marx21 Ausgabe Nummer 26 / 2012

Page 1



Krawall und Chaos hatten Politik und Medien für die Blockupy-Aktionstage prophezeit. Vier Tage lang verwandelten daraufhin 50 Einsatzhundertschaften der Polizei die Bankenmetropole in eine Festung. Massenweise erteilten die Ordnungshüter Platzverweise und Stadtverbote. Es kam zu 1430 Festnahmen – viele davon präventiv. Bahnhöfe und sogar Autobahnen wurden teilweise komplett gesperrt. Trotz der gewaltigen Repression blieb der Protest gegen die europäische Krisenpolitik friedlich. Nicht nur, dass die Polizei die Lahmlegung des Bankenviertels übernahm, sondern vor allem die bunte Großdemonstration von über 25.000 Menschen durch die Frankfurter Innenstadt machten Blockupy zu einem vollen Erfolg. DIE LINKE war die gesamten Aktionstage über vor Ort und zudem auf der Demonstration mit einem kämpferischen Block vertreten.

Liebe Leserinnen und Leser,

P

olitik ist dynamisch und kann nicht immer vorausgesehen werden. Das haben wir bei der Arbeit an dieser Ausgabe allzu deutlich zu spüren bekommen. Der Mittwoch nach der griechischen Parlamentswahl: Heiße Diskussionen in der Redaktion. Was wird jetzt aus unserem Schwerpunktthema? In der Woche zuvor sah es noch so aus, als würde die linke Syriza die Wahl gewinnen. Das hätte viele Fragen aufgeworfen: Wird es eine linke Koalitionsregierung geben, die die EU-Troika herausfordert? Gibt es überhaupt Spielräume für eine alternative Politik? Doch dann kam alles anders. Syriza erzielte zwar einen gigantischen Stimmenzuwachs, wurde aber nicht stärkste Kraft. Kurz dachten wir, unser Schwerpunktthema sei damit hinfällig. Doch dann entschieden wir uns, daran festzuhalten. Auch ohne Wahlsieg ist der Aufstieg von Syriza mit all seinen Widersprüchen eine spannende Geschichte, die wir unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten wollen. Das Resultat könnt ihr ab Seite 18 nachlesen. Auch in der LINKEN ist viel passiert. Beim Göttinger Parteitag Anfang Juni wurden Katja Kipping und Bernd Riexinger zu den neuen Bundesvorsitzenden gewählt, wozu wir herzlich gratulieren. Gerne hätten wir ein Doppelinterview mit den beiden geführt. Doch die Pressestelle der LINKEN hat uns leider auf später vertröstet: Zu viele Termine müssen Katja und Bernd momentan wahrnehmen. Ein politisch heißer Frühsommer also. Auch beim diesjährigen »Marx is’ muss«Kongress kamen wir bei schönstem Wetter und hitzigen Debatten ziemlich ins Schwitzen. Schön, dass so viele von euch erschienen sind. Wir hoffen, euch im nächsten Jahr wiederzusehen. Einen kleinen Bericht findet ihr auf Seite 59. Hier möchten wir einen Spendenappell an euch richten. Die breite internationale Beteiligung war eine große Stärke unseres Kongresses. Es waren Rednerinnen und Redner aus Bahrain, Großbritannien, Griechenland, Irland, Israel und Spanien dabei, die uns einen lebendigen Austausch über die Eurokrise oder den Arabischen Frühling ermöglichten. Die damit verbundenen Reisekosten überstrapazierten jedoch unseren Etat und hinterließen eine Deckungslücke von 3.000 Euro. Bitte helft uns, diese Lücke zu schließen. Mehr Infos zur Spendenkampagne auf Seite 95 Wir freuen uns, die Gewinner unseres Gewinnspiels aus dem letzten Heft bekannt geben zu dürfen. Freikarten für’s »Marx is’ muss« beziehungsweise ein Buch von Klaus Kordon gingen an Pablo Maximillian Vollmer, William-Philip Hesse aus Hettstedt und Martina Beyer aus Berlin. Auch dieses Mal gibt es etwas zu gewinnen. David Jeikowski traf sich mit Pat Thetic, Schlagzeuger der US-Punkrocker Anti-Flag, zum Interview. Mitgebracht hat er zwei CDs und zwei T-Shirts der Band. Die geben wir gerne weiter. Das Gespräch und alle Infos zum Gewinnspiel gibt es ab Seite 74. Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

© Libertinius / flickr.com / CC BY-SA

Frankfurt am Main

3


Wie weiter für DIE LINKE?

Wahlen in Ägypten

08

12 50

Aktuelle Analyse

Titelthema: Alles Über SYRIZA!

INTERNATIONALES

08

DIE LINKE: Wieder in Bewegung kommen Von Redaktion marx21

19

Alles über Syriza Von Stefan Bornost

36 Niederlande: Eine neue Hoffnung? Von Jeroen van der Starre

12

Wahlen in Ägypten: »Wir müssen die Revolution fortsetzen« Interview mit Nora Schalaby

23

»Merkel will gar keine Krisenlösung« Interview mit Andrej Hunko

40

27

Regierung Mitterand 1981: Das Kapital schlug zurück Von Lev Lhommeau und Luigi Wolf

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

30

Arbeiterregierung: Der dritte Weg Von John Riddell

Unsere Meinung 16 Salafisten-Verbot: Der Seufzer der Bedrängten Kommentar von Marwa Al-Radwany 17

44

Flüchtlingspolitik: Ein Armutszeugnis Von Carolin Hasenpusch

Maredo: »Unkonventionelle Methoden der Gewinnsteigerung« Von Volkhard Mosler

47 Großbritannien: Megastreik gegen Minirenten Interview mit Sean Vernell

Beschneidung: Ein Fehlurteil Kommentar von Azad Tarhan

Merkel hat versagt 4

Anarchismus und Marxismus

neu auf marx21.de

Die Staatschefs der EU-Länder diskutieren über die Eurokrise. Wir liefern die Hintergründe. Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de


40

80 66

KONTROVERS

60 Nachruf Robert Richter: Nichts zu verlieren außer unsere Ketten Von Lucia Schnell Geschichte 62

Der Kampf für das Dach über dem Kopf Von Arno Klönne

66

Promille, Protest und Proleten Von Ralf Hoffrogge

Rubriken

Kultur

70 50 Anarchismus: »Es gibt Situationen, in denen eine Entscheidung gefällt werden muss« 74 Interview mit John Molyneux Netzwerk marx21 56 Serie: Was will marx21 (12) Kampf gegen Rassismus

Promille, Protest und Proleten

Die Olympische Festung Von Phil Butland Anti-Flag: »Musik und Aktivismus passen gut zusammen« Interview mit Pat Thetic

78 Klassiker der Monats Lenin: Der linke Radikalismus Von Marijam Sariaslani 80

Die Geschichte hinter dem Song Advanced Chemistry: »Fremd im eigenen Land« Von Yaak Pabst

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 34 Weltweiter Widerstand 54 Neues aus der LINKEN 59 Was macht das marx21-Netzwerk? 82 Review 91 Quergelesen 92 Preview

INHALT

20 Jahre Rostock-Lichtenhagen

Flüchtlingspolitik: Ein Armutszeugnis

5


marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 6. Jahrgang Nr. 26, Sommer 2012 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

I

hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Carla Assmann, Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller, Carolin Hasenpusch, Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Natalie Dreibus, Lisa Hofmann, Tobias Paul (Neues aus der Linken), Michael Ferschke, Veronika Hilmer (Was will marx21), David Jeikowski (Weltweiter Widerstand / CD des Monats), Win Windisch (Quergelesen) Mitarbeit an dieser Ausgabe Loren Balhorn, Michael Bruns, Christine Buchholz, Phil Butland, Stefanie Fischbach, Nicole Gohlke, Stefanie Graf, Paul Grasse, Werner Halbauer, Lisa Hofmann, Brian Janßen, Sven Kühn, Max Manzey, Volkhard Mosler, Rosemarie Nünning, David Paenson, Marijam Sariaslani, Karsten Schmitz , Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Azad Tarhan, Christoph Timann, Christian Vasenthien, Janine Wissler, Luigi Wolf Übersetzungen David Meienreis, Rosemarie Nünning, David Paenson Infografiken Karl Baumann Layout Yaak Pabst Covergestaltung Yaak Pabst Redaktion Online Frank Eßers, Jan Maas (verantw.), Leon Wagner Aboservice-Team Freek Blauwhof, Phil Butland, Stefan Hanczuch, Renate Heitmann Druck Druckhaus AJSp, Ateities g. 10, LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 - 89 56 25 11 Fax: 030 - 56 82 28 84, Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank | Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21- Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im September 2012 (Redaktionsschluss: 05.09.) 6

Stefan Hanczuch, Aboservice-Team

S

tefan hatte es nicht leicht als Teenager. Andere Altersgenossen konnten ihre Eltern mit gefärbten Haaren, Punkmusik und Che-Guevara-Flagge über dem Bett schocken. Nicht so bei Familie Hanczuch: Linke Politik spielte dort immer eine große Rolle. Mit Marx kam Stefan erstmals durch seine Eltern in Kontakt. Kritisch war er schon früh, seine erste Demo besuchte er mit 14. Nur mit politischen Organisationen und Parteien konnte er sich nicht so recht anfreunden. Ihm hat dort immer die Verbindung zwischen Praxis und Theorie gefehlt. Dabei legt er gerade auf diese Synthese besonderen Wert. Marx nur lesen reicht ihm nicht, die Erkenntnisse sollen auch umgesetzt werden. Auf marx21 wurde er bei einer Neonazi-Blockade aufmerksam. Auch die starke Präsenz der LINKEN dort weckte sein Interesse. Das passte nicht in sein Bild vom starren Parteiapparat. Die Demo ist nun zwei Jahre her und Stefan aus dem marx21-Netzwerk nicht mehr wegzudenken. Neben seinem Engagement in der Berliner Stadtkoordination ist er auch im Aboteam des Magazins aktiv: Er kümmert sich um die hereinkommenden Anfragen, verschickt die neusten Ausgaben und steht mit Rat und Tat zur Verfügung (Kontakt: abo@marx21.de). Darüber hinaus beteiligt sich Stefan auch inhaltlich an unserem Heft. In dieser Ausgabe stellt er auf Seite 88 sein Lieblingsbuch vor. Gleichzeitig ist er auch immer in Aktion, vor allem in seiner LINKEN-Stadtteilgruppe in Berlin-Gesundbrunnen. Trotzdem wirkt Stefan immer entspannt und hat stets ein Lächeln auf den Lippen. Vielleicht liegt es ja daran, dass er die gewünschte Synthese aus Theorie und Praxis so gut hinbekommt.

Das Nächste Mal: ALEX COOPER


Zu unserer Bitte nach Kritik und Verbesserungsvorschlägen (Heft 25) Des Nachts geflutet von den mannigfaltigsten Erzeugnissen linker Medialpublikationen und solchen, die diese durch fälschliche Selbstidentifikation mit derartigen zu diskreditieren vermögen, möchte auch ich eurem Aufruf folgen und euch ein verdientes Lob zusprechen. In der Tat erweisen sich Schöpfungen aus Bild und Lettern vom linken Rand politischer Positionierung in diesen Tagen als ebenso vielfältig wie die vielen zersplitterten und sich nicht selten kritisch gegenüberstehenden Grüppchen und Sektierereien, die auf diesem Rand zu balancieren wagen. Einige glänzen durch Polemik, Populismus und provokanten Dogmatismus in direkter Erblinie mit jener Propaganda des wohl finstersten Kapitels dessen, was sich in den Köpfen von Millionen Menschen weltweit als »Marxismus« verewigt hat. Andere vermögen mit abwegigsten Haltungen den Wahnsinn im Anspruch auf Weg und Ziel politischen Engagements jenseits von simplem Antikapitalismus, Antifaschismus etc. zum Gipfel zu treiben. marx21 überzeugt an dieser Stelle nicht nur durch sachliche und überzeugende Distanzierung (vgl. Ausgabe 22) sondern stellt sich in einen qualitativen Kontrast. »Kulturmarxismus« stellt historisch bedingt den wahrscheinlich höchsten Anspruch an Ästheti- und Authentizität im Hinblick auf Konzept und Verarbeitung revolutionärer Perspektiven. Wie das Magazin diesen erfüllt, ist einzigartig. Es zeigt sich seriös und trotzdem kritisch, mit kosmopolitischen Profil werden weitreichende Bandbreiten plausibler Sichtweisen klar erläutert. Sich mit ihnen zu identifizieren fällt nicht schwer. Besonders herausragend ist die künstlerische Verarbeitung, sauberes, übersichtliches Layout, auf klischeehafte Sättigung mit der

Farbe Rot wird verzichtet, Schriftgröße und Textverarbeitung im Blatt ermöglichen angenehme Lesbarkeit, die Webpage ist übersichtlich und einladend, so dass man mindestens einmal monatlich in Stunden wie diesen vorbeischaut und auch als sechzehnjähriger Parteineuling, der das Heft im Büro seines Wahlkreisdelegierten durchblättert, nicht abgeneigt ist, an den Zeilen haften zu bleiben, was hingegen bei den typischen roten und monotonen Tageblättern häufig die Regel darstellt. Sachverhalte zum Thema »Sozialismus« nicht nur zu statuieren, sondern sie hinreichend zu erklären, ist, soweit ich das beurteilen kann, typisch für marx21 und ein Lob an dieser Stelle angebracht. Vielleicht wären zukünftig auch mal (wieder?) einige »Specials« zu den Ursprüngen verschiedenster sozialistischer Theorien und deren Glanz- und Mangelerscheinungen denkbar? Oder eine ausführliche Analyse und Kritik der Krise, in der sich die Linkspartei derzeit befindet, angesichts einer Krise, die sie denkbar pushen müsste. Bin gespannt, was man von »Marx is Muss« hören wird. Wie wäre es zudem mit einem Online-Shop? Ein Kritikpunkt bliebe mir da nämlich: Eine bestimmte Ausgabe des Magazins aus dem Archiv zu bestellen, gestaltet sich als alles andere als unkompliziert. William-Philip Hesse, Hettstedt

Zum Kommentar »Wir sind alle Griechen« von Carla Assmann (Heft 25)

Zum Mobilisierungsvideo für den Kongress »Marx is’ muss«

Zum Artikel »Energiewende soll Arbeitsplätze bringen« von Dirk Seifert und Jan Rübke (marx21.de, 04.05.2012)

Ich finde es geradezu abartig, wie die Grünen und DIE LINKE oder auch sogenannte NeoMarxisten die Guy-Fawkes-Maske, das Gesicht von Anonymous, für sich instrumentalisieren! Occupy, The 99 % oder auch der arabische Frühling haben auch mal gar nichts mit Marxismus zu tun! Nicht Marx ist Muss, sondern Humanismus. Neocles86, auf unserer YouTube-Seite Klarer Fall: Das System muss neustrukturiert werden, ob sozialistisch, kommunistisch oder kapitalistisch ist Nebensache. Zuerst einmal muss das System fallen. Jule Dahl, auf unserer YouTube-Seite »Die Welt ist in Aufruhr. Nichts bleibt wie es ist.« Naja, für Sozialdespotisten sind wir immer kurz vor der sozialistischen Revolution. Dies ist besonders verwunderlich, weil es kein einheitliches Bild davon gibt, was überhaupt dieses alternative Gesellschaftsmodell genau sein soll. Leider viel heiße Luft im Spiel... Efe1337, auf unserer YouTube-Seite

Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass die Schuldenbremse (angeblich) nur deswegen so große Akzeptanz in der Bevölkerung findet, weil in der Öffentlichkeit die Angst vor einem »griechischen Schicksal« geschürt wird. Welche drastischen Einsparmaßnahmen sie für die öffentlichen Haushalte mit sich bringt, wird dabei kaum erwähnt oder als notwendiges Übel verkauft. Darum ist es wichtig für DIE LINKE, nicht nur gegen die Schuldenbremse einzutreten, sondern auch die Ursachen der Krise in Griechenland und linke Alternativen zur dortigen Sparpolitik aufzuzeigen. Widerstand ist notwendiger denn je. Martina Beyer, Berlin

Zum Kommentar »Eine unfaire Kritik« von Manfred Ecker (Heft 25) »Aufrechter Antifaschismus«? Der Autor hat wohl Günter Grass’ Relativismus im Krebsgang nach rechts verpasst, seine Konstruktion von sechs Millionen deutschen Opfern der »Vertreibung« oder jüngst das Gerede von der »Gleichschaltung« der deutschen Medien, mit dem er sich selbst nachträglich zum NS-Opfer verklärt und die Taten des NS verharmlost. Eine fatale Entwicklung... Lorenz Gösta Beutin, auf unserer Facebook-Seite

Sehr guter Artikel. Nur eine Ergänzung: Bevor die Widersprüche innerhalb von IG Metall und ver.di geschildert werden, wäre es gut gewesen, noch näher auf die Taktik der SPD einzugehen, den Volksentscheid (und damit den Bürgerwillen) via Minderheitenbeteiligung auszuhebeln. Dann wäre auch noch klarer geworden (vor allem für Leser des Artikels, die nicht in Hamburg wohnen), warum sich Teile der Gewerkschaften so zurückhalten. Trotz dieser kleinen Kritik ist es ein äußerst lesenswerter Artikel. Danke an die beiden Autoren. Frank Eßers, Berlin

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

LeserbriefE

7


AKTUELLE ANALYSE

Wieder in Bewegung kommen Ein breites Bündnis mobilisiert Ende September für eine stärkere Besteuerung großer Vermögen. Das ist eine gute Gelegenheit für DIE LINKE, endgültig ihre Krise zu überwinden Von Redaktion marx21

M

it Fiskalpakt und Schuldenbremse wird derzeit in ganz Europa ein Kürzungspaket durchgedrückt. Die Regierungen der einzelnen EU-Staaten sollen durch den massiven Rückbau des Sozialstaats ihre jeweilige Staatsverschuldung senken. Gegen diese Politik beginnt langsam auch die deutsche Linke, ihre Kräfte zu sammeln. So wurde im Mai das Bündnis »Umfairteilen – Reichtum besteuern« gegründet. Beteiligt sind die großen Sozialverbände, die Gewerkschaften ver.di und GEW, die DGB-Jugend, globalisierungskritische Gruppen wie Attac und Campact sowie verschiedene Migranten- und Jugendorganisationen. Von Seiten der Parteien unterstützen DIE LINKE und die Grünen das Bündnis. Ziel ist es, gesellschaftlichen Druck für eine starke Besteuerung großer Vermögen zu organisieren. Die Kampagne ist für die gesamte Zeit bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr angelegt. Erster Höhepunkt wird ein bundesweiter Aktionstag mit Demonstrationen am 29. September 2012 sein. Nach derzeitigen Planungen sollen in den Städten Berlin, Köln, Hamburg und Frankfurt Schwerpunktaktionen mit größeren Kundgebungen stattfinden. Auch für

8

Die Aktionen am 29.9. sind ein wichtiger Fokus für alle, die soziale Verbesserungen erkämpfen wollen

Hannover und Bochum existieren erste Pläne für Kundgebungen, weitere Orte können hinzukommen. Diese Aktionen sind ein wichtiger Fokus für alle, die den Kampf für soziale Veränderung in diesem Land aufnehmen wollen. Insbesondere für DIE LINKE sind sie wichtig, die sich nach einer langen Phase innerparteilicher Auseinandersetzungen wieder dem Aufbau von Widerstand widmen sollte.

Die Voraussetzungen dafür sind nach dem Bundesparteitag nicht schlecht. Sogar die Berliner Zeitung stellt fest: »Man kann nicht sagen, dass sich in der Linkspartei nichts gebessert hätte seit dem Göttinger Parteitag, der manchen wie eine Schlacht vorkam. Es gibt keine öffentlichen Auseinandersetzungen und nahezu keine Indiskretionen mehr. (...) Thematisch punktet die Linke vor allem mit der Euro-Krise.« Tatsächlich ist das Ergebnis des Parteitags – vor allem angesichts der im Vorfeld heraufbeschworenen Katastrophenszenarien – ziemlich gut. Die beiden neuen Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger stehen für die Verbindung der Partei mit außerparlamentarischen Bewegungen. Kipping hat sich gemeinsam mit vielen Genossinnen und Genossen er-


9

AKTUELLE ANALYSE


folgreich dafür eingesetzt, dass DIE LINKE Teil der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm, gegen den Naziaufmarsch in Dresden und zuletzt bei Blockupy in Frankfurt war. Riexinger ist verankert in der globalisierungskritischen Bewegung und steht zudem als bisheriger Leiter des kampfstarken ver.di-Bezirks Stuttgart für eine mobilisierende Gewerkschaftstradition und den Widerstand gegen Stuttgart 21. Beide sind darüber hinaus seit langem in den Protesten gegen Sozialabbau aktiv. Sie gehörten schon zum Vorbereitungskreis einer Demonstration am 1. November 2003 in Berlin, an der 100.000 Menschen teilnahmen. Das war der Beginn des Widerstands gegen die Agenda 2010, der in der Gründung zunächst der WASG und später der LINKEN mündete.

dem Kandidaten Dietmar Bartsch eine Absage. Doch die beiden Reformer Matthias Höhn und Raju Sharma erzielten bei ihrer Wahl zum Bundesgeschäftsführer beziehungsweise zum Bundesschatzmeister gute Ergebnisse. Das zeigt, dass sie flügelübergreifend unterstützt werden. Zudem haben die Parteitagsdelegierten Vertreter aller Parteiflügel – von Sahra Wagenknecht bis hin zum Berliner Landesvorsitzenden Klaus Lederer – in den neuen Vorstand gewählt. Göttingen hat vielmehr gezeigt, wie groß der Wille innerhalb der Partei ist, auf der Basis des Erfurter Programms endlich praktisch zusammenzuarbeiten. Fraktionschef Gregor Gysi hat in seiner umstrittenen Rede das Gespenst der Parteispaltung an die Wand gemalt. Dass der Parteitag trotz dieses Auftritts eine breit zusammengesetzte und auf Kooperation orientierte Führung gewählt hat, beweist, dass DIE LINKE über eine Substanz verfügt, die weit über die Galionsfiguren Lafontaine und Gysi hinausgeht. Doch die politischen Probleme sind damit noch keineswegs beseitigt. Derzeit wird die Partei zu sehr als Teil des politischen Systems wahrgenommen. Nur wenn DIE LINKE wieder Akteur des Widerstands wird, ergibt sich die Chance, neue Mitglieder zu gewinnen. Zugleich kann das Millionen von Wählern eine Hoffnung auf Veränderung eröffnen.

DIE LINKE muss deutlich machen, dass Aktivitäten gegen die herrschenden Verhältnisse nach wie vor ihr Kerngeschäft sind

Insgesamt scheint der Göttinger Parteitag außerhalb der Partei als ein Signal für einen neuen Aufbruch zur Verankerung der LINKEN in sozialen Bewegungen verstanden zu werden. Kurz nach dem Parteitag erklärte zum Beispiel der bekannte Aktivist und Autor Raul Zelik öffentlich seinen Beitritt. In einer im Neuen Deutschland veröffentlichen Erklärung begründete er seine Entscheidung damit, dass DIE LINKE einer der Orte sei, »an denen Widerstand – von ArbeitnehmerInnen und Prekarisierten, von sozialer Linker und Künstlerkritik, von antirassistischen Gruppen, Feministinnen, RentnerInnen und Arbeitslosen – miteinander ins Gespräch kommen kann«. Dies unterscheidet DIE LINKE in seinen Augen vom restlichen Parteienspektrum: »Mich beschäftigt dabei weniger die Frage, wann die Linke bei Wahlen wieder gewinnt, als dass sie als Ort der gemeinsamen Praxis funktioniert, in der sich Erfahrungen neu zusammensetzen und gesellschaftlich etwas bewegen können.« Auch für andere linke Aktivisten und Intellektuelle wie Thomas Sablowski war das Ergebnis des Parteitages ein Anlass, der Partei beizutreten.

Von einem »Linksruck in der LINKEN« zu sprechen, wie Die Welt es tat, oder von einem »Sieg des Lafontaine-Lagers im Machtkampf«, wie der Stern, ist dennoch völlig verfehlt. Zwar erteilten die Delegierten

10

Schon wirft die Bundestagswahl 2013 ihren Schatten voraus und bietet Gelegenheiten, diese Strategie anzuwenden. Verschiedene Vorstandsmitglieder haben über die Proteste des 29. September hinaus bereits mögliche Kampagnen genannt, mit denen DIE LINKE vor Ort an politischen Auseinandersetzungen anknüpfen kann. Klaus Lederer sprach in Göttingen davon, die Auswirkungen des EU-Fiskalpakts und der Schuldenbremse auf die Finanzen der Kommunen und die damit verbundenen Privatisierungen zu thematisieren. Da die in fast jeder Kommune spürbar sind, bietet diese Orientierung der LINKEN nahezu überall die Möglichkeit, aktiv zu werden. In den Diskussionen über den Fiskalpakt muss die Partei aufzeigen, dass dieser im Interesse der Banken und Konzerne ist. Darüber hinaus muss sie diese Gelegenheit nutzen, um auch über die grundsätzliche Ablehnung des kapitalistischen Systems zu sprechen.


© Frank Schwarz / LINKSFRAKTION im BUNDESTAG / CC BY-NC-SA

Kundgebung der Linksfraktion gegen den Fiskalpakt: Nur wenn die Partei wieder Akteur des Widerstands wird, kann sie neue Mitglieder gewinnen

men Kampf für eine bessere Welt ignorieren. Die linke Rhetorik von Sozialdemokratie und Grünen muss in der außerparlamentarischen Praxis auf den Prüfstand gestellt werden. So lässt sich gesellschaftlicher Erfolg erringen und Menschen, die auf Rot-Grün hoffen, zeigen, dass DIE LINKE die einzige glaubhafte Alternative ist. Dabei ist es entscheidend, dass wir die Unterschiede zur SPD nicht verwischen. Eine Neuauflage einer rot-grünen Bundesregierung unter den Bedingungen der Krise wird die Agenda 2010 nicht zurücknehmen, sondern den Spar- und Kriegskurs fortsetzen. Deshalb formuliert das Erfurter Programm klare Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung. Sie machen für die Wähler transparent, dass wir keine Kürzungsprogramme und keinen Kriegskurs mittragen. Daran sollte sich DIE LINKE auch weiter orientieren. Bis zum 29. September ist nicht mehr viel Zeit. Alle linken Aktivistinnen und Aktivisten sind aufgerufen, sich an den Vorbereitungen zu den Aktionen zu beteiligen. Nur so können wir der Bundesregierung deutlich machen, dass wir die Abwälzung der Krisenkosten nicht einfach hinnehmen werden. Zugleich können wir den Menschen in Deutschland zeigen, dass die Politik von Merkel nicht alternativlos ist. ■

★ ★★ HINTERGRUND Infos zu den Aktionen unter www.umfairteilen.de

AKTUELLE ANALYSE

Eine besondere Herausforderung für DIE LINKE ist ihr Verhältnis zur SPD. Denn die Situation ist anders als im Vorfeld der letzten beiden Bundestagswahlen. Die SPD ist nicht mehr in der Regierung und versucht, sich als linke Oppositionspartei zu profilieren. Rund 90.000 Wählerinnen und Wähler, die wir in Nordrhein-Westfalen an die Sozialdemokratie verloren haben, sollten uns eine Warnung sein: Wir dürfen nicht unterschätzen, wie stark die Hoffnungen auf eine rotgrüne Alternative zur Regierung Merkel sein können. DIE LINKE sollte außerparlamentarische Bündnisse mit Gewerkschaften und auch der SPD an jenen Punkten suchen, wo es Gemeinsamkeiten gibt – zum Beispiel bei der Forderung nach einem Mindestlohn und beim Kampf gegen Nazis. In Bezug auf die Krisenpolitik gibt es eine interessante Entwicklung in der SPD. Obwohl die Parteiführung eine europäische Schuldenbremse befürwortet, kritisieren Teile der Sozialdemokratie den Fiskalpakt scharf, unter anderen die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA). Bloß daran zu erinnern, dass uns die SPD von 1998 bis 2009 verraten hat, wird niemanden davon überzeugen, DIE LINKE zu wählen. Zudem würde es das Bedürfnis vieler Menschen nach einem gemeinsa-

11


AKTUELLE ANALYSE

»Wir müssen die Revolution fortsetzen« Ende Juni wurde der Kandidat der Muslimbruderschaft zum neuen ägyptischen Präsidenten gewählt. Wir sprachen mit der Sozialistin Nora Schalaby über den Wahlsieger, seine Politik und die Aussichten der Linken INTERVIEW: Phil Butland, Stefanie Fischbach und Paul Grasse

N

ora, in Ägypten haben die ersten Präsidentschaftswahlen seit dem Sturz des Diktators Mubarak stattgefunden. Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft hat die Stichwahl gegen Ahmed Schafik – den Kandidaten des Militärs – gewonnen. Was bedeutet dieses Ergebnis? Zunächst muss man sagen, dass der Sieg von Mursi besser ist als ein Wahlerfolg Schafiks. Schafik ist ein Vertreter des alten Regimes, der die Revolution erstickt und viele Aktivisten ins Gefängnis geworfen hätte. Allerdings wird Mursi wegen der Dominanz der Armee nicht viel zu sagen haben. Er wird nicht mehr als eine Marionette des Regimes sein. Die Muslimbruderschaft hat sich in der Vergangenheit immer opportunistisch verhalten und sich dem unterworfen, der gerade an der Macht war. Trotzdem sind viele der Menschen auf dem Tahrirplatz Anhänger der Bruderschaft und gleichzeitig für die Revolution. Sie haben sich auf dem Platz versammelt, um sicherzustellen, dass sich der momentan regierende Militärrat (SCAF - Supreme Council of Armed Forces) die Wahlen nicht unter den Nagel reißt. Auf den Straßen ist die Lage ziemlich unklar. Kurz nach der Bekanntgabe des Ergebnisses haben 20.000 Anhänger Schafiks demonstriert. Gleichzeitig fand eine Kundgebung für Mursi auf dem Tahrir-

12

Nora Schalaby

platz statt. Viele Menschen vertrauen aber weder Schafik noch Mursi, weil beide die Revolution abwürgen werden. Wir müssen die Revolution aber fortsetzen.

W

Nora Schalaby ist eine ägyptische Archäologin und Sozialistin. Sie promoviert zurzeit an der Freien Universität Berlin.

arum zeigt sich die Unterstützung für die Revolution nicht in den Wahlergebnissen? Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs spiegelten die Unterstützung sehr wohl wider. Man muss anerkennen, dass die Muslimbrüder die am besten organisierte Kraft in der Revolution waren. Man kann wirklich nicht behaupten, dass sie zu den revolutionsfeindlichen Kräften gehört haben. Sie haben sich an den Protesten beteiligt und viele von Mursis Wählern haben ihre Stimmen im ersten Wahlgang revolutionären Kandidaten gegeben. Zwar wurde Schafik im ersten Wahlgang knapp Zweiter, aber wenn man die Ergebnisse des linken Kandidaten Hamdin Sabahi, des unabhängigen islamistischen Kandidaten Abul Futuh und des sozialistischen Kandidaten Khaled Ali zusammenzählt, kommt man auf zehn Millionen Stimmen. Das sind viel mehr Stimmen als Schafik erhalten hat. Die Revolutionäre hatten also die Wählerstimmen, aber sie sind nicht gemeinsam angetreten. Ich glaube, die revolutionäre Opposition hätte gewinnen können, wenn sie sich auf einen Kandidaten geeinigt hätte. Nach den Wahlen trafen sich Sabahi, Abul Futuh


© Gigi Ibrahim / CC BY

Ein Jahr nach der Revolution sind wieder hunderttausende Ägypter auf der Straße. In Gedenken an den im Oktober ermordeten Aktivisten Mina Daniel tragen sie Masken, die sein Gesicht zeigen

W

o sind die Revolutionäre jetzt? Manche Aktivisten, die jetzt auf dem Tahrir die Muslimbrüder unterstützen, sind dort, weil sie gegen das Militär und den Staatsstreich protestieren wollen. Mein Bruder zum Beispiel ist dort, nicht weil er ein Muslimbruder ist, sondern weil er die Forderungen dort unterstützt: gegen das neue Gesetz, das es dem Militärrat erlaubt, jeden ohne Anklage festzunehmen, und gegen die Auflösung des Parlaments.

Die Parlamentswahlen haben die revolutionäre Welle gebrochen

Aber generell unterstützt die Mehrheit der Menschen, die jetzt auf dem Tahrir sind, die Muslimbruderschaft. Einige Aktivisten nehmen an den Protesten auf dem Tahrirplatz nicht teil, weil sie nicht mit der Bruderschaft in Verbindung gebracht werden wollen. Sie haben sich dafür entschieden, das Ende dieser Wahlfarce abzuwarten, um dann zu den ursprünglichen Forderungen der Revolution zurückzukehren und die Armee loszuwerden. Sie haben sich zurückgezogen, weil die Wahlen es sehr schwer gemacht haben, mit unseren ursprünglichen Forderungen weiterzumachen.

K

annst du etwas über den Charakter der Bruderschaft sagen? Ihre Führung hat mit dem Militärrat verhandelt, aber viele ihrer Mitglieder sind immer noch auf den Straßen ... Wir haben immer gesagt, dass man der reaktionären Führung der Muslimbruderschaft nicht vertrauen kann, dass aber

AKTUELLE ANALYSE

und Khaled Ali. Das brachte eine Menge Leute zusammen, die wollten, dass die Revolution weitergeht. Ich war ein paar Tage nach den Wahlen auf dem Tahrirplatz und habe viele Leute getroffen, die den dreien zujubelten und ihnen zuriefen, dass sie die Revolution fortsetzen müssten. Sie riefen dazu auf, sich in einem Präsidium zusammenzuschließen, um den Militärrat und die Muslimbruderschaft herauszufordern. Als aber nichts passierte, löste sich diese Bewegung auf.

13


einige der jüngeren Mitglieder revolutionäre Veränderungen fordern und mit vielen Aktionen und den Entscheidungen der Führung nicht einverstanden sind. Wir müssen feststellen, dass sich die Muslimbruderschaft als Organisation aus eigenem Interesse opportunistisch verhält. Aber manchmal ist es nötig, sich mit ihnen gegen den echten Feind – den Militärrat – zu verbünden. Als die Muslimbruderschaft vor der Revolution vom Regime verfolgt und unterdrückt wurde, haben wir sie immer gegen den Staat verteidigt. Nach der Revolution mussten wir mit ansehen, wie sie sich mit den Autoritäten zusammensetzten und Deals aushandelten. Wir mussten Abstand von ihnen nehmen und klarstellen, in welcher Weise sie der Revolution Schaden zufügten. Natürlich treffe ich nach wie vor junge Mitglieder der Bruderschaft, die sehr deutlich für die Revolution sind und Probleme mit ihrer Führung haben. Aber am Ende folgen sie dem, was die Führung sagt. Auch wenn es weiterhin Widerstand gibt, glaube ich nicht, dass der Widerspruch zwischen Führung und Aktivisten noch so groß ist wie früher.

rendum über klägliche Verfassungsänderungen, das am Ende bedeutungslos war, weil die meisten Änderungen, die vorgenommen wurden, gar nicht Teil des Referendums waren. Dann hatten wir Parlamentswahlen, durch die die revolutionäre Welle gebrochen wurde. Vor den Parlamentswahlen befanden sich Tausende Arbeiter im Streik. Während der Wahlen breitete sich eine bleierne Ruhe aus. Nach den Parlamentswahlen kamen die Präsidentschaftswahlen und da geschah genau das Gleiche. Ein weiterer Faktor waren die Medien, die den Protestierenden vorwarfen, Chaos zu verbreiten. Sie machten die Demons-

Jetzt verübt die Armee noch schlimmere Verbrechen als unter Mubarak

W

enn die Muslimbruderschaft keine wirkliche Gefahr für den Militärrat bedeutet, warum hat er dann das Parlament aufgelöst? Es scheint, dass es zwischen der Bruderschaft und dem Militärrat eine Art Abkommen gab, von dem die Bruderschaft abwich, als sie einen eigenen Kandidaten in das Rennen um die Präsidentschaft schickte. Das könnte der Grund für die Auflösung des Parlaments durch den SCAF gewesen sein. Danach hat der Militärrat das Präsidentenamt jeder wirklichen Macht beraubt, um deutlich zu machen: »Wir haben das Sagen. Glaubt bloß nicht, dass ihr jemals wirklich an der Macht sein werdet.« Es gibt momentan einen Interessenkonflikt zwischen dem Militärrat und der Bruderschaft. Es ist nicht klar, was genau passiert, aber offensichtlich teilen sie sich nicht mehr wie bislang das Bett.

V

or 16 Monaten haben Millionen demonstriert, es gab einen Generalstreik und Mubarak wurde zum Rücktritt gezwungen. Nun werden wir Zeugen einer Konterrevolution des Militärs. Wie konnte das geschehen? Die Strategie der Armee war sehr erfolgreich. Zuerst veranstalteten sie ein Refe-

14

tranten auf dem Tahrirplatz für alles verantwortlich: für die steigenden Benzinpreise, für die Verzögerungen bei den Gaslieferungen und für die Warteschlangen vor den Bäckereien. Die Leute, die zu Hause sitzen statt auf die Straße zu gehen, denken: »Oh Gott, wann hören diese Proteste endlich auf? Wann gibt es endlich wieder Stabilität?« Einige sagen sogar, dass sie lieber zurück zur Situation unter Mubarak wollen. Der Militärrat hat die Ägypter gegeneinander ausgespielt. Sie haben die Menschen auf der Straße zu Sündenböcken gemacht und die Kämpfe als einen Konflikt zwischen Islamisten und Säkularen dargestellt. Sie behaupten, dass die Islamisten unseren Lebensstil bedrohen und dass Frauen nicht mehr ohne Kopftuch auf die Straße dürften, wenn sie an die Macht kämen. Bekannte von mir, die sehr für die Revolution sind, die in den 18 Tagen vor dem Sturz Mubaraks auf den Straßen waren, die Mubarak loswerden wollten, stimmen nun für Schafik, weil sie Angst vor den Muslimbrüdern haben und weil sie

nicht verstehen, dass die Armee unser gemeinsamer größter Feind ist. Dennoch wird man immer noch von Ausbrüchen plötzlichen Protests überrascht. Im November kamen Tausende zurück auf den Tahrir. Nachdem die Bereitschaftspolizei die Demonstranten angegriffen hatte, solidarisierten sich noch mehr Menschen und kehrten zurück auf die Straßen. Aber leider hat bisher keiner dieser Ausbrüche länger angedauert und sich verstetigt.

N

ach den 18 Tagen bis zum Sturz Mubaraks dachten viele Ägypter, dass die Armee auf ihrer Seite ist. Gibt es solche Stimmen immer noch? Nein, wenigstens mit diesem Mythos wurde aufgeräumt. Am 28. Januar glaubten die Leute, die Armee sei zu ihrem Schutz da und jubelten ihr zu. In Ägypten herrschte immer ein sehr romantisches Bild von der Armee als Beschützer und Retter des Volkes, das mit der Realität nichts zu tun hat. Das Militär war das Rückgrat von Mubaraks Herrschaft. Ohne die Armee wäre er nie 30 Jahre an der Macht geblieben. Und nun verübt die Armee noch schlimmere Verbrechen als unter Mubarak. Nachdem einer Frau die Kleider vom Leib gerissen und sie brutal zusammengeschlagen wurde, entstand eine Basisgruppe mit dem Namen »Lügner«. Sie zeigten auf einer Leinwand eine Dokumentation von Gewalttaten und Folterungen durch die Armee und erklärten den Menschen: »Das ist die Armee, die ihr verteidigt. Das ist die Armee, von der ihr sagt, sie sei auf unserer Seite.«

W

ie ist der Zustand der Arbeiterbewegung in Ägypten? Es gibt immer noch Proteste und Streiks, aber wegen der Fokussierung auf die Wahlen bekommt man nicht viel davon mit. Schon vor der Revolution gab es eine breite Bewegung für unabhängige Gewerkschaften. Als die Revolution an Fahrt gewann, wurden viele unabhängige Gewerkschaften gegründet. Vor einiger Zeit gab es überall Streiks. Ich konnte einfach vor meine Haustür auf die Straße gehen und überall Arbeiter im Streik sehen, aber das hat merklich abgenommen. Jetzt greift die Armee ein. Legt eine Fabrik die Arbeit nieder, wird der Streik nicht mehr von der Polizei, sondern von der Armee zerschlagen. Die Islamisten unterstützen keine Streiks, weil sie in ihren Herzen neoliberale Kapi-


talisten sind. Der Premierminister Essam Sharaf hat alle Streiks unter Androhung einer Strafe von 500.000 ägyptischen Pfund (etwa 60.000 Euro, Anm. d. Red.) oder einem Jahr Gefängnis verboten. Auch wenn dieses Gesetz anfänglich keine Auswirkungen hatte, ist das Streikniveau inzwischen gesunken.

ie geht es für die Bewegung weiter? Wir müssen die Menschen dort gewinnen, wo sie leben, wir müssen in die Arbeiterbezirke innerhalb und außerhalb Kairos. Die Revolution muss weitergehen. Wir müssen uns gegen die konterrevolutionäre Propaganda in den Medien stellen. Wir müssen auf den Straßen bleiben, dazu gibt es keine Alternative – und wir müssen uns besser organisieren, besonders unter den Arbeitern. Nichts ist wichtiger für die Revolution als Streiks und Proteste. ■

Im Dezember 2011 gab es brutale Übergriffe der ägyptischen Polizei und Armee gegen friedliche Demonstranten. Die versuchten, sich durch Barrikaden zu schützen. Dennoch starben innerhalb von sechs Tagen 17 Menschen, etwa hundert wurden verletzt und zehn Personen sind seitdem verschwunden

AKTUELLE ANALYSE

W

© Gigi Ibrahim / CC BY

ie organisieren sich Sozialisten, die weder das Geld noch die organisatorischen Möglichkeiten der Armee und der Muslimbrüder haben? Die Organisation, die ich unterstütze, sind die Revolutionären Sozialisten (RS), die unter Mubarak quasi im Geheimen arbeiteten und nicht öffentlich aktiv sein konnten. Seit der Revolution sind wir enorm gewachsen. Auf jeder Demonstration sieht man Aktivisten mit Fahnen der RS. Früher war das undenkbar. Sie haben sich geöffnet und bekommen Unterstützung, weil sie die grundlegenden Forderungen der Revolution vertreten. Die Revolutionären Sozialisten organisieren ständig Treffen und Demonstrationen. Sie bekommen seit der Revolution immer mehr Unterstützung. Viele junge Leute waren vorher nie politisch aktiv und wollen sich weder den Islamisten noch Vertretern des alten Regimes anschließen. Für diese Leute sind die RS eine attraktive Möglichkeit. Seit den 18 Tagen vor Mubaraks Sturz sind die grundlegenden Forderungen die gleichen geblieben: Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Wir wollen das ganze Regime loswerden und nicht nur seine Marionetten. Wir müssen die Institutionen von unten nach oben säubern. Wir brauchen den Mindestlohn und auch eine Einkommensobergrenze. Das gesamte Innenministerium und die Polizei müssen reformiert werden. Der Militärrat und die Armee dürfen keinerlei Kontrolle über die Wirtschaft behalten.

© Gigi Ibrahim / CC BY

W

15


UNSERE MEINUNG

Salafisten-Verbot

Der Seufzer der Bedrängten Von Marwa Al-Radwany

B

undesinnenminister Hans-Peter Friedrich will den Salafisten in Deutschland den Garaus machen. Eine Splittergruppe der muslimischen Strömung wurde bereits verboten, gegen zwei weitere Vereine wird ermittelt und zwei Internetseiten wurden vom Netz genommen. Der Aktionismus befremdet angesichts der vergleichsweise laxen Vorgehensweise gegen Neonazis. Zudem werden Verbote nicht verhindern, dass sich junge Muslime den Neofundamentalisten zuwenden. Die bundesweiten Großrazzien und Ermittlungen rechtfertigte Friedrich in einem Interview mit dem Verdacht, dass die Salafisten »gegen unsere verfassungsmäßige Ordnung, gegen den Gedanken der Völkerverständigung verstoßen«. Er bedankte sich auch für die »vertrauliche Zusammenarbeit« der beteiligten Landeskriminalämter (LKAs) untereinander und mit dem Bundeskriminalamt. Was in diesem Fall augenscheinlich problemlos funktionierte, war im Falle der Ermittlungen gegen die Mörder von neun Migranten und einer Polizistin ein Desaster: Die einzelnen Länder verweigerten teilweise aktiv die Zusammenarbeit der einzelnen LKAs untereinander oder die Einbeziehung von Bundesbehörden. »Gegen den Gedanken der Völkerverständigung« verstoßen auch rechte Internetseiten wie »PI-News« oder »Nürnberg 2.0«, die seit Jahren hetzerische rassistische Propaganda betreiben und weitaus höhere Zugriffszahlen haben als die Seiten der Salafisten – hier bleibt die Politik jedoch tatenlos. Und während die Bundesregierung im Innern die salafistischen Neofundamentalisten verfolgt, unterhält sie auf außenpolitischer Ebene beste Beziehungen zu deren Vorbildern. Den ultrakonservativen Wahhabiten in Saudi-Arabien werden deutsche Panzer verkauft und den fundamentalistischen deutschen Salafisten die Computer entwendet – (k)ein Widerspruch? Um eins klarzustellen: Die von einigen Strömungen und Vereinigungen des radikalen Salafismus vertretene Weltsicht läuft unserem linken Grundverständnis von Internationalismus, Gleichberechtigung und Re-

ligionsfreiheit absolut zuwider. Nur: Es darf mehr als bezweifelt werden, dass reihenweise Verbote salafistischer Vereinigungen verhindern werden, dass sich junge Menschen militanten Fundamentalisten anschließen. Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland erfahren von klein auf Ablehnung, Anfeindung und Chancenlosigkeit – sei es im Bildungssystem, durch respektlose und effekthascherische Äußerungen von Politikerinnen und Politikern oder einfach nur beim verwehrten Zugang zur nächsten Disko, wo man People of Colour lieber draußen lässt. Ein Verein, in dem junge Menschen das Gefühl erfahren, ihrem Leben einen Sinn zu verleihen oder sich gar anderen überlegen zu fühlen, übt da verständlicherweise große Attraktion aus. Marx’ Betrachtung der Religion als »Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, der Geist geistloser Zustände«, kurz als »Opium des Volkes« trifft hier unbedingt zu. Aber wie lässt sich die Abhängigkeit von betäubenden Schmerzmitteln aufheben? Durch die Veränderung der herzlosen Welt und nicht durch Verbot oder gewaltsamen Entzug der »Droge«. Verbote würden das Gefühl der Ausgrenzung nur bestärken und es fundamentalistischen Salafisten erleichtern, junge Anhängerinnen und Anhänger um sich zu scharen. Wir als LINKE sollten uns daher dringend fragen, welchen Beitrag wir leisten können, um entrechteten und ausgegrenzten Jugendlichen ein lebenswertes Leben schon im Diesseits zu ermöglichen. Den Kampf um ein gerechtes Bildungssystem, ein vorsorgendes Sozialsystem und gegen jegliche Art von Rassismus müssen wir gemeinsam mit ihnen führen – Hand in Hand.

Verbote verstärken das Gefühl der Ausgrenzung

16

★ ★★ Marwa Al-Radwany ist Mitglied der LINKEN in Berlin und Mitbegründerin des Netzwerks gegen antimuslimischen Rassismus und Islamfeindlichkeit NARI. Sie ist im Vorstand der Initiative Grenzen-Los! e.V.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Beschneidung

Ein Fehlurteil Von Azad Tarhan dies gerade beim Thema Beschneidung geschieht, ist verräterisch. Darüber hinaus argumentieren die Richter, die Beschneidungspraxis würde die Jungen traumatisieren. Auch das ist nicht nachvollziehbar: Es sind nur wenige Fäl-

Der Beifall von rechts ist sicher

le bekannt, bei denen die Kinder zu Schaden gekommen sind. Denn meist werden die Beschneidungen von Fachärzten unter Lokalanästhesie vorgenommen. Anders wird die Situation nach dem Urteil aussehen: Kulturelle oder religiöse Rituale lassen sich nicht von heute auf morgen unterbinden. Das heißt, die Beschneidungen werden trotz des Verbots

durchgeführt werden. Wenn der Eingriff nicht mehr im Operationssaal geschehen darf, dann wird er wohl auf dem heimischen Küchentisch stattfinden. Dem Kindeswohl, um das sich das Gericht angeblich so sehr sorgt, ist so nicht gedient. Bedient wird hier allein das Selbstbild der Ankläger und Richter: Der aufgeklärte, moderne und christliche Westen zeigt den archaischen Muslimen und Juden mal, wie Menschen- und Kinderrechte wirklich geschützt werden. Ob es dem Gericht um Beifall von rechts ging, ist Spekulation. Erhalten hat es ihn auf jeden Fall. ★ ★★ Azad Tarhan ist stellvertretender Landessprecher der LINKEN in Nordrhein-Westfalen.

UNSERE MEINUNG

D

as Landgericht Köln hat die Beschneidung eines Vierjährigen aus religiösen Gründen als strafbar bewertet. In dem Urteil heißt es unter anderem, dass »die körperliche Unversehrtheit des Kindes schwerer [wiege] als die Religionsfreiheit«. Beschneidungen gelten somit als Körperverletzung. Insbesondere in den jüdischen Gemeinden wurde das Urteil mit Entsetzen aufgenommen. Zu Recht: Denn dieses Urteil ist ein Ausdruck von Ressentiments gegenüber »anderen Religionen«, in diesem Fall dem Judentum und dem Islam. Natürlich sind die Kinder bei religiös motivierten Beschneidungen nicht in einem Alter, in dem sie diese Entscheidung selber treffen können. Aber inwieweit die körperliche Unversehrtheit von Kindern vor ihren Eltern geschützt werden muss, könnte man auch gut am Beispiel vom Ohrlochstechen bei Kleinkindern diskutieren. Dass

17


TITELTHEMA Alles Ăźber Syriza!

Š Syriza

23 27 30

Griechenland und die Eurokrise Warum Merkel versagt

Kapital vs. linke Regierung Frankreich 1981: Mitterrands Scheitern

Der dritte Weg Debatte um Arbeiterregierungen in den 1920ern


Alles über Syriza Der kometenhafte Aufstieg der griechischen radikalen Linken hielt ganz Europa monatelang in Atem. marx21 begibt sich auf die Spuren ihres Erfolgs – und erklärt, weshalb die Geschichte der Syriza noch lange nicht zu Ende geschrieben ist Von Stefan Bornost Es war tatsächlich ein langer Weg mit viel auf und ab, der Syriza zum jetzigen Erfolg führte. Der Aktivist Panos Petrou hat ihn in einer Serie von Artikeln nachgezeichnet. Er weiß, wovon er schreibt: Seine Organisation, die Internationalistische Arbeiter-Linke (DEA), ist ein Teil des Bündnisses Syriza. Seine Schlussfolgerung: »In den wenigen Jahren ihrer Existenz hat Syriza mehrfach schwierige Zeiten und tiefe Krisen überstanden. Syriza ist eine aktive Kraft innerhalb der Widerstandsbewegung, sie prägt die Richtung und die Strategie der Kämpfe und wird umgekehrt auch von ihnen beeinflusst. Eine weitere Besonderheit ist die Organisation innerhalb der Koalition. Eine Reihe unterschiedlicher Strömungen – revolutionäre und reformistische, trotzkistische, maoistische und eurokommunistische – arbeiten darin zusammen an den drängenden Aufgaben, vor denen wir stehen. Das zieht viele Menschen an und bietet eine Erklärung, warum die Koalition so tief verankerte Zustimmung genießt.« Gegründet wurde das Wahlbündnis im Jahr 2004 und zwar auf Initiative der Partei Synaspismos, der Schwesterpartei der deutschen LINKEN. Synaspismos befand sich zuvor im Niedergang und drohte bei den nächsten Wahlen unter die Dreiprozenthürde zu rutschen. Vielen Griechen erschien die Partei als bloßes Anhängsel der sozialdemokratischen Pasok. Die Trendwende kam, als die Partei sich nach links bewegte. Das Jahr 2003 war das Jahr der großen Demonstrationen gegen George Bushs Irakfeldzug und

Vielen Griechen erschien die Linke als bloßes Anhängsel der Sozialdemokratie

★ ★★

Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

TITELTHEMA Alles über Syriza!

D

onnerstag von Athen nach Berlin fliegen, abends auf einem Podium zur Eurokrise sitzen, Freitag morgen wieder zurück – das klingt nach Stress. Doch Yiannis Bournous merkt man an, dass er den Trip gerne gemacht hat. »Wir müssen die Erfahrungen der Bewegungen gegen die Austeritätspolitik in Europa zusammenbringen«, sagt er. Und gerade seine Erfahrung ist momentan heiß begehrt – der 32-Jährige ist der Sprecher für Europafragen von Syriza, der zurzeit meistdiskutierten linken Formation in Europa. Syrizas Aufstieg kam überraschend – nicht zuletzt für die Beteiligten selbst. Noch bei der Parlamentswahl im Jahr 2009 wurde das linke Bündnis von der sozialdemokratischen Pasok an die Wand gedrückt und lag gerade einmal bei 4,6 Prozent – die Pasok hingegen erreichte satte 43,9 Prozent. Drei Jahre später ist alles anders: Bei der Neuwahl im Juni wurde Syriza zwar nicht stärkste Partei, holte aber mit 26,9 Prozent mehr als doppelt so viele Stimmen wie die Pasok. In den Städten, besonders jenen mit hohem Arbeiteranteil, und unter jungen Leuten ist Syriza jetzt die stärkste Kraft. Ein wichtiger Grund für den sprunghaften Aufstieg der griechischen Linken sind natürlich die sozialen Verwerfungen im Land, die der von der EU-Troika diktierte Kürzungskurs verursacht hat. Doch laut Yiannis gibt es auch einen subjektiven Faktor: »Das Ergebnis reflektiert auch unsere Arbeit in Bewegungen und das Engagement in den Kämpfen der vergangen Zeit.«

19


das Jahr der globalisierungskritischen Bewegung. Im Rahmen dieser neuen Proteste und neuer Strukturen wie dem griechischen Sozialforum arbeitete Synaspismos zunehmend mit anderen linken Kräften zusammen. Das war ein Novum in der griechischen Linken, die berüchtigt für ihre Zersplitterung und gegenseitige Abneigung war. Viele Basisaktivisten von Synaspismos wünschten sich eine Verstetigung dieser Zusammenarbeit. Die Synaspismos-Führung schlug daraufhin vor, das Wahlbündnis Syriza zu gründen, in dem ihre Partei zwar die mit Abstand größte Kraft darstellen würde, aber auch andere Gruppen bis ins Spektrum der radikalen Linken mitmachen konnten. Als diese Koalition tatsächlich aus der Taufe gehoben wurde, hatte sie jedoch noch nicht viel mit ihrer jetzigen Form zu tun. »Die Vision der SynaspismosFührung war recht begrenzt. Die Wahlallianz und die Einbindung weiterer linker Kräfte sollte Synaspismos helfen, die benötigten drei Prozent bei den bevorstehenden Parlamentswahlen im Jahr 2004 zu erreichen«, schreibt Panos Petrou. »Doch viele Aktivisten hatten eine völlig andere Vision dieses gemeinsamen Projektes.« Das wurde wenig später an ihren Reaktionen deutlich, als die Synaspismos-Führung die Existenz von Syriza zur Disposition stellte. Unmittelbar nach den Wahlen, bei denen Syriza 3,3 Prozent der Stimmen erlangte und sechs Sitze im Parlament gewann, brach die erste große Krise in Syriza aus. Die Führung von Synaspismos setzte sich über den außerparlamentarischen Druck hinweg und versuchte, das Bündnis loszuwerden und zu ihrem bisherigen Mitte-links-Kurs zurückzukehren. Bei den wenige Monate später stattfindenden Europawahlen trat sie alleine an. Doch am Ende entledigte sich nicht die SynaspismosFührung der Syriza-Koalition, sondern die Synaspismos-Mitglieder verabschiedeten ihre Führung. Beim Parteitag im Dezember 2004 erhielt der linke Parteiflügel eine deutliche Mehrheit für seinen Vorschlag, die Linkswende und die Syriza-Koalition fortzuführen und auszuweiten.

großen Städten des Landes auf die Straße. Ihre Bewegung errang einen wichtigen Sieg: Die Konservativen mussten ihr Vorhaben aufgeben, Artikel 16 der Verfassung zu streichen, der ein kostenloses öffentliches Bildungssystem garantiert. Diese Kämpfe gaben Syriza neuen Aufwind. Bei den Studierendenversammlungen und in der Gewerkschaft der Universitätsangestellten arbeiteten Aktivisten der radikalen Linken zusammen, um die Kämpfe anzuführen. Außerhalb der Universitäten spielten gemeinsame Aktionen unterschiedlicher linker Kräfte eine große Rolle beim Aufbau von Unterstützungskomitees für die studentischen Proteste. Nach der Neugründung auf einer radikaleren programmatischen Grundlage trat Syriza Ende des Jahres 2007 wieder bei Parlamentswahlen an. Mit ihrem linken Profil erreichte die Koalition fünf Prozent der Stimmen, was zu diesem Zeitpunkt alle als einen großen Erfolg wahrnahmen. Panos Petrou beschreibt die Dynamik, die das gute Wahlergebnis auslöste: »Nun schlossen sich noch mehr linke Organisationen Syriza an. Auch Menschen, die bislang nicht politisch organisiert waren, traten der Koalition bei. Neue Aktivisten beteiligten sich zum ersten Mal in ihrem Leben an radikaler Politik. Und Veteranen der linken Bewegung, die in den vorangegangenen Jahren passiv geworden waren, schöpften neue Hoffnung. Nun galt nicht mehr die sozialdemokratische Pasok, traditionell die wichtigste Oppositionskraft gegen die Nea Dimokratia, als ernstzunehmendste Gegnerin der konservativen Regierung, sondern Syriza.« Monatelang lag die Koalition in Umfragen bei 15 bis 18 Prozent. Es war der erste »Frühling« der griechischen radikalen Linken.

Die Institutionen des freien Marktes sind stärker als die der Demokratie

Damit war das Bündnis positioniert, als sich an der sozialen Front die Ereignisse überschlugen: Vom Frühling 2006 bis zum Sommer des darauffolgenden Jahres fanden massenhafte studentische Proteste statt, die sich gegen die konservative Regierung der Nea Dimokratia wandten. Studierende besetzten monatelang die Universitäten, Tausende nahmen an den Vollversammlungen in den Hochschulen teil und jede Woche gingen Zehntausende in den

20

Einen nächsten Höhepunkt der Bewegung brachte die Jugendrevolte vom Dezember 2008. Sie brach aus, nachdem zwei Polizisten einen 15 Jahre alten Jugendlichen in Athen getötet hatten. In der Hauptstadt brannte es während der Aufstände jede Nacht, wütende Jugendliche belagerten Polizeireviere. Die Linke wurde von der Öffentlichkeit unter enormen Druck gesetzt, die Gewalt zu verurteilen und sich für eine »Rückkehr zur Stabilität« auszusprechen. Doch Syriza stellte sich hinter die Jugendlichen – und wurde dafür massiv von den Mainstreamparteien und Medien angegriffen. Dieser Druck von außen und der gleichzeitige Aufstieg von Pasok als vermeintlich »realistische« Alternative zur verhassten konservativen Regierung drückte Syriza bei den Parlamentswahlen 2009 auf knapp über vier Prozent und führte in die nächste Krise des Bündnisses. Auf einem


© Ricardo Nuno

Parteitag von Synaspismos rebellierte der rechte Parteiflügel gegen die Beteiligung an der »linksextremen Allianz« Syriza und verließ schließlich die Partei. Das war der Moment, in dem der gegenwärtig omnipräsente Alexis Tsipras die Parteiführung übernahm. Er versuchte mehr oder minder erfolgreich, eine Politik gegenüber der mittlerweile regierenden Pasok zu formulieren. »Programmatische Opposition« nannte er seine Strategie: Die Abgeordneten der Syriza sollten nur für progressive Initiativen der Pasok stimmen, alle rückschrittlichen aber ablehnen und so Druck auf die Sozialdemokratie ausüben, wieder sozialdemokratische Positionen zu vertreten. Die Pasok bewegte sich aber in die entgegensetze Richtung. Im Mai 2010 unterzeichnete die Regierung von Giorgos Papandreou ein erstes Memorandum mit der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds. Das Ergebnis war ein drastisches Sparprogramm. Durch Papandreous Unterstützung für diese Austeritätspolitik wurde die »programmatische Opposition« hinfällig. Aktivisten in und außerhalb von Syriza erschien es zu diesem Zeitpunkt als unrealistisch, die scharf nach rechts gehende Pasok nach links bewegen zu wollen. Zugleich machten erste Generalstreiks deutlich, dass nun Opposition auf der Straße das Gebot der Stunde war. In Syriza wuchs der Widerstand gegen eine Allianz mit den Sozialdemokraten und die heftigen Kürzungsattacken der Regierung radikalisierten die Widerstandsbewegung. Das Land rückte nach links, eine Bewegung, die schließlich auch die Synaspismos-Führung nachvollzog.

Noch während erste Schritte unternommen wurden, um Syriza neu aufzustellen, formierte sich die »Bewegung der Plätze«: Massenhaft besetzten Jugendliche öffentliche Räume wie den Syntagma-Platz vor dem Parlament in Athen und orientierten sich dabei an der »Indignados«-Bewegung in Spanien. Aktivisten der Syriza waren von Anfang an Teil dieser Bewegung. Zusammen mit der Antarsya, einer kleineren Koalition linksradikaler und antikapitalistischer Gruppen, leisteten sie wichtige organisatorische und politische Unterstützung für die Demonstrationen und die Versammlungen. Außerdem spielten sie zusammen mit Autonomen und Anarchisten eine entscheidende Rolle beim Aufbau von Nachbarschaftsversammlungen und -komitees. Für Panos Petrou war dies eine einschneidende Wegmarke in der Entwicklung der Linkskoalition: »Von diesem Zeitpunkt an trieben die vielfältigen Widerstandsbewegungen Syriza vorwärts: Dabei handelte es sich um die Bewegung ›Wir zahlen nicht‹, die sich gegen die ungerechte Steuerstruktur und gegen steigende Kosten für den öffentlichen Personenverkehr wandte, um die Mobilisierungen zur Unterstützung streikender Arbeiter, um eine Reihe von Generalstreiks und die Massendemonstrationen vor dem Parlament. All dies trug dazu bei, dass Syriza eine klare linke Linie behielt. Einen nicht zu vernachlässigenden Anteil daran hatte auch der linke Parteiflügel und die radikaleren Organisationen in der Koalition. Durchschlagskraft konnten die linkeren Teile der Koalition aber nur entwickeln, weil die Bewegungen ihnen Rückenwind gaben.«

TITELTHEMA Alles über Syriza!

Verzweiflung: Die Krise hinterlässt tiefe Spuren bei der griechischen Bevölkerung

21


Jetzt schlägt Syrizas Stunde, weil die etablierten Parteien, insbesondere die Pasok, jeglichen Rückhalt in der Bevölkerung verloren haben. So liefen bei den Abstimmungen im Mai und im Juni vor allem enttäuschte sozialdemokratische Wähler zu Syriza über. Wie geht es für die Linkskoalition jetzt weiter? In einem ersten Statement nach der Wahl sagte deren Führung, sie sehe ihre Aufgabe jetzt in »verantwortungsvoller Opposition«. Zum Schrecken vieler Linker hat Syriza-Chef Tsipras gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters angedeutet, dass die Organisierung von Widerstand auf der Straße jetzt nicht erste Priorität habe. Ein Andauern der Proteste war die große Befürchtung der EUTroika gewesen. Tsipras sagte, die Aufgabe seiner Partei sei jetzt der Aufbau eines »Schutzschildes für die Marginalisierten«. »Solidarität und Widerstand sind wichtig, aber jetzt ist die Solidarität das wichtigste. Unsere Rolle ist es, innerhalb und außerhalb des Parlaments den guten Dingen zu applaudieren, die negativen Dinge zu kritisieren und Alternativen vorzuschlagen.« Schon kurz vor der Wahl gab sich Tsipras in einem Beitrag für die Financial Times Deutschland geradezu staatstragend: »Syriza (...) ist aktuell die einzige politische Bewegung in Griechenland, die dem Land wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Stabilität bringen kann. (…) Nur Syriza kann den Griechen Stabilität garantieren, denn wir bringen nicht die politischen Altlasten mit wie jene etablierten Parteien, die Griechenland an den Abgrund geführt haben. Aus diesem Grund unterstützen die Wähler unsere Bemühungen, das Land vom Abgrund zurückzuholen. Durch transparente Regierungsarbeit werden wir das Land auf einen neuen Pfad des Wachstums führen.« Genau solche Aussagen und das Verlangen, respektabel zu erscheinen, lassen viele griechische Linke eine skeptische Distanz zu Syriza halten – trotz all ihrer Erfolge. Das gilt auch für Sotiris Kontogiannis, der beim »Marx is’ muss«-Kongress Anfang Juni in Berlin zur Situation in Griechenland referierte. Der Sozialist und Journalist aus Athen ist Unterstützer von Antarsya, einem Bündnis antikapitalistischer Gruppen. Antarsya kam zwar bei der Juni-Wahl mit nur 0,4 Prozent böse unter die Räder, spielte aber im Vorfeld eine im Vergleich zu seiner Größe überproportionale Rolle in den Bewegungen und Streiks. Sotiris berichtete: »Die Kommunistische Partei Griechenlands sagt, Syriza sei auf dem Weg, die neue Pasok zu werden. Das denke ich nicht. Tsipras ist nicht wie Venizelos, der Chef der

Pasok. Der eine setzt die Memorandums-Politik um, der andere lehnt sie ab. Die Leute, die Syriza wählen, sind diejenigen, die in den letzten Jahren auf der Straße gegen die Sparpolitik gekämpft haben.« Doch stelle sich die Frage, was eine linke Kraft erreichen könne, wenn ihr erklärtes Ziel die Regierungsübernahme ist. »Die Institutionen des freien Marktes sind stärker als die der Demokratie«, gibt Sotiris Kontogiannis zu Bedenken. »Syriza will im Rahmen der EU-Strukturen eine ganz andere, linke Politik machen. Das wird die herrschende Klasse in Europa und Griechenland aber nicht zulassen.« Der Ansatz, die Sorgen der herrschenden Klasse vor der radikalen Linken zu beschwichtigen, führe zu merkwürdigen Verrenkungen: »Die Syriza-Führung glaubt, dem erpresserischen Druck der EU entgehen und die Märkte beruhigen zu können, wenn sie betont, dass eine Syriza-Regierung auch im Interesse der Herrschenden läge. Sie hat beispielsweise erklärt, dass eine linke Regierung sozialen Frieden und damit auch Arbeitsfrieden bringe. So können wir auf die Erpressung aber nicht antworten. Solche Argumente helfen nicht, den sozialen Unfrieden, die Opposition auf der Straße aufzubauen. Denn diese Opposition wird letztendlich der entscheidende Faktor für die weitere Entwicklung in Griechenland sein.« Eines macht Sotiris aber unmissverständlich klar: Die Zusammenarbeit der Linken beim Aufbau des Widerstands gegen die Kürzungspolitik ist notwendig und wird von den Aktivisten der Bewegungen auch erwartet. Wer das nicht macht, verliert das Vertrauen der Aktivisten. So hat zum Beispiel die traditionsreiche Kommunistische Partei im Wahlkampf Syriza mit den Konservativen und der Pasok in einen Topf geschmissen. Damit diskreditierte sie sich bei vielen ihrer Anhänger und halbierte ihr Wahlergebnis.

Syriza verteidigte die gewaltätigen Ausschreitungen von Jugendlichen – und wurde dafür massiv von den Medien angegriffen

22

Von der Widerstandskraft der Arbeiterbewegung wird die Zukunft der Bevölkerungsmehrheit Griechenlands abhängen. In den vergangenen zwei Jahren hat sie bereits 17 Generalstreiks organisiert. Wenn es der organisierten Arbeiterbewegung gelänge, auch der neuen Regierung Paroli zu bieten und das Spardiktat zu Fall zu bringen, wäre das ein Signal für ganz Europa. Überhaupt kann Griechenland zum Vorbild werden. Denn die wesentliche Botschaft der SyrizaGeschichte ist: Linke Kräfte können im Rahmen von Widerstand schnell einen ungeahnten Aufschwung erleben. ■


»Merkel will gar keine Krisenlösung« Selbst Konservative haben keinen Grund, sich über das griechische Wahlergebnis zu freuen. Warum, verrät Andrej Hunko im Interview

A

ndrej, die Wahl in Griechenland ist gelaufen, Merkels Wunschpartei hat gewonnen, die Zeitungen titeln »Griechen votieren für Sparkurs«. Ist nun alles vorbei für die griechische Linke? Nein, auf keinen Fall. 38 Prozent haben Parteien links von der der sozialdemokratischen Pasok gewählt, 60 Prozent Parteien, die den Kürzungskurs ablehnen. Das ist kein »Votum für den Sparkurs«. Klar, die Konservativen haben gewonnen, im Wesentlichen durch die massive Schützenhilfe des gesamten EU-Establishments. Syriza hat mit 27 Prozent ein starkes Ergebnis eingefahren, hat in allen Städten gewonnen und ist stärkste Partei in den Altersgruppen unter 55 Jahren. Drauf kann man sehr gut aufbauen.

D

as Hauptargument der konservativen Nea Dimokratia war, dass Griechenland bei einem Syriza-Wahlsieg aus

Andrej Hunko

Andrej Hunko ist Bundestagsabgeordneter der LINKEN. Er ist Mitglied im EUAusschuss und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.

dem Euro geworfen wird und dann vollends zusammenbricht. Ist das richtig? Syriza hat dem entgegengehalten, dass die Austeritätspolitik in Griechenland gescheitert ist. Seit Beginn der Troika-Politik ist die Staatsverschuldung dramatisch weiter gestiegen, von 120 auf 175 Prozent. Dieser Weg hat sein Ziel völlig verfehlt, deshalb hat die Partei komplette Neuverhandlungen gefordert. Aus ökonomischer Perspektive hat Syriza völlig Recht. Ich glaube nicht, dass ein Wahlsieg Syrizas und Neuverhandlungen zu einem EuroRauswurf Griechenlands geführt hätten – das war Panikmache, um die Wahlen zu beeinflussen. Ich denke, die EU-Führung wäre das Risiko nicht eingegangen, weil ein Ausscheiden Griechenlands die Situation in Spanien und Italien durch dramatische Zinsanstiege eskaliert hätte. Zudem ist unklar, wie so ein Rauswurf formal gehen

TITELTHEMA Alles über Syriza!

INTERVIEW: Stefan Bornost

23


soll. Es gibt in den entsprechenden EUVerträgen gar kein Rauswurfsszenario – allenfalls hätte Griechenland einen Ausstieg beschließen können, der dann aber auch die EU-Mitgliedschaft betroffen hätte.

G

ewagte These, schließlich sitzt doch Merkel am längeren Hebel als Syriza-Chef Tsipras. Sie diktiert die Bedingungen, nicht andersherum. Das ist zwar so, trotzdem kann auch die deutsche Regierung in der derzeitigen Situation nicht schalten und walten, wie sie will. Ein Austritts Griechenlands hätte Zypern mit weggerissen und damit auch die deutsche ökonomische Strategie im östlichen Mittelmeerraum, in dem zum Beispiel wichtige Ölvorräte liegen, unterminiert. Solche geostrategischen Überlegungen spielen eine wichtige Rolle. So schwach wäre die Verhandlungsposition einer linken Regierung also nicht gewesen, vor allem, wenn sie die Unterstützung bei der Wahl in eine reale Mobilisierung gegen die Austeritätspolitik ummünzen könnte. Wir können die Sache ja auch andersrum anschauen: Jetzt bildet eine Partei die Regierung, die für Probleme wie Korruption oder massenhafte Steuervermeidung durch die Vermögenden maßgeblich verantwortlich ist. Auch in der EU-Führung glaubt ja niemand, dass die neue griechische Regierung den Absturz des Landes stoppen kann. Deshalb sagen sogar Konservative, dass ein Syriza-Wahlsieg besser gewesen wäre, weil der jetzt eingeschlagene Weg die Krise nur verschärft.

T

hilo Sarrazin behauptet in seinem neuen Buch, dass ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro nicht nur für Deutschland die Lösung wäre, sondern auch für die griechische Wirtschaft, die mit der abgewerteten Drachme wieder wettbewerbsfähig wäre. Da ist ein korrekter Punkt dabei: Die Euro-Zone benachteiligt wettbewerbsschwächere Ökonomien wie die griechische. Sie können ihre Währungen nicht mehr abwerten, um Wettbewerbsnachteile auszugleichen. Dieser Währungspuffer ist jetzt weggefallen, deshalb der Druck auf eine »innere Abwertung«: Löhne runter, Sozialleistungen runter. Dieser Wettlauf nach unten kann bei schwachen Ökonomien bis unter das physische Existenzminimum gehen, wie wir an den Verarmungsprozessen in Griechenland sehen.

24

Polizisten umzingeln einen Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude in Athen. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung wird auch nach den Wahlen nicht abebben Es gibt zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Entweder die Rückkehr zu nationalen Währungen. Dafür plädiert Sarrazin allerdings nicht, weil er der griechischen Bevölkerung helfen will, sondern um eine rechte nationalistische Agenda zu pushen. Zudem ist zu bedenken: Eine Rückzahlung der Eurokredite ist in abgewerteten Drachmen erst recht nicht zu machen. Die zweite Möglichkeit ist, darum zu kämpfen, dass sich die ökonomische und politische Ausrichtung im bestehenden Euroraum ändert. Eines der wesentlichen Probleme ist die deutsche Ökonomie, die durch ihre im Verhältnis zur Produktivität zu niedrigen Lohnkosten andere Volkswirtschaften im Euro-Raum an die Wand drückt. Das ist politisch gewollt. Die Agenda 2010 hatte das ausdrückliche Ziel, die deutsche Wett-

Deutschland drückt durch seine niedrigen Lohnkosten andere europäische Volkswirtschaften an die Wand


Allerdings gibt es auch Fraktionen der Herrschenden, die die Zukunft Deutschlands weniger im europäischen Markt und mehr in den BRIC- und anderen aufstrebenden Staaten sehen. Damit Deutschland und Europa andere Weltregionen niederkonkurrieren können, soll die deutsche Exportstrategie europäisiert werden. Der Binnenmarkt verliert an Bedeutung und das Wachstum soll vor allem durch Exporte in neue Absatzmärkte außerhalb Europas erreicht werden.

bewerbsfähigkeit zu erhöhen, die Lohnund Steuerpolitik seitdem ist diesem Ziel gefolgt. Höhere Löhne hierzulande wären ein erster Schritt, um die Ungleichgewichte im Euro-Raum anzugehen. Doch solange die Bundesregierung an ihrer Ausrichtung festhält, wird es auch keine Krisenlösung geben. Mein Eindruck ist, dass eine Krisenlösung auch gar nicht das vorrangige Ziel der deutschen Herrschenden ist. Sie wollen vielmehr die Krise nutzen, um ihre eigene Position in Europa und weltweit zu stärken. Wenn es um Krisenbekämpfung ginge, dann würde man nicht auf eine Politik zurückgreifen, die offensichtlich krisenverschärfend wirkt.

W

arum sollte die Bundesregierung einen Währungsverbund gefähr-

den oder gar zerstören, von dem deutsche Unternehmen stark profitieren? Weil in Kategorien von kurzfristigem Machtzuwachs gedacht wird. Die Stellung Deutschlands baut sich weiter auf, Merkel ist mit Abstand die mächtigste Person in Europa. Während früher die deutsche Hegemonie in Europa im Rahmen der deutschen Strategie der EU-Integration zusammen mit einer Sensibilität für die Interessen kleiner Länder einherging, zieht Merkel heute ihre Machtpolitik zunehmend rücksichtslos durch. Gleichzeitig untergräbt die von ihr gewählte Politik, nämlich die Aushebelung nationaler Souveränität und Unterwerfung unter das deutsche Austeritätsdiktat, die ökonomischen Grundlagen der EU, weil sie viele Länder in die Depression treibt. Das ist der Widerspruch.

erbleib im Euro heißt für Griechenland unter den gegebenen Kräfteverhältnissen: Unterwerfung unter das Kürzungsprogramm. Ein Austritt beschleunigt vielleicht die Verelendung des Landes noch. Pest oder Cholera, was ist da eine linke Perspektive für Griechenland? Ein linker Wahlsieg in Griechenland wäre vor allem ein Signal in Europa gewesen, dass eine andere Krisenbewältigung politisch notwendig ist. Wir hätten dann den Praxistest gehabt, ob die EU reformfähig genug ist, um das Scheitern der bisherigen Politik einzugestehen. Der ohnehin wachsende Druck auf Merkel, die bisherige Austeritätspolitik zu beenden, hätte sich zu einer zugespitzten Entscheidungssituation entwickelt: Kann eine Regierung im Euro bleiben, ohne sich dem Spardiktat zu unterwerfen? Hätte eine Mobilisierung der griechischen Bevölkerung die Angst vor Unruhen in anderen europäischen Ländern geschürt und Merkel zum Einlenken bewegt? Das sind spannende Fragen, die sich nach diesem Wahlausgang aber erst einmal nicht stellen. Deshalb können wir nur darüber orakeln, wie reformierbar die EU durch Druck von unten ist. Als Bundestagsfraktion sollten wir jedenfalls in diesem nun mal gegebenen Rahmen für eine andere Politik kämpfen. In diese Richtung zielen wir mit Forderungen wie zum Beispiel nach der öffentlichen Kontrolle über die Banken und nach der Befreiung der staatlichen Finanzierung aus der Abhängigkeit durch die Finanzmärkte. Natürlich unterstützen wir auch die Proteste, wie kürzlich Blockupy in Frankfurt. Die Überwindung der neoliberalen und undemokratischen EU und der Start eines neuen europäischen Projekts auf demokratischer, sozialer, friedlicher und ökologischer Grundlage werden ohne außerparlamentarische Bewegungen nicht zu machen sein. ■

TITELTHEMA Alles über Syriza!

© Odysseas Gp / flickr.com / CC BY-NC-SA

V

25


ANZEIGE

26


Das Kapital schlägt zurück Sparkurs oder Austritt aus dem europäischen Währungsvertrag? Vor dieser Alternative stand Anfang der 1980er Jahre die frisch gewählte sozialistische Regierung in Frankreich. Unsere Autoren beschreiben, wie sich die Linke damals geschlagen hat Von Lev Lhommeau und Luigi Wolf dem setzte die Regierung die Rente mit 60 durch, legte ein großes Programm für die Erneuerung des sozialen Wohnungsbaus auf, schaffte die Todesstrafe ab und errichtete ein Ministerium für Gleichstellung. Fünf Jahre später: Die französische Linke liegt am Boden. Die Sozialisten verlieren die Parlamentswahlen des Jahres 1986 und der rechtsradikale Front National zieht erstmals in die Nationalversammlung ein. Wie konnte es so weit kommen? Grund für die Niederlage war ein fundamentaler Politikwechsel der PS. Ab Juni 1982 legte die Regierung Mitterand eine »Reformpause« ein und ab März 1983 vollzog sie die Wende zur Spar- und Kürzungspolitik. Sie baute zahlreiche Stellen im öffentlichen Sektor ab. Die Arbeitslosigkeit stieg zwischen Mai 1981 und März 1986 von 1,7 Millionen auf 2,6 Millionen. Das war eine der höchsten Quoten in Europa. Dazu kamen ab 1983 unzählige Sparprogramme. Gleichzeitig entlastete die Regierung die Unternehmen. Den Kern der ursprünglichen Regierungspläne hatte ein keynesianisch inspiriertes Wirtschaftsprogramm ausgemacht. Mit Hilfe eines massiven Investitionsund Konsumprogrammes sollte die Konjunktur angekurbelt werden. So steigerte die Regierung den Wissenschaftsetat um 500 Prozent, den Kulturetat um 101 Prozent und legte ein riesiges Bauprogramm auf. Die Steigerung von Löhnen und Renten entsprach einer Summe, die etwa ein Prozent des BIP umfasste. Doch diese Politik ließ sich nicht so einfach weiterführen.

Mitterand versprach, Frankreich in 100 Tagen zum Sozialismus zu führen

★ ★★ Lev Lhommeau ist Politikwisssenschaftler und in der Linksjugend ['solid] aktiv.

Luigi Wolf ist Redakteur von theorie21, der Theoriezeitschrift des marx21Netzwerks.

TITELTHEMA Alles über Syriza!

A

m Abend des 10. Mai 1981 tanzten Hunderttausende auf den Straßen von Paris und im ganzen Land. Der Grund für die Freude war die Wahl François Mitterands zum französischen Präsidenten. Der Politiker von der Parti Socialiste (PS) versprach, Frankreich in 100 Tagen zum Sozialismus zu führen. Immer wieder betonte er, dass es nicht um eine »Verwaltung« und »Regulierung« des Kapitalismus gehe. »Das Wichtige ist, dass das Eigentum den Besitzer wechselt.« Radikaler sprach wohl kein anderer Präsident oder Regierungschef Europas: »Ich glaube, wie Lenin, dass jeder fundamentale Wandel durch eine Eroberung der Staatsmacht möglich ist.« Der neue Präsident hielt Wort und setzte weitreichende Reformen um. Er führte die fünfte bezahlte Urlaubswoche ein und verkürzte die Regelarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich von 40 auf 39 Stunden – mit dem langfristigen Ziel, sie auf 35 Stunden zu senken. Des Weiteren erhöhte die neue Regierung die staatlichen Löhne, Renten und die Arbeitslosenunterstützung um 10 bis 25 Prozent. Innerhalb eines Jahres verstaatlichte sie wesentliche Industrieunternehmen und den Bankensektor, so dass der Anteil der staatlichen Unternehmen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 11 Prozent auf 17 Prozent stieg. Der Staat kontrollierte nun 95 Prozent des Kredit- und Bankwesens, den Großteil der Schwerindustrie und 75 Prozent der Textilindustrie. Im öffentlichen Dienst wurden 200.000 Stellen geschaffen und weitere zehntausend im staatlich subventionierten Vereinswesen. Außer-

27


Die Weltwirtschaft befand sich seit 1981 auf dem Weg in eine Rezession. Während französische Waren deswegen auf dem Weltmarkt schwerer Absatz fanden, konnten ausländische Unternehmen die gestiegene Nachfrage in Frankreich zum Verkauf ihrer Waren nutzen. Hinzu kam eine massive Kapitalflucht. Unternehmen und private Kapitalbesitzer investierten nicht mehr in Frankreich, sondern legten ihr Kapital im Ausland zu höheren Zinsen an. Die Kapitalströme aus dem Land heraus führten dazu, dass der Kurs des Franc sank. Frankreich war aber durch den Europäischen Währungsvertrag gezwungen, den Kurs in einem gewissen Maß stabil zu halten. Die Zentralbank musste daher innerhalb kürzester Zeit fast ihre gesamten Reserven aufbrauchen, um Francs zu kaufen und so den Kurs zu stabilisieren. Frankreichs Handelsbilanz sank auf ein Minus von 93 Milliarden Francs. Allein gegenüber dem wichtigsten Handelspartner Deutschland nahm das Defizit zwischen 1980 und 1981 um 34 Prozent zu, bis 1982 (im Vergleich zum Jahr 1980) sogar um 80 Prozent.

den können. Hierzu hatte die PS bereits im Jahr 1979 ein Konzept verabschiedet, das es ermöglichen sollte, Nationalisierungen zu erzwingen, wenn die Mehrheit der Arbeiter eines Unternehmens dies in einem Referendum beschließen würde. Ausgangspunkt hätte dabei die Stärkung der Betriebskomitees sein können, die den Wahlversprechen Mitterands entsprechend ein Vetorecht bei Entlassungen und Betriebsschließungen erhalten sollten. Sukzessiv wäre so die Macht des Kapitals gebrochen worden. Dies hätte aber eine direkte Mobilisierung der Bevölkerung benötigt. Die Voraussetzungen dafür waren nicht schlecht, da die Regierung trotz massiver gesellschaftlicher Polarisierung einen klaren Rückhalt für ihre Politik hatte: 59 Prozent unterstützen die Verstaatlichung der Banken, 56 Prozent die der industriellen Unternehmen und 55 Prozent hielten die Verstaatlichungen für unumkehrbar. Aber der Weg der Mobilisierung der Bevölkerung gegen das Kapital wurde nie getestet. Ob es den Sozialisten gelungen wäre, die Auseinandersetzung zu gewinnen, ist eine andere Frage. Denn die Wahl im Mai 1981 war nicht von einem allgemeinen Aufschwung sozialer Kämpfe begleitet gewesen. Vielmehr war die französische Arbeiterbewegung in den Jahren vor 1981 schwächer geworden. Die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften brachen ab 1977 ein und die Zahl der Streiks ging dramatisch zurück. Wurden 1976 noch 5,01 Millionen Streiktage registriert, so sank diese Zahl auf 1,49 Millionen im Jahr 1981 (1977: 3,66; 1978: 2,20; 1979: 3,65; 1980: 1,67). Im Jahr 1979 kam es zu einem großen Kampf um die Stahlindustrie in der Lorraine, der für dieses Jahr die Streikzahlen in die Höhe riss. Der Kampf der Stahlarbeiter, intensiv von der lokalen Bevölkerung unterstützt und begleitet von einer Solidaritätsbewegung im ganzen Land, ging jedoch verloren und hatte eine demoralisierende Wirkung auf die gesamte Arbeiterbewegung. Auch die Mitgliederzahlen der PS und der Kommunistischen Partei (PCF) nahmen in dieser Zeit ab. Dies führte dazu, dass sich keine spontane Bewegung der Arbeiter nach dem Wahlsieg entfaltete. PS und PCF hätten versuchen müssen, die passive Unterstützung in Selbstaktivität zu verwandeln. Das taten sie jedoch nicht.

Der Weg der Mobilisierung der Bevölkerung gegen das Kapital wurde nie getestet

Kapitalflüsse und Handelsdefizite sind jedoch keine Naturgewalten. Sie waren das Resultat bewusster Politik seitens des Kapitals. Es war die Entscheidung der großen privaten Kapitalgruppen, nicht weiter in Frankreich zu investieren. Grundsätzlich waren in dieser Problemlage zwei Lösungswege möglich. Der eine bestand darin, das gesamte keynesianische Programm aufzugeben und, wie es andere Staaten in der Rezession taten, die Staatsausgaben zu senken und in Kombination mit Lohnkürzungen die Wettbewerbsfähigkeit des französischen Kapitals wieder herzustellen und auf die Wiederaufnahme privater Investitionen zu hoffen. Dies war der Weg, den die französischen Sozialisten wählten. Sie froren Löhne und Gehälter ein und kürzten die Staatsausgaben massiv. Demgegenüber hätte es einen anderen Weg gegeben. Ihn hatten die französischen Sozialisten im Vorfeld der Wahl lange diskutiert. Sie überlegten, einerseits Schutzzölle einzuführen, um französische Produkte vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Andererseits stand der Ausstieg aus dem Europäischen Währungsvertrag mit einer Abwertung des Franc und der Einführung von Kapitalverkehrskontrollen zur Debatte. Darüber hinaus hätte durch weitere Verstaatlichungen die Verfügungsgewalt des Kapitals über Geldkapital und Investitionsentscheidungen zunehmend eingeschränkt und schließlich gebrochen wer-

28

Die Gründe für das Versäumnis, die Bevölkerung zu mobilisieren, sind im Politikverständnis der Sozialisten zu suchen. Der französische Sozialismus vereinte seine radikale Rhetorik mit der Vorstellung, dass die sozialistische Wirtschaftspolitik die Beste sei, um


© J. M. Boucheron

auch die Interessen der französischen Unternehmer zu wahren. Das sahen die Unternehmer allerdings anders. Als nun die Umsetzung des Programms auf harten Widerstand von Seiten des Kapitals stieß, waren die Sozialisten darauf nicht vorbereitet. Letztendlich führte es dazu, dass die Regierung auf Unternehmerkurs einschwenkte. Diese Entwicklung konnte auch deswegen so leicht vonstatten gehen, weil die Sozialisten ihre ganze Kraft auf einen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen gelegt hatten. Die von de Gaulle eingeführte Verfassung stärkte die praktische Macht des Präsidenten und etablierte ihn als zentrale Figur im politischen System Frankreichs. Der Präsident setzte die Regierung ein und konnte sie jederzeit umbilden oder auflösen, was unter Mitterand auch mehrmals geschah. An nächster Stelle dieser Hierarchie kamen die Minister, die verschiedenen Strömungen in der Regierungspartei angehörten. Wichtige Entscheidungen, etwa die radikale Wende zur Sparpolitik, fällte Mitterand allein. Die PS-Fraktion im Parlament spielte nur eine untergeordnete Rolle. Sie hatte bei 285 Abgeordneten nur 17 Mitarbeiter und 12 Sekretärinnen. Oft wurden die Parlamentarier erst kurz vor Abstimmungen von der Regierung über den Inhalt von Initiativen informiert. Noch schlimmer verhielt es sich bei der Partei. Zur »Reformpause« äußerte sich das Führungsgremium erst zwei Monate nach seiner Verkündung, die Wende zur Sparpolitik kommentierte die Partei erst nach drei Monaten. Anstatt die Politik demokratisch mitzubestimmen, verkam die PS zum Anhängsel der Regierung – schlechte Voraussetzungen, um einen Kampf mit dem Kapital in der Gesellschaft auszufechten.

Die Erfahrungen der Mitterand-Zeit zeigen, dass jedes radikale Reformprogramm in Zeiten scharfer wirtschaftlicher Konkurrenz gesellschaftliche Kämpfe bis hin zur Machtfrage zuspitzen wird. Das Kapital wird im Konflikt alles ihm zur Verfügung stehende in Bewegung setzen, um eine linke Regierung zu stürzen. Die französischen Sozialisten entschieden sich dagegen, diese Konfrontation auszufechten. Die Alternative – Ausstieg aus dem Währungsvertrag, Fortführung der keynesianischen Programme, Radikalisierung der Reformen bis hin zur Ersetzung der ökonomischen Verfügungsgewalt des Kapitals durch alternative demokratische Organe – hatten sie zwar programmatisch angedacht, aber niemals ausprobiert. Entscheidend ist, dass die PS dafür viel zu schlecht aufgestellt war. Sie kam zwar an die Regierung. Aber ihre Fixierung auf die parlamentarische Arbeit bedeutete, dass sie dort, wo das Kapital sie herausforderte – in der Öffentlichkeit und in den Betrieben – zu wenig Einfluss hatte. Ihre Verankerung in den Gewerkschaften war schlecht. Sie hatte niemals eine Strategie entwickelt, die wachsende Wahlunterstützung dafür zu nutzen, um Veränderungen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis herbeizuführen. Von den sozialen Bewegungen isoliert wurde die regierende PS »verstaatlicht« und musste über den Wettbewerbsstaat Frankreich wachen in Konkurrenz zu Reagans USA, Thatchers Großbritannien und Kohls Deutschland. Wer also heute radikale Reformen durchsetzen will, sollte nicht versäumen, sich der Herausforderung zu stellen, den politischen Aufschwung der europäischen Linken in einen Aufschwung gesellschaftlicher Kämpfe umzuwandeln. ■

TITELTHEMA Alles über Syriza!

10. Mai 1981: Die Massen auf dem Rathhausplatz in Rennes feiern den Sieg des ersten sozialistischen Präsidenten der Fünften Republik

29


Der dritte Weg Sollen sich Sozialisten an Regierungen beteiligen? Seit mehr als einem Jahrhundert diskutiert die Linke über diese Frage. Eine wenig bekannte Antwort darauf gab Anfang der Zwanziger Jahre die Kommunistische Internationale Von John Riddell

★ ★★

John Riddell ist Historiker und arbeitet zur Geschichte der frühen kommunistischen Bewegung. Er ist Mitglied der Greater Toronto Workers’ Assembly.

D

ie Frage der Regierungsbeteiligung war für Sozialisten schon immer ein schwieriges Thema. Es scheint, als hätten wir immer nur die Wahl zwischen verschiedenen Übeln: Entweder wir beteiligen uns an einer weniger schlimmen Mitte-Links-Koalition, die Verantwortung für die kapitalistische Verwaltung übernimmt und im Gegenzug einige geringfügige Verbesserungen erreicht, oder wir verschieben jede Art Regierungsbeteiligung auf den Zeitpunkt nach einer erfolgreichen Revolution.

Eine Arbeiterregierung kann nur durch den Kampf der Massen aufrechterhalten werden

Es gibt jedoch noch einen dritten Ansatz. Dieser hatte seinen Ursprung in den Erfahrungen der deutschen Arbeiterbewegung und wurde Anfang der 1920er Jahre auch von der Kommunistischen Internationale (Komintern) befürwortet: Er besteht im Konzept der »Arbeiterregierung«. Die Idee: Eine solche Regierung agiert zunächst im Rahmen des noch bestehenden kapitalistischen Staats, leitet jedoch radikale Schritte zur revolutionären Transformation der Gesellschaft ein. Ihrer Natur nach ist sie eine Übergangsregierung – oder wie es die Komintern bei ihrem dritten Weltkongress im Jahr 1921 formulierte: Sie solle als »Brücke zwischen den gegenwärtigen Forderungen und dem sozialistischen Programm der Revolution« dienen. Bei ihrem vierten Weltkongress im Jahr 1922 setzte die Komintern die Diskussion über Arbeiterregierungen

30

fort. Während der Tagung erklärten zwei Redner, die Bolschewiki hätten das Konzept bereits im Jahr 1917 in Russland umgesetzt, als sie die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre dazu aufriefen, mit der Bourgeoisie zu brechen und die Macht zu übernehmen, und später erneut, als die Bolschewiki selbst eine Sowjetregierung im Bündnis mit den Sozialrevolutionären bildeten. Die Diskussion konzentrierte sich jedoch auf Deutschland, wo der Begriff zum ersten Mal im Jahr 1920 während des Generalstreiks gegen den rechten Kapp-Putsch aufgekommen war. Carl Legien, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds, hatte damals die Bildung einer Regierung aller sozialistischen Parteien und Gewerkschaften vorgeschlagen, die mit Rückendeckung der Streikbewegung wirksam gegen die rechten Putschisten vorgehen sollte. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) erklärte ihre bedingte Unterstützung für den Vorschlag. Die Kommunisten argumentierten, dass »die Bildung einer sozialistischen Regierung« in dieser speziellen Situation – Millionen Arbeiter waren in den Generalstreik gegangen – »außerordentlich günstige Bedingungen für entschlossene Aktionen der proletarischen Massen schaffen« würde. Daraufhin entspann sich sowohl in der deutschen Partei als auch in der Komintern eine heftige Diskussion darüber, ob dies eine angemessene Position gewesen sei. Sie wur-


© www.soviethistory.org / Hoover Political Poster Database

de bis zum vierten Weltkongress von 1922 geführt. Bei dem Kongress war dann die Hauptfrage, ob der Begriff »Arbeiterregierung« ein anderes Wort für die Herrschaft der Arbeiterräte unter kommunistischer Führung sei oder ob eine Arbeiterregierung den möglichen Übergang zu diesem Ziel bilden könnte. Der italienische Kommunist Amadeo Bordiga sagte, das Übergangskonzept unterstelle, dass die Arbeiterklasse anders »als durch den bewaffneten Kampf« die Macht übernehmen könne. Ruth Fischer, die die linksradikale Minderheit der deutschen Kommunistischen Partei anführte, warnte, die Vorstellung von der Revolution werde verwässert, indem »ihr eine Frisur nach westlicher Mode verpasst« werde und »demokratische Übergangsetappen zwischen dem, was wir haben, und dem, was wir erreichen wollen« geschaffen würden. Auch der Kominternvorsitzende Grigori Sinowjew teilte diese Auffassung. Er machte einen Rückzieher, als der Kongress eröffnete, vertrat den Grundgedanken aber weiterhin, nur etwas zurückhaltender. Vertreter der deutschen Parteimehrheit und der sowjetische Kommunist Karl Radek argumentierten hingegen, die Arbeiterregierung sei nicht nur ein Synonym für Arbeiterherrschaft, sondern ein »Ausgangspunkt« dahin. Ihre Errungenschaften könnten »zu einer Phase verschärfter Klassenkämpfe führen,

über die letztendlich eine proletarische Diktatur entstehen« werde, sagte auch der KPD-Vorsitzende Ernst Meyer. Sie werde »nur in einem untergeordneten Sinne« parlamentarisch sein und »muss von den Massen getragen werden«. Radek bezeichnete solch eine Regierung als den »Ausgangspunkt des Kampfes für die Diktatur des Proletariats.« Im Verlauf des Kongresses wurde der Resolutionstext mehrfach überarbeitet. Die Definition von Arbeiterregierung näherte sich dabei zunehmend der »Übergangs«-Vorstellung an. In der endgültigen Fassung wurde der Begriff schließlich scharf von einer auf das Parlament gestützten bürgerlich-sozialdemokratischen Koalition abgegrenzt. Die Arbeiterregierung könne nur durch den Kampf der Massen aufrechterhalten werden, hieß es dort, ihre Aufgabe beginne damit, »das Proletariat zu bewaffnen«, und ende damit, den »Widerstand der konterrevolutionären Bourgeoisie zu brechen«. Kommunisten sollten bereit sein, »zusammen mit nichtkommunistischen Arbeiterparteien und Arbeiterorganisationen eine Arbeiterregierung zu bilden«, hieß es in der Resolution weiter, aber nur, »wenn Garantien dafür vorhanden sind, dass die Arbeiterregierung wirklich einen Kampf gegen das Bürgertum im oben angegebenen Sinne führen wird« und sie wei-

TITELTHEMA Alles über Syriza!

Werbeplakat der Kommunistischen Internationale aus dem Jahr 1920: Arbeiter, Bauern und Matrosen siegen gemeinsam über die Bourgeoisie

31


★ ★★ HINTERGRUND Bei diesem Text handelt es sich um die leicht gekürzte und überarbeitete Version eines Artikels, der zuerst auf John Riddells Blog (johnriddell.wordpress. com) erschienen ist. Dort befindet sich auch ein Artikel über die verschiedenen Versionen der Erklärungen, die die Komintern zur Frage der Arbeiterregierungen veröffentlicht hat.

★ ★★ WEITERLESEN John Riddell: Toward the United Front: Proceedings of the Fourth Congress of the Communist International, 1922 (Brill 2011).

32

teren Kontrollmechanismen unterworfen sei. Dieser Ansatz könne auch auf Arbeiterparteien angewandt werden, die nicht den Kapitalismus abschaffen wollen. Viele Jahre später schrieb Leo Trotzki, Revolutionäre sollten von »allen Parteien und Organisationen, die sich auf die Arbeiter und Bauern stützen und in ihrem Namen sprechen«, verlangen, »dass sie politisch mit der Bourgeoisie brechen und den Weg des Kampfes um die Arbeiter-und-Bauern-Regierung einschlagen«. Die Eindeutigkeit dieser Position trübte Sinowjew, der den Begriff Arbeiterregierung auch zur Beschreibung einer Regierung bürgerlicher Arbeiterparteien verwendete, die zwar Reformen durchführt, aber dennoch als loyaler Verwalter der kapitalistischen Ordnung agiert. Der Kominternvorsitzende setzte beispielsweise seine Hoffnungen auf eine Regierungsbeteiligung der Labour-Partei in Großbritannien. Er glaubte, diese könne als »Sprungbrett für die Revolutionierung des Landes« dienen. Dieser Auffassung widersprachen Vertreter der deutschen Delegation, die für eine Ergänzung der Resolution sorgten, in der es hieß, eine »Arbeiterregierung« sozialdemokratischen Typs sei »falsch«. In dem Zusatz wurde auch festgehalten, dass die falschen »liberalen« oder »sozialdemokratischen« Arbeiterregierungen keinesfalls revolutionäre Regierungen seien, sondern faktisch verkappte Koalitionen zwischen dem Bürgertum und antirevolutionären Arbeitervertretern. Obwohl die Delegierten diesen Zusatz einstimmig annahmen, wurde er nicht in die russische Fassung der Resolution aufgenommen. Zwei andere wichtige Aspekte der Thematik Arbeiterregierung wurden zwar auf dem Kongress aufgeworfen, blieben jedoch unbeantwortet. Der erste betraf die Aufgabe der Bauern. In den Kongressdebatten sagte der bulgarische Delegierte Wassil Kolarow, dass sich die Frage der »Arbeiterregierung in Agrarländern wie denen des Balkans nicht stellt«. In der Schlussresolution wurde jedoch auch die Möglichkeit einer »Regierung der Arbeiter und ärmeren Bauern« in Regionen wie dem Balkan erwähnt. Das war eine dringende Frage für Bulgarien, das zu dieser Zeit von einer radikalen Bauernpartei regiert wurde und von einem Putsch rechter Kräfte bedroht war. Doch kein einziger Kongressdelegierter erwähnte die Lage in Bulgarien. Nur wenige Monate später weigerten sich die bulgarischen Kommunisten, die Bauernregierung gegen einen Putsch zu verteidigen, was verheerende Folgen hatte. Die zweite unerledigte Frage betraf die Natur der Arbeitermacht. In der Schlussresolution hieß es, dass eine »wirkliche proletarische Arbeiterregierung, (...) in reiner Form nur durch die Kommunistische Partei verkörpert werden kann«. Das hieß, eine revolutionäre Regierung von Kommunisten im Bündnis mit

nichtkommunistischen Kräften konnte nur ein vorübergehendes Hilfsmittel sein, bis die Kommunisten stark genug waren, allein zu regieren. Leo Trotzki deutete in einem Kommentar einen anderen Ansatz an: Er beschrieb das Bündnis der Bolschewiki mit den linken Sozialrevolutionären in den ersten Monaten der sowjetischen Herrschaft und meinte, letztere hätten die Regierung aus eigenem Antrieb verlassen, nicht auf Druck der Bolschewiki. Mehr wurde zu diesem Zeitpunkt nicht dazu gesagt. In der letztendlich veröffentlichten Resolution gab es keine klare Unterscheidung zwischen Arbeiterherrschaft und der Herrschaft der kommunistischen Partei. Die Delegierten des Kongresses sagten ferner nichts zu Regierungen, die in kolonialen oder halbkolonialen Ländern im Kampf für eine antiimperialistische Einheitsfront entstehen könnten. Auch die Vorstellungen, die die Bolschewiki vor 1917 von einer revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft hegten, wurden nicht erwähnt. Die schließlich verabschiedete Resolution unterschied fünf Kategorien von Arbeiterregierungen, wobei die Delegierten jeweils bestimmte Situationen ihrer Zeit vor Augen hatten, etwa in Großbritannien, Deutschland, auf dem Balkan oder in Sowjetrussland. Frühere Beispiele von Arbeiterregierungen wurden in der Resolution nicht erwähnt, weder die Pariser Kommune, noch die frühe Sowjetrepublik oder die Räterepubliken in Ungarn und Bayern des Jahres 1919. Sinowjew betonte gegenüber den Kongressdelegierten, dass die Auflistung nicht vollständig sei und auch andere Arten von Arbeiterregierungen entstehen könnten. Er warnte, dass »wir auf der Suche nach einer strikten Definition die politische Seite der aktuellen Situation übersehen könnten«. Mit anderen Worten: Die Komintern ging nicht von einem festen Rezept aus, sondern von Erfahrungen. Fast ein Jahrhundert ist vergangen, seit die Komintern über die Frage der Arbeiterregierung diskutierte. Die revolutionäre Zeit, die im Jahr 1914 begann, ist längst vorbei. Aber wir bewegen uns auf neue Revolutionen unter neuen Bedingungen zu. Heute gibt es keine den kommunistischen Massenparteien der 1920er Jahre an Größe und Einfluss vergleichbaren Parteien. Die Position der Komintern zur Regierungspolitik bezog sich auf ein politisches Umfeld, das so nicht mehr existiert. Sie sollte deshalb nicht unbesehen auf eine völlig andere Realität übertragen werden. Der Wert der kommunistischen Positionierung zu Arbeiterregierungen liegt darin, uns für Möglichkeiten zu sensibilisieren, wie Arbeiter noch vor der Entstehung eines Netzes von Arbeiterräten nach sowjetischem Muster und vor dem Beginn der sozialistischen Revolution Wege finden können, auf denen sie um die Regierungsmacht kämpfen. ■


ANZEIGE

Mona Dohle mit einem Interview mit revolutionären Aktivistinnen aus Ägypten zu der Frage was eine Revolution und Frauenbefreiung miteinander zu tun haben Leandros Fischer über die deutsche Linke und die arabische Revolution Wir möchten dich bitten, bereits jetzt mit einem Abonnement der neuen Publikation Starthilfe zu leisten.

TITELTHEMA Alles über Syriza!

Die erste Ausgabe der Theoriezeitschrift theorie21 »Arabellion! Zur Aktualität der Revolution« ist erscheinen. Darin unter anderem: Alex Callinicos »Die Rückkehr der arabischen Revolution« Anne Alexander zur ägyptischen Arbeiterbewegung im revolutionären Prozess Stathis Kouvelakis zur Frage ob eine Revolution in Griechenland auf der Tagesordnung steht Christine Buchholz und Frank Renken zu den Erfolgsperspektiven des Volksaufstandes gegen Assad in Syrien

33


WELTWEITER WIDERSTAND

Spanien

Seit mehr als einem Monat liefern sich spanische Bergarbeiter erbitterte Kämpfe mit der Bereitschaftspolizei und der paramilitärischen Guardia Civil. Sie wehren sich gegen die drastischen Kürzungen der Bergbausubventionen, die sie ihre Arbeitsplätze kosten würden. Was als ein viertägiger Streik begann, entwickelte sich zum größten Arbeitskampf seit Beginn der Sparmaßnahmen. Nun marschieren die Arbeiter nach Madrid, um dort eine gemeinsame Großdemonstration abzuhalten. Die Kumpel werden von weiten Teilen der spanischen BevölMehr als einhundert Studierende und Schüler kommen auf einem zentralen Platz kerung und allen großen Gewerkschaften unterstützt (siehe auch den Augenzeugenbericht in Chiles Hauptstadt Santiago zusammen, um küssend gegen die neoliberale Bildungs­ politik der Regierung zu demonstrieren auf der gegenüberliegenden Seite).

34


Spanien

Tausende Bergarbeiter streiken seit Wochen in der Provinz Asturien gegen die Kürzungspläne der Regierung. Einer der Beteiligten berichtet über den Ausstand Von Segundo Menendez Collar

I

ch arbeite seit 31 Jahren unter Tage. Das Leben ist hart und gefährlich. Aber ich liebe meinen Job. Die gefährlichen Situationen lassen dich das Leben noch mehr schätzen. Die Arbeit eint uns Kumpel und lässt Solidarität entstehen. Vor nicht allzu langer Zeit brannte mein Haus nieder und alle Kollegen haben sich zusammengetan, um mir aus der Patsche zu helfen. Sie schoben zusätzliche Überstunden, um das Geld für die Reparaturen aufzubringen. Wir alle sind abhängig von den Bergwerken, 50 Prozent der hiesigen Bevölkerung arbeiten dort. Und die Jobs der anderen Hälfte haben indirekt mit ihnen zu tun. Wir streiken gegenwärtig gegen die Pläne der Regierung, die Subventionen für die Bergwerke um 63 Prozent zu kürzen. Sie sagt: »In Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten müssen Opfer gebracht werden«. Aber sie will auf Kohle nicht verzichten, sondern den Bedarf künftig durch Importe decken, ganz bestimmt zu höheren Preisen. In jedem Bergwerk der Region gab es eine Vollversammlung, um zu diskutieren, wie wir auf die Kürzungspläne reagieren sollen. Wir stimmten für einen unbegrenzten Streik. Mittlerweile befinden sich 8.000 Kumpel im Ausstand. Auch die Frauen spielen eine zentrale Rolle, sie haben sich unabhängig organisiert. Mehrere Bergwerke haben wir besetzt, auch das Rathaus von Cangas und den Sitz der Provinzregierung in Leon. Die Besetzer haben den Tag streng in Ruhezeiten, Besuchszeiten und Zeiten für Wartungsarbeiten aufgeteilt. Die meisten Kumpel werden aber für die Aufrechterhaltung der Barrikaden gebraucht. Anfänglich waren es nur kleine Straßenblockaden. Aber die Spannung steigt von Tag zu Tag. Die Polizei behauptet, sie wäre auf unsere Methoden vorbereitet gewesen. Aber in Wirklichkeit hat sie Angst. In einer Presseerklärung hat sie die Regierung zu Verhandlungen aufgefordert, weil die Situ-

ation außer Kontrolle zu geraten droht. Regierung und Polizei haben brutale Gewalt eingesetzt, um uns zu stoppen. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als uns zu wehren. Dabei müssen wir alles Verfügbare einsetzen. So haben wir beispielsweise Feuerwerkskörper gekauft, um sie anstelle von Dynamit zu verwenden, das in den Bergwerken verschlossen ist. Unser Kampf hat das ganze Leben auf den Kopf gestellt. An einem Tag gab es auch schon einen Generalstreik in unserer Region. Da machte alles dicht: Geschäfte, Schulen, Unis, Einkaufszentren und Bars. Die Krankenhäuser hielten nur einen Notdienst aufrecht. In jedem Städtchen haben Großdemonstrationen stattgefunden. In La Felguera gingen am Tag des Generalstreiks 50.000 Menschen auf die Straße. In dem Ort leben nicht mal tausend Menschen. Jeder Einzelne ist von den Entscheidungen der Regierung betroffen. Daher ist es leicht, die Menschen zu mobilisieren. Ob Bauarbeiter, Kneipier oder Schuster – wenn das Bergwerk schließt, müssen sie alle schließen. Der nächste Schritt wird unser Marsch auf Madrid sein. Wir werden von drei verschiedenen Richtungen aus kommen. Alle aus den Bergwerksregionen wollen teilnehmen. Dann werden wir mit angeschalteten Helmlichtern durch die Hauptstadt marschieren. Wir haben uns immer mit anderen Branchen solidarisch gezeigt. Jetzt brauchen wir ihre Solidarität. Wir wurden gerade wegen unserer Stärke und unserer Geschichte zur Zielscheibe. Es steht viel auf dem Spiel. Wenn wir verlieren, kann die Regierung weiter in die Offensive gehen und auch alle anderen kleinkriegen. Wenn wir gewinnen, dann schaut sie in die Röhre. ★ ★★ Segundo Menendez Collar ist Bergarbeiter in der spanischen Provinz Asturien. Sein Bericht erschien zuerst in der britischen Wochenzeitung Socialist Worker.

8BRASILIEN In Rio de Janeiro sind im Juni während der UNKonferenz über nachhaltige Entwicklung Zehntausende auf die Straßen gegangen. Sie wollten ein Zeichen gegen den Klimawandel und eine Politik zugunsten multinationaler Konzerne setzen. Aktivisten hielten außerdem eine Volksversammlung ab, die soziale Kämpfe mit Umweltprotesten verbinden soll.

8JAPAN Mehrere zehntausend Menschen haben Ende Juni vor dem Büro des Premierministers Yoshihiko Noda gegen die Wiederinbetriebnahme eines Kernkraftwerkes demonstriert. Als Reaktion auf das Unglück von Fukushima waren seit Anfang Mai in Japan alle Atomkraftwerke für eine Sicherheitsüberprüfung vorübergehend ausgeschaltet. Die neuesten Proteste sind der bisherige Höhepunkt der rasant anwachsenden japanischen Anti-Atom-Bewegung.

8AUSTRALIEN Gegen ein geplantes Outsourcing bei Fairfax, einem der größten Medienunternehmen Australiens, haben Ende Mai 800 Mitarbeiter städteübergreifend gestreikt. Trotz der Androhung von Bußgeldern haben auch Journalisten von nicht betroffenen Zeitungen aus Solidarität ihre Arbeit für 36 Stunden niedergelegt. Die Kampagne selber soll auch nach dem Streik weitergeführt werden. Bereits letztes Jahr musste die australische Medienbranche eine Welle von Auslagerungen verkraften.

GROSSBRITANNIEN

AUFSTAND der Ärzte Zum ersten Mal seit 40 Jahren haben Ärzte in England gestreikt. Ende Juni gingen sie in den Ausstand, um sich gegen die schleichende Privatisierung des staatlichen Gesundheitssystems zu wehren und mehr Lohn zu fordern. Auf einer nachfolgenden Konferenz sprach sich die Ärztegewerkschaft BMA für eine Ausweitung des Streiks und gemeinsame Aktionen mit anderen Bereichen des öffentlichen Sektors aus.

Weltweiter Widerstand

»Es steht viel auf dem Spiel«

8NEWS

35


INTERNATIONALES

Freude beim Parteitag der niederländischen Sozialisten: Laut Prognosen könnten sie bei der nächsten Wahl stärkste Kraft werden

Eine neue Hoffnung? Die niederländischen Sozialisten befinden sich derzeit auf einem historischen Höhenflug. Noch ist allerdings unklar, wohin der sie führen wird

I

Von Jeroen Van Der Starre

n den vergangenen Monaten hat die niederländische Sozialistische Partei (SP) in den Umfragen bemerkenswert zugelegt. Nach einigen Prognosen könnte sie bei den kommenden Wahlen rund 20 Prozent der Stimmen erhalten und somit zur stärksten Partei im Parlament aufsteigen. Die Rechte hat bereits mit heftigen Angriffen auf die Sozialisten reagiert und deren »unrealistische« Politik gegeißelt. Die SP hat dar-

36

aufhin versucht, die Bevölkerung von ihrem »Realismus« und ihrer Bereitschaft zur Übernahme von »Verantwortung« zu überzeugen, anstatt die gescheiterte Sparpolitik der Rechten anzugreifen. Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Führung ihren langen Marsch in die politische Mitte mit erhöhtem Tempo fortsetzen wird. Und das gerade in dem Moment, da ein Teil der Wählerschaft deutlich nach links rückt.


dung des Sparpakets beschwerten sie sich darüber, dass sie an den Verhandlungen nicht teilnehmen durften. Das ist einer der Gründe dafür, dass sie nicht von der linken Stimmung in der Gesellschaft profitieren. Inzwischen gibt es eine scharfe Polarisierung: Bei den bevorstehenden Wahlen deutet alles auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der VVD und der SP hin, also zwischen harten Neoliberalen und ihren schärfsten Gegnern. Die SP wird zu Recht als einzige glaubwürdige Alternative zum Neoliberalismus angesehen, da alle anderen Parteien für den freien Markt eintreten. Doch ihre Politik ist nicht ohne Widersprüche. Das Programm der SP zielt darauf ab, den Gesundheitsbereich »marktfrei« zu machen, die Steuern auf höhere Einkommen und auf Eigentum anzuheben, in Bildung zu investieren und den Zugang zum öffentlichen Verkehrswesen zu verbessern. Sie tritt für einen starken öffentlichen Sektor und gegen die neoliberale Sparpolitik ein. Aber in der Parteiführung herrscht die Überzeugung, über die Beteiligung an einer Regierung sei wirklicher politischer Wandel möglich. Deshalb bemühen sich die Sozialisten darum, die anderen Parteien von ihrer Regierungs- und Kompromissbereitschaft zu überzeugen. In den vergangenen fünf Jahren hat die SP einige ihrer grundsätzlicheren Forderungen fallengelassen: Sie tritt nicht mehr gegen die NATO und die Monarchie auf und erklärte, die Erhöhung des Renteneintrittsalters sei verhandelbar. So hat sie Kompromisse angeboten, ehe überhaupt Verhandlungen in Aussicht standen. Der Parteivorsitzende Emile Roemer, der in den Jahren 2002 bis 2006 an einer lokalen Regierung mit der VVD beteiligt war, hat sich zudem bereit erklärt, eine Koalition mit jeder Partei außer mit der rechtspopulistischen PVV einzugehen. Die ausdrückliche Bereitschaft, sich dem übrigen politischen Spektrum anzupassen, ist sowohl Folge der übergeordneten Logik des reinen Parlamentarismus als auch der traumatischen Erfahrungen mit Koalitionsverhandlungen in der Vergangenheit. Bei der Wahl im Jahr 2006 konnte die SP die Zahl ihrer Abgeordneten von neun auf 25 Sitze erhöhen. Ihr waren die Antikriegsstimmung des Jahres 2003 und die großen Gewerkschaftsdemonstratio-

INTERNATIONALES

© SP / flickr.com / CC BY-NC-SA

Die SP wird zu Recht als einzige glaubwürdige Alternative zum Neoliberalismus angesehen. Doch ihre Politik ist nicht ohne Widersprüche

Die Gründe für den Erfolg der niederländischen Linkspartei sind leicht auszumachen. In den vergangenen zwei Jahren wurde das Land von Mark Rutte regiert, der eine Minderheitsregierung aus Christdemokraten (CDA) und seiner konsequent neoliberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) anführt, unterstützt von Geert Wilders’ Freiheitspartei (PVV). Seitdem lautete die Parole: Sparen. In weniger als zwei Jahren hat die Koalition eine weitere »Mission« nach Afghanistan entsandt, zugleich aber Milliarden im öffentlichen Gesundheitsbereich gekürzt und die besondere Förderung für Kinder mit geistiger Behinderung gestrichen. Zudem hat sie fast alle Subventionszahlungen für Kultur eingestellt, die für sie nicht mehr als ein »linkes Hobby« ist. Zudem erhöhte die Regierung das Renteneintrittsalter mit Unterstützung der Sozialdemokraten (PvdA) und der Grünen auf 67 Jahre. Als im letzten Winter festgestellt wurde, dass zur Einhaltung der europäischen Haushaltsvorschriften weitere Sparmaßnahmen notwendig würden, musste in der Koalition neu verhandelt werden. Nach sieben Wochen zerfiel die Regierung, weil Wilders, der wegen seiner Unterstützung für die Sparkoalition zunehmend Anhänger verlor, nicht mehr mitmachen wollte. Für wenige Tage atmete das Land auf. Doch dann trat die liberale Opposition aus Grünen, Liberaldemokraten und einer kleinen christlich-fundamentalistischen Partei an Wilders’ Stelle und rettete die Regierung, indem sie ein neues Sparpaket zusammenstellte. Damit das Haushaltsdefizit drei Prozent nicht überschreitet, wurde vereinbart, das Renteneintrittsalter schneller zu erhöhen und die Mehrwertsteuer sowie die Beteiligung an den Gesundheitskosten anzuheben. Zudem schränkte die Koalition den Kündigungsschutz erheblich ein und schaffte den sozialen Wohnungsbau ab. Sie kritisierte die Linke dafür, dass sie dem nicht zustimmen wollte und sich weigerte, »Verantwortung zu übernehmen«. Die Einschnitte waren zudem begleitet von neuen neoliberalen »Reformen« zur weiteren Flexibilisierung der Arbeit und des Wohnungssektors. Weite Teile der Bevölkerung waren gegen diese Maßnahmen. Die SP wurde für ihre konsequente Gegnerschaft zu der neoliberalen Politik und für die Betonung sozialer Alternativen belohnt. Ganz anders die Sozialdemokraten: Nach Verabschie-

37


nen im Herbst 2004 zugute gekommen. Nach den Wahlen nahm die Partei Gespräche über eine Regierungsbeteiligung auf, wurde jedoch von den Sozialdemokraten und Christdemokraten aus der Koalition rausgehalten. Die Enttäuschung über die Nichteinbindung in die Regierung und ein Abflauen der sozialen Proteste führten zu einem scharfen Einbruch bei den Gemeinderatswahlen im Jahr 2010, als die SP nur noch vier Prozent der Stimmen erhielt. Und auch wenn die Verluste bei den folgenden Parlamentswahlen geringer ausfielen – die SP rutschte auf 15 Sitze ab – stellt für die Parteiführung der gescheiterte Versuch, Regierungsverantwortung zu übernehmen, eine offene Wunde dar. Dass die jetzigen Umfrageergebnisse in der Partei neue Hoffnungen auf Regierungsbeteiligung und sogar Übernahme des Ministerpräsidentenamts geweckt haben, ist daher keine Überraschung. Aber der Abstand zwischen der SP und dem übrigen politischen Spektrum ist weiterhin sehr groß. Das Haushaltsdefizit und die sich verschlechternde Wirtschaftslage haben die Vertreter der freien Marktwirtschaft unter den Parteien weiter nach rechts gedrückt. Die Grünen, die in den 1990er Jahren aus der alten Kommunistischen Partei und anderen radikal-linken Gruppen hervorgegangen waren, sind das beste Beispiel dafür. Die Partei steht jetzt fest rechts von der Sozialdemokratie, nachdem sie den abschüssigen Grund des »Realismus« und »Sozialliberalismus« betreten hatte. Das macht den Eintritt der SP in eine Koalition noch unwahrscheinlicher als im Jahr 2006. Die Parteiführung ist sich der großen politischen Unterschiede zu den anderen Parteien bewusst und scheut deshalb keine Mühen, ihren »Realismus« und ihre Zuverlässigkeit zu betonen. Die Frage lautet nicht mehr, wie an die Stelle des kapitalistischen Modells etwas Besseres treten kann, sondern wie sich die kapitalistische Wirtschaft retten lässt. Hierbei hat die Wirtschaftskrise die Wende der SP von sozialistischen zu neokeynesianischen Positionen befördert. Diese Wendung heißt auch, dass der Prüfstein linker Politik nicht mehr soziale Gerechtigkeit ist, sondern die Wirtschaft. Exemplarisch hierfür ist auch die Haltung der SP zur EU. Die Partei gibt sich nach wie vor »euroskeptisch«, aber stellt

38

sich nicht mehr grundsätzlich gegen die EU. Der Europaabgeordnete Dennis de Jong betont sogar die konstruktive Haltung seiner Fraktion im Gegensatz zu Wilders’ Freiheitspartei. Während Wilders

steht die Gefahr, dass die Stärken der SP im Zuge einer Regierungsbeteiligung in den Hintergrund rücken. Wie die Entwicklungen überall in Europa zeigen, ist Regierungskontrolle keine Garantie für echten

Zur Umsetzung linker Alternativen zur Sparpolitik ist mehr nötig als nur ein Wahlerfolg

seit kurzem das »Europa der Banken« angreift, schweigt Roemer zur Bankenmacht und kritisiert stattdessen die EU, weil sie in die nationalstaatliche Souveränität der Niederlande eingreife. Substantielle Kritik am europäischen Projekt ist zwar noch vorhanden, aber hier zeigt sich schon der Unwille, eine klassenkämpferische Perspektive zu vertreten. Lieber passt man sich den Stimmungen an als sie zu prägen. Aus demselben Grund nimmt die SP auch eine widersprüchliche Haltung zur islamfeindlichen und rassistischen Politik von Wilders ein. Zwar kritisiert sie dessen Angriffe auf Muslime. Aber von Zeit zu Zeit hat sie auch betont, als erste »das Problem« des Multikulturalismus »erkannt« zu haben. Dabei bezieht sie sich auf einen Text aus den 1980er Jahren, in dem sie dafür eintrat, Arbeitsmigranten auf mehr Wohnorte zu verteilen, um den Einfluss ihrer »rückständigen« Ideologien abzufedern. Das problematische Verhältnis der SP zu nationalistischen Stimmungen ist das Ergebnis eines Zusammentreffens der Eigendynamik parlamentarischer Orientierung mit sehr viel älteren Aspekten der Parteipolitik. Obwohl die SP offiziell mit ihrem kommunistischen Erbe gebrochen hat, haben sich einige ihrer alten Positionen – insbesondere der maoistische Imperativ, »dem Volke zu dienen« – mit denen des neuen Projekts vermischt, sozialen Wandels durch das Parlament zu erzielen. Trotz all ihrer Schwächen hat die SP es geschafft, eine konsequente Kritik am Neoliberalismus in die niederländische Politik einzuführen und den Menschen zu zeigen, dass es Alternativen zu der zynischen Unterwürfigkeit vor Marktkräften gibt. Dafür verdient die Partei die kritische Unterstützung der radikalen Linken. Jedoch be-

Wandel. Europäische Politik wird immer mehr von den Interessen der großen Konzerne und der Finanzmärkte diktiert. Wenn Regierungen sich nicht bereitwillig beugen, werden sie wie die irische erpresst und eingeschüchtert, oder die Demokratie wird ausgehebelt wie in Griechenland. Das heißt, dass zur Umsetzung linker Alternativen zur Sparpolitik mehr nötig ist als nur Wahlerfolge. Der Druck von oben erfordert eine Kraft von unten, die nur aus den sozialen Bewegungen und der Gewerkschaftsbewegung kommen kann. Unglücklicherweise hat die Konzentration der SP auf die kommenden Wahlen ihre Bereitschaft gemindert, diese Bewegungen zu stärken, obwohl viele ihrer Mitglieder und Anhänger aktive Gewerkschafter sind. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass sich das in Zukunft ändert. Etwa zeitgleich mit den Wahlen im September wird ein neues Spar- und Flexibilisierungspaket verabschiedet werden, gegen das sich vermutlich Widerstand formieren wird. Mit einem Wahlerfolg der Linken und einem neuen Kampf gegen die Sparmaßnahmen besteht die Möglichkeit, die politischen Kräfteverhältnisse in den Niederlanden erheblich zu verändern. Die gegenseitige Befruchtung von Widerstand und linken politischen Forderungen könnte der Anfang für die Entstehung einer echten neuen Linken sein. ★ ★★ Jeroen van der Starre studiert Philosophie in Rotterdam und ist Mitglied der Gruppe Internationale Socialisten.


INTERNATIONALES

ANZEIGEN

39


INTERNATIONALES

Ein Armutszeugnis Seit Jahrzehnten schottet sich die Europäische Union gegen Flüchtlinge ab. Dabei hat sie das Elend der Menschen selbst verursacht Von Carolin Hasenpusch

E

s wird aufgerüstet in der Europäischen Union, und zwar gegen Flüchtlinge. Die letzte Entscheidung in dieser Richtung haben die Innenminister der EU-Staaten am 6. Juni getroffen. Demnach dürfen die einzelnen Regierungen weiter nach eigenem Ermessen über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen entscheiden. Zudem soll ein »Notfallmechanismus« eingeführt werden, wonach einzelne Mitgliedstaaten als »letzten Ausweg« ihre Grenzen schließen können, falls ein anderer EU-Staat die Kontrolle seiner Außengrenzen dauerhaft vernachlässigt. Diese Grenzschließung soll bis zu zwei Jahre lang möglich sein. Mit diesem Beschluss setzt die EU konsequent

40

jene strikte Asylpolitik fort, die sie schon seit mehr als zwanzig Jahren betreibt. Beinahe wöchentlich zeigen Fernsehstationen Bilder von überfüllten Booten mit Flüchtlingen, die versuchen, die europäische Küste zu erreichen. Diejenigen, denen es gelingt, werden meist unter katastrophalen Bedingungen in Auffanglagern untergebracht. Nach Angaben der taz kamen im vergangenen Jahr allein aus Tunesien 21.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa. Die Zahl derjenigen, die im vergangenen Jahr die griechisch-türkische Grenze passierten, wird auf 150.000 geschätzt. Die EU-Staaten diskutieren viel darüber, wie sie sich vor diesen Flüchtlingsströmen


INTERNATIONALES

Zum Zweiten hat die EU, allen voran Deutschland, in den letzten Jahren massiv Rüstungsgüter nach Nordafrika exportiert. Laut Amnesty International hat allein Deutschland in den Jahren 2005 bis 2009 Waffenexporte im Wert von 77 Millionen Euro in die Region genehmigt, darunter für Militärfahrzeuge, Munition und Kleinwaffen. Doch auch andere EUStaaten wie Belgien, Bulgarien, Frankreich, Italien, Österreich und Tschechien haben regelmäßig Waffen in die nordafrikanischen Staaten geliefert, obgleich »schon damals ein erhebliches Risiko bestand, dass mit diesen Waffen Menschenrechtsverletzungen begangen werden«, wie ein Sprecher der Menschenrechtsorganisation betont.

© UN Photo / OCHA / David Ohana / CC BY-NC-ND

»schützen« können. Dass sie Mitschuld am Elend dieser Menschen tragen, versuchen sie hingegen zu verschleiern. Vor allem auf drei Sektoren beeinflusst die Europäische Union die strukturellen Gegebenheiten in (Nord-)Afrika und im arabischen Raum. So hat sie zum einen in den 1990er Jahren zusammen mit dem IWF und der Weltbank die Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik in Ägypten und Tunesien vorangetrieben. Die neoliberalen Umstrukturierungen des Wirtschaftssektors in beiden Ländern haben entscheidend zu wachsender Armut, hoher Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, und zu steigenden Preisen beigetragen.

41


ten: Einerseits stellt sie dem Kontinent die größte Summe an Entwicklungshilfe bereit, andererseits ist sie sein größter Exportmarkt. Jährlich führt Afrika mehr als 80 Prozent seiner Gemüse-, Obst- und Baumwollprodukte in europäisches Gebiet aus. Gleichzeitig wirkt die EU durch die Subventionierung der eigenen Landwirtschaft direkt auf die Weltmarktpreise ein. Als Konsequenz entsteht eine direkte, aber ungleiche Konkurrenz zwischen den afrikanischen und den europäischen Produkten. Dadurch werden einheimische Produkte in den Erzeugerländern oftmals viel teurer verkauft als die aus Europa importierten. Dies wiederum steigert die afrikanische Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten. Laut der UN-Welternährungsorganisation FAO sind seit den 1980er Jahren die Lebensmittelimporte in die Entwicklungsländer um 60 Prozent gestiegen. Mittlerweile sind 75 Prozent der afrikanischen Staaten von der Einfuhr von Nahrungsmitteln abhängig. Perspektivisch gesehen bedroht diese Entwicklung die Existenzgrundlage lokaler Landwirte und verhindert das Wachstum afrikanischer Volkswirtschaften, da 37 der 52 Staaten Afrikas reine Agrarnationen sind. Angesichts dieser Misere ist es wenig verwunderlich, dass hunderttausende Afrikaner jährlich ihre Heimatländer verlassen.

Der dritte Bereich, in dem die EU auf Nordafrika einwirkt, ist der der Nahrungsmittelpreise. Laut Weltbank haben sich seit 2005 die Preise für Lebensmittel um 80 Prozent erhöht, betroffen sind vor allem die Grundnahrungsmittel Reis und Weizen. Von den weltweit 36 Ländern, die gegenwärtig eine unmittelbare Nahrungsmittelkrise erleben, befinden sich 21 in Afrika. Neben klimatischen Gegebenheiten und wachsenden Bevölkerungszahlen hat gerade die Zunahme von Nahrungsmittelspekulationen und Wasserprivatisierungen erheblich dazu beigetragen. Die EU schadet Afrika und seiner Landwirtschaft vor allem durch ihre Agrarsubventionen. Sie ist der bedeutendste Handelspartner der afrikanischen Staa-

© Noborder Network / flickr.com / CC BY-SA

© Noborder Network / flickr.com / CC BY-SA

Anstatt Verantwortung zu übernehmen, verschärft die EU ihre Asylpolitik

Rechts geht’s nach Italien (o.): Nur wenige Kilometer trennen Nordafrika von Europa. Trotzdem gelingt es den Wenigsten, diese kurze Strecke zu überwinden. Für viele ist die Flucht der einzige Ausweg – trotz staatlicher Grenzen (u.)

42

Anstatt Verantwortung für diese Entwicklungen zu übernehmen, forcieren die EU und speziell Deutschland das Gegenteil: Seit Mitte der 1990er Jahre verschärfen sie kontinuierlich ihre Asyl- und Flüchtlingspolitik. Der innereuropäischen Grenzöffnung durch das erste Schengen-Abkommen von 1986 folgten in den 1990er Jahren diverse Regelungen, um die europäischen Außengrenzen dichtzumachen. Statt den Schutz von Flüchtlingen rechtlich zu regeln und sicherzustellen, wurde vielmehr der Schutz vor Flüchtlingen vorangetrieben. Vor allem nach dem 11. September 2001 rückte der Faktor »innere Sicherheit« zunehmend ins Zentrum der europäischen Asylpolitik. Zugleich verschärfte die EU Maßnahmen gegen sogenannte »illegale« Einwanderer. In diesem Kontext lassen sich unter anderem die Dublin II-Verordnung von 2003 sowie die Gründung der EU-Grenzagentur Frontex 2004 nennen. Hauptaufgabe von Frontex ist die Koordination der EU-Außengrenzen und die Ausbildung von Grenzschützern. Ihr Aktionsgebiet liegt vor allem im Mittelmeerraum. Dort versucht Frontex, Flüchtlinge bereits auf dem Meer abzufangen und zurück aufs afrikanische Festland zu schicken. Auf diese Weise verlagert sich die Grenze Europas auf das Mittelmeer. Im April diesen Jahres hat die Europäische Kommission sogar darüber diskutiert, die europäische Außengrenze direkt bis an die Küstengebiete Afrikas zu verschieben. Durch eine Verbesserung der technischen Mittel und des Datentransfers sowie durch den Einsatz von Drohnen sollen Flüchtlinge nun bereits aufge-


halten werden, bevor sie das afrikanische Festland überhaupt verlassen. Der Vorschlag wurde zwar noch nicht durchgesetzt, es wäre aber nur eine logische Konsequenz jener Politik, die Frontex seit Jahren verfolgt. Seit ihrer Gründung hat die Grenzagentur die Sicherung der Grenzen erheblich verschärft. Letztlich zielt sie darauf ab, Migration quasi unmöglich zu machen. Das »Abfangen« von Flüchtlingen durch Polizei oder Militär stellt diesbezüglich nur einen Aspekt dar. Auch bei Sammelabschiebungen tritt Frontex zunehmend in Erscheinung. Ihre Präsenz und ihre Kontrollen auf Flughäfen nehmen ebenfalls zu. Unter der Prämisse, ein »gemeinsames integriertes Risikoanalysemodell« zu erstellen, wächst außerdem der Datentransfer zwischen Frontex, Europol und einzelnen Regierungen. Dieser Austausch soll die EU-Mitgliedstaaten mit ausreichenden Informationen ausstatten, um Einwanderung möglichst zu unterbinden. Letztlich nimmt Frontex eine hybride Gestalt zwischen Grenzpolizei und Geheimdienst ein. Die traurige Bilanz ihrer achtjährigen Existenz: Zigtausende Tote (allein im Jahr 2011 starben laut UNHCR 1500 Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer zu fliehen) sowie unzählige Vermisste.

und Länder von grenzüberschreitender Migration betroffen sind und nur ein geringer Teil der Flüchtlinge überhaupt in die westlichen Industrieländer kommt. Der UNHCR schätzt die Gesamtzahl der internationalen Flüchtlinge und Asylsuchenden auf 43 Millionen. Davon sind 27 Millionen sogenannte »displaced persons«, also Menschen die innerhalb ihres Heimatlandes vertrieben wurden. Gründe hierfür sind zur einen Hälfte Verfolgung und gewaltsame Konflikte und zur anderen Umweltkatastrophen. Wirtschaftliche Flüchtlinge finden in diesen Zahlen noch keine Beachtung. Sorge bezüglich der Flüchtlingsströme ist demnach mehr als angebracht – allerdings nicht um den europäischen Wohlstand, sondern um die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen, die keine andere Lösung sehen, als eine gefährliche Reise ins Ungewisse auf sich zu nehmen. Es ist davon auszugehen, dass die Flüchtlingsströme in den nächsten Jahren noch zunehmen werden. Auch die repressive Politik der EU wird daran nichts ändern. Für die vielen Tausend Menschen, die ihren Weg nach Europa antreten, bedeuten Abschottung und Kriminalisierung nur eins: mehr Gefahr. So stellen laut dem UN Population Fund Menschenhandel und Schlepperbanden weltweit bereits die drittgrößte Branche des organisierten Verbrechens dar. Durch eine weitere Aufrüstung der EUGrenzen wird dieser Sektor nur noch wachsen. Dieser Umstand stellt besonders für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Frauen eine enorme Gefahr dar. Für »illegale« Flüchtlinge, die in Deutschland arbeiten, wird dies zudem mit stärkerem Lohndumping sowie einer allgemeinen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen einhergehen. In den ärmsten Nationen der Welt führen die Flüchtlingsströme zu weiterer Verarmung. Dies kann wiederum fatale Folgen haben, etwa die Stärkung autoritärer Kräfte, das Entstehen von Guerillabewegungen oder die Zunahme von Sezessionsbestrebungen. Auch die Zunahme von ethnischen Konflikten und von Verteilungskämpfen innerhalb der armen Staaten, aber auch zwischen ihnen, ist wahrscheinlich. All das wird weitere Flüchtlingsströme zur Folge haben Die Abschottung der EU sowie die Kriminalisierung und Stigmatisierung der Flüchtlinge kann und darf hierauf keine Antwort sein. Das europäische Privileg der Reisefreiheit bekommt unter diesen Vorzeichen einen mehr als bitteren Beigeschmack. ■

Für die Menschen, die den Weg nach Europa antreten, bedeuten Kriminalisierung und Abschottung nur eins: mehr Gefahr

★ ★★

Carolin Hasenpusch ist Soziologin und Redakteurin von marx21.

INTERNATIONALES

Spitzenreiter in Sachen Abschottung ist Deutschland. Im vergangen Jahr wurden hierzulande 45.741 Asylerstanträge gestellt, was den höchsten Stand seit acht Jahren bedeutet. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg um elf Prozent. Bei den Herkunftsregionen der Asylsuchenenden liegt Afghanistan an erster Stelle, gefolgt von Irak und Serbien – alles Regionen, in denen Deutschland zu Leid und Destabilisierung beigetragen hat. Mögen diese Zahlen auch hoch sein, so müssen sie im Vergleich schnell relativiert werden: Sie liegen zum einen nur minimal über dem Durchschnitt der letzten zehn Jahre und sind noch weit von den Zahlen der 1990er Jahre entfernt. Zum anderen liegt der Flüchtlingsanstieg in Deutschland unter dem weltweiten Durchschnitt. In 44 Industriestaaten gab es laut UNHCR im vergangenen Jahr 441.300 Asylsuchende. Noch höher waren die Zahlen in den sogenannten »Entwicklungsländern«. Zwar nehmen transnationale Migrationen tendenziell zu, aber der Großteil der Flüchtlinge bleibt in ihren Heimatregionen. Allein in Südafrika wurden laut Pro Asyl im vergangenen Jahr 107.000 neue Asylanträge gestellt. Fakt ist, dass gerade ärmere Gebiete

43


BETRIEB & GEWERKSCHAFT

»Unkonventionelle Methoden der Gewinnsteigerung« Ständig belegen neue Studien: Der Niedriglohnsektor explodiert. Mit welchen Methoden Unternehmen dabei vorgehen, zeigt der Fall Maredo. Er illustriert aber auch, dass Belegschaften sich wehren können. Die Chronik eines Arbeitskampfes Von Volkhard Mosler ★ ★★

Volkhard Mosler ist Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN in Frankfurt am Main.

44

S

eit knapp einem halben Jahr ringen zwei Dutzend ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Frankfurter Filiale der Steakhaus-Kette Maredo um ihre Wiedereinstellung. Sie waren am 26. November 2011 vor die Wahl einer fristlosen Kündigung oder einer Eigenkündigung gestellt worden. Von den 32 Mitarbeitern hatte sich gut ein Drittel unter enormem psychischen Druck dazu entschlossen, selbst zu kündigen. Die durchschnittliche Dienstzeit lag bei 12 bis 15 Jahren, die Mehrheit der Belegschaft war schon bei Maredo beschäftigt, bevor die Kette im Jahr 2005 von dem Unternehmen Equity Capital Management (ECM) gekauft wurde.

sich zahlreiche weitere Konflikte im wachsenden Niedriglohnbereich ab. Andererseits stellt der Konflikt auch eine Ausnahme dar: Seit einem halben Jahr kämpfen die Entlassenen nun schon um ihre Wiedereinstellung. Die beeindruckende Bilanz sichtbaren Widerstands umfasst 19 Kundgebungen vor der Frankfurter Filiale von Maredo, zwei Demonstrationen, 2500 Solidaritätsunterschriften, zwei bundesweite Aktionstage mit Aktionen vor Maredo in anderen Städten und zahlreiche öffentliche Auftritte vom 1. Mai bis zu Blockupy. Aktive Unterstützung von der Gewerkschaft NGG und von Mitgliedern der Frankfurter LINKEN war dabei entscheidend.

Die Geschäftsleitung wirft den Mitarbeitern vor, sie hätten innerhalb von drei Monaten über 1800 Straftaten begangen und in einem Jahr Waren im Wert von 60.000 Euro gestohlen. Tatsächlich sitzen die Verbrecher in den Chefetagen von Maredo und ECM selbst. Denn das Ziel der ganzen, von langer Hand vorbereiteten Operation »Haltet den Dieb« ist der Rauswurf des Betriebsrates und damit auch die Zerstörung der gewerkschaftlichen Organisation, die bei 80 Prozent der Belegschaft lag. Der Arbeitskampf mit ungleichen Waffen – Maredo beschäftigt mehrere Anwälte, die auf Kündigungen von Betriebsräten spezialisiert sind – hat exemplarische Bedeutung, denn es zeichnen

Schon jetzt hat sich dieser Kampf gelohnt. Viele Menschen wurden auf die entwürdigenden Arbeits- und Lohnverhältnisse im Hotel- und Gaststättengewerbe aufmerksam gemacht. In der Zähigkeit dieses Arbeitskampfes zeigt sich außerdem die berechtigte Wut der gefeuerten Beschäftigten über das, was sie den »Überfall« nennen. Am 26. November 2011 rückte ein gutes Dutzend Männer und Frauen aus der Geschäftsleitung von Maredo nach einem fingierten Stromausfall in die abgedunkelte Filiale ein. Mit dabei war ein Tross von Anwälten, Bodyguards und Wachleuten, die sicherstellten, dass niemand das Lokal verlassen konnte.

Ein Tross von Anwälten, Bodyguards und Wachleuten, stellte sicher, dass keiner der Beschäftigten das Lokal verlassen konnte


handelt. Keine einzige Abmahnung wurde ausgesprochen.Von Beginn an war das Ziel klar: Die ganze Belegschaft muss gehen, nur so kann man auch den Betriebsrat loswerden. Diese extreme Linie ist kein Ausreißer eines autoritären Geschäftsleiters. Sie gehört zum Geschäftsmodell der ECM. Mitte der 1990er Jahre gründeten »institutionelle Anleger« (Banken) die ECM mit dem Ziel, mittelständische Betriebe mit 100 bis 2000 Beschäftigten verschiedenster Branchen aufzukaufen. Insgesamt gingen 19 Unternehmen durch die Finger von ECM, darunter Eismann, die Bäckereikette Kamps und die Windenergiefirma Vestas. Nach einer sogenannten »Investitionszeit« von drei bis sieben Jahren sollten die dann gewinnbringend weiterverkauft werden – nach diesem Modell wäre Maredo nun bereit zum Verkauf. Nach der Übernahme von Maredo berichtete der Chef von ECM, Richard Gritsch, im Jahr 2008, dass durch »unkonventionelle Methoden« der Gewinnsteigerung der Umsatz bei gleich vielen Beschäftigten jährlich um über fünf Prozent angewachsen sei, der Gewinn dabei aber »deutlich stärker zugelegt hat«. Diese Anfangserfolge sind in der Rezession 2008/2009 ins Stocken geraten. © David Paenson

Der Überfall war von langer Hand vorbereitet. Die Betriebsräte der Frankfurter Filiale sowie eine Betriebsrätin in Osnabrück waren den Maredo-Bossen schon lange ein Dorn im Auge, denn die Betriebsräte bildeten zugleich den Kern einer Tarifkommission der NGG. Seit Jahren gab es Mobbing der verschiedensten Art gegen die Betriebsräte. In Osnabrück drohte die Geschäftsleitung indirekt mit der Schließung des Betriebes, falls die Kollegen sich nicht von ihrer Betriebsrätin distanzierten. Die Geschäftsführerin des ArbeitgeIn Frankfurt waren alle Versuche geberverbandes DEHOGA, Sandra Warscheitert, den langjährigen Betriebsden, hat die Linie vorgegeben: »Beratsvorsitzenden loszuwerden. triebsräten, die nur Konflikt suchen, Also entschied sich die Geschäftsleisollte man keine Chance geben.« tung Ende 2010 für eine neue Taktik. Und schon der frühere Chef der MaEin dreiviertel Jahr lang sammelte sie redo-Gruppe, Klaus Schwan, sagte Material gegen alle gewerkschaftlich offen: »Ein guter Führungsmann als organisierten Kolleginnen und KolBetriebsleiter sollte Betriebsräte verlegen. Dazu wurde eigens ein perhindern.« In der Praxis bedeutet das: sönlicher Freund des Betriebsleiters Betriebsräte sind nur dann zu dulden, eingestellt, der vier Monate später wenn sie unter Kontrolle des Betriebsauch prompt »lieferte«. Er bezichtigleiters stehen. In den 56 Filialen von te fast die gesamte Belegschaft des Maredo in Deutschland gibt es noch laufenden Diebstahls. sieben Betriebsräte aus früheren ZeiDas war der Vorwand für den BeMitglieder der LINKEN (u.) besuchen die kämpfende Maredo-Belegschaft in Frankfurt (o.). Die Kolleginnen ten, zwei davon sollen gerade abgetriebsleiter, unter Umgehung des und Kollegen haben viel Solidarität erfahren schossen werden. Mitbestimmungsrechts des BetriebsTrotzdem sind die hochfliegenden rates verdeckte Ermittler und verPläne von ECM/Maredo bislang nicht steckte Videokameras einzusetzen. aufgegangen. Immer mal wieder künNach neun Monaten glaubte man, digte der Geschäftsführer der Maregenug Beweismaterial zu haben, und do-Kette, Uwe Büscher, an, man wolging in die Offensive. Seit Anfang Mai le auf 100 Filialen in Deutschland aufstocken und in diesen Jahres wird vor dem Frankfurter Arbeitsgericht Österreich 15 Filialen eröffnen. Doch die Vorgaben nun über Baguette, Steaks, ungewaschene Hände, ein der Heuschrecke ECM für Unternehmen in ihrem BeGlas Bier kurz vor Dienstschluss und ähnliches ver-

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Zwei Stunden lang setzte dieses Überfallkommando nahezu die gesamte Belegschaft fest, auch Telefonieren war verboten. Dann wurden die Beschäftigten einzeln zu sogenannten »Anhörungen« vorgeladen. Dem dreiköpfigen Betriebsrat hatte man zuvor Hausverbot erteilt, um seine Anwesenheit bei den Verhören zu verhindern. In den Anhörungen setzte die Geschäftsleitung die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter massiv unter Druck. Sie beschuldigte die Beschäftigten des schweren Diebstahls und bedrohte alle, die nicht »freiwillig« kündigten, mit fristloser Entlassung und Strafprozessen und stellten sogar Hausdurchsuchungen in Aussicht. Die Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen widerstand jedoch dem Psychoterror und verweigerte die Eigenkündigung.

45


sitz erschweren eine solche Expansion. Danach darf der erhöhte Kapitalbedarf für ein weiteres Wachstum von Maredo »nicht allein über das Fremdkapital« beschafft werden. Das Maredo-Management muss also eigene Mittel aufbringen, um neue Filialen zu eröffnen. Als Ansporn hat Maredo eine Gewinnbeteiligung der Manager bis hin zur untersten Ebene der Betriebsleiter eingeführt. Das Ergebnis ist die »Verschlankung« um fast 200 Mitarbeiter (von 1900 auf 1700) bei einer gleichzeitigen Umsatzsteigerung um 10 Prozent. Zugleich wurden die Gehälter der Belegschaften gesenkt. Mit der Zeit wurden alle unbefristeten »Altverträge« aufgelöst und durch befristete Verträge ersetzt. Das hat für die Kapitalseite zwei Vorteile. Belegschaften mit befristeten Verträgen sind erpressbarer bei Lohn und Arbeitsleistung, weil sie jederzeit gekündigt werden können. Sind die Beschäftigten nur kurze Zeit im Betrieb, knüpfen sie keine sozialen Beziehungen untereinander und damit sinkt die Gefahr der Bildung von Betriebsräten. Zudem wird durch die neuen Verträge der Bruttostundenlohn auf 7,50 Euro gesenkt. Die wenigen aktiven Betriebsräte stellten sich diesen »unkonventionellen Methoden« der Gewinnsteigerung des Herrn Gritsch in den Weg, deshalb beschloss das Management, sie zu beseitigen.

Maredo ist nur ein Fall von vielen. Immer häufiger werden Betriebsräte und aktive Gewerkschafter heimlich mit Videokameras überwacht und dann wegen angeblicher Verstöße, etwa dem Verzehr von etwas Brotaufstrich, fristlos gekündigt. Neue Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass der Niedriglohnsektor sich auch im Konjunkturaufschwung seit dem Jahr 2009 ungebrochen weiter ausgedehnt hat. Dabei bedienen sich die Unternehmen immer neuer Varianten der prekären Beschäftigung. Im Jahr 2010 verdienten 7,9 Millionen oder 23,1 Prozent der Beschäftigten einen Bruttostundenlohn von weniger als 9,15 Euro, davon erhielten 1,4 Millionen sogar weniger als fünf Euro pro Stunde. Der Durchschnittslohn im Niedriglohnsektor lag 2010 bei 6,68 Euro brutto pro Stunde im Westen und bei 6,52 Euro im Osten. Etwa zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen, viele davon Migrantinnen. Bei der Durchsetzung von Niedriglöhnen spielt der Rückbau des Kündigungsschutzes eine zentrale Rolle. Waren Anfang des Jahres 2010 noch 27 Prozent aller Beschäftigen in der rasch wachsenden Branche der Systemgastronomie weniger als 12 Monate dort beschäftigt, so stieg der Anteil bis zum Jahr 2012 auf 30 Prozent. Die Unternehmer stellen dabei den Zusammenhang bewusst falsch dar, wenn sie behaupten, dass es deshalb so wenig Betriebsräte in der Systemgastronomie gebe, weil die Fluktuation der Belegschaften so hoch sei. Dabei ist es umgekehrt: Die Fluktuation ist deshalb so hoch, weil es keine Betriebsräte gibt. Auch das zeigt das Beispiel Maredo.

Die Unternehmen setzen auf immer neue Varianten prekärer Beschäftigung

Protestaktion gegen Maredo. Der Frankfurter Jazzmusiker und Saxophonist Heinz Sauer ist solidarisch mit den Kolleginnen und Kollegen. Als Stammkunde kennt er viele von ihnen persönlich. In der Steakhauskette will er erst wieder essen gehen, wenn alle Kündigungen zurückgenommen worden sind. Die Geschäftsführung ist langsam genervt vom Widerstand

46

Deshalb ist die Forderung nach Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns jetzt von so großer Bedeutung. Leider hat sich trotz der Popularität der Forderung bisher wenig bewegt. Es ist Aufgabe der LINKEN, ihre Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn voranzutreiben und mit Leben zu füllen. Das heißt konkret, die Forderung mit Aktionen und Kampagnen gegen Unternehmen zu verbinden, die sich solcher Methoden des Lohndumpings wie Maredo bedienen. Ein gutes Programm reicht nicht aus. Die Erfahrung zeigt, dass Gewerkschaften wie die NGG zur Zusammenarbeit bereit sind, sobald aktiver Widerstand der Lohnabhängigen sichtbar wird. ■


© Semisara / flickr.com / CC BY-NC-ND

Die ersten, die ihrem Zorn über die Kürzungspolitik der britischen Regierung Luft machten, waren die Studierenden

Megastreik gegen Minirenten Über Großbritannien rollte vergangenes Jahr die größte Streikwelle seit 1926. Der Gewerkschaftsaktivist Sean Vernell war dabei und berichtet, wie es dazu kam und welche Rolle die Linke in den Protesten spielte

S

ean, am 30. November vergangenen Jahres traten 2,5 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in den Ausstand. Wie ist es dazu gekommen? Ich denke, der Hauptanlass waren natürlich die Krise und die Attacken der Regierung. Im Oktober 2010 präsentierte die britische Regierung das schlimmste Kürzungspaket seit 1922. Im öffentlichen Sektor sollten 25 Prozent gespart werden. Seit dem Jahr 1979 haben die Briten Privatisierungen, Kürzungen und Angriffe auf ihren Lebensstandard hinnehmen müssen. Es ist der Versuch, den gesamten Nachkriegskompromiss zu untergraben, die vollständige Abschaffung des Wohlfahrtstaates. Jede Regierung – ob Margaret Thatcher, Tony Blair oder Gordon Brown – spielt die gleiche Rolle. Und die jetzi-

Sean Vernell

Sean Vernell ist Vorstandsmitglied der britischen Gewerkschaft University and College Union (UCU).

ge Regierung führt die Kürzungen auf die nächste Stufe. Das war die Ausgangssituation, und tatsächlich brauchte es eine ganze Zeit, bis eine Antwort darauf kam. Die erste Reaktion war die Studierendenbewegung. Im November 2010 riefen die Studierenden zu einer Demonstration gegen zwei zentrale Angriffe auf. Einerseits wurde die Deckelung der Studiengebühren aufgehoben, woraufhin diese von 3000 Pfund im Jahr auf durchschnittlich 9000 Pfund anstiegen. Zweitens wurde die »Education Maintenance Allowance« (EMA), ein Programm zur finanziellen Unterstützung der weiterführenden Bildung von 16- bis 19-Jährigen, komplett gestrichen. Die »National Union of Students« (NUS) und meine Gewerkschaft, die »Universi-

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

INTERVIEW: MARTIN HALLER

47


ty and College Union« (UCU) riefen zum Streik auf und 52.000 junge Leute und Lehrende gingen gemeinsam auf die Straße. Es war eine großartige Demonstration. Am Ende wurde die Tory-Parteizentrale verwüstet. Es war ziemlich bizarr, als die Demonstration an der Parteizentrale vorbeizog. Keinerlei Polizei war vor Ort, also rannten die Studenten einfach in das Gebäude. Das kam in die Presse und wurde zu einem großen Thema. Leider hatte dieser Protest, so brillant er auch war, keinen Erfolg. Die EMA wurde abgeschafft, die Gebühren durchgedrückt. Aber der Konsens innerhalb der britischen Gesellschaft, dass Kürzungen unausweichlich seien, geriet ins Wanken. Bis dahin waren alle davon überzeugt, dass Haushaltsdisziplin und Sparen der einzige Ausweg sei. Die Proteste der Studierenden zeigten ihnen, dass man sich nicht mit den Angriffen abfinden muss.

A

ber wie ist es euch gelungen, eure Gewerkschaft hinter diese radikalen Proteste zu stellen? Hat es nicht große Bedenken und Widerstand insbesondere innerhalb der Führung gegeben? Der entscheidende Faktor war sicherlich, dass wir Linken auch einen gewissen Einfluss innerhalb der UCU haben. Wir konnten Druck machen, eine Demonstration gegen die Gebührenerhöhungen und gegen die Kürzungen im Bildungsbereich auszurufen. Und es war auch eine ganz normale Demo, niemand hatte ein Problem damit, alles war wie immer, keine große Sache. Man konnte ja nicht ahnen, dass es in einen Aufruhr münden würde. Aber dann begann die Führung die Proteste öffentlich zu attackieren. Der Vorsitzende der NUS bezeichnete sie als »verabscheuungswürdig«. Dafür wurde er allerdings auf einer Versammlung von den Studierenden davongejagt. Er hatte nicht mit der Radikalisierung der Bewegung Schritt gehalten. Von da an wusste er, dass seine Tage im Amt gezählt waren, und inoffizielle Netzwerke begannen, die Proteste zu organisieren.

A

ber Studierendenproteste führen doch nicht zum Massenstreik. Wie gelang es die Bewegung auszuweiten? Immer mehr Gewerkschafter entschlossen sich, inspiriert durch den Widerstand der Studierenden, zu entschiedeneren Protestmaßnahmen. Das war auch eine Folge der massiven Polizeigewalt. Junge

48

Leute wurden von der Polizei eingekesselt und mit Schlagstöcken attackiert. So etwas hatte es in Großbritannien lange nicht mehr gegeben. Daraufhin schlossen sich mehr und mehr Gewerkschaftsaktivisten der Bewegung an. Es waren ihre Töchter und Söhne, die von der Polizei verprügelt wurden. Die nächste Stufe wurde dann im März 2011 mit der ersten großen Streikwelle gegen die massiven Rentenkürzungen im öf-

Ein Aktionstag reicht nicht aus, es muss weitergehen bis zur Eskalation

fentlichen Dienst erreicht. Im Juni folgte die zweite. Doch die Frage war, wie wir die großen Gewerkschaften an Bord bekommen. Natürlich rief deren Führung ihre Mitglieder nicht dazu auf, die Arbeit niederzulegen. Aber der Druck von der Basis war enorm. Die Arbeiter fragten sich, warum andere auf die Straße gingen, während sie weiter arbeiten sollten. Und dieser Druck führte schließlich dazu, dass auch die großen Gewerkschaften sich gezwungen sahen, zum Ausstand aufzurufen. So kam der große Streik am 30. November zustande, an dem sich 29 Gewerkschaften und 2,5 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Sektors beteiligten, um ihre Rentenansprüche zu verteidigen. Auf den Straßen demonstrierten 800.000 Menschen.

A

ber die Rentenkürzungen konnten trotzdem nicht verhindert werden. Ja, wenn der 30. November der Höhepunkt war, dann war der 19. Dezember der Tiefpunkt. Es war jener Tag, an dem sich die

Spitzen der großen Gewerkschaften mit der Regierung trafen und die Rentenkürzungen akzeptierten. Eine absolute Enttäuschung für die Beschäftigten. Sie hatten erwartet, dass dies nur der erste von vielen Streiks sein würde. Ein Aktionstag reicht eben nicht aus, es muss weitergehen bis zur Eskalation. Der 30. November war weit mehr als etwas Dampf abzulassen, weit mehr als ein gewöhnlicher Protest. Aber an den Spitzen der großen Gewerkschaften sitzen Pessimisten. Sie glauben nicht daran, dass die Leute kämpfen werden. Sie akzeptieren die Logik der Regierung, nach der aufgrund der Haushaltslage Einschnitte unausweichlich sind. Ihr Kampf gilt nicht den Rentenkürzungen an sich, sie wollen sie nur abmildern und langsamer umsetzen. Der 30. November hatte sie zu Tode erschreckt. Die Arbeiterklasse ist wie ein Flaschengeist. Und an diesem Tag kam der Geist aus der Flasche, wie wir ihn seit dreißig, vierzig Jahren nicht mehr erlebt hatten. Wir haben das gesehen und fanden es fantastisch. Millionen von Arbeitern auf der Straße: Genau das ist es, was wir wollen. Sie aber sahen das und sagten sich: Oh mein Gott, was haben wir getan? Und sie versuchten den Geist wieder in die Flasche zu bannen. Was wir nun erleben, ist ein Ringen zwischen denjenigen innerhalb der britischen Arbeiterbewegung, die den Widerstand ausweiten wollen, und denjenigen, die einen kontrollierten Niedergang anstreben.

W

as du beschreibst ist doch eine sehr ähnliche Situation wie in den 1980er Jahren unter Thatcher. Auch dort gab es großen Widerstand. Am Ende konnte er jedoch gebrochen und die Kürzungen durchgesetzt werden. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Ja, sicher. Sie denken, dass sie das wiederholen können. Allerdings gibt es einen großen Unterschied: Cameron ist nicht Thatcher. In den 1980er Jahren hatten wir es mit einer sehr viel geschlosseneren herrschenden Klasse zu tun. Die Krise war nicht so tief und die organisierte Arbeiterbewegung war geschwächt. Die heutige Situation ist eine andere. Die Arbeiterklasse beginnt sich neu aufzustellen und die herrschende Klasse ist verdammt schwach, eben weil die Krise so tief ist. Das ist eine grundlegend andere Situation als unter Margaret Thatcher.


I

n Deutschland haben wir momentan weder eine ökonomische noch eine politische Streikbewegung. Was denkst du, können linke Gewerkschafter hier tun? Zunächst braucht ihr eine nationale Koalition oder Allianz aus Gewerkschaftern, sozialen Bewegungen, lokalen Initiativen und so weiter, die sich vernetzen und Wege aufzeigen, in welche Richtung der Kampf gehen kann. Man muss linke Gewerkschaftsaktivisten und kämpfende Ar-

Die Schlächter des britischen Sozialwesens Hand in Hand: Demonstranten haben sich als Premier David Cameron und dessen Vize Nick Clegg verkleidet

beiter zusammenbringen und die Solidarität innerhalb der Arbeiterschaft stärken. Dabei ist es notwendig, über die offiziellen Strukturen hinauszugehen. Man muss die offiziellen Strukturen nutzen und sollte ihnen nie ablehnend gegenüberstehen. Die Aktionstage der großen Gewerkschaften werden immer die erfolgreichsten sein. Auch wenn sie uns nicht weit genug gehen, müssen wir da hin. Denn nur über die offiziellen Strukturen lassen sich inoffizielle Netzwerke aufbauen. So anstrengend die Debatten innerhalb der Gewerkschaften für uns Linke auch sind, hier entste-

hen Netzwerke, die dann Basisbewegungen aufbauen, die unabhängig von der Gewerkschaftsbürokratie agieren können. Solche Basisbewegungen entstehen in der Regel dann, wenn die Führung die Interessen der Mitglieder verrät. Und genau in diesen Momenten können linke Organisationen ihnen eine Perspektive anbieten. Ihr werdet vielleicht noch nicht heute angegriffen, aber die Attacken werden kommen. Daher müsst ihr bereits jetzt damit beginnen euch gut aufzustellen. Dann werdet ihr in einer viel besseren Ausgangslage sein, wenn der Hammer zuschlägt. ■

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

ber die Bewegung vom 30. November ist doch bereits verpufft. Was bleibt davon am Ende übrig? Die Streiks gehen weiter. Sowohl im März als auch im Mai traten erneut Hunderttausende in den Ausstand. Und ich denke, was in jedem Fall vom 30. November bleibt, ist die Erkenntnis, dass Fragen wie die nach der Rente als ein Blitzableiter für den weitverbreiteten Unmut in der Gesellschaft dienen können. Weißt du, ich war in den vergangenen elf Jahren 13 mal im Streik und meistens bekommt das keiner wirklich mit. Es ist nützlich, weil es meinen Arbeitgeber in die Schranken weist, aber kaum jemand hört davon, sogar bei einem landesweiten Streik. Das war im vergangenen November anders. Wir haben gesagt, dass die Verteidigung der Renten in einen größeren Zusammenhang gehört. Wir haben gesagt: Ja es geht um die Rente, aber es geht auch um viel mehr als das. Es geht darum, einen Generalangriff auf die Arbeiterklasse abzuwehren. Denn das ist der große Unterschied zu den 1980er Jahren, in denen die Regierung eine Gruppe nach der anderen attackierte und die Arbeiter gegeneinander ausspielte. Heute richten sich die Angriffe gegen alle gleichzeitig, an jeder Front. Ja, es geht um die Rente, um die Arbeitsplätze, um die Studiengebühren. Wir sind alle gemeinsam davon betroffen. Und das hat große Auswirkungen darauf, wie wir uns als Aktivisten auf die Auseinandersetzung beziehen. Wenn man jeden Tag an seinem Arbeitsplatz kämpft, verliert man den Blick für das große Ganze. So wollen die Arbeitgeber das natürlich auch. Aber wenn wir erfolgreich unsere Jobs und unsere Rente verteidigen wollen, müssen wir das in den größeren Zusammenhang der Verteidigung des Sozialstaats, der Bildung und so weiter stellen. Ökonomische und politische Streikbewegungen gehören untrennbar zusammen.

© Hoopshooley / flickr.com / CC BY-NC

A

49


© Glenn Halog / flickr.com / CC BY-NC

KONTROVERS

50


»Es gibt Situationen, in denen eine Entscheidung gefällt werden muss« Früher war er Anarchist, heute versteht er sich als Marxist. Seine Vergangenheit lässt John Molyneux trotzdem nicht los, nun hat er sogar ein Buch über den Anarchismus geschrieben. Ein Gespräch über Arbeiter, Macht und Lifestyle INTERVIEW: Loren Balhorn, Max Manzey und Oskar Stolz ohn, im vergangenen Jahr hast du ein Buch über die marxistische Kritik am Anarchismus geschrieben und vor wenigen Woche bei unserem »Marx is Muss«Kongress zum gleichen Thema referiert. Was gefällt dir so am Anarchismus? Für mich ist die Entwicklung der anarchistischen Bewegung ein sehr positives Zeichen dafür, dass junge Menschen in der ganzen Welt gegen das System aufbegehren. Ich begann mit dem Schreiben, als gerade die Bewegung der Indignados in Spanien und die Besetzung des Syntagmaplatzes in Athen stattfanden. Es lag auf der Hand, dass Menschen, die nach einer langen Zeit relativen sozialen Friedens gegen die Krise zu rebellieren anfangen, das in einem anarchistischen oder autonomen Geist tun. Es war ja eine spontane, libertäre Rebellion. Eine hervorragende Sache, und das ist das Allererste, womit ich den Anarchismus verbinde. Aber auch sonst gefällt mir eine ganze Menge an dieser Bewegung. Der Anarchismus war der erste politische Hafen, den ich als junger Mensch ansteuerte, daher ist mir der Antiautoritarismus sehr nah. Und das Streben nach einer Gesellschaft echter menschlicher Freiheit ist doch ein Drang, den Marxisten und Sozialisten mit Anarchisten teilen.

D

u selber verstehst dich als Marxist. Was sind in wenigen Worten die wichtigsten Differenzen zwischen dem Anarchismus und dem Marxismus? Die wichtigsten Meinungsunterschiede betreffen die Frage des Staates und die Rolle von Führung und Parteien in der Be-

John Molyneux

John Molyneux war Professor am Institut für Kunst, Design und Medien der Universität Portsmouth. Er ist Autor von »Anarchism: A Marxist Criticism« (Bookmarks 2011).

wegung. Daraus resultieren viele Diskussionen über Strategie und Taktik und eine ganze Reihe weiterer Fragen. Wenn die Menschheit eine Überlebenschance haben soll, muss der Kapitalismus gestürzt werden, und das geht nicht ohne eine passende Strategie. Aber der Anarchismus bietet in meinen Augen keine gangbare Strategie für dieses Ziel, selbst für die Anarchisten nicht. Die Staatsfrage ist ganz zentral. Die Vorstellung, man könne den Staat durch einen bloßen Willensakt abschaffen und danach bedürfe es keines irgendwie gearteten Arbeiterstaates, ist ein Rezept für die Niederlage.

V

iele der heutigen Anarchisten haben das Bedürfnis, »ein besseres Leben im Hier und Jetzt« zu führen. War das schon immer ein Kennzeichen des Anarchismus? Es gibt ein interessantes Buch von Murray Bookchin, »The Unbridgeable gap: Social Anarchism vs. Lifestyle Anarchism« (Die unüberbrückbare Kluft: Sozialanarchismus vs. Lifestyle-Anarchismus), in dem er auf die anarchistische Bewegung seiner Jugend in den 1930er Jahren zurückblickt, die viel politischer und viel enger mit der Arbeiterbewegung verbunden war. Während der langen Aufschwungsjahre der Nachkriegszeit und danach im lang andauernden Abschwung wandte sich der Anarchismus dann vermehrt den Fragen des Lifestyles zu. Das hat aber auch mit der sozialen Zusammensetzung der Bewegung zu tun. Der Anarcho-Syndikalismus mit seinem sehr engen Verhältnis zu

KONTROVERS

J

51


die gemeinsame Solidarität gegen die KaIch finde, sie ist durchaus nachvollziehArbeitern und Gewerkschaftern wird sich pitalisten aufkündigen, zugleich suche ich bar. Wenn man sich die Welt heute animmer vom Anarchismus einer Boheme aber die offene Auseinandersetzung über schaut, fällt einem als erstes die korrupte am Rand der Gesellschaft abheben. Damit diese Fragen. Rolle der politischen Parteien auf. In den will ich keineswegs bestimmte Menschen USA sind es beide im Parlament vertretemit Hilfe einer Klassenzuordnung herabnen Parteien. Die Demokraten unter Obsetzen, einer Boheme oder einer Minderama haben ihre ganzen Verspreheit anzugehören ist nichts chen über Bord geworfen. Das Verwerfliches. Es entspricht gilt ebenso für die Konservatieinfach einer Andersartigven und die Sozialisten in Spakeit der sozialen Lage, die es nien und für die Nea Demokratia einem erlaubt, für eine beund die PASOK in Griechenland. stimmte Periode in seinem Angesichts dessen ist die AblehLeben aus dem gesellschaftnung von Parteien mehr als verlichen Regelwerk auszusteiständlich. gen, um zu einem späteren Ein Kennzeichen der Indignados Zeitpunkt wieder einzusteiund von Occupy war aber in meigen. Ich möchte keinesfalls nen Augen der Glaube oder die moralisierend wirken, aber Illusion, sie seien quasi Pioniere das ist nicht die soziale Basis, und hätten als erste und auf einvon der aus die Gesellschaft mal die richtigen Antworten. Sie umgekrempelt werden kann. denken, sie müssten nur einen Damit meine ich, dass die Platz besetzen – sie fingen mit eiLage, in der wir uns befin»We are the 99%«. Die Proteste in Oakland gehörten zu den größten nigen Hundert an, dann kämen den, sich außerordentlich der Occupy-Bewegung in den USA die Tausenden und die Millionen dramatisch zuspitzt. Als Teil– und plötzlich sei die herrschende Klasse nehmer an den 18 Tagen des revolutionävon der Bühne verschwunden. Wozu Parren Kampfes in Ägypten, an deren Ende teien und Ideologien? Das alles bräuchten Mubarak gestürzt wurde, wusste man, wir nicht, wenn wir die Antworten schon dass ein Misserfolg eine wütende Reaktihätten. Ich glaube, gerade diese Haltung on heraufbeschwören würde und tausenmacht die Anziehungskraft der neuen Bede Menschen Tod und Folter zu erwarwegungen aus, sie ist aber dennoch eine ten hätten. In einer solchen Situation lässt Illusion. Menschen kämpfen schon seit sich nicht nach dem Lustprinzip handeln, 200 Jahren gegen den Kapitalismus. es geht darum, wie man den Sieg erringen Dabei ist ein Erfahrungsschatz entstankann. Vor dieser Frage steht die gesamte den, den man nicht einfach wegwerfen Menschheit, denn wir haben es nicht nur darf. Es gab auch schon wesentlich größemit einer Wirtschaftskrise zu tun, sondern re Bewegungen als die heutige. auch mit einer aufkommenden ökologiSie lehren uns, dass man das Problem des schen Krise, die das Leben von hunderten Staates nicht ignorieren darf. Der Staat hat Millionen Menschen bedroht. Wenn man die Macht, einen besetzten Platz zu räudiesen Maßstab anlegt, dann möchte ich men – darauf braucht man eine Antwort. behaupten, dass der Anarchismus keine Welche soziale Kraft gibt es, die der Staat Lösung für diese Probleme hat. nicht zu besiegen vermag? Man muss sich damit auseinandersetzen, wie die Masse enn in den Massenmedien vom der Arbeiterinnen und Arbeiter mobilisiert Anarchismus die Rede ist, dann werden kann oder wie mit der reformistimeistens im Zusammenhang mit Steineschen Gewerkschaftsführung umzugehen werfern und Schwarzen Blöcken. Ist das ist. Je kräftiger sich die Bewegung entfaltet, eine faire Zuordnung? desto drängender stellen sich diese FraOffensichtlich nicht. Der Anarchismus gen. Das ist gegenwärtig die Lage in Grieumfasst viele unterschiedliche Tendenchenland und Ägypten. zen, und der schwarze Block ist nur eine ie vielen Bewegungen im letzten kleine Minderheit. Die Medien verwenJahr wie Occupy oder die Indignaden die Bezeichnung Anarchismus, um dos lehnen Parteien und Organisation der Occupy- und der Studierendenden Begriff zu verunglimpfen. Daher bin nen weitestgehend ab. Im Mittelpunkt bewegung in Deutschland herrscht ich gegenüber den Medien mit den Anarstanden die Besetzungen, aus denen pobei der Entscheidungsfindung meist das chisten solidarisch – was nicht heißt, dass litische Organisationen herausgehalten Konsensprinzip. Ist das demokratisch? ich die Theorie teile, die ihren Aktionen wurden. Wie erklärst du dir diese EntDas Konsensprinzip ist hervorragend – zugrunde liegt. Aber ich werde niemals wicklung? wenn es einen Konsens gibt. Wenn sich

Wäre OccupyOakland den Weg des Konsens gegangen, hätte kein Streik stattgefunden

W

D

52

I


M

arxisten reden von der Eroberung der Macht, während Anarchisten die Macht aus Prinzip ablehnen. Was ist verkehrt daran, die Macht zu erobern? Wir müssen uns etwas genauer darüber verständigen, was mit der Eroberung der Macht gemeint ist. Eins von Lenins großartigsten Büchern, »Staat und Revolution«, widmet sich dieser Frage und greift auf Marx’ Schriften über die Pariser Kommune zurück. Unter der Eroberung der Macht verstanden beide nicht die Inbesitznahme des bestehenden Staatsapparats. Es geht nicht darum, über das Parlament oder auf dem Weg eines Staatsstreichs die Macht zu ergreifen, auch nicht darum, das Militär oder die Polizei zu bezwingen. Die Eroberung der Macht bedeutet, dass arbeitende Menschen die Kontrolle über die Gesellschaft in ihrem Sinne übernehmen und dass sie demokratische Räte von unten bilden, die den Aufbau eines Arbeiterstaats einleiten. Das, würde ich sagen, ist ganz essenziell. Ich denke nicht, dass es möglich ist, den bestehenden kapitalistischen Staat einfach beiseite zu fegen und dann di-

rekt zu einer selbstverwalteten Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen überzugehen. Denn am Tag oder in der Woche oder im Monat nach der Revolution sind die alte kapitalistische Klasse und all die Menschen, die sie unterstützen, nicht einfach verschwunden. Die Gesellschaft wird nicht von einem großen Konsens erfasst werden. Die ganzen Erfahrungen der 1848er-Revolution, der Pariser Kommune, von Russischen Revolution 1917, der Veränderungen in Chile Anfang der 1970er Jahre und all der anderen großen Umwälzungen zeigt eines: Angesichts ihres Machtverlustes gruppiert sich die herrschende Klasse von neuem und geht in die Gegenoffensive. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das heute anders wäre. Vor allem dann nicht, wenn die Revolution nicht gleich in den USA siegt, was natürlich wunderbar wäre, sondern in einem Land wie Griechenland, Ägypten oder Spanien. Denn dann hätte die alte herrschende Klasse noch die Rückendeckung des amerikanischen Imperiums. Mithilfe dieser Unterstützung würden sie versuchen, die Revolution niederzuschlagen. Es bedarf dann einer irgendwie gearteten Staatsmacht, einer Armee, um die Revolution zu verteidigen.

M

arxisten beziehen sich auf Marx’ Kritik des Kapitalismus, um strategische und taktische Entscheidungen zu treffen und die Gesellschaft zu verstehen. Gibt es so etwas wie eine anarchistische Theorie der Gesellschaft? Nicht wirklich. Die Anarchisten stimmen in vielem mit Marx’ Analyse des Kapitalismus überein, aber sie übersehen einen ganz zentralen Bestandteil, nämlich seine Analyse der Totengräber des Kapitalismus, der Arbeiterklasse. Wenn man von anarchistischer Theorie spricht, bezieht man sich unweigerlich auf den einen oder anderen anarchistischen Schriftsteller, auf Bakunin, Kropotkin und andere. Sofern Bakunin über eine Theorie verfügte, hatte er sie von Marx geborgt, ansonsten findet man bei ihm viele rhetorische Verkündigungen der Freiheit, aber keine Analyse des Kapitalismus. Wenn man überhaupt von einer ernsthaften anarchistischen Theorie reden kann, dann hat sie ihre Wurzeln im Autonomismus. Zu ihm zählen Autoren wie Hardt und Negri oder John Holloway, die viel von Marx entnehmen, dann aber zu halbanarchistischen Schlussfolgerungen gelangen.

D

u hast gerade Bakunin erwähnt. In der Ersten Internationale fanden sich Anarchisten und – um den heutigen Begriff zu verwenden – revolutionäre Sozialisten in ein und derselben Organisation wieder. Wenige Jahrzehnte später kam es zum Bruch und seitdem hat es immer klar voneinander getrennte anarchistische und sozialistische Strömungen gegeben. Wie kam es dazu? Nun, Bakunin ist nicht mein Lieblingsanarchist. Ich hege viel mehr Sympathien für die CNT in Spanien oder für Kropotkin. Wenn wir auf das 19. Jahrhundert zurückblicken, auf die Anfänge des modernen Sozialismus, die Chartistenbewegung, auf 1848, die Entstehung der sozialistischen Parteien nach der Pariser Kommune, dann können wir einen Prozess der politischen Klärung und der Verselbstständigung verschiedener Strömungen beobachten. Selbst die Differenz zwischen Reformismus und Revolution trat nicht vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert zutage, als Rosa Luxemburg sich mit Bernstein auseinandersetzte. Und auch Marx war sich in dieser Frage unsicher, weshalb er keine klare Haltung zur revolutionären Partei entwickelte. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Richtungen – Reformismus, revolutionärer Sozialismus oder Anarchismus – haben sich in den politischen Kämpfen herausgeschält und klären sich erst im Verlauf solcher Kämpfe.Interessant ist allerdings, dass es inmitten der Russischen Revolution zu einer Neuaufstellung der Kräfte kam. Den Bolschewiki gelang es, viele der besten Syndikalisten und Anarchisten aufgrund der Revolution und des Kampfes gegen den Reformismus für ihre Politik zu gewinnen. Trotzki meinte einmal über die Syndikalisten, er würde viel lieber versuchen, diese Menschen von der Notwendigkeit der revolutionären Partei zu überzeugen, als mit Karl Kautsky zu debattieren, dem die Notwendigkeit einer Partei bewusst war. Denn nur erstere verspürten den innigsten Drang, der Bourgeoisie den Kopf abzureißen. Weil Syndikalisten und Bolschewiki ernsthaft das gleiche Ziel verfolgt haben, konnten sie sich einig werden. Es hat also Zeiten gegeben, in denen Anarchisten und revolutionäre Sozialisten zusammen kämpften, und ich hoffe sehr, sie werden das auch in Zukunft wieder tun. ■

KONTROVERS

eine kleine Gruppe Menschen zusammenfindet, die sich einig sind: Was ist daran auszusetzen? Aber wenn es ernsthafte strategische Differenzen gibt – und in der Arbeiterbewegung gibt es seit eh und je ernsthafte Differenzen und die wird es auch in Zukunft geben, etwa in der Frage Reform oder Revolution – dann ist das Konsensprinzip lähmend. Solche Differenzen kann man nicht im Konsens beilegen, weil sie Kräfte mit einer materiellen Basis repräsentieren. Der Reformismus beispielsweise hat eine Basis in der Gewerkschaftsbürokratie und in der Führung der reformistischen Parteien. Die werden keinem irgendwie gearteten Konsens zustimmen, vielmehr werden sie die Bewegung stets aufhalten. Ein gutes Beispiel ist der Aufruf zum Generalstreik von Occupy Oakland, dem die Menschen der Stadt teilweise folgten. Auf der Vollversammlung wurde demokratisch abgestimmt, es waren etwa 1150 für und 50 gegen den Streik. Hätten sie einen Konsens zu erreichen versucht, hätte kein Streik stattgefunden. Dabei wäre es vollkommen undemokratisch gewesen, hätte man diesen 50 Menschen erlaubt, den Generalstreik zu verhindern. Es gibt eben Situationen, in denen eine Entscheidung gefällt werden muss.

53


© Max Blum

NEUES AUS DER LINKEN

Mobilisierung gegen die Diktatur der Finanzmärkte Dass die Blockupy-Demo in Frankfurt ein so großer Erfolg wurde, ist vor allem der guten Mobilisierung zu verdanken. Hieran beteiligten sich viele lokale Gliederungen der LINKEN, wie die Bezirksgruppe Gesundbrunnen in Berlin.

Keine Rendite mit der Miete – Kein Profit mit dieser Stadt Unter diesem Motto versammelten sich am Nachmittag des 18. Juni etwa 500 Menschen, um lautstark gegen das Zusammentreffen der Spitzen aus Immobilienwirtschaft und Politik am Potsdamer Platz zu protestieren. Schon zuvor ist in Berlin die Angst vor Ausgrenzung durch Mieterhöhungen und Zwangsumzüge in Aktionen umgeschlagen. DIE LINKE war nicht nur auf der Demonstration mit einem großen aktionistischen Block präsent. Der Bezirksverband Neukölln lud zur Gründung einer Projektgruppe Mieten in der Partei ein. Diese wird nun bezirksübergreifend die nächsten Schritte planen, um gemeinsam mit den Berliner Mieterinnen und Mietern aktiv für bezahlbare Mieten und gegen Spekulation und Profitmacherei mit dringend benötigtem Wohnraum einzutreten. Marijam Sariaslani

54

Sie veranstaltete am 12. Mai erst einen großen Infostand unter dem Motto »ESM und Fiskalpakt verhindern! Demokratie und Sozialstaat verteidigen!«, um dann gemeinsam am Sternmarsch teilzunehmen.

Aktiv gegen Hungerlöhne

A

Von Heinz Willemsen

usgerechnet die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) der Bielefelder SPD hatte ihre Briefe mit der Citypost verschickt. Offiziell fordert die SPD einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Die Bielefelder Citypost, eng verzahnt mit den Medienunternehmen der SPD, zahlt ihren Zustellern aber nicht viel mehr als vier Euro die Stunde. DIE LINKE.Bielefeld hat mit ihrer Massenzeitung hierüber mehr als 30.000 Haushalte informiert und die SPD aufgefordert, den Vertrag mit der Citypost zu kündigen. Bei der 1.-Mai-

Demonstration sorgte das Thema überall für Aufmerksamkeit und Diskussionen. Eine offizielle Antwort der SPD auf unsere Forderung gibt es bis heute nicht. Wie sehr die LINKEKampagne die Sozialdemokratie getroffen hat, zeigte sich aber vor allem daran, dass die AfA zum ersten mal keinen Stand beim 1. Mai hatte. Offensichtlich wollte man der Diskussion aus dem Weg gehen. Und noch ein erfreulicher Effekt des linken Engagements: Das den Grünen nahestehende Welthaus gab im Mai bekannt, dass es seinen Vertrag mit der Citypost gekündigt hat.


Aktion gegen Bundeswehrwerbung auf dem Hessentag

A

Von Christoph Hoffmeier

uch 2012 war die Bundeswehr mit einem massiven Aufgebot ihres Kriegsgeräts auf dem Familien- und Volksfest »Hessentag« in Wetzlar präsent und warb um neue Rekruten. Bewusst wurde an die Abenteuerlust und Technikbegeisterung der jungen und älteren Besucher angeknüpft: Kinder krabbelten begeistert in Panzerfahrzeugen herum oder grillten vor kleinen Biwak-Zelten Stockbrot am Lagerfeuer. Dagegen mobilisierte ein lokales friedenspolitisches Bündnis zusammen mit der LINKEN, etwa 60 Menschen beteiligten an den Protesten. Das Bündnis hatte eine Buchstabenreihe gebildet, deren 22 Schilder die Slogans »Kein Werben fürs Sterben«, und auf der Rückseite »Keine Kröten fürs Töten!« ergaben. Die LAG Frieden und internationaler Politik (FiP) hatte Schilder mitgebracht, die den Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen nachempfunden waren. Hier gab es vier verschiedene Slogans, etwa »Bundeswehr kann tödlich

sein« oder »Auslandseinsätze fügen Ihnen und den Menschen in aller Welt erheblichen Schaden zu«. Die Forderung der LINKEN »Arbeitsplätze statt Kampfeinsätze« war auf rot-weiße Plakate gleichen Stiles gedruckt. Von den Besucherinnen und Besuchern des Hessentags erfuhren wir viel Zustimmung für unsere Aktion. Vor dem Hintergrund der strategischen Neuausrichtung deutscher Außenpolitik und dem damit einhergehenden Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsund Berufsarmee sind solche Aktionen langfristig von großer Bedeutung. Wir können nicht zulassen, dass die Bundeswehr beispielsweise an Schulen mit ihren »guten« Berufsperspektiven wirbt und damit die Not vieler Menschen ausnutzt, keinen anständigen Job zu finden. Im Zuge der fortschreitenden Wirtschaftskrise gewinnt dieses Argument an Zugkraft, dem müssen wir überall, wo die Bundeswehr auftritt, aufklärenden und kämpferischen Widerstand entgegensetzen.

Aufstehen gegen PRO-NRW Während des Landtagswahlkampfes in Nordrhein-Westfalen kam es an verschiedenen Orten zu Protesten gegen die antimuslimische Gruppierung PRO-NRW. Diese trat ganz gezielt unter dem Motto »Freiheit statt Islam« mit beleidigenden Provokationen vor Moscheen auf. Unter anderem in Köln und in Dortmund ist es aber gelungen, den Faschisten und Hetzern deutlich zu zeigen, dass sie und ihre Thesen unerwünscht sind. In Dort-

mund gingen 250 Menschen auf die Straße und in Köln verlief der Gegenprotest ähnlich erfolgreich. Die zunehmende Hetze gegen Menschen aus dem islamischen Kulturkreis hat dazu geführt, dass die Zahl der Anschläge auf Moscheen seit dem Jahr 2001 enorm zugenommen hat. Das ist das Ergebnis einer Anfrage der LINKEN Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke. Auch Jörg Detjen von der Ratsfraktion DIE LINKE.Köln kann dies bestätigen:

»Leider kam es auch in Köln zu Angriffen und Anschlägen auf muslimische Einrichtungen, z. B. dem Brandanschlag auf die Yunus Emre Moschee des Deutsch-Türkischen Kulturvereins in Köln-Mülheim 2006. Die ›Pro-Bewegung‹ nahm ihren Anfang in Köln und versucht seit 15 Jahren, die Stadtgesellschaft gegeneinander aufzuhetzen, so auch am 8. Mai 2012 vor der Moschee in Ehrenfeld. Ich rufe alle auf, sich dagegenzustellen!« Tobias Paul

Widerstand gegen S21 geht weiter Der wahre Charakter einer Partei zeigt sich darin, wie sie mit Niederlagen umgeht. Aufrecht weitermarschieren ist die Devise des Kreisverbands der LINKEN in Stuttgart. In der Frage »Kopf- oder Tiefbahnhof?« ist der Slogan klar: Oben bleiben! Der Protest gegen Stuttgart 21 geht auch nach dem erfolglosen Volksbegehren weiter – unsere Genossinnen und Genossen sind mittendrin.

Solidarität mit UniklinikBeschäftigten Mitte April streikten die Beschäftigten der Freiburger Uniklinik. DIE LINKE unterstützte die Proteste. Lothar Schuchmann, Stadtrat und Kreissprecher erklärte: »Statt Milliarden bei Stuttgart 21 unter der Erde zu versenken, sollten die Krankenhäuser in Baden-Württemberg vernünftig ausgestattet werden. Gute Löhne für gute Arbeit. Wir wünschen den Beschäftigten viel Mut und viel Kraft sowie Durchhaltevermögen und stehen solidarisch an ihrer Seite.«

Mannheim nazifrei Am 1. Mai stoppten mehrere Tausend Demonstranten einen Naziaufmarsch in Mannheim. Auch der Oberbürgermeister der Stadt, Peter Kurz (SPD), beteiligte sich an den Blockaden. Die breite Akzeptanz für zivilen Ungehorsam gegen Nazis war der Schlüssel zum Erfolg. »Das antifaschistische Mannheim ist gestärkt und aktionsbereit aus diesem Tag herausgegangen. Auch DIE LINKE hat Flagge gezeigt. Aber es ist auch mal schön, mit seinen Flaggen in der Menge fast unterzugehen«, so unsere Mannheimer Genossen.

MACH MIT! Die Rubrik »Neues aus der LINKEN« lebt von der Mitarbeit der marx21-Leser. Die Redaktion kann nicht überall sein – aber das Magazin und seine Leser schon. Auf dieser Doppelseite wollen wir über interessante Aktionen und Kampagnen der LINKEN berichten. Mach mit und Schicke Deinen Beitrag an: redaktion@marx21.de.

NEUES AUS DER LINKEN

Kein Werben fürs Sterben

NEWS

55


SERIE: WAS WILL MARX21?

Von Sündenböcken und Parallelgesellschaften Mit der Serie »Was will marx21« möchten wir die politischen Grundlagen des marx21-Netzwerkes vorstellen. Diesmal fragen wir: Was tun gegen Rassismus? Teil 12 der Serie

T

hilo Sarrazin wurde von Medien und Politik scharf für seine rassistische Behauptung kritisiert, dass es ein »jüdisches Gen« gebe, das zu höherer Intelligenz bei Juden führe. Kaum widersprochen wurde allerdings seinen Auslassungen darüber, dass »Deutschland auf natürlichem Wege immer dümmer werde«, weil vor allem die muslimischen Einwanderer weniger intelligent seien, sich aber stärker vermehrten als die Deutschen – obwohl das nicht minder rassistisch ist. Woher diese Art von Rassismus kommt und wie er aus der Welt geschafft werden kann, beleuchten wir in diesem Teil der Serie. Heute kommt Rassismus oft nicht mehr im Gewand der biologistischen Argumentation von überlegenen »Rassen« daher. Rechtspopulistische Parteien oder »Bürgerinitiativen«, die gegen Muslime aufmarschieren, weisen den Vorwurf, sie seien rassistisch, weit von sich. Sie geben vor, als »Islamkritiker« lediglich Religionskritik zu üben und Menschen nicht aufgrund von Hautfarbe oder anderen körperlichen Merkmalen zu diskriminieren. Das ist kein neues Phänomen. In der Geschichte waren bereits die Iren Opfer von rassistischen Angriffen seitens der Briten, obwohl sie sich äußerlich nicht unterschieden. Ähnliches gilt für Jüdinnen und Juden. Rassismus bezieht sich nicht nur auf äußerliche Differenzen, vielmehr ist »Rasse« eine sozial konstruierte Kategorie. Deshalb waren »Rassenunterschiede« immer schon eine Erfindung, um Unterdrückung gegen bestimmte Gruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu rechtfertigen.

56

Unter seriösen Biologen herrscht seit Jahrzehnten Konsens darüber, dass es nur eine menschliche Rasse gibt, nämlich den Menschen. Trotzdem sind rassistische Theorien in allen Bevölkerungsschichten verbreitet. Um das zu verstehen, muss man den Fragen nachgehen, wo Rassismus herkommt und wer davon profitiert. Oft wird behauptet, Rassismus habe es schon immer gegeben, er sei eine menschliche Eigenschaft, die man nicht loswerden könne. Doch Rassismus ist ein modernes Phänomen. Als besondere Form der Unterdrückung ist Rassismus ein Produkt des Kapitalismus und muss unterschieden werden von der Furcht vor Fremden in vorkapitalistischen Gesellschaften. Bis zum Aufkommen des industriellen Kapitalismus lebten die meisten Menschen in bäuerlichen Strukturen und das Zusammenleben wurde über persönliche Beziehungen organisiert. Fremde, die man nicht einzuschätzen wusste, konnten Furcht und Ablehnung erwecken. Der Rassismus, wie wir ihn kennen, entstand während einer Schlüsselphase der Entwicklung des Kapitalismus zur weltweit herrschenden Produktionsweise. Der Aufbau kolonialer Plantagen in der Neuen Welt im 17. und 18. Jahrhundert beruhte auf der Arbeit von Sklaven. Sie wurden aus Afrika verschleppt, um Konsumgüter wie Tabak und Zucker und industrielle Rohstoffe wie Baumwolle für den Weltmarkt zu produzieren. Als Rechtfertigung diente die vermeintliche Rückständigkeit der afrikanischen Kulturen. Der schottische Philosoph der Aufklärung Sir Da-


vid Hume schrieb im Jahr 1753: »Ich bin geneigt zu vermuten, dass die Neger und generell all die anderen Menschenarten (es gibt vier oder fünf verschiedenen Arten) den Weißen von Natur aus unterlegen sind.« Es erscheint erst einmal widersprüchlich, dass ein Philosoph der Aufklärung eine derart rassistische Weltsicht vertrat. Aber die Vorkämpfer für die bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften, die sich »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« auf ihr Banner schrieben, hatten tatsächlich einen Widerspruch zu erklären. Die Abhängigkeit des Kapitalismus von Sklavenarbeit bedurfte einer Erklärung. Und so breitete sich die Idee aus, dass Schwarze »Untermenschen« seien und deshalb keinen Anspruch auf jene Menschenrechte hatten, die zu dieser Zeit formuliert wurden. Rassismus diente als Geburtshelfer für die Ausbreitung des Kapitalismus und ist mit ihm gewachsen. Die Annahme, es gäbe eine ursprüngliche Hierarchie zwischen dem kulturell hoch entwickelten Europa und den »unterentwickelten« Bewohnern anderer Kontinente, setzte sich durch. Mit der Verbreitung eines wissenschaftlich geprägten Weltbildes wurden die Unterschiede zwischen »ihnen« und »uns« biologisiert. Daraus entwickelte sich der Sozialdarwinismus und später die Eugenik, die in der Vernichtung »unwerten Lebens« während der Naziherrschaft ihre brutalste Ausprägung fand.

Aus »Rasse« wurde »Ethnizität«, aus genetischem Mangel »Kulturdefizit«. Auf die Behauptung biologischer Überlegenheit folgt jetzt ein defensiver weißer Nationalismus. So werden statt körperlicher Merkmale kulturelle Eigenschaften für naturgegeben erklärt. Dieser neue Rassismus richtet sich heute vorrangig gegen Muslime. In der Islamfeindlichkeit vermischt sich eine diffuse »Ausländerfeindlichkeit« gegen Türken und Araber mit einem kulturalistischen Rassismus. Muslimen wird vorgeworfen, sie würden »Parallelgesellschaften« bilden und damit die westliche Demokratie und ihre Werte unterwandern. Zudem seien muslimische Gesellschaften rückständig. Dieses Argument half nicht nur den USA und ihren Alliierten, ihre Kriege im Nahen und Mittleren Osten zu rechtfertigen, es ermöglicht vor allem auch gemäßigten rechten oder konservativen Parteien in Europa, Sündenbockpolitik zu betreiben.

Nach dem Ende des deutschen Faschismus trug der Rassismus in dieser alten Form das Stigma des Holocaust. Außerdem wiesen nun Wissenschaftler nach, dass »Rassen« biologisch gar nicht existieren. Die Abwertung der »Anderen«, die nach wie vor rücksichtsloser ausgebeutet wurden als die »Weißen«, bedurfte jetzt einer anderen theoretischen Grundlage. Nun schrieb man Minderheiten bestimmte kulturelle Praktiken zu und erklärte sie für unvereinbar mit der christlich-aufgeklärten oder liberalen »Leitkultur«.

Karl Marx hat am Beispiel der Diskriminierung der irischen Arbeiter im 19. Jahrhundert sehr klar die Art und Weise herausgestellt, wie sich solche rassistischen Trennlinien auf den Klassenkampf auswirken: »Alle industriellen und kommerziellen Zentren Englands besitzen jetzt eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher den Lebensstandard herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland, befestigt damit deren Herrschaft über sich selbst. Er hegt religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. Er verhält sich ungefähr zu ihm wie die armen Weißen zu den niggers in den ehemaligen Sklavenstaaten der amerikanischen Union. Der Irländer zahlt ihm mit gleicher

WAS WILL MARX21

Es gibt nur eine menschliche Rasse, nämlich den Menschen

57


Münze zurück. Er sieht zugleich in dem englischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland. Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden Klassen zu Gebot stehenden Mittel. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Er ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztere ist sich dessen völlig bewusst.« Marx zeigt hier, wie rassistische Ideen »von oben« geschürt werden, um den Widerstand gegen die Herrschenden zu schwächen. In Deutschland haben wir wiederholt erlebt, dass Politiker und Medien die rassistische Karte ziehen, um von ihrer unsozialen Politik abzulenken: In den 1990er Jahren war es die »Asylflut«-Kampagne von Springer, Schäuble und Co., heute wird in der Regel gegen »integrationsunwillige« Muslime gehetzt. Die Strategie ist einfach: »Teile und Herrsche«. Marx zeigt auch die Mechanismen, wie die rassistischen Ideen »unten« Anklang finden. Objektiv betrachtet schadet der Rassismus der gesamten Arbeiterklasse: Der englische Arbeiter profitiert nicht von der Diskriminierung seiner irischen Kollegen. Tatsache ist aber, dass Arbeiter, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, im alltäglichen Leben und Überleben in Konkurrenz zueinander stehen. Sie konkurrieren um künstlich verknappte Arbeits- und Studienplätze oder Wohnungen. Gerade ausländische Arbeiter werden als Lohndrücker dazu benutzt, den Lebensstandard der gesamten Arbeiterklasse zu senken und somit die Profite der Kapitalisten zu erhöhen. Grundlegende Lebenserfahrung ist also nicht das Miteinander, sondern das Gegeneinander. Der psychologische Effekt des Rassismus ist ein Überlegenheitsgefühl der deutschen Arbeiter gegenüber ihre Kollegen – sie können sich einbilden, selbst Teil der herrschenden Gruppe zu sein.

Zusätzlich werden in Krisenzeiten die unterdrückten Gruppen zu Sündenböcken gemacht. Die Grundlage für Rassismus wird also gelegt durch die soziale Ungleichheit, die Konkurrenz und die allgemein unsicheren Lebensperspektiven im Kapitalismus, welche durch die Wirtschaftskrisen noch verschärft werden. Um wirksam gegen Rassismus vorzugehen ist deshalb eine Strategie nötig, die den Kampf gegen Vorurteile und Diskriminierung verbindet mit einer Perspektive für soziale Gerechtigkeit. Zum einen reicht es nicht aus, lediglich »aufklärerisch« gegen rassistische Ideen zu argumentieren, solange Konkurrenz und prekäre Lebensverhältnisse als realer Nährboden für den Rassismus nicht angegangen werden. Anders herum ist es aber auch falsch zu glauben, dass sich der Kampf gegen Rassismus allein durch die Konzentration auf soziale Ungerechtigkeit führen ließe. Entscheidend ist, dass durch einen Kampf gegen rassistische Ideen die Einheit deutscher und ausländischer Arbeiter hergestellt werden kann. Im vereinten Kampf ist es möglich, klar zu erkennen, dass der gemeinsame Feind die Ackermänner und Merkels sind und die Trennlinie nicht entlang kultureller, konfessioneller oder nationaler Grenzen verläuft, sondern zwischen den Klassen. Außerdem bricht der erfolgreiche gemeinsame Kampf auf der Straße und in den Betrieben die Ohnmachtssituation der Menschen auf und eröffnet eine Perspektive, die eigene soziale Situation zu verbessern. Solche kollektiven Kämpfe sind das effektivste Mittel gegen Rassismus. Um rassistische Einstellungen endgültig zu beseitigen, müssen wir den Kapitalismus überwinden. Denn dieses System beruht auf der Ausbeutung der Arbeiter, auf Konkurrenz und Unterdrückung. Der Kampf gegen Rassismus und Sozialabbau muss in letzter Konsequenz zu einem Kampf für ein System werden, in dem weder Mangel noch Konkurrenzkampf existieren, sondern die Bedürfnisse der Menschen an erster Stelle stehen. ■

Um rassistische Einstellungen endgültig zu beseitigen, müssen wir den Kapitalismus überwinden

58


Was macht Marx21?

Abendroth, Alkohol und Vampire Schlechte Ausgangsbedingungen, aber das Beste daraus gemacht: Beim »Marx is’ muss«-Kongress diskutierten 500 Menschen. Werden es im kommenden Jahr noch mehr sein?

U

nser Kongress »Marx is’ muss« stand in diesem Jahr zunächst unter keinem guten Stern. Erst mussten wir ihn wegen der Blockupy-Proteste verschieben. Dann waren im unmittelbaren Vorfeld auch noch etliche Organisatoren und Redner in den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen und die Vordiskussionen des Göttinger Parteitags der LINKEN involviert. Doch auf unsere Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer ist Verlass. Den widrigen Bedingungen zum Trotz haben knapp 500 den Weg ins Berliner

»Neues Deutschland«-Gebäude gefunden. Nicht nur der Veranstaltungsort war in diesem Jahr neu, auch inhaltlich gab es einige Änderungen: Noch nie haben wir eine so große Themenvielfalt angeboten und noch nie so viele Gastreferenten eingeladen wie in diesem Jahr. Neben Veranstaltungen zu marxistischen Theoretikern wie Wolfgang Abendroth oder Antonio Gramsci standen auch Beiträge über »Alkohol und die Arbeiterbewegung« oder der Boom von Vampirfilmen auf dem Programm. Diese bunte Mischung

hat viel Zuspruch gefunden. Das zeigt sich auch darin, dass die Besucherzahlen über alle vier Kongresstage konstant geblieben sind. So heterogen die Themen in diesem Jahr waren, so waren es auch die Besucher des Kongresses. Ein Teil bestand aus Mitgliedern der LINKEN, ein anderer stammte eher aus antikapitalistischen Bewegungen wie Blockupy. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer reisten von weit her an, allen voran jeweils eine größere Gruppe aus Österreich und den Niederlanden. Referenten kamen aus Bahrain, Großbri-

ONLINE ANGEKLICKT

TOP TEN APRIL BIS JUNI 2012

marx21.de besser nutzen:

9. 10.

DIE LINKE: Neustart zur Bewegungspartei Liquid Democracy DIE LINKE: Neustart gelungen Fußball-EM: Nicht in meinem Namen Riexinger: »Wir streiken so oft wir können« Die Kritiker von Günter Grass EU-Krise: Der griechische Frühling Aufschwung der Linken fordert Etablierte heraus DIE LINKE: Eingreifen, nicht anbiedern Zur Zukunft der LINKEN

(3301) (941) (696) (585) (582) (505) (504) (501)

Insgesamt waren 14.170 Besucher im Juni (11.995 im April / 16.716 im Mai) auf marx21.de

(466) (457)

marx21.de bei Facebook: ★  plus 152 Fans in den letzten drei Monaten (1318 Fans insgesamt) ★  81 Pinnwandeinträge, Kommentare und Verwendungen von »Gefällt mir« in den letzten vier Wochen ★  Durchschnittliche Wöchentliche Reichweite in den letzten vier Wochen: ca. 2900 (plus 1500 seit Anfang April)

Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

tannien, Irland und Griechenland. Auch wenn es natürlich immer Verbesserungspotential gibt, so sind wir doch unserem Ziel ein klein wenig näher gekommen, ein breites Netzwerk aufzubauen und die Anbindung an die sozialen Bewegungen aufrechtzuerhalten. Es wurde viel debattiert und unterschiedlichste marxistische Traditionen kamen zusammen, um eine zeitgemäße Interpretation des »Sozialismus von unten« zu entwickeln. Dafür vielen Dank an alle Beteiligten – wir freuen uns auf deine Ideen, Kritik oder Anregungen für 2013.

ABO KAMPAGNE Stand: 930 (+13)

Ziel: 1000


NACHRUF

Nichts zu verlieren außer unsere Ketten Unerwartet und viel zu früh starb am 13. Mai unser Genosse Robert Richter. Ein Nachruf Von Lucia Schnell

M

an hat’s nicht leicht, aber leicht hat’s einen!« Eine oft von ihm gehörte Banalität ist völlig unerwartet traurige Realität geworden. Robert Richter ist am Morgen des 13. Mai 2012 friedlich und ohne Schmerzen im Schlaf in seinem Bett in Frankfurt/Oder gestorben. Ein plötzlicher Herzstillstand, verursacht durch einen angeborenen, aber nie bemerkten Herzfehler, riss ihn viel zu früh aus unserer Mitte. Gerade einmal 28 Jahre wurde er alt. Wir trauern um einen guten Freund und Genossen, der Ungerechtigkeit und Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung nicht ertragen konnte und sich dem Kampf für eine bessere Welt widmete. Unsere Gedan-

60


sation Linksruck bei, wurde später Unterstützer des Nachfolgenetzwerks marx21. In seinem brandenburgischen Landesverband der LINKEN hatte er es nicht immer leicht. Im Jahr 2009 stimmte er mit einer Minderheit beim Landesparteitag gegen den Koalitionsvertrag mit der SPD. Dennoch war er Mitglied des Kreisvorstands der LINKEN in Frankfurt an der Oder und dort für außerparlamentarische Bündnisarbeit zuständig. Er organisierte im März 2012 die erfolgreiche Blockade des Nazi-Aufmarsches in Frankfurt mit. Inspiriert von selbstverwalteten Betrieben, die er in Venezuela besichtigt hatte, verfasste er kurz vor seinem Tod einen Aufruf an die 1200 gekündigten Arbeiter von First Solar: »Die Arbeiterinnen und Arbeiter wurden mit schlechten Löhnen ausgebeutet. Gesellschaft und Politik sind systematisch um Millionen Fördergelder betrogen worden. (...) Die einzige Lösung ist der Streik und die Besetzung der Fabrik durch die Arbeiterinnen und Arbeiter, um die Kontrolle über die Produktionsstätte zu übernehmen. (...) Dazu müssen sich die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst solidarisch organisieren, denn sie haben nicht mehr zu verlieren außer ihren Ketten.« Beinahe beiläufig baute er Brücken in vielfältiger Form: Er wohnte als einer der wenigen deutschen Studierenden auf der polnischen Seite der Oder in Słubice, engagierte sich als AStA-Referent an der Viadrina für eine grenzüberschreitenden Buslinie. Aber auch im Umgang mit anderen politischen Gruppen, etwa den Jusos, den Grünen oder parteikritischen radikalen Linken, baute er Brücken, indem er die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellte, ohne die Unterschiede zu negieren. So wuchs in den letzten Jahren insbesondere eine vertrauensvolle Zusammenarbeit des SDS an der Viadrina mit Utopia e.V., wo Robert sich besonders im Freiraum »Garage« tatkräftig bei der Organisation von Konzerten einbrachte. Neben der Politik waren seine Leidenschaften Pilze sammeln, Gartenbau, Heimwerkern, Kaffeetrinken und Rauchen, Grillen, Gesellschaftsspiele, danach Ausschlafen. Er liebte politische Agitation und Propaganda, insbesondere politische Schaukämpfe im Fernsehen. Er sang Arbeiterlieder in der AG Rotkehlchen und vergnügte sich bei linkem Kulturgut und Kabarett, vor allem bei Volker Pispers und Marc-Uwe Kling. Noch am Tag vor seinem Tod beteiligte er sich am Versuch, einen Naziaufmarsch in Cottbus zu blockieren. Auf seiner Beerdigung erscholl aus allen Mündern die Internationale – mitten auf dem Friedhof des kleinen Brandenburgischen Städtchens Steinhöfel. ■

NACHRUF

ken sind bei seiner Mutter Martina, seiner Freundin Olga und bei seinen engsten Freunden. »Wo immer geschwiegen wird, dort wird er sprechen, und wo Unterdrückung herrscht und von Schicksal die Rede ist, wird er die Namen nennen«, beschrieb Brecht einst den Revolutionär. Auch der Brecht-Fan Robert hatte ein sensibles Gespür für die großen und kleinen Ungerechtigkeiten und ließ sich selten davon abhalten, sie anzuprangern, selbst wenn es auf wenig Interesse zu stoßen versprach. Immer ging es ihm um eine grundsätzliche Gesellschaftskritik, die er selbst anlässlich einer Debatte zum Mensaessen im Studierendenparlament anzubringen wusste. In unserem Gedächtnis bleibt vor allem seine Begeisterungsfähigkeit, mit der er so manches Projekt anging: von seiner Betriebsrattätigkeit bei Kaufland über eine Venezuela-Delegationsreise und den MarxLesekreis des Studierendenverbands Die Linke.SDS bis zur SDS-Semestereröffnungsparty. »Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal«, fasste er einmal anlässlich einer Kandidatur ironisch seinen Lebensweg zusammen. Obgleich lange in verschiedenen Gremien und Ämtern aktiv, hielt er Parlamente doch nie für den alleinig entscheidenden Ort politischer Auseinandersetzungen. Er war überzeugt, dass nur eine starke, vereinte Linke Veränderungen erreichen kann, die vor allem außerhalb der Parlamente versucht, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach links zu verschieben. Viel lag ihm dabei an Solidarität und breiter Vernetzung. Voller Enthusiasmus stritt er an der Seite von streikenden Lokführerinnen und Lokführern für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, mit anderen Antifaschisten gegen Naziaufmärsche oder mit Schülerinnen und Schülern für ein gerechtes Bildungssystem. Bei einer Diskussionsveranstaltung des Bundesaußenministers ließ Robert sich weder von Polizei noch Personenschutz abschrecken, die ständig die »Schwarz-Gelb abschalten!«-Plakate herunterrissen. Er hängte sie unermüdlich aufs Neue auf. Aber auch im Kampf ums Parlament erwies sich Robert als Agitator erster Güte: Seine offene und freundliche Art trug maßgeblich zu den erfolgreichen StuPa-Wahlkämpfen bei, die Die Linke.SDS an der Frankfurter Hochschule Viadrina seit ihrer Gründung bestritt. Er wurde nicht müde, seine Kommilitoninnen und Kommilitonen mit Inhalten zu überzeugen, wo andere mit Eis und roter Brause auf Stimmenfang gingen. Mit gleichem Engagement war er auch in vielen Wahlkämpfen für die Partei DIE LINKE unterwegs. Im Jahr 2005 war er Mitglied der WASG in Berlin-Neukölln geworden – aus Enttäuschung über die SPD, der er 2002 noch seine Stimme gegeben hatte. Im gleichen Jahr trat er der sozialistischen Organi-

61


GESCHICHTE

Der Kampf für das Dach überm Kopf Die Bundesregierung will Tausende staatliche Wohnungen an einen Großinvestor verkaufen, DIE LINKE hingegen die Immobilien in eine Genossenschaft überführen und damit eine alte Tradition der Arbeiterbewegung wiederbeleben. Aus diesem Anlass blicken wir zurück in die Geschichte des genossenschaftlichen Wohnens

★ ★★

Arno Klönne ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21. Weitere Beiträge von ihm gibt es auf marx21.de in der Rubrik »Klönnes Klassenbuch«.

62

Z

Von Arno Klönne

igtausende von Mietern leben in Wohnungen der staatlichen Immobiliengesellschaft TLG. Die Gesellschaft, die hauptsächlich Immobilien in Ostdeutschland verwaltet, ist ein Schnäppchen aus volkseigenen Hinterlassenschaften. Doch jetzt will der Bundesfinanzminister sie veräußern, in den »Markt« geben. Gregor Gysi und andere Abgeordnete der Linkspartei machen mit »Fairwohnen« den Versuch, renditesüchtigen Investoren den Weg zu diesem Besitz zu verstellen – eine genossenschaftliche Form des Wohnungseigentums soll an die Stelle der TLG treten. Als einen »Witz« tat der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion dieses Projekt ab. Offenbar ist bei Sozialdemokraten die eigene Tradition solidarischen Wirtschaftens in tiefes Vergessen geraten, seltsamerweise gerade im Jahre 2012, das von den Vereinten Nationen zum »Jahr der Genossenschaften« deklariert ist. Die Auseinandersetzung um die TLG ist ein Beispiel für den permanenten Konflikt, der schon seit Jahren um das Recht auf menschenwürdiges und bezahlbares Wohnen geführt wird. In den Leitmedien findet er kaum Beachtung, er passt nicht in das Bild der Bundesrepublik als der europäische Erfolgsstaat in Sachen Wohlstandswirtschaft. Aber in der loka-

len Öffentlichkeit der großen Städte gehört der Mieterprotest inzwischen zum sozialen Alltag, als Kampf gegen die Privatisierung bisher öffentlichen oder gemeinnützigen Wohnungsbestandes, gegen Mieterhöhungen und Kündigungen, gegen die Verdrängung von Mietern aus ihren angestammten Wohnquartieren. Ausbeutung durch Kapitalmacht, so war schon früh bei Friedrich Engels und Karl Marx zu lesen, vollzieht sich nicht nur in der Sphäre der Lohnarbeit. Wenn der abhängig Arbeitende die Stätte der Produktion zum »Feierabend« verlassen darf, »fallen Hausbesitzer, Krämer und Pfandleiher über ihn her« – oder zeitgemäß ausgedrückt: Immobiliengesellschaften, Einzelhandelskonzerne und Banken. Daher kam es in der Geschichte der Arbeiterbewegung zum vielgestaltigen Aufbau alternativer wirtschaftlicher Einrichtungen, von Genossenschaften, für die Versorgung mit Konsumgütern vor allem und für Wohnungsbau und -eigentum. »Gemeinnützig« waren diese gedacht, in der Gegenwehr zu einer kapitalistischen Entwicklung, die immer mehr Terrain der alltäglichen Lebenswelt in Besitz nahm, die Verfügung über Kapital immer stärker konzentrierte und die Profitrate zu steigern suchte.

In großen Städten gehört Mieterprotest inzwischen zum sozialen Alltag


GESCHICHTE

© fuldaweichsel /flickr.com / CC BY-NC-ND

Der Kiez schlägt zurück: Widerstand gegen Mieterhöhungen wird vielerorts von den Betroffenen selbst organisiert

63


Die Grundidee war, durch organisierte, kommunitäre Selbsthilfe jenen Trends ein Schnippchen zu schlagen, die heutzutage als »Privatisierung« und »Herstellung von Marktförmigkeit« in der herrschenden Politik größte Wertschätzung genießen, auch bei Politikern der SPD. Historisch gab es bei Sozialdemokraten, Kommunisten und Anarchisten intensive Auseinandersetzungen darüber, welche gesellschaftspolitische Reichweite die Genossenschaftsbewegung haben könne. Diese Konflikte betrafen vor allem »Produktivassoziationen« und die damit verbundene Frage, ob durch Betriebe im Eigentum und in der Verwaltung der Produzenten die kapitalistische Wirtschaftsform schrittweise zu überwinden sei. Marx war, anders als häufig dargestellt, kein Gegner der genossenschaftlichen Organisation. Aber er hielt es für eine Illusion zu glauben, man könne dem Kapitalismus durch »alternative Betriebe« ein systemisches Ende bereiten. In der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg überwog zunächst das Misstrauen gegenüber den Konsum- und Wohnungsgenossenschaften. Befürchtet wurde, diese könnten von den Aktivitäten für die Partei und ihre parlamentarisch-legislativen Ziele im Staat ablenken. Aber in der Lebenspraxis der Arbeiterbevölkerung erwies sich die Genossenschaftsbewegung als hochattraktiv, schließlich wurde sie akzeptiert als »dritte Säule« der Arbeiterbewegung, neben der Partei und den Gewerkschaften, verortet in der Sphäre der »Konsumtion«. Wohnungsgenossenschaften, ergänzt durch »Bauhütten« als produzierende Betriebe, entwickelten sich nach dem Ersten Weltkrieg zu einem festen Bestandteil der linken politischen Kultur, ihres Alltags im industriellen Milieu. Sie waren mit den verschiedenen Richtungen in der Arbeiterbewegung verknüpft, von der USPD bis zum katholischen Arbeiterverein. Keinesfalls dienten sie nur dem Zweck, preisgünstig und geschützt vor Kündigung über Wohnraum zu verfügen. Vielmehr boten sie »sozialen Raum«, stellten Kommunikation und persönliche Nähe her, waren Ort gemeinsamer Erfahrungen. Auch architektonisch wurden Alternativen zur »Kleinfamilie« gesucht. All das hatte politische Wirkungen. Der heute als touristische Attraktion geltende Karl-Marx-Hof in Wien zum Beispiel war im Jahr

1934 das Zentrum des militanten Widerstandes gegen die Austrofaschisten. Im »Dritten Reich« wurden mit der Arbeiterbewegung insgesamt auch deren Genossenschaften zerschlagen. Das genossenschaftliche Wohnungseigentum der Arbeiterschaft wurde der faschistischen Deutschen Arbeitsfront (DAF) zugewiesen und unter deren Kommando in den administrativen Strukturen zentralisiert. Die örtliche Selbstverwaltung der Wohnsiedlungen, bis 1933 ein wesentliches Element ihrer inneren Verfassung, wurde beseitigt. Jede Erinnerung an die gesellschaftspolitischen Inhalte der baulichen »Objekte« in Zeiten freier Arbeiterorganisationen sollte ausgelöscht werden. Nach 1945 kamen die meisten der westdeutschen Wohnungsgenossenschaften unter die Verfügungsgewalt des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Der versuchte nicht, sie als Orte einer linken Alltagskultur wiederzubeleben, sondern verwendete sie als Baustücke für ein großformatiges Geschäftsvorhaben, die Konstruktion des Bauund Vermietungskonzerns Neue Heimat. In der Zeit des kriegsbedingten Wohnungsmangels und der öffentlichen Förderung von sozialem Wohnungsbau schien dies zunächst ein wirtschaftlich äußerst erfolgreiches Unternehmen zu sein. Der Anspruch, eine »alternative Ökonomie« zu entwickeln, ging allerdings bald verloren. Selbstverwaltung fand in den Quartieren der Neuen Heimat nicht statt, der gewerkschaftseigene Mammutkonzern passte sich den Regeln des kapitalistischen Marktes an, stolz auf seine nun »ideologiefreie« ökonomische »Modernität«. Ihr zeitweiliger Erfolg stieg seinen Spitzenmanagern zu Kopfe, Korruption und Selbstbereicherung verbanden sich mit Misswirtschaft, die Neue Heimat wurde zur größten Pleite in der Geschichte des DGB, am Ende wurde sie für eine D-Mark feilgeboten. Als historisches Exempel für die ruinöse Verwandlung von selbstverwalteten, der Logik des Kapitals opponierenden wirtschaftlichen Projekten in marktkonforme Großunternehmen ist die Neue Heimat lehrreich, in ihrem Aufstieg und ihrem Untergang.

Wohnungsgenossenschaften stellten Kommunikation und persönliche Nähe her, waren Orte gemeinsamer Erfahrungen

64

Anders als die Neue Heimat konnten sich viele kommunale Bau- und Wohnungsgesellschaften, aus den Etats für sozialen Wohnungsbau gefördert, über lan-


Die »Recht auf Stadt«-Bewegung nimmt an Fahrt auf. Ihre Zentren sind in Hamburg und Berlin, wo die Mieten explosionsartig steigen

Förderung des Wohnungsbaus sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR an diese Tradition an, selbstverständlich unter politisch und rechtlich unterschiedlichen Bedingungen. Erst im wiedervereinigten Deutschland wurde der Bruch mit der Idee einer »Sozialpflichtigkeit« der Wohnungswirtschaft vollzogen. Staat und Kommunen machten sich daran, den Bestand des sozialen Wohnungsbaus an private, auf ungehemmten Kommerz ausgerichtete Investoren zu übergeben. Der »Markt« sollte auch hier die Herrschaft übernehmen. Dagegen hat sich Widerstand entwickelt, in zahllosen Initiativen meist lokaler Art, von den Betroffenen ausgehend, den »Wutmietern«. Es hat sich gezeigt, dass entschiedener und mit Phantasie versehener Protest seine Wirkung haben kann. Er kann Stadtregierungen in ihrem Privatisierungsdrang stoppen, Wohnungsgesellschaften in ihren Renditeplänen zum Halt bringen. Diese Mieterbewegung ist ein wichtiger Faktor in der Auseinandersetzung um die sozialen Verhältnisse hierzulande. Es wäre unsinnig, sie parteipolitisch vereinnahmen zu wollen, aber sie braucht Parteinahme und Solidarität. Sie lässt sich unterstützen – so etwa bei ihren Bemühungen um Öffentlichkeit, durch Informationen über den Wohnungsmarkt und die Rechtslage, mit wohnungspolitischen Initiativen in den Parlamenten. Gerade in Zeiten, in denen die Löhne gesenkt und die Sozialleistungen geschmälert werden, gilt: Die Auseinandersetzung um das Dach überm Kopf, um Wohnraum, Mieten, städtische Quartiere, ist Teil des Klassenkonflikts, ganz alltäglich – aber existenziell. ■

GESCHICHTE

Eine gewisse Belebung erfuhr die Idee solidarischen Wirtschaftens in der Alt-Bundesrepublik nach 1968 in der alternativen Szene, bis hin zu kommunitären Versuchen, Arbeiten und Leben räumlich miteinander zu verbinden. Nicht alle dieser Experimente wurden aufgegeben oder sind gescheitert. In den großen Städten oder dicht besiedelten Regionen haben sie jedoch für den Wohnungsmarkt kaum Bedeutung. So blieb es dabei: Der »soziale Raum«, den in dieser Hinsicht einst die Genossenschaften der Arbeiterbewegung besiedelt und mit Leben gefüllt hatten, existiert nicht mehr. Die politische Linke der Gegenwart wird klären müssen, ob sie ihn neu erschließen kann und will. Die gesellschaftliche Entwicklung drängt dahin, »prekäre« Arbeits- und Einkommensverhältnisse machen das Leben »unwohnlich«. Da ist es an der Zeit, die Genossenschaft als Chance wiederzuentdecken – nicht weil sie dem Kapitalismus den Garaus machen könnte, sondern weil sie helfen kann, unter kapitalistischen Verhältnissen sozial zu überleben, solidarische Erfahrungen zu machen, politische Energien zu entwickeln. Die historische Arbeiterbewegung hat, neben ihren eigenen genossenschaftlichen Projekten, Wohnungspolitik auch durch Druck auf die Kommunen und den Staat gemacht, mit zeitweilig großer Wirkung. In der Verfassung der Weimarer Republik wurde das Recht auf gesundes Wohnen verankert. In Städten wie Berlin, Hamburg oder Köln kam es unter kommunaler Regie und in gemeinnützigen Unternehmensformen zu einem umfangreichen sozialen Wohnungsbau. Nach 1945 knüpfte die kommunale und staatliche

© Wolfgang Sterneck / flickr.com / CC BY-NC-SA

ge Jahre hin wirtschaftlich halten. Gesellschaftspolitische Ansprüche hatten und haben sie durchweg nicht, immerhin aber boten sie zum Teil soziale Vorzüge für materiell schlecht gestellte Bevölkerungsgruppen, etwa die Mietpreise und den Kündigungsschutz betreffend. Inzwischen sind viele von ihnen »privatisiert«, also in die Hände von Finanzinvestoren geraten oder auf dem Wege dahin. Die Stadtregierungen erhofften und erhoffen sich dadurch eine Entlastung ihrer knappen Kassen oder »Privatisierungsgewinne«. Doch in den meisten Fällen geht diese neoliberal geprägte Rechnung nicht auf. Auf den Ausverkauf genossenschaftlichen Wohnungsbesitzes drängen häufig auch örtliche Oberschichten, denen die Genossenschaftswohnungen bei der »Flurbereinigung« im Wege sind, also der räumlichen sozialen Separation von Reich und Arm. In Zeiten der Angst vor einer großen Inflation und der Turbulenzen im Finanzmarkt ist der Drang nach urbanem Boden und Immobilieneigentum stark, es werden hier spekulative Gewinne erhofft. Umgekehrt sind es schlechte Zeiten für den Wunsch nach sozialem Wohnungsangebot. Dementsprechend kommt jetzt auch der Rest der genossenschaftlichen Objekte aus DDR-Zeiten unter den Hammer.

65


Promille, Protest und Proleten Der besoffene Arbeiter macht keine Revolution, doch politische Aufst채nde wurden nicht selten in Kneipen vorbereitet. Eine kleine Betrachtung zur Bedeutung des Alkohols f체r politische Bewegungen Von Ralf Hoffrogge

66


nach ihm scheint zu stark. Und mangels Mitgliedsbeiträgen finanzieren Cocktails und Bier die Mehrheit aller Aktivitäten in der außerparlamentarischen Linken, dies meist auf Soliparties, mitunter aber auch auf unkonventionellere Weise: Beim Abbau der Protestcamps gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 blieben Berge von Pfandflaschen zurück, die von einer eigens gegründeten AG aufgesammelt wurden und mehrere Tausend Euro zur Finanzierung des Protests einbrachten. Stillschweigend ist der Alkohol als soziales Fundament politischer Aktivitäten anerkannt worden.

★ ★★

Ralf Hoffrogge ist Historiker und Mitglied im Gesprächskreis Geschichte der RosaLuxemburg-Stiftung.

GESCHICHTE

N

ach den Drogenexperimenten der 1960er Jahre ist das gängigste Rauschmittel in der außerparlamentarischen Linken längst wieder der Alkohol. Aus Hausprojekten, Szenetreffs und Szenekneipen ist er kaum wegzudenken. Hin und wieder gibt es hitzige Debatten dazu: Dann wird ein Bierverbot auf Plena eingeführt und als lustfeindlich wieder verworfen, nicht selten kommt es unter Alkoholeinfluss zu Übergriffen verschiedenster Art, und auch die Bierflasche auf Demos wird immer wieder kritisiert. Der Alkohol lässt sich nicht ächten, das Bedürfnis

67


Die Bewegungslinke des 21. Jahrhunderts hat damit unausgesprochen eine Erkenntnis nachvollzogen, zu der bereits die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts kam. Die Industrialisierung schuf damals den Markt für Schnaps als neue Volksdroge, das teurere Bier war für viele zunächst unerschwinglich. Schnaps wirkte als Betäubungsmittel für fast unbegrenzte Arbeitstage mit einer Dauer von bis zu fünfzehn Stunden. Alkohol am Arbeitsplatz war die Norm,

© wikimedia / CC BY-NC-ND

Oft wurde Schnaps gleich als Teil des Lohns ausgegeben

★ ★★ Das BUCH

Ralf Hoffrogge: Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914 (Schmetterling-Verlag 2011)

68

er betäubte die Sinne und das Zeitgefühl – was dem Unternehmer gut passte: Oft wurde Schnaps gleich als Teil des Lohns ausgegeben. Da wundert es kaum, dass seinerzeit über eine regelrechte »Branntweinpest« geklagt wurde. Ab 1830 entstand daher aus kirchlichen und bürgerlichen Kreisen eine erste Abstinenzbewegung. Deren Appelle richteten sich jedoch stets gegen die Konsumenten, nie gegen die Produzenten. Aus diesem Grund war den Arbeitenden diese Bewegung suspekt und verlor sich schnell. Mit dem versoffenen Proletariat alten Stils war jedoch die seit den 1870ern geforderte Produktion auf Weltmarktniveau nicht durchzuführen. Auch die Arbeiter selbst hatten Interesse an einer Mäßigung: Ihre Gesundheit und die politische Organisation verlangten ein Mindestmaß an Nüchternheit. Im Kampf gegen den Alkoholismus trat nun ein ungewöhnlicher Bündnispartner auf: das Bier. Die Einführung untergäriger Biere – etwa des bekannten »Pils« – hatten die Beliebtheit dieses Getränkes seit den 1870er Jahren erheblich gesteigert. Bier am Arbeitsplatz erlaubte einen langsameren Rausch. Biertrinken wurde daher auch vom Chef gern gesehen und der Gerstensaft in Großbetrieben direkt am Arbeitsplatz verkauft, als Alternative zum Schnaps. Die Veränderung des Trinkverhaltens wurde begünstigt durch Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen, jedoch nur für Facharbeiter. In Ziegeleien fand ein Potsdamer Gewerbeaufsichtsbeamter daher noch 1907 einen Schnapskonsum von bis zu zwei Li-

Der Arbeiter-Abstinenten-Bund sah im Streben nach Abstinenz ein Mittel im Klassemkampf. Aufgrund des hohen Anspruchs an die Lebensführung der Mitglieder, blieb er jedoch stets eine Randerscheinung in der Arbeiterbewegung.

tern am Tag vor. Erst um 1900 wurde mit Unfallverhütungsvorschriften das Trinken am Arbeitsplatz untersagt. Das Bier auf Arbeit wurde zum Feierabendbier. Kürzere Arbeitstage führten dazu, dass Lohnarbeit, Schlaf und Mahlzeiten den Tag nicht mehr komplett ausfüllten. Erstmals entstand so etwas wie Freizeit. Wo sollte man diese Zeit verbringen, was tun? Die engen proletarischen Wohnungen fielen als Freizeitort aus. Somit wurde die Eckkneipe schnell zum proletarischen Wohnzimmer. Kneipen dienten jedoch nicht nur dem Trinken, sondern auch als Versammlungsort. In den »Parteikneipen« tagten Gewerkschaft und SPD, hier wurde politisiert und diskutiert, hier entwickelte sich auch die Gegenkultur der Arbeiter mit ihren zahlreichen Vereinen. Nicht mehr Schnaps, sondern Bier war dabei das Getränk der Wahl. Aber auch die Alkoholgegner waren mangels Alternativen gezwungen, ihre Versammlungen im Gasthaus abzuhalten. Die Kneipe war auch der zentrale Zufluchtsort der Arbeiterbewegung von 1878 bis 1890, als Reichskanzler Bismarck Arbeiterpartei und Gewerkschaften für illegal erklärte. Die Bewegung überwinterte in den Hin-


terzimmern der Wirtshäuser, sie wuchs und radikalisierte sich trotz Verbots: Das nach Bismarcks Fall verkündete Erfurter Programm der SPD von 1890 bekannte sich erstmals offen zum Marxismus. Die Kneipen waren Männerwelten, Fluchtorte vor der Familie und dem häuslichen Elend. Denn trotz erster Lohnerhöhungen lebten viele Proletarier auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch am Existenzminimum. Zwar arbeiteten auch Frauen in Betrieben und betäubten den Stress am Arbeitsplatz mit Alkohol. Dennoch blieb ihnen die Etablierung eines gemäßigten Alkoholkonsums in der Kneipe verwehrt. Der Besuch galt als unschicklich. Es war die Verbannung der Frauen aus der Kneipe, die ihnen über Generationen auch die gleichberechtigte Integration in die Arbeiterbewegung verwehrte. Denn obwohl die Sozialdemokratie Gleichberechtigung in ihren Programmen verankerte: Solange Frauen in der Parteikneipe ein Fremdkörper waren, blieben sie von den wesentlichen Diskussionen ausgeschlossen. Die Parteikneipe war ein widersprüchlicher Ort. Sie hielt die Bewegung zusammen, schloss jedoch gleichzeitig die Hälfte der Klasse aus. Anhaltender und immer wieder aufblühender Elendsalkoholismus außerhalb der Facharbeiterkreise führte in den 1880er Jahren zu einer Renaissance der Abstinenzbewegung. Neue medizinische Einsichten über die Folgen des Alkohols trugen dazu bei, dass sich erstmals auch Sozialdemokraten anschlossen. Eine der ersten und zentralen Debatten um 1890 war daher die Alkoholfrage. Die Forderungen gingen so weit, nur abstinenten Arbeitern und Arbeiterinnen die Mitgliedschaft in der SPD zu gestatten. Diese Ideen fanden jedoch den Widerspruch des Chefideologen Karl Kautsky. Er kritisierte die vernichtende Wirkung des Alkoholismus auf Gesundheit und proletarische Solidarität, prangerte insbesondere den Schnaps als Feind der Arbeiterklasse an. Vehement verteidigte er jedoch die Parteikneipe: »Das einzige Bollwerk der politischen Freiheit des Proletariers, das ihm so leicht nicht konfisziert werden kann, ist – das Wirtshaus. (…) Gelänge es dagegen der Temperenzlerbewegung (…) die deutschen Arbeiter in Masse zu bewegen, das Wirtshaus zu meiden (…) dann hätten sie erreicht, was dem Sozialistengesetz niemals auch nur annähernd gelungen: der Zusammenhalt des Proletariats wäre ge-

sprengt (...).« Die Basis in den Wirtshäusern schloss sich Kautsky an. Die Abstinenzler waren gezwungen, sich in einem »Arbeiter-Abstinenten-Bund« gesondert zu organisieren. Sie trugen allerdings zu einer gewissen Mäßigung des Trinkverhaltens bei, denn auch der »gepflegte« Bierrausch war oft eine Form des Alkoholismus mit oft schweren gesundheitlichen Folgen. Die Forderung nach komplettem Alkoholverzicht als Voraussetzung des Sozialismus wurde aber von einer überwältigenden Mehrheit abgelehnt. Die Zeitschrift Der Abstinente Arbeiter hatte um 1913 etwa 5100 Abos, das Fachblatt der sozialdemokratischen Kneipenbesitzer Der freie Gastwirt hingegen 11.000. Denkt man sich zu jedem Wirt eine volle Kneipe, sind die Mehrheiten klar.

Die proletarische Parteikneipe war keine Subkultur, sondern ein Massenphänomen

Bier und Bewegung waren also untrennbar verbunden, die Wende zum Bier fiel sogar in eins mit der Hochphase der Arbeiterbewegung. In heutigen Eckkneipen ist von Protest und Politik allerdings meist wenig zu spüren – der »Stammtisch« gilt eher als Einzugsgebiet der CSU. Obwohl Parteikneipe und Szenetreff faktisch dieselbe soziale Funktion erfüllen, gibt es einen großen Unterschied: Die proletarische Parteikneipe war keine Subkultur, sondern ein Massenphänomen. Ihr Erfolg beruhte darauf, dass auch unpolitische Arbeiter beim Bier in Debatten einbezogen wurden und mit politischen Menschen in Kontakt kamen. Gewöhnliche Proleten – neudeutsch als Prolls bezeichnet – würden sich jedoch in heutigen Szenekneipen kaum wohlfühlen, denn diese sind eben Teil einer Szene: eines subkulturellen Zusammenhangs, der sich von der Restgesellschaft absetzt. Dies hat Vorteile: antirassistische und antisexistische Standards lassen sich in solchen »Freiräumen« eher durchsetzen. Andererseits wirken diese und andere Prinzipien kaum noch in die Gesellschaft, die man doch eigentlich verändern will. ★ ★★

Bei diesem Text handelt es sich um einen überarbeiteten Auszug aus Ralf Hoffrogges Buch »Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914« (Schmetterling-Verlag 2011). Er ist zuvor in der Tageszeitung Neues Deutschland veröffentlicht worden. Wir danken Verlag und Autor für die freundliche Abdruckgenehmigung.

GESCHICHTE

HINTERGRUND:

69


Das neue Londoner Olympiastadion im Smog: Vernebelungstaktiken setzte auch die Regierung ein, um den Hauptstädtern die Spiele schmackhaft zu machen

© Frans Zwart / flickr.com / CC BY-NC-ND

KULTUR

Die Olympische Festung London 2012: Wegen der Olympischen Spiele werden Teile der britischen Hauptstadt komplett umgebaut. Ziel ist eine maximaler Verwertung und Kontrolle städtischen Raums. Die Bewohner der Stadt bleiben auf der Strecke

I

Von Phil Butland

m Juli und August 2012 finden die Olympischen Spiele in London statt. Für viele ist das eine gute Gelegenheit, die besten Athleten der Welt zu sehen, noch dazu in einem ganz besonderen Umfeld. Im Gegensatz zu ande-

70

ren Sportveranstaltungen rühmen sich die Veranstalter der Olympischen Spiele, ihre Wettbewerbe seien weniger kommerziell und der Tradition des Amateursports und des Fairplay verpflichtet. Die Olympische Charta verspricht sogar, »den Sport in den Dienst der


harmonischen Entwicklung des Menschen zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist«. Den Einwohnern Londons wurde versprochen, dass mit den Spielen auch neue Arbeitsplätze und Wohnungen in der Stadt entstehen würden. Der damalige Labour-Bürgermeister Ken Livingstone stellte im Jahr 2007 in Aussicht, mit der Ausrichtung der Spiele ein massives Regenerierungsprojekt im Stadtteil Stratford durchzuführen. Laut Livingstone sollten so 40.000 neue Wohnungen und 50.000 neue Jobs in einer der ärmsten Gegenden im Osten Londons geschaffen werden. Schon jetzt sehen sich viele Einwohner Ostlondons betrogen. Um die Spiele zu finanzieren, erhöhte die Stadt die Wohnungssteuer (Council Tax) um 20 Pfund (25 Euro). Statt billiger Wohnungen hagelt es Zwangsräumungen. Wer die durch die Olympischen Spiele noch einmal angezogenen Mieten nicht mehr bezahlen kann, fliegt raus. So erging es auch Daniele Manske, deren Vermieter die Chance ergriffen hat, die Miete für ihre Dreizimmerwohnung von 1050 auf 1400 Pfund zu erhöhen. Daniele und ihr Partner wurden zwangsgeräumt, denn im Moment finden sich Mieter genug, die auch die höhere Miete bezahlen können.

★ ★★

PHIL BUTLAND ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Wedding. Er ist in Großbritannien aufgewachsen und war dort aktiv in der Friedensbewegung und gegen Rassismus. KULTUR

Die britische Regierung will 13.500 Soldaten einsetzen – mehr als in Afghanistan

Daniele ist kein Einzelfall. In Stratford – dem Gebiet, für das Livingstone eine »Regenerierung« versprochen hatte – sind die Durchschnittsmieten um 20 Prozent gestiegen. Die Wohltätigkeitsorganisation Shelter hat nachgewiesen, dass viele Vermieter versuchen, ihre Mieter rechtswidrig zur Räumung zu zwingen. Kein Wunder: Ein Immobilienmakler berichtete der BBC, dass Wohnungen, die normalerweise 350 Pfund pro Woche kosten, während der Olympischen Spiele für 6000 Pfund in der Woche vermietet werden können. Natürlich sind die Zustände in London nicht mit denen in Peking 2008 vergleichbar, wo anderthalb Millionen Menschen ihre Wohnungen verloren haben. Aber die Anzahl verfügbarer bezahlbarer Wohnungen nimmt in London durch die Olympischen Spiele drastisch ab. Wohnungen, Fabriken und Naturschutzgebiete wurden dem Bau neuer Spielstätten geopfert. Unter anderem wurde das zweitgrößte Haus im Besitz einer Wohnungsbaugenossenschaft in ganz Europa, Clay’s Lane Estate, abgerissen und alle Bewohner mussten umziehen. Auch so haben es Mieter in Großbritannien schon schwer genug. Die Wirtschaftskrise mit der damit einhergehenden wachsenden Arbeitslosigkeit wird von immer neuen Angriffen der liberal-konservativen Regierung auf die Bevölkerung flankiert. Das Wohngeld für Arbeitslose und Geringverdiener wurde gekürzt. Viele können es sich nun nicht mehr leisten, in ihren Wohnungen zu bleiben. In Newham, einem weiteren Ostlondoner Bezirk, stehen für 28.000 Menschen auf Wohnungssuche 600 freie Wohnungen zur Verfügung. Sir Robin Wales, Bezirksbürgermeister

71


© Künstler: Banksy / Foto: Alan Stanton / flickr.com / CC BY-SA

Graffiti des britischen Künstlers Banksy. Den Londonern wird allmählich klar, was sie während der Olympischen Spiele alles nicht dürfen: sich frei bewegen zum Beispiel. Schuld sind 18 Kilometer Elektrozaun

von der Labour-Partei, will Mieter zum Umzug nach Stoke-on-Trent nötigen, um die Wohnungsnot zu lösen. Stoke-on-Trent ist über 200 Kilometer von London entfernt. Ähnlich steht es um die versprochenen neuen Arbeitsplätze. Wenn überhaupt welche entstehen, sind es temporäre Billigjobs. Die Organisatoren der Spiele zahlen an ihre Vertragspartner eine pauschale Vergütung von zehn Pfund pro Arbeitsstunde. Doch ist zum Beispiel im Vertrag der offiziellen Sicherheitsfirma G4S ausdrücklich ein »Anreiz (...) Einsparungsmöglichkeiten bei den Arbeitskosten zu identifizieren« festgeschrieben. G4S wird also ermutigt, die Löhne zu drücken und den »gesparten« Betrag einzubehalten. Outsourcing und Dumpinglöhne sind die Folge. Viele Arbeitsverträge werden an Leiharbeitsfirmen wie Carillion und McAlpine outgesourct, deren schwarze Listen gegen Gewerkschafter kürzlich publik geworden sind. Auf den schwarzen Listen stehen zum Beispiel alle, die zuvor als Arbeitssicherheitskräfte gearbeitet haben. Angesichts von 50 tödlichen Arbeitsunfällen im Jahr ist diese Kürzungsstrategie fatal. Während die Bewohner vertrieben und die Arbeiter ausgebeutet werden, können einige die Spiele in Luxus genießen. Das Internationale Olympische Ko-

72

mitee hat die Organisatoren in London verpflichtet, für die Funktionäre 2000 Zimmer in Fünfsternehotels zur Verfügung zu stellen. Auf den sowieso schon überfüllten Straßen soll es reservierte Fahrspuren, die »Games Lanes«, geben. Doch nicht nur Funktionäre und Sponsoren fahren ungehindert. Für 20.000 Pfund (25.000 Euro) kann jeder eine Genehmigung erwerben. Krankenwagen dürfen die »Games Lanes« in Notfällen befahren, allerdings nur mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene. Zu den Profiteuren der Olympischen Spiele zählen auch die ehemaligen Mittelstreckenläufer und Parlamentsabgeordneten Sebastian Coe und Paul Deighton, Geschäftsführer des Londoner Organisationskomittees (LOGOC). Coe »verdient« eine halbe Million, Deighton sogar 800.000 Pfund im Jahr. 15 weitere Direktoren bekommen immerhin noch je 150.000 Pfund. Insgesamt 904 »Manager« werden sich an den Spielen bereichern. Das beste Geschäft haben jedoch die privaten Sponsoren gemacht. Ursprünglich wurden die Kosten der Spiele auf zwei Milliarden Pfund geschätzt. Davon sollten private Sponsoren mehr als eine Milliarde aufbringen. Inzwischen sind die Kosten auf zwölf Milliarden Pfund angewachsen und könnten weiter steigen. Der Privatsektor zahlt nun jedoch deutlich weniger


als im Vorfeld versprochen, lediglich zwei Prozent der Summe werden von Sponsoren übernommen. Der Rest muss von den britischen Steuerzahlern getragen werden. Wer sind nun die Sponsoren, die mit den Spielen Gewinn machen? Ein kurzer Blick erweckt den Eindruck, man wäre einer Satire aufgesessen. »Offizieller Nachhaltigkeitspartner« ist der Ölkonzern BP, der kürzlich seinen Zweig Solarenergie geschlossen hat, weil der nicht genug Profit abwarf. Ein weiterer »Top Sponsor« ist das Unternehmen Dow Chemicals. Dows Tochterfirma Union Carbide war für den desaströsen Chemieunfall im indischen Bhopal verantwortlich, durch den 20.000 Menschen starben und bis heute Hunderttausende schwer erkrankt sind. Dow Chemicals hat außerdem das Giftgas Agent Orange hergestellt, dem im Vietnamkrieg Millionen zum Opfer fielen. Nicht fehlen dürfen natürlich McDonald’s und Coca-Cola. Die letzte Labour-Regierung hat zugunsten der Sponsoren neue Gesetze wie den »London Olympic Games and Paralympic Games Act« erlassen. Dieses Gesetz untersagt die Nutzung bestimmter Namen, Begriffe und Logos. Wer »Olympia«, »2012«, »Gold« oder »Sommer« verwendet, bricht Urheberrecht. Nun drohen 31 griechischen Cafés und Firmen in London hohe Geldstrafen, wenn sie ihre Namen nicht ändern. Um sicherzustellen, dass diese Gesetze eingehalten werden, sind »Markenschutzteams« an den Austragungsorten und in der Stadt unterwegs. Sie sollen »Kleider oder Gegenstände, die Werbung von anderen Firmen als den offiziellen Sponsoren enthalten« entfernen. Und selbstverständlich dürfen im Olympischen Dorf nur McDonalds-Burger gegessen und Erfrischungsgetränke von Coca-Cola getrunken werden.

der Stadtforscher Stephen Graham in der Zeitung Guardian dokumentierte. Falls die Soldaten Angst bekommen sollten, dass ihren Waffen nicht ausreichen, haben sie auch Zugang zum »Long Range Acoustic Device«. LRAD ist eine »Trommelfell-zersplitternde Waffe«, die im irakischen Kriegsgebiet getestet wurde. Dazu gibt es 18 Kilometer Elektrozaun und 55 Teams mit Kampfhunden. Rund um die Austragungsorte ist die Polizei ermächtigt, gegen jeden vorzugehen, der »antisoziales Verhalten« zur Schau trägt. Untersagt ist »Herumhängen in Bahnhöfen«, Betteln, Straßenhandel, »Herumlungern« in der falschen Kleidung (beispielsweise dem gefürchteten »Hoody«, dem Kapuzenpullover) und alles, was irgendjemand als Belästigung empfinden könnte. 10.000 Schuss Plastikmunition stehen der Polizei zur Abwehr zur Verfügung. Warum diese massive Aufrüstung und warum gerade jetzt? Wie in vielen Ländern gab es auch in Großbritannien Widerstand gegen die Abwälzung der Folgen der Wirtschaftskrise auf die Bevölkerung. Letztes Jahr kam es in vielen britischen Städten zu Aufständen armer Jugendlicher, nachdem die Londoner Polizei einen schwarzen jungen Mann getötet hatte. Gleichzeitig bewiesen die Gewerkschaften ihre Stärke mit Streiks und großen Demonstrationen gegen die Rentenreform. Es wird daher kaum überraschen, wenn diese »temporären Sicherheitsmaßnahmen« auch nach Ende der Spiele beibehalten werden. Der sozialistische Sportjournalist Dave Zirin bringt es auf den Punkt: »Bei den Olympischen Spielen geht es ebenso wenig um Sport wie es beim Irakkrieg um Demokratie ging. Es geht nicht um die Athleten und ganz sicher nicht darum, ›die Gemeinschaft der Nationen‹ zusammenzubringen. Die Spiele sind ein neoliberales trojanisches Pferd mit dem Ziel, Großunternehmen den Weg zu ebnen und grundlegende Bürgerrechte abzubauen.«

So weit, so bekannt von früheren Olympischen Spielen. Wie überall im Leben versuchen Konzerne Profit herauszuschlagen, wo Menschen Spaß haben. Der wahre Skandal dieser Spiele ist nicht die Gier der Kapitalisten, sondern der massive Ausbau des britischen Sicherheitsapparats. Allein 500 Millionen Pfund werden für die 48.000 Sicherheitskräfte während der Spiele ausgegeben, Typhoon-Flugzeuge und zwei Kriegsschiffe in London stationiert und Flugabwehrkörper auf Wohnhäusern aufgestellt. »Wogegen sollen die uns schützen? Einen Überraschungsangriff argentinischer Hockeyspieler?« erregt sich der Anwalt Dave Renton. Zusätzlich werden in London 13.500 britische Soldaten eingesetzt – mehr als in Afghanistan. Die Stadt wird außerdem flächendeckend mit neuester elektronischer Überwachungstechnologie aufgerüstet, wie

Es könnte aber auch anders kommen. Die Olympischen Spiele haben mit dem Überbringen der Olympischen Fackel von Griechenland nach Großbritannien begonnen. Inzwischen springt aber noch ein anderer Funke von Griechenland über: der Geist des Widerstands. Wenn wir uns im August die Wettkämpfe in London anschauen, dürfen wir nicht vergessen, dass die »1 Prozent« alles daran setzen, daraus größtmöglichen Profit zu schlagen. Deswegen können wir nicht einfach den Athleten zujubeln, sondern müssen selber aktiv werden und für eine Gesellschaft kämpfen, in der unser Vergnügen nicht instrumentalisiert wird. Dann werden auch die Spiele uns gehören. ■

KULTUR

Die Spiele sind ein neoliberales trojanisches Pferd

73


KULTUR

»Musik und Aktivismus passen gut zusammen« Seit fast zwanzig Jahren macht er politischen Punkrock. Pat Thetic und seine Band Anti-Flag wollen sich einmischen – durch Musik genauso wie durch Protestaktionen. Mit uns sprach er über Occupy Wall Street, die Arbeit bei einem Majorlabel und darüber, was unter einem Präsidenten Noam Chomsky anders wäre Interview: David Jeikowski

74


Alexlane / Deviantart / CC BY-NC-ND

Die Fäuste hoch: Anti-Flag-Konzerte sind ein kraftvoller Mix aus Punkevent und politischer Kundgebung

Pat Thetic

diesem Frühsommer durch Europa tourten, trafen wir in Wiesbaden einen redseligen Pat Thetic zum Interview.

P

Pat Thetic ist Schlagzeuger der US-amerikanischen Punkrockband Anti-Flag. Seitdem ihrer Gründnung haben AntiFlag acht Alben veröffentlicht, das aktuelle trägt den Titel »The General Strike« (SideOneDummy Records 2012).

at, euer neustes Album heißt »The General Strike« (»Generalstreik«). Warum dieser Titel? Wir sind der Meinung, dass zumindest in den USA das Mittel des Generalstreiks in den letzten hundert Jahren nicht mehr effektiv genutzt wurde. Niemand sieht mehr den Gesamtzusammenhang, dass wir alle immer noch Arbeiter sind, egal ob wir in einem Grafikunternehmen oder einer Stahlfabrik arbeiten. Wir haben immer noch die gleichen Bedürfnisse und Sorgen. Der Generalstreik ist ein Weg, politische Veränderungen mit so wenig Gewalt wie möglich zu erreichen. Revolutionen, die mithilfe von Gewalt gewonnen werden, sind nur schwer aufrecht zu erhalten. Denn die Herrschenden haben grundsätzlich weniger Skrupel,

KULTUR

S

ie ecken an. Als Anti-Flag im Jahr 2003 »The Terror State« veröffentlichten, weigerten sich viele Plattenläden, das Album zu verkaufen. Der Grund: Das Cover zeigte eine junge Soldatin, tot auf dem Boden liegend. Es war Anti-Flags Art gegen die Kriege in Irak und Afghanistan zu protestieren. Mit Songs wie »Turncoat« (»Wendehals«) rechnete die Gruppe aus Pittsburgh schonungslos mit der Politik des damaligen Präsidenten George W. Bush ab. Doch die Band belässt es nicht beim musikalischen Widerstand. Gemeinsam mit dem Filmemacher Michael Moore organisierte sie eine große Demonstration gegen den Irakkrieg. Häufig treten Anti-Flag bei Protestaktionen auf, so im Jahr 2009 im besetzten Audimax der Uni Wien oder zuletzt bei Occupy Wall Street in New York. Als sie in

75


W

Gewalt einzusetzen, als die Bevölkerung. Wenn man, wie momentan in Syrien, einfach nur auf die Straße geht und sich gegenseitig abschießt, gewinnt niemand. u hast die USA angesprochen. Dort ist mit Occupy Wall Street eine neue Bewegung entstanden. Hast du das Gefühl, dass sich angesichts der Finanzkrise die politische Lage in eurem Land verändert? Ja, ich denke schon. An großen Bewegungen gibt es zurzeit auf der Linken die Occupy- Bewegung und auf der Rechten die Idioten von der Tea Party. So unterschiedlich diese beiden Lager auch sein mögen: Der Ursprung ihrer Frustration liegt jeweils in der katastrophalen ökonomische Situation, in der wir uns befinden. Die Finanzkrise, die Wohnungssituation, das Gesundheitssystem, die Tatsache, dass die Löhne sinken und die Leute gleichzeitig kaum noch Jobs finden – all das frustriert die Menschen. Deshalb wäre es doch wunderbar, wenn die Linke zusammen mit den etwas weniger Verrückten auf der Rechten echte soziale Veränderungen erkämpfen könnte. Es gibt jetzt schon großen Druck auf die Regierung, die Probleme zu lösen. Je weniger ihr das gelingt, desto stärker werden die Bewegungen werden, desto mehr wird auf den Straßen los sein.

H

äufig bringt Musik ja ganz unterschiedliche Leute zusammen. Ist es für euch als Band mit antikapitalistischen Texten eigentlich schwierig, viele Leute zu erreichen ohne zugleich eure Ideale aufzugeben? Das ist ein echter Knackpunkt für jede Band mit sozialpolitischem Anliegen, denn jederzeit bekommt man zu hören, man hätte den Punkt verfehlt. Versuchst du, mehr Leute zu erreichen, dann heißt es, du verkaufst dich. Spielst du nur vor zwanzig Kids in irgendeinem Keller, dann hast du angeblich nicht genug getan. Unsere Aufgabe als Band und als Aktivisten liegt gewissermaßen darin, Wege dazwischen zu finden. Denn letztendlich geht es uns darum, genau die Problematiken auszusprechen, über die die MainstreamMedien nicht berichten, und bestimmte Ereignisse aus einer anderen Perspektive darzustellen. Ich behaupte nicht, dass uns das immer gelingt. Aber das war immer unser Ziel als Band und es macht uns weiterhin großen Spaß, das zu versuchen.

76

© Dan Cox / CC BY-ND.jpg

D

Anti-Flag-Sänger Justin Sane hat klare Vorbilder: Der Slogan »This machine kills fascists« prangte auch auf der Gitarre des großen linken US-Folkmusikers Woody Guthrie

I

st das auch der Grund, warum ihr euch im Jahr 2005 von RCA Records, einem Majorlabel von Sony Music, unter Vertrag habt nehmen lassen? Ja, auf jeden Fall. Als wir dorthin gingen, hat niemand in den Medien von den Kriegen in Afghanistan und Irak gesprochen. Erst kurze Zeit später erschien Green Days Album »American Idiot«, das kommerziell sehr erfolgreich war und sich gegen die Politik von Bush richtete. Von da an entwickelte sich tatsächlich eine Gegenöffentlichkeit und immer mehr Bands waren bereit, kritische Statements zu machen. Aber davor gab es ein gewisses Vakuum. Daher dachten wir uns: Scheiß drauf. Wir hatten kein Problem damit, öffentlich Dinge zu sagen, die Leute anstößig finden. Daher waren wir bereit, das Risiko einzugehen. Aber, naja, besonders toll ist es nicht, bei einem Majorlabel zu sein. Letztendlich hat es auch nicht funktioniert. Trotzdem war es interessant, eine Zeit lang in einer größeren Öffentlichkeit kritisch mitzumischen, um dann wieder in unserer eigenen Welt, bei einem Independentlabel, das zu tun, was wir immer tun. Der einzige Unterschied ist, dass wir nun wieder unsere eigenen Kämpfe in Pittsburgh austragen müssen, anstatt das von irgendeinem Labelmitarbeiter in einem Hochhaus in New York City machen zu lassen.

elche Auswirkungen hatte der Wechsel vom Major- zum Independentlabel SideOneDummy denn für euch? Bei einem Independentlabel hast du definitiv nicht mehr so viel medialen Einfluss. Wenn man bei einem Majorlabel unter Vertrag steht, stellen sie dich ins Fernsehen, vermarkten deine Lieder und geben viel Geld aus, um dich und deine Musik an Orten zu platzieren, die sich eine kleine Plattenfirma wie SideOneDummy einfach nicht leisten kann. Das war das Spielchen, das wir eingegangen sind. Es ist Fluch und Segen zugleich: Auf der einen Seite ist es widerwärtig, wie sich große Labels ihren Einfluss erkaufen. Aber auf der anderen Seite ist es besser, wenn sie das für politische Bands wie Bad Religion oder The (International) Noise Conspiracy tun als für Britney Spears.

W

ie würdest du den musikalischen Einfluss beurteilen, den ihr als Band ausübt? Ich denke, Anti-Flag ist nur ein Glied in einer Kette progressiver, sozialkritischer Musiker und Bands, angefangen bei dem Liedermacher Woody Guthrie über Leute wie Bob Dylan zu Punkrockbands wie Strike Anywhere und Bad Religion. AntiFlag ist kein großes Glied in dieser Kette, aber wir sind eine Weiterführung dieser Kultur und der Idee, dass Musik und sozialer Aktivismus gut zusammenpassen. Auch in Zukunft wird es bestimmt einen weiteren Woody Guthrie oder eine weitere Band wie Rage Against The Machine geben, die politischen Einfluss haben werden. Die werden ihre Abstammung dann nicht unbedingt bei uns finden, aber in dieser besagten Kette, die sich durch die Geschichte zieht. Klang das nicht so bescheiden, wie es nur geht? (lacht)

B

ei vielen US-amerikanischen Musikgruppen gehört es zum Selbstverständnis, Patriot zu sein. Selbst einige Punkbands schwenken inzwischen stolz die US-Flagge auf der Bühne. Wie steht ihr dazu? Immerhin nennt ihr euch ja Anti-Flag. Diese Problematik gehört zu den Dingen, die von Anfang an das Konzept unserer Band geprägt haben. Wir denken, dass im Punkrock kein Platz für Patriotismus und Nationalismus ist. Punkrock dient dazu, Unmut auszudrücken. Deshalb ging es uns schon immer darum, uns gegen die-


sen »Gott schütze Amerika«-Dreck auszusprechen. Wir sind der Meinung, dass Grenzen errichtet werden, um Bevölkerungen zu trennen und Menschen zu kontrollieren. Nicht nur in den USA wird das so gemacht. Ich denke, wenn man irgendeiner Organisation oder Idee blind folgt, sei es einer Regierung, einer Religion oder einem Business, führt das zwangsläufig zu einem Desaster.

N

och einmal zurück zu Occupy Wall Street: Im Internet kann man Videos davon sehen, wie ihr dort spielt. Nach Ausbruch des Irakkriegs habt ihr eine der größten Antikriegsdemos mitorganisiert. Wie wichtig ist es für euch, neben der Musik auch direkt auf der Straße aktiv zu sein? Eine der Sachen, die ich über die Jahre gelernt habe, ist: Mit dem, was wir tun, werden wir nie genug Geld verdienen, um eine Fabrik kaufen und Panzer bauen zu können. Die Linke und die Bevölkerung werden nie genug Geld haben, um sich mit Patronen und Waffen eindecken zu können. So werden wir also den Kapitalismus nicht in die Knie zwingen können. Was wir aber stattdessen haben, sind viele Menschen. Deswegen ist das Internet heutzutage so wichtig. Wenn du zwei Millionen Leute in

die Hauptstraßen jeder Stadt stellen könntest, würdest du echte Veränderungen schaffen. Es geht nicht um Gewalt, sondern einfach nur darum, Leute dazu zu bringen, an einem Ort aufzutauchen und gemeinsam ihre Rechte einzufordern. Was Anti-Flag anbelangt: Wir sind leider nicht in der Lage, jeden Tag auf der Straße aktiv zu sein. Im Moment sind wir beispielsweise auf Tour und nicht auf den Demos in Pittsburgh, unserer Heimatstadt. Aber auch hier in Deutschland wollen wir sagen: Es sind die Leute auf den Straßen, die politische Veränderungen bringen. Wir haben gelernt, dass Veränderungen eben nicht durch die Wahl eines Präsidenten entstehen. Obama könnte der linkeste und progressivste Typ der Welt sein ... Ich will nicht sagen, dass er es ist. Aber selbst wenn er es wäre, selbst wenn wir Noam Chomsky ins Weiße Haus stecken würden, würde das nicht die gleiche Veränderung erbringen, die zwei oder drei Millionen Menschen auf den Straßen von Washington D.C. erreichen können. Insofern: Ja, Menschen auf den Straßen sind immer wichtig. Idealerweise sind sie so friedlich wie möglich.

W

o du grade die Linke in den USA angesprochen hast, wie seht ihr euch denn selber innerhalb der Linken?

Ich glaube nicht, dass wir großen Einfluss auf die Linke haben. Vielmehr erfüllen wir eine Art Vermittlerrolle. Wir beobachten zum Beispiel, was während der OccupyBewegung oder der großen Streikbewegung letztes Jahr in Wisconsin passiert ist und reagieren darauf, indem wir es öffentlich kommentieren und es mit unseren Mitteln verarbeiten, ähnlich wie es andere Bands auch machen. Das wirklich Interessante ist das Feedback, das darauf folgt. Leute hören zum Beispiel ein Lied von der Band Strike Anywhere, das sie zu einer politischen Aktion inspiriert. Und am nächsten Tag geht ein Teil von ihnen dann auf die Straße. Die Demonstration wiederum sehen dann Künstler und andere kreative Leute und lassen sich ihrerseits davon inspirieren. Wie gesagt: Ich denke nicht, dass wir sehr großen Einfluss auf ganze Bewegungen und politische Aktionen haben. Aber ich bin schon der Ansicht, dass wir durch unsere Arbeit den einen oder anderen Jugendlichen inspirieren auf die Straße zu gehen, der ansonsten zuhause geblieben wäre. Vielleicht hört er ein Lied von Anti-Flag, das ihm gefällt, und denkt sich: »Hey, diese Typen reden davon, also gehe ich einfach mal hin und guck mir das an.« ■

Abonnieren und gewinnen Dankenswerterweise hat uns Uncle M Music zwei CDs und zwei T-Shirts von Anti-Flag zur Verfügung gestellt. Die geben wir gerne weiter – und zwar an diejenigen, die als nächstes marx21 abonnieren oder ein Abo vermitteln.

KULTUR

Schnell sein lohnt sich also: Einfach ein Mail an abo@marx21.de schicken.

77


Klassiker des Monats

Gut bei Lenin! Was hat der offensichtlich sehr radikale russische Kommunist gegen den »linken Radikalismus«? Wir klären auf Von Marijam Sariaslani

★ ★★

Marijam Sariaslani ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Neukölln.

G

laubt man der Springerpresse, so sind wir von bösen Linksradikalen umgeben. Syriza-Chef Alexis Tsipras gehört dazu, wesentliche Teile der LINKEN und der Schwarze Block bei der 1.-MaiDemo sowieso. Springer ist bekanntermaßen ein Freund der Herrschenden. Wer also von dessen Schreibern als »linksradikal« bezeichnet wird, steht schon mal auf der richtigen Seite und darf sich geehrt fühlen. In der Diskussion innerhalb der Linken hat die Bezeichnung »linksradikal« aber durchaus eine kritische Dimension. Grob gesagt sind mit »linkem Radikalismus« politische Strategien gemeint, deren Vertreter sich eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft wünschen, und zwar möglichst sofort. Dabei verlieren sie allerdings aus den Augen, wo der Rest der potenziellen Umstürzler, also der Normalbürger, steht – und wie er für die Revolution zu gewinnen ist. Genau das ist das Thema der Broschüre »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« des russischen Revolutionärs Lenin.

Die Kommunisten müssen dort präsent sein, wo sich die Arbeiter organisieren

Geschrieben hat Lenin das Heftchen im Frühjahr 1920, zweieinhalb Jahre nach der siegreichen Oktoberrevolution in Russland. Die von wirtschaftlichem Zusammenbruch und Bürgerkrieg bedrohten russischen Kommunisten hofften auf revolutionäre Erhebungen in Westeuropa, um die Isolation der jungen Räterepublik zu beenden. Tatsächlich fanden in vielen europäischen Ländern Revolutionen statt und in diesen Erhebungen entstanden vielfach neue radikale Organisationen, etwa die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) während der Novemberrevolution. Die Anhänger der KPD hatten erst kürzlich erlebt, wie die SPD die

78

Revolution abgewürgt und im Verbund mit den alten konservativen Eliten tausende Revolutionäre hatte ermorden und einsperren lassen. Aus diesen Erfahrungen heraus lehnten viele Kommunisten die Arbeit in den von der SPD dominierten Gewerkschaften ab. Ebenso skeptisch sahen sie die Beteiligung an Wahlen und die Arbeit in Parlamenten. Für viele der Aktivisten war das reine Zeitverschwendung, die vermeintlich vom Kampf um die Macht ablenkte. Hier hakte Lenin ein und gab den Radikalen Recht: Das Hauptproblem innerhalb der Arbeiterbewegung seien tatsächlich die »Opportunisten«, die ihren Frieden mit dem System gemacht hätten und es jetzt gegen die Bewegung verteidigten. Jedoch lasse sich der Masseneinfluss, den eine Partei wie die SPD innerhalb der Arbeiterbewegung weiterhin habe, nicht hinwegwünschen. Die Kommunisten müssten versuchen, ihn durch ihre politische Aktivität zu brechen und die sozialdemokratischen Anhänger für sich zu gewinnen. Daher hätten sie dort präsent zu sein, wo die Masse der Arbeiter sich organisiere – also in den Gewerkschaften – und wo sie hinschaue – im Parlament. In der Gewerkschaftsfrage bezog sich Lenin auf Friedrich Engels. Der hatte 1858 über die englischen Arbeiter geschrieben: »Nicht in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten, heißt die ungenügend entwickelten oder rückständigen Arbeitermassen dem Einfluss der reaktionären Führer, der Agenten der Bourgeoisie, der Arbeiteraristokraten oder dem verbürgerten Arbeiter überlassen.« Diese Argumentation führte Lenin weiter: »Gerade die absurde ›Theorie‹, wonach sich die Kommunisten an den reaktionären Gewerkschaften nicht beteiligen


© wikimedia

Lenin (M.) mit Trotzki (l.) und Kamenew im Gespräch, nach einem Auftritt vor Rotarmisten im Mai 1920 öffentlich zu vertreten: »Die Kommunisten (...) müssen es lernen, einen neuen, andersartigen Parlamentarismus hervorzubringen, der mit Opportunismus und Karrierismus nichts zu tun hat.« Wichtig sei es, sich diverser Mittel zu bedienen, um die Mehrheit der Gesellschaft zu erreichen. Das könne als Oppositionskraft im parlamentarischen Diskurs ebenso geschehen wie durch die Mitarbeit in einer wenig kämpferischen Gewerkschaft oder auch durch die Teilnahme an einer antikapitalistischen Großdemonstration. Lenin führt bei seiner Argumentation historische Beispiele von Siegen und Niederlagen der internationalen Kommunisten an und wendet sich mit Schärfe gegen die Tendenz, die kompromisslose Treue zu den Grundsätzen und Zielen der revolutionären sozialistischen Organisation damit zu verwechseln, in den konkreten Kämpfen keinerlei Bündnisse und Kompromisse einzugehen: »Einen mächtigeren Gegner kann man nur unter größter Anspannung der Kräfte und nur dann besiegen, wenn man unbedingt aufs angelegentlichste, sorgsamste, vorsichtigste, geschickteste sowohl jeden, selbst den kleinsten ›Riss‹ zwischen den Feinden, jeden Interessengegensatz zwischen der Bourgeoisie der verschiedenen Länder, zwischen den verschiedenen Gruppen oder Schichten der Bourgeoisie innerhalb der einzelnen Länder als auch jede, selbst die kleinste Möglichkeit ausnutzt, um einen Verbündeten unter den Massen zu gewinnen, mag das auch ein zeitweiliger, schwankender, unsicherer, unzuverlässiger, bedingter Verbündeter sein. Wer das nicht begriffen hat, der hat auch nicht einen Deut vom Marxismus und vom wissenschaftlichen, modernen Sozialismus überhaupt begriffen.« ■

★ ★★ DAS BUCH

W. I. Lenin: Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus (1920), in: Ders.: Werke, Bd. 31, S. 1-105. Online unter: www.marxist.org.

KLASSIKER DES MONATS

dürfen, zeigt am deutlichsten, wie leichtfertig sich diese ›linken‹ Kommunisten zur Frage der Beeinflussung der ›Massen‹ verhalten und wie sie mit ihrem Geschrei von den ›Massen‹ Missbrauch treiben. Will man der ›Masse‹ helfen und sich die Sympathien, die Zuneigung, die Unterstützung der ›Masse‹ erwerben, so darf man sich nicht fürchten vor Schwierigkeiten, darf man sich nicht fürchten vor den Schikanen, den Fußangeln, den Beleidigungen und Verfolgungen seitens der ›Führer‹ (...) und muss unbedingt dort arbeiten, wo die Massen sind.« Ähnlich war Lenins Argumentation in Bezug auf die Parlamentsarbeit. Er war sicher der letzte, der Parlamente idealisierte. Doch solange die große Mehrheit den parlamentarischen Weg als wichtigen, wenn nicht den zentralen Weg zur Veränderung der Gesellschaft ansehe, solange sollten Sozialisten auch in diesem Feld arbeiten: »Gerade deshalb, weil die rückständigen Massen der Arbeiter und – in noch höherem Grade – der Kleinbauern in Westeuropa viel stärker als in Russland von bürgerlich-demokratischen und parlamentarischen Vorurteilen durchdrungen sind, gerade deshalb können (und müssen) die Kommunisten nur in solchen Institutionen wie den bürgerlichen Parlamenten von innen heraus den langwierigen, hartnäckigen, vor keinen Schwierigkeiten zurückschreckenden Kampf zur Enthüllung, Zerstreuung und Überwindung dieser Vorurteile führen.« In diesem Zusammenhang verspottete Lenin die linken Antiparlamentarier, die sich vor den Mühen scheuten, eine »gute Parlamentsfraktion aus überzeugten, heldenhaften Kommunisten im reaktionären Parlament« zu schaffen. Die parlamentarische Bühne müsse ausgenutzt werden, um sozialistische Propaganda zu betreiben und die eigenen Positionen

79


Geschichte hinter dem Song

Advanced Chemistry »Fremd im eigenen Land«

I

m Herbst 1992 wird die Heidelberger HipHop-Crew Advanced Chemistry deutschlandweit bekannt. Kurz nach den rassistischen Pogromen in Rostock-Lichtenhagen veröffentlichen sie ihre Single »Fremd im eigenen Land«. Die Mischung aus offensiver, wütender persönlicher Erzählung und radikaler politischer Stellungnahme gegen die herrschenden rassistischen Zustände trifft einen Nerv und der Song wird zum Geburtshelfer für Rap in deutscher Sprache. Zu Beginn der 1990er Jahre steckt die konservative Regierung unter Kanzler Helmut Kohl in einer tiefen Krise. Hunderttausende in Ostdeutschland werden durch die Politik der Privatisierung in die Armut getrieben. Von dem CDU-Wahlkampfversprechen der »Blühenden Landschaften« bleiben nur industrielle Ruinen. Im Jahr 1992 sind erstmals in der Nachkriegsgeschichte mehr als drei Millionen Menschen ohne Arbeit. Die Kosten der Wiedervereinigung werden auf die Bevölkerung in Ost und West abgewälzt. Um von ihrer unpopulären neoliberalen Politik abzulenken, initiiert die Regierung Kohl eine rassistische Kampagne gegen Flüchtlinge. Am 16. August 1991 schreibt die Wirtschaftswoche: »So konnte es wirklich nicht mehr weitergehen: Alle Welt redete nur noch von Inflation und Rezession, höheren Steuern (...) Die Wähler wandten sich in Scharen der Opposition zu (...) Es musste etwas geschehen (...) Und es geschah: Bundesinnenminister Schäuble schob ein neues Thema ins Rampenlicht der Öffentlichkeit: Die Asylantenfrage«. Im Fadenkreuz der Christdemokraten befindet sich Artikel 16 des Grundgesetzes. Ihr Ziel: die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Unterstützt von den Medien sprechen Unions-Politiker vom »offenkundigen Asylmissbrauch« und fordern »entschlossene Maßnahmen gegen den Zustrom von Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlin-

80

Von Yaak Pabst

gen«. Springers Bild titelt am 2. April 1992 unter der Dachzeile »Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?«, in fetten Lettern: »Fast jede Minute ein neuer Asylant«. Kanzler Kohl will wegen der angeblich steigenden Zahl von Asylbewerbern sogar den »Staatsnotstand« ausrufen. Auch prominente SPD-Vertreter wie der nordrhein-westfälische SPD-Fraktionschef Friedhelm Farthmann hetzen mit: »Gegebenenfalls Überprüfung nur durch einen Einzelrichter, am besten an Ort und Stelle, dann an Kopf und Kragen packen und raus damit.«

sperrten sich selbst befreien können, wird niemand getötet. Die Polizei, die Stadt, das Land und die Bundesregierung überlassen den Neonazis das Feld – nicht nur in Rostock. Allein im Jahr 1992 werden 2639 gewalttätige Übergriffe von Faschisten registriert. Zwei Jahre zuvor waren es gerade einmal 309. Nur zwei Monate nach den Krawallen in Rostock verüben Neonazis einem Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln. Dabei verbrennen ein zehn- und ein vierzehnjähriges Mädchen sowie ihre Großmutter. Nazis töten in dem Jahr insgesamt 27 Menschen – so viele wie nie zuvor. Dass in diesem Klima auch die SPD ihre ursprüngliche Position der strikten Ablehnung einer Asylrechtsänderung über Bord wirft, hinterlässt nicht nur unter Migranten ein Gefühl der Ohnmacht. Obwohl 200.000 Menschen unmittelbar vor dem SPD-Sonderparteitag im November 1992 gegen die Zustimmung zum Asylkompromiss demonstrieren, setzt sich der rechte Parteiflügel durch. Am 6. Dezember 1992 beschließt der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von CDU, FDP und SPD die Abschaffung des individuellen Grundrechts auf Asyl.

Die von oben dirigierte »Asylflut«- Kampagne ermutigt die Nazis, in die Offensive zu gehen. In Rostock-Lichtenhagen kommt es im August 1992 zu den schwersten rassistischen Ausschreitungen seit Bestehen der Bundesrepublik. Über mehrere Tage greifen hunderte Neonazis die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern an. Sie grölen, sie prügeln, sie zündeln: »Jetzt werdet ihr geröstet«, »Ausländer raus«, »Sieg Heil« und »Wir kriegen euch alle«. Unter dem Beifall von 2000 Anwohnern steckt der Mob ein Hochhaus in Brand, in dem 100 Vietnamesen und einige Deutsche eingeschlossen sind. Nur weil die Einge-

Der Song »Fremd im eigenen Land« ist eine Kampfansage gegen diese rassistischen Zustände. Torch, einer der Rapper der Band »Advanced Chemistry«, ist damals 21 Jahre alt. Rückblickend erzählt er: »Noch während wir im Studio waren, gab es die rassistisch motivierten Anschläge in Rostock. Daraufhin haben wir im Studio den Nachrichtensprecher live aufgenommen und als Intro eingebaut.« Den Text hatte die Band schon zwei Jahre zuvor geschrieben. Im Fokus stehen Erfahrungen einer ganzen Generation von Migrantenkindern: Rassismus, Polizeibrutalität, Armut, Arbeitslosigkeit, die Einseitigkeit der Medien. Die fünf Gründungsmitglieder

Die von oben dirigierte »Asylflut«Kampagne ermutigt die Nazis, in die Offensive zu gehen


Hip-Hop-Jams in den Jugendzentren und Vorstadttreffs. Der Mitmach-Charakter dieser multiethnischen Subkultur zieht besonders die Kinder aus Einwandererfamilien an. Neben Advanced Chemistry sind es Bands wie Fresh Family, Microphone Mafia oder die Rapperin Cora E, die die Szene mitprägen. Durch die Veranstaltungen bilden sich Netzwerke, die Community wächst. Doch zuerst wird fast nur in englischer Sprache und über die Beats der Vorbilder aus den USA gerappt. Advanced Chemistry brechen das Tabu, als Rapper Torch beginnt, während der Jams auf Deutsch zu freestylen. Das Publikum ist begeistert und schnell spricht sich der Name der Band innerhalb der Szene herum. Doch den ersten Charterfolg mit Rap in deutscher Sprache landen im Sommer 1992 Die Fantastischen Vier mit ihrem Party-Song »Die Da!«. Obwohl ihnen der Rückhalt innerhalb der Szene fehlt, bekommt die Band einen Major-Plattenvertrag. Die Pioniere der Vorstädte sehen sich ihrer Musikkultur beraubt. Im Gegensatz zu den unpolitischen Stuttgarter Spaßrappern ist der Song »Fremd im eigen Land« kein netter Radiosong. Torch erinnert sich: »Der Song war wirklich polarisierend. Aber den Leuten hat das alles aus der Seele gesprochen, sie sind scheinbar so sehr auf den Text angesprungen, dass sie überall bei den Radiosendern angerufen und das Teil in die Hörercharts gewählt haben.«

von Advanced Chemistry wissen, wovon sie sprechen. Torch (Frederik Hahn), Toni L. (Toni Landomini), Linguist (Kofi Yakpo), Gee-One (Gonzales Maldonado) und DJ Mike MD (Michael Jean Pierre Dippon) sind fast alle Kinder von Migranten. In ihrem Song schlagen sie zurück: »Ich habe einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf, / doch mit italienischer Abstammung wuchs ich hier auf. / Somit nahm ich Spott in Kauf / in dem meinigen bisherigen Lebensablauf. / Politiker und Medien berichten, ob früh oder spät / von einer ›überschrittenen Aufnahmekapazität‹. / Es wird einem erklärt, der Kopf wird

einem verdreht, / dass man durch Ausländer in eine Bedrohung gerät (…) / Kaum einer ist da, der überlegt, auf das Wissen Wert legt, / warum es diesem Land so gut geht, / das der Gastarbeiter seit den 50ern unentwegt / zum Wirtschaftsaufbau, der sich blühend bewegt, / mit Nutzen beitrug und noch beiträgt, / mit einer schwachen Position in der Gesellschaft lebt, / in Krisenzeiten die Sündenbockrolle belegt (...) / Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land / Kein Ausländer und doch ein Fremder.« Advanced Chemistry gründen sich 1987 in Heidelberg. Gemeinsam mit anderen HipHop-Begeisterten treffen sie sich bei

★ ★★ Yaak Pabst ist Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.

GESCHICHTE HINTER DEM SONG

Eine Momentaufnahme des massivsten ausländerfeindlichen Übergriffs der Nachkriegsgeschichte und das abscheuliche Gesicht des Pogroms: Harald Ewert steht volluriniert vor dem Rostocker Sonnenblumenhaus und hebt den Arm zum Hitlergruß

Mit dem Lied inspiriert Advanced Chemistry eine neue Generation von Rappern, die Rap auf Deutsch als die Stimme der Stimmlosen weiterentwickeln. Deutlichstes und spektakulärstes Beispiel für diese Entwicklung ist der Zusammenschluss von heute 90 Künstlerinnen und Künstlern in den Projekten Brothers Keepers (BK) und Sisters Keepers (SK). Anlässlich der Ermordung des Mosambikaners Alberto Adriano durch Nazis im Jahr 2000 veröffentlichen sie die Single »Adriano (Letzte Warnung)«, die auf Platz 4 der Charts klettert. Im Refrain heißt es: »Und was wir reichen sind geballte Fäuste und keine Hände / Euer Niedergang für immer.«

81


Review

Š pandorafilm


FILM Freilichtkino

Play it again Freiluftkino ist nicht nur eine schöne Idee, sondern auch eine gute Gelegenheit, Verpasstes nachzuholen. Vier Empfehlungen, die diesen Sommer auf dem Open-Air-Programm stehen

Le Havre Marcel Marx war einst Schriftsteller. Als der gewünschte Erfolg ausblieb, zog er sich mit seiner Ehefrau Arletty in die nordfranzösische Hafenstadt Le Havre zurück. Dort arbeitet er nun als Schuhputzer und ist zufrieden mit seinem einfachen Leben. Doch plötzlich erkrankt Arletty schwer. Während sie im Krankenhaus liegt, lernt Marcel den afrikanischen Flüchtlingsjungen Idrissa kennen (Foto links). Er gewährt dem »Illegalen« Unterschlupf und will ihn unterstützen, nach England zu kommen. Dabei sind Marcels einzigen Waffen sein unerschütterlicher Optimismus und die ungebrochene Solidarität der Mitbewohner seines Quartiers. Mit ihrer Hilfe tritt er gegen den blindwütigen Machtapparat des Staates an, der die Schlinge um den jungen Flüchtling immer enger zieht. Ein nachdenklicher und zugleich lustiger Film des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki.

Nader und Simin Der Film beginnt und endet vor dem Scheidungsrichter, dazwischen fächert sich der abstrakte Irrsinn des iranischen Regimes in einer Unzahl von Alltagsproblemen auf. Gescheiterte Auswanderungspläne des modernen Teheraner Mittelstandspaares sind der Auslöser für Simin, sich von ihrem Mann Nader zu trennen. Der bleibt zurück mit der gemeinsamen Tochter und seinem senilen Vater. Aus Zeit- und Geldnot stellt er eine illegale Haushaltshilfe aus tiefreligiösen Verhältnissen ein. Die Situation überfordert alle Beteiligten, gegenseitiges Unverständnis, allgegenwärtige Schuldgefühle und die lebensfeindliche Durchregulierung des Staates lassen die Konflikte eskalieren. Es entsteht ein spannendes Drama, das nicht der Versuchung erliegt, moralisch zu urteilen.

Melancholia »Heutzutage fällt es leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«, ist von Slavoj Žižek überliefert. Der dänische Regisseur Lars von Trier macht in seinem Film Ernst damit und lässt die Welt bildgewaltig untergehen. »Melancholia« überzeugt durch die Hauptdarstellerinnen (Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg) ebenso wie durch eine pathetische Inszenierung, der man sich nicht entziehen kann. Am Ende fällt es schwer, der Katastrophe nicht selbst mit gebannter Erwartung entgegenzublicken. Auch alle, die sich sehr gut einen Wechsel des Systems vorstellen können, sollten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, diesen Film auf der großen Leinwand zu sehen.

Der Gott des Gemetzels Zwei Elternpaare, die Longstreets (Jodie Foster, John C. Reilly) und die Cowans (Kate Winslet, Christoph Waltz) treffen aufeinander, um einen Streit zwischen ihren Söhnen im Guten zu regeln. Doch die Situation eskaliert. Das zwanghaft arrangierte Bildungskleinbürgertum der Longstreets trifft auf die Arroganz der Cowans als bessergestellte Erfüllungsgehilfen des Kapitals. Neid, Abscheu und Verachtung brechen sich Bahn in zunehmend wechselnden Schlachtlinien und Allianzen. Besonders scheußlich erscheint die Boshaftigkeit unter dem Zuckerguss angemessen zivilisierten Verhaltens, besonders spannend wird es, wenn die Beteiligten diese Zügelung durchbrechen. Ein mit 80 Minuten Spielzeit kompaktes – und damit auch für kühlere Sommerabende noch geeignetes – bitterböses Kammerspiel von Altmeister Roman Polanski.

Regie: Aki Kaurismäki | Finnland, Frankreich, Deutschland 2011 | 93 Minuten

Regie: Asghar Farhadi | Iran 2011 | 123 Minuten

Regie: Lars von Trier | Dänemark, Schweden, u.a. 2011 | 130 Minuten

Regie: Roman Polanski | Frankreich, Deutschland, Polen 2011 | 80 Minuten

REVIEW

Von Carla Assmann

83


E

in Känguru geht um in Europa.« Es sind die ersten Worte des »Känguru-Manifests«, die keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, woher der Titel des Hörbuchs stammt: Marx und Engels. Kommunistisches Manifest. Woher sonst? Schließlich ist das Känguru ja auch Kommunist. Wie im Vorgängerbuch, den »Känguru-Chroniken«, geht es um eine ungleiche Wohngemeinschaft in einem gentrifizierten Viertel in Berlin. Auf der einen Seite der Liedermacher, Kabarettist und Autor Marc-Uwe Kling, auf der anderen Seite das Beuteltier: ehemaliger Vietcong, Schnapspralinen-Liebhaber und Nirvana-Fan. Das Känguru macht die meiste Zeit das, was es am besten kann: in der Hängematte liegen, Not-to-do-Listen schreiben und Ich-Erzähler Marc-Uwe die Miete zahlen lassen. Als seinen ultimativen Gegenpart hat es den neuen Nachbarn ausgemacht, den Pinguin. Der steht für all das, was das Känguru hasst: Er hört Scooter, fährt Sportwagen und geht einem geregelten Beruf nach. Überhaupt geht es im »Känguru-Manifest« zum großen Teil um eine Kritik an der Leistungsgesellschaft. In Klings Geschichten gibt es ein Ministerium für Produktivität, das die Menschen in »produktiv« und »unproduktiv« einteilt. In den Straßen und Bahnhöfen hängen Plakate mit Slogans wie »Ich arbeite gern – für meinen Konzern« oder »Ich schwimme bis nach Birma – für meine Firma«. Gegen solche Zustände lehnen sich die beiden Protagonisten auf. Sie gründen ein geheimes Netzwerk, das Anti-TerrorAnschläge verübt. Mit dabei: ihre türkischen Freunde Friedrich-Wilhelm und Otto Von. Marc-Uwe stutzt, als er deren Vornamen zum ersten Mal hört. »Unsere Eltern haben es ein bisschen übertrieben mit dem Integrationswillen«, erklärt Friedrich-Wilhelm.

84

Marc-Uwe Kling | Das Känguru-Manifest

CD DES MONATS Marc-Uwe Kling wohnt mit einem Känguru zusammen. Das ist Kommunist und NirvanaFan. Das zweite Hörbuch über den Alltag der beiden ist nun erschienen Von Marcel Bois

★ ★★ Marc-Uwe Kling | Das Känguru-Manifest | Hörbuch Hamburg 2011

Nicht nur hier gelingt es Kling auf charmante Art, gesellschaftlichen Rassismus à la Sarrazin durch den Kakao zu ziehen. So erzählt er von dem Banker Jörn Dwigs. Der hat eine neue rechtspopulistische Partei mit dem Namen »Sicherheit und Verantwortung« gegründet und hetzt gegen Ausländer. Als Dwigs eine öffentliche Kundgebung veranstaltet, führt das Känguru die Gegendemonstration an. Mit dem Megafon in der Hand korrigiert es sprachliche Fehler der Rechtspopulisten und skandiert: »Haider heißt jetzt Dwigs, sonst ändert sich nix!«.

Die Geschichten des ungleichen Duos leben von Wortwitz, Situationskomik und subtilem Humor. Zudem merkt man, dass sich Kling in der linken Szene auskennt. So gibt es den einen oder anderen Seitenhieb auf die Ansichten mancher Dogmatiker. Zugleich wirft Kling aber auch einen sehr selbstironischen Blick auf sein eigenes Künstlerdasein – etwa wenn er von den Verhandlungen mit seinem Agenten über das nächste Buchprojekt berichtet oder wenn er das Känguru immer wieder betonen lässt, dass er, Marc-Uwe, doch nur ein

»Kleinkünstler« sei. Die Figuren in Klings Geschichten sind zwar fiktiv, keineswegs aber die Verhältnisse, in denen sie leben. »Politikername plus Schimpfwort – so, denke ich immer, funktioniert Kabarett«, sagte Kling einmal gegenüber Spiegel Online. »Aber das trifft die Probleme ja nicht. Die Probleme sind nicht einzelne Personen, sondern vielmehr die Strukturen, in denen diese wirken.« Bei wem seine Sympathien liegen, benennt der Autor klar: »Um es ganz grob zu definieren: Meine Pointen sollen die treffen, die Herrschaft ausüben, und nicht auf Kosten derer gehen, die unterdrückt werden«. Allein schon wegen dieses politischen Anspruchs, der Kling von großen Teilen der Kabarett- und Comedyszene unterscheidet, lohnt es sich, das »Känguru-Manifest« anzuhören. Vor allem aber ist es unglaublich unterhaltsam und witzig. In nicht geringem Maße tragen hierzu die Vorlesekünste des zweifachen deutschen Poetry-Slam-Meisters bei. Die Live-Atmosphäre dazu tut ein Übriges – bei den vier CDs handelt es sich um Mitschnitte verschiedener Lesungen im Berliner Mehringhoftheater. »Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen das Känguru verbündet«, heißt es im eingangs zitierten Vorwort des Hörbuchs weiter, »der Papst und der Pinguin, Jörg und Jörn Dwigs, die Ausländerbehörde, das Ministerium für Produktivität und deutsche Polizisten. (...) Das Känguru wird bereits von allen europäischen Mächten als eine Macht anerkannt. Es ist hohe Zeit, dass das Känguru seine Anschauungsweise, seine Zwecke, seine Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegt und dem Märchen vom Asozialismus ein Manifest des Kängurus entgegenstellt.« Das hat es mit vorliegender CD getan. Niemand sollte es sich entgehen lassen.


BUCH

metroZones (Hrsg.) | Urban Prayers. Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt

Jesus im Großstadtdschungel Aus den Slums der Megacities hat sich der Staat oftmals zurückgezogen, auch Parteien oder Gewerkschaften sind dort selten noch präsent. In diese Lücke stoßen religiöse Gemeinschaften. Sie sind Fluch und Segen zugleich Von Daniel Anton

selten Gewerkschaften oder linke Parteien und Organisationen hinterlassen haben. An Orten, wo niemand mehr die Kriminalität und die Armut bekämpft, wo niemand mehr die vom Krieg zerstörten Häuser wiederaufbaut und wo es keine staatliche Unterstützung mehr gibt, steht oftmals eine religiöse Gruppe bereit. »Urban Prayers« erzählt beispielsweise von der KutokaBasiskirche in Nairobi, die mit den Ärmsten der Armen in den Slums der Städte gemeinsam regelmäßige Aktionen und Demonstrationen organisiert und so erfolgreich gegen Vertreibung, Umweltverschmutzung und für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bewohner kämpft. Während die Kirchenoberen nicht einmal vor Ort sind, fließen bei Kutoka soziale Bewegung und gelebte Religion ineinander. Der Band zeigt die Vielschichtigkeit urbaner Religiosität: Die jeweiligen Gemeinschaften sind nah an den Lebenswirklichkeiten der Menschen und nehmen Aufgaben wahr, welche die Staaten der globalisierten, kapitalistischen Welt nicht mehr wahrnehmen wollen. Manchmal bietet dieser Prozess, diese Hinwendung zur Religion, eine Chance: etwa die, sich auf Basis der gemeinsamen Religion zu organisieren – für Frieden, soziale Gerechtigkeit oder in-

terreligiöse Toleranz. Nicht selten birgt er aber auch die Gefahr des Fundamentalismus, der Ausbeutung durch neue religiöse Führer oder die der völligen Abwendung vom diesseitigen Leben. In diesem Sinne ist das Buch auch ein Hinweis an die globale Linke, sich den Menschen direkt zuzuwenden, sich mit ihren alltäglichen Kämpfen zu solidarisieren. Insgesamt fehlt den Autorinnen und Autoren von »Urban Prayers« oft der Blick für das große Bild, beispielsweise für die ökonomischen Ursachen, die den Hang zur Religiosität in den urbanen Zentren erklären könnten. Wer aber vor Details zu Stadtpolitik und Exkursen in die jeweiligen Theologien nicht zurückschreckt, dem bietet sich eine hervorragende Analyse urbanen Lebens. Eins wird klar: In den Megacities dieser Welt ist die Religion nicht nur der Seufzer der Entrückten, sondern oftmals deren Atem, ein letztes Lebenselixier.

★ ★★ BUCH | metroZones (Hrsg.) | Urban Prayers. Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt | Assoziation A | Berlin 2011 | 280 Seiten | 20 Euro REVIEW

E

igentlich kann man den Satz nicht mehr hören: Religion ist das Opium des Volkes. Nicht nur, dass er falsch zitiert wäre, nein, er ist auch aus dem Zusammenhang des ganzen Absatzes in Karl Marx’ Werk »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« entrissen. Erst im Zusammenhang entfaltet sich seine volle Analyse: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.« Der Sammelband »Urban Prayers – Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt« knüpft an ebendieser bedrängten Kreatur an. In unterschiedlichen Interviews und Aufsätzen führen uns die Autorinnen und Autoren von Buenos Aires über die Armenviertel von Lagos, Kairo und Beirut durch die Favelas von Rio de Janeiro bis in die Hinterzimmer von Berlin. All diese urbanen Zentren haben eins gemeinsam: Religiöse Gemeinschaften spielen eine konkrete, zum Teil essentielle Rolle im diesseitigen Leben der dortigen Bevölkerung. Religiöse Gemeinschaft meint hier nicht die großen Institutionen, wie etwa die katholische Kirche, sondern neue Gemeinden und Organisationen im Mikrokosmos Stadt, welche die Lücken füllen, die die großen Konfessionen, der Staat, aber auch nicht

85


Buch

Enno Stahl | Winkler, Werber

Auf der Schattenseite des Sozialdarwinismus Enno Stahl versteht es wie kaum einer, das gesellschaftliche Klima abzubilden. In seinem neuen Roman wirft er einen bitterbösen Blick auf die Kreativwirtschaft Von Moritz Scheper

J

★ ★★ BUCH | Enno Stahl | Winkler, Werber | Verbrecher Verlag | Berlin 2012 | 320 Seiten | 22 Euro

86

o Winkler, der Protagonist von Enno Stahls drittem Roman »Winkler, Werber«, ist in jeglicher Hinsicht Werber. Der Art Director Text ist rücksichtslos, chauvinistisch, manipulativ – eine Kreatur wie aus den Versuchslaboren der Friedrich-Naumann-Stiftung (»Durch den Stress merkt ihr, dass ihr lebt«). Dieser Personifikation des flexiblen Kreativwirtschaftlers lässt Stahl, der wie kaum ein Zweiter das gesellschaftliche Klima abzubilden versteht, die eigene Freiheit schmerzhaft auf die Füße fallen. Mutig bedient er sich dafür der unkonventionellen Erzählform des inneren Monologs. Mutig deswegen, weil das Treiben in den Bewusstseinsströmen eines solchen Ekelpakets keineswegs immer angenehm ist. Auch der an gesprochener Sprache angelehnte Schreibstil mit vielen Unterbrechungen und Gedankensprüngen fordert den Leser. Den Rahmen für Winklers Demontage bildet ein Betriebsausflug nach Bad Neuenahr, eine Bootsfahrt auf dem Rhein, Kegeln und Kasinobesuch inklusive. Die kleine Belegschaft um Agenturchef Werner, die fleißige Texterin Aggi, Designtrainee Josh und Praktikantin Vanessa hat mit schlechten Restaurants, dem obligatorischen RheinSauftourismus und allerlei an-

deren Widrigkeiten zu kämpfen, während sich die eigentliche Handlung in Winklers Hirnkasten abspielt. Mit ungefilterter Selbstherrlichkeit schaut unser Werber auf Kollegen und Mitreisende herab und trifft die letztgültige Deutung über die Welt und ihre Bewohner. Die Firma steckt in der Krise, doch das geht an Winkler vorbei. Zwar registriert er die Spannungen zwischen Werner und Aggi, deren permanente Telefoniererei sowie die Aufmüpfigkeit des Trainees. Da er aber nicht die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen vermag und die Werbebranche für krisensicher hält, tut sich ein Riss zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung auf, in den Winkler letztendlich stürzt. So verbleibt dieser Held unserer Zeit am Ende des Romans ökonomisch und weltanschaulich bankrott. Stahl kuriert Winklers weltanschauliche Verirrung mit einem großen Schluck der eigenen Medizin, indem er ihn auf die Schattenseite von Sozialdarwinismus und flexibler Arbeit fallen lässt. Der Leser verfolgt diese Wandlung sowohl mit klammheimlicher Freude als auch dezentem Magengrummeln: Zwar hat die Figur Jo ihren Niedergang verdient, allerdings sind die geschilderten Praktiken von Abwicklung und

Entlassung keineswegs nur Stationen eines Bildungsromans, sondern marktwirtschaftliche Wirklichkeit. Schon Enno Stahls letzter Roman »Diese Seelen« warf einen Blick auf die Arbeit nach der Agenda 2010. Diese Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt macht Stahl zu einer Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literaturszene. In seinen Essays und Artikeln prangert er stets die realitätsvergessene Schreibschulprosa aus Leipzig und Hildesheim (Judith Hermann, Leif Randt) an, die »kellnern« meint, wenn sie »arbeiten« sagt – und deren Figuren »mehrheitlich dem fast zum Klischee geronnenen Bermudadreieck zwischen Kastanienallee, Volksbühne und Kollwitzplatz« entnommen sind. In gewisser Hinsicht liefert »Winkler, Werber« nicht nur ein Gegenstück zu den kreativwirtschaftenden Figuren der Gegenwartsliteratur, sondern zeigt auch auf, was diese in 25 Jahren erwartet. Wer eine Prosa des mahnenden Zeigefingers erwartet, wird von den Romanen des Rheinländers positiv überrascht. Bierernst zu sein ist im Rheinland generell keine Primärtugend, und so kontrastiert auch Stahl seine ernsten Sujets mit lebenslustigen Figuren und humorvollen Sentenzen. »Winkler, Werber« bildet da keine Ausnahme.


Werner Ruf | Der Islam – Schrecken des Abendlands

BUCH DES MONATS Mit dem Ende des Kalten Krieges ist dem Westen das Feindbild verloren gegangen – doch er hat schnell ein neues gefunden: den Islam. Warum das so ist und wieso die extreme Rechte plötzlich Israel gut findet, erklärt Werner Ruf in seinem neuen Buch Von Irmgard Wurdack

★ ★★ BUCH | Werner Ruf | Der Islam – Schrecken des Abendlands. Wie sich der Westen sein Feindbild konstruiert | PappyRossa | Köln 2012 | 129 Seiten | 9,90 Euro

in der arabischen Welt mit großer Begeisterung aufgenommen – zumindest bis zur Kolonisierung Afrikas und des Nahen Ostens durch den »westlichen« Imperialismus. Den (geo-)politischen Hintergrund von Islamfeindlichkeit fächert Ruf im Hauptteil seines Buches auf. Er weist nach, wie die Ideologen des Feindbilds Islam das rassistische Sendungsbewusstsein des Kolonialismus beerben. Dies geschah mit der »Erfindung des ›Kampfes der Kulturen‹, in dem ›der Islam‹ stellvertretend für die Bedrohung durch ›die Anderen‹ aus der vormaligen Dritten Welt zu stehen scheint. ›Dem Westen‹, der mit 12 Prozent der Weltbevölkerung über 80 Prozent der globalen Ressourcen verbraucht, steht ›der Rest‹ der Menschen gegenüber.« Dieser »Rest« wird zu Fanatikern und Terroristen umdefiniert. »Dann sind alle Mittel legitim: Die Kriegsführung mit Massenvernichtungswaffen, (...) bestialische Folter und sexuelle Erniedrigung, die speziell auf

kulturelle und/oder religiöse Tabus ausgerichtet sind.« Sehr aktuell ist auch das Kapitel »Antisemitismus und Islamophobie: Zwei Seiten einer Medaille?« Dort stellt Ruf dar, wie »klassische« antisemitische Verschwörungstheorien für das Feindbild Islam reaktiviert werden. Er zitiert unter anderem Wolfgang Benz, der bis 2011 Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin war. Das Institut beschäftigt sich auch mit Islamfeindlichkeit, weil »mit Stereotypen argumentiert wird, die aus der Antisemitismusforschung bekannt sind, etwa die Behauptung, die jüdische bzw. die islamische Religion sei bösartig, inhuman und verlange von ihren Anhängern unmoralische und aggressive Verhaltensweisen gegenüber Andersgläubigen.« Interessant ist auch das Kapitel über die extreme Rechte in Europa: Diese, so enthüllt Ruf, entdecke nämlich die Solidarität mit Israel, um sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu wappnen und zugleich umso heftiger gegen den Islam hetzen zu können. Vom Chef der niederländischen PVV Geert Wilders bis hin zu Patrick Brinckmann von Pro-NRW wallfahrte die rechtsextreme Parteiprominenz nach Israel, wobei die dortige Rechte Schützenhilfe leistete. Eingeladen von einem früheren Abgeordneten der Regierungspartei Yisrael Beitenu etwa reisten Ende des Jahres 2011 mehrere rechtsextreme Politiker nach Israel. »Dort unterzeichneten sie gemeinsam mit ihren Gastgebern eine Erklärung, in der es heißt, die Menschheit sehe sich zurzeit ›einer neuen, weltweiten Bedrohung ausgesetzt: dem fundamentalistischen Islam‹, dem man sich gemeinsam entgegen stellen wolle.« Das neue Buch von Werner Ruf kann man nur wärmstens empfehlen. Es ist eine kompakte Fundgrube für alle, die dem Zerrbild vom Islam Fakten und Argumente entgegensetzen wollen. REVIEW

J

üngst reihte sich auch Bundespräsident Joachim Gauck in den Reigen der antimuslimischen Brandstifter ein. Er könne diejenigen verstehen, die fragen: »Wo hat denn der Islam dieses Europa geprägt, hat er die Aufklärung erlebt, gar eine Reformation?« Sein Vorgänger Wulff hatte gesagt, dass der Islam zu Deutschland gehört. Dem widersprach Gauck. Nur die Muslime, die hier lebten, gehörten zu Deutschland, nicht jedoch der Islam. Solche Winkelzüge sind symptomatisch für etablierte Rechtspopulisten vom Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) bis hin zu CSU-Chef Horst Seehofer. »Der Islam wird, um die Menschen, die Muslime, nicht nennen zu müssen, zum Feindbild erhoben«, erklärt Werner Ruf in seinem neuen Buch »Der Islam – Schrecken des Abendlands«. Darin widerlegt der Wissenschaftler und linke Aktivist gängige Vorstellungen über »den« Islam und »die« Muslime. In einem eigenen Kapitel analysiert Ruf das viel beschworene christlich-jüdische Erbe des »aufgeklärten« Europas als Geschichtsfälschung. Vielmehr lägen im christlichen Europa die Wurzeln des Antisemitismus. Bis ins 20. Jahrhundert sind Juden (und Araber) hier als Angehörige eines mutmaßlich minderwertigen Volkes verunglimpft und brutal verfolgt worden. Und während Juden in islamischen Ländern Schutz vor den Pogromen im »aufgeklärten« Abendland fanden, gipfelte der Antisemitismus in Europa im Zweiten Weltkrieg in der industriellen Judenvernichtung durch Nazi-Deutschland. Selbst die von der Aufklärung wiederentdeckte griechische Philosophie gelangte erst durch die Arbeiten muslimischer Gelehrter zurück nach Europa. Umgekehrt wurden die Werte der Französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«

87


O

Mein Lieblingsbuch

ktober 1949, Erzgebirge, Wismut AG. Das ist Werner Bräunigs »Rummelplatz«. In dem gewaltigen Uranbergbau-Betrieb kulminieren die Konflikte und Widersprüche der frühen DDRGesellschaft – in einem Umfeld, welches noch immer von Krieg und Faschismus geprägt ist. Zur Arbeit in die Wismut AG strömen trotz elender Schufterei viele Menschen allein wegen der Aussicht auf einen teilweise drei- bis viermal höheren Lohn als im Rest des Landes. Obwohl das sowjetische Militär die Oberhoheit innehat, sind die Zustände chaotisch und jeder ist sich selbst der nächste. Es sind zunächst nur wenige, die auch hier eine gerechtere und menschlichere Gesellschaft aufbauen wollen: Hermann Fischer, ein alter KPDler und Steiger im Bergwerk, sowie die beiden Brigadenneulinge Christian, der – als Professorensohn ein »unsicheres Klassenelement« – in der Produktion sein Studium sichern will, und Peter, wegen Kartoffeldiebstahls zur »Bewährung« in die Wismut verdonnert. Als Teil der entwurzelten jüngeren Kriegsgeneration sind beide von der Wichtigkeit eines Neuanfangs jenseits des Kapitalismus überzeugt, doch der beginnende Dogmatismus der DDR ist ihnen fremd. Sie sind abgestoßen davon, dass es mit ideologischen Lippenbekenntnissen und oberflächlicher Phrasendrescherei allzu vielen, welche zwölf Jahre zuvor schon dem Führer zujubelten, auch jetzt äußerst leicht fällt, sich der neuen Ordnung anzudienen und in führende Positionen zu gelangen. Bräunig beschreibt schonungslos die Härten und Konflikte dieser Zeit, aber auch die Fehlentwicklungen, die sich aus dem Anspruch ergaben, ein neues Deutschland frei von Ausbeutung und Faschismus zu schaffen – mit Menschen, welche die alte Ordnung noch zutiefst verinnerlicht hatten. In häufigen Perspektivwechseln lässt er uns in die Gedanken

88

Von MARX21-Leser Stefan Hanczuch

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem ihr denkt, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreibt uns – und präsentiert an dieser Stelle euer Lieblingsbuch. Diesmal: »Rummelplatz« von Werner Bräunig

★ ★★ Werner Bräunig | Rummelplatz | Aufbau-Verlag | Berlin 2007| 768 Seiten | 12,95 Euro

der Protagonisten eintauchen, zeichnet in »wirklichkeitsgesättigter Prosa« (Christa Wolf) eindringlich und prägnant ihren Alltag. Der Roman steht gewissermaßen zwischen den Stühlen – weder verteufelt er dieses Experiment des Sozialismus, noch folgt er dem Bild vom sauberen, unbestechlichen Arbeiterhelden, der die neue Gesellschaft, vom Geiste Stalins geschweißt, auf geradem Weg zum Kommunismus führt. So entzündete sich schon im Jahr 1965 scharfe Kritik an dem noch unfertigen Werk. Auslöser war die Vorabveröffentlichung des vierten Kapitels, dessen drastische Darstellung von Suff, Gewalt und sexuellen Ausschweifungen auf dem titelgebenden »Rummelplatz« so gar nicht ins realsozialistische Idealbild der Literaturfunktionäre passen wollte. In Zeiten des Rückfalls ins Kleinbürgerliche wurde der Romanausschnitt zum Paradebeispiel für die Angriffe auf viele DDR-Schriftsteller, diese trügen zur sittlichen Verrohung der Jugend bei und verunglimpften die Anstrengungen des sozialistischen Aufbaus. Nach etlichen Diskussionen in verschiedenen Gremien, wo ihm immer wieder die gleichen Vorhaltungen gemacht wurden, brach Bräunig schließlich resigniert die Arbeit am eigentlich auf zwei Bände angelegten Roman ab. Das nicht abgeschlossene Manuskript wurde erst 2007 veröffentlicht, dreißig Jahre nach seinem Tod. Doch gerade die offen gebliebenen Handlungsstränge und unverbundenen Episoden vermitteln einen vielschichtigen und realistischen Eindruck von den Vorstellungen derjenigen, die aktiv und bewusst progressive gesellschaftliche Veränderungen anstrebten. »Rummelplatz« sei all jenen ans Herz gelegt, welche sich jenseits ideologischer Grabenkämpfe ein unmittelbares Bild von der Frühzeit der DDR machen wollen.


BUCH

Thomas Haipeter, Klaus Dörre (Hrsg.) | Gewerkschaftliche Modernisierung

Zwischen Sicherung und Spaltung Wie können Gewerkschaften wieder durchsetzungsfähig werden? Ein neuer Sammelband betrachtet zu dieser Frage unterschiedliche Strategien der Erneuerung. Die Antwort scheint etwas zu optimistisch Von Olaf Gerlach

die Gewinnung von Mitgliedern. Brisant ist Klaus Dörres Kritik an IG Metall und IG BCE (Gewerkschaft für Bergbau, Chemie und Energie) im dritten Teil. Gegen die Verminderung der Durchsetzungsfähigkeit hatten beide Gewerkschaften in den letzten zehn Jahren auf verstärkte Mitgliedergewinnung, »partizipative Erneuerung« und mehr »konfliktorische Praktiken« gesetzt. Ab dem Jahr 2008 hatten deren Betriebsräte sich aber zunehmend in das Management der Krise einbinden lassen. Erreicht wurde damit die weitgehende Sicherung der Stammbeschäftigten. Der Preis dafür war aber die Vertiefung von Spaltungen zwischen verschiedenen Gruppen normal und atypisch Beschäftigter – was die Machtressourcen der Gewerkschaften reduziert und so auch den Stammbeschäftigten schadet. Dörre sieht deshalb die IG Metall und die IG BCE auf dem Weg zur »Fraktal-Gewerkschaft«, die nur noch partielle Mitgliederinteressen wahrnimmt. Die sehr zu empfehlende Einleitung von Haipeter enthält eine hervorragende Einführung in die Thematik sowie ausgezeichnete Kurzfassungen der einzelnen Beiträge. Ob sich aber tatsächlich alle Elemente eines neuen gewerkschaftlichen Leitbilds (Stärkung der Betriebsnähe, Konfliktorientierung, Beteiligung der Mitglieder, Kampagnenfähigkeit, inklusive So-

lidarität) in der Praxis abzeichnen, ist zu bezweifeln. Mit nüchternem, über den Band hinausgehendem Blick sind drei Punkte festzuhalten: 1. Von Durchsetzungsfähigkeit sind die Gewerkschaften nach wie vor weit entfernt. 2. Als empirisch gesichert kann gelten, dass eine Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit nur um den Preis der Abkehr vom Stellvertretermodell hin zu mehr Selbstvertretung zu haben ist. Deutlich wird das im Buch am Streik der französischen sans papiers: Er war erfolgreich, weil die unterstützende Gewerkschaft CGT betonte, »sich an die Seite« der Kämpfenden zu stellen. 3. Die Bedingungen gewerkschaftlicher Revitalisierung sind aus einer Fülle von Gründen objektiv schwierig. In diesem Band wird das deutlich an der Einstellung von Stammbeschäftigten zur Leiharbeit. Diese wird kritisiert, aber auch als betriebswirtschaftliche Notwendigkeit toleriert. Fazit: Die Versuche gewerkschaftlicher Erneuerung müssen ebenso fortgesetzt werden, wie die sie begleitende Forschung.

★ ★★ BUCH | Thomas Haipeter, Klaus Dörre (Hrsg.) | Gewerkschaftliche Modernisierung | VS Verlag für Sozialwissenschaften | Wiesbaden 2011 | 304 Seiten | 34,95 Euro

REVIEW

D

as von Thomas Haipeter und Klaus Dörre herausgegebene Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil sondieren die Autoren, wie bei Stammbeschäftigten der Metall- und Elektroindustrie mehr gewerkschaftlicher Einfluss zu erreichen ist. Im Zentrum steht die im Jahr 2005 in NordrheinWestfahlen gestartete Kampagne »Besser statt billiger«. Lohnsenkungen, Verlagerung oder Abbau von Beschäftigung (»billiger«) sollen durch »besser«Konzepte verhindert werden. Diese Konzepte wurden von gewerkschaftlich unterstützten Betriebsräten selbst erarbeitet und hatten auch teilweise Erfolg. Wichtig – so die Forschungsergebnisse – ist dabei der Zugang zum Expertenwissen der Facharbeiter und der Angestellten mittels einer dauerhaften Kultur der Beteiligung im Betrieb und der Gewerkschaft, also die »Ablösung von herkömmlicher Stellvertreterpolitik«. Thematisch recht weit auseinander liegen die vier Beiträge des zweiten Teils. Dort wird das widersprüchliche Bewusstsein von Stammbeschäftigten über Leiharbeit ebenso untersucht wie die Kampagnen zur Gründung von Betriebsräten bei Schlecker und Lidl sowie ein teilweise erfolgreicher Streik von illegalen Migrantinnen und Migranten in Frankreich (sans papiers), gefolgt von einer Untersuchung über die Effekte von Streiks auf

89


BUCH

Regina Wamper, Helmut Kellershohn, Martin Dietzsch (Hrsg.) | Rechte Diskurspiraterien

Deutungskämpfe aufnehmen Schwarzer Block und Palästinensertuch: Immer öfter klauen Nazis Symbole der Linken. Doch das ist kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen Von Jan Maas

E

★ ★★ BUCH | Regina Wamper, Helmut Kellershohn, Martin Dietzsch (Hrsg.) | Rechte Diskurspiraterien. Strategien der Aneignung linker Codes, Symbole und Aktionsformen | Edition DISS im Unrast-Verlag | Münster 2010 | 288 Seiten | 19,80 Euro

90

s verwundert, wenn rechte Gruppen und Parteien Symbole verwenden oder Themen besetzen, die als links gelten. In den letzten Jahren tauchen vermehrt »schwarze Blöcke« bei Naziaufmärschen auf und seit den Montagsdemonstrationen des Jahres 2004 agitiert die NPD gegen Hartz IV. Muslimfeindliche Parteien wie Pro NRW geben vor, für Frauenrechte einzutreten. Wie sind diese feindlichen Übernahmeversuche zu erklären? Wie sollen Linke damit umgehen? Mit diesen Fragen setzen sich die Autorinnen und Autoren des lesenswerten Sammelbands »Rechte Diskurspiraterien« auseinander, die auf Forschungsergebnisse des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung zurückgreifen. Christina Kaindl, leitende Redakteurin der Zeitschrift Luxemburg, untersucht rechte Bewegungen in Europa heute. Während Parteien wie Jobbik in Ungarn angesichts der Krise an Stimmen und Mitgliedern zulegen konnten, hielt sich die NPD in ihrer Hochburg Sachsen im Jahr 2009 nur knapp im Landtag. Vor diesem Hintergrund deutet Kaindl die Suche nach neuen Themen und Symbolen als Reaktion auf ihre relative Schwäche. Sie weist aber auch darauf hin, dass mit dem weit verbreiteten Rassismus gegenüber Muslimen ein Thema existiert, dass Rechte als Brücke aus

ihrer Isolation nutzen können. Mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit der Geschichte rechter Bewegungen. Die Gramsci-Expertin Sabine Kebir weist am Beispiel des italienischen Diktators Mussolini nach, dass Diskurspiraterie schon seit den 1920er Jahren zum Alltagsgeschäft faschistischer Bewegungen gehört. Am Beispiel des 1. Mai in Deutschland macht sie außerdem deutlich, dass die Übernahme der Symbole der Arbeiterbewegung nicht die Übernahme derer Inhalte bedeutet: Hitlers NSDAP erklärte zwar den 1. Mai 1933 zum Feiertag, besetzte aber am folgenden Tag die Gewerkschaftshäuser, um die freien Gewerkschaften gleichzuschalten. Auf den Unterschied zwischen Symbolen und Inhalten weisen auch die Duisburger Politologin Regina Wamper und die Aachener Soziologin Britta Michelkens hin. Symbole müssen aktiv mit Inhalten verknüpft werden. Eine solche Verbindung sei weder natürlich noch ewig. Das Palästinensertuch Kufiya beispielsweise diente ursprünglich Arabern zum Schutz vor Sonne und Sand. Erst mit Aufkommen der palästinensischen Befreiungsbewegung wurde es zu einem Symbol der Solidarität. Dass das schwarz-weiße Tuch inzwischen auch von Nazis getragen wird, nehmen manche Linke zum Anlass, dieses Symbol aufzugeben. Wamper

und Michelkens meinen dagegen: »Nur weil eine Ausdrucksform anschließbar ist, heißt das eben noch lange nicht, dass sie ›falsch‹ wäre, und noch weniger heißt das, dass die Inhalte, die damit transportiert werden sollen, diskreditiert seien.« Es gelte vielmehr, die »Deutungskämpfe aufzunehmen«, anstatt die Flinte ins Korn zu werfen. Für die politische Linke bedeute das unter anderem, »die eigenen Inhalte zu schärfen, Themenfelder wie die ›soziale Frage‹ nicht aufzugeben, (...) politische Inhalte in politischen Aktionsformen transparenter werden zu lassen.« Insgesamt versammelt der Band viele hilfreiche Aufsätze über rechte Diskurspiraterien. Die Autorinnen und Autoren erfassen die gesamte Bandbreite der gegenwärtigen rechten Bewegungen von den Autonomen Nationalisten über Parteien wie Pro und NPD bis hin zur intellektuellen Neuen Rechten. Leider kommen die Gegenstrategien mit nur einem – wenn auch guten – Beitrag zu kurz. Um rechten Bewegungen dauerhaft den Boden zu entziehen, ist mehr nötig als ein Kampf um Symbole: ein Kampf gegen ihre Organisationen und gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie gedeihen können.


I

m Vorfeld der Währungsunion haben Euro-Befürworter erklärt, die Gemeinschaftswährung würde die politische Einheit Europas vorantreiben. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie Ingo Schmidt in seinem Beitrag »Schade Deinem Nachbarn« in den Blättern für deutsche und internationale Politik (Nr. 5/2012) aufzeigt. Der Streit über die Lösungen zur Beilegung der Krise befördert antieuropäische Stimmungen in den Einzelstaaten, Rechtspopulisten wie Wilders und Sarrazin erhalten Unterstützung für ihre kruden Ideen. Zudem verteidigen nun auch die Länder, die bisher wenig unter der Krise zu leiden hatten, zunehmend ihre nationalen Interessen.

Die Fußballeuropameisterschaft in Polen und der Ukraine ist Geschichte. Die sozialen

von Win Windisch und Marcel Bois

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Zeitschriften und Magazinen

Weblinks:

★ ★★ WEBLINKS Blätter für deutsche und internationale Politik: www.blaetter.de Zeit: www.zeit.de SoZ: www.sozonline.de Workers of the World: www.workeroftheworldjournal.net JBzG: www.arbeiterbewegung-jahrbuch.de

Im Juni ist ein neues internationales Journal online gegangen: Workers of the World. International Journal on Strikes and Social Conflict möchte weltweit Wissenschaftler und Institute vernetzen, die zu Arbeiterbewegung, Streiks und sozialen Auseinandersetzungen forschen. Die Artikel erscheinen auf Englisch, Französisch. Italienisch, Spanisch und Portugiesisch. Die erste Ausgabe umfasst sowohl historische als auch aktuelle Themen. So finden sich dort Artikel über die Streikbewegung im vorrevolutionären Russland der Jahre 1912-1914 oder den Ausstand der Pariser Arbeiter im Jahr 1968 ebenso wie eine Analyse der gegenwärtigen griechischen Gewerkschaftsbewegung. Das Heft steht kostenlos zum Download im Internet. Im November vergangenen Jahres fand die achte Jahreskonferenz der wissenschaftlichen Zeitschrift Historical Materialism in London statt. Mit 750 Teilnehmerinnen und Teilnehmern war sie deutlich besser besucht als in den Jahren zuvor. Ein großer thematischer Block der Konferenz befasste sich mit der Geschichte der Kommunistischen Internationale in den 1920er und 1930er Jahren. Einen ausführlichen und lesenswerten Bericht über diesen Teil der Konferenz hat der kanadische Historiker John Riddell im aktuellen Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (JBzG, 2/2012) veröffentlicht.

REVIEW

Eigentlich hätte nach Veröffentlichung dieses Artikels ein Aufschrei durchs Land gehen müssen. Doch es ist nichts passiert. Daher muss man ihn wohl noch weiter bekannt machen. Seit fast fünf Jahrzehnten macht Günter Wallraff verdeckte Reportagen – und der Stoff geht ihm leider nicht aus. Diesmal berichtet er im Zeit-Magazin (31. Mai 2012) über die Arbeitsbedingungen von Paketzustellern. Am Beispiel der Firma GLS zeigt er auf, dass 14-Stunden-Arbeitstage keine Seltenheit sind und warum das Fahrtenbuch bloß »Märchenbuch« genannt wird. Die Konzerne verzeichnen große Umsatzsteigerungen, während sie die Risiken auf 11.000 Subunternehmer abwälzen. Wallraff fand heraus, dass die Unternehmensleitungen sich sehr wohl im Klaren darüber sind, worauf ihre Gewinne beruhen. Eine Stärke seines Artikels ist, dass er Alternativen und mögliche Forderungen nennt. Etwas schade ist, dass man sich kein Bild über die Arbeitsbedingungen der Betriebsräte machen kann, da sie in Wallraffs Text kaum eine Rolle spielen.

Probleme in beiden Ländern bleiben. Während Millionen Euro für den Bau neuer Stadien ausgegeben wurden, müssen Schulen und Schwimmbäder geschlossen werden. Dagegen wehrt sich die Bevölkerung. So fand schon während der EM im polnischen Poznan eine Demonstration gegen die kommunalen Kürzungsmaßnahmen statt. In ihrer aktuellen Ausgabe berichtet die SoZ – Sozialistische Zeitung (Nr. 7/8, Juli/August 2012) über die Proteste.

91


Š John Vassos

Preview


BUCHReihe | »Marxist Pocket Books«

Subversives für die Hosentasche In einer neuen Reihe belebt der Laika-Verlag marxistische Klassiker. Wir geben einen Ausblick auf das, was da kommt Von Stefan Bornost

Alexandra Kollontais »Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin« aus dem Jahr 1926. Kollontai ist sowohl in der frauenpolitischen Diskussion als auch in den Debatten in der LINKEN wenig beachtet worden. Wenn man sich überhaupt an sie erinnert, so als vermeintliche Vertreterin der »Glas-Wasser-Theorie«, die gemeinhin als Verteidigung von Promiskuität und »freier Liebe« gilt. Das Bedürfnis nach Sex solle so leicht zu stillen sein wie der Durst durch Trinken eines Glases Wasser. Das hat Kollontai allerdings so nie gesagt, dafür aber viel Wegweisendes über bürgerliche Doppelmoral, »erotische Kameradschaft« und Sinn und Unsinn von Ehe und Kleinfamilie. Eine spannende Persönlichkeit also. Die Einführung zu ihrem Werk wird Barbara Kirchner schreiben, Professorin für Theoretische Chemie an der Universität Leipzig und gemeinsam mit Dietmar Dath Autorin des Buches »Der Implex«. Neben Kollontai liefert Laika weitere Highlights. Walter Benjamins »Über den Begriff der Geschichte« soll auch in der Reihe erscheinen. Diesen geschichtsphilosophischen Aufsatz schrieb Benjamin unter dem Eindruck des Faschismus und des Hitler-Stalin-Paktes und übergab ihn kurz vor seinem Tod im Jahr 1940 Hannah Arendt. Ebenfalls Teil der Reihe: Antonio Gramscis »Der moderne Prinz«, geschrieben in Mussolinis Gefängnissen, und »Der Sozialismus und die Seele des Menschen« von Oscar Wilde (Bild links). Wenn auch diese Neuveröffentlichungen und ihre Einleitungen so praktisch und peppig daherkommen wie die ersten beiden Bände, dann ist ihnen der Platz in den Hosentaschen und Bücherregalen garantiert.

★★★ Folgende Titel sind in der Reihe »Marxist Pocket Books« geplant: • Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte • Friedrich Engels: Dialektik der Natur • Antonio Gramsci: Der moderne Prinz • Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit • Anatoli Lunatscharski: Die Revolution und die Kunst • Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution? • Oscar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen • Clara Zetkin: Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung

PREVIEW

M

arxistische Klassiker. Das assoziiert man gerne mit pflastersteingroßen Bänden, die auch dazu dienen können, Tische oder Monitore aufzubocken. Zum Schmökern in der U-Bahn sind sie eher nicht geeignet. Ganz anders die neue Reihe »Marxist Pocket Books« des Laika-Verlags. Die Hamburger haben alte Texte in einem handlichen Format neu aufgelegt, das locker in die Jeanshosentasche passt. Der Verlag begnügt sich aber nicht nur mit einem bloßen Reprint der Klassiker. Vielmehr ist den alten Schriften jeweils eine Einleitung eines bekannten Autors der Gegenwart vorangestellt. So stimmt der britische Literaturtheoretiker Terry Eagleton im Vorwort des »Kommunistischen Manifests« ein »Lob auf Marx« an. Sein Beitrag ist flott und unterhaltsam geschrieben, führt aber auch gleichzeitig systematisch in Marx Theorien und das Werk ein. Aber natürlich bleibt das Manifest der wichtigere Text des Bandes. Das mit biblischer Sprachgewalt und revolutionärem Schwung verfasste Gründungsdokument des internationalen Sozialismus sollte in keinem linken Haushalt fehlen. Die Einleitung zu Lenins Schrift »Staat und Revolution« hat der Popliterat Dietmar Dath verfasst. Das klingt dann so: »Ratgebertexte sind Schriften, die sagen, was getan werden sollte. ›Staat und Revolution‹ sagt zunächst nur, welche Fragen man stellen soll, wie man die politischen Daten sortieren kann, wenn man bestimmte Ziele hat – und verbessert die Sicht wie eine Brille, die Ultraviolett- oder Infrarotlicht wahrzunehmen erlaubt.« Die beiden erwähnten Klassiker hat Laika bereits rausgebracht, weitere sind in Planung – zum Beispiel

93


KONGRESS | Sommerakademie der Sozialistischen Linken

Ein neuer Aufbruch Im August findet die Sommerakademie der Sozialistischen Linken statt. Wir sprachen mit Organisator Fabio De Masi darüber, was die Teilnehmer erwartet – und warum es sich im Wald gut diskutieren lässt INTERVIEW: Carolin Hasenpusch

F

abio, du organisierst die 6. Sommerakademie des Soli e.V., zu deren Teilnahme die Sozialistische Linke aufruft. Sie findet in diesem Jahr unter dem Motto »Ein neuer Aufbruch für die Linke!« statt. Welche Schwerpunkte werdet ihr behandeln? Wir werden uns dieses Jahr im Zusammenhang mit der Eurokrise stärker mit den Angriffen auf die Demokratie statt mit Ökonomie befassen. Unser Gefühl war, dass DIE LINKE den Putsch gegen die Demokratie manchmal zu Gunsten abstrakter Debatten über Europa vernachlässigt hat. Damit haben wir den konservativen Rebellen viel Platz gelassen. Die Klage der Bundestagsfraktion gegen ESM und Fiskalvertrag ist jedoch ein gutes Zeichen. Wir freuen uns daher, dass wir den Rechtsprofessor Andreas Fisahn als Referenten gewinnen konnten, der auch die Fraktion in dieser Frage berät. Uns war auch wichtig, linke Parteien aus europäischen Kernstaaten wie den Niederlanden, Frankreich oder Dänemark anzusprechen. Deren Erfolge sind der Maßstab für DIE LINKE, weil sich ihre Situation besser mit Deutschland vergleichen lässt als etwa Griechenland. Dennoch versuchen wir natürlich auch Akteure aus Griechenland oder Spanien zu gewinnen. er kann zur Sommerakademie kommen und was erwartet die Teilnehmerinnen und Teilnehmer? Die Sommerakademie steht allen Interessierten offen. In der Vergangenheit haben sowohl Mitglieder der LINKEN als auch Gewerkschafter und Linke aus anderen Parteien teilgenommen. Viele ha-

W

94

Fabio de MASI

Fabio De Masi ist Mitglied im BundessprecherInnen-Rat der Sozialistischen Linken. Er organisiert die Sommerakademie des Soli e.V. Informationen und Anmeldung unter soli-verein.de.

ben das Klima unserer Debatte gelobt. Die schöne Lage im Wald und der fehlende Druck von Wahlen und Richtungsentscheidungen werden bestimmt auch dieses Jahr dazu beitragen, dass die Diskussionen inhaltlich innovativ und solidarisch geführt werden. Übrigens versuchen wir es allen Interessierten zu ermöglichen, an der Sommerakademie teilzunehmen: Bei Bedarf gibt es finanzielle Unterstützung sowie eine Kinderbetreuung.

Welche Referenten sind in diesem Jahr dabei? Es werden wichtige Akteure aus der Partei und aus Initiativen sprechen. Wir erwarten auch einige internationale Gäste. Neben dem schon erwähnten Andreas Fisahn wird beispielsweise Alexis Passadakis von Attac referieren. Aus der LINKEN sind unter anderem Horst Schmitthenner, Christine Buchholz, Ulrich Maurer, Heinz Bierbaum, Nele Hirsch, Benjamin Hoff und Joachim Bischoff vertreten.

D

iverse Veranstaltungen drehen sich in diesem Jahr um die Krise innerhalb der LINKEN. Welche Perspektiven werdet ihr aufzeigen? Es gibt eine Reihe von Gründen für unsere Probleme. Die öffentlichen Machtkämpfe waren nicht der einzige, aber ein wichtiger Faktor. DIE LINKE muss sich vor allem auf die Dinge konzentrieren, die sie selbst in der Hand hat. Dazu gehört auch, dass unsere Mitglieder nicht vor Erschöpfung kapitulieren. Wir werden uns daher neben der Analyse politischer Einstellungen in der Bevölkerung über Strukturprobleme in der LINKEN austauschen. Wir wollen aber auch von den Erfahrungen erfolgreicher Parteistrukturen lernen. Wir haben daher Vertreterinnen und Vertreter aus Kreisverbänden eingeladen und werden die Erfahrungen aufsuchender Wahlkämpfe auswerten. Den Abschluss bildet eine Debatte über Schwerpunkte des Bundestagswahlkampfes und anstehende Kampagnen, etwa den Aktionstag »Umfairteilen« am 29. September.


Dont mourn -

! e z i n a g r o Spendenkampagne

Noch 3985 Euro Dir gefällt marx21 und du bist der Meinung, dass mehr Menschen unser Magazin lesen sollten? Dann kannst du uns jetzt helfen – mit einer Spende. Wir benötigen 10.000 Euro, etwa für eine neue Datenverwaltung oder zur Verbesserung der Vertriebsstrukturen. 6015 Euro haben unsere Leserinnen und Lesern bislang gespendet. Dafür vielen Dank – wir freuen uns über mehr!

Spendenkonto: GLS Bank | Konto: 1119136700 | BLZ: 430 609 67 Stichwort: Spende | Kontoinhaber: m21- Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V.


! n o i l l e b a Ar

ution Zur Aktualität der Revol

Nr. 1 | 2012 | 1. Jahrgang | 6,50 €

bestellbar über: edition.aurora@yahoo.de oder Jahresabo (siehe Anzeige im Heft Seite 33)

TZT BESTELLEN

theorie21

- JE NEUE THEORIEZEITSCHRIFT


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.