauftragt. Bevor er seine Arbeit beenden konnte, wurde er erst aus der KPD ausgeschlossen und schließlich im März 1933 von den Nazis verhaftet und interniert. Nach einem Jahr im Konzentrationslager Lichtenburg gelang ihm die Flucht in die tschechische Republik und schließlich nach Paris. Im Exil beendete er seine biographische Arbeit über Rosa Luxemburg. Sie erschien wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, im August 1939. Genauso spannend wie die Entstehungsgeschichte dieser Biographie ist das Buch selbst. Paul Frölich hat auf ein paar hundert Seiten eine gelungene Einführung in das Werk und die zentralen Ideen von Rosa Luxemburg geschrieben. Er schildert ihr Leben und ihre Gedanken im Spiegel der historischen und gesellschaftlichen Umstände, die zur Entstehung ihrer Theorien beigetragen haben. Streckenweise liest sich das Buch wie ein Politikthriller, etwa wenn Frölich die Matrosenaufstände in der Revolution 1918/19 illust-

riert oder die darauf folgenden Auseinandersetzungen in der Arbeiterbewegung. »Gedanke« und »Tat« sind die beiden Pole, so Frölich, zwischen denen sich Rosa Luxemburg bewegte. Ihr genügte es weder, sich komplett in die Aktion zu stürzen, noch sich mit Haut und Haaren der Theorieentwicklung zu verschreiben oder diese gar über die Tat, die reale Bewegung zu stellen. Stattdessen versuchte sie immer wieder, die beiden Pole in Einklang miteinander zu bringen, indem sie die Erkenntnisse ihrer Arbeit an der marxistischen Theorie mit den veränderten historischen Bedingungen verknüpfte und gegebenenfalls veränderte.

Rosa Luxemburg hatte unzählige Konflikte mit der SPD-Führung auszufechten

Ihr Denken kannte weder Schablonen noch letzte Wahrheiten. Der wichtigste Prüfstein ihrer Gedanken war die geschichtliche Entwicklung selbst. Sie überprüfte wieder und wieder, ob die Entwicklung der Produktivkräfte und der Klassenkämpfe ein Niveau erreicht hatten, die bestimmte Kampftaktiken begünstigten. So sagte sie zwar in der Auseinandersetzung mit Eduard Bernstein in der Vorkriegssozialdemokratie: »Wer sich für den gesetzlichen Reformweg, anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht, ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern ein anderes Ziel.« Doch zugleich war ihr die strategische Bedeutung von Reformen klar. Sie sah »im Kampf um Reformen (...), um Erweiterung der demokratischen Rechte innerhalb des bürgerlichen Staates gerade das Mittel die Arbeiterklasse auf die Revolution vorzubereiten, sie zu schulen, zu organisieren und ihr aus der Erfahrung die Erkenntnis zu geben, dass der kapitalistische Staat gestürzt werden muss, wenn das Proletariat aus der Lohnsklaverei befreit werden soll.« Ihrer Meinung nach konnte »auch die größte Revolution nur das vollbringen, was durch


Für sie »waren die Parlamentswahlen die Gelegenheit zur mächtigen Entfaltung sozialistischer Propaganda und zur Abschätzung des Einflusses in den Volksmassen – das Parlament die weithin vernehmbare und international sichtbare Tribüne zur Volksaufrüttelung.« Dieser Aufgabe könnten linke Parteien in der bürgerlichen Demokratie allerdings nur aus der Rolle einer Oppositionspartei heraus gerecht werden. In der Rolle der Regierungspartei wären sie starken Anpassungszwängen ausgesetzt und müssten über kurz oder lang die eigenen Ziele opfern. Rosa Luxemburg glaubte, soziale Proteste müssten die Form von Mas-

senstreiks annehmen. Durch die aktive Teilnahme an ihnen würden »die Massen« ein revolutionäres Bewusstsein entwickeln. Diese Ideen, begründet u. a. in ihrer Broschüre »Massenstreik, Partei und Gewerkschaft«, ziehen sich durch die gesamte Theorie und das Handeln Rosa Luxemburgs. Genau deshalb hatte sie unzählige Konflikte mit der Führung der SPD und der Zweiten Internationalen auszufechten – bis zu ihrer Ermordung durch Freikorpssoldaten, an der Teile der SPD-Führung indirekt beteiligt waren. Paul Frölich zeigt sehr anschaulich, wie sich die Einheit von Gedanke und Tat sowie der Kampf für Frieden und Demokratie als roter Faden durch das Leben Rosa Luxemburgs zogen. Diese Biografie lohnt sich für jeden, der einen umfassenden und zugleich zugänglichen Einstieg in das Werk Rosa Luxemburgs sucht. Als Bonus erhält man zugleich eine Geschichte der SPD und der Arbeiterbewegung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Weimarer Republik. ■

★ ★★ DAS BUCH

Paul Frölich: Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat (Dietz Verlag Berlin 1990). Nur noch antiquarisch erhältlich.

KLASSIKER DES MONATS

die Entwicklung reif geworden ist.« Sie war der festen Überzeugung, dass der Sturz des Kapitalismus eine historische Notwendigkeit darstellt. Das hieß aber nicht, dass der Sturz zwangsläufig geschehe. Er könne überhaupt nur von einer breiten Massenbewegung der Lohnabhängigen vollzogen werden. Trotzdem war sie der Meinung, dass sich linke Parteien an Wahlen beteiligen sollten.

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Geschichte hinter dem Song

Florence Reece »Which Side Are You On?«

© Carter John L / Harlan County Mine Strike Photographic Collection

Von Yaak Pabst

Bergarbeiter blockieren 1939 eine Straße in Harlan County. Immer wieder kam es in Kentuckys Kohlerevier zu wilden Streiks

Florence Reece textete 1931 mit »Which Side Are You On?« eine Hymne der Gewerkschaftsbewegung. Sie stellt nur eine einfache Frage. Aber weil die Antwort über so viel entscheidet, fesselt der Song bis heute m 15. Juli 1931 stürmt ein Dutzend Hilfssheriffs illegal das Haus von Florence Reece. Sie suchen ihren Mann Sam. Die Schergen des Sheriffs wollen ihn wegen seiner Streikaktivitäten einzuschüchtern. Es ist kein ungewöhnlicher Vorgang zu dieser Zeit und doch wird das Ereignis Florence Reece dazu bringen, ein Stück Musikgeschichte zu schreiben. Sam ist Bergarbeiter und Organizer der United Mine Workers (UMW) in Harlan County, Kentucky, dem viertgrößten Kohlerevier in den USA. In den engen

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Schächten der Minen leisten 18.000 Bergleute körperliche Schwerstarbeit, um das »Schwarze Gold« aus der Erde zu holen. Niedrige Löhne und Zehnstundenschichten bringen den Kohlekonzernen Millionenprofite ein. Die Bergarbeiter hingegen gehören zu den schlechtbezahltesten Berufsgruppen in den USA. Zwischen 1929 und 1931 sinkt der durchschnittliche Jahreslohn eines Bergarbeiters in Harlan County von 1235 auf 749 Dollar. Weil sie nur knapp zwei Dollar am Tag verdienen, können viele Arbeiter ihre Familien nicht mehr ernähren.

In den ersten drei Jahren nach Beginn der Weltwirtschaftskrise von 1929 sterben in Harlan 231 Kinder an Unterernährung. Als im Frühjahr 1931 einige Zechenbetreiber erneut eine zehnprozentige Lohnkürzung durchsetzten wollen, beginnen die Arbeiter, sich zu wehren. Hilflos, spontan und unorganisiert, im Wissen, dass sie »lieber kämpfend als arbeitend hungern«, wenden sich die Bergleute an die Gewerkschaft. Zuerst streiken nur die Arbeiter der »Black Mountain Coal Company«, aber innerhalb weniger Tage treten 3000 Bergleute in die Gewerkschaft ein und die Bewegung erfasst ganz Harlan County. Mittendrin in der Organisation des Streiks: Florence und Sam Reece. Die Bosse der Kohleindustrie sind besonders gewerkschaftsfeindlich und haben eine ungeheure Macht in der Region. Etwa


Die Kohlebosse kontrollieren nahezu jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens in den Bergbauregionen der USA. Jetzt nutzen sie ihre Macht, um den aufkommenden Protest der Bergarbeiter im Keim zu ersticken. Dafür ist ihnen jedes Mittel Recht: Einschüchterung, Zwang, Unterdrückung und Mord. Sie stellen »schwarze Listen« auf, auf denen alle Arbeiter und deren Angehörigen vermerkt werden, die sich in der Gewerkschaft engagieren. Sie heuern bewaffnete Schläger an, die wahllos Menschen in den Bergarbeitersiedlungen angreifen, die sie für Gewerkschaftsmitglieder halten. Nicht selten werden der lokale Sheriff und seine Gehilfen direkt von den Kohlebaronen bezahlt, um gewerkschaftliche Aktivitäten zu stören. So auch in Harlan. Der diensthabende Sheriff John Henry Blair erklärt später, er habe während des Streiks von 19311932 »alles in [seiner] Macht stehende getan, um den Zechenbetreibern zu helfen«. Harlan County befindet sich während der Streikbewegung im Kriegszustand: Hunderte werden verletzt, elf Menschen sterben. Die Hausdurchsuchung bei Florence und Sam Reece endet für die Hilfssheriffs erfolglos. Sie treffen nur Florence und ihre sieben Kinder an. Nachdem die Polizisten abgezogen sind, schreibt sie den Song

»Which Side Are You On?« (»Auf welcher Seite stehst du?«), eine kompromisslose Aufforderung, sich dem Kampf der Bergarbeiter anzuschließen: Come all you good workers, Good news to you I’ll tell / Of how the good old union / Has come in here to dwell. (Kommt ihr Arbeiter, ich erzähle euch eine gute Nachricht / Wie die gute alte Gewerkschaft sich hier heimisch gemacht hat.) Which side are you on, boys? / Which side are you on? / Which side are you on, boys? / Which side are you on? (Auf welcher Seite steht ihr, Jungs? / Auf welcher Seite steht ihr? / Auf welcher Seite steht ihr, Jungs? / Auf welcher Seite steht ihr?) My daddy was a miner, And I’m a miner’s son, And I’ll stick with the union / ‘Til every battle’s won. (Mein Vater war Bergarbeiter und ich bin der Sohn eines Bergarbeiters, ich stehe zu der Gewerkschaft / Bis alle Schlachten gewonnen werden.) They say in Harlan County / There are no neutrals there. / You’ll either be a union man / Or a thug for J. H. Blair. (Sie sagen, in Harlan County / Es gibt keine Neutralen hier / Entweder bist du Gewerkschafter / Oder ein Schläger für J. H. Blair.) Oh workers can you stand it? / Oh tell me how you can? / Will you be a lousy scab / Or will you be a man? (Oh, ihr Arbeiter, haltet ihr das aus? / Oh, sagt mir, wie schafft ihr das? / Wirst du ein lausiger Streikbrecher oder wirst du ein Mann sein?) Don’t scab for the bosses, Don’t listen to their lies. / Us poor folks haven’t got a chance / Unless we organize. (Mach nicht den Streikbrecher für die Bosse, Höre nicht auf ihre Lügen / Wir Armen haben keine Chance / Es sei denn, wir organisieren uns.) »Which Side Are You On?« basiert auf einer Melodie, die die Arbeiter aus den Gottesdiensten kennen. Das Lied verbreitet sich über Mundpropaganda von Streikposten zu Streikposten, auf Gewerkschaftsversammlungen und Protestkund-

gebungen in Harlan County. Der Song gewinnt schnell an Popularität, weil überall in den USA Arbeiter gegen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und die Anerkennung ihrer Gewerkschaften kämpfen. Alleine im Jahr 1934 sind 1,5 Millionen Arbeiter im Streik – »Which Side Are You On?« trifft den Nerv der Zeit. Der Text wird je nach Arbeitskampf verändert und so findet das Lied immer weitere Verbreitung. Im Jahr 1940 lernt der Folksänger Pete Seeger das Lied von einem Bergarbeiter. Mit seiner Band, den Almanac Singers, bringt er es 1941 erstmals auf Platte heraus. In den 1960er Jahren wird der Song von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung neu interpretiert. Florence Reece bleibt bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 aktiv. Sie ist nie professionelle Musikerin. Vielmehr stellt sie ihr Können in den Dienst der US-amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, die vor allem in den 1930er und 1940er Jahren Musik bei der Aufbauarbeit einsetzt: So entstehen eine ganze Reihe bekannter Songs wie »I Am A Girl Of Constant Sorrow« von Sarah Ogan Gunning oder »I Am a Union Woman« von Aunt Molly Jackson. Als es im Jahr 1973 eine weitere große Streikwelle in Harlan County gibt, unterstützt Florence Reece die Bergarbeiter und singt »Which Side Are You On?« a capella vor Tausenden auf einer Gewerkschaftsversammlung. Ihr Lied ist zum Klassiker geworden. Bis heute inspiriert es Musiker und ist lebendiger Teil der Widerstandskultur. Billy Bragg sang seine Version in den 1980er Jahren in Großbritannien vor streikenden Bergarbeitern. Ein Jahrzehnt später vertonte es die Punkband Dropkick Murphys und spielte es auf ihrer Tour vor tausenden Jugendlichen. Vor fünf Jahren schuf die Hip-Hop-Band Rebel Diaz eine Rapversion und die mit dem Grammy ausgezeichnete Folksängerin Ani DiFranco setzt den Ton für 2012. Ihr neues Album heißt: »Which Side Are You On?« ■ ★ ★★ Yaak Pabst ist Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.

GESCHICHTE HINTER DEM SONG

ein Viertel der Bevölkerung arbeitet in den Minen und fast jeder im Land ist von der Kohleindustrie abhängig. Nur etwa 12.000 der 70.000 Einwohner von Harlan County wohnen in freien Städten und selbst dort ist der Einfluss der Kohlekonzerne stark. Die anderen 58.000 leben in »Company Towns«. Das sind von den Zechenbetreibern aufgebaute und kontrollierte Siedlungen. Im Jahr 1938 widmete sich die New York Times der Situation in Harlan County. Die Menschen, so schrieb die Zeitung, »leben in firmeneigenen Städten, wohnen in firmeneigenen Häusern, gehen auf firmeneigenen Straßen, kaufen in firmeneigenen Läden, gehen zu firmeneigenen Kirchen und schicken ihre Kinder auf firmeneigene Schulen. Krankheiten werden von firmeneigenen Ärzten behandelt und das Gesetz wird oft von firmeneigenen Richtern vertreten, die über das Eigentum der Zechenbetreiber wachen. Eines der großen Unternehmen hatte bis vor kurzem sogar ein eigenes privates Gefängnis.«

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Review Š 2011 Sony Pictures Releasing GmbH


FILM

Verblendung | Regie: David Fincher

Wenn die Kasse zweimal klingelt Recyclingwahn in Hollywood. US-amerikanische Studios setzten immer häufiger auf Fortsetzungen und Neuverfilmungen. Jüngstes Opfer: Stieg Larssons »Verblendung«

ollywood scheinen die Ideen auszugehen. Achtziger-Jahre-Klassiker werden neu verfilmt und von erfolgreichen Blockbustern erscheinen zahllose Fortsetzungen. Auch am europäischen Filmmarkt bedienen sich die US-Studios gerne. So nun geschehen mit Stieg Larssons »Millenium«-Trilogie. Das Remake des ersten Teils der Reihe, »Verblendung«, ist gerade in Deutschland angelaufen. Die Besonderheit hier: Das Original – eine deutsch-skandinavische Co-Produktion – ist gerade einmal drei Jahre alt. Weltweit spielte der Film von Regisseur Niels Arden Oplev über 100 Millionen Euro ein. In den USA fand er allerdings nur wenige Zuschauer. Dort lief er im Original mit Untertiteln. Für die amerikanische Filmindustrie ein klarer Fall: So etwas könne man dem Publikum nicht zumuten, auch eine Synchronisierung käme nicht in Frage: Die Schauspieler des Films seien in den USA zu unbekannt, Filmästhetik und Sehgewohnheiten seien andere. Also ereilte »Verblendung« das gleiche Schicksal wie etliche ausländische Filme vorher: Die Produktionsfirma Sony nahm viel Geld in die Hand, engagierte Erfolgsregisseur David Fincher und verfilmte die Geschichte neu. Ähnlich wie das europäische Original bleibt die US-Version von »Verblendung« nahe am Roman. Es geht um den Großunternehmer Henrik Vanger

(Christopher Plummer), der den Enthüllungsjournalisten Mikael Blomkvist (Daniel Craig) damit beauftragt, den Verbleib seiner Nichte Harriet aufzuklären. Seit 1966 ist die spurlos verschwunden. Vanger vermutet, dass sie von einem Mitglied seiner Familie ermordet wurde. Blomkvist begibt sich zum Familiensitz, der verschneiten Insel Hedeby. Unterstützt wird er von der ebenso intelligenten wie eigentümlichen Hackerin Lisbeth Salander (Rooney Mara). Zusammen decken sie eine dunkle Familiengeschichte auf, die sich hinter der bürgerlicher Fassade der Vangers verbirgt. Regisseur Fincher hat als Macher von »Sieben« und »Fight Club« bewiesen, dass er ein Händchen für die Inszenierung anspruchsvoller Thriller hat. Auf den ersten Blick fällt seine Interpretation von »Verblendung« noch düsterer aus als die Verfilmung von Oplev. Doch es gelingt ihm nicht, die Stimmung des Romans einzufangen. Besonders deutlich wird das bei der Figur Lisbeth Salander. Zweifelsohne liefert Rooney Mara eine solide Darstellung ab, aber sie reicht zu keiner Zeit an die phänomenale Leistung von Noomi Rapace aus der ersten Verfilmung heran. Rapaces Salander merkte man in jeder Sequenz ihre innere Zerrissenheit an, beeindruckend stellte die Schauspielerin die autistische Art Salanders dar. Maras Lisbeth hingegen ist zu glatt und – trotz

aller Piercings und Tattoos – fast zu gewöhnlich. Das trifft auch auf den gesamten Film zu: Es fehlen die Ecken und Kanten. Finchers »Verblendung« ist zwar in Schweden gedreht worden, aber er könnte auch an jedem anderen Ort der nördlichen Erdhalbkugel spielen. Alles ist westlich-chic durchgestylt. Das mag im Haus des Millionärs Martin Vanger durchaus angebracht sein, lächerlich wird es aber, wenn auch die Redaktionsräume der kleinen, linken Zeitschrift »Millenium« aussehen, als stammten sie aus dem Designerkatalog. Nervig ist zudem das aggressive Product Placement. Gerade hier wird deutlich, dass es bei diesem Remake und überhaupt bei Hollywoods Recyclingwahn ums Geld geht. Die Krise ist auch in der Traumfabrik angekommen. Im vergangenen Jahr gingen so wenig Menschen in die US-Kinos wie seit 1995 nicht mehr. Was liegt also näher als den Erfolg zu planen? Das funktioniert am besten, indem man auf Geschichten setzt, die schon einmal bewiesen haben, dass sie das Publikum begeistern können. »Verblendung« ist ein Beispiel dafür – zugegeben: ein gelungenes. Dafür sorgt schon die Geschichte, auf der der Film basiert. Doch wer die Originalverfilmung kennt, kann sich guten Gewissens den teuren Kinobesuch inklusive Überlängenzuschlag sparen.

★ ★★ FILM | Verblendung | Regie: David Fincher | USA 2011 | 158 Minuten | Seit dem 12. Januar im Kino

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© 2011 Sony Pictures Releasing GmbH

Von Marcel Bois

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Immortal Technique | The Martyr

CD DES MONATS Auf Vinyl gepresster Antiimperialismus: Immortal Technique rappt mit Pathos gegen Ausbeutung und Unterdrückung – und verwehrt sich den Zwängen des Marktes Von David Jeikowski

© Viper Records

ier ist Immortal Technique, Harlem, New York, über die ganze Welt, und dies ist ›The Martyr‹. Wenn ihr das hier hört, ist es eure Verantwortung, es für jeden einzelnen Motherfucker, den ihr kennt, zu brennen.« Das sind die Worte, mit denen das neue Album des US-amerikanischen Rappers Immortal Technique beginnt. Damit ist die Richtung klar: Hier kommt eine Stunde internationalistischer, mit »Motherfuckers« gespickter Brachial-Antikapitalismus auf einen zu. Der in Peru geborene Afro-Latino beschreibt in seinen Texten die Machenschaften des US-Imperialismus mit derart drastischen Worten, dass es fast wehtut zuzuhören. Dabei vermengt er das Ganze geschickt mit romantisch verklärtem Guerilla-Heroentum und DritteWelt-Charme und liefert so ein Album, das auch aus einer CheGuevara-Biografie geschnitten sein könnte und das Herz jedes Antiimperialisten bis zum PaliTuch schlagen lässt. Gleich das erste Lied, »The Martyr« (»Der Märtyrer«), handelt von Freiheitskämpfen und historischen Persönlichkeiten, die für ihre Ziele gestorben sind, die Märtyrer der Bewegung eben: Che, Patrice Lumumba, Ghandi oder der Black Panther Huey P. Newton. Der Song, der auch dem Album seinen Titel gibt, stellt die Blaupause für die folgenden Lieder: Nach einem Film-Sample, das pathetisch in die Thematik einführt (»Ich bin zufrieden damit für meine Überzeugungen zu sterben. Drum schneidet mir den Kopf ab und macht mich zum Märtyrer«), folgen dramatische Streicher. Der Song bekommt etwas Episches, Triumphierendes. Der Rap setzt ein: »Der Sinn des GuerillaKrieges ist nicht zu gewinnen/ Er war schon immer, den Feind bluten zu lassen«. Eine direkte, gnadenlose Abrechnung. Das Prinzip des Battle-Raps wird hier auf reale Kämpfe übertragen und es wird klar Stellung bezogen: Wir, das Volk, gegen sie, die Ausbeuter. Dann setzt

★ ★★ Immortal Technique | The Martyr | Viper Records 2011 der Refrain ein: »Tief in den Schützengräben, im Herzen eines Krieges/ Dort wird der Märtyrer geboren/ In der Nacht, vor Anbruch der Dunkelheit/ Dort wird der Märtyrer geboren«. Insgesamt werden auf »The Martyr« viele unterschiedliche Themen behandelt und Perspektiven beleuchtet. Doch geschieht das nie auf Kosten des politischen Anspruches von Immortal Technique. Das Lied »Natural beauty« beispielsweise lobpreist die Schönheit von Frauen, um gleichzeitig im Hip-Hop-Jargon das

Schönheitsideal der westlichen Welt anzugreifen (»Sie haben das unvergleichliche, afrikanische Bild der Isis verdorben/ und durch eine leblose, anorexische weiße Schlampe ersetzt«) und »Goonies never die« ist zwar eine Beschreibung dessen, wie Immortal Technique mit Freunden um die Häuser zieht und Ärger macht, aber auch eine Anklage der Gentrifizierung seines Viertels (»Erinnerst du dich an die Goonie-Ära, mit Graffiti jeder Art/ Und jetzt wollen sie unsere Hood zwangsversteigern, um einen Golf-Platz zu bauen«).

Nachdem Mumia Abu-Jamal zum letzten Album ein Intro und einen Kurzbeitrag beigesteuert hat, sind auch auf dieser CD ein paar bekannte Stimmen zu hören. Neben dem ebenfalls für ihren politischen Rap bekannten Duo Dead Prez ist in »Civil War« eine Ikone dieses Genres zu hören: Chuck D von Public Enemy. Musikalisch ist das Album manchmal ein wenig monoton und dümpelt irgendwo zwischen dramatisch, gefühlvoll und aggressiv. Das schadet den Texten und ihrer Aussage zwar kaum, steigert aber auch nicht immer unbedingt den Hörgenuss. Grund hierfür ist sicherlich nicht zuletzt wieder eine politische Entscheidung des Rappers. Denn anstatt sich von einem finanzstarken Majorlabel unter Vertrag nehmen und damit kontrollieren zu lassen, vermarktet er seine Musik ausschließlich über sein eigenes Label Viper Records und bleibt so unabhängig. Auch wenn er nach eigener Aussage insgesamt bereits um die 200.000 Alben verkauft hat, würde Viper Records wohl kaum das Geld aufbringen können, angesagte und teure Produzenten zu engagieren. Doch darum scheint es Immortal Technique auch nicht zu gehen. Mit dem Geld, das er mit dem Verkauf seines letzten Albums »The 3rd World« gemacht hat, ist er für die Menschenrechtsorganisation Omeid International nach Kabul gefahren, um dort beim Aufbau eines Weisenhauses zu helfen. Auch wenn sich »The Martyr« nicht so gut durchhören lässt wie Major LabelProduktionen und die zuweilen blinde Glorifizierung bewaffneter Aufstände sicherlich auf manche abschreckend wirkt, lohnt es sich durchaus, einmal in das Album reinzuhören – zumal man es direkt beim Label (www.viperrecords.com) umsonst downloaden kann.


BUCH

Komitee »Solidarität mit Emmely« (Hrsg.) | Gestreikt. Gekündigt. Gekämpft. Gewonnen

Wer kämpft, kann gewinnen Ihr wurde wegen eines Pfandbons gekündigt – und sie wehrte sich erfolgreich. Ein Sammelband erinnert an den Fall Emmely. Es geht um große Sympathie, unsolidarische Betriebsräte und einen steuerhinterziehenden Postchef

ie Bild-Zeitung nannte sie »Deutschlands berühmteste Kassiererin«. Im Jahr 2008 wurde die Berliner Verkäuferin Emmely während eines langen Streiks im Einzelhandel entlassen. Ihr Arbeitgeber, die Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann, warf ihr vor, zwei uneingelöste Pfandbons im Wert von 1,30 Euro unterschlagen zu haben. Emmely klagte gegen die Kündigung über alle Instanzen bis zum Bundesarbeitsgericht. Nach zwei Jahren bekam sie Recht. Das Solidaritätskomitee für Emmely, das sich in Berlin gegründet hatte, hat nun ein kleines Buch über den Fall herausgebracht. Dort wird deutlich: Es ging um mehr als einen Rechtsstreit. Der Fall berührte viele Menschen, Emmely bekam enormen Zuspruch und Unterstützung. Es entstand eine kleine Bewegung, ohne die das Urteil so nicht zustande gekommen wäre. Das Buch gibt dazu zahlreiche Einblicke. Zunächst kommt Barbara Emme, wie Emmely mit bürgerlichem Namen heißt, selbst zu Wort. Sie schildert die Vorgeschichte des Streiks, wie sie als »Rädelsführerin« ins Visier der Geschäftsführung geriet und vor allem, wie sie sich entgegen dem Rat der Gewerkschaft entschied, gegen die Kündigung zu kämp-

fen. Sie beschreibt, welch große Solidarität sie erfuhr und wie sich dadurch ihr Leben und ihre Sichtweise auf die Gesellschaft veränderten. In dem Buch wird auch beleuchtet, warum ihr Fall so viel Öffentlichkeit erhielt: Eine Kassiererin mit 31 Jahren Betriebszugehörigkeit wird wegen angeblicher Unterschlagung von 1,30 Euro gefeuert – und steht vor dem Nichts. Etwa zur gleichen Zeit wird bekannt, dass der damalige Postchef Klaus Zumwinkel eine Millionen Euro Steuern hinterzogen hat. Er wird lediglich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt – und lässt sich nach Ausscheiden aus dem Postkonzern noch seine Pensionsansprüche in Höhe von 20 Millionen Euro auszahlen. Das verletzte das Gerechtigkeitsempfinden von Millionen Menschen. Fernsehsender und Zeitungen erhielten ungewöhnlich viele Zuschriften, in denen Menschen von ähnlichen Schicksalen berichteten. Emmely kämpfte auch für sie. Unterstützung erhielt die Berlinerin von vielen kleinen Initiativen und gewerkschaftlichen Gliederungen. In dem Buch wird lebendig von zahlreichen Aktionen und Veranstaltungen berichtet. Zugleich kommt der Konflikt zur Sprache, den es in der örtlichen Gliederung der zuständigen Gewerkschaft

ver.di gab. Im Apparat glaubten wenige an den Erfolg einer öffentlichen Kampagne. Der verantwortliche EinzelhandelFachbereich agierte zurückhaltend. Ein Grund war auch die Haltung des Betriebsrates bei Kaiser’s. Er lehnte eine »Nestbeschmutzung« des Unternehmens ab und drohte, kollektiv aus ver.di auszutreten, sollte die Gewerkschaft entschieden für Emmely Partei ergreifen. Ein Dorn im Auge war ihm auch eine von Emmely und anderen Streikaktivistinnen gegründete neue gewerkschaftliche Kaiser’s-Betriebsgruppe. Interessant ist auch das Kapitel zu der juristischen Auseinandersetzung. Wegen der starken öffentlichen Empörung war die alte Rechtsprechung zur sogenannten Bagatellkündigungen nicht aufrecht zu erhalten. Das Urteil war eine kleine Revolution. Anders als bisher wurde juristisch neu und politisch brisant gefragt, welche Interessen wichtiger sind: die eines Beschäftigten und seiner Existenz oder das Interesse des Unternehmens am Schutz seines Eigentums? Die arbeitende Klasse konnte in den letzten Jahren nicht viele Erfolge für ihre Seite aufweisen. Der Fall und die Kampagne Emmely ist einer. Das Buch dazu ist sehr lehrreich und unbedingt zu empfehlen.

★ ★★ BUCH | Komitee »Solidarität mit Emmely« (Hrsg.) | Gestreikt. Gekündigt. Gekämpft. Gewonnen. Die Erfahrungen der »Emmely«-Kampagne | AG Spak | Neu-Ulm 2011 | 144 Seiten | 9,50 Euro REVIEW

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© AK Spak

Von Olaf Klenke

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BUCH

Imran Ayata | Mein Name ist Revolution

Sehnsucht nach der großen Erzählung Noch ein Roman über Clubszene und Drogenselbstversuche. Denkt man. Doch dann lässt Imran Ayata seinen Antihelden in die Politik der türkischen Linken eintauchen Von Moritz Scheper

© Blumenbar

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★ ★★ BUCH | Imran Ayata | Mein Name ist Revolution | Blumenbar | Berlin 2011 | 280 Seiten | 16,95 Euro

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nfang Vierzig kommt er mit seinem ersten Roman heraus. Imran Ayata, Kommunikationsagent und bekannt für seinen Erzählband »Hürriyet Love Express« sowie als Beiträger zum Sarrazin-Löschzug »Manifest der Vielen«. Genervt wähnt man sich nach wenigen Seiten von »Mein Name ist Revolution« schon wieder in einem dieser Berliner Szenetexte: Jede angesteckte Zigarette wird ebenso wie die vernichteten Drinks mit Markennamen erwähnt, und dann ins »Berghain« bis die Nasen bluten. Doch schon im zweiten Kapitel bekommt die Geschichte einen so herrlich anderen Dreh, dass Imran Ayata den Leser bis zum Schluss in der Tasche hat. Devrim, Erzähler und pochendes Herz des Romans, ist zwar wie die halbe Stadt mittdreißig, ziellos und ungebunden, jedoch hat er das Alleinstellungsmerkmal, Sohn der ersten Gastarbeiterlottomillionäre zu sein. Marxisten sind die Eltern auch noch, zumindest gewesen, bis ein Verkehrsunfall Devrim zum Waisen machte. Eine außergewöhnliche Ausgangsposition für den Kern der Handlung. Als sich Devrim nämlich in die Hamburgerin Rüya verknallt und ihr zuliebe in die anatolische Heimat ihrer beider Eltern fliegt, tapsen Erzähler und Leser gleicherma-

ßen ahnungslos durch Tunceli, welches Devrim und Rüya nur »beim alten Namen«, Dersim, nennen. Der Volksmund kennt es ebenfalls als Klein-Moskau, wegen der vorherrschend linkspolitischen Ausrichtung der Bevölkerung. Diese hat ihren Ursprung in einem fürchterlichen Blutbad, das die Kemalisten im Rahmen ihrer Türkisierungspolitik in den 1930er Jahren unter der vorwiegend kurdischen Bevölkerung angerichtet haben. Ein schlummernder Konflikt, der seit der Militarisierung der PKK in den 1980ern wieder blutig ist. Hier Devrim (türkisch: Revolution) zu heißen, kann an militärischen Straßenposten schon mal unangenehm werden. Nicht dass Ayata einen politischen Bildungsroman geschrieben hätte. Aber er mogelt die Tragweiten der Politik gekonnt durch die kleinsten Ritzen in die heimelige Welt Berliner Nachtschwärmer, als Ahnung einer Drohkulisse, irgendwo in der kalten Morgenluft vorm »Cake« oder hinter den Jalousien des »Berghain«. Und er findet poetisch treffende Bilder dafür, etwa jenes der beiden Basketballer aus der Nachbarschaft, deren Spiellärm nach der Abschiebung des einen nicht mehr in Devrims Wohnung dringt. Übrigens sehr zur Freude des pedantischen Peter Schneider aus der Etage drüber,

der vielleicht nicht nur zufällig nach dem Alt-68er und Autor von »Rebellion und Wahn« benannt ist. Vor allem aber beherrscht Imran Ayata die Kunst, Dialoge zu stricken. Jedes Wort, jeder Laut sitzt perfekt, präzise dem Leben abgelauscht, ohne dabei gewöhnlich oder belanglos zu wirken. Seit der Dersim-Reise liegt ein Schatten über Devrims Wohlstandswehwehchen. Damit öffnet Ayata das Konfektionsmodell der selbstverliebten Berlinprosa für die wirklichen Konflikte dieser Welt, was ihm nicht hoch genug angerechnet werden kann. »Mein Name ist Revolution« ist ein Appell auf das Ende der ach so abgeklärten Großstadtprosa, die ihre fehlende Motivation zum Schreiben mit einem Tüll von Ironie bedecken. Ayatas Devrim jedenfalls wird überwältigt von Liebe, Krieg und Tod – Emotionen, die ironische Positionen in ihre Grenzen weisen. Vielleicht steht hinter den vielen kleinen Geschichtchen, die Devrim mit sich herumträgt – den Querelen mit seinem Radiojob, der erodierenden Männerfreundschaft mit Okan und Altan, dem Knüpfen zarter Bande mit Rüya – doch eine tastende Sehnsucht nach einer großen Erzählung, die es ja angeblich nicht mehr geben soll.


BUCH DES MONATS Die spannendste Geschichte der November­ revolution stammt von einem ihrer Aktivisten: Richard Müller. Sie ist gerade neu erschienen Von Jan Maas

★ ★★ BUCH | Richard Müller | Eine Geschichte der Novemberrevolution | Die Buchmacherei | Berlin 2011 | 756 Seiten | 19,95 Euro

Ebert und Scheidemann, von der kaiserlichen Regierung als Feuerlöscher eingesetzt, hielten mit allen Mitteln gegen die Bewegung, um ihr heiliges parlamentarisches System und die damit verknüpften Macht- und Eigentumsverhältnisse zu erhal-

ten. Müller zeigt in seinem Buch sehr anschaulich, wie besonders Gustav Noske (SPD) mit hohem persönlichem Einsatz gezielt die rechten Elemente in den Kasernen aufwiegelte, um die Räte zu schwächen. Auch sein blutiger Bürgerkrieg gegen die revolutionären Arbeiter 1919/20 stützte sich auf diese Kräfte. Mit dem Niedergang der deutschen Revolution endete auch Müllers politisches Engagement. 1920 gehörte er zu dem Flügel der USPD, der einen Anschluss an die 1919 gegründete Kommunistische Partei (KPD) befürwortete. Schon 1922 wurde er jedoch aus der KPD ausgeschlossen, weil er an der Seite von Paul Levi den abenteuerlichen Aufstandsversuch der Partei im März 1921 kritisierte. In den Folgejahren widmete Müller sich zunächst seiner »Geschichte der Novemberrevolution«, bevor er sich schließlich als Bauunternehmer selbstständig machte. Müllers Buch ist ein extrem wichtiges Werk. Zwar ist die Tragödie der Novemberrevolution mit dem Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als erster Tiefpunkt erschöpfend

behandelt worden. So unterschiedliche Autoren wie Bernt Engelmann und Sebastian Haffner haben den Verrat der SPD-Spitze detailreich dargestellt. Aus dieser Perspektive ist wenig hinzuzufügen. Aber eine Innenansicht der politischen Verhältnisse in den Betrieben im Verlauf von Krieg und Revolution von 1914 bis 1919 liefert nur Müller. Hierbei zeigt er auch die SPDFürsten in Großaufnahme. Müller kannte Ebert, Scheidemann und Noske aus eigenem Erleben und ergänzt seine scharfe Analyse ihres Reformismus mit zuweilen erheiternden Details. So waren Scheidemann und Ebert die ersten, die während des Massenstreiks 1918 aus einer illegalen Sitzung des Aktionsausschusses flohen, als Polizeialarm gegeben wurde. Dem behäbigen Ebert musste erst ein Obmann in den Mantel helfen. Die Vorsichtsmaßnahmen überließen die SPD-Männer dann anderen. In lebendigen Farben beschreibt Müller zudem, wie das Netzwerk der »revolutionären Obleute« in den Gewerkschaften agierte. Während sich die Führung der Gewerkschaften dem Burgfrieden der SPD mit dem Kaiserreich angeschlossen hatte, agitierten die Obleute im Geheimen geduldig gegen den Krieg. Dass Müller und sein Netzwerk mit den Arbeitern in enger Verbindung standen, betont der Autor sehr gern. Oft grenzt er sich dabei von den Anhängern des Spartakusbundes ab. Mitunter gerät seine Kritik an dieser Linksabspaltung von der SPD zu harsch. Immerhin stellte sie die Keimzelle der KPD dar, deren größter Fehler es war, 1914 noch nicht existiert zu haben. Überdies missfällt an der Neuauflage dieses Juwels unter den Geschichtsbüchern die etwas lieblose Gestaltung. Doch trotz dieser kleinen Schwächen gilt: Kaufen, lesen, weiterverschenken – diese Geschichte sollte jeder kennen. REVIEW

Richard Müller | Eine Geschichte der Novemberrevolution

© Die Buchmacherei

ndlich, endlich, endlich ist eins der besten Bücher über die deutsche Geschichte wieder neu erschienen: Richard Müllers »Geschichte der Novemberrevolution«. Ursprünglich 1924/25 vom Malik-Verlag veröffentlicht und 1973/74 von Olle & Wolter neu aufgelegt, waren die drei Bände jahrzehntelang nur antiquarisch zu astronomischen Preisen erhältlich. Im letzten Oktober haben Jochen Gester, Ralf Hoffrogge und Rainer Knirsch das Werk in einem Band neu herausgegeben – zum Preis von 19,90 Euro für 756 Seiten. Richard Müller (1880-1943) war einer der führenden Aktivisten der Novemberrevolution 1918, ist aber im Gegensatz zu Zeitgenossen wie Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann (SPD) heute in Vergessenheit geraten. Ein Beispiel dafür, dass die herrschende Geschichtsschreibung immer die Sicht der Herrschenden wiedergibt. Müller war Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), einer linken Abspaltung der SPD. Er stand als Vorsitzender des Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19 an der Spitze einer Rätebewegung, die dem deutschen Kapitalismus zum bisher einzigen Mal eine bessere Alternative gegenübergestellt hatte. Seit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 hatte Müllers loses Netzwerk linker Gewerkschafter – später »revolutionäre Obleute« genannt – vor allem in der Rüstungsindustrie für ein Ende des Mordens agitiert. Die Mühen mündeten ab 1916 in immer größeren politischen Massenstreiks. Schließlich beendeten Meutereien, Aufstände und Demonstrationen im November 1918 den Krieg und die deutsche Monarchie. In den Betrieben herrschte Rätedemokratie, die Unternehmer waren nicht mehr Herr im eigenen Haus. Doch ihre Macht war nicht am Ende.

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Mein Lieblingsbuch

roßbritannien, Anfang der Neunziger. Zu Weihnachten schenkt meine Cousine fast allen Freunden und Verwandten das gleiche Buch. Jonathan Coes »What a Carve Up!« (deutscher Titel: »Allein mit Shirley«) ist ein Krimi, ein Schauermärchen, eine Liebesgeschichte und eine politische Satire. Vor allem ist es einer der wenigen Romane, die zugleich politisch scharf, gut geschrieben und lustig sind. »Allein mit Shirley« ist sehr selbstreferentiell, der Autor lässt wechselnde Erzähler agieren und zitiert gerne andere Kunstwerke – der Buchtitel beispielsweise stammt von einem obskuren alten Film. Man könnte das Buch beinahe postmodern nennen. Doch im Gegensatz zu den meist unpolitischen postmodernen Werken ist die Triebkraft von »Allein mit Shirley« ein sehr fokussierter Klassenhass. Das Buch erzählt die Geschichte der Winshaws, einer Familie des englischen Landadels. Sie sind glühende Anhänger des politischen Rechtsrucks, der Großbritannien zur Zeit Margaret Thatchers erfasste. Hilary ist Klatschkolumnistin, Henry ein ehemaliger LabourAbgeordneter und jetzt Medienvertreter. Dann sind da noch der frivole Kunsthändler Roddy, die Agrarunternehmerin Dorothy, der voyeuristische Filmproduzent Thomas und der Waffenhändler Mark. Sie alle sind verwandt mit Laurence, einem ehemaligen Nazikollaborateur. Neben den Winshaws lernen wir auch verschiedene andere Leute kennen, die – zufällig oder absichtlich – unter der Familie zu leiden haben. Wir erleben, wie die unermessliche Gier der Winshaws die einzelnen Familienmitglieder nicht nur reich macht, sondern auch persönliche Tragödien auslöst. Nicht selten führen deren Aktivitäten zum Tod anderer Menschen. Mal sind Kürzungen in Krankenhäusern schuld, mal die kosten-

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Von MARX21-Leser Phil Butland

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem ihr denkt, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreibt uns – und präsentiert an dieser Stelle euer Lieblingsbuch. Diesmal: „Allein mit Shirley“ von Jonathan Coe

★ ★★ Jonathan Coe | Allein mit Shirley Piper | München 1995 | 565 Seiten | antiquarisch erhältlich

günstige, aber ungesunde Nahrungsmittelproduktion. Autor Coe zeichnet aber keineswegs ein Schwarzweißbild von Gut gegen Böse. Roddy beispielsweise ist durchaus charmant. Hilary hat einen guten Schreibstil und könnte auch mal was Progressives schreiben, wenn es Geld dafür gäbe. Umgekehrt sind die »guten« Figuren des Romans nicht automatisch Vorbilder. Familienbiograf Michael Owen ist schwach und eingebildet, der ehemalige Revolutionär Graham aufgeblasen und die verschiedenen Frauen im Buch werden eher als Opfer denn als starke Kämpferinnen dargestellt – eine der wenigen Schwächen des Buches. Die Boshaftigkeit der Winshaws ist also nicht nur eine individuelle, sondern resultiert aus dem kapitalistischen System, das sie voll und ganz verkörpern. Sie sind zwar fast alle widerliche Personen, aber zugleich auch Vertreter ihrer Klasse. Familienmitglieder, die nicht vom Leid anderer profitieren wollen – wie der gutwillige Mortimer oder die exzentrische Tabitha – verlieren an Einfluss oder werden verrückt. Die Winshaws repräsentieren die gesellschaftliche Veränderung im Großbritannien der 1980er Jahre. Gegenwärtig gibt es den Versuch, die Geschichte dieser Jahre neu zu schreiben, etwa durch Filme wie »Die Eiserne Lady«. Hier wird versucht, Margaret Thatcher als Opfer von Klassenunterdrückung oder gar als feministische Ikone darzustellen. Doch »Allein mit Shirley« macht klar, warum so viele von uns, die diese Zeiten miterlebt haben, Thatcher gehasst haben.Ein letzter Punkt. Hatte ich schon erwähnt, dass »Allein mit Shirley« urkomisch und tragisch ist? Das ist nicht unwichtig, weil es zahllose Bücher über die Verkommenheit der politischen Rechten gibt. Doch es existieren nur wenige, die uns gleichzeitig die Gelegenheit geben, darüber zu lachen und zu weinen. Auch deswegen ist dieses Buch unbedingt zu empfehlen.


BUCH

Elmar Altvater | Der große Krach

Warum der Wahnsinn um sich greift Es begann als verheerende Bankenkrise. Mit Hunderten von Milliarden halfen die Staaten den Finanzinstituten aus der Patsche. Jetzt stehen beide, Retter wie Gerettete, vor dem finanziellen Infarkt. Elmar Altvater rekonstruiert, wie es soweit kommen konnte

ie Hiobsbotschaften über Staatsschulden und unterkapitalisierte Banken nehmen kein Ende. Es ist nicht zu übersehen, dass wir uns mitten in einer Jahrhundertkrise befinden. Nichts deutet darauf hin, dass es besser wird, vieles aber darauf, dass es noch weit schlimmer kommt. Merkel, Schäuble und Ackermann betonen immer wieder, die Ursache für die Krise sei nicht bei den Banken, sondern bei den Staaten zu suchen. In seinem neuesten Buch erinnert Elmar Altvater zu Recht daran, dass damit Ursache und Wirkung geradezu auf den Kopf gestellt werden. Die Staatsschulden sind rasant gestiegen, weil die Regierungen im Jahr 2008 sofort zur Stelle waren, um Rettungspakete für den maroden Bankensektor zu schnüren. Bereits zuvor hatten Steuersenkungen für Unternehmen und Vermögende die Staatsverschuldung anschwellen lassen. Statt Steuern bei den Reichen zu erheben, haben sich die Staaten immer mehr bei ihnen verschuldet. Altvater wendet sich aber zugleich auch gegen die linkskeynesianische Vorstellung, die von einem Gegensatz zwischen solider Realwirtschaft und krisenhaftem Finanzsektor ausgeht. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes sind seit Anfang der 1970er Jahre überall auf der Welt rückläu-

fig. Sinkende Profitraten führten dazu, dass die Unternehmer sich mit neuen Investitionen zurückhielten. Stattdessen wurden die Gewinne auf den liberalisierten Finanzmärkten investiert, wo die Renditen viel höher lagen. Der Finanzmarktkapitalismus war für die Unternehmen auch aus einem anderen Grund von Vorteil. Um die Profitraten wieder zu erhöhen, übten sie massiven Druck auf das Lohnniveau der Lohnabhängigen aus. Damit drosselten sie letztlich aber die Nachfrage nach ihren eigenen Produkten. Private und öffentliche Verschuldung ersetzte nun die fehlende Nachfrage aus Erwerbseinkommen. Eine reale Ankurbelung des Wachstums gelang darüber nicht. Statt neue Werte zu schaffen, erzielten die neuen Finanzprodukte nur Profit aus Umverteilung. Der wachsenden Vermögenskonzentration steht so eine steigende Verschuldung gegenüber. Platzende Vermögensblasen und Konjunktureinbrüche sind die unvermeidliche Folge. Die in Deutschland im Dezember 2009 in Gesetzesform gegossene Wachstumsbeschleunigung ist das Mantra hinter allen Bemühungen der Herrschenden, die Krise zu bewältigen. Mit dem Dogma der Haushaltskonsolidierung, das die Gewinne aus vergangener Umverteilung sichern soll, wird das Wachstum

aber weiter abgewürgt. Der Vorschlag der LINKEN, das nicht in produktive Investitionen gehende Kapital durch eine Vermögenssteuer abzuschöpfen und für gesellschaftlich nützliche Projekte zu verwenden, weist zwar über den Keynesianismus hinaus. Dagegen gibt es aber massive Widerstände. Der Versuch, die Wachstumsraten durch Ausdehnung der natürlichen Grenzen wieder so weit zu steigern, dass die verschuldeten Länder aus ihren Schulden herauswachsen, stößt aber nach Altvaters Meinung auf soziale und ökologische Grenzen. Gerade die Nahrungsmittelkrise im Jahr 2008 hat gezeigt, wie unter den Bedingungen eines von Konkurrenz angetriebenen Wirtschaftssystems klimabedingte Ernteausfälle, Nahrungsmittelspekulation und die Monopolstellung der großen US-Agrarkonzerne zu einer Vielfachkrise führten. Es ist der Verdienst von Altvater, zu zeigen, dass nicht so sehr ideologische Irrtümer der herrschenden Klasse am Anfang der Liberalisierung des Finanzsektors standen, sondern das Unvermögen der Realwirtschaft, Wachstumsraten wie in den 1950er und 1960er Jahren zu erzielen. Ein weniger akademischer Zugang hätte allerdings den Leserinnen und Lesern die Lektüre etwas einfacher gemacht.

★ ★★ BUCH | Elmar Altvater | Der große Krach. Oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur | Westfälisches Dampfboot | Münster 2010 | 263 Seiten |19,90 Euro

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© Westfälisches Dampfboot

Von Heinz Willemsen

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BUCH

Jong Uk Yun| Die Spielfilme von Ken Loach

Immer auf Augenhöhe Seit vielen Jahren steht Ken Loach für kapitalismuskritisches Kino. In seinem Buch erklärt Jong Uk Yun den Zusammenhang zwischen den politischen Überzeugungen des Regisseurs und seiner Filmästhetik Von Daniel ILlger

© Büchner

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★ ★★ BUCH | Jong Uk Yun| Die Spielfilme von Ken Loach. Perspektive eines realistischen Kinos | Büchner | Darmstadt 2010 | 215 Seiten |26,90 Euro

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en Loach ist zweifelsfrei eine Ausnahmegestalt im europäischen Autorenkino. Was den Regisseur vor allem auszeichnet, ist sein politisches Engagement. Mit seltener Konsequenz hält er an der Idee eines kapitalismuskritischen Kinos fest und erzählt in immer neuen Varianten von Arbeitslosen, Gewerkschaftern, Migrantinnen und Revolutionären. Die Filme wollen dabei nicht belehren, sondern für die Zuschauer erfahrbar machen, welchen Preis an menschlichem Leid das kapitalistische System fordert. Zugleich versucht Loach, die Möglichkeiten des Widerstands auszuloten: Seine Helden sind Frauen und Männer aus der Arbeiterklasse, die unter schwierigsten Umständen für eine bessere Zukunft, um ihre Würde oder einfach ums tägliche Überleben kämpfen. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass die Diskussion über Loachs Arbeit von der Frage nach deren politischem Gehalt beherrscht wird. Die künstlerische Machart der Filme kommt dabei meist zu kurz. Man könnte meinen, die politischen Überzeugungen des Regisseurs hätten nichts mit seiner Filmästhetik zu tun. Es gehört zu den Stärken von Jong Uk Yuns Buch »Die Spielfilme von Ken Loach. Perspektive eines realistischen Kinos«, gegen

eine solche Trennung von Stil und Inhalt zu argumentieren. Die Studie versucht zu zeigen, wie Loach einen bestimmten künstlerischen Stil entwickelte, um seinen politischen Ideen einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Um dies zu verdeutlichen, untersucht der Autor 16 Spielfilme Loachs – von »Up the Junction« (1965), einem Fernsehdrama über das Liebesleben von Fabrikarbeiterinnen, bis hin zu dem Film über den irischen Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg, für den Loach die Goldene Palme von Cannes gewann: »The Wind that shakes the Barley« (2006). Jong Uk Yun legt überzeugend dar, was die Grundzüge von Loachs Filmästhetik sind, die das gesamte Schaffen des Regisseurs prägt. Als Hauptmerkmal dieser Ästhetik identifiziert er die »einfühlsame Beobachtung«. Zum einen betrifft das den Einsatz filmtechnischer Mittel. Die Kamera etwa hält bei Loach häufig Distanz zu den Figuren. Sie vermeidet auffällige Perspektiven, bewegt sich meist auf Augenhöhe, als wäre sie ein menschlicher Betrachter. Jong Uk Yun schreibt: »Dadurch wird der Eindruck vermittelt, dass die Kamera keine Vorurteile gegenüber dem Geschehen hat und sie darum bemüht ist, genau das zu zeigen, was wirklich passiert.« Zum anderen betrifft das

Loachs Herangehensweise an die Filmproduktion. So wählt er häufig selbst für tragende Rollen Laiendarsteller, die das, wovon der Film erzählt, aus persönlicher Erfahrung kennen. Auf diese Weise will Loach den Zuschauern das Gefühl geben, sie wären Zeugen eines Geschehens, das sich in ihrer eigenen, alltäglichen Wirklichkeit abspielt und sie unmittelbar etwas angeht. Darüber hinaus will er dem Publikum eine freie Bezugnahme auf den Film ermöglichen: Es soll selbst über die Figuren und ihre Konflikte nachdenken, nicht der Interpretation des Regisseurs folgen. In diesem Sinn strebt Loach nach dem Ideal eines demokratischen Kinos. Zugleich nutzt er filmische Mittel für die politische Analyse. So wird die soziale Entsolidarisierung der Post-Thatcher-Ära in »Riff-Raff« (1991) schon dadurch greifbar, dass die Bauarbeiter, von denen der Film erzählt, meist in Einstellungen inszeniert werden, die sie allein und isoliert von ihren Kollegen zeigen. Man kann Jong Uk Yun mitunter Oberflächlichkeit vorwerfen. So vermeidet er eine theoretische Diskussion des schwierigen Begriffes »Realismus«. Dessen ungeachtet ist es das Verdienst seines Buches, die Möglichkeiten einer politischen Filmästhetik aufzuzeigen.


eue Kämpfe entwickeln sich gegen die Krisenpolitik. Getragen von »ganz normalen Leuten« erscheinen sie oft unorganisiert. Die Erfahrungen vergangener Bewegungen fließen zwar ein, doch markieren die gegenwärtigen Proteste auch einen Bruch: Ihre Ziele und Artikulationsformen sind neu. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Luxemburg (4/2011) stellen verschiedene Autoren diese neuen Arten des »Reorganisierens« vor. Sie fragen: Welche Ansätze gibt es in Deutschland, bei Gewerkschaften und im »community organizing«? Welche Konzepte gibt es, die Kluft zwischen Repräsentation und Aktivierung zu schließen?

Bisher galten Deutsch­ griechinnen und -griechen als gut integriert. Dann kam die Eurokrise. In einem lesenswerten Beitrag in der taz (25.11.2011) schildern Miltiadis Oulios, Vassilis Tsianos und Margarita Tsomou, wie sich das gesellschaftliche Klima verändert hat: »Seit über einem Jahr erinnern uns jeden Morgen die fetten Lettern der Schlagzeilen daran, dass wir aus einem Versagerland stammen und dass der Deutsche mal wieder für den Ausländer zahle.« Für die Autoren hat das folgenden Hintergrund: »Das GriechenBashing eignet sich hervorragend dazu, der existenziellen Frage,

Sie leben am Rand der Gesellschaft. Roma sind in Ungarn besonders häufig von Armut, sozialer Ausgrenzung und materiellen Entbehrungen betroffen. Darüber hinaus werden sie immer häufiger Opfer rassistischer Pogrome. In der SoZ – Sozialistische Zeitung (Nr. 1, Januar 2012) beschreibt Aljoscha Pilger die Situation einer Minderheit in einem Land, das in den vergangenen Jahren weit nach rechts gerückt ist. Mit Manroland geht ein traditionsreiches Unternehmen in die Insolvenz. In einem Interview mit express – Zeitung für sozialistische Betriebsund Gewerkschaftsarbeit (Nr. 12/2011) fordert Rainer Herth, Vorsitzender der Vertrauenskörperleitung der IG Metall, nicht aus der Perspektive der Unternehmensleitung zu denken: »Die Parole ›Rettet den Standort‹ ist falsch und verräterisch.« Schon in den vergangenen zehn Jahren habe sie viele Verzichte bedeutet und eine demoralisierte Belegschaft hinterlassen. Herth begründet, warum Kampf die bessere Lösung ist. Das Interview dokumentieren wir auch auf marx21.de.

von Win Windisch und Marcel Bois

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Zeitschriften und Magazinen

Weblinks:

★ ★★ WEBLINKS Luxemburg: www.zeitschrift-luxemburg.de Blog von Sherry Wolf: sherrytalksback.wordpress.com taz: www.taz.de SoZ: www.sozonline.de express: www.express-afp.info FAZ: www.faz.net

Einen Artikel darüber, wie es international um den Marxismus bestellt ist, erwartet man nun nicht gerade in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Noch weniger erwartet man dort einen Text, der derart beschwingt durch die letzten 100 Jahre führt, wie es Oliver Nachtwey in der Ausgabe vom 18. Januar 2012 unter dem Titel »Geschichte ohne Parteibewusstsein« gelungen ist. Nachtwey erklärt, warum sich seit 1968 das Zentrum marxistischer Erneuerung vom europäischen Kontinent in die englischsprachige Welt verschoben hat. Sehr kritisch, aber ohne Bitternis, beleuchtet er dabei die Entwicklung in Deutschland. Leider kann man den Artikel online nur gegen Bezahlung lesen. REVIEW

Occupy in den USA ist die erste Bewegung seit den 1930er Jahren, die laut Umfragen von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Wer ihre Entwicklung verfolgen möchte, dem sei der Blog der Aktivistin und Autorin Sherry Wolf empfohlen. In einem dort kürzlich geposteten Video-Interview spricht sie über Fragen von Strategie, politischer Führung und Demokratie innerhalb der Occupy-Bewegung. Ihre Hoffnung ist, dass die wachsenden Verbindungen zwischen der »globalen Jugendrevolte« auf der einen Seite und der Arbeiterbewegung auf der anderen die Chance für eine neue radikale Linke bilden könnte.

weshalb der Reichtum – nicht nur in Hellas – von unten nach oben verteilt wird und nicht umgekehrt, aus dem Weg zu gehen.«

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Preview Š Andy Roberts / flickr.com / CC BY


Ausstellung | Baumeister der Revolution. Sowjetische Kunst und Architektur 1915–1935

Bauen für eine neue Welt Im April eröffnet im Berliner Martin-Gropius-Bau eine Ausstellung über sowjetische Architektur der Revolutionszeit. Unser Autor hat sie sich schon einmal in London angeschaut Von Noel Halifax Über diese Entwicklungen erfahren wir in der Ausstellung leider nichts. Wenn man sich allerdings ein wenig in der Geschichte auskennt, lässt sich der Niedergang der Revolution deutlich daran ablesen, wie Entwürfe für neue Wohnmöglichkeiten solchen für modernistische Fabriken wichen. Diese wurden errichtet zur Optimierung der Produktion und nicht, um die Bedürfnisse der Arbeiter zu befriedigen. In dem ersten Fünfjahresplan vom Jahr 1928 wurde der Versorgung mit Wohnraum deutlich geringere Priorität eingeräumt. Was an neuen Unterkünften gebaut wurde, war für die Eliten bestimmt, wie die Sowjetische Wohnkooperative der Ärzte in Kiew oder die Unterkünfte für Offiziere der Geheimpolizei Tscheka in Jekaterinburg. Diese hatten gemeinschaftliche Kantinen und Kindergärten, die aber der Normalbevölkerung nicht offen standen. In den 1930er Jahren hatte sich die russische Architektur schließlich zu ihrer üblichen Funktion zurückentwickelt mit hübschen Häusern für die Reichen und billigen Unterkünften für die Arbeiter. Statt nach Zeitabschnitten ist die Ausstellung thematisch unterteilt nach Wohnen, Bildung, Industrie, Erholung und Gesundheit. Und einiges wirkt geradezu nostalgisch stalinistisch. Das trägt zusätzlich dazu bei, die politischen Veränderungen zu verdunkeln. So hängen Abbildungen vom Bau der Sportstätten des Vereins Dynamo Kiew im Jahr 1923 direkt neben Darstellungen des Woroschilow-Sanatoriums der Roten Armee in Sotschi, das erst in den Jahren 1930 bis 1934 gebaut wurde. Erstere wurden für das Proletariat gebaut, das andere für führende Parteimitglieder. Passenderweise ist die letzte Abteilung Lenins Mausoleum gewidmet. Dies wurde ursprünglich aus Holz gebaut und erst später durch ein sehr viel größeres Mausoleum aus Stein und teuerstem Marmor ersetzt. Die neue Staatsführung brauchte wohl etwas besonders Schweres, damit er sich nicht im Grabe umdrehen konnte.

★★★ Ausstellung | Baumeister der Revolution. Sowjetische Kunst und Architektur 1915–1935. Mit Fotografien von Richard Pare | Berlin, Martin-Gropius-Bau | 5. April bis 9. Juli 2012

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ie Arbeiter haben die Macht übernommen, sie üben die Kontrolle über den Staat und die Betriebe aus und die Kapitalisten sind geflohen. Nun ist es an der Zeit, eine neue Welt aufzubauen und eine neue Vorstellung von einem Leben zu entwickeln, in dem es keine Hierarchien mehr gibt. Genau das wollten die Künstler, die sich im Jahr 1917 auf die Seite der Revolution in Russland stellten. Aber es gab Probleme: Nach den langen Kriegsjahren lag das Land am Boden, die Fabriken funktionierten kaum noch. Material war knapp, die Kommunikation chaotisch und die Menschen kämpften für das Überleben der Revolution. Und doch entstand aus diesem Chaos eine der aufregendsten Bewegungen in der Geschichte der Architektur. Konstruktivisten und Futuristen schlossen sich der Revolution an, um ihre Pläne und Ideale zu verwirklichen. Jetzt können wir einen Blick auf diese untergegangene Welt in der Ausstellung »Baumeister der Revolution« werfen. Zu sehen gibt es neben vielen anderen spannenden Ausstellungsstücken ein großes Modell des von Wladimir Tatlin entworfenen Denkmals für die Dritte Internationale. Leider ist die Ausstellung von Architekten und Architekturhistorikern entworfen worden, die diese Revolutionsjahre völlig entpolitisiert haben und nur eine architektonische Stilgeschichte präsentieren. Doch gerade die damaligen Architekten verstanden sich als Revolutionäre, die sich gegen die Vorstellung wendeten, Kunst sei eine vom Alltagsleben getrennte Sphäre. Ihr Anliegen war es, die Gesellschaft umzugestalten und neu zu entwerfen, nicht nur hübsch anzusehende Werke zu produzieren, sondern eine neue Welt zu schaffen. Das änderte sich mit der Niederlage der Revolution. Nun wurden ihre Entwürfe zu Stilfragen herabgestuft. Die neue herrschende Klasse um Stalin bewertete die Kunst danach, ob sie ihr nutzte.

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»Wir setzten uns für eine aktive LINKE ein« Robert Blättermann ist Mitglied einer Projektgruppe der LINKEN, die für das Frühjahr Antikrisenproteste organisiert. Wir sprachen mit ihm darüber, wie die Partei wieder in die Offensive kommen kann

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ie Krise geht weiter, aber die Proteste scheinen abzuflauen. In den vergangen Wochen sind weltweit Camps der Occupy-Bewegung geräumt worden, etwa in Berlin, London und Los Angeles. Wie schätzt du die Situation ein? Ist der Widerstand am Ende? Fest steht zunächst einmal, dass 2011 als ein Jahr der Proteste in die Geschichtsbücher eingehen wird. Es gab Generalstreiks in Griechenland, Spanien, Portugal und Italien, also den Ländern, die von der Krise am heftigsten betroffen sind. Die monatelange Studentenrevolte in Chile inspirierte Studierende auf der ganzen Welt und in der von den USA ausgehenden Occupy-Bewegung engagierten sich weltweit hundertausende vornehmlich junge Leute. Auch wenn die Proteste nun abflauen, haben zahlreiche Menschen auf dem gesamten Globus erfahren, was es bedeutet, Widerstand zu organisieren und über die Idee von einer anderen Welt zu diskutieren. Solche Erfahrungen werden nicht vergessen und treiben Menschen dazu, weiter zu kämpfen. Gerade jetzt können viele produktive Debatten geführt werden, wie ein erfolgreicher Widerstand gegen die Abwälzung der Krisenlasten aufgebaut werden kann. Einige bisher unorganisierte Kräfte finden den produktiven Rahmen hierfür in sozialistischen Organisationen wie dem Studierendenverband Die Linke.SDS und der LINKEN. Die Krise bleibt auch in diesem Jahr das weltweit bestimmende Thema, was somit weiterhin großes Potential für Widerstand in sich birgt. Bereits jetzt ist für den 12. Mai ein europaweiter Aktionstag geplant.

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Robert Blättermann

Robert Blättermann ist Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz. Er ist aktiv bei Die Linke.SDS an der Humboldt-Universität in Berlin.

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u bist Mitglied einer Projektgruppe der LINKEN, die neue Antikrisenproteste auf die Straße bringen will. Was plant ihr? Wir beteiligen uns am bundesweiten Krisenbündnis, das verschiedene Proteste im Mai plant. Zum einen bereiten wir dort den besagten dezentralen Aktionstag am 12. Mai vor, zum anderen einen bundesweiten Protest Ende Mai in der Bankenmetropole Frankfurt. DIE LINKE kann als einzige Partei Antworten auf die Krise im Interesse der Menschen anbieten. Deshalb arbeiten wir daran, dass sie stärker in dieser zentralen Frage aktiv wird und öffentlichkeitswirksam in Erscheinung tritt. Ein Fokus ist für uns die Tarifrunde im öffentlichen Dienst

und in der Metallindustrie. Von Ende Februar bis April wird dort über die Tarifverträge von mehr als fünf Millionen Menschen entschieden. In Zeiten von Schuldenbremse, klammen kommunalen Haushalten und wirtschaftlicher Stagnation wird die Kapitalseite auf Nullrunden drängen, während die Gewerkschaften zu Recht deutliche Lohnerhöhungen fordern werden. In dieses Spannungsfeld soll die Partei intervenieren und dort, wo es möglich ist, praktische Solidarität vor den Betriebstoren organisieren. Begleitet werden soll das Ganze durch größere Veranstaltungen, in denen wir inhaltlich versuchen werden, die Perspektiven des weltweiten Protestes mit den lokalen Auseinandersetzungen zu verbinden. Natürlich wollen wir darüber auch verstärkt Menschen aus dem Arbeitermilieu für eine Mitarbeit in der Partei gewinnen.

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as erwartet ihr? Wird es in absehbarer Zeit Massenproteste in Deutschland geben? Deutschland ist keine einsame Insel in einem Europa, das unter den Lasten der Krise zu Grunde geht. Sowohl linke als auch bürgerliche Ökonomen weisen zu Recht darauf hin, dass der Export in die Staaten der Europäischen Union sinken wird. Dementsprechend wird die Krise über kurz oder lang auch in Deutschland zu spüren sein. Auch wenn ein größerer Angriff der Bundesregierung vor der Wahl 2013 nicht zu erwarten ist, werden Auseinandersetzungen auf Länderebene wie Stuttgart 21 zunehmen. Das Potential für massenhaften Widerstand wird auch in Deutschland wachsen. Die Fragen stellte Marcel Bois


Für eine

starke

Linke.

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7. — 10. JUNI

TARIQ ALI

[Autor »Piraten der Karibik«]

Elmar Altvater

[Prof. em. Politikwissenschaft]

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[Prof. Politikwissenschaft Universität Bir Zait]

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[Autor »Die revolutionären Ideen von Karl Marx«]

DIETMAR DATH

[Autor »Rosa Luxemburg«]

Alex Demirovic

[Redaktion der Zeitschrift PROKLA]

NICOLE GOHLKE [MdB, DIE LINKE]

Claudia Haydt

[Informationsstelle Militarisierung]

Katja Kipping

[MdB, stellvertretende Parteivorsitzende DIE LINKE]

Janine Wissler

[FRAKTIONSVORSITZENDE, DIE LINKE Hessen]

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