marx21 Ausgabe Nummer 29 / 2013

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marx 21 01/2013 | Februar / MÄrZ

marx 21.de

4,50 eurO | www.Marx21.de

Magazin für internationalen SozialiSMuS

Zwei Jahre arabischer Frühling Warum die Revolution noch nicht vorbei ist.

Jean Ziegler

erklärt, wer für den Hunger in der Welt verantwortlich ist

sahra Wagenknecht über das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie

Frank Deppe

analysiert die Rolle der Gewerkschaften in der Krise

Krieg in Mali Warum der Westen Truppen entsendet NPD-Verbot Pro- & Contra-Debatte Opel Bochum Wie die Arbeitsplätze gerettet werden können

sexismus-Debatte Wer wirklich von Frauenunterdrückung profitiert Wahljahr 2013 Wie DIE LINKE ihre Krise überwinden kann

Österreich 4,70 eUrO schWeiZ 7,50 chF

italo-Western »Django Unchained« und die Rebellion der Antihelden



»Wir haben es satt!« Unter diesem Motto hatten am 19. Januar zahlreiche Verbände und Organisationen zu Protesten gegen die Agrarpolitik von EU und Bundesrepublik aufgerufen. Sie erwarteten 15.000 Menschen – es kamen dann fast 25.000. Der Demonstrationszug war so gewaltig, dass die Letzten noch nicht einmal vom Hauptbahnhof losgezogen waren, als die Ersten schon am Kanzleramt ankamen. Anlass der Proteste war ein im Rahmen der »Grünen Woche« stattfindendes Treffen von Agrarministern aus über 80 Staaten. Die Demonstrierenden kritisierten die Orientierung der Politik an den Interessen von Investoren und Agrarkonzernen. Stattdessen forderten sie eine umweltverträgliche, ressourcenschonende, sozial gerechte und vielfältige Landwirtschaft. Nicht die Profite der Spekulanten und großen Konzerne sollten in den Mittelpunkt gestellt werden, sondern die Bedürfnisse der Konsumenten und Landwirte.

Liebe Leserinnen und Leser,

H

hältst du marx21 zum ersten Mal in den Händen? Sehr gut. Hast du das Heft womöglich noch am Kiosk gekauft? Umso besser. Dann ist unser Plan schon fast aufgegangen. Wie in der vergangenen Ausgabe angekündigt, haben wir es wirklich gewagt, unseren Vertrieb in professionelle Hände zu legen. Ab sofort ist marx21 in jeder größeren Stadt zwischen Flensburg und Rosenheim im gut sortierten Zeitschriftenhandel erhältlich. Wir hoffen, dass uns auf diese Weise viele neue Leserinnen und Leser kennenlernen. Dieses Experiment kann aber nur gelingen, wenn ihr uns dabei unterstützt. marx21 lebt nämlich von einer aktiven Leserschaft. Was ihr tun könnt? Schreibt uns doch beispielsweise eine E-Mail an redaktion@marx21.de und fragt nach Stickern und Flyern, die ihr bei euren Freunden oder in eurer Stadt verteilen könnt, um unser Magazin noch ein bisschen bekannter zu machen. Mehr Informationen zum Kioskgang auf der letzten Seite. Zwei Jahre sind mittlerweile vergangen, seit dem Beginn der Proteste in Nordafrika. Bis heute hat der Arabische Frühling nichts an Aktualität und Brisanz verloren. Wir widmen ihm daher einen Schwerpunkt. Ab Seite 23 werfen wir einen genaueren Blick auf die Situation in Ägypten und Syrien und analysieren, was dort in den vergangenen zwei Jahren passiert ist. Frank Renken und Mona Dohle stellen die oppositionellen Kräfte dieser beiden Länder vor und beschreiben, wie sich die Arbeiterklasse vor Ort organisiert. Unseren zweiten Schwerpunkt widmen wir den Gewerkschaften in der EuroKrise. Darin unter anderem: Arbeitskampf live. Beteiligt: Wir selber. Zumindest einer von uns. marx21-Redakteur Marcel Bois war viele Jahre bei der Financial Times Deutschland beschäftigt. Die wurde jetzt dichtgemacht. Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen hat Marcel für eine angemessene Entschädigung gekämpft. Was genau passiert ist, erfahrt ihr ab Seite 49. Gerne möchten wir uns mit euch über die vielen Themen, die ihr ihn unserem Heft findet, auch persönlich austauschen. Die Möglichkeit dazu besteht auch dieses Jahr wieder beim Kongress »Marx is‘ Muss«, der zwischen dem 9. und 12. Mai in Berlin stattfindet. Mehr darüber auf den Seiten 78 und 79. Seit fast sechs Jahren erscheint marx21 nun. In dieser Zeit haben wir viele positive Rückmeldungen von euch erhalten. Das hat uns unter anderem ermutigt, den angesprochen Kioskgang zu wagen. Doch der Vertrieb kostet Geld, weshalb wir leider zum ersten Mal den Preis unseres Heftes erhöhen müssen. Fortan wird marx21 im Handverkauf 4,50 Euro kosten, im Abonnement 5 Euro pro Ausgabe (inklusive Versandkosten). Bereits bestehende Abonnements können als Sozial-Abo zum alten Preis weitergeführt werden. Wir freuen uns aber natürlich über alle Abonnentinnen und Abonnenten, die bereit sind, ab jetzt den höheren Preis zu zahlen. Für alle, die noch kein marx21-Abo haben: Das Bestellformular gibt es auf Seite 75. Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

© Jakob Huber / Campact / flickr.com / CC BY-NC

BERLIN

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Fotofeature: Frauenrechte

Interview: Jean Ziegler Aktuelle Analyse 08

Der Krieg in Mali Interview mit Christine Buchholz

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Demokratie und Eurokrise Von Sahra Wagenknecht

15 Nazis in Griechenland Interview mit Lefteris Arabatzis 18

Bestraft für einen Sieg über Nazis Von Azad Tarhan

Unsere Meinung 20 Sexismus-Debatte: Teile und herrsche Kommentar von Katrin Schierbach 21 DFL-Sicherheitskonzept: Fans als Versuchskaninchen Kommentar von Katharina Dahme 4

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66 12 Sahra Wagenknecht: Demokratie und Eurokrise Titelthema: Zwei Jahre Arabische Revolution

Schwerpunkt: Gewerkschaften in der Krise

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39 Opel Bochum: Erst streiken, dann umbauen Von Nils Böhlke

Arabischer Frühling: Ringen um die Macht Von Leandros Fischer

27 Syrien: Konturen eines Aufstands Von Frank Renken 32

Syrien: Ein Regime, viele Gegner Von Frank Renken

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Ägypten: Kerenski in Kairo Von Mona Dohle

Venezuela

neu auf marx21.de

Welche Zukunft hat die bolivarische Revolution ohne Chávez? Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

42 Krisenkorporatismus: »Das Lob von Merkel ist vergiftet« Interview mit Frank Deppe 46 Gewerkschaften brauchen Opposition Von Volkhard Mosler 49

Financial Times Deutschland: Die letzte Schlagzeile gehört uns Von Marcel Bois

52 »Streik ist erlebbare Selbstermächtigung« Interview mit David Matrai


80 Kultur: Django Unchained & der Italo-Western

84 49 Reportage: FTD-Beschäftigte wehren sich

KONTROVERS

Internationaler Frauentag

Klassiker der Monats

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DIE LINKE: Für einen bewegungsorientierten Wahlkampf Thesen vom Netzwerk marx21

58 NPD-Verbot: Pro- und Contra Mit Beiträgen von Michael Bruns und Lisa Hofmann INTERNATIONALES 62

AKP in der Türkei: Der Aufstieg des anatolischen Tigers Von Dogan Tarkan

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»Jedes Kind, das heute verhungert, wird ermordet« Interview mit Jean Ziegler

»Wir Frauen müssen doppelt kämpfen« Interview mit Gisela Kessler

Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein Von Alexander Schröder

Netzwerk marx21

Rubriken

72 Serie: Was will marx21 (15) Welchen Stellenwert hat Theorie für die politische Praxis? 78 »Marx is‘ Muss 2013« Interview mit Loren Balhorn

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 10 Fotofeature 60 Weltweiter Widerstand 68 Neues aus der LINKEN 76 Was macht das marx21-Netzwerk? 86 Review 95 Quergelesen 96 Preview

Kultur 80 Italo-Western: Gesprengte Fesseln Von Frank Eßers

INHALT

Klassiker des Monats: Georg Lukács

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 7. Jahrgang, Heft 29 Nr. 1, Februar / März 2013 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Carla Assmann, Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller, Carolin Hasenpusch, David Jeikowski, Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Natalie Dreibus, Lisa Hofmann, Tobias Paul (Neues aus der Linken), Michael Ferschke (Was will marx21), Win Windisch (Quergelesen) Lektorat Carla Assmann, Marcel Bois, Brian Janßen, David Paenson, Marijam Sariaslani, Manfred Schäfer, Christoph Timann Übersetzungen Hildegard Dirim, David Meienreis, David Paenson Layout Georg Frankl, Yaak Pabst, Paula Rauch Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat Michael Bruns, Christine Buchholz, Nicole Gohlke, Stefanie Graf, Werner Halbauer, Sven Kühn, Volkhard Mosler, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Azad Tarhan, Christian Vasenthien, Janine Wissler, Luigi Wolf Redaktion Online Frank Eßers, Jan Maas (verantw.), Leon Wagner Aboservice-Team Phil Butland, Stefan Hanczuch, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 15. April 2013 (Redaktionsschluss: 25.03.) 6

Paula Rauch, Layout

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inke Gruppen neigen ja oft dazu, auf jedem noch so kleinen Flyer die ganze Welt, den Kapitalismus und den tendenziellen Fall der Profitrate erklären zu wollen«, sagt Paula. Doch der Inhalt kann noch so wichtig sein, ohne die richtige Aufmachung möchte »einem so eine Bleiwüste im 90er-JahreLook dann doch keiner abnehmen«. Auf das Aussehen kommt es eben manchmal wohl doch an. Diese Erkenntnis gewann Paula während eines Schulaufenthaltes in Frankreich. Seitdem ist sie stets zur Stelle, wenn politische Texte ein ansprechendes Äußeres brauchen. Ihre ersten Flyer und Plakate druckte sie heimlich abends in der Schulbibliothek, um sie dann morgens zwischen dem hausmeisterlichen Kontrollgang und der Ankunft der ersten Lehrer aufzuhängen. Das ist lange her und auch die Heimlichkeiten gehören der Vergangenheit an, war sie nun doch mittlerweile schon Geschäftsführerin des Studierendenverbandes Die Linke.SDS und ist Mitglied bei diversen politischen Organisationen wie der Linksjugend ['solid], ver.di, der französischen NPA und der Roten Hilfe. Politisiert wurde die Musik- und Zweirad-Liebhaberin als Jugendliche vor allem durch die antifaschistische Szene. Im Jahr 2008 kam ihr Engagement in der Bildungspolitik dazu, das sie seitdem nicht mehr loslässt. Nach Schulstreiks und Schulbesetzungen folgte der Aktivismus im Berliner und bundesweiten Bildungsstreik-Bündnis. Seit dieser Ausgabe ist Paula Teil des marx21-Layoutteams und sorgt dafür, dass ihr ein Magazin in den Händen halten könnt, das hoffentlich beim Lesen Freude macht. Zum Netzwerk marx21 kam sie vor einem Jahr, da sie eine revolutionäre Perspektive für DIE LINKE notwendig und wichtig findet. Vielleicht hat es auch geholfen, dass unser Heft keine Bleiwüste im 90er-Jahre-Look ist.In diesem Sinne: Bienvenue Paula und lass unsere Kapitalismuskritik noch schöner aussehen!

Das Nächste Mal: Michael Ferschke


Zur Beschneidungsdebatte (Heft 27 und 28) Aufmerksam und neugierig habe ich alle Artikel und Leserbriefe zur Beschneidung von Jungen gelesen, da ich selber mit einem Beschnittenen verheiratet bin. Vor Beginn der Debatte haben wir uns nie über das Thema unterhalten. Am Anfang der öffentlichen Diskussion sagte mir mein Mann, dass wir, wenn wir einen Jungen bekommen sollten, ihn nicht beschneiden lassen müssen, wenn es mir unangenehm wäre. Am Ende der Debatte war klar: Er würde auf jeden Fall beschnitten. Die Vorwürfe und Unterstellungen, angefangen bei gewalttätigen, hartherzigen Eltern, über rückschrittliche Religionsauffassungen bis hin zu Mythen über die Sexpraktiken und daraus folgender Geringschätzung oder sogar Gewalt gegenüber der Frau, sind erniedrigend und ausgrenzend – vor allem da es keine Bedenken gibt, Kinder an die Normvorstellung von Geschlecht mit Hilfe von kosmetischen Operationen und hormonellen Behandlungen anzupassen. Die islamische Religion wird in Deutschland als rückschrittlich und frauenunterdrückend denunziert. Dabei hebt die katholische Kirche das Zölibat nicht auf, wehrt sich gegen die Aufarbeitung des Kindesmissbrauchs und lässt Frauen nicht in höhere Kirchenämter. Wieder einmal wird mit der Beschneidungsdebatte ein Teil der Gesellschaft geächtet, wird das vermeintlich Andere verteufelt, dann ausgegrenzt und Anfeindungen aller Art ausgeliefert. Die alten falschen Trugbilder, die der Kolonialismus geprägt hat und die ihm halfen, den Nahen Osten und Afrika auszubeuten und zu unterdrücken, sind sofort wieder präsent. Aber sie sind auch heute noch falsch. Deshalb bin ich dankbar für die deutlichen Worte von Achim Bühl. Nein, mit uns ist alles in Ordnung, wir lieben unsere Kinder und unser Sex wird nur durch Stress, Übermüdung oder gelegentlich von den Kindern gestört, aber gewiss nicht durch eine mangelnde Sensibilität.

Mein Mann glaubt fest an Allah und daran, dass es ihm dadurch leichter fällt, ein guter Mensch zu sein. Für ihn gehört der Schnitt dazu, wie das tägliche Händewaschen. Die Beschneidungen im Bekanntenkreis verlaufen völlig anders, als es die dramatischen Veröffentlichungen im Internet darstellen. Wir versuchen unsere Kinder zu prägen. Dass sie sich später damit auseinandersetzen müssen und vielleicht einiges anders machen würden als ihre Eltern, ist für mich ein normaler Prozess. Wir dürfen uns nicht spalten lassen und die Spaltung auch nicht zulassen, nicht in Beschnittene und Unbeschnittene, Gläubige und Nichtgläubige, Arbeiterinnen und Arbeitslose, faule Griechen und haushaltende Europäer – je nachdem, was gerade passt. Karin, in Ostdeutschland aufgewachsen und Atheistin

Zum Artikel »Das Wahljahr und die antikapitalistische Bewegung« von Christine Buchholz (marx21.de, 03.12.12) Zu dem Beitrag von Christine Buchholz, dem ich weitgehend zustimme (mit etwas mehr kritischen Gefühlen in Sachen Partei DIE LINKE), habe ich eine Frage: Was soll man sich unter dem »revolutionären Bruch« vorstellen? Dieser Begriff wäre näher auszuführen, damit nicht linker Wunderglaube sich damit verbindet, so als sei ein »letztes Gefecht« zu erwarten. Und im Zusammenhang mit dieser Frage ein Hinweis: Dass DIE LINKE »Bewegungscharakter« braucht, ist eine Sache, eine zweite, dass sie dauerhafte Formen politischer Alltagskultur entwickeln muss, die Parteiform ist nur eine unter mehreren. Gemeint ist damit auch so etwas wie sozialer Rückhalt vor Ort für die handelnden Personen. Der Blick in zeitweise linke Biographien zeigt meines Erachtens, welche negativen Wirkungen es hat, wenn solche Strukturen fehlen. Auch aus einem solchen Mangel entstehen politische Brüche beim Einzelnen und »Konversionen« oder problematische Existenzweisen wie die des »linken Tagungsreisenden« oder des »Wanderers von Kleingruppe zu Kleingruppe«. Arno Klönne, Paderborn

Zum Artikel »Die Regierung ist entgleist« von Lucia Schnell und Jan-Peter Herrmann (Heft 28) Lucia Schnell und Jan-Peter Herrmann versuchen, ein politisches Argument mit Karikaturen zu verstärken. Die Daten und Beispiele in ihrem Artikel laufen darauf hinaus, dass die Kontroverse um den Straßenbau durch den Nationalpark TIPNIS gelöst werden könnte, wenn die boliviani-

sche Regierung und Präsident Evo Morales einfach nur die Großgrundbesitzer und Unternehmer im Tiefland enteignen würden. Sie scheinen bewusst jegliche Fakten zu vermeiden, die die positive Entwicklung für die Bevölkerung Boliviens darstellen oder die die Situation in TIPNIS gänzlich betrachten. So gibt es zum Beispiel auch indigene Gruppen innerhalb des Nationalparks, die den Straßenbau unterstützen. So hat es eine Pro-Straßenbau-Bewegung gegeben, die von dem indigenen Rat des Südens zusammen mit anderen indigenen Gruppen initiiert worden ist. Ebenso verschweigen sie, dass die größte Gewerkschaft der bolivianischen Kleinbauern (CSUTCB) zusammen mit 350 weiteren Organisationen den Straßenbau unterstützt. Die Organisatoren des Anti-StraßenbauProtestes hingegen unterstützen das UNProgramm »Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation« und wollen davon profitieren. Dieses Programm hat zum Ziel, Wälder zum Emissionsausgleich zu privatisieren. Es dient also dazu, Industriestaaten das Weiterverschmutzen der Umwelt zu genehmigen. Den Vorwurf, dass die Regierung Morales mit den Rechten kollaboriert, stellen Schnell und Herrmann nicht argumentativ dar. Die Enteignung von Großgrundbesitzern und Unternehmen ist, wenn auch wünschenswert, eine taktische Frage und bedarf einer Abwägung von objektiven und subjektiven Gegebenheiten. Selbst wenn wir glauben, der revolutionäre Prozess könnte schneller vorangetrieben werden, entspricht die Behauptung, die bolivianische Regierung sei entgleist, nicht den Tatsachen. Sibylle Kaczorek, Berlin

Berichtigung Beim Redigieren des Artikels über Martin Scorsese im letzten Heft haben wir versehentlich einen Fehler eingebaut: Auch wenn der Film »Die letzte Versuchung Christi« mit den Stilmitteln einer Low-BudgetProduktion arbeitet, so ragen doch niemals Kabel ins Bild und es reicht auch keine Hand Getränke aus dem Off. Wir entschuldigen uns für diese Unterstellung. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

LeserbriefE

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»Frankreich legitimiert eine Regierung von Putschisten« Die französische Armee kämpft mit Unterstützung der Bundeswehr in Mali, angeblich um die Zivilbevölkerung vor mordenden Islamisten zu schützen. In Wirklichkeit folgt die Intervention ganz anderen Zielen, meint unsere Gesprächspartnerin Christine Buchholz

© US Army Africa / Staff Sgt. Michael R. Noggle / CC-BY

Interview: Stefan Bornost

MARX IS MUSS 2013

Die BUndeswehr in Afrika Die Debatte zum Artikel auf dem Kongress

Die Grünen befürworten den Militäreinsatz in Mali. Spitzenkandidat Jürgen Trittin begründet das damit, dass so ein weiterer Vorstoß der Islamisten nach Süden gestoppt werden könnte. Beschreibt der Begriff »Islamisten« die Kräfte korrekt, die seit dem letzten Frühjahr die Abspaltung des Nordens vorantreiben? Den Vormarsch von rund tausend Rebellen in Richtung Süden haben nun Grüne, aber auch SPD, CDU und FDP, zum Anlass genommen, dass zu forcieren, was sie schon seit Monaten fordern: eine Beteiligung der Bundeswehr an der Auseinandersetzung um Mali. Bisher war allerdings nur von einer Ausbildungsmission für die malische Armee die Rede. Nun soll die Bundeswehr die Kampfhandlungen der französischen Armee direkt unterstützen. Was die Kräfte angeht, die die Abspaltung des Nordens vorantreiben, so kommen dort zwei Konfliktlagen zusammen: zum einen der Kampf der Tuareg für nationale Selbstbestimmung und zum anderen das Agieren islamistischer Gruppen. Die Sahara im Norden Malis ist Rückzugsgebiet bewaffneter Gruppen, die unter islamischer Fahne von kriminellen Aktivitäten leben. Sie haben den Konflikt mit den Tuareg genutzt, um Städte unter ihre Kontrolle zu bringen und scheinen in der malischen Bevölkerung kaum verankert zu sein. Das Volk der Tuareg hat sich seit der Unabhängigkeit Malis im Jahr 1960 im-

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Christine Buchholz

Christine Buchholz ist friedenspolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag.

mer wieder gegen die Zentralregierung erhoben. Aus welchen Gründen? Vom Reichtum unter dem Boden der Sahara haben die Tuareg nie etwas abbekommen. In den 1990er Jahren wurden ganze Tuareg-Familien Opfer von Gewalttaten, die die malische Armee und Milizen verübt haben. An der Unterdrückung der Tuareg wird sich auch nichts ändern, wenn die französische Armee die Ortschaften im Norden zurückerobern sollte. Nun gibt es erste Meldungen, wonach die malische Armee im Rücken der französischen Kräfte Racheakte an arabischen Bewohnern von Orten verübt haben soll, denen sie Kollaboration mit Islamisten vorwirft. Das war leider zu erwarten.


Es geht um Uran, Erdöl, Erdgas, Gold, Diamanten und Kupfer

Vor den Kämpfen im Norden sind hunderttausende Menschen geflohen. Kann deren Entwurzelung einen Militäreinsatz rechtfertigen? Der Krieg schafft weiteres Flüchtlingselend. Die UNHCR geht davon aus, dass es in naher Zukunft bis zu 300.000 zusätzliche Vertriebene innerhalb von Mali sowie mehr als 400.000 weitere Flüchtlinge in den Nachbarländern geben könnte.

Wie kommt Frankreich dazu, die Putschisten zu unterstützen? Es geht nicht um die Menschen in diesem armen Land. Es geht um Uran, Erdöl, Erdgas, Gold, Diamanten und Kupfer. Noch wichtiger sind der ehemaligen Kolonialmacht allerdings die Uranvorkommen im benachbarten Niger, dem drittgrößten Uranproduzenten der Welt. Frankreich hat in den vergangenen fünfzig Jahren ein Netz von Politikern, Firmen, Geheimdiensten, Militärs und despotischen Regimen in Afrika aufgebaut. Für diesen Filz gibt es im Französischen einen eigenen Begriff: Françafrique. Der aktuelle Krieg in Mali hat viele Vorgänger. Frankreichs Armee hat in den letzten vierzig Jahren unter anderem im Tschad, in der Westsahara, der Elfenbeinküste, in Ruanda und Kongo militärisch interveniert. Immer ging es darum, die Interessen französischer Konzerne und generell den französischen Einfluss auf die Regierungen in diesen Ländern zu bewahren.

Die Intervention erfolgt im Einklang mit der malischen Zentralregierung. Wie demokratisch ist diese Regierung? Im März 2012 wurde Amadou Touré, der gewählte Präsident Malis, durch einen Militärputsch aus dem Amt entfernt. Der Anführer der Putschisten, Amadou Sanogo, ist als Hauptmann ein Vertreter des Mittelbaus. Er steht den USA nah. Sanogo nahm dort in den Jahren 2005, 2007, 2008 und 2010 an Ausbildungsmaßnahmen teil. Im Dezember 2012 kam es zu einem weiteren Putsch unter Führung Sanogos, in dessen Verlauf der Premierminister der Übergangsregierung festgenommen wurde. Das ganze Kabinett trat unter Druck zurück. Die Unterstützungsmission der EU, an der sich auch die Bundesregierung beteiligt, legitimiert eine Regierung von Putschisten.

Und gibt Deutschland der französischen Regierung dabei Rückendeckung? Bis zur Wiedervereinigung war die Bundesrepublik militärisch im Ausland nicht einsatzfähig. Die Regierung Kohl wollte das zu Beginn der 1990er Jahre ändern und begann, die deutsche Öffentlichkeit an bis dahin undenkbare Militäreinsät-

ze zu gewöhnen. Es ging darum, irgendwann dieselbe militärische Stärke zu erlangen wie die wirtschaftlich schwächeren, aber politisch stärkeren Mächte Frankreich und Großbritannien. Die Bereitschaft der gegenwärtigen Bundesregierung, sich erneut an einem Krieg auf dem afrikanischen Kontinent zu beteiligen, ist Ausdruck dessen. Verteidigungsminister Thomas de Maizière drückte es jüngst so aus: »Als starkes Mitglied der internationalen Gemeinschaft wird Deutschland künftig eher häufiger gefragt werden, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen – auch militärisch.« Wie steht die Zivilgesellschaft in Mali zu den Putschisten und zu den ausländischen Truppen? Es gibt in der Zivilgesellschaft angesichts der prekären Lage im Land Kräfte, die auf die durch einen Putsch an die Macht gekommene Regierung und auch auf militärische Unterstützung aus dem Ausland hoffen. Aber es gibt auch Organisationen, die sich gegen den Krieg stellen. So existiert eine Initiative von Frauen, die im Dezember einen Appell veröffentlicht haben unter dem Motto »Frauen sagen ›Nein‹ zum Stellvertreterkrieg in Mali«. Daran beteiligt ist die ehemalige malische Kulturministerin Aminata Traoré. Eine andere Initiative plant zurzeit eine »Bürgerkarawane für den Frieden«. Sobald es die Sicherheitslage zulässt, will das Bündnis mit einer großen Demonstration von Bamako oder Mopti aus in die umkämpften Gebiete ziehen. Was können Linke in Deutschland jetzt tun? Erstens sollten Linke die Hintergründe dieses neuen Krieges erklären und deutlich machen, dass eine weitere militärische Eskalation keines der wirklichen Probleme des Landes löst. Zweitens müssen wir die Kräfte in Mali unterstützen, die sich gegen den Krieg stellen und die versuchen, das Elend der Flüchtlinge zu mildern. Drittens müssen wir Druck auf die Bundesregierung ausüben und Widerstand gegen ihre imperialistische Politik aufbauen. ■ ★ ★★ Weiterlesen Aktuelle Analysen zu der Situation in Mali gibt es auf marx21.de und auf Christine Buchholz‘ Homepage: www.christinebuchholz.de.

AKTUELLE ANALYSE

Die islamisch geprägte Gruppe Ansar ad-Din ist eine relativ junge Erscheinung. Wie ist sie entstanden und welchen Rückhalt hat sie? Bei den Ansar ad-Din – den »Anhängern des Glaubens« – handelt es sich um eine lokal verankerte Organisation. Sie ist eine Abspaltung von der säkularen MNLA, die jahrelang die politisch dominierende Kraft unter den Tuareg war. Ansar ad-Din nennen sich islamistisch, werden aber von einem Mann geführt, der durchaus für seine Liebe zum Whiskey bekannt ist. Die Gruppe pflegte in den Auseinandersetzungen mit der malischen Armee Beziehungen zu »al-Kaida im islamischen Maghreb« (AQMI). Dabei handelt es sich um ein Überbleibsel des algerischen Bürgerkriegs. Ansar ad-Din verfolgt aber keinen globalen Dschihad, sondern will Veränderungen in Mali. Sie stand, wie auch die MNLA, wochenlang mit der malischen Regierung in Friedensverhandlungen. Der französische Angriff hat diese Verhandlungen abrupt beendet.

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© flickr.com / paceShoe / CC BY

FotoFeature

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Mitte: Die Krise löste in vielen europäischen Ländern eine Kettenreaktion aus. Zahlreiche Geschäfte, wie hier in der portugiesischen Provinzhauptstadt Coimbra, mussten schließen. Rechts: Doch überall regt sich Widerstand. »Troika raus!«, schallt es von den Straßen Lissabons bis nach Dublin und Athen.

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© flickr.com / Antonio Marín Segovia / CC BY-NC-ND

meine Rente betrug nur 400 Euro. Jetzt sind es nochmal 100 Euro weniger.« Unten links: Eva Carvajal ist den Tränen nahe. Ihr kleines Haus in Valencia hätte soeben geräumt werden sollen. Doch mehr als hundert Nachbarn und Aktivisten kamen ihr zu Hilfe. »Wir sind alle Eva«, skandiert die Menge.

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EUROKRISE | »Solange ich gehen kann, werde ich kämpfen!« Der 88-jährige Athener steht am Rande einer Demonstration und lächelt. »Ich würde mitlaufen, aber meine Beine sind nicht mehr so stark wie früher.« Er macht ein paar kleine Schritte und bleibt wieder stehen. »Ich habe 40 Jahre gearbeitet, aber


© flickr.com / Bloco / CC BY-NC-SA

nachts öffentliche Plätze besetzt. Mitte: In Rom veranstalteten Aktivistinnen einen Flash-Mob und reihten 101 Paar Schuhe aneinander. Damit wollten sie auf die steigende Zahl der Morde an Frauen in Italien aufmerksam machen. Rechts: Auch in Johannesburg fand ein bunter und kämpferischer Protestzug statt.

AKTUELLE ANALYSE

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für die Rechte von Frauen zu kämpfen. In Lissabon prangerten die Demonstrantinnen vor allem die zunehmende Gewalt gegen Frauen an, die Folge der dramatischen Zuspitzung der sozialen Lage seit Beginn der Krise ist. Unten links: Unter dem Motto »Nehmt euch die Nacht zurück« wurden in Tel Aviv

© flickr.com / Say NO - UNiTE / CC BY-NC-ND

Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen | »Wir können entscheiden! Wir können das schaffen! Wir fordern ein Ende der Gewalt gegen Frauen!« Seit über dreißig Jahren gehen am 25. November überall auf der Welt Menschen auf die Straße, um gegen Gewalt und

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© Carlos Latuff

Noch nennen sie es Demokratie In der Krise zeigt sich, dass Politiker wenig von Volkes Willen halten. Die wirkliche Macht liegt aber ohnehin ganz woanders – zumindest solange wir nicht Griechisch lernen Von Sahra Wagenknecht ★ ★★

Sahra Wagenknecht ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag.

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er sich heute in Europa mit offenen Augen umschaut, kann eigentlich gar nicht mehr auf die Idee kommen, dass Kapitalismus und Demokratie zwei Seiten einer Medaille sind, wie oft behauptet wird. Denn das, was wir zurzeit erleben, ist eine rabiate Politik gegen die Mehrheit der Menschen in Europa, eine Politik, die darauf ausgerichtet ist, sie zu enteignen und um ihren Lebensstandard zu bringen. Trotz der Krise wachsen die großen Vermögen massiv an. Selbst in Griechenland, das derzeit geradezu totgespart wird, gibt es eine reiche Oberschicht, die noch gar nichts verloren hat. Das Geld wurde außer Landes geschafft, zum Beispiel in die Schweiz. Das Gleiche gilt für Spanien, wo die Hälfte aller jungen Menschen arbeitslos ist.

Die dramatischen Sparprogramme haben überhaupt nicht das Ziel, den Euro oder Europa zu retten. Das ist eine dreiste Lüge. Ziel der Politik in Europa ist, die Euros der Millionäre und Banken zu retten! Gerechtfertigt wird die Sparpolitik mit der Höhe der Staatsschulden. Seit vielen Jahren wird behauptet, die Staatsschulden seien zu hoch. Doch interessanterweise werden diese Schulden immer höher, je mehr gespart wird. In Griechenland wurden seit Beginn der Krise fast fünfzig Prozent der Gesundheitsausgaben gekürzt, die Renten zusammengestrichen, das ohnehin dürftige soziale Netz völlig vernichtet und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – sind die Staatsschulden heute weitaus höher als vor Beginn dieses


ganzen Wahnsinns. Auch in Deutschland ist die Staatsverschuldung in den letzten fünfzehn Jahren geradezu explodiert. Das sind die Jahre der Agenda 2010, der Einführung von Hartz IV, die Jahre, in denen die gesetzliche Rente zerschlagen wurde. Es sind also nicht zu hohe öffentliche Ausgaben, die die Staaten in die Verschuldung und Europa in die Krise getrieben haben. Der Kern der sogenannten Staatsschuldenkrise ist in allen Ländern in Wahrheit die Bankenkrise. Hier in Deutschland hat sich die Staatsverschuldung zusätzlich um über vierhundert Milliarden Euro erhöht, weil marode Finanzinstitute, die sich verzockt hatten, gerettet wurden. Es ist nichts als perfide Stimmungsmache, wenn so getan wird, als ob wir als deutsche Steuerzahler bluten müssten, weil die angeblich faulen oder verschwenderischen »Südländer« nicht ordentlich wirtschaften. Das ganze Geld ist immer nur dafür verwendet worden, Banken und Spekulanten von Verlusten und von Verantwortung freizukaufen. Das heißt: Es war immer eine Überweisung vom Steuerzahler an die Oberschicht. Denn letztendlich steht ja hinter der Finanzmafia die Oberschicht mit ihrem großen Vermögen. So ist es kein Wunder, dass die Vermögen so schnell steigen.

gekürzt werden. Wir wollen, dass das Geld dahin zurückgeholt wird, wo es schon einmal war, nämlich bei der Allgemeinheit. Das gesamte System, wie sich die Staaten in Europa finanzieren, steht der Demokratie im Wege. Mit der Festlegung der Zinssätze für einzelne Länder bestimmen die Banken darüber, wie viel Geld ein Land hat, um Bildung, Gesundheit oder Renten zu finanzieren. Diese Abhängigkeit wurde von der Politik bewusst geschaffen. Sogar eine Theorie hat man sich dazu ausgedacht: die der marktkonformen Demokratie. In einer solchen marktkonformen Demokratie muss sich die Politik bemühen, »das Vertrauen der Finanzmärkte zu erwerben«. Kein Wort über das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler. Das bedeutet, dass die Politik alles daransetzen muss, genau die Zockerbande zufriedenzustellen, die sie in diese Probleme hineingeritten hat. Und wehe, das gelingt nicht: Dann melden sich die Ratingagenturen und die Investmentbanken, das Land wird abgestuft und die Spielräume für eine vernünftige Politik werden noch enger. Das ist das genaue Gegenteil einer Demokratie, nämlich die Herrschaft der Banken in Europa. Zusätzlich verstärkt sich diese Diktatur fortwährend selbst. Ein Großteil der Staatsschulden resultiert aus der Bankenrettung, und zum Dank dafür, dass wir sie retten durften, zahlen wir den Banken jetzt Zinsen. In diesem System der Staatsfinanzierung setzen sich strukturell die Interessen einer Minderheit gegen die große Mehrheit durch. Und wer dieses System überwinden will, wer überhaupt erst wieder demokratische Entscheidungen herbeiführen will, muss als allererstes erreichen, dass Staaten sich von dieser Diktatur der Finanzmärkte befreien. Ein Anfang wäre leicht zu machen, wenn man den Staaten wenigstens das gleiche Recht zuspricht wie den Banken, sich bei der Europäischen Zentralbank zum aktuellen Leitzins das Geld zu leihen, anstatt bei den Privatbanken. Heute gibt die Europäische Zentralbank den Privatbanken das Geld zum aktuellen Leitzins, das sind momentan 0,75 Prozent. Mit diesem Geld können die Banken machen, was sie wollen: Sie spekulieren mit Lebensmitteln, Rohstoffen und Öl. Oder sie leihen es den Staaten zu einem erheblich höheren Zinssatz und machen so einen Riesenschnitt. Wenn die Zentralbank das Geld den Staaten direkt gäbe, würde sie sich den Umweg über die Banken sparen. Deshalb ist die Behauptung, das würde eine Inflation verursachen, eine glatte Lüge der Bankenlobby, denn es handelt sich ja um das gleiche Geld.

Trotz der Krise wachsen die großen Vermögen weiter an

★ ★★ MARX IS MUSS KONGRESS 2013 Ist Euroland abgebrannt? Themenblock zur Krise Infos auf Seite 79 oder online unter: www.marxismuss.de

AKTUELLE ANALYSE

In den öffentlichen Diskussionen fehlt jeder Hinweis darauf, dass die Staatsschulden nichts anderes als der Gegenpol zum Vermögen der Reichen sind – genau wie der Hinweis auf den zweiten Grund, warum die Staaten sich immer mehr verschulden: nämlich das Steuerdumping für die Reichen. In Europa wird ja sonst alles detailwütig reguliert, aber die Regierungen haben es bis heute nicht geschafft, wenigstens bei den wichtigsten Abgaben wie Vermögens- und Unternehmenssteuern eine Vereinheitlichung einzuführen. Deswegen gibt es in Europa in den letzten 15 Jahren eine Art Wettrennen um niedrige Steuern für Unternehmen, Vermögen und Kapitalerträge. Dieses Geld fehlt natürlich in den öffentlichen Kassen, und so kann man die Staatsschuldenkrise auf einen Nenner bringen: Die Schulden der Staaten sind die verlorenen Finanzwetten und die nicht mehr gezahlten Steuern der Reichen. Daraus lässt sich ableiten, wie man diese Krise tatsächlich lösen könnte. Geld verschwindet ja nicht einfach, es wechselt nur den Besitzer, aus öffentlichen Einnahmen werden private Vermögen. Aber wenn wir die Millionärsteuer fordern, dann heißt es sofort »Enteignung«. Komischerweise spricht niemand von Enteignung, wenn die Einkommen, die Löhne und Renten des Großteils der Bevölkerung

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Den Banken würde natürlich ein lukratives Geschäft genommen. Klar, dass sie das nicht wollen. Eine zweite Voraussetzung dafür, wieder demokratische Entscheidungen in Europa treffen zu können, ist ein Ende der Alimentierung des Molochs Finanzmarkt mit dem Geld der Bevölkerung. Stattdessen müssen wir ihn kleinregulieren, damit er nicht mehr die ganze Gesellschaft erpressen und vor sich hertreiben kann. Deswegen brauchen wir einen Schuldenschnitt der Staaten, und zwar nicht nur in Griechenland, sondern auch in Deutschland. Mindestens die Schulden, die auf Bankenrettungen zurückgehen, gehören sofort gestrichen. Wir brauchen eine Reduktion der Staatsverschuldung, aber nicht durch fortwährendes Sparen, sondern indem man Schulden eben nicht mehr bedient, sondern streicht. Das hat eine lange Tradition, Staatsschulden wurden in der Geschichte eigentlich nie zurückgezahlt. Die Frage ist nur, ob sie am Ende durch einen Finanzcrash oder eine Inflation entwertet werden – was dann auch die Mehrheit der Menschen trifft – oder durch einen gezielten Schuldenschnitt. Wenn es dabei wirklich zu einem Massensterben von Hedgefonds und Schattenbanken kommen sollte, dann ist es eben endlich an der Zeit dafür. Dagegen wird eingewendet, die Banken seien systemrelevant. Auch die Neoliberalen reden dann plötzlich vom System, aber was bedeutet das? Systemrelevanz heißt nichts anderes, als dass man akzeptiert, dass die Stabilität des Finanzsektors ein öffentliches Gut ist. Aber wenn die elementaren Funktionen, der Zahlungsverkehr, die Sicherung von Erspartem, die Finanzierung von Investitionen ein öffentliches Gut sind, dann darf man es doch nicht privaten Renditejägern überlassen. Solch ein öffentliches Gut gehört in die Hände der Allgemeinheit. Das wäre noch nicht die Überwindung des Kapitalismus, aber ein wichtiger Schritt in der Rückgewinnung von öffentlicher Souveränität.

scheiden, was damit passiert. So können sie ihre Belegschaften erpressen, indem sie mit Auslagerung drohen, und so können sie auch ganze Staaten erpressen. Es muss aber nicht immer Erpressung sein, es wird auch mit Belohnung gearbeitet. Inzwischen haben wir ja flächendeckend eine Art offizieller Korruption. Wer als Minister Entscheidungen durchsetzt, die den Wirtschaftslobbys nützen, bekommt später ansehnliche Einkommen von ihnen. Das betrifft ja nicht nur Steinbrück, das begann schon bei Walter Riester, der das Rentensystem zerschlagen und die private Rentenversicherung eingeführt hat. Als er nicht mehr Arbeitsminister war, wurde er von diesen ganzen Fonds und Versicherungen eingeladen, immer mit einem Riesenhonorar. Hier wird ganz klar: Wenn eine Seite der Gesellschaft sehr viel Geld verwaltet, dann hat sie die Möglichkeit, sich die Politik zu kaufen, die sie will. Das ist ein strukturelles Problem des Kapitalismus, und deshalb ist die Eurokrise im Kern eine Systemkrise. Um aus dieser ganzen Misere wirklich herauszukommen, muss man perspektivisch auch die Systemfrage stellen. Vermögenskonzentration ist nicht nur ungerecht, sie ist auch eine Machtfrage. Der Kapitalismus unterminiert die Demokratie, ohne dass er gleich die formaldemokratischen Regelungen außer Kraft setzen muss. Aber auch das ist eine Gefahr. Wenn es in Griechenland so weiter geht, dann wird irgendwann auch formal die Demokratie abgeschafft. Europaweit erleben wir ja derzeit, wie rechte oder offen faschistische Parteien erstarken. Gerade vor diesem Hintergrund müssen wir ganz deutlich machen: Die Deutschen zahlen nicht für die Griechen, und die Griechen zahlen auch nicht für uns, sondern wir alle, die Griechen, die Deutschen, die Spanier, die große Mehrheit der Bevölkerung, zahlt dafür, dass es denen am oberen Ende immer noch so geht wie vor der Krise, oder sogar besser.

Wir brauchen einen Schuldenschnitt – auch in Deutschland

★ ★★ ZUM TEXT Wir dokumentieren hier eine Rede, die Sahra Wagenknecht am 1. Dezember 2012 auf dem SDS-Kongress »Kapitalismus vs. Demokratie« in Köln gehalten hat.

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Doch am Ende ist es die Wirtschaftsordnung insgesamt, die einer demokratischen Gesellschaft im Wege steht. Wie ist es denn erst zu dieser extremen Ungleichheit der Verteilung gekommen, die die Krise ausgelöst hat? Es muss endlich öffentlich diskutiert werden, warum Gewinne und Vermögenseinkommen seit Jahren steigen, während gleichzeitig die Löhne immer weiter sinken. Der Grund dafür ist, dass diejenigen, die über die wirtschaftlichen Ressourcen verfügen, und das sind ja die Bezieher von Kapital- und Vermögenseinkommen, strukturell in dieser Gesellschaft am längeren Hebel sitzen. Die einen erarbeiten den Reichtum und die anderen ent-

Der 14. November 2012 war ein wichtiger Tag, zum ersten Mal gab es koordiniert gemeinsame Generalstreiks in mehreren Ländern. Auch außerhalb Südeuropas wurde aus Solidarität gestreikt, etwa in Belgien. Das ist der einzige Weg: Wenn wir dieses Europa verändern wollen, dann müssen wir zu solchen gemeinsamen Aktionen der Menschen in den verschiedenen Ländern greifen. Dabei sind Arbeitskämpfe besonders wichtig, denn so können die Menschen die Oberschicht unter Druck setzen. An dieser Stelle haben wir in Deutschland den größten Nachholbedarf – gerade was die Frage von Widerstandsformen betrifft: Da müssen wir tatsächlich Französisch, Spanisch und Griechisch lernen. ■


»Eine klassische faschistische Kraft« Ihr Symbol erinnert an das Hakenkreuz, ihre Schläger machen Jagd auf Migranten – innerhalb weniger Jahre ist die »Goldene Morgenröte« zu einer der stärksten Naziparteien Europas geworden. Doch auch der Widerstand gegen die griechischen Faschisten wächst Interview: Stefan Bornost

Die gegenwärtige Regierung ist höchst instabil, Neuwahlen sind jederzeit möglich. Droht dann der Durchbruch der Nazis? Das ist möglich. Das Problem ist aber nicht nur die Zahl ihrer Parlamentssitze. Die Chrysi Avgi ist nicht nur eine extrem rechte parlamentarische Partei. Sie ist eine klassische faschistische Kraft. Sie tritt zu Wahlen an, aber mindestens genauso wichtig ist ihr die Präsenz außerhalb der Parlamente und die Fähigkeit, gegen ihre politischen Gegner Gewalt ausüben zu können. Ihr vorrangiges Ziel sind Migranten, betroffen ist aber auch die politische Linke. Nur zwei Beispiele: Anfang November vergangenen Jahres sind schwarz gekleidete Schlägertrupps

Lefteris Arabatzis

Lefteris Arabatzis lebt in Thessaloniki und ist bei der antikapitalistischen Koalition Antarsya aktiv.

durch den Athener Stadtteil Agios Panteleimon gezogen. Sie haben jeden Dunkelhäutigen, der ihnen begegnete, tätlich angegriffen. Sie haben rassistische Parolen gegrölt und trugen Symbole der Chrysi Avgi. Und jetzt, Anfang Februar, wurde ein junger Arbeiter aus Pakistan ermordet. Bei den Tätern fand man Propagandamaterial der »Morgenröte«. Es sind hunderte Angriffe dokumentiert, die direkt oder indirekt auf Anhänger der Partei zurückzuführen sind. Und das passiert in aller Öffentlichkeit? Nein, in der Regel nicht. Die Chrysi Avgi ist stärker geworden, aber so stark, dass sie tagsüber Stadtteile dominieren kann, ist sie zum Glück nicht. Ihre Schläger sind nachts unterwegs und suchen sich als Opfer Menschen, die alleine unterwegs sind, oder Menschen, die sich nicht wehren können, Obdachlose zum Beispiel. Wir sollten auch nicht die Stärke der »Morgenröte« in den Umfragen mit der Unterstützung in der Bevölkerung für ein faschistisches Programm verwechseln. Ich denke, dass die Mehrheit der Wähler der Faschisten keine Faschisten sind. Vielmehr handelt es sich um Personen, die frustriert darüber sind, dass die herrschenden Parteien die Zerstörung des griechischen Gemeinwesens vorantreiben. Sie sind leichte Beute für die nationalistische und rassistische Propaganda

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Lefteris, wie gefährlich ist die »Goldene Morgenröte«? Sehr gefährlich. Seit Beginn der Krise hat ihre Wählerschaft stark zugenommen. Im Jahr 2009 haben weniger als 20.000 Menschen die Partei gewählt, im Mai vergangenen Jahres waren es schon mehr als 440.000. In Meinungsumfragen ist die Chrysi Avgi, die »Goldene Morgenröte« mittlerweile mit über zehn Prozent drittstärkste Kraft, noch vor der sozialdemokratischen Pasok. Dabei gibt sich die Morgenröte offen als Nazipartei, ihr Führer Nikolaos Mihaloliakos leugnet vor laufenden Kameras den Holocaust.

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Rechte Gewalt auf offener Straße: Mitglieder der »Goldenen Morgenröte« bedrohen Journalisten in der ostgriechischen Kleinstadt Komotini. Die Polizei schreitet nicht ein der »Morgenröte«. Es ist die Aufgabe der antifaschistischen Bewegung, zu verhindern, dass die »Morgenröte« aus diesem »weicheren« Unterstützerumfeld harte Nazikader rekrutiert. Habt ihr denn Erfolg dabei? Es fängt langsam an. Am 19. Januar demonstrierten 20.000 Menschen in Athen gegen die »Goldene Morgenröte«. Die Demonstration wurde vom Athener Stadtrat unterstützt, in dem auch die sozialdemokratischen Parteien Pasok und Demokratische Linke sitzen. Selbstverständlich unterstützte auch die Linkspartei Syriza die Proteste.Diese Demonstration wäre so vor einem Jahr noch nicht möglich gewesen. Damals argumentierten große Teile der Linken, dass es vor allem darauf ankommt, den Nazis eine soziale Alternative entgegenzustellen – zum Beispiel in Form einer linken Regierung, die gegen die Troika-Politik und ihre sozialen Verheerungen angeht. Das ist zwar ein wichtiger Punkt. Wenn es aber dazu führt, dass die Linke den Kampf gegen Nazis darauf reduziert, soziale Forderungen aufzustellen, dann ist das nicht ausreichend. Denn 16

das schwächt nicht das außerparlamentarische Gewaltpotential der Nazis, ihre Versuche, die Straßen zu erobern. Anar-

Die Hälfte der Athener Polizisten sympathisiert mit den Nazis chistische Gruppen haben von Anfang an die »Morgenröte« bei Versammlungen und Demonstrationen mit ihrer Präsens konfrontiert, es mangelte aber zumeist an Masse.Glücklicherweise hat sich die Lage jetzt geändert. Allein die Zahl der Übergriffe, die von der Morgenröte ausgingen, hat deutlich gemacht, dass die Nazis ein Problem sind, das wir direkt angehen müssen – und nicht nur über Wahlkampfparolen. Die Demonstration am 19. Februar war ein Ausdruck davon. Auf lokaler Ebene ent-

wickeln sich gute Bündnisse zwischen den verschiedenen Akteuren der AntifaBewegung, auch unter Einbeziehung der linken Parteien inklusive ihrer Führungen. Das ist sehr ermutigend. Mittlerweile können die Nazis nicht mehr ohne Polizeischutz demonstrieren. Du sprachst davon, dass Migranten Opfer von Übergriffen wurden. Spielen sie auch eine Rolle in der Bewegung? Ja, das tun sie, insbesondere die sehr gut organisierte pakistanische Community. Ende August 2012 fand in Athen eine große Demonstration gegen Rassismus mit 15.000 Teilnehmern statt, die Mehrheit waren pakistanische Migranten. Sehr aktiv sind auch die afghanische und ägyptische Community. Vergangenen Sommer haben Nazis mehrere Einrichtungen von ägyptischen Migranten attackiert – daraufhin gab es gemeinsame Demonstrationen von Ägyptern und griechischen Antifaschisten. Wie reagiert das politische Establishment auf den Aufstieg der »Goldenen Morgenröte«?


Widersprüchlich. Die Konservativen, die viele Stimmen an sie verloren haben, grenzen sich ab. Sie sagen, die Politiker der »Morgenröte« seien keine Patrioten, weil sie sich positiv auf die Nazis beziehen würden, die während des Weltkrieges im besetzten Griechenland gewütet haben. Die sozialdemokratische Pasok diskutiert über ein Verbot der Partei. Gleichzeitig setzen die etablierten Parteien Teile der Programmatik der »Goldenen Morgenröte« um, insbesondere die sehr harte Linie gegenüber Migranten, die mit Razzien überzogen und des Landes verwiesen werden. Das können die Anhänger der Morgenröte durchaus als Erfolg werten und daraus Selbstbewusstsein ziehen – zumal sie auf Sympathien aus dem Staatsapparat zählen können. Inwiefern? Laut einer Umfrage sympathisiert die Hälfte der Athener Polizisten mit der »Goldenen Morgenröte«. Ich denke, das ist auch eine Folge der autoritären Reaktion des griechischen Staates auf die Krise. In den letzten Jahren wurden Polizisten

permanent gegen diejenigen eingesetzt, gegen die sich auch die Propaganda der Chrysi Avgi richtet: Linke Demonstrierende, streikende Arbeiterinnen, Migranten und Antifaschisten. Die Einsätze waren von großer Brutalität geprägt und haben zu enormem Hass auf beiden Seiten geführt. Durch diese Konfrontationssituation zu der Bewegung rutscht der Staatsapparat noch weiter nach rechts, als er eh schon steht. Apropos Polizei gegen streikende Arbeiter: Die Auflösung eines besetzten UBahn-Depots machte sogar hier Schlagzeilen... Ja, das ist gegenwärtig ein bedeutender Kampf. Der Streik der U-Bahnarbeiter richtet sich gegen das fünfte Sparpaket, das das Parlament am 8. November im Auftrag der EU verabschiedet hat. Nachdem die öffentlich Bediensteten bereits in den letzten drei Jahren Reallohnverluste von bis zu 60 Prozent hinnehmen mussten, sieht das neue Sparpaket weitere Einschnitte von bis zu 25 Prozent vor. Die U-Bahnarbeiter bildeten von Anfang an die Spitze des Kampfes gegen die Spar-

politik. Schon seit Wochen haben sie immer wieder die Arbeit niedergelegt, jetzt sind sie in einen unbefristeten Streik getreten. Aber auch in anderen Bereichen wird gestreikt, etwa im Gesundheitswesen oder in den Werften. Der Staat geht mit beispielloser Härte vor. Die Regierung hat Arbeiter unter Anwendung des Kriegsrechts zum zivilen Militärdienst einberufen und damit zur Wiederaufnahme der Arbeit verpflichtet. Denjenigen, die sich weigern, drohen bis zu fünf Jahre Haft.Das Gesetz darf offiziell nur bei Naturkatastrophen, der Gefährdung der öffentlichen Gesundheit oder dem Kriegsfall zur Anwendung gebracht werden. Seit dem Ende der Obristendiktatur im Jahr 1974 ist es neun Mal eingesetzt worden, davon drei Mal in den vergangenen drei Jahren. Zuerst traf es streikende Lastwagenfahrer, dann die Abfallentsorger und nun die U-Bahnarbeiter. Der Ausgang der Auseinandersetzung ist offen, viele Linke organisieren Solidarität mit den Streikenden. Ein Sieg wäre ein Signal – für den Widerstand und damit auch gegen die rassistischen Lösungen der Nazis. ■

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Die Athener sind wieder einmal auf den Syntagma-Platz gezogen, um ihrem Widerstand Ausdruck zu verleihen. Doch diesmal geht es nicht gegen Kürzungspolitik

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Bestraft für einen Sieg über Nazis Das Amtsgericht Dresden hat einen Berliner Antifaschisten zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Solidarität war das Geheimnis des Erfolgs von »Dresden Nazifrei« und ist auch jetzt gefragt Von Azad Tarhan

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»Kommt nach vorne!« – Mit diesen Worten soll Tim bei der Naziblockade in Dresden 2011 zum Durchbrechen einer Polizeikette aufgerufen haben

m Februar 2011 gelang es tausenden Antifaschistinnen und Antifaschisten zum zweiten Mal hintereinander, den größten Naziaufmarsch Europas zu blockieren. Das transparente Blockadekonzept des Bündnisses »Dresden Nazifrei« sorgte erstmals für eine Massenbeteiligung an den Protesten, die von der radikalen Linken bis weit hinein in bürgerliche Kreise reichte. Tausende vollzogen damals einen kalkulierten Regelübertritt, um die Nazis nicht mehr über die Straßen Dresdens marschieren zu lassen. Die Folgen für die Nazi-Szene waren verheerend: Nachdem die antifaschistische Bewegung ihnen in Dresden den öffentlichen Raum für ihre Schreckensinszenierung erfolgreich streitig gemacht hatte, adaptierten Antifaschistinnen und Antifaschisten das Blockade-Konzept in vielen weiteren Städten. Immer mehr Menschen akzeptierten zivilen Ungehorsam als legitimen Protest gegen Nazis. Das Ergebnis waren vermehrte Frustrationserlebnisse für Alt- und Jungnazis, die kaum noch selbstbewusst mit Fackelmär-

schen und Demonstrationen auf der Straße auftreten und Nachwuchs rekrutieren können. Es war dieser politische Erfolg gegen Nazis und gegen die Kriminalisierung des Bündnisses »Dresden Nazifrei«, der nun zu einem politischen Gerichtsurteil führte. Am 16. Januar verurteilte ein Richter des Dresdner Amtsgerichts den Berliner Antifaschisten Tim H. zu einem Jahr und zehn Monaten Gefängnis ohne Bewährung. Der junge Mann soll am 19. Februar 2011 durch ein Megafon die Protestierenden »aufgewiegelt« und mit den Worten »nach vorne« zum Durchbrechen einer Polizeisperre aufgefordert haben. In Folge des Durchbruchs sollen Polizeibeamte verletzt worden sein. Ganz abgesehen davon, dass die Beweisführung in dem Verfahren eine einzige Farce war, ist das politische Kalkül der sächsischen Justiz mehr als durchsichtig: Kurz vor dem Jahrestag der Dresdner Blockade und den auch in diesem Februar anstehenden Anti-Nazi-Protesten soll ein deutliches Zeichen der Repression gesetzt werden. Möglichst viele Protestierende sollen eingeschüchtert und von Ak­tionen des zivilen Ungehorsams abgehalten werden. Das völlig überzogene Urteil des Dresdner Amtsgerichts reiht sich ein in eine Kette von repressiven und politisch motivierten Verurteilungen und brutalen Polizeiaktionen gegen antifaschistisches Engagement. Beispiele hierfür finden sich – wen wundert es noch – nicht zuletzt im sächsischen Freistaat: Am Tag der Blockade wurden sämtliche Mobiltelefone in Dresden pauschal und unter Missachtung der Daten­schutzrichtlinien überwacht. Bei Anti-Nazi-Protesten in Magdeburg Mitte Januar diesen Jahres ging die Polizei überaus brutal ge-

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© facebook.com/WirBlockierenWeiter


gen Antifaschistinnen und Antifaschisten vor. Ähnlich agierte der Staat auch bei Anti-Nazi-Protesten in Nordrhein-Westfalen, den Aktionen zivilen Ungehorsams von Blockupy Frankfurt, den Protesten gegen Atommülltransporte und dem Widerstand gegen Stuttgart21. Als befänden sie sich in einem rechtsfreien Raum, verprügeln Polizisten Demonstrantinnen und Demonstranten, die das legitime Recht des zivilen Ungehorsams für sich in Anspruch nehmen, brechen Schädel und Knochen oder zielen mit dem Wasserwerfer auf die Augen der Protestierenden. All dies geschieht mit voller Rückendeckung der Justiz. Die Zahl der Verurteilungen von Polizisten tendiert in Deutschland gegen Null, wie ein Bericht von Amnesty International belegt – und das in Zeiten, in denen eine kleine Nazigruppe mit tatkräftiger Unterstützung und aktivem Wegschauen des Verfassungsschutzes jahrelang mordend durch Deutschland ziehen konnte. Die Notwendigkeit, zivilen Ungehorsam gegen ein System zu üben, das die Menschen in unwürdige Arbeitsmaßnahmen zwingt, Hungerlöhne zahlt, Bildungsmöglichkeiten beschränkt, Antifaschismus kriminalisiert und lieber Banken als soziale Sicherungssysteme rettet, wird in Zukunft eher steigen als sinken. Dieses Jahr stehen am letzten Maiwochenende wieder Proteste des Blockupy-Frankfurt-Bündnisses an. Tausende werden hier mit Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die ungerechten Eigentumsverhältnisse protestieren. Auch DIE LINKE mobilisiert zu diesen Protesten, die bereits im letzten Jahr ein großer Erfolg für die antikapitalistische Bewegung waren.

funktionäre, Prominente aus Politik, Kunst und Kultur abermals eindeutig und lautstark gegen die Kriminalisierung von zivilem Ungehorsam stellen. Egal ob bei Anti-Nazi-, Anti-Atom- oder Anti-BankenProtesten. Der Liedermacher Konstantin Wecker hatte sich bereits mit den vergangenen Mobilisierungen nach Dresden solidarisiert und ist auch diesmal wieder Vorreiter. Auf seiner Webseite schreibt er: »Dieses Urteil ist eine unfassbare Sauerei (...) Ich war da und habe laut und deutlich gerufen: ›nicht abdrängen lassen‹, ›Kommt nach vorne‹. Ich zeige mich hiermit selbst an.«

Die Behörden wollen möglichst viele Protestierende einschüchtern

Wie bei allen solchen Aktionen ist es wichtig, sich nicht an der Gewaltfrage spalten zu lassen. Die vom Amtsgericht Dresden verhängte Strafe hat das Ziel, einen Keil zwischen vermeintlich gute und böse Protestierende zu treiben: Auf der einen Seite stehen Politiker in Lichterketten, auf der anderen blockieren radikale Antifaschistinnen und Antifaschisten. Der Zusammenhalt dieser Gruppen war bisher jedoch immer die stärkste Waffe gegen Repression. Es ist an der Zeit, dass sich bekannte Gewerkschafts-

Wir Aktivistinnen und Aktivisten der Anti-Nazi-Bewegung müssen eine bundesweite Debatte eröffnen und Antworten auf die Frage finden, wie wir uns besser vor dem Zugriff politischer Polizei und Justiz schützen können, ohne in der Öffentlichkeit gesichtslos zu sein. Denn Gesicht zu zeigen, ist unsere Stärke: Wir haben das Recht, Nazis zu blockieren und zivilen Ungehorsam dort anzuwenden, wo Politik und Wirtschaft Hand in Hand soziale Sicherungssysteme abbauen und damit die Gesellschaft spalten. Massenproteste brauchen immer auch einzelne Gesichter, Menschen, die offen anklagen und damit Anschlussmöglichkeiten für andere bieten. Und wir müssen offensiv für eine stärkere Vernetzung der teilweise vereinzelt kämpfenden Gruppen eintreten. Der Widerstand gegen horrende Mietsteigerungen in den Innenstädten gehört zusammen mit dem Kampf von Beschäftigten, die für einen besseren Lohn streiken. Der zivile Ungehorsam gegen die Macht der Banken ergänzt die Forderung nach einer stärkeren Besteuerung von Superreichen. Unser Ziel muss es sein, diese Kämpfe zusammenzuführen, statt sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Das auf dem Feld der Proteste gegen Nazis geschafft zu haben, war die Grundlage für den Erfolg von »Dresden Nazifrei« und infolgedessen auch für das Urteil. Insofern: Wenn der repressive Staat glaubt, das Megafon – und nicht die Solidarität – sei unsere stärkste Waffe, die es zu bekämpfen gilt, bin ich sehr zufrieden und schaue voller Tatendrang auf das Protestjahr 2013. ■

★ ★★ MARX IS MUSS KONGRESS 2013 Komm nach vorn und lass uns über Antifaschismus reden Themenblock zu Rassismus und Faschismus auf dem Kongress. Infos auf Seite 79 oder online: www.marxismuss.de

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Azad Tarhan ist stellvertretender Landessprecher der LINKEN in Nordrhein-Westfalen.

Was du tun kannst Im Internet kannst du deine Solidarität mit Tim zeigen: facebook.com/WirBlockierenWeiter. Darüber hinaus ist es möglich, sich auf dresden-nazifrei.com über den laufenden Gerichtsprozess und über Veranstaltungen und Solidaritätsdemonstrationen zu informieren.

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Info

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UNSERE MEINUNG

Sexismus-Debatte

Teile und herrsche Von Katrin Schierbach

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a, ich erwarte von Männern, dass sie keine frauenfeindlichen Sprüche machen. Ich erwarte, dass sie mich und andere Frauen nicht gegen unseren Willen berühren – wo auch immer. Ich erwarte, dass sie ein Nein als das akzeptieren, was es ist: ein Nein. Ich wünsche mir Menschen, die ein gleichberechtigtes Miteinander für unabdingbar halten. Das sind Forderungen, die Frauen in der aktuellen Sexismus-Debatte aufstellen. Ausgelöst hat die Debatte FDP-Fraktionschef Reiner Brüderle, der gegenüber einer Journalistin aufdringlich geworden sein soll. Dass diese Forderungen nun laut werden, ist hervorragend. Denn wir Frauen können das Gefühl überwinden, dass wir Schuld wären an verbalen und körperlichen Übergriffen. Wir erfahren, dass wir nicht überempfindlich sind, wenn wir anzügliche Witze und Berührungen als unangenehm empfinden. Es ist nicht unsere Psyche, die nicht richtig tickt. Es ist nicht so, dass wir uns »mal nicht so haben« sollen. Die Spiegel-Autorinnen Barbara Hans und Simone Utler fordern, über Machtstrukturen zu sprechen. In vielen Diskussionsforen im Internet verlangen die Teilnehmerinnen, dass Männer ihr Verhalten ändern sollen. Beide Forderungen sind wichtig. Ich fürchte nur, dass dies allein nicht ausreichen wird. Denn das, was allgemein als Sexismus bezeichnet wird, ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Klassengesellschaft. Ein Element des »Teile und Herrsche« ist die Frauenunterdrückung – in all ihren Ausprägungen: von frauenfeindlichen Sprüchen über die privatisierte (weibliche) Verantwortung für Familie, Kinder und Pflege bis hin zur Pornographie, von schlechten Arbeitsbedingungen über Prostitution und Gewalt bis hin zu niedrigen Löhnen und dem Verbot, ungewollte Schwangerschaften ohne Beratungsschein abzubrechen. Diese Ideologie des »Teile und Herrsche« weist Frauen und Männern bestimmte Rollen zu: die Frau

als die Sorgende, die mit einem geringeren Gehalt zufrieden sein muss, weil ihre eigentliche, viel wichtigere Aufgabe in der Familie liegt; der Mann als der Versorger, der auf dem Arbeitsmarkt mehr wert und der Frau sowieso überlegen ist. Teil dieser Ideologie ist auch die Auffassung, dass der Mann mächtiger als die Frau sei. Und wer mächtiger ist, der kann sich sozusagen nehmen, was er will. Das erleben viele Frauen tagtäglich – etwa die Hotelangestellte, vor der ein nackter Hotelgast steht und ihr erzählt, Sex gehöre ja wohl auch noch zum bezahlten Zimmerservice. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO und die Gewerkschaften gehen davon aus, dass sich in der Wirtschaftskrise die sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz häufen. Sie beobachten: Je schlechter ein Arbeitsplatz bezahlt ist, desto häufiger gibt es sexuelle Übergriffe. Und desto schwieriger wird es, sich dagegen zu wehren. Aber es sind nicht die Männer, die von der Frauenunterdrückung profitieren. Ihre vermeintliche Macht ist nur eine scheinbare. Letztendlich stabilisiert sie das System der Ausbeutung und Unterdrückung, unter dem die Mehrheit der Frauen und Männer leidet. Sie hilft, die Profite einiger weniger Kapitalisten (und deutlich weniger Kapitalistinnen) durch sinkende Löhne, den Ausbau des Niedriglohnsektors und die Kürzungen im Sozialsystem zu erhöhen. Nur diese Wenigen sind die wirklichen Profiteure von der Frauenunterdrückung. In diesem Sinne stehen wir vor der Notwendigkeit, aber auch vor der Chance, die Situation gemeinsam zu verändern. Denn, so schrieb einst Friedrich Engels, der »Grad der weiblichen Emanzipation« ist »das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation« einer Gesellschaft.

Je schlechter die Bezahlung, desto häufiger die sexuellen Übergriffe am Arbeitsplatz

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★ ★★ Katrin Schierbach ist Mitglied der LINKEN in Berlin und Co-Autorin von »Marxismus und Frauenbefreiung« (Edition Aurora 1999).


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

DFL-Sicherheitskonzept

Fans als Versuchskaninchen Von Katharina Dahme Flughäfen zum Einsatz kommen sollten. Unter anderem um diese Scanner geht es auch in dem neuen Konzept. Außerdem sollen den Fans bei Nichtbeachtung bestimmter Regeln gewisse Privilegien entzogen werden.

Die Innenminister wollen Härte demonstrieren Gerade weil das Konzept so sehr in die Rechte der Fans eingreift, haben die kritisiert, dass die DFL nicht das Gespräch mit ihnen gesucht hat. Als Konsequenz daraus organisierten sie die größten Proteste in der deutschen Fußballgeschichte. Unter dem Motto »Keine Stimmung ohne Stimme« blieben bei nahezu allen Begeg-

nungen der drei Profiligen die Fankurven in den ersten Spielminuten still. Damit bewiesen die Fans, dass die Fußballfunktionäre mit ihrer autoritären Politik das Gegenteil von dem erreichen, was sie angeblich wollen. Trotzdem wurde das Sicherheitskonzept verabschiedet. Es bleibt allerdings abzuwarten, welche Relevanz es haben wird. Vielleicht mussten die Innenminister im Vorfeld der Wahlen auch nur ein hartes Durchgreifen gegen die »Fußballchaoten« simulieren. Solange die Nacktscanner nicht in meinem Stadion zum Einsatz kommen, gilt jedenfalls weiterhin: Ich fühle mich sicher. ★ ★★ Katharina Dahme ist Mitglied im Parteivorstand der LINKEN und Fan des SV Babelsberg 03.

UNSERE MEINUNG

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m Dezember hat die Vollversammlung der Deutschen Fußballliga (DFL) ein neues Sicherheitskonzept beschlossen. Bereits im Vorfeld haben Vereine und Fans sowohl Inhalt als auch Zustandekommen des Papiers kritisiert, welches das offizielle Ziel des »sicheren Stadionerlebnis« verfolgt. Über 75.000 Fußballfans unterzeichneten die Onlinepetition »Ich fühl mich sicher« und brachten damit zum Ausdruck, dass sie die Diskussionen über Gewalt und Anarchie im deutschen Fußball völlig überzogen finden. Folgt man der Theorie, wonach Fußballfans Versuchskaninchen für Maßnahmen sind, die später auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen Anwendung finden, sollte man sich das Konzept mal genauer ansehen. Wir erinnern uns noch an die Worte des Innenministers von Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier. Der wollte Nacktscanner zunächst in Fußballstadien testen, bevor diese an

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TITELTHEMA zWEI Jahre Arabischer Frühling

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Bürgerkrieg in Syrien Konturen eines Aufstandes

Opposition Die Gesichter des syrischen Widerstands

Machtkampf in Ägypten Die Rückkehr der Arbeiterklasse

© Sarah Carr / flickr.com / CC BY-NC-SA


Ringen um die Macht Islamistische Herrschaft und Bürgerkrieg: Ist aus dem Arabischen Frühling ein eisiger Winter geworden? Acht Thesen zu Perspektiven und Problemen der Revolution im Nahen Osten Von Leandros Fischer Dort wo, wie in Tunesien oder Ägypten, islamistische Parteien an die Macht gekommen sind, sehen sie sich zunehmend mit sozialen Problemen und Widerstand konfrontiert. Darüber hinaus beschränkt die weltweite Krise des Kapitalismus in drastischer Art und Weise die Möglichkeiten der verschiedenen Kapitalfraktionen – ob religiös oder säkular – nach den Aufständen die vorrevolutionäre bürgerliche Normalität wiederherzustellen. Schließlich sehnen sich die Massen nach Lösungen für Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit, hohe Lebensmittelpreise und Landknappheit. Sowohl die Islamisten als auch die Liberalen sind als etablierte politische Kräfte unfähig, Antworten auf diese Fragen zu liefern. Es zeichnet sich ein langer Prozess ab, in dem vor allem linke Kräfte die Chance haben, zu wachsen.

Weder Islamisten noch Liberale haben eine Antwort auf die soziale Frage

2. Die Aufstände verlaufen in jedem Land anders, doch die Ursachen sind überall die gleichen. Ob in Ägypten, Bahrain oder Syrien: Die Unfähigkeit der aus den antikolonialen Befreiungskämpfen hervorgegangenen Eliten, ihre Versprechen von sozia-

★ ★★ Leandros Fischer ist Politologe. Er schreibt gegenwärtig an der Universität Marburg eine Doktorarbeit zum Thema »DIE LINKE und der Nahostkonflikt«.

TITELTHEMA ZWEI Jahre Arabischer Frühling

1. Die Aufstände in verschiedenen arabischen Ländern im Jahr 2011 waren erst der Beginn eines langjährigen Prozesses. Die Aufstände, die die Diktatoren von Tunesien, Ägypten und Jemen aus ihren Palästen jagten, sind einzureihen in die Kategorie welthistorischer Verschiebungen, die vor allem Europa in den Jahren 1917, 1945 und 1989 erfassten. Diese Erhebungen haben tiefe soziale Ursachen, die nun nach Jahrzehnten der Unterdrückung großer Teile der Bevölkerung an die Oberfläche kommen. Die Arbeiterklasse, die städtischen Armen, aber auch die Frauen undreligiöse oder ethnische Minderheiten wie die Kopten in Ägypten oder die Kurden in Syrien – Sie alle haben durch die Aufstände ein neues Selbstbewusstsein erlangt, das nur schwer wieder eingeschränkt werden kann. Insofern ist Resignation über den Ausgang dieses Prozesses fehl am Platz. Die Verwandlung des Arabischen Frühlings in einen »islamischen Winter«, in dem radikale religiöse Kräfte die gesellschaftliche Hegemonie erobern und alle anderen Akteure ausschalten, ist keineswegs sicher.

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ler Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und Demokratie zu halten, ist der Grund für die Massenerhebungen. Dementsprechend haben sich bei den Aufständen drei Kernforderungen herauskristallisiert: Soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie. Hinzu kommt, besonders in Ländern mit prowestlichen Regimes, die Forderung nach einem Ende der Vasallentreue gegenüber den Westen. Der Übergang des globalen Kapitalismus vom Keynesianismus zum Neoliberalismus seit den späten 1970er Jahren fand auch in der arabischen Welt statt. Hier kam es, entgegen neoliberaler Propaganda, zu einer Verschmelzung staatlicher und ökonomischer Macht: Die politischen Eliten wurden gut in den Weltmarkt integrierte wirtschaftliche Akteure, die ihre Länder zu Absatzmärkten und Billiglohnparadiesen für transnationale Konzerne machten. Die seit 2008 andauernde Krise des Kapitalismus führte zu einem dramatischen Anstieg der Lebensmittelpreise, der vor allem die Entwicklungsländer traf. Kombiniert mit einer großen Perspektivlosigkeit besonders unter Jugendlichen, der Korruption und der alltäglichen Demütigung durch die Staatsmacht war diese Krise der letzte Tropfen, der zum Aufstand führte. Deutlich zeigte sich hier die Verbindung zu den Protesten gegen die Sparpolitik in Südeuropa und der weltweiten Occupy-Bewegung.

Da hingegen, wo die Selbstorganisation der Arbeiterklasse am schwächsten ist, sind auch die Demokratiebewegungen mit den größten Problemen konfrontiert. Auch in Libyen und Syrien hatten die Aufstände einen klaren sozialen Inhalt. Doch die Arbeiterklasse trat nicht als kollektiver Faktor in Erscheinung. In beiden Ländern konnten so die Herrschenden zunächst ihre Macht in den Hauptstädten stabilisieren, bevor sie durch militärische Gewalt die Volksbewegung in einen Befreiungskrieg zwangen. Diese Konstellation nutzte die NATO in Libyen, um in den Konflikt einzugreifen und prowestlichen Dissidenten zum Sieg zu verhelfen. 4. Die Arabellion stellt eine grundsätzliche Bedrohung für die imperiale Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten dar. Die arabischen Revolutionen ereigneten sich in einem Gebiet, das aufgrund seines Ölreichtums sehr wichtig für das Funktionieren des globalen Kapitalismus ist. Um den Zugang zu diesem Rohstoff zu kontrollieren, haben westliche Staaten, allen voran die USA, in den letzten Jahrzehnten ein Allianzsystem geschaffen, das Israel, arme Länder mit prowestlichen Regimes wie Ägypten, Tunesien und Jordanien sowie die reichen Staaten des Golf-Kooperationsrats (GCC) umfasst. Der Sturz Ben Alis und Mubaraks löste bei westlichen Regierungen und in den Golfstaaten Alarm aus. Um wieder die Initiative zu erobern, verfolgen sie seitdem eine Doppelstrategie. Wo es aussichtsreich erscheint, unterstützt der Westen die brutale Niederschlagung von Aufständen, wie zum Beispiel in Bahrain. Ansonsten gibt er sich als Verbündeter der Revolution und versucht so, verlässliche Bündnispartner innerhalb der Umwälzungsprozesse zu gewinnen. Diese Vorgehensweise reicht von der verbalen Unterstützung für einen demokratischen Wandel über den Aufbau prowestlicher Kräfte in Ländern wie Ägypten und Tunesien bis hin zu militärischen Interventionen wie in Libyen. Was für die westlichen Regierungen zählt, ist das Fortbestehen der alten staatlichen Institutionen, der Erhalt und Aufbau von prowestlichen Allianzen, sowie die Fortsetzung neoliberaler Politik. Im Fall Libyen zögerte der Westen einige Monate bis er den Sturz Gaddafis unterstützte. Dies entsprach exakt dem Zeitraum, den er benötigte, um verlässliche Verbündete vor Ort, zumeist aus dem alten Regime, zu finden. In Syrien wurde die westliche Unterstützung für den Aufstand bisher durch das Fehlen solcher verlässlicher Partner sowie durch die gefährlichen geopolitischen Konsequenzen eines raschen Sturzes des Regimes von Assad gehemmt. Auch die aufstrebende Regionalmacht Türkei sowie die GCC-

Je schwächer die Arbeiterbewegung, desto größer die Probleme der Revolution

3. Die Rolle der oft totgesagten arabischen Arbeiterklasse ist entscheidend. Nur sie ist in der Lage, die Forderungen des Arabischen Frühlings dauerhaft zu erkämpfen. Die Aufstände des Jahres 2011 wurden maßgeblich von jugendlichen Milieus getragen und durch die intensive Nutzung sozialer Netzwerke wie Facebook und Twitter beschleunigt. Doch der Todesschuss für die Regimes von Mubarak und Ben Ali kam aus der kollektiven Selbstorganisation der Arbeiterinnen und Arbeiter in Form von Streiks und Betriebsbesetzungen. In Tunesien spielte der Gewerkschaftsdachverband die Hauptrolle beim Sturz Ben Alis. In Ägypten zwang ein Generalstreik von Millionen Beschäftigten das Militär, sich endlich von Mubarak zu lösen. Bereits seit dem Jahr 2006 gab es in Ägypten, wo der revolutionäre Prozess am weitesten fortgeschritten ist, immer wieder erfolgreiche Streiks in strategisch wichtigen Bereichen wie der Textilindustrie, die das Selbstbewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter stärkten. Der Aufschwung der Klassenkämpfe gipfelte schließlich in der Bildung kämpferischer, unabhängiger Gewerkschaften – zum ersten Mal seit dem Sturz der Monarchie vor sechzig Jahren. 24


© Carlos Latuff

Staaten versuchen nachdrücklich, durch verbündete islamistische Parteien wie die ägyptischen oder syrischen Muslimbrüder ihren Einfluss auszudehnen. Deswegengeraten sie manchmal mit dem Westen in Konflikte. 5. Der Islamismus hat sich in den Aufständen nicht als finstere, unbesiegbare Macht, sondern als ein extrem widersprüchliches politisches Phänomen erwiesen. Konträr zu vielen Einschätzungen, auch von Teilen der Linken, führten die arabischen Aufstände bis jetzt nicht zum Durchmarsch eines totalitären faschistoiden Islamismus. Im Gegenteil: Islamistische Parteien wie die Ennahda in Tunesien und die Muslimbrüder in Ägypten befinden sich trotz beeindruckender Wahlerfolge und eines raschen Vormarsches innerhalb des Staatsapparates in einer tiefen Krise. Jahrelang bildeten diese Parteien die stärkste und am besten organisierte Opposition zum bestehenden System. Vor allem ihre Arbeit in Wohltätigkeitsprojekten sicherte ihnen die Unterstützung großer Teile der Arbeiterklasse, der Bauern und der städtischen Armen. Die Führung dieser Parteien besteht jedoch aus einem aufstrebenden religiösen Bürgertum mit engen wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen in die Golfstaaten. Aus diesem Grund unterstützen diese Parteien Privatisierungen und andere neoliberale Maßnahmen. Ihrer teils radikalen Rhetorik zum Trotz versuchen islamistische Parteien an der Regierung, sich als verlässliche Partner darzustellen, mit denen der Westen gute Geschäfte schließen kann.

Ein Großteil der Menschen, die bei der ägyptischen Präsidentsschaftsstichwahl für den Muslimbruder Mohammed Mursi gegen den Kandidaten des alten Regimes Ahmed Schafik gestimmt hatten, widersetzte sich deshalb einige Monate später dessen autoritärer und neoliberaler Politik. Die Islamisten müssen zwischen verschiedenen, potenziell stärkeren Kräften wie der Arbeiterklasse auf der einen und der mächtigen, dem alten Regime nahestehenden Armee auf der anderen Seite manövrieren. Auch viele Anhänger konservativerer Strömungen wie der Salafisten sind zwischen ihrer religiösen Einstellung einerseits und ihrer Stellung als Arbeiter andererseits zerrissen. Schließlich stehen die konservativen Rollenbilder der Islamisten im eindeutigen Widerspruch zur wichtigen Rolle, die Frauen – auch religiöse – beim Sturz der alten Regimes spielten. All diese Widersprüche innerhalb des Islamismus zeigen, dass dieser keinen monolithischen Block darstellt und große Teile seiner Anhängerschaft für eine linke emanzipatorische Politik gewonnen werden können. 6. Die Linke in der arabischen Welt ist zurzeit schwach. Aber ihr Comeback ist nicht unwahrscheinlich. Linke Ideen und arabisch oder muslimisch geprägte Kultur sind kein Widerspruchganz im Gegenteil: Seit den 1920er Jahren spielten kommunistische Parteien eine führende Rolle bei allen sozialen Auseinandersetzungen in den arabischen Ländern. Kämpferische linke Traditionen leben auch heute im Bewusstsein der Massen weiter. Was die arabische

TITELTHEMA ZWEI Jahre Arabischer Frühling

Der Ruf nach Freiheit ist noch längst nicht verhallt. Solange die Kernforderungen der Revolution unerfüllt bleiben, werden die arabischen Regime nicht zur Ruhe kommen

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Linke jedoch geschwächt hat, war der Glaube, dass ihre primäre Pflicht in der Schaffung von Klassenallianzen mit bürgerlichen Kräften bestehe, die sie als »progressiv« einstuften. Die »progressiven Kräfte« wie die Baath-Partei in Syrien und dem Irak und das Regime von Nasser in Ägypten nutzten diese Selbstaufgabe der Linken aus, um deren Strukturen und Organisationen blutig zu zerschlagen. Später versetzte das Aufkommen islamistischer Bewegungen die traditionelle Linke derart in Panik, dass sie die autoritären Regimes als das »kleinere Übel« unterstützten. Trotzdem sind die Chancen für ein linkes Comeback nicht zu unterschätzen. Bei der ersten Runde der ägyptischen Präsidentschaftswahl verfehlte der linke Kandidat Hamdin Sabbahi den Einzug in die Stichwahl nur knapp. In den Ballungsräumen Kairo und Alexandria erhielt er sogar mehr Stimmen als Mursi und Schafik. Gruppen wie die Revolutionären Sozialisten in Ägypten haben durch ihre Hartnäckigkeit eine kleine, aber aktivistische kritische Masse hinter sich bringen können. Die Erfahrung zeigt: Da, wo die Linke Regimes wie in Syrien unterstützt, verliert sie ihre Glaubwürdigkeit. Anderseits kann sie dann wachsen und ihren Einfluss vergrößern, wenn sie die künstliche Trennung zwischen »Religiösen« und »Säkularen« aufbricht und demokratische Anliegen, Antiimperialismus, Klassenkampf, sowie die Verteidigung der Rechte von Frauen und Minderheiten in einem Programm zusammenbringt.

ten. Doch der Wind des Arabischen Frühlings hat auch Palästina erreicht. Den palästinensischen Autonomiegebieten wurde Ende November der Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen zuerkannt. Gleichzeitig musste Israel den letzten Krieg gegen die Bevölkerung des Gazastreifens auf Druck der USA abbrechen und ägyptische Waffenstillstandsbedingungen akzeptieren. Beide Ereignisse sind ein Beweis der veränderten politischen Lage in der Region. Noch entscheidender ist, dass die Solidarität mit den unterdrückten Palästinensern Bestandteil der arabischen Proteste geworden ist. Das Verlangen nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit macht die arabischen Massen zu den wichtigsten Verbündeten der palästinensischen Bevölkerung.

Die Bundesregierung will die arabischen Revolutionen instrumentalisieren

★ ★★ MARX IS MUSS KONGRESS 2013 Zwei Jahre arabische Revolution Gescheitert oder nicht – was denkst Du? Die Debatte zum Artikel auf dem Kongress. Infos auf Seite 79 oder online: www.marxismuss.de

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7. Die Arabellion zeigt deutlich: Nicht die arabischen Regierungen, sondern die die Arbeiterklasse der Region ist der wichtigste Verbündete der unterdrückten Palästinenser. Der Kampf der Palästinenser für einen unabhängigen Staat kann nicht verstanden werden, wenn man ihn von den Auseinandersetzungen in der gesamten arabischen Region abstrahiert. Keine der relevanten politischen Kräfte in Israel ist bereit, sich mit den Palästinensern auf ein Abkommen einzulassen, das die Ausdehnung der Siedlungspolitik beenden würde. Israel wäre jedoch nicht in der Lage, diese koloniale Siedlungspolitik im Westjordanland und die Isolierung des Gazastreifens in der bisherigen Weise durchzuführen, hätte es nicht Rückendeckung von Ländern wie Ägypten und Jordanien. Für den Staat Israel stellen die arabischen Aufstände eine Gefahr dar. Durch den Sturz von Mubarak verlor das Land seinen wichtigsten arabischen Verbündeten. Auf der anderen Seite bestärkt die herrschende Unsicherheit in der Region Israels Rolle als einzig wirklich zuverlässiger Partner des Westens im Nahen Os-

8. Auch Deutschland verfolgt eigene Interessen im Nahen Osten. Die arabische Revolution steht ihnen im Wege. Das heißt: Widerstand gegen die Politik der Bundesregierung ist gleichzeitig Unterstützung für die Aufständischen der Arabellion. Nicht nur die USA, Großbritannien oder Frankreich, sondern auch die Bundesrepublik verfügt über extensive Handelsbeziehungen in den Nahen Osten. Um die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands durchzusetzen, schreckt die Bundesregierung nicht vor Versuchen zurück, die arabischen Revolutionen zu stoppen oder für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.Trotz ihrer Weigerung, am Libyenkrieg teilzunehmen, hat die Regierung Merkel keine Skrupel, Panzer an das undemokratischste Regime der Welt in Saudi Arabien zu verkaufen, auch nachdem dieses mit anderen GCC-Staaten in Bahrain einmarschiert ist, um den dortigen Aufstand blutig niederzuschlagen. Gleichzeitig engagieren sich konservative deutsche Think-Tanks wie die Konrad-Adenauer-Stiftung oder die Stiftung Wissenschaft und Politik in Ländern wie Ägypten und Syrien beim Aufbau »zivilgesellschaftlicher Kräfte«, die sich der Fortsetzung jener neoliberalen Umstrukturierungen verpflichtet fühlen, die zur jetzigen Verelendung geführt haben. Die Lippenbekenntnisse der Bundesregierung zur Demokratie sind pure Heuchelei angesichts ihrer früheren Zusammenarbeit mit jedem verbrecherischen Regime der Region. Die beste Solidarität mit der arabischen Revolution ist also der Widerstand gegen die aggressive Machtpolitik der Bundesregierung, die nicht nur im arabischen Raum und in Südeuropa, sondern auch hierzulande durch eine Politik zum Ausdruck kommt, die Kosten der kapitalistischen Krise auf die Schwachen abzuwälzen. ■


Konturen eines Aufstands Der syrische Bürgerkrieg ist von außen betrachtet ein kaum zu durchschauender Konflikt mit wechselnden Frontlinien und widersprüchlichen Informationen. Unser Autor bringt ein wenig Licht ins Dunkel dieses ungleichen Kampfs Von Frank Renken

Es ist ein ungleicher Kampf zwischen Regime und Rebellen. Die Aufständischen verfügen kaum über schwere Waffen. Hauptsächlich mit Sturmgewehren und Panzerfäusten ausgerüstet, trotzen sie der Übermacht. Während das Regime militärische Unterstützung aus Russland und Iran bezieht, ist der Aufstand weitgehend auf sich allein gestellt. Die US-Regie-

rung unterstützt zwar verbal die syrische Opposition, liefert aber keine Waffen. Als einer der ersten Journalisten besucht Jonathan Littell für Le Monde zu Beginn des Jahres 2012 die bewaffneten Gruppen im umkämpften Homs, die sich als »Freie Syrische Armee« (FSA) bezeichnen. Er berichtet, die Waffen der Rebellen seien »zusammengewürfelt«, sie »erbeuten einen Großteil ihrer Munition bei ihren Angriffen«. Auch sei die Armee des Regimes in einem zerrütteten Zustand. Inwieweit private reiche Geldgeber aus den Golfstaaten einzelne Rebellengruppen unterstützen, ist schwer zu beurteilen. Es gibt zwei Staaten, die die Rebellen seit Februar 2012 offiziell mit Geld und Waffen versorgen: Saudi-Arabien und Katar. Allerdings kam die Unterstützung, zumindest was die Waffen angeht, offenbar nur schleppend in Gang. Eine Analyse der International Crisis Group geht davon aus, dass einige Lieferungen ab Mai 2012 erfolgten, also vierzehn Monate nach Beginn der Erhebung. Diese Waffen stehen nicht der Mehrheit der Aufständischen zur Verfügung, sondern sollen wenigen be-

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Frank Renken hat in Nordafrika gelebt und ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu politischen Entwicklungen in arabischen Ländern. Gegenwärtig arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag.

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Z

wei Jahre nach dem Beginn der Demokratiebewegung im Nahen Osten durchlebt Syrien eine humanitäre Katastrophe. Verantwortung dafür trägt das Regime von Präsident Baschar al-Assad. Er und die herrschende Clique des Landes sind bereit, Syrien zu zerstören, um an der Macht zu bleiben. Die UN-Menschenrechtskommission schätzt die Zahl der Todesopfer auf mittlerweile über 60.000. Gesichert ist, dass der Regierungsgewalt bis Mitte Januar 2013 mindestens 7718 Rebellen und 34.395 Zivilisten zum Opfer fielen, darunter über 4450 Kinder. Geschätzte zwei Millionen Menschen sind innerhalb Syriens oder in die Nachbarländer geflohen.

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waffneten Gruppen mit islamischer Ausrichtung einen Vorteil verschaffen. Der Aufstand als Ganzes ist damit noch lange nicht zu einer Marionette der Golfstaaten geworden. Erst nachdem Rebellen im vergangenen Herbst im Norden mehrere Luftwaffenbasen des Regimes überrennen konnten, erwarben sie schweres Gerät und gewannen in der Folge deutlich an Terrain. Weite Teile des Landes entziehen sich mittlerweile der Kontrolle des Regimes. Seitdem tobt der Kampf im Umland der Hauptstadt Damaskus, die vom Regime mit einem Ring aus Eliteeinheiten gegen Angriffe geschützt wird.

Einfache Arbeiter und verarmte Landbewohner stellen die Mehrheit der Kämpfer Die Tatsache, dass der Aufstand nach zwei Jahren weder unter dem Druck des materiellen Elends noch unter der überlegenen Bewaffnung des Regimes zu besiegen ist, illustriert seine Verwurzelung in der Gesellschaft. Bewaffneter und ziviler Widerstand sind beide Teil desselben Prozesses. Einfache Arbeiter und verarmte Landbewohner, die ärmsten Schichten der Bevölkerung, stellen die Masse der Kämpfer. Sie waren es auch, die in den ersten Monaten des Jahres 2011 der Protestbewegung zum Durchbruch verholfen haben. In der Tendenz galt: Je ärmer eine Ortschaft und je ärmer ein Stadtteil, desto mehr Einwohner schlossen sich dem Widerstand an. Der erste Bezirk, der in Homs Ende 2011 vollständig unter Kontrolle des bewaffneten Widerstands gelangte, war Baba Amr. Littell beschreibt es als das »ärmliche Viertel am Stadtrand«, ohne Bürgersteige, »Lichtjahre entfernt« vom belebten Stadtzentrum. Littells Bericht zeigt die ganze Improvisation des bewaffneten Widerstands, der um die Jahreswende 2011/12 noch in seinen Anfängen steckt. Die Kämpfer tragen zivil und operieren in kleinen Einheiten aus den Orten und Stadteilen heraus, in denen sie wohnen. Er fragt nach den Gründen, warum sie sich dem Kampf angeschlossen haben. Die Antworten ähneln sich. Ein ehemaliger Soldat, der sich Abu Ahmad nennt, sei desertiert, weil er in Rastan auf friedliche Demonstranten habe schießen sollen: »Wir wurden in die Straßen geschickt, damit wir dort bewaffnete Gangs bekämpfen. Ich habe keine einzige bewaffnete Gang gesehen. Sie haben uns gesagt: die Munition ist egal, schießt, schießt, soviel 28

Zivilisten fliehen vor Kämpfen, nachdem ein Panzer der syrischen Armee in die Stadt Idlib eingedrungen ist ihr könnt!« Die bewaffneten Aufständischen nennen sich »Freie syrische Armee«. Dabei handelte es sich in den ersten Monaten nicht um eine tatsächliche Armee mit Hierarchie und strenger Befehlskette, sondern um eine unkoordinierte Bewegung von Fahnenflüchtigen. Anfang Juni 2011 wird aus Dschisr asch-Schughur, nahe der türkischen Grenze, von der ersten großen Meuterei innerhalb der Armee berichtet, nachdem sich Offiziere und Soldaten weigerten, auf Demonstranten zu schießen. Zum ersten Mal kommt es zu Toten auf Seiten regimetreuer Truppenteile, die blutige Rache an der Stadt nehmen. Innerhalb weniger Tage flüchten mehr als 10.000 Menschen in die Türkei. Am 9. Juni stellt Oberstleutnant Hussein Harmusch als einer der ersten höherrangigen Offiziere ein Video auf YouTube ein, in dem er öffentlich erklärt, dass er und seine Kameraden den Befehl verweigern, »um unbewaffnete Demonstranten zu schützen, die Freiheit und Demokratie fordern«. Er endet mit der Parole: »Nein zur religiösen Spaltung, das syrische Volk ist eins, Syrien für alle!« Harmusch gründet die Bewegung der freien Offiziere, die kurze Zeit später in der neuen FSA aufgeht. Dessen Gründungserklärung verliest Oberst Riad alAsaad, zusammen mit sechs anderen desertierten


Dieser Prozess ist für die Weltöffentlichkeit kaum sichtbar gewesen. Das Bild der FSA wird von den Auftritten weniger Offiziere in den arabischen Satellitensendern al-Jazeera oder al-Arabiya geprägt, wie FSA-Gründer Oberst Asaad oder dem nominellen Kopf General Mustafa ash-Scheich. Diese Offiziere im Exil bringen die Ideen, Interessen und Verhaltensweisen der Klasse ein, der sie entstammen. Sie sind nicht nur deutlich wohlhabender als die Kämpfer in den Vierteln. Innerhalb der FSA-Führung treten auch ständig Reibungen auf, etwa wenn Offiziere mit höherem Dienstrang für sich das Kommando

Im syrischen Bürgerkrieg gibt es keine klaren Frontlinien. Der Kampf um die Kontrolle von Städten macht sich daran fest, ob das Regime oder die FSA an strategischen Orten Posten aufbauen kann. Stadtteile, aus denen die Straßensperren des Regimes vollständig herausgedrängt worden sind, werden Opfer von Luftbombardements. Die Kräfteverhältnisse in diesem Mosaik aus verfeindeten Stellungen werden durch Waffengewalt bestimmt – und durch die Frage, wie viele Kräfte jede Seite aufbieten kann. Nur wenn die revolutionäre Umwälzung tiefer geht und Menschen Hoffnungen auf eine bessere Welt nach dem Sturz von Assad haben, wird es genug Syrer geben, die sich der bewaffneten Übermacht des Regimes entgegenstellen. Die Frage nach dem Sieg in diesem Bürgerkrieg ist eine Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Das Rückgrat der Erhebung ist deshalb der zivile Widerstand. Er wird in »Lokalen Koordinierungskomitees« (LKK) organisiert, die sich im ganzen Land gebildet haben. In einem Konflikt, der auch ein Propagandakrieg ist, liefern ihre täglichen Berichte detaillierte Informationen über Gefechte, Bombardements und Opferzahlen. In Stadtteilen und Ortschaften haben die LKK seit Beginn der Erhebung unzählige Demonstrationen durchgeführt, die bis heute weitergehen. Am ersten Freitag im Dezember fanden nach Angaben von Aktivisten 201 Demonstrationen in 173 syrischen Städten und Dörfern statt. Am 18. Januar 2013 wurden wieder mehr als 200 Demonstrationen in Syrien gemeldet.

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Offizieren Ende Juli 2011 im türkischen Exil. Auch darin wird der überkonfessionelle Anspruch der FSA unterstrichen, die das syrische Volk schützen wolle, »mit all seinen Teilen und Konfessionen«. YouTube ist voll von solchen selbsterstellten Videos von Soldaten, die sich offen, häufig unter Vorzeigen ihres Personalausweises, der Fahnenflucht bezichtigen und das Überlaufen zu einem der Bataillone oder Brigaden der FSA erklären. Viele zeigen sich stolz, manche wirken schüchtern, manche ängstlich. In der Masse sind es Zeugnisse einer riesigen Fahnenfluchtbewegung. Sie wird getragen von der revolutionären Umwälzung, die das Land ergriffen hat – und füttert sie zugleich weiter.

über formal nachgeordnete Ränge beanspruchen, selbst wenn sie sich erst Monate später der FSA angeschlossen haben. Hierin drückt sich der widersprüchliche Charakter der FSA aus. Ihre Kämpfer haben als Fahnenflüchtige unter Lebensgefahr mit der Armeedisziplin gebrochen und verteidigen ihre Familien. Die Exilführung hingegen will die FSA zur regulären Armee eines neuen syrischen Staats machen. Sie denkt geopolitisch und hofft auf die Unterstützung durch NATO-Staaten. Wirkliche Autorität haben jedoch nur die Kommandeure vor Ort, die mitunter selbst in zentralen Fragen die Anweisungen der Exilführung missachten. Zu Beginn des Jahres 2012 wurden Militärräte in den Distrikten eingeführt, als Verbindungsglied zwischen FSA-Exilführung und innerem Widerstand. Das hat das Auftreten von derlei Spannungen nicht verhindern können. Ende Mai widersprach Asaad einer Erklärung des Vorsitzenden des Militärrats von Homs, Qassem Salah ad-Din, wonach die FSA einen Waffenstillstand nur dann einhielte, wenn das Assad-Regime den Plan des UN-Beauftragten Kofi Annan akzeptiere. Salah ad-Din konterte, die FSA in Syrien würde keine Befehle mehr aus dem Ausland entgegennehmen. Wörtlich: »Al-Asaad repräsentiert niemanden außer sich selbst«.

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© flickr.com / Freedom House / CC BY

Baba Amr war der erste Bezirk in der Stadt Homs, der vollständig unter die Kontrolle des bewaffneten Widerstandes gelangte. Große Teile des Viertels sind heute jedoch unbewohnbar

Der linke Oppositionelle Michel Kilo zitiert in einem Interview ein besonders beeindruckendes Beispiel: »Mitte August (2012) gab es in Daraya eine Demonstration von ungefähr 50.000 Menschen und das, obwohl die Stadt zwei Tage zuvor angegriffen und besetzt worden war und obwohl hunderte von Menschen festgenommen wurden und verschwunden sind. Der Widerstand ist also nicht nur militärisch, und der Träger der militärischen Aktionen ist im Grunde die Zivilbevölkerung.« Wie in den anderen arabischen Ländern kommt dabei der aufbegehrenden Jugend eine besondere Rolle zu. In Aleppo, der zweitgrößten Stadt des Landes, ging die Demokratiebewegung von der Universität aus. Im Mai 2012 stürmten Milizen und Truppen des Regimes die Uni, brachten vier Studierende um und verhafteten 200 von ihnen. Das provozierte eine Protestwelle, die weite Teile der Bevölkerung einbezog. Die Universitäten sind auch in Städten wie Damaskus, Homs und Deir as-Sur ein wichtiger Kristallisationspunkt für Proteste. Koordiniert werden die Aktivitäten von der im September 2011 gegründeten »Union der Freien Studierenden Syriens«. Im Internet finden sich zahlreiche Dokumente des jugendlichen Widerstandsgeistes. Im Juni 2012 geht die Facebook-Seite der »revolutionären syrischen Jugend« online. Auf ihr sind zahllose Protestaktionen und Slogans des Aufstands zu sehen, insbesondere lautstarke nächtliche Demonstrationen in dem vom Regime kontrollierten Stadtgebiet von Damaskus. In den Texten werden immer wieder die Kernideen wiederholt: Es handelt sich um eine Revolution für die Freiheit, für Demokratie, gegen religiöse Intoleranz, gegen das System.

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Allerdings hat das Regime die Revolution in einen Abnutzungskrieg hineingezogen. Dementsprechend haben die Demonstrationen ihre Funktion verändert. Im Jahr 2011 war die Hoffnung, dass durch stetige Steigerung der Teilnehmerzahlen ein ähnliches Ergebnis wie in Ägypten und Tunesien erreicht werden kann, wo die Diktatoren Ben Ali und Mubarak überstürzt abtraten. Im Jahr 2013 glaubt niemand mehr, dass bloße Demonstrationen das Regime von Assad auszuhöhlen vermögen. Sie sollen heute die Stimmung aufbauen und weiter motivieren. Es wird viel getanzt und gesungen auf den Demonstrationen. Teilnehmer beschreiben, welche Kraft und Energie von ihnen ausgeht, die verbrüdert und über all das Leid hinwegtröstet. In Syrien unterscheidet sich die Lage von Ort zu Ort. In Kamischli, dem größten Ort im syrischen Kurdistan, sind nach dem Rückzug der Assad-Truppen und der Bildung eines »Obersten Kurdischen Komitees« der kurdischen Parteien im Juli 2012 »unabhängige Demonstrationen fast gänzlich zum Erliegen gekommen«, wie eine Aktivistin berichtet. Die kurdische Miliz PYD kontrolliere die Situation und hätte den Schriftzug »Polizei« auf ihre Autos gemalt. In Aleppo wurde der bewaffnete Kampf im August gegen den Willen der lokalen FSA von einer unabhängigen aufständischen Brigade in die Stadt getragen, die sich aus ländlich geprägten Einheiten zusammensetzte. Diese Ausgangssituation führt bis heute immer wieder zu Spannungen. Ein Reporter der BBC berichtet, wie Menschen in befreiten Stadtteilen im Winter acht Stunden für Brot anstehen müssen und dafür der FSA die Schuld geben. In manchen der befreiten Orte hingegen zeigen sich Ansätze von Selbstorganisation von unten. In Duma, einem großen Vorort der Hauptstadt, ist im vergangenen Herbst ein vom Volk gewählter Rat gebildet worden. Er übernahm »die Verantwortung für die Verwaltung der Stadt und den Schutz von öffentlichen Einrichtungen (…) gegen Diebstahl, Vandalismus, Feuer und so weiter«. Die Stadt wurde in zwölf Zonen aufgeteilt, verwaltet von je einem Nachbarschaftskomitee, bestehend aus fünf Mitgliedern und einem Vorsitzenden. Hinzu kommen zwölf fachbezogene Arbeitsausschüsse mit je fünf Mitgliedern, die jeweils für medizinische Versorgung, Dienstleistungen, Finanzen, den Wiederaufbau der Häuser, Demonstrationen oder Öffentlichkeitsarbeit zuständig sind. Die Vorsitzenden der Orts- und Fachausschüsse bilden zusammen mit einem Vorsitzenden den 25-köpfigen Rat der Stadt. Darüber hinaus wurde in Duma ein »freies Forum« geschaffen, das sich zweimal in der Woche trifft und in dem »alle die Stadt betreffenden Dinge diskutiert werden«. Es steht wie die Komitees jedem offen. Voraussetzung für die Teilnahme ist allerdings, dass man »den Sturz des korrupten, diktatorischen Regimes und die Errichtung eines zivilen, demokratischen Staates unterstützt, in dem Mandatsträger absetzbar sein müssen.« Darüber hinaus darf ein


Tatsächlich waren es führende Kämpfer der AQI, die in Syrien den Anstoß zum Aufbau der »Dschabhat an-Nusra li-Ahl asch-Scham« (»Beistandsfront für das syrische Volk«) gegeben haben. Die NusraFront operiert seit Februar 2012. Sie hat Bombenattentate vor Einrichtungen des Regimes verübt, die zahlreiche Passanten das Leben gekostet haben. Ihre Aktionen verschafften ihr viel Öffentlichkeit. Doch offenbar sind ihre Strukturen lange Zeit sehr schwach gewesen, so dass das Auffliegen eines Aktivisten im April fast zur Zerschlagung des gesamten Netzwerks geführt hätte. Im Oktober 2012 schätzte der BND die Kräfte der mit al-Kaida liierten Kräfte in Syrien auf »weniger als 1000 Kämpfer« ein, »wahrscheinlich zwischen 200 und 300« – bei geschätzten 40.000 Kämpfern insgesamt. Im September forderte ein Sprecher des Militärrats der FSA alle ausländischen Kämpfer auf, das Land zu verlassen. Er sagte: »Wir wollen nicht, dass Syrien in ein Gebiet verwandelt wird, wo Stellvertreterkriege ausgefochten werden. (…) Wir haben genug erfahrene Männer, um die Schlacht zu gewinnen. Uns fehlen nur hochwertige Waffen, die uns helfen würden, rascher zum Erfolg zu kommen.« Neben der Nusra-Front gibt es zahlreiche andere Formationen, die als »salafistisch« bezeichnet werden, wie die Liwa‘ Suqur asch-Scham (»Brigade der Falken Syriens«) oder die Kata’ib Ahrar asch-Scham (»Die Bataillone des Freien Syriens«). Sie unterscheiden sich deutlich von der Nusra-Front, da es sich bei ihnen um Einheiten handelt, die sich nicht zu al-Kaida bekennen und sich aus einem lokal gebundenen Widerstand entwickelt haben. Viele dieser Gruppen ähneln eher der FSA. Das Bekenntnis zum Islam wird von den Sprechern häufig mit einem Bekenntnis zum Respekt anderer Religionen verknüpft. Journalist Tarek al-Abed berichtet: »Trotz des islamistischen Diskurses, der in ihren Verlautbarungen erscheint, kümmern sich viele ihrer Kämpfer nicht um den dschihadistisch-salafistischen Diskurs, wenn man nachhakt. Jene, die wir trafen, sagten uns: Viele haben Bärte, weil es das allgemeine Symbol der Kämpfer ist. Sie wissen wenig über (…) die salafistische Ideologie.« Allerdings »schließen sich

ihnen manchmal Kriminelle, Banditen, Kidnapper und jene an, die auf der Grundlage von Hass auf andere Regionen oder Konfessionen kämpfen. In manchen Fällen benutzen diese Kriminellen das Banner der Revolution, um Entführungen, Morde und sogar Verstümmelungen zu rechtfertigen, wie im Fall des Bataillons ›Sturm des Nordens‹ in Asas.«

Ein Teil der Rebellen fordert, dass ausländische Kämpfer das Land verlassen Vor diesem Hintergrund haben lokale Militärräte der FSA explizite Regeln erlassen, die unter anderem das Töten von Informanten oder Schikanen gegen Alawiten verbieten. Die LKK erließen im August 2012 einen Verhaltenskodex für militärische Operationen, der den Kämpfern unter anderem den Schwur abverlangt, »keinerlei Vergeltung auf Grundlage von Ethnie, Konfession, Religion oder irgendeiner anderen Grundlage« zu verüben. Junge Pazifisten verbreiten im Rahmen der Kampagne »Syrien zuerst: Wir sind eine ethische Alternative« seit November Flugblätter, in denen sie unter anderem gegen die Verletzung der Rechte von Kriegsgefangenen durch die FSA protestieren. Die erzwungene Militarisierung des Konflikts stellt die Umsetzung dieser Prinzipien immer wieder in Frage. Je weniger der Widerstand politisch organisiert ist, desto unkontrollierter können die Reaktionen sein. Je tiefer die Revolution die soziale Basis des Assad-Regimes aushöhlt, desto mehr Alawiten können für sie gewonnen werden. Bekannte Beispiele gibt es dafür zahlreiche, wie den Schriftsteller Fuad Humaira, Oberstleutnant Muhammad Musa oder Subaida al-Miqi, die als erste alawitische Frau im Offiziersrang öffentlich ihre Desertion erklärte. Hoffnung macht, dass die LKK als Organe der revolutionären Bewegung nicht kapitulieren, weder vor dem Regime noch vor dem materiellen Elend noch vor Fehlentwicklungen auf Seiten des Widerstands. Sie stellen eine Struktur dar, über welche die bewusst revolutionären Teile der Bevölkerung mit Wort und Tat in den Lauf der Dinge eingreifen – auch hinsichtlich der Frage der Kampfformen des Widerstands. In Bezug auf den bevorstehenden Angriff auf Damaskus riefen die LKK in einem gemeinsamen Appell die Bataillone der FSA auf, Gotteshäuser wie Kirchen und Moscheen als »neutralen Boden« anzusehen, die nicht angegriffen werden dürften, »insbesondere in religiös-gemischten Gebieten.« Zugleich rufen die LKK die Bewohner der religiösgemischten Stadteile auf, »dem Regime keinerlei Gelegenheit zu bieten, ihre Viertel in die Schlacht mit der Revolution oder den Revolutionären hineinzuziehen.« ■

★ ★★ marx21.de Eine ausführlichere Version dieses Artikels mit Quellenangaben findet sich auf unserer Homepage marx21.de.

★ ★★ Weiterlesen Jonathan Littell: Notizen aus Homs (Hanser 2012).

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Mitglied des Forums »nicht fanatisch sein, was immer auch seine Partei, Religion oder Konfession ist.« Ob auf den Demonstrationen oder im Rat von Duma: das Bekenntnis zu einem überkonfessionellen Staat ist immer präsent. Aus gutem Grund. Die herrschende Clique um die Familie Assad entstammt der alawitischen Minderheit, einem Ableger der schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Das Regime schürt die Angst der Alawiten und anderer Minderheiten, indem es die Gegenbewegung als Teil eines internationalen Komplotts denunziert, das zu einer Situation wie im benachbarten Irak führen könnte. Dort greift die Terrororganisation »al-Kaida im Irak« (AQI) seit Jahren Schiiten und Christen mit Bombenattentaten an.

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Ein Regime, viele Gegner In der syrischen Opposition ringen verschiedene politische Kräfte um die Vorherrschaft – die Bandbreite reicht von Verbündeten des Westens bis zur revolutionären Linken. Ein Überblick Von Frank Renken

Doch am Grundproblem hat sich nichts geändert: Als reine Exilformation verfügt die Nationalkoalition über keine eigenständige Handlungsfähigkeit innerhalb Syriens. Gerade das macht sie für den Westen so interessant: Als Akteure mit flachen Wurzeln im Land, aber marktwirtschaftlicher Ausrichtung stellen sie ein mögliches Vehikel dar, um die Interessen der NATO- und Golfstaaten in Syrien zu garantieren. Die USA und ihren Verbündeten wollen nicht, dass 32

© flickr.com / Freedom House / CC BY

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enn in den deutschen Medien von der syrischen Opposition die Rede ist, dann ist meist ein bestimmtes Bündnis gemeint: die im November 2012 im Golfstaat Katar gegründete »Syrische Nationale Koalition«. Hierbei handelt es sich um eine bürgerlich geprägte Dachorganisation, die von einer Staatengruppe anerkannt wurde, die sich »Freunde des syrischen Volkes« nennt – darunter befinden sich die USA, Frankreich, Deutschland, die Türkei und die Golfstaaten. Die Nationalkoalition ist eine Neuauflage des »Syrischen Nationalrats«, in dem die Muslimbrüder über einen dominierenden Einfluss verfügen. Dieser hatte sich allerdings als handlungsunfähig erwiesen und mehrfach gespalten. Nun sind Muslimbrüder und Nationalrat in die Nationalkoalition aufgegangen. Deren neue Führungsfiguren – der Prediger Ahmed Moas al-Khatib und der Geschäftsmann Riad Seif – verfügen in Syrien über Ansehen, weil sie noch bis vor kurzem im Land waren und mit der Assad-Familie in Konflikt gerieten.

In Duma herrscht das Volk. Die Bewohner haben Räte gebildet, die in dem Vorort der syrischen Hauptstadt Damaskus die politische Kontrolle ausüben eine unkontrollierte Bewegung in Syrien eine unkontrollierbare Regierung an die Macht bringt und so die arabische Revolution weiter befeuert. Der Westen bevorzugt einen kontrollierten Putsch aus dem Innern des syrischen Gewaltapparates, der die Institutionen des Staates, insbesondere die Armee, intakt lässt. Die USA befürworten die Bildung einer Übergangsregierung, die Teile des Regimes mit einbindet. Dies entspricht den Vorstellungen der dominierenden Kräfte innerhalb der Nationalkoalition. Sie hoffen auf eine militärische Intervention der NATO-Staaten, um Assad von außen zu Fall zu bringen. Dies würde nicht nur das Ende des Regimes bedeuten, sondern auch den revolutionären Prozess beenden, ähnlich wie im


Jahr 2011 in Libyen. Doch die Nationalkoalition hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn die USA haben aus Angst vor der Konfrontation mit dem Assad-Verbündeten Russland und den unkalkulierbaren Risiken eines weiteren Krieges bislang vor einer Intervention in Syrien zurückgeschreckt. Viel bedeutsamer als die vom Westen gestützten Exildachverbände ist die in Syrien verankerte Opposition. Das größte Bündnis hier ist das aus verschiedenen links-nationalistischen und kurdischen Organisationen bestehende »Koordinierungskomitee für den demokratischen Wandel in Syrien«, das im September 2011 seine beiden Gründungsdokumente vorstellte. Darin wird der »Sturz des korrupten, autoritären Regimes« gefordert – auf friedlichem Wege. Das Koordinierungskomitee formulierte dreimal »Nein«: Nein zur Gewalt, Nein zu einem Kampf der Konfessionen und Religionen, Nein zu ausländischen Interventionen. Nachdem das Regime im Sommer 2012 ein »Ministerium für nationale Versöhnung« schuf, begann das Koordinierungskomitee zu schwanken. Es klammerte sich an vage Gesprächsangebote und setzte nun ganz auf Verhandlungen. Doch eine Konferenz des Komitees, die im September in Damaskus den Dialog anbot, endete mit der Verhaftung und Verschleppung zahlreicher Teilnehmer. Ernüchtert forderte das Komitee in der Konferenzresolution nun unzweideutig den »Sturz des Regimes mit all seinen Figuren und in all seinen Facetten«. Zum ersten Mal erkannte das Komitee die Freie Syrische Armee als »eine der Komponenten der Revolution« an.

men ist, dass nur 4 Prozent der dortigen Bevölkerung Vertrauen zu den Muslimbrüdern haben. Die islamistische Gefahr wird im Westen sehr aufgebauscht.« Kilo fordert von der Linken im Westen, »den demokratischen Kampf der syrischen Bevölkerung zu unterstützen«, anstatt sich »mit diesem Märchen über den Islamismus zu beschäftigen.« Die Revolution hat in Syrien einen umfassenden Umgruppierungsprozess der politischen Linken in Gang gebracht. So formiert sich auch eine neue radikale Linke, die die demokratische Bewegung mit dem Kampf um eine sozialistische Gesellschaftsordnung verbindet. Eine hoffnungsvolle Entwicklung etwa bildet die Gründung der »Strömung der revolutionären Linken«. Im vergangenen Jahr hat die Gruppe in verschiedenen syrischen Orten Wurzeln schlagen können und insgesamt elf Ausgaben ihrer Zeitung alKhatt al-amami (»Die Frontlinie«) herausgebracht. In ihr werden positive Beispiele wie die Herausbildung rätedemokratischer Strukturen in Duma, einem Vorort von Damaskus, verallgemeinert. Zugleich benennt sie Probleme wie die Existenz von Gräueltaten, religiösem Sektierertum und Blutrache auf Seiten des bewaffneten Widerstands und sucht den Dialog mit den Kämpfern der »Freien Syrischen Armee« über den richtigen Weg im Kampf gegen das Regime.

Das Koordinierungskomitee ist ein breites MitteLinks-Bündnis. Es deckt aber bei weitem nicht alle Kräfte des Spektrums ab, die in Syrien aktiv sind. Der Regimekritiker Michel Kilo spaltete sich im Februar 2012 mit anderen Oppositionellen vom Koordinierungskomitee ab und gründete das »Syrische demokratische Forum«. Kilo teilte damals die Hoffnungen auf einen Verhandlungsprozess. Er reiste zu diesem Zweck im Juli nach Moskau, um die russische Regierung zu einem »ausgewogeneren« Standpunkt zwischen Regime und Opposition zu bewegen. Allerdings verteidigt Kilo die Revolution gegen jene, die sie mit Verweis auf die Infiltration durch bewaffnete Salafisten für tot erklären. Er erklärte im Oktober: »Katar unterstützt die Muslimbrüder und Saudi-Arabien die Salafisten. Beide Gruppen sind zerstritten, sehr schwach und isoliert von der Bevölkerung. Wir haben Freunde, die regelmäßig nach Syrien reisen und uns über die Lage vor Ort berichten. Vor kurzem gab es eine Umfrage in Hama, bei der herausgekom-

Sie wendet sich auch deutlich gegen jede Form ausländischer Intervention. Ghayyat Na’issa, Mitbegründer der Strömung, schreibt: »Das Regime beschuldigt die Opposition, sie befürworte eine solche Intervention. Aber wenn es überhaupt eine Intervention gibt, dann zugunsten der Diktatur – zum Beispiel die militärische, technische und nachrichtendienstliche Hilfe von Seiten der russischen und iranischen Regierungen zur Niederwerfung der Revolution. Darüber hinaus treffen die wirtschaftlichen Sanktionen (des Westens, Anm. d. Verf.) vor allem die Bevölkerung und werden vom Regime als ein Vorwand für eine Politik der Kürzungen, Rationierungen und immense Preissteigerungen von Gütern des täglichen Bedarfs genutzt, um die aufbegehrenden Massen noch weiter zu schwächen. In jedem Fall können wir kein Vertrauen in die Manöver der Welt- oder Regionalmächte haben, die nur ihre jeweils eigenen Interessen verteidigen.« Der revolutionäre Prozess und der Bürgerkrieg bieten eine schier endlose Reihe an unterschiedlichen Erfahrungen. Schlimmste Gräuel, Egoismus und Verzweiflung, aber auch leuchtende Beispiele von Mitmenschlichkeit und Solidarität sind zu beobachten. Die syrische Linke kann gewinnen. In diesem Kampf hat sie die Solidarität der Linken weltweit verdient. ■

TITELTHEMA ZWEI Jahre Arabischer Frühling

Der Westen bauscht die islamistische Gefahr auf

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Kerenski in Kairo In Ägypten tobt ein Machtkampf zwischen weltlichen und islamistischen Kräften. So stellen es zumindest die hiesigen Medien dar. Doch eigentlich ist es ein Konflikt zwischen arm und reich. Dabei spielt die wiederbelebte Gewerkschaftsbewegung eine Schlüsselrolle Von Mona Dohle

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slamisten gewinnen die Wahlen«, lauteten die Schlagzeilen nach der ägyptischen Präsidentschaftswahl im vergangenen Sommer. Zugleich erklärten die westlichen Medien die Revolution für beendet. Tatsächlich gewann Mohammed Mursi, der Kandidat der Muslimbruderschaft, 51,7 Prozent der Stimmen. Doch ist es irreführend, nur das Wahlergebnis zu betrachten. Der Kampf für soziale Gerechtigkeit manifestiert sich viel mehr in der Arbeiterbewegung, die seit dem Sturz des Diktators Mubarak enorme Fortschritte gemacht hat. Streiks haben seit Dezember 2006 eine Schlüsselrolle im Kampf gegen Mubarak gespielt – und das 34

obgleich die Arbeiterbewegung von der staatlichen Gewerkschaft ETUF dominiert wurde, die Streikbewegungen zu lähmen versuchte. In der Revolution selbst haben Ausstände der Suezkanalarbeiter, der Textilarbeiterinnen und der Busfahrer zum Wendepunkt beigetragen. Als sich schließlich im Februar 2011 die Massenproteste mit den Streiks verbanden, wurde Mubarak in die Knie gezwungen. Ermutigt von diesen Erfolgen gründete sich im Herbst 2011 die Ägyptische Föderation unabhängiger Gewerkschaften (EFITU), die im Oktober 2012 bereits 2,5 Millionen Mitglieder hatte. Die dort zusammengeschlossenen Gewerkschaften bildeten das Rückgrat der Streiks des vergangenen Jahres. Allein im August und September fanden 1500 Ausstände statt. Hier


Jahrzehnten entwickelten Struktur der Muslimbruderschaft konkurrieren konnte. In einer politischen und wirtschaftlichen Krisenlage entschieden sich die Ägypter für die größte und bekannteste Oppositionskraft. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, der politische Arm der Muslimbruderschaft, und ihre Bündnispartner in der Demokratischen Allianz erhielten bei der Parlamentswahl im Januar 2012 zusammen fast fünfzig Prozent der Stimmen. In gewisser Hinsicht ähnelt die Regierung der Muslimbruderschaft der Kerenski-Regierung während der Russischen Revolution im Jahr 1917. »Kleinbürgerliche Idealisten, die über die Klassen hinwegblicken, in fertigen Schablonen denken, nicht wissen, was sie wollen, und allen das Allerbeste wünschen, sind in diesem Stadium die einzig denkbaren Führer der Mehrheit.« So beschrieb Leo Trotzki damals die Regierung des Sozialrevolutionärs Alexander Kerenski. Für ihn illustrierte dieser die »nationale Formlosigkeit in der ersten Phase der Revolution.« Auch Mursi kam an die Macht, weil er in turbulenten Zeiten das Land zu

Allein im August und September fanden 1500 Streiks statt

Auch wenn die Organisation der Muslimbrüder am Anfang nicht Teil der Revolution war und erst später auf den fahrenden Zug aufsprang, konzentrierte sich die Hoffnung der Massen auf sie. Es war der Linken nicht möglich, innerhalb der wenigen Wahlkampfmonate eine Bewegung aufzubauen, die mit der in

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ging es sowohl um Lohnforderungen als auch um die Entfernung der Kräfte des alten Regimes aus den Betriebsleitungen. Die Bewegung ist sehr dynamisch, aber oft auch sehr fragmentiert: Streiks laufen scheinbar neben politischen Konflikten, ohne sich mit ihnen zu verbinden. Doch die Kämpfe für ökonomische wie für politische Forderungen sind Teil desselben Prozesses. Mehr als 80 Prozent aller Ägypter sehen laut einer Umfrage des Pew-Forschungszentrums die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage als dringendste Aufgabe an. »Aysh, hurriyah adala igtama’eya« (»Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit«) war ein zentraler Slogan der Revolution.

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Wachsende Militanz: Streik von Arbeitern der Ölund Gasindustrie

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© Hossam el-Hamalawy CC BY-NC-SA

wirtschaftliche Reformen, insbesondere Kürzungen der Staatssubventionen, die momentan dreißig Prozent der Haushaltsausgaben ausmachen.

Auflage verdoppelt: Radikale linke Gruppen wie die »Revolutionären Sozialisten« befinden sich in Ägypten im Aufwind

vereinen schien. Sein Wahlsieg wurde in einer Stichwahl zwischen ihm und dem Kandidaten des Obersten Militärrats (SCAF), Ahmed Schafik, entschieden. Nur wenige Wochen nach der Wahl setzte Mursi mit Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi den Kopf des zuvor allmächtigen SCAF ab. Wirtschaftspolitisch hat er aber kaum den Kurs seiner Vorgänger verändert.

Die roten Flaggen der Sozialisten sind auf fast jeder Demonstration zu sehen Die ägyptische Ökonomie befindet sich in einer kritischen Lage. Seit Januar 2011 ist der Wert des ägyptischen Pfunds stark gesunken, was sich unmittelbar auf die Kaufkraft der Bevölkerung auswirkt. Während die Währungsreserven dahinschmelzen, steigen die Staatsschulden. Auf den globalen Finanzmärkten wird Ägypten als ein riskanter Schuldner gesehen, selbst bei inländischen Banken muss der Staat mehr als 16 Prozent Zinsen bezahlen. In dieser Krise bietet der Internationale Währungsfonds (IWF) Ägypten an, dem Land mehr als 4,8 Milliarden Dollar zu leihen – bei nur einem Prozent Zinsen. Im Gegenzug erwartet der IWF allerdings drastische 36

Mursi nutzte im Wahlkampf seinen Ruf als gläubiger Mann, um Vertrauen bei den Wählern zu gewinnen. Doch die Muslimbruderschaft spielt eine widersprüchliche Rolle. Führende Mitglieder sind Unternehmer, die wie der IWF an Privatisierungsmaßnahmen Interesse haben. Doch der Großteil der Mitglieder der Bruderschaft kommt aus der Arbeiterklasse und hat sich aktiv an der Revolution beteiligt. Mursi versucht also, zwei unversöhnliche Standpunkte zu vereinen. Vor der Wahl haben führende Muslimbrüder die Konditionen des IWF als »Riba« (Wucher) verurteilt, was nach islamischem Recht illegal ist. Es waren Aussagen wie diese, die den Muslimbrüdern an die Macht verhalfen. Doch nach den Wahlen machte ihr Präsident Mursi eine schnelle Kehrtwende. Plötzlich fanden sich Koranzitate, die bewiesen, dass diese speziellen IWF-Bedingungen kein Wucher seien. Die wirtschaftspolitische Fügung unter das Diktat der Gläubiger und Märkte zersetzt das Vertrauen, dass viele der Arbeiterinnen und Arbeiter den Muslimbrüdern entgegengebracht hatten. Gleichzeitig steht Mursi weiterhin unter dem Druck der Kräfte des alten Regimes, die eine Restauration ihrer Macht durch die Kontrolle der Justiz erlangen wollen. Nur Wochen nach der Wahl ging der Präsident deshalb in die Offensive und eignete sich diktatorische Befugnisse an, die ihm unter anderem die vollständige Kontrolle über die Gesetzgebung verschafften. Auch die neue Verfassung spiegelt in keiner Weise den revolutionären Prozess wider. Das ist jedoch kein Schritt zum Islamismus, sondern der Versuch, die eigene Position an der Spitze des Regierungsapparates zu halten. Präsident Mursi schwankt ständig zwischen Bewegung und altem Regime, je nachdem, woher der stärkere Druck kommt. Er sucht dabei das Bündnis mit Teilen des Militärs, denen er lukrative Positionen in Unternehmen zuschanzt. Dies verstärkt die Entfremdung von der eigenen Basis. Für viele gläubige Muslime wird nun deutlich, dass eine islamische Regierung nicht automatisch soziale Gerechtigkeit garantiert. Hier öffnet sich ein Raum für eine neue Linke. So gab es bei der Präsidentschaftswahl im Frühsommer 2012 zunächst eine Überraschung: Mursi ging zwar als stärkster Kandidat aus der ersten Runde hervor, konnte aber lediglich 24,7 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Der gemäßigt linke Kandidat Hamdin Sabahi kam auf überraschende 20,7 Prozent. Sabahis Wahlergebnis ist einmalig in Ägypten. In der Vergangenheit hatte die Linke durch Allianzen mit dem Regime von Nasser und ihren notorischen Antiislamismus viel Vertrauen bei den Arbeiterinnen und Arbeitern verloren. Seit der Revolution bieten sich neue Möglich-


weile sein Vertrauen in die Muslimbruderschaft verloren, auf politischer Ebene arbeitet er nun mit den Sozialisten zusammen. Derzeit befindet sich Ägypten in einem politischen Vakuum, in dem Arbeiter wie Tarek el-Beheriy sich zunehmend offen gegenüber sozialistischen Ideen zeigen. Doch die Linke steht vor enormen Herausforderungen. Zwar zeigt Mursi momentan alle Schwächen, für die in der Russischen Revolution Kerenski als Mann der Mitte stand. Aber im Gegensatz zur damaligen Situation in Russland verfügt die revolutionäre Linke in Ägypten heute noch über zu wenig organisatorisches Gewicht, um den Machtapparat zu stürzen und die Kontrolle über den Staat übernehmen zu können. Genau das wäre jedoch notwendig, um sich vom Kapitalismus zu befreien und die Revolution zum Sieg zu führen. Trotzki beschrieb die Russische Revolution als einen »Prozess der sukzessiven Annäherungen«. Schritt für Schritt bewegte sich auch die ägyptische Arbeiterklasse auf die Muslimbrüder zu. Nun ist sie auf der Suche nach einer neuen Organisationsform, die die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit erfüllen kann. In Anbetracht dieser Herausforderungen ist der Aufbau einer politischen Alternative für die ägyptische Arbeiterklasse wichtiger denn je. ■

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Mona Dohle hat in den Niederlanden und Palästina studiert und in Ägypten als Journalistin gearbeitet. Gegenwärtig lebt sie in London.

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TITELTHEMA ZWEI Jahre Arabischer Frühling

keiten für die Linke. Davon zeugt die Popularität von Sabahi, aber auch der Erfolg radikalerer linker Gruppe wie der »Revolutionären Sozialisten« (RS). Statt den Schwerpunkt auf Wahlkämpfe zu legen, intervenieren sie vor allem im Aufbau der verschiedenen sozialen Kämpfe, die plötzlich überall aufflammen. Die RS gewannen innerhalb kürzester Zeit hunderte neue Mitglieder, die Nachfrage nach der Zeitung »el Ishtraki« (»Der Sozialist«) nahm so vehement zu, dass man mit der Produktion kaum nachkam. Mittlerweile hat sich die Auflage verdoppelt. Inzwischen sind die roten Flaggen der verschiedenen sozialistischen Organisationen ein fester Bestandteil fast jeder großen Demonstration. Die RS spielen eine Schlüsselrolle in der Vernetzung der verschieden Kämpfe, von Studenten und Fußballfans bis zu gläubigen Hausfrauen, Busfahrern und Textilarbeiterinnen. Das Wachstumspotenzial für die revolutionäre Linke illustriert der Fall von Tarek el-Beheiry, einem führenden Gewerkschafter der Transportarbeiter. Als Salafist betete er vor der Wahl zusammen mit Spitzenvertretern der Muslimbruderschaft und half ihnen, Stimmen in der Transportgewerkschaft zu gewinnen. Als er nach der Wahl wieder einen Streik mitorganisierte, wurde er verhaftet. Obwohl er noch immer ein gläubiger Muslim ist, hat Tarek mittler-

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SCHWERPUNKT GEWERKSCHAFTEN IN DER KRISE

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Krisenkorporatismus Frank Deppe warnt im Interview

Linke und Gewerkschaften Gemeinsame Ziele, gemeinsamer Kampf

Financial Times Deutschland Studentische Besch채ftigte wehren sich

Linke Gewerkschaftspolitik Aktivistinnen und Aktivisten b체ndeln Kr채fte


Erst streiken, dann umbauen Das Opel-Werk in Bochum steht vor der Schließung, doch die Arbeitsplätze könnten gerettet werden. Allerdings nicht durch Verhandlungen mit den Bossen von General Motors Von Nils Böhlke

Dabei stellt niemand in Frage, dass die Beschäftigten in Bochum hochwertige, qualifizierte Arbeit leisten und in der Lage sind, gute Autos zu bauen. Zudem haben sie bereits in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, ihren Standort durch Gehaltseinbußen zu retten – keine gute Strategie, wie sich jetzt zeigt, weil das Problem eben nicht zu hohe Löhne sind. Das Problem ist grundsätzlicher Natur. Die Kürzungspolitik der letzten Jahre – sowohl auf EU-Ebene als auch in der Bundesrepublik – hat die

Nachfrage nach Autos weiter zurückgehen lassen. Insbesondere in Südeuropa ist die Zahl der neu zugelassenen Autos dramatisch gesunken. In Spanien und Italien sind im November 2012 gut ein Fünftel weniger Autos zugelassen worden als im Vorjahresmonat. In Frankreich gab es ebenfalls ein Minus von 19 Prozent und auch in Deutschland einen Rückgang um 3,5 Prozent. Opel trifft das besonders, weil die Firma auf den südeuropäischen Märkten sehr präsent war. Ein Ausweichen auf die derzeit wachsenden Märkte in Indien und China – ein Weg, den die anderen deutschen Autobauer gehen – verhindert die interne Politik von General Motors. Stattdessen hat sich General Motors selbst auf diese Märkte gestürzt und das Jahr 2012 mit Milliardengewinnen abgeschlossen. Aber auch wenn eine solche Ausweichstrategie möglich wäre, bliebe die Konkurrenz doch hart und das eigentliche Problem unangetastet. Seit Jahren krankt die gesamte Branche an Überproduktion, die sich durch jede Krise weiter verschärft. In die hoch technologisierten Automobilwerke wird aufgrund massiver Konkurrenz so viel Geld investiert, dass bei gleichbleibenden Beschäftigtenzahlen nur durch immer höhere Verkaufszahlen noch Gewinne zu erzielen wären. Da aber insbesondere in Europa die Lohnentwicklung einen solchen Absatz nicht erlaubt, sind Rationalisierungen und auch Werksschließungen immer wieder an der Tagesordnung. Somit wird der Krise immer nur mit weiterem Stellenabbau und mehr Standortschließungen begegnet, ohne dass die strukturellen

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Nils Böhlke ist Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft der LINKEN in NordrheinWestfalen.

SCHWERPUNKT Gewerkschaften IN DER KRISE

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Eine nachhaltige Lösung darf nicht an den Beschäftigten vorbei entwickelt werden

ie Vorstandsspitzen von Opel und General Motors wollen das OpelWerk in Bochum bis zum Jahr 2016 schließen. Wenn auf die anstehende Tariferhöhung nicht verzichtet wird, drohen sie sogar mit einer Werksschließung schon im kommenden Jahr. Für die Menschen in der Region ist die Schließung eine Katastrophe: Aktuell arbeiten 3400 Beschäftigte im Bochumer Opel-Werk. Weitere 600 Mitarbeiter arbeiten bei Joint Ventures, Partnerfirmen oder Vertragsfirmen. Als Dienstleister und Gewerbetreibende sind 10.000 Menschen in Bochum vom Opel-Werk abhängig, in NordrheinWestfalen sind es insgesamt 45.000 Menschen. Nach der Abwicklung von Nokia im Jahre 2008 wäre dies der nächste schwere Schlag für die Stadt im Herzen des Ruhrgebiets. Schon jetzt ist die Region einer der ärmsten Ballungsräume in Westeuropa. Durch die Zerstörung von Opel Bochum droht weitere flächendeckende Verelendung.

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Probleme damit gelöst werden könnten. Vielmehr werden dadurch die Löhne auch weit über die Automobilbranche hinaus weiter unter Druck gesetzt und noch weniger Autos können abgesetzt werden. Bereits kurz nach der Verkündung der Pläne von Opel und General Motors, das Werk in Bochum zu schließen, erklärte der Bochumer Betriebsratsvorsitzende, Rainer Einenkel, dass nun gemeinsames Handeln der verschiedenen Standortbelegschaften geboten ist. Tatsächlich hat es General Motors in den letzten Jahren immer wieder geschafft, die verschiedenen Standorte gegeneinander auszuspielen, indem eine Art Wettbewerb um die geringsten Kosten für die Produktion bestimmter Modelle stattfand. So konnten Löhne europaweit unter Druck gesetzt werden. Ein Standort, der sich alleine oder auch auf nationaler Ebene isoliert dagegen stellte, war schnell auf verlorenem Posten.

Opel nachhaltig schaden würde. Diese Einstellung kann nur durch gemeinsame Kampferfahrung aufgebrochen werden. Ein langfristiges Lösungskonzept für das Werk in Bochum muss zudem mit einbeziehen, dass die Möglichkeiten des motorisierten Individualverkehrs bereits jetzt weit über die ökologischen Grenzen hinaus ausgereizt sind. Aber auch eine ökologisch nachhaltige Lösung darf nicht an den Beschäftigten vorbei entwickelt werden. Bereits jetzt äußern sich linke Gewerkschafter, wie der ehemalige Betriebsrat Wolfgang Schaumberg von der gewerkschaftlichen Gruppe »Gegenwehr ohne Grenzen«, kritisch gegenüber abstrakt richtigen, aber an den aktuellen Kräfteverhältnissen und Bedürfnissen vorbeigehenden Forderungen, wie beispielsweise der Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf dreißig Stunden. Erst recht gilt dies für Forderungen nach einem Ende des Automobilverkehrs, die auch von Teilen der LINKEN zu hören sind. Deshalb muss bei Opel auf eine mehrstufige Taktik gesetzt werden.

Die angemessene Antwort auf die Schließung des Werks ist ein Besetzungsstreik

Leider hat die IG Metall diesem Spiel kaum etwas entgegengesetzt. Unter dem Betriebsratsvorsitzenden Franz wurde gerade die Bochumer Belegschaft zu organisiertem Abbau und Verzicht gezwungen. Es wurde mehr Wert darauf gelegt, die Kürzungsprogramme in Verhandlungen so »sozial« wie möglich zu gestalten. Dabei nahm man die Schließung eines Standorts in einem anderen Land durchaus in Kauf, solange die Arbeitsplätze im eigenen Land für ein paar Jahre gesichert blieben. Ein spontaner sechstägiger Streik der Bochumer im Jahr 2004 gegen weitere Einsparungen und Stellenabbau wurde von der IG Metall nur unzureichend unterstützt. Statt den Versuch zu machen, die Aktionen auf die anderen Standorte auszudehnen, bemühte man sich, alles zu verhindern, was einer »Verhandlungslösung« im Weg stand. Das Ergebnis ist bekannt. Mit diesem Standortnationalismus muss jetzt gebrochen werden, denn er führt in eine Sackgasse. Die Verteidigung der Arbeitsplätze darf nicht von der Wettbewerbsfähigkeit des betroffenen Standorts oder von der momentanen Kassenlage des Konzerns abhängig gemacht werden. Es wäre aber falsch, das Problem als gewerkschaftliche Auseinandersetzung zwischen Führung und Basis darzustellen. Gerade in der Automobilindustrie ist die Identifikation der Mitarbeiter mit ihrem Produkt und damit auch mit dem Hersteller stark ausgeprägt. Dies hat seit dem Jahr 2004 eher noch zugenommen und wirkt sich auch jetzt wieder in Bochum aus. So wird derzeit auf der Internetseite des Werkes als eines der wichtigsten Argumente gegen die Schließung vorgebracht, dass dies der Marke 40

Zunächst muss es darum gehen, die Arbeitsplätze gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen zu verteidigen. Die ersten Streiks Mitte Dezember haben schon gezeigt, dass es eine hohe Kampfbereitschaft bei den Beschäftigten gibt. Die Bochumer Belegschaft hat eine lange Tradition des Widerstandes. Die richtige Antwort auf die Schließung ist ein Streik mit einer Besetzung der Tore wie im Jahr 2004. DIE LINKE sollte im solidarischen Gespräch mit dem Betriebsrat und den Beschäftigten für die Taktik der »Betriebsbesetzungen« werben und den Kolleginnen und Kollegen Mut machen, zu kämpfen. In Nordrhein-Westfalen ist dazu von der LAG Betrieb & Gewerkschaft, dem Bochumer Kreisverband, der Bochumer Bundestagsabgeordneten der LINKEN, Sevim Dagdelen, und sympathisierenden Teilen der Belegschaft und auch des Betriebsrats eine AG Opel aufgebaut worden. Zudem sind sämtliche Kreisverbände in Nordrhein-Westfalen über die Standorte der Zulieferer informiert worden, damit in möglichst vielen Städten Gespräche und Solidaritätsaktionen stattfinden können. Ein erster wichtiger Fokus wird das Solidaritätsfest zum fünfzigsten Jahrestag der Eröffnung des Opel-Werkes am dritten März sein, das gemeinsam von der IG Metall und dem Betriebsrat ausgerichtet wird. Verbunden werden muss dieser Streik mit politischen Forderungen, wie sie DIE LINKE zum Teil ja schon gestellt hat. So forderte Bernd Riexinger so hohe Abfindungen, dass sich eine Werksschließung bei Opel nicht mehr lohnen würde, und die Bundes-


© SantaRosa OLD SKOOL / flickr.com / CC BY

tagsfraktion hat schon seit längerem immer wieder ein Verbot von Massenentlassungen gefordert. Im Rahmen dieses gemeinsamen Kampfes sollten dann auch Schritte diskutiert werden, die die grundsätzliche Problematik im Automobilsektor berücksichtigen. Eigentlich ist ja auch den Beschäftigten klar, dass es erhebliche Überkapazitäten auf dem Automobilmarkt gibt und ein ökologischer Umbau der Produktpalette notwendig ist. Die Anlagen von Opel sind dann keineswegs überflüssig, man könnte mit ihnen zum Beispiel moderne, umweltfreundliche Verkehrsprodukte herstellen und außer Straßenbahnen, Bussen und Kleinbussen auch Fahrräder oder sogar Blockheizkraftwerke bauen. Ein Zukunftskonzept, das einen ökologischen Mobilitätskonzern zum Ziel hat, muss von der Belegschaft gemeinsam mit Betriebsräten, der IG Metall und eventuell auch weiteren gesellschaftlichen Akteuren aus der Region diskutiert werden. In der Regel wird aber derzeit noch erwartet, dass dies unter den bisherigen Besitzverhältnissen gelingen kann. Angesichts der ohnehin schon geringen Gewinnerwartungen bei gleichzeitig hohen Investitionskosten ist diese Hoffnung allerdings trügerisch. Für Opel Bochum bedeutet dies konkret, dass der

Staat aktiv eingreifen und den Fortbestand des Werkes sichern muss. Die Bundes- und auch die Landesregierung müssen Opel verstaatlichen und die notwendigen Mittel für ein Zukunftskonzept bereitstellen. Private Investoren werden das niemals tun, da nicht unmittelbar Gewinne in Aussicht stehen. Doch die Bundesregierung will den Beschäftigten bei Opel nicht helfen. Während in den letzten Jahren eine bankrotte Bank nach der anderen mit Milliarden an Steuergeldern gerettet wurde, ist für die Menschen bei Opel Bochum angeblich kein Geld da. Aber die menschlichen Bedürfnisse – nicht die zahlungsfähige »effektive Nachfrage« auf der Basis herrschender Klassenverhältnisse – müssen der Maßstab für Nutzen oder Nutzlosigkeit von Produktionsmitteln sein. Grundsätzlich muss das Bereitstellen von Steuergeldern an klare Bedingungen geknüpft werden. Die erste und wichtigste Bedingung ist natürlich der Erhalt aller Arbeitsplätze und Standorte. Es dürfen keine Werke geschlossen oder verkauft werden und es muss eine Lohngarantie für die Beschäftigten geben. Wenn der Staat Steuergelder einsetzt, muss er dafür auch Einfluss und Eigentum erhalten. Keine öffentlichen Mittel ohne öffentliche Kontrolle: Nur so können die Arbeitsplätze und Standorte langfristig gesichert werden. ■

SCHWERPUNKT Gewerkschaften IN DER KRISE

Weltweit werden produzieren die Autokonzerne deutlich mehr PKWs als sie absetzen können. Die Überkapazitäten in Europa werden auf bis zu 20 Prozent geschätzt

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»Das Lob von Merkel ist vergiftet« Frank Deppe hat ein Buch über die jüngste Geschichte der Gewerkschaften veröffentlicht – und warnt vor deren Politik des »Krisenkorporatismus«. Ein Gespräch über Co-Manager und Löcher in der Tariflandschaft Interview: Yaak Pabst

Dein neues Buch trägt den Titel »Gewerkschaften in der Großen Transformation«. Warum gerade jetzt ein Buch über die Arbeitnehmervertretungen? Die Gewerkschaften stehen vor großen Herausforderungen. Seit dem Ende der 1970er Jahre vollziehen sich tiefgreifende Umbrüche in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Währungs- und Finanzkrisen erschüttern die Weltwirtschaft. Die jetzige Krise, die seit 2008 anhält, stellt den Übergang in eine Periode der längeren Stagnation und der Austeritätspolitik dar. Die Gewerkschaften sind in den letzten Jahrzehnten fast überall in die Defensive geraten – durch Druck von oben und durch die neoliberale Politik der Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Aber auch von unten stehen die Gewerkschaften unter Druck: Sie verlieren Mitglieder, mussten Streikniederlagen hinnehmen und ihr Einfluss auf Regierungen und Parteien hat nachgelassen. Mir geht es darum, die Erfahrungen, die die Gewerkschaften in dieser Umbruchkonstellation und in der Krise seit 2008 gemacht haben, zu analysieren. Denn sowohl bei den Funktionären als auch bei den Mitgliedern muss sich ein Bewusst42

FRANK DEPPE

Frank Deppe lehrte bis 2006 als Professor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur politischen Theorie und zur Geschichte und Politik der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, darunter »Politisches Denken im 20. Jahrhundert« (4 Bände, VSA 1999-2010).

sein von den gewerkschaftlichen Handlungsbedingungen im Sinne einer historisch-politischen Standortbestimmung entwickeln. Ansonsten stolpern wir blind den Managern der Krise in Unternehmen und Politik hinterher. Warum sind Gewerkschaften für Linke überhaupt von Bedeutung? Sind sie nicht typische Repräsentanten der »alten, männlichen Arbeiterbewegung«? Nein, das denke ich nicht. Zum einen ist der Anteil von Frauen an der globalen Arbeiterklasse gestiegen, von 33 Prozent (1970) auf 40 Prozent (2000). Frauen arbeiten heute überproportional häufig im Niedriglohnsektor, in Teilzeitarbeit und halblegalen Beschäftigungsverhältnissen. Eine Folge davon ist, dass der Durchschnittslohn für Frauen viel niedriger ist als der für Männer. Einige Gewerkschaften haben in der Vergangenheit versucht, speziell in diesen Berufsgruppen Frauen zu organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu kämpfen. Ver.di beispielsweise hat in jüngster Zeit zahlreiche Streiks in neuen Bereichen wie dem Einzelhandel, Krankenhäusern oder Kindergärten organisiert – mit einer hohen Beteiligung von


© media.opel.de / CC BY-NC

Frauen. Die Gewerkschaften sind, da können wir an Marx anschließen, eben die »elementaren Organisationen« der Lohnabhängigen. Sie sind die wichtigsten Akteure, wenn es darum geht, den Widerstand gegen Lohnkürzungen und den Abbau von Arbeitnehmerrechten zu organisieren, die Austeritätspolitik zu bekämpfen und für gesellschaftliche und politische Alternativen zu werben. Einen Schwerpunkt deines Buches bildet die Politik der Gewerkschaften in Deutschland. Du kritisierst deren »Krisenkorporatismus«. Was verstehst du darunter? Mit Beginn der Krise im Jahr 2008 hat sich in Deutschland ein neuer Typus des »Krisenkorporatismus« entwickelt. Der Begriff charakterisiert das gemeinsame Handeln von Betriebsleitungen, Belegschaften sowie Betriebsräten und Gewerkschaften zur Rettung eines Betriebes und eines Großteils der Arbeitsplätze. Der »Krisenkorporatismus« ordnet aber die gewerkschaftliche Interessenvertretung dem Primat der Wettbewerbsfähigkeit unter und fordert von den Beschäftigten Verzicht. Diese Strategie bietet zwar den schrumpfenden Stammbelegschaf-

Warum schwächen? Für diese moderate Politik erhielten sie große Anerkennung – sogar von der Bundeskanzlerin, den Medien und den Arbeitgeberverbänden … Ja, aber das Lob ist vergiftet. Es beruht überwiegend darauf, dass die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen zurückstellten, auf Streiks und auf politische Mobilisierung gegen die Politik im Interesse des Finanzmarktkapitalismus verzichteten und sich Betriebsräte zusammen mit Betriebsleitungen für die Rettung ihrer Betriebe engagierten. Der »Krisenkorporatismus« ist eine kurzatmige Rettungsstrategie. Er lässt viele, für die Gewerkschaften wichtige und heftig umkämpfte Aufgabenfelder außen vor: Die notwendigen Reallohnsteigerungen, die Korrektur der Verteilungsverhältnisse, die gesetzliche Regelung von Mindestlöhnen und die Begrenzung von prekärer Beschäftigung.

nicht Recht? Während viele Euro-Länder unter der Schuldenkrise leiden, boomt in Deutschland die Konjunktur. Die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig wie in keinem anderen Land Europas … Einspruch! Die angeblich positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland seit Beginn der Krise ist nicht Ausdruck eines größeren Beschäftigungsvolumens, sondern nur erklärbar durch das enorme Anwachsen des Niedriglohnsektors. Wir haben einen der größten Niedriglohnsektoren weltweit. Auch dadurch hat die soziale Polarisierung extrem zugenommen. Angesichts der Kurzarbeit, der Zunahme von Leiharbeit- und Teilzeitarbeitsverhältnissen ist es unverantwortlich, von einem Jobwunder zu sprechen. Die Gewerkschaften müssen sich dafür einsetzen, dass die Löhne wieder stärker steigen als in den vergangenen Jahren. Nur so kann die ständige Umverteilung zugunsten der Gewinneinkommen beendet, der Binnenmarkt gestärkt und Ungleichgewichten in der EU entgegengewirkt werden.

Aber gibt der Verlauf der Krise den Architekten des »Krisenkorporatismus«

Der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber plädiert dagegen für angepass-

ten der Gewerkschaften in bestimmten Bereichen der Industrieproduktion noch Vorteile, wird jedoch letztlich die Gewerkschaften schwächen.

SCHWERPUNKT Gewerkschaften IN DER KRISE

Der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber (2. v. l.) nimmt im August 2011 vom Opel-Vorstand ein neues Elektroauto in Empfang, das ihn eine Woche lang auf Dienstfahrten begleiten wird. Rechts neben ihm der damalige Betriebsratschef Klaus Franz – gewerkschaftsintern wegen seiner guten Kontakte zum Management auch »Vorstandsversteher« genannt

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In deinem Buch zeigst du die Herausforderungen auf, vor denen die Gewerkschaften in Deutschland stehen. Der Flächentarifvertrag, der dafür sorgen sollte, der Konkurrenz zwischen den Arbeitern entgegenzuwirken, ist mittlerweile so löchrig wie ein Schweizer Käse. In fast jeder Branche konnten die Arbeitgeber Öffnungsklauseln durchsetzen. Wie konnte das geschehen? Der Flächentarifvertrag ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter enormen Druck geraten. Die Arbeitgeberverbände haben immer schon an seiner Aushebelung gearbeitet. Sie haben argumentiert, 44

© Cornelius Brandt / flickr.com / CC BY-NC-ND

te Löhne und flexiblere Arbeitsmärkte in Krisenstaaten. Was findest du daran falsch? Lohnverzicht, Leiharbeit und Niedriglohnjobs werden die Krise nicht lösen, sondern sie vertiefen. Seit ihren Anfängen ist es der Grundgedanke der Gewerkschaftsbewegung, die Konkurrenz der abhängig Beschäftigten untereinander zu unterbinden und durch Solidarität zu ersetzen. Das gilt für die nationale wie die internationale Ebene. Mit solchen Aussagen zeigt Huber nur seine mangelnde Bereitschaft, sich mit den wirklichen Ursachen der Krise auseinanderzusetzen. Angesichts der deutschen Hegemonie im Übergang zur Austeritätspolitik sind der DGB und seine Gewerkschaften in besonderer Weise herausgefordert, ihre Positionen und Handlungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene zu überprüfen. Ansonsten geraten sie in Gefahr, dass sie von außen – auch von ihren Kolleginnen und Kollegen in anderen europäischen Staaten – als Juniorpartner oder gar als Hilfstruppen des deutschen Kapitals kritisiert oder verachtet werden. Eine wirkungsvolle europäische Gewerkschaftspolitik hätte nicht nur die Aufgabe, nationale Protestaktionen und Streiks zu unterstützen, über sie europaweit zu informieren und Formen grenzübergreifender Solidarität zu organisieren. Sie ist auch gefordert, sich mit der Eurokrise und dem unter deutscher Hegemonie durchgezogenen Krisen- und Schuldenmanagement kritisch – das heißt: aus der Position von Lohnabhängigen – auseinanderzusetzen. Es gibt ja Ansätze für Alternativen zur Fiskaldiktatur, zum Beispiel das Programm des DGB für einen europäischen Solidarpakt.

Streik der Gebäudereinigerinnen: Ein Großteil der kämpferischen Belegschaften ist heute weiblich, jedes zweite neue Gewerk-schaftsmitglied jünger als 27 Jahre dass sich die Lohnforderungen der Gewerkschaften flexibel an den Interessen der Unternehmen, also an deren Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt, orientieren müssen. Solche Öffnungsklauseln tauchten zum ersten Mal 1984 nach einem sechswöchigen Streik der IG Metall für die 35-Stunden-Woche auf. Im sogenannten Leber-Kompromiss wurde für den IG-Metall-Tarifbezirk Baden-Württemberg der Weg für Vereinbarungen auf der betrieblichen Ebene frei geräumt, die die Unterschreitung von Tarifnormen ermöglichen. Das bezog sich zu Beginn vor allem auf die Arbeitszeiten. Unternehmer konnten von nun an die Arbeitszeit der Beschäftigten in den einzelnen Betrieben so ansetzen, wie es die Produktion vorgab. War das für die Arbeitgeber eine Art »Weichenstellung«? Ja. Ausgehend von diesem Kompromiss hat sich die weitere Flexibilisierung über die »Pforzheimer Tarifvereinbarung« von 2004 als Modell durchgesetzt. Dieser »Wettbewerbskorporatismus« konnte sich etablieren, weil sich innerhalb der Gewerkschaften diejenigen Kräfte durch-

setzten, die diese subalterne Anpassung als notwendige Modernisierung im Zeitalter der Globalisierung sahen. Darin eingeschlossen war für sie die »Entideologisierung« der Gewerkschaften, also der Abschied vom Klassenkampfdenken. Die Verbetrieblichung der Tarifpolitik – in Form von Härtefallregelungen, Nottarifverträgen, Öffnungsklauseln, Korridorlösungen und betrieblichen Bündnissen – hat den Flächentarifverträgen viel ihres ursprünglichen Inhalts geraubt. Die Kapitalseite nutzte diese Entwicklung, um sich im globalen Wettbewerb Vorteile zu verschaffen: Die »Flexibilisierung der Arbeitszeitregulierung« gilt heute in der metallverarbeitenden und der Automobilindustrie als einer der wichtigsten Konkurrenzvorteile deutscher Produktionsstandorte. Die Gewerkschaften hat diese Politik jedoch geschwächt. Denn je löchriger die Tariflandschaft wird, desto mehr besteht für sie die Herausforderung, Tarifverträge im »Häuserkampf«, also auf betrieblicher Ebene, durchzusetzen. Das ist eine ungemein schwere Aufgabe. Wo genau siehst du das Problem bei der »Verbetrieblichung« der Tarifpolitik?


Was ist daran schlecht, wenn dabei die Interessen der Beschäftigten im Mittelpunkt stehen? Ein Beispiel: Der im Jahre 2011 ausgeschiedene Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Opel, Klaus Franz, war zugleich auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender. Er wurde als mächtiger Krisenund Co-Manager berühmt, der eigene Vorschläge zu Personalabbau, Werksschließungen, und Kostenreduzierungen unterbreitete. Er galt als der »Retter« von Opel und von den Arbeitsplätzen seiner Kolleginnen und Kollegen in Rüsselsheim. Seine Rolle macht die ganze Ambivalenz der Politik des Co-Managements deutlich: Die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb hoffen, ihre Arbeitsplätze zu erhalten und sind bereit, dafür Zugeständnisse beim Lohn, bei der Arbeitszeit oder bei der Arbeitsintensität zu machen. Sie nehmen es auch hin, dass Betriebe an anderen Orten, beispielsweise in Antwerpen oder in Bochum ganz geschlossen oder von massiven Entlassungen betroffen werden. Die Tragik seiner Politik besteht darin, dass sie punktuell Erfolge zu erzielen vermag: Zeitweilig schützt sie die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb vor Entlassungen und dem sozialen Abstieg. Aber insgesamt ist sie der Macht des Konzerns unterlegen und vermag die Schwächung der Gewerkschaften nicht aufzuhalten. Im Gegenteil: Sie verstärkt sie noch, weil sie in letzter Instanz vom Wohlwollen der Unternehmensleitungen abhängig ist. Die aktuellen Entwicklun-

gen bei Opel zeigen, in welche Sackgasse diese Politik führt. Siehst du Anzeichen dafür, dass sich die Gewerkschaften von ihrer Krise erholen? Ja, und das ist auch dringend erforderlich. Gegenwärtig gewinnt der gewerkschaftliche Widerstand in Europa an Kraft. In vielen Ländern fanden Generalstreiks und große Protestaktionen gegen die Austeritätspolitik der EU statt, bei denen die Gewerkschaften eine zentrale Rolle spielten. Es sind auch neue Bündniskonstellationen zu beobachten, in denen Gewerkschaften mit anderen sozialen Bewegungen zusammenarbeiten. Auch in Deutschland sind neue Streikbewegungen mit selbstbewussten Streikaktiven entstanden. Der Streik der Reinigungskräfte, die Arbeitskämpfe im Einzelhandel und der Erzieherinnen und Erzieher, aber auch der Kampf der IG Metall für die Regulierung der Leiharbeit und die Übernahme der Auszubildenden sind Beispiele dafür. Diese Entwicklungen tragen zur Stärkung der gewerkschaftlichen Gegenmacht bei. Solche Erfahrungen sind wichtig, weil hierzulande mit dem Übergang in eine neue Rezession der »Krisenkorporatismus« der IG Metall und anderer Gewerkschaften sicher auf eine harte Probe gestellt wird. Es könnte schnell eine Konstellation entstehen, die der Bereitschaft zum »Krisenkorporatismus« ökonomisch den Boden entzieht. Zugleich könnten politisch neue Angriffe auf die Macht der Gewerkschaften in den Betrieben einsetzen. Deswegen sollten sich Gewerkschafter auf diese Art des »Krisenkorporatismus« nicht verlassen. ■

DAS BUCH Frank Deppe: Gewerkschaften in der Großen Transformation (PappyRossa 2012)

TITELTHEMA ZWEI Jahre Arabischer Frühling

Die Rolle der Betriebsräte für die Gewerkschaftspolitik ist seit den 1990er Jahren stark aufgewertet worden. Betriebsräte sind jedoch keine Gewerkschaftsorgane, sondern sie sollen, so die gesetzliche Vorgabe, auf das »Wohl« des Betriebes hinarbeiten. Die meisten Betriebsräte sind gute Gewerkschafter. Sie genießen in der Gewerkschaft schon deshalb eine starke Machtposition, weil sie meist für einen hohen Organisationsgrad im Betrieb und damit für die Einnahmen der Gewerkschaften Sorge tragen. Doch die zumeist vorherrschende sozialpartnerschaftliche Orientierung professionalisierter Betriebsräte bewirkt, dass sie sich oft mit den Unternehmensleitungen gegen die Gewerkschaften verbünden und zugleich Tarifforderungen bremsen. Sie verstehen sich eher als Co-Manager denn als Klassenkämpfer.

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Gewerkschaft braucht Opposition Linke Parteien sollten sich nicht in gewerkschaftsinterne Diskussionen einmischen, sagen führende Mitglieder der LINKEN. Unser Autor ist anderer Meinung Von Volkhard Mosler

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Volkhard Mosler ist Redakteur der Zeitschrift Theorie21.

★ ★★ MARX IS MUSS KONGRESS 2013 Wie weiter für Linke in den Gewerkschaften? Themenblock zu Betrieb & Gewerkschaft. Infos auf Seite 79 oder online: www.marxismuss.de

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Nach wie vor pflegt die Sozialdemokratie eine privilegierte Partnerschaft mit dem DGB

o viel Eintracht wie im neuen Jahr war selten. Die Bundeskanzlerin lobte den DGB-Chef Sommer und die Gewerkschaften, deren »Vorgehen« bei der Bewältigung der Krise sie als ausgesprochen »konstruktiv und positiv« bezeichnete. Umgekehrt lobte Michael Sommer Angela Merkel. Man könne der Kanzlerin zugutehalten, dass es unter ihrer Regierung »keine gravierenden Angriffe auf Arbeitnehmerrechte gegeben« habe. Auch IG-Metall-Chef Huber setzt »eigentlich auf die Union und die bisherige Bundeskanzlerin.« Sie habe »einen fairen Kurs den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften gegenüber eingeschlagen«. Aber auch die SPD wird nicht vergessen. Ver.diChef Frank Bsirske ließ in einem Interview mit der Bild verlauten, dass »Deutschland mit Steinbrück als Kanzler ein gerechteres Land würde«.

Merkel und Steinbrück als Freunde der Arbeiterklasse? Solch Liebedienerei der Gewerkschaften passt schlecht zu ihren Klagen über die Ausdehnung von Niedriglöhnen und die wachsende Armut in Deutschland. Es scheint, als hätten die letzten 13 Jahre nicht stattgefunden. Der deutsche Sozialstaat wurde in dieser Zeit stark zusammengestaucht, die Reallöhne fielen bei Verlängerung der Arbeitszeit. Der Anteil der gewerkschaftlich organisierten abhängig Beschäftigten hat sich in den Jahren von 1991 bis 2012 fast halbiert (er fiel von 35 auf weniger als zwanzig Prozent).

Meilensteine dieses Niedergangs waren staatliche Zwangsmaßnahmen zur Deregulierung der Arbeitsmärkte, wie die Einführung von Hartz IV, der Ausbau der Leiharbeit, der Abbau des Kündigungsschutzes und die Öffnung der Flächentarifverträge. Dabei hat die Regierungsbeteiligung der SPD für die Lähmung der Widerstandskräfte eine entscheidende Rolle gespielt. Die politische Kontrolle der Sozialdemokratie über die Gewerkschaftsbürokratie erwies sich wieder einmal als äußerst nützlich für den deutschen Kapitalismus. Deshalb brachen im Jahr 2004 einige hundert Gewerkschaftsfunktionäre der mittleren und unteren Ebene mit der Sozialdemokratie. Das hat jedoch das sozialdemokratische Monopol einer »privilegierten Partnerschaft« mit den Gewerkschaften nur leicht beschädigt, aber keinesfalls gebrochen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der zurzeit wahrscheinlich bedeutsamste ist, dass der Krisenkorporatismus sich zumindest für die Stammbelegschaften zu bewähren scheint. Das Abkommen »Lohnverzicht gegen Arbeitsplatzsicherheit« geht scheinbar auf. Ein zweiter Grund ist der hohe Grad an bürokratischem Zentralismus in den Organisationsstrukturen der DGB-Gewerkschaften. Er macht es für die unteren Gremien oder einzelne Funktionäre der regionalen Ebene sehr schwer oder sogar unmöglich, das kurzsichtige Standortdenken der Führungsebenen zu durchbrechen.


Wie aber kann eine neue Verelendung der Arbeiterklasse und das Siechtum der deutschen Gewerkschaften gestoppt werden? Alle Hoffnungen, dass Deutschland unter einem Kanzler Steinbrück »gerechter« werden wird, sind auf Treibsand gebaut. Eine neue Bundesregierung – ganz gleich mit welchem Farbenspektrum – wird dort weitermachen, wo die bisherigen aufgehört haben. Der einzige Ausweg führt über eine Rückkehr zu den Methoden des Klassenkampfes von unten, über Massenstreiks und andere Massenaktionen. Diese Strategie scheint zurzeit schwer erreichbar, die Anbiederung der Führung hat auch die Basis in den Betrieben verunsichert. Eine neue widerständige, kampfbereite und kampffähige Gewerkschaftsbewegung muss sich bilden, die diese Hürden aus dem Weg räumt. Es gibt in den Gewerkschaften durchaus Ansätze einer linken Opposition, die einen Bruch mit dem Krisenkorporatismus fordern. Die Gewerkschafter bei der IG Metall Christoph Ehlscheid, Klaus Pickshaus und Hans-Jürgen Urban haben dazu schon im Jahr 2010 den Aufsatz »Die große Krise und die Chancen der Gewerkschaften« in der Zeitschrift Sozialismus veröffentlicht. Darin fordern sie, dass die Gewerkschaften »eine bedeutendere Rolle spielen« müssten bei der Bündelung des Protestes und dem Aufzeigen von Perspektiven. Die Autoren drängen darauf, den krisenbedingten Angriffen der Herrschenden auf Beschäftigte mit einer Ausweitung gewerkschaftlicher Interessenpolitik und Radikalisierung der Proteste zu begegnen. Dies setze allerdings eine »gewerkschaftliche Revitalisierung« voraus. Der spannenden Frage, wie das geschehen soll, weichen sie jedoch aus, wenn sie sich auf den Allgemeinplatz zurückziehen, dies sei »in erster Linie Aufgabe der Gewerkschaften selbst«. Ja, natürlich ist dies die Aufgabe »der Gewerkschaften selbst«. Aber wer trägt den Hund zum Jagen? Welche Kräfte gibt es in den Gewerkschaften und Betrieben, die eine solche dringend nötige »Revitalisierung« vorantreiben könnten?

Stellvertretend sei hier der Chefökonom der LINKEN, Michael Schlecht, zitiert, der in marx21 (Nr. 4, Februar 2008) schrieb: »DIE LINKE als Partei hat auf die inneren Prozesse in den Gewerkschaften keinen unmittelbaren Einfluss. Er wir auch nicht angestrebt. Die gewerkschaftliche politische Autonomie wird nicht nur akzeptiert, sie ist auch aus linker Sicht notwendig.« Es versteht sich wohl von selbst, dass DIE LINKE den Gewerkschaften nicht per Parteitagsbeschuss irgendwelche Ziele, Forderungen oder Kämpfe verordnen kann und darf. Doch Autonomie kann zweierlei bedeuten: Damit kann die organisatorische Trennung und Selbständigkeit von Parteien und Gewerkschaften gemeint sein, oder aber auch politische Neutralität. In der ersten Bedeutung ist Autonomie nach marxistischem Verständnis unbedingt notwendig im Verhältnis von sozialistischen Parteien und Gewerkschaften. Neutralität jedoch läuft in diesem Fall auf eine Trennung von politischem und gewerkschaftlichem Kampf hinaus, hin zu einer auf ihren Bereich beschränkten Gewerkschaftsarbeit auf der einen und parlamentarischer Reformpolitik auf der anderen Seite.

SCHWERPUNKT Gewerkschaften IN DER KRISE

Zudem lässt sich mit den althergebrachten Methoden der Warnstreiks und der Mobilisierung mit angezogener Handbremse aus den Jahren einer funktionierenden Sozialpartnerschaft in den Zeiten der Krise nichts mehr erreichen. Zu politischen Massenstreiks waren der DGB und seine Einzelgewerkschaften allerdings bislang nicht bereit.

Inzwischen haben sich in der LINKEN viele aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter mit einer sozialistischen Zielrichtung zusammengeschlossen, die in ihrer großen Mehrheit das sozialpartnerschaftliche Standortdenken ablehnen. Leider verstehen sich manche prominente Gewerkschafter in der Partei nur als Sprachrohr der Gewerkschaften im parlamentarisch-politischen Raum. © Michael Bruns / flickr.com

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★ ★★ WEITERLESEN Die neue Ausgabe des Magazins theorie21 erscheint im April 2012 und wird sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Gewerkschaften befassen.

Der heutige Bundesvorsitzende der LINKEN, Bernd Riexinger, hatte im Juli 2004 auf dem ersten bundesweiten Treffen der WASG einen anderen Ton angeschlagen. Er forderte, dass eine neue Linkspartei »zum Motor der sozialen Bewegungen« werden müsse. Wie soll aber eine sozialistische Partei ein Antrieb sozialer Bewegungen werden, wenn sie um die größte und potentiell machtvollste, die Gewerkschaftsbewegung, einen großen Bogen macht, wenn sich die gewerkschaftlich organisierten Mitglieder der LINKEN und ihr beträchtliches Umfeld nicht zu einer aktionsorientierten, gestaltenden Kraft in den Gewerkschaften zusammenschließen? Ohne eine organisierte Opposition von unten, die für eine sozialistische anstelle der korporatistischen Politik eintritt, wird der Niedergang der Gewerkschaften anhalten. Das lähmt darüber hinaus auch die LINKE, die ohne außerparlamentarische Klassenkämpfe nur leere Wahlversprechungen machen kann, deren Realisierung in den Sternen steht.

verhindert wurde. In dem Antrag stand, dass es »für den siegreichen Fortgang des Klassenkampfes (...) unbedingt notwendig ist, dass die gewerkschaftliche Bewegung von dem Geiste der Sozialdemokratie (damals synonym für Sozialismus, Anm. d. Verf.) beherrscht wird«. Es sei daher die »Pflicht eines jeden Parteigenossen, in diesem Sinne zu wirken und sich bei der gewerkschaftlichen Tätigkeit an die Parteitagsbeschlüsse gebunden zu fühlen«. Die Gewerkschaftsführer hatten sich gegen solche Einmischung der Partei gestellt. Sie bestanden auf parteipolitischer »Neutralität« der Gewerkschaften. Solchen Versuchen der Entpolitisierung der gewerkschaftlichen Organisation durch die Gewerkschaftsführer trat Rosa Luxemburg in ihrer Kampfschrift »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« entschieden entgegen. Stattdessen forderte sie »die Gewerkschaften der Sozialdemokratie wieder anzugliedern«. Zur Vorbereitung der kommenden Periode großer proletarischer Massenkämpfe setzte sie sich gegen die Trennung von ökonomischem und politischem Kampf ein und für einen Zusammenschluss, nicht organisatorisch, aber politisch. Der konkrete Hintergrund des Streits war ein Beschluss des SPD-Parteitags von 1905 über den Einsatz des politischen Massenstreiks als Kampftaktik. Damals wie heute war die Gewerkschaftsführung ein scharfer Gegner dieser Waffe. Soweit sie sich in die Politik einmischten, geschah dies durch Wahlkampf und parlamentarische Vertretungspolitik. Die Aufgabe der Gewerkschaften sahen sie beschränkt auf die Wahrnehmung ökonomischer Kämpfe zur Verbesserung von Löhnen und Arbeitsbedingungen auf dem Boden des Kapitalismus.

Ohne Klassenkämpfe kann DIE LINKE nur leere Wahlversprechungen machen

Im Jahr 1906 brachte der damalige Cheftheoretiker der SPD, Karl Kautsky, einen Antrag auf dem Mannheimer Parteitag ein, der auf Betreiben der damals rechts von der SPD stehenden Gewerkschaftsführer

DIE LINKE ist heute die einzige politische Kraft links von der SPD, die über eine beträchtliche Zahl aktiver Gewerkschaftsmitglieder, Betriebsräte und Funktionäre in ihren Reihen verfügt. Im Sinne von Kautskys Resolution des Jahres 1906 wäre es ihre Aufgabe, die Idee der gewerkschaftlichen Bewegung mit den Forderungen nach einer Umverteilung von oben nach unten, nach gesetzlichem Mindestlohn, politischem Massenstreik und schließlich nach einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in die Gewerkschaften hinein zu tragen. Oskar Lafontaines Appelle für den politischen Generalstreik bleiben leider reine Propaganda, wenn es den Mitgliedern und Anhängern der LINKEN nicht gelingt, eine solche Perspektive des Klassenkampfes in den Gewerkschaften, und mehr noch in den Betrieben, mehrheitsfähig zu machen. ■ 48


© Janne Grote/elalemelalem.wordpress.com

Die letzte Schlagzeile gehört uns Zeitungskrise – hinter einem abstrakten Begriff steht das konkrete Schicksal der Beschäftigten. Dass man es nicht einfach hinnehmen muss, haben die studentischen Mitarbeiter der Financial Times Deutschland gezeigt Von Marcel Bois

Es ist Mittwoch, der 21. November. In zwei Tagen wird der Vorstand von Gruner und Jahr vor die Belegschaft treten und uns darüber in Kenntnis setzen, dass er die Wirtschaftsmedien schließen will. Konkret bedeutet das: Die FTD soll schon zwei Wochen

später das letzte Mal erscheinen, für die Zeitschriften Impulse und Börse Online muss bis Ende Januar ein Käufer gefunden werden – andernfalls ist auch deren Ende besiegelt. Lediglich Capital und Business Punk sollen weitergeführt werden. Allerdings von Berlin aus, mit zehn bis zwanzig Mitarbeitern. Doch wir sind insgesamt mehr als 350, die meisten leben

Gruner und Jahr gibt sich gerne als soziales Unternehmen. Doch die Realität sieht anders aus in Hamburg. Und fast alle werden ihren Job verlieren. Der Vorstand verspricht zwar, »großzügige« Lösungen zu finden. Doch besonders konkret wird er hier nicht, gibt einzig das Versprechen, dass vor Januar keine Kündigungen ausgesprochen werden. Die Entscheidung des Vorstands wird uns zu diesem Zeitpunkt nicht mehr überraschen, zu viele Details sind in den vergangen Wochen über die Medien durchgesickert. Viele Kolleginnen und Kollegen sind sauer über die miserable Informationspolitik. Wer

SCHWERPUNKT Gewerkschaften IN DER KRISE

H

ier sitzen wir nun, uns gegenüber ein halbes Dutzend gestandener Gewerkschafter, einige schon kurz vor der Rente. Manche tragen Lederwesten, die ausgewaschenen Hemden spannen ein wenig über den Bäuchen. Die Gesichter der Kollegen sind gezeichnet von Jahrzehnten der betrieblichen Auseinandersetzung. Es ist das Treffen der ver.di-Betriebsgruppe. Seit achteinhalb Jahren arbeite ich nun in meinem Betrieb, schon seit über zwölf Jahren bin ich Mitglied von ver.di. Aber hier war ich noch nie. Wir, das sind mein Kollege Janne und ich, beides Doktoranden, arbeitsrechtlicher Status: studentische Mitarbeiter. Unser Betrieb sind die G+J Wirtschaftsmedien, ein Tochterunternehmen von Europas größtem Verlagshaus Gruner und Jahr. Die Wirtschaftsmedien geben die Tageszeitung Financial Times Deutschland (FTD) heraus, das Anlegerheft Börse Online, die Monatsmagazine Impulse und Capital sowie das Lifestyleblatt Business Punk.

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liest schon gerne in der FAZ über sein eigenes Ende? Doch jetzt heißt die Devise: retten, was zu retten ist. Deshalb sind Janne und ich bei dem ver.di-Treffen. Unabhängig von uns sind noch zwei Redakteure und eine Redakteurin der Wirtschaftsmedien gekommen. Wir werden herzlich willkommen geheißen. Die Gewerkschafter fragen uns nach dem Stand der Dinge. Doch wir können kaum etwas berichten, noch wissen wir selber zu wenig. Für Janne und mich ist zu diesem Zeitpunkt lediglich klar: Die studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden leer ausgehen. Es sei denn, wir unternehmen etwas dagegen. Genau das raten uns auch die Kollegen von ver.di: »Kämpft für eure Rechte. Das kann niemand für euch übernehmen. Auch nicht der Betriebsrat.«

wir – immer mit dem Verweis auf die wirtschaftliche Situation – keine Gehaltserhöhungen mehr bekommen. Wir diskutieren, was zu tun ist. Uns ist bewusst, dass wir den Vorstand unter Druck setzen müssen, wenn wir etwas erreichen wollen. Gruner und Jahr gibt sich gerne als soziales Unternehmen. Doch wir wissen auch, wie die Realität aussieht. Ganz wichtig erscheint uns daher, die anderen Kolleginnen und Kollegen auf unsere Seite zu bringen. Denn viele denken, dass wir ja in der Hauptsache Studierende sind und hier nur einen Nebenjob machen. Das stimmt zwar und ist doch nur die halbe Wahrheit. Fast alle von uns finanzieren Studium und Lebensunterhalt mit diesem Job. Nicht wenige arbeiten in den Semesterferien bis zu 40 Stunden in der Woche. Aber im Gegensatz zu Festangestellten haben wir kein Anrecht auf Arbeitslosengeld. Bei nur einem Monat Kündigungsfrist, die viele von uns haben, bedeutet das: Etliche werden schon Ende Februar ihre Miete nicht mehr zahlen können. Möglicherweise noch früher. Schließlich werden wir pro gearbeitete Stunde bezahlt. Was aber, wenn es keine Arbeit mehr gibt?

Kaum einer verweigert unser Flugblatt. Binnen zwei Stunden sind fast 2500 Stück verteilt

Also machen wir uns an die Arbeit und recherchieren die Namen und E-Mail-Adressen der studentischen Kolleginnen und Kollegen. Wir selber kennen ja auch nur diejenigen aus unserem Team und noch ein paar darüber hinaus. Das, was wir schon immer geahnt hatten, bestätigt sich jetzt: Wir sind insgesamt 57. Ein Sechstel der Belegschaft sind also studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ein erstes Treffen ist schnell organisiert. Obwohl kurzfristig anberaumt, erscheinen knapp 35 Studierende. Auch Vertreter von ver.di, dem Deutschen Journalistenverband (DJV) und vom Betriebsrat sind anwesend. Nach einer Fragerunde beginnen wir unsere Forderungen zu diskutieren. Relativ schnell kristallisiert sich heraus: Wir verlangen eine Gleichbehandlung mit den Festangestellten. Unser Argument ist simpel: Die meisten von uns übernehmen Tätigkeiten, die auch von Festangestellten ausgeführt werden. Wir arbeiten für die Honorarbuchhaltung, die Anzeigenherstellung, sind als Büroassistentinnen und -assistenten tätig, gestalten das Layout, unterstützen die IT, produzieren und schreiben Onlineartikel, erstellen Infografiken, übernehmen die Bildbearbeitung, sind beim Leserservice die Stimme nach außen, belichten am Abend die Seiten, kommunizieren mit den Druckereien und lektorieren Artikel. Nur unsere Entlohnung entspricht nicht der von Festangestellten: Wir erhalten Bruttostundenlöhne zwischen 10 und 12,50 Euro. Sonntags-, Feiertagsund Spätschichten werden nicht gesondert vergütet. Wir haben zwar feste oder befristete Arbeitsverträge, aber das Unternehmen muss uns nicht einmal krankenversichern und auch keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen. Seit Jahren haben 50

Am Nachmittag ist Betriebsversammlung des gesamten Unternehmens. Es geht um die Situation der Wirtschaftsmedien, aber auch um die Kürzungen bei Brigitte. Dort haben vor einigen Wochen 15 Redakteurinnen ihren Job verloren. Mehrere hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter drängen sich in die völlig überfüllte Kantine. Viele wollen sich auf diesem Wege mit den Kolleginnen und Kollegen der Wirtschaftsmedien solidarisch zeigen, und sich über die bisher einmalige Kündigungsflut bei Gruner und Jahr informieren. Einige fürchten, dass es bald auch andere Bereiche des Unternehmens trifft. Nach den Ansprachen der Betriebsräte erhalten verschiedene »Betroffenengruppen« der Wirtschaftsmedien das Wort: die Festangestellten, die freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Kolleginnen und Kollegen, die kurz vor der Rente stehen, und wir, die studentischen Aushilfen. Janne hält unsere Rede. Bei dem Treffen am Vormittag haben wir gemeinsam die Stoßrichtung diskutiert. Er schildert unsere Situation, beschreibt, wie hart uns das Ende der Wirtschaftsmedien trifft. Das haben auch die anderen Redner vor ihm gemacht. Aber er erklärt darüber hinaus, welche Jobs wir machen und leitet daraus unsere Forderung ab: Gleichstellung mit den Festangestellten. Zum Schluss zieht er ein kleines Büchlein aus der Tasche. Es ist der Verhaltensko-


»Das Ende der Discount-Studenten«: Unser Autor verteilt zusammen mit einer Kollegin die »Protest Times« Am nächsten Tag findet eine Sitzung mit dem Betriebsrat statt, der uns das Ergebnis der Verhandlung präsentiert. Fast all unsere Forderungen sind durchgekommen. Im Klartext bedeutet das: Wie die Festangestellten werden auch wir eine Abfindung erhalten. Außerdem werden wir bis zum Ende unserer Kündigungsfrist bezahlt, selbst wenn wir nicht mehr arbeiten müssen. Wir erhalten ein Durchschnittsgehalt, das sich nach einem Schlüssel berechnet, den wir vorgeschlagen haben. Darüber hinaus werden wir auch im Härtefallfonds berücksichtigt. Einziger Wermutstropfen: Wir hatten verlangt, die befristeten Arbeitsverträge, die im Januar und Februar auslaufen, zu verlängern. Doch hier war der Vorstand zu keinerlei Zugeständnis bereit. Das betrifft zehn Kolleginnen und Kollegen. Sie werden dementsprechend keine Lohnfortzahlung bis zum Ende der Kündigungsfrist und auch keine Abfindung bekommen. Gegenüber der Presse wird ein Sprecher des Unternehmens später sagen, man habe eine Vereinbarung getroffen, die »sehr fair« sei. Die zehn Kolleginnen und Kollegen, deren Verträge jetzt auslaufen, werden das kaum so sehen. Aber insgesamt können wir studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stolz sein. Denn wir haben gezeigt: Wer kämpft, kann gewinnen. Ohne unser Engagement hätten wir vermutlich gar nichts erhalten. Damit sind wir zur Inspirationsquelle für andere im Betrieb geworden. Anfang Januar haben nun auch die freien Mitarbeiter begonnen, sich zu organisieren. Sie sagen, unser Vorbild habe sie motiviert. ■

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Marcel Bois ist Doktorand und hat über acht Jahre lang bei der Financial Times Deutschland gearbeitet.

SCHWERPUNKT Gewerkschaften IN DER KRISE

Wenige Tage später trifft sich eine 15-köpfige Aktionsgruppe der studentischen Mitarbeiter. Wir überlegen, wie wir unseren Forderungen weiteren Nachdruck verleihen können. Ein Streik ist kurz im Gespräch, wird aber bald verworfen. Wie sollen wir etwas bestreiken, das es in wenigen Tagen nicht mehr gibt? Dann fragt irgendjemand: »Wenn wir behaupten, dass wir die Jobs von Festangestellten machen, warum beweisen wir es nicht?« Schon ist die Idee geboren: Wir machen eine eigene FinancialTimes-Deutschland-Titelseite und verteilen sie als Flugblatt. Schnell findet sich eine kleine Redaktion zusammen, Texte werden geschrieben, ein Leitartikel diskutiert. Die Studierenden aus dem Lektorat lesen Korrektur, die aus dem Layout und der Bildbearbeitung gestalten die Seite. Zwei Kollegen erstellen die Titelillustration und ein weiterer liefert eine Infografik. Eine Kollegin aus dem Chef-vom-DienstTeam sorgt schließlich dafür, dass die Seite rechtzeitig in den Druck geht. Von ver.di erhalten wir 500 Euro für die Druckkosten. Ein anonymer Spender aus dem Unternehmen, der unsere Idee gut findet, schießt weitere 150 Euro hinzu. Montag, 17. Dezember: Vor zehn Tagen ist die FTD zum letzten Mal erschienen. Die Kolleginnen und Kollegen von Gruner und Jahr haben sich langsam daran gewöhnt, dass die Zeitung morgens nicht mehr am Eingang des Verlagshauses ausliegt. Doch heute Morgen stehen wir vor dem Gebäude und reichen jedem, der hineingeht, unsere »Protest Times«, in Farbe und auf lachsfarbenem Papier. Viele gratulieren zu unserer Aktion, einige sind ganz gerührt. »Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich nochmal eine solche Seite zu sehen bekomme«, sagt ein Kollege zu uns. Kaum einer verweigert unser Flugblatt. Binnen zwei Stunden sind fast 2500 Stück verteilt. Den Zeitpunkt unserer Verteilaktion haben wir sehr bewusst ausgewählt. Denn zwei Tage später verhandeln Vorstand und Betriebsrat über unsere Belange. Auch an diesem Tag sind wir präsent. Mit knapp 40 Kolleginnen und Kollegen stellen wir uns vor dem Verhandlungsraum auf, jubeln den Betriebsräten und unseren Anwälten zu und lassen die Arbeitgebervertreter durch eine Gasse eisigen Schweigens marschieren. Viele Festangestellte und auch freie Mitarbeiter unterstützen uns dabei. Kurz nachdem der Personalchef die Tür zum Sitzungsraum geschlossen hat, klopfen wir an und treten ein. Wir verteilen die letzten Exemplare der »Protest Times« und übergeben dem Vorstand unsere Forderungen, die wir auf 15 Seiten ausgearbeitet und begründet haben.

© Janne Grote/elalemelalem.wordpress.com

dex von Gruner und Jahr, den jeder Beschäftigte bekommen hat. Er zitiert die Passage, in der steht, dass es im Unternehmen keine Ausbeutung geben darf. Als er sich wieder hinsetzt, stehen alle anderen auf. Donnernder Applaus, zum ersten und einzigen Mal an diesem Tag Standing Ovations. Nun wissen alle über unsere Situation Bescheid.

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© IG Metall / flickr.com

»Streik ist erlebbare Selbstermächtigung« Das erfolgreichste gewerkschaftliche Kampfmittel befindet sich im Wandel. Bei einer Konferenz in Stuttgart wird im März über seine Zukunft diskutiert. Ein Gespräch mit Organisator David Matrai Interview: Yaak Pabst David, du gehörst zum Vorbereitungskreis der Konferenz »Erneuerung durch Streik«, die vom 1. bis 3. März in Stuttgart stattfindet. Was erwartest du dir von der Konferenz? Die Konferenz bietet Aktiven aus verschiedenen Bereichen die Chance, sich über konkrete Erfahrungen der betrieblichen Mobilisierung auszutauschen: Wie können möglichst viele Kolleginnen und Kollegen einbezogen werden? Wie können Streikbewegungen demokratisch ablaufen? Wie können nach Streiks die Strukturen der Aktiven aufrechterhalten werden? Wenn über diese Fragen ein Austausch stattfindet, einige Schlussfolgerungen verallgemeinert werden und zudem eine Vernetzung über die Konferenz hinaus gelingt – das wäre schon ein Erfolg.

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David Matrai

David Matrai ist Gewerkschaftssekretär im Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen bei ver.di Niedersachsen-Bremen.

Wieso wird der Streik in das Zentrum der Diskussion um Erneuerung gestellt? Gerade in Deutschland finden Ausstände doch nur in Ausnahmefällen statt. Unser Ziel ist es ja, das zu ändern. Die Gangart der Arbeitgeber sowie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen machen dies jedenfalls notwendig, wenn wir etwas durchsetzen wollen. Im Übrigen werden in verschiedenen Bereichen neue Streikerfahrungen gesammelt – etwa im Sozial- und Erziehungsdienst oder bei den Kirchen. Dabei ersetzt die konkrete Erfahrung von Solidarität viele theoretische Debatten: Streik ist erlebbare Selbstermächtigung. Du hast gemeinsam mit anderen die Vernetzung von linken Hauptamtlichen


Ihr habt jetzt schon mehrere Treffen veranstaltet. Was habt ihr in Zukunft vor? Wir wollen weitere Kolleginnen und Kollegen für eine Mitarbeit gewinnen und natürlich linke Positionen in gewerkschaftlichen Diskussionen stärken.

Es geht dabei um mehrere, miteinander zu verbindende Themenfelder: das Eintreten für eine konfliktorientierte Betriebspolitik, für eine offensive Tarifpolitik sowie für eine fortschrittliche und internationalistische Gesellschaftspolitik, zum Beispiel im Rahmen der Antikrisenproteste. Mit Bernd Riexinger ist einer der profiliertesten linken Gewerkschafter neuer Parteivorsitzender in der LINKEN geworden. Bernd hat ja selbst 1991 eine linke Vernetzung von Gewerkschaften gegründet. Welche gewerkschaftspolitischen Impulse erwartest du von Bernd? Bernd bringt erfolgreiche Erfahrungen mit einer demokratischen Streikkultur im ver.di-Bezirk Stuttgart mit. Dort werden Anliegen der Beschäftigten aufgegriffen,

PapyRossa Verlag

gleichzeitig wird die Betriebs- und Tarifarbeit aber auch politisiert und Konflikte werden zusammengeführt. Insofern kann Bernd sicher einen Beitrag leisten, der Diskussion einen politischen und strategischen Rahmen zu geben, auch wenn unsere Vernetzung parteiunabhängig stattfindet. ■

Streikkonferenz Die Konferenz »Erneuerung durch Streik« findet vom 1. bis 3. März im Stuttgarter Gewerkschaftshaus statt. Anmeldung und weitere Infos unter: www.rosalux.de/ streikkonferenz.

| Luxemburger Str. 202 | 50937 Köln

Charlotte Wiedemann: Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben

Werner Ruf: Der Islam – Schrecken des Abendlands

Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt

Wie sich der Westen sein Feindbild konstruiert

Paperback | 185 Seiten 978-3-89438-494-4 12,90 Euro

Paperback | 129 Seiten 978-3-89438-484-5 9,90 Euro

Als langjährige Auslandsreporterin im Iran, in Afrika und Südostasien zeigt Charlotte Wiedemann in diesem Werkstatt-Bericht, wie Journalismus unser Weltbild prägt. Dem Eurozentrismus des Mainstreams setzt sie einen Journalismus entgegen, der Respekt und Information statt kontextloser Nachrichten bietet.

Die Konflikte der Zukunft, so Samuel P. Huntington nach dem Ende der UdSSR, seien solche zwischen Kulturen, von denen eine besonders gefährlich sei: Der Islam. Der einst biologisch begründete Rassismus kommt nun im kulturellen Gewande daher. Die Debatte um Sarrazin und Broder markiert nur die Spitze des Eisbergs.

Tel. (0221) 44 85 45 | Fax (0221) 44 43 05 | www.papyrossa.de | mail@papyrossa.de

SCHWERPUNKT Gewerkschaften IN DER KRISE

in ver.di initiiert. Was waren Deine Beweggründe dafür? Es gibt in ver.di eine wachsende Zahl linker Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretäre, die sich vor Ort für eine konfliktorientierte und mobilisierende Gewerkschaft einsetzen. Eine bundesweite Vernetzung ist notwendig, um diese regionalen Erfahrungen zusammentragen. Darüber hinaus geht es darum, sich bundesweit abgestimmt mit gemeinsamen Forderungen und Initiativen in ver.di einzubringen.

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Thesenpapier

Für einen bewegungsorientierten Wahlkampf Im Herbst findet die Bundestagswahl statt. Fünf Thesen des Netzwerks marx21, wie DIE LINKE ihre Krise überwinden und wieder neue Anhänger gewinnen kann

1.

Das schlechte Ergebnis der LINKEN bei der Niedersachsenwahl zeigt: Die Perspektive eines »Hilfsarbeiters« in einem wie auch immer gearteten »rot-grünen Projekt« überzeugt weder Partei noch Wählerinnen und Wähler.

Das Versprechen, nur mit der LINKEN gebe es einen Regierungswechsel, hat die meisten Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen nicht überzeugt. Selbst diejenigen, die an diese Perspektive geglaubt haben, sind durch die scharfe Absage der SPD an eine Zusammenarbeit demobilisiert worden. Die Nähe von Kanzlerkandidat Peer Steinbrück zu Banken und Konzernchefs hat die Sozialdemokratie in eine Krise gestürzt. Dennoch ist es der LINKEN bei der Landtagswahl in Niedersachsen nicht gelungen, der SPD Wählerinnen und Wähler abzujagen. Im Gegenteil: Sie hat sogar 15.000 Stimmen an die Sozialdemokratie verloren und weitere 17.000 an Bündnis 90/Die Grünen. Offensichtlich war die Argumentation dieser beiden Parteien überzeugender, eine Stimme für DIE LINKE sei wertlos, weil sie eh an der Fünfprozenthürde scheitern würde. Nach BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen fand nun in Niedersachsen die dritte Landtagswahl statt, die gezeigt hat, dass rot-grüne Mehrheiten auch ohne LINKE möglich sind. Die Argumentation, Rot-Grün käme nur mit den Stimmen der LINKEN zustande, ist nicht nur falsch, sondern sie lässt die Linkspartei überflüssig erscheinen. Die Orientierung darauf, vermeintlich Einfluss auf die Politik von SPD und Grünen (ob in oder außerhalb von Regierungskoalitionen) nehmen zu können, ist nicht zielführend. Sie leistet der Illusion Vorschub, DIE LINKE könnte allein durch stärkere parlamentarische Präsenz einen Politikwechsel erzwingen. Doch das ist nicht realistisch. Vielmehr verstärken wir durch die Unterstützung eines rot-

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grünen Lagerwahlkampfes (Abwahl von SchwarzGelb als gemeinsames Ziel der »linken« Parteien) Illusionen in die Politik des »kleineren Übels«. Zudem verleihen wir so indirekt den linken Wahlkampfphrasen von SPD und Grünen eine gewisse Glaubwürdigkeit. Die objektiven Bedingungen sind zurzeit schwierig für DIE LINKE: Die vergleichsweise gute wirtschaftliche Situation Deutschlands stärkt Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Niveau der Arbeitskämpfe und außerparlamentarischen Bewegungen ist gegenwärtig niedrig. Außerdem haben Politiker von SPD und Grünen in der Opposition mehr Raum, linke Reden zu schwingen. Vor allem die Sozialdemokratie kann so den Boden, den sie in den Gewerkschaften an DIE LINKE verloren hat, wiedergutmachen. Doch aus dieser schwierigen Situation befreit sich die Partei nicht dadurch, dass sie sich auf eine Funktionspartei und Mehrheitsbeschafferin für Rot-Grün reduziert. Dass wir SPD und Grüne zu Versprechungen nötigen, die sie nach den Wahlen wieder fallen lassen, genügt weder als Existenzberechtigung für unsere Partei noch motiviert es unsere Mitglieder. Vielmehr muss DIE LINKE ein eigenständiges Profil entwickeln und ihre Alleinstellungsmerkmale in den Vordergrund stellen, ansonsten wird sie im anstehenden Lagerwahlkampf aufgerieben. Alle Argumente für die Bildung eines »linken Lagers« unter Einschluss der LINKEN, das dem bürgerlichen Lager aus CDU und FDP gegenübersteht, haben sich in Niedersachsen als falsch herausgestellt. Wir brauchen eine ganz andere Vision vom Sinn der Partei und der Art des Parteiaufbaus.


2.

Um aus der Krise zu kommen, ist ein Perspektivwechsel notwendig. Will DIE LINKE gesellschaftliche Veränderungen erreichen, muss sie sich langfristig von »Lagerdenken« und Koalitionsarithmetik befreien und stattdessen ihren Fokus auf die Verankerung vor Ort legen.

Wenn der zentrale Fokus einer Partei das Parlament ist, dann sind die 3,1 Prozent, die wir in Niedersachsen erhalten haben, eine Katastrophe. Denn sie stellen das Ende der parlamentarischen Präsenz in diesem Bundesland dar. Wir können die Lage aber auch andersherum betrachten: 116.000 Menschen haben der LINKEN ihre Stimme gegeben – das sind immer noch fast sechsmal so viel, wie die PDS zu ihren besten Zeiten in Niedersachsen erreicht hat. Dieser Wählerschaft stehen gegenwärtig 3000 Mitglieder gegenüber. Das heißt: Auf ein Mitglied kommen 39 Wählerinnen und Wähler. Jetzt steht die Partei vor der Aufgabe, diese passive Unterstützung in ein aktives Verhältnis zu verwandeln. Presseerklärungen und gutes politisches Agieren in den Parlamenten legen die Grundlage für ein politisches Verhältnis der LINKEN zu ihrem Umfeld. Eine dauerhafte Einbindung und Aktivierung unserer Wählerinnen und Wähler wird aber nur durch die alltägliche Arbeit vor Ort gelingen. Wir brauchen eine

3.

kontinuierliche Präsenz der Partei vor Ort, insbesondere durch Veranstaltungen und Infostände. Darüber hinaus müssen wir uns dauerhaft in den lokalen Kämpfen, Initiativen und Bewegungen verankern. Die Palette der Auseinandersetzungen im Stadtteil oder Landkreis ist breit: Sie reicht von gewerkschaftlichen Kämpfen über die wachsende Bewegung gegen Mietwucher und Gentrifizierung bis zu Aktionen gegen Neonazis und dem Kampf gegen Studiengebühren. In diesen Bewegungen sind deutschlandweit Hunderttausende aktiv. Sie erwarten von der LINKEN mehr als ein aufmunterndes Schulterklopfen. Sie wollen, dass die Partei aktive Mitkämpferin wird. Wenn sich DIE LINKE mit diesen Kernen des Widerstands verbindet, hat nicht nur sie eine Zukunft – auch die Bewegungen von unten werden stärker. Das ist die Voraussetzung dafür, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu verschieben. Denn nur so können wir tatsächlich Veränderungen im Sinne der Menschen durchsetzen.

Die Orientierung darauf, sich lokal zu verankern, führt zu einer anderen Art des Wahlkampfs. Er wird so zum Bestandteil einer kontinuierlichen Aufbauarbeit – und ist nicht mehr nur hektisches Plakatkleben ohne bleibenden Effekt. Verbindung mit lokalen Kampagnen, Streiks und Bewegungen das zentrale Element des Wahlkampfes der LINKEN sein. Ansatzpunkte dafür gibt es vielerorts – sei es der Kampf gegen die Schließung des Opel-Werkes in Bochum, der Widerstand gegen die Mietpreisexplosion in Hamburg, das Volksbegehren zur Rekommunalisierung der Energieversorgung in Berlin, die Proteste zur Rückverstaatlichung der Universitätsklinik Marburg/Gießen oder die bundesweite Umfairteilen-Bewegung. Eines sollte uns jedoch bewusst sein: Auch am Ende des bestmöglichen Wahlkampfs mit den tollsten Parolen und Projekten kann ein Ergebnis stehen, das die Mitglieder enttäuscht. Diese Erfahrung hat DIE LINKE im Jahr 2011 in Baden-Württemberg gemacht. Trotz eines aktivistischen Landtagswahlkampfs wurde die Partei von den Grünen überrollt und kam lediglich auf 2,8 Prozent der Stimmen. Der Grund war die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima. Daher ist es wichtig, dass im Prozess der Wahlkampfvorbereitung und im Wahlkampf selber schon Erfolge erzielt werden, die gegebenenfalls auch ein schlechtes Ergebnis überdauern. Das gilt sowohl für Bewegungen und Kämpfe, die auf ein höheres Level gehoben werden können, als auch organisatorisch. Der von der Partei geplante Aktivierungswahlkampf hat die Funktion, dauerhaft den Aktivitätsgrad der Mitglieder zu erhöhen und zugleich neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu gewinnen. Je mehr LINKE-Unterstützerinnen und -Unterstützer sich in den Aktivierungswahlkampf einbringen, desto besser.

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KONTROVERS

Ende November vergangenen Jahres ließ ein Wahlergebnis die europäische Linke aufhorchen: Bei den Gemeinderatswahlen in Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, wurde die KPÖ (Kommunistische Partei Österreichs) mit 19,9 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft. Gegenüber der letzten Wahl konnte sie um 8,7 Prozentpunkte zulegen. Meinungsumfragen lüfteten das Geheimnis des Erfolgs: Für 87 Prozent der KPÖ-Wähler war die Wohnungspolitik für die Wahlentscheidung »sehr« oder »ziemlich wichtig«. Drei Viertel sprachen der KPÖ hier Kompetenz zu – mehr als allen anderen Parteien. Diese Zustimmung war nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Bereits seit zwanzig Jahren widmet sich die KPÖ in Graz dem Thema Wohnungspolitik – und zwar nicht nur auf parlamentarischer Ebene. Die Partei hatte großen Anteil an der Gründung lokaler Mieterinitiativen. Die unterstützte sie nicht nur organisatorisch, sondern auch finanziell, im Wesentlichen aus den Diäten der Gemeinderatsmitglieder. Dadurch gewann die KPÖ jene Glaubwürdigkeit, die sich nun in dem sehr guten Wahlergebnis widerspiegelte. Auch wenn diese Erfahrung sich nicht unmittelbar auf Deutschland übertragen lässt, enthält sie doch eine wichtige Lehre: Linke Parteien erwerben das Vertrauen der Menschen nicht dadurch, dass sie alle vier Jahre Plakate aufhängen, sondern indem sie sich kontinuierlich vor Ort für die Lebensinteressen der Bevölkerung einsetzen, Initiativen anstoßen und unterstützen, um so die Lage hin zum Besseren zu ändern. Deshalb sollte die

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4.

Thesenpapier

DIE LINKE muss die Achillesferse von Sozialdemokratie und Grünen angreifen: deren Unterstützung für Merkels Krisenpolitik. Zentrale Bedeutung haben hierfür Bewegungsprojekte, die sich auf europaweite Kämpfe beziehen, wie zum Beispiel die Aktionen von Blockupy in Frankfurt. Wenn es gelingt, den Widerstand gegen die Krise mit dem Wahlkampf zu verbinden, kann DIE LINKE auch über das Jahr 2013 hinaus profitieren. Die offene Flanke von SPD und Grünen ist ihre Unterstützung für Merkels Eurokurs. Die beiden Parteien stehen hinter den Milliardenpaketen für die europäischen Banken, der sogenannten »Griechenland-Hilfe« und dem hiesigen Spardiktat, das via Schuldenbremse durchgesetzt wird. In diesen Fragen hat DIE LINKE nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal. Hier lässt sich die Glaubwürdigkeit einer »sozialen Wende« von SPD und Grünen angreifen. Mit der Großdemonstration von Blockupy im Frankfurter Bankenviertel am 1. Juni kann es gelingen, die beiden Parteien konkret herauszufordern. Dort müssten sie zeigen, wie ernst ihre Rhetorik gegen die Banken und für europäische Solidarität gemeint ist. Wenn es der LINKEN zudem gelingt, sich – wie bei den erfolgreichen Blockupy-Mobilisierungen im vergangenen Jahr – auf einzelne Kampagnenschwer-

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punkte zu konzentrieren und diese als gesamte Partei mit allen Ressourcen zu unterstützen, wird sie in Zukunft erfolgreicher sein. Auch wenn sich DIE LINKE für Bewegungsaktivisten öffnet und attraktive politische Angebote für Jugendliche und Studierende formuliert, kann sie neue Kraft tanken. Denn für die Demonstrantinnen und Demonstranten im Frankfurter Bankenviertel wird sich die Frage stellen, wie es gelingen kann, hierzulande mehr Menschen und größere Teile der Gewerkschaften für europaweite Solidarität zu gewinnen. Eine wichtige Frage ist, ob Merkel bei der Bundestagswahl scharfen Gegenwind gegen ihre Politik des sozialen Kahlschlags in Europa zu spüren bekommt. Hier spielt DIE LINKE die zentrale Rolle. Mit einem bewegungsorientierten Wahlkampf können wir Aktivistinnen und Aktivisten auch für eine »wahlkampforientierte Bewegung« gewinnen.

An den Punkten, in denen SPD und Grüne mit der LINKEN zumindest verbal in eine Richtung ziehen – etwa bei der Forderung nach der Wiedereinführung der Vermögenssteuer – macht es einen Unterschied, ob reale Kämpfe existieren. Hier besteht für DIE LINKE die Chance, sich ein weiteres Alleinstellungsmerkmal zu erarbeiten.

Im Rahmen der großen Unterschriftenaktion zur Reichensteuer des Bündnisses Umfairteilen kann DIE LINKE bei gemeinsamen Aktivitäten mit dem rot-grünen Milieu nur gewinnen – vorausgesetzt, sie überbietet die beiden anderen Parteien in ihrem Aktivitätsgrad und mit ihren Argumenten. Gerade in SPD-regierten Ländern wird der Widerspruch zwischen den sozialen Versprechungen der Sozialdemokratie und den realen Kürzungen auf Landesebene deutlich. Die Unterschriftenaktion ist auch eine gute Gelegenheit, die Mobilisierung zu den Blockupy-Protesten gegen Bankenmacht und EU-Spardiktat voranzutreiben. Ähnliches gilt für aufkommende Bewegungen. In Rheinland-Pfalz hatte die SPD ihre Kreisverbände

angewiesen, die Arbeitskämpfe der Cinestar-Angestellten zu unterstützen. Ähnliches sollte DIE LINKE auch tun. Es reicht nicht aus, nur verbal gegen Niedriglöhne aufzutreten – große Teile der Bevölkerung müssen in dieser Frage nicht mehr überzeugt werden. Wenn es der LINKEN gelingen würde, sich exemplarisch in zwei oder drei Arbeitskämpfen zu verankern und sie zum Teil einer bundesweiten Kampagne zu machen, dann hätte sie im Wahlkampf ein Alleinstellungsmerkmal. Mit einer solchen Herangehensweise würde sie sich nämlich von der Stellvertreterpolitik von SPD und Grünen unterscheiden. Außerdem wäre sie die einzige Partei, die sich ernsthaft mit dem Widerstand der Betroffenen verbindet. ■

INFO marx21 ist mehr als die Zeitschrift, die ihr in den Händen haltet. Dahinter steht ein Netzwerk von Menschen, die in der Partei DIE LINKE aktiv sind. Mit diesen Thesen möchte marx21 dazu beitragen, innerhalb der LINKEN eine kon56

struktive Debatte über die politische Strategie der kommenden Monate zu führen. Schreibt uns deshalb gerne, wenn ihr euch auch zu Wort melden wollt oder anderer Meinung seid als wir: redaktion@ marx21.de.

Ein ergänzender Lesetipp: Im Mai 2012 hatte unser Netzwerk bereits ein Thesenpapier zur Lage der LINKEN herausgebracht. Es trug den Titel »Neustart zur Bewegungspartei« und findet sich online unter: tinyurl.com/Bewegungspartei.


John Bellamy Foster, Jahrgang 1953, ist Professor für Soziologie an der Universität des US-Bundesstaates Oregon in Eugene und zugleich Chefredakteur der unabhängigen sozialistischen Zeitschrift Monthly Review. Seine Arbeitsschwerpunkte sind politische Ökonomie, Umwelt-Soziologie und marDie hier versammelten Aufsätze Moshe Zuckerxistische Theorie. Aus seinem umfangreichen Werk manns, Wissenschaftler, Bürger Israels und Nacherscheint demnächst im LAIKA Verlag die deutsche komme von Holocaust-Überlebenden, beschäftiAusgabe von The Ecological Revolution: Making gen sich vor allem mit diesem deutsch-jüdischen Peace withund the Planet (2009). Verhältnis, mit den Fragen des Antisemitismus

In seinem leidenschaftlichen Plädoyer für eine bewusste Wahrnehmung des gesellschaftlichen Lebens wirft Žižek zum einen einen kompromisslosen Blick auf die kapitalistischen Demokratien, in denen wir leben, und spricht sich gleichzeitig dafür aus, dem Versuch zu widerstehen, sofort zu reagieren. Žižek plädiert »auf Zeit«, auf jene Zeit, die die Erkenntnis für eine kritische Analyse braucht.

Aufsätze und Gespräche über Juden, Deutsche, den Nahostkonflikt und Antisemitismus

Antizionismus – und sie beschäftigen sich mit der Sicht auf den Nahostkonflikt und der Suche nach Auswegen aus betonierten Feindverhältnissen auf allen Seiten. Moshe Zuckermanns Analysen gehören in die Tradition der Aufklärung und helfen dem kritischen Diskurs wieder auf die Beine.

Brett Clark ist Dozent für Soziologie an der North Carolina State University. Neben zahlreichen Veröffentlichungen hat er zusammen mit Richard York eine Forschungsarbeit zu Stephen Jay Gould, einem bedeutsamen Evolutionstheoretiker und Humanisten vorgelegt. Richard York ist Dozent für Soziologie an der Universität von Oregon in Eugene und Mitherausgeber des vierteljährlich erscheinenden Journals Organization & Environment, einer der führenden internationalen Zeitschriften für ökosoziale Forschung.

Verursachen das Aufkommen des Kapitalismus In Der ökologische Bruch legen die Autoren John Bellamy und sogar dieBrett Zivilisation mehr GewaltYork als sie Foster, Clark und Richard aufverGrundlage eines hüten? Ist Gewalt schon in der eine einfachen Idee marxistischen Ansatzes dichte unddes überzeugende Fremden enthalten, und wo könnte angemesAnalyse zum Klimawandel, zureine Ökologie und zu den „planesene Form von Grenzen“ Gegengewalt heute liegen? tarischen der Erde vor. In seinem leidenschaftlichen Plädoyer für eine Dieses Buch ist eine wertvolle Ressource für alle, die sich bewusste Wahrnehmung des gesellschaftlichen dem ökologischen Zerstörungsprozess der Welt entgeLebens wirft Žižek zum einen einen kompromissgenstellen wollen. losen Blick auf die kapitalistischen Demokratien, in denen wir leben, und spricht sich gleichzeitig dafür aus, dem Versuch zu widerstehen, sofort zu reagieren. Žižek plädiert »auf Zeit«, auf jene Zeit, die die Erkenntnis für eine kritische Analyse braucht. Dem Druck zum Handeln muss man nach Žižek widerstehen, wenn dieses Handeln aus dem Druck der Verhältnisse und nicht aus dem Begriff über die Situation und ihre Lösung kommt. Erst dann ist der Mensch zum wirklichen systemverändernden Widerstand befähigt. So wie Picasso auf die Frage eines erschrockenen deutschen Offiziers beim Betrachten des Bildes Guernica »Haben Sie das gemacht?«, mit dem Hinweis antwortet, »Nein, Sie haben das gemacht«, so antwortet Žižek auf die Reaktionen über die Wut in den Banlieues, dass sie nur Produkt der zerstörenden Politik des Herrschaftssystems sind. Dieser berühmte Philosoph benutzt hohe und einfache Kultur, Kant, Lacan, Witze und das zeitgenössische Kino. Er diskutiert die inhärente Gewalt der Globalisierung des Kapitalismus, des Fundamentalismus und der Sprache in einem Werk, welches seinen Rang als einen der bedeutendsten und radikalsten modernen Denker bestätigt. Dieses Buch wird eine neue Agenda in Bezug auf unser Denken über die Gewalt eröffnen.

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RUDI DUTSCHKE Aufrecht gehen – 1968 und der libertäre Kommunismus

Moshe Zuckermann

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Aufsätze und Gespräche über Juden, Deutsche, den Nahostkonflikt und Antisemitismus Band 1 / 256 Seiten / € 21 / ISBN 978-3-942281-35-5

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KONTROVERS

deutendsten IntellektuelStatesman sprach Žižek ques Derrida 2004 und Rolle des weltweit pron und Kulturtheoretikers etiker Terry Eagleton ist europäischen Vertreter er Kulturtheorie im Allgeker würdigte ihn als einen eit.

Slavoj Žižek/ Costas Douzinas Die Idee des Kommunismus I

Das deutsch-jüdische Verhältnis kann nicht einfach sein. Die deutschen Verbrechen an den Juden werden noch über Generationen hinweg das Verhältnis bestimmen. Das muss man als ein Problem der Deutschen sehen, die sich zu Recht ständig mit der Frage des Antisemitismus beschäftigen müssen. Wie unbegriffen das Problem ist, zeigt sich u. a. in dem teils schlaghaft benutzten Begriff des Antisemitismus, der jede Kritik an der aktuellen Politik Israels tabuisieren will.

Verursachen das Aufkommen des Kapitalismus und sogar die Zivilisation mehr Gewalt als sie verhüten? Ist Gewalt schon in der einfachen Idee des Fremden enthalten, und wo könnte eine angemessene Form von Gegengewalt heute liegen?

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rch seine einflussreiche entwicklung der Psychodas Feld der Populärkulritik. Er selbst bezeichnet arxisten« und »Linksradin gehören der Deutsche der Poststrukturalismus, minismus und die Cultu-

Moshe Zuckermann Wider den Zeitgeist Bd. I Slavoj Žižek Gewalt

der en en die ei- geboren, ist Sozioloana izierender Psychoanalyn 1981 bis 1985 studierte VIII bei Jacques-Alain Milnzösischen Psychoanalyek lehrt an der Universität nternational Director des Humanities an der Uni-

Moshe Zuckermann Wider den Zeitgeist Bd. I

nten nd a-

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Kontrovers Von MIchael Bruns

PRO

NPD-Verbot?

D

★ ★★

MichAel Bruns ist Mitglied des Bundesausschusses der LINKEN.

ie NPD wehrt sich in ihrem Parteiprogramm gegen »einseitige geschichtliche Schuldzuweisungen zu Lasten Deutschlands« und einen »Schuldkult (…) im Dienst fremder Finanzinteressen«, nennt die alliierten Mächte des Zweiten Weltkriegs Kriegsverbrecher und bezeichnet den 8. Mai 1945 als »Tag der Niederlage«. Die Feindbilder des deutschen Nationalsozialismus leben in der NPD weiter. Die Partei ist gefährlich. Sie hat 2011 die DVU durch Fusion aufgenommen und verfügt über großen Einfluss auf zahlreiche freie Kameradschaften in ihrem Umfeld und rechtsterroristische Kreise. Bei einer Razzia im Raum Dortmund wurden im August 2012 NPDWahlplakate bei Mitgliedern von Freien Kameradschaften gefunden. NPD-Mitglieder sollen den NSU, der acht türkischstämmige und einen griechischen Kleinunternehmer ermordete, mit Waffen, Geld und Ausweisen versorgt haben. Die NPD ist der Kopf des Faschismus in Deutschland und muss zerschlagen werden. DIE LINKE kämpft für die Verteidigung und Erweiterung demokratischer Rechte und Freiheiten. Wer eine Welt ohne Krieg, Armut, Ausbeutung und Unterdrückung will, ist kein Verbrecher. Wer möchte, dass Arbeit, Produktion und Reichtum umverteilt und demokratisch kontrolliert werden, wer also mehr Demokratie wagen möchte, der ist kein Menschenfeind. Doch wer wie Nazis Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Abstammung, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder Hautfarbe aus der Gesellschaft ausschließen will, der ist zu bekämpfen. Wir müssen uns dagegen wehren, wenn versucht wird, Nazis und Linke durch den Begriff »Extremismus« gleichsam zu ächten. Manche Linke haben Angst, selber von einem Verbot getroffen zu

werden und fordern deshalb auch kein NPD-Verbot. Ich finde es falsch, aus Angst vor der Wahrheit davonzulaufen, vor der Totalitarismusdoktrin aus Furcht zu kapitulieren oder diese indirekt anzuerkennen. Die NPD darf nicht weiter mit Steuergeldern aufgepäppelt und genährt werden. Sie kassiert jährlich allein 1,3 Millionen Euro aus der staatlichen Parteienfinanzierung. Aber nicht nur ihre Wahlkämpfe, sondern auch die Abgeordneten, Mitarbeiter, Bürgerbüros und Dienstwagen werden aus öffentlichen Töpfen bezahlt. Die Fraktion im Landtag von MecklenburgVorpommern kassiert jährlich 600.000 Euro, die sächsische Fraktion sogar mehr als 1,3 Millionen Euro für ihre braune Parlamentsarbeit. In Sachsen begehrt die NPD zudem die Finanzierung ihrer Stiftung »Bildungswerk für Heimat und nationale Identität.« Die Gelder, die an die VLeute des »Verfassungsschutzes« fließen, stellten die Grundfinanzierung der NPD in Nordrhein-Westfalen sicher, wie der Ex-VMann Wolfgang Frenz im Stern erklärte. Das Abschalten der V-Leute und das Verbot der NPD würden den Nazis den Geldhahn zudrehen. Sie könnte ihre menschenverachtende und völkische Propaganda nicht mehr auf Rechnung der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen verbreiten. Der Alliierte Kontrollrat verbot im Jahr 1945 Hitlers NSDAP. Die Bestimmungen zur »Befreiung des deutschen Volkes von Faschismus und Militarismus« sollen nach Artikel 139 des Grundgesetzes weiter gelten. Faschismus ist keine Meinung sondern ein Verbrechen. In Deutschland gelten auch vor diesem geschichtlichen Hintergrund Einschränkungen für Nazis, die es in anderen Ländern nicht gibt, und die im Kampf gegen Faschisten nützlich sein können. ■

Das Abschalten der V-Leute und das Verbot der NPD würden den Nazis den Geldhahn zudrehen

DEBATTE

WAS IST DEINE MEINUNG? 58


Der »starke Staat« kann sich auch gegen links wenden

Mit diesen beiden Beiträgen ist die Debatte eröffnet. Jetzt bist du gefragt! Sollten wir als Linke ein Verbot der NPD fordern? Sende deine Meinung per E-Mail an: redaktion@marx21.de

Oder schreibe uns per Post: marx21 – Magazin, Postfach 44 03 46 12003 Berlin. Wir freuen uns auf zahlreiche Zuschriften!

★ ★★

Lisa Hofmann ist Mitglied im Landesvorstand der hessischen LINKEN.

KONTROVERS

Damit macht man nicht nur deutlich, dass man die menschenverachtenden Ansichten der Nazis ablehnt, sondern auch dass sie nicht mehrheitsfähig sind. Außerdem nehmen Blockaden den Rechten den Triumph, durch die Innenstädte marschieren zu können. Letztendlich werden wir die Nazis jedoch nur schlagen können, wenn wir soziale Bedingungen schaffen, auf denen ihr Gedankengut gar nicht erst gedeihen kann. Eine weitere Gefahr in der Debatte über das NPD-Verbot besteht in der Konstruktion der »wehrhaften Demokratie«, die ihre freiheitlich demokratische Grundordnung gegen extremistische Gruppierungen verteidigen müsse. Zu diesen Verteidigungselementen gehört neben Parteienverboten auch der Verfassungsschutz. Die Annahme, dass es innerhalb demokratischer Staaten eine politische Mitte und rechts und links davon extremistische Ränder gibt, die eine Gefahr für den Rechtsstaat darstellen und dem entsprechend bekämpft werden müssten, birgt zwei große Gefahren. Die eine besteht darin, die auch innerhalb der politischen Mitte vorhandene rechte und menschenfeindliche Orientierung zu übersehen – oder noch schlimmer: sie in Ordnung zu finden. Dabei sind es diese Einstellungen, die Hetzern wie Thilo Sarrazin erst den nötigen Resonanzboden verschaffen. Zum anderen stellt dieses Modell eine Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus dar, die vermeintlich beide gleichermaßen den Staat bekämpfen wollen. Daher seien auch sie vom Staat zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund kann es passieren, dass man im Kampf gegen Nazis ein starkes Durchgreifen des Staates fordert, sich dieses Vorgehen aber bei der nächsten Gelegenheit gegen die eigenen Organisationen richten kann. So fordern beispielsweise regelmäßig CDU- und CSU-Abgeordnete ein Verbot der Linkspartei. ■

Von LISA HOFMANN

I

mmer dann, wenn sich der Staat gezwungen sieht, etwas gegen rechten Terror und Gewalt zu unternehmen, wird die Forderung nach einem Verbot der NPD auf die politische Tagesordnung gesetzt. Anschließend wird wochenlang in den Medien darüber diskutiert, welcher Teil des Verfassungsschutzes seine V-Männer aus welchen Gründen nicht aus den Strukturen der Nazipartei abziehen kann oder will und wie sich welches Bundesland im Bundesrat zu einem Verbotsverfahren verhalten wird. So geschah es jetzt auch, nachdem das Ausmaß des Terrors des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) bekannt wurde. Allerdings stellt sich gerade bei diesem Vorgehen die Frage, ob der Staat, der jahrzehntelang das Morden und den Terror des NSU geduldet hat, überhaupt ein verlässlicher Partner im Kampf gegen die Nazis ist. Die Landesregierungen, die einem NPD-Verbot zustimmen, haben trotzdem kein Problem damit, antifaschistischen Initiativen die Mittel zu kürzen, sie durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen und ihre Arbeit mittels der sogenannten Extremismusklausel noch weiter zu erschweren. Ein NPD-Verbot würde zwar dazu führen, dass keine Steuergelder in Form von Wahlkampfrückerstattungen mehr in Nazistrukturen flößen. Es würde allerdings nicht viel an dem Bewusstsein der Menschen ändern, die diese Partei aus einer rechten Überzeugung heraus gewählt haben oder Mitglied waren. Diese Menschen werden sich wahrscheinlich eine andere Partei suchen, von der sie annehmen, dass sie ihre Einstellungen vertritt. Politische Überzeugungen lassen sich nicht verbieten. Deshalb ist es effektiver, den Nazis zu zeigen, dass sie in der eigenen Stadt, Schule oder Universität nicht willkommen sind und ihre Aufmärsche mit breiten Bündnissen zu blockieren.

CONTRA

Seit Wochen streiten Politiker verschiedener Parteien darüber, ob ein erneuter Versuch möglich ist, die rechtsradikale NPD zu verbieten. Sollte man auch als Linker ein solches Verbot fordern? Unsere beiden Autoren sind sehr unterschiedlicher Meinung.

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WELTWEITER WIDERSTAND

USA Verkleidet als Guantánamo-Häftlinge stehen Mitglieder von Amnesty International und »Witness Against Torture« Anfang Januar vor dem Obersten Gerichtshof der USA. Sie fordern Präsident Barack Obama auf, das umstrittene Internierungslager zu schließen und so sein Versprechen vom Beginn seiner 60

ersten Amtszeit endlich einzulösen. Auch während der Parade zur erneuten Amtseinführung Obamas versammelten sich in Washington 1700 Demonstranten der »Answer Coalition« mit Schildern und Megafon. Unter dem Slogan »Arbeit statt Krieg« forderten sie ein Verbot der unter anderem in

Pakistan und Afghanistan eingesetzten unbemannten Kampf- und Spionage-Drohnen. Außerdem verlangten sie eine Schuldentlastung für Studierende. Viele müssen sich in lebenslange Schulden stürzen, wenn sie ein Studium absolvieren wollen.


INDIEN

8NEWS 8Kenia

Alle zwanzig Minuten wird in Indien eine Frau vergewaltigt. Doch nach dem Tod einer Studentin regt sich Widerstand gegen die »Rape Culture« Von Kate Davison

© Justin Norman / flickr.com / CC BY-NC-ND

D

ie Studentin Jyoti Singh wurde Opfer einer Gruppenvergewaltigung: Sechs Männer vergingen sich im Dezember an der 23-Jährigen aus Delhi und folterten sie. Zwei Wochen später erlag sie ihren Verletzungen. Als der Fall bekannt wurde, kam es zu Massenprotesten in Indien, die zu einer Inspiration für Frauenbefreiungs-Aktivisten rund um den Globus geworden sind. Hunderttausende gingen während der Protestwellen auf die Straßen, um gegen die »Rape Culture« ein Zeichen zu setzen. In Indien kommt es alle zwanzig Minuten zu mindestens einer Vergewaltigung. Allein im Jahr 2010 wurden landesweit 22.000 Vergewaltigungen angezeigt, 660 im letzten Jahr nur in Delhi. Obwohl es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt, werden vor allem Frauen der unteren Kaste (Dalit), Indigene (Adivasi) und andere Marginalisierte Opfer sexueller Gewalt. Einige Politiker und Teile der Bewegung reagierten mit reaktionären Forderungen. Sie verlangten die Todesstrafe für die sechs Angreifer. Außerdem forderten sie ein härteres Durchgreifen der Polizei. Doch gerade Vergewaltigungen von Festgenommenen und Schutzbefohlenen sind ein großes Problem, auf das Protestierende immer wieder hinweisen. Korruption und institutionalisierter Sexismus in den Reihen der Polizei, der Justiz und des politischen Systems sind ein fruchtbarer Boden für die »Rape Culture«. Die Verurteilungsrate bei Vergewaltigungsfällen ist von 46 Prozent im Jahr 1971 auf mittlerweile nur noch 26 Prozent gefallen. Die Polizei weigert sich nicht nur regelmäßig, in solchen Fällen zu ermitteln, sondern Polizisten begehen häufig selber Vergewaltigungen und belästigen Opfer, die sich trauen, einen solchen

Übergriff zur Anzeige zu bringen. Gegen zwei Mitglieder des indischen Parlaments wurde zuletzt Anklage wegen Vergewaltigung und sexueller Gewalt erhoben. Die Protestierenden beschreiben die Tendenz, die Schuld bei den Opfern zu suchen, als eines der Hauptmerkmale der »Rape Culture«. So wird Frauen beispielsweise regelmäßig vorgeworfen, ihre Angreifer durch ihre Kleidung provoziert zu haben. Im Kontext der rasanten Industrialisierung versucht Indiens Politikerklasse vor allem Arme für die sexuelle Gewalt gegen Frauen verantwortlich zu machen. Premierminister Manmohan Singh warnte vor »herumwandernden Migranten«, »jungen Leuten aus den Dörfern«, die »eine Plage« für die Gesellschaft seien. Westliche Medien verhalten sich ähnlich rassistisch, wenn sie Vergewaltigungen und patriarchalische Verhaltensmuster als typisch indisch darstellen. Dabei zeigen Kommentare von US-amerikanischen Senatoren, die vergewaltige Frauen verantwortlich für ihr Schicksal machen, dass die »Rape Culture« kein exklusiv indisches Phänomen ist. Doch die Proteste haben ebenso wie die internationale Unterstützung, die sie erhalten haben, gezeigt, dass Millionen von Menschen bereit sind, gegen Sexismus und Frauenunterdrückung auf die Straße zu gehen. Die Bewegung schließt so den Bogen zu den vor zwei Jahren von Kanada ausgehenden »Slut Walks« und inspiriert zu Solidaritätskundgebungen in Bangladesch, Pakistan und Nepal bis hin nach Europa und Amerika. ★ ★★ Kate Davison hat Geschichte mit Schwerpunkt auf Sexualität, postkoloniale Themen und Gender Studies studiert. Sie ist Mitglied des Bezirksvorstands der LINKEN in Berlin-Neukölln.

8Türkei Seit über 200 Tagen stehen 305 Luftverkehrsbeschäftigte der Fluggesellschaft Turkish Airlines vor dem Istanbuler Flughafen Streikposten. Den Arbeitern wurde Juni vergangenen Jahres gekündigt, weil sie an einer Protestkundgebung für das Recht auf Streik teilgenommen hatten. Parallel zu den Protesten konnten 26 Beschäftigte bereits per Gerichtsentscheid eine Wiedereinstellung bewirken.

8Spanien Sämtliche Schlossereibetriebe der nordspanischen Stadt Pamplona haben beschlossen, sich nicht mehr an Zwangsräumungen zu beteiligen. Das bedeutet, dass keiner der 15 im Stadtgebiet tätigen Betriebe in Zukunft die Schlösser von geräumten Wohnungen austauschen wird.

Schweiz

Protest Gegen Sparpaket In fünf Schweizer Kantonen protestierten Menschen gegen die Sparpakete der jeweiligen Regierungen. Die Maßnahmen umfassen unter anderem Stellenabbau, Lohnkürzungen und Einsparungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Dagegen gingen im Dezember 1500 Schülerinnen und Schüler in Luzern und rund 1000 Angestellte in Genf auf die Straße. In St. Gallen wehrten sich etwa 5000 Kantonsangestellte gegen geplante Lohnkürzungen und ein Sparpaket in Höhe von etwa 80 Millionen Euro. Einzelne Kantonsparlamente haben bereits angekündigt, ihre Pläne nochmals zu überdenken.

Weltweiter Widerstand

Nicht länger Opfer sein

Krankenschwestern aus dem ganzen Land befinden sich seit Anfang Dezember im Streik. Sie kämpfen für verbesserte Arbeitsbedingungen und Neueinstellungen in den staatlichen Krankenhäusern. Nach einem Ausstand im September hatte die Regierung zwar Verbesserungen zugesagt, ihre Versprechen bislang jedoch nicht eingehalten. Laut Gewerkschaften werden innerhalb der nächsten zwei Jahre 13.000 der rund 50.000 Krankenschwestern in Rente gehen.

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© cfoto / flickr.com / CC-BY

Der Aufstieg des anatolischen Tigers

Seit zehn Jahren regiert in Ankara die konservative AKP. Sie wird von den Profiteuren des türkischen Booms gestützt und von den alten Eliten bekämpft. Eine kurze Einführung in die politische Ökonomie des Landes am Bosporus

Von Dogan Tarkan

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n einem Land wie Deutschland, in dem sich eine Partei 16 Jahre an der Macht halten konnte, erscheint ein zehnjähriges Regierungsjubiläum nicht sonderlich bemerkenswert. In einem Land wie der Türkei ist es aber doch erstaunlich – zumindest, wenn die Partei, um die es geht, der Staatsideologie fundamental entgegensteht. Der türkische Staat ist seit seiner Gründung im Jahr 1923 eng mit einer Person, nämlich Mustafa Kemal Atatürk, und seiner Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, kurz CHP) verbunden. Achtzig Jahre lang waren die CHP und die Staatsideologie des Kemalismus hegemonial. Erst der politische Siegeszug der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, kurz: AKP) nach der Regierungsübernahme im Jahr 2002 setzte mit ihrer Ausrichtung auf die Religion und einer starken wirtschaftlichen Position im Nahen Osten dem etwas entgegen Mit ihrem Programm stößt die im Jahr 2001 gegründete AKP immer wieder auf Misstrauen innerhalb der Türkei. Aber auch das westliche Ausland blickt zumeist kritisch auf Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Partei.

Die Gründung eines islamischen Staates ist nicht das Ziel der AKP

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Dogan Tarkan ist Gründungsmitglied der Revolutionären Sozialistischen Arbeiterpartei (Devrimci Sosyalist İşçi Partisi, kurz DSIP) in der Türkei und Redakteur der Zeitung Socialist İşçi.

INTERNATIONALES

Anhaltender Boom: Istanbuls Skyline schießt in die Höhe. Seit der Regierungsübernahme der AKP hat sich die Wirtschaftskraft der Türkei verdreifacht

Die Erfolgsgeschichte der AKP kann nicht von den strukturellen Veränderungen losgelöst betrachtet werden, die in der Türkei in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben. So ist die Entstehung der Partei eng verknüpft mit dem Aufkommen einer neuen, religiös-bürgerlichen Schicht und dem Entstehen einer intellektuellen Klasse, die sich außerhalb der staatlichen Kontrolle befindet. Nach dem Unabhängigkeitskrieg der Jahre 1919 bis 1923 konnte sich in der jungen türkischen Republik durch wechselseitige ökonomische Abhängigkeiten und gemeinsame politische Interessen ein stabiles Bündnis aus traditionellen Großgrundbesitzern, der neuen Kleinbourgeoisie, Handwerkern und Kaufleuten sowie eine in ihrem Interesse arbeitende Bürokratenschicht entwickeln. Diesen »hegemonialen Block« führte Mustafa Kemals CHP an und die Armee sicherte ihn ab. Aus Interesse an einer raschen nachholenden Industrialisierung wurde ein Entwicklungsmodell etabliert, das dem Staat wichtige Funktionen im Bereich der Kapitalkonzentration und der Investition übertrug. Die CHP war zunächst in der Lage, bedeutsame Reformen in Kultur und Bildung durchzuführen. So konnte sie ihre Hegemonie ausbauen. Zweimal putschte nach dem Zweiten Weltkrieg das Militär, 1960 und 1970, um die Vormachtstellung der CHP zu sichern und die Macht des Staatsapparates und der zivil-militärischen Bürokratie auszubauen. Diese Verbindung von Staatsaufbau und nationalistischer Ideologie wird auch als Kemalismus bezeichnet. Bis zum Ende der 1970er Jahre regulierte der Staat die industriellen Beziehungen in der westtürkischen Großindustrie. Doch ökomische Entwicklun-

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giös geprägte akademische Schicht. Diese trieb unter anderem eine Neuformulierung des Kemalismus sowie die Finanzierung von »alternativen« religiöskonservativen Institutionen in den Medien, der Bildung und Kultur voran. Abseits der wirtschaftlichen und kulturellen Hegemonie des türkischen Staates entstanden also zwei religiös geprägte Gruppierungen, die ihren Einfluss in der Gesellschaft über Jahre hinweg ausbauen konnten. Politischen Ausdruck fand diese Entwicklung im Wahlsieg der AKP im Jahr 2002.

In Stein gemeißelt: Monumentales Portrait des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Auch heute noch wird der Nationalist und Modernisierer von vielen Türken verehrt

Achtzig Jahre lang war die Ideologie des Kemalismus hegemonial

gen brachten bald neue Fraktionen des Bürgertums hervor, welche die CHP außer Acht ließ oder nicht in ihren »hegemonialen Block« integrieren konnte. So setzten sich zunächst zwischen 1950 und 1960 aufsteigende Agrarkapitalisten immer stärker für ein marktliberales Regime ein, während sich seit Ende der 1960er Jahre vor allem ein aufsteigendes industrielles Bürgertum gegen das Entwicklungsmodell der CHP stellte. Den Wendepunkt von einer importsubstituierenden Wirtschaftspolitik hin zu einer marktliberalen Politik leitete letztlich aber erst 1980 ein erneuter Militärputsch ein. Mithilfe der Weltbank und des Internationalen Währungsfond (IWF) trieb die Regierung, als Reaktion auf die internationale Wirtschaftskrise, Prozesse der Marktöffnung und Privatisierung voran. Diese ließen ein neues Bürgertum entstehen, das in den folgenden Jahren an Selbstbewusstsein gewann. So profitierten vor allem klein- und mittelständische Unternehmer aus dem (zentral-) anatolischen Teil des Landes von der vorangetriebenen Marktöffnung. Parallel zur Erstarkung dieses »anatolischen Kapitals« entwickelte sich eine reli64

Seit dem Regierungsantritt der AKP waren zwei Entwicklungen zentral: zum einen die Eindämmung des militärischen Einflusses und des »tiefen« Staats, zum anderen das Voranbringen eines neoliberalen Wirtschaftssystems. Vor allem ging die Partei gegen die »Bevormundung« des Parlamentes durch die Armee vor. So konnte Ministerpräsident Erdogan zunächst seinen gewählten Posten nicht antreten, da er während einer Rede ein Gedicht vorgetragen hatte, durch das sich das Militär angegriffen fühlte. Daraufhin musste er für einige Wochen ins Gefängnis. Auch als die AKP einen Staatspräsidenten aus den eigenen Reihen wählen wollte, empörte sich der »tiefe« Staat und das Verfassungsgericht erklärte die Parlamentsabstimmung zur Bestätigung der Wahl für ungültig. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin Klage und beantragte die Auflösung der AKP. Doch deckte die AKP während dieses Verfahrens auf, dass das Militär bereits Pläne für einen Putsch geschmiedet hatte. Nach und nach wurden bewaffnete Vorbereitungen der sogenannten »Ergenekon«Struktur sowie Putschpläne seitens hochrangiger Generäle bekannt. Die AKP ließ daraufhin eine große Zahl von Generälen, hochrangigen Offizieren und deren zivilen Helfern festnehmen und vor Gericht stellen. Erst vor kurzem wurden mehr als 150 Generäle und Offiziere zu langen Haftstrafen verurteilt. Es wurde publik, dass die Putschisten unter anderem planten, Moscheen zu bombardieren, einen Krieg gegen Griechenland anzuzetteln und allein in Istanbul 100.000 Oppositionelle festzunehmen. Darüber hinaus planten sie Attentate auf nicht-muslimische Minderheiten, einige konnten sie sogar in die Tat umsetzen. So wurden der armenische Journalist Hrant Dink, ein katholischer Priester in Trabzon und ein protestantischer Missionar in Malatya getötet. Mit diesen Aktionen wollte das Militär der Bevölkerung die Islam-Politik der AKP verdeutlichen und Stimmung gegen die religiöse Ausrichtung der Regierungspartei machen. Obwohl der Großteil der Pläne nicht realisiert werden konnte, fanden seit Regierungsantritt der AKP immer wieder Massenveranstaltungen statt, die das Militär aufforderten, »seiner Pflicht« nachzukommen – sprich­: die AKP zu stürzen und den Kemalismus zu bewahren. Die Gegner der AKP stellen die Kategorie »Religion« stets dem Säkularismus innerhalb der staatlichen Bürokratie, der Streitkräfte und der oppositionellen


CHP gegenüber. Zudem stellen sie sie als Antagonismus zur kemalistischen Identität der Türkei dar. Die CHP distanzierte sich nie von den Putschplänen. Im Gegenteil: Zusammen mit den rechten Parteien stellte sie sich – zum Teil sogar öffentlich – hinter die Pläne des Militärs. Aber auch viele linke Gruppierungen unterstützen die nationalistische Linie. Nur einige kleinere Gruppen von Sozialisten (darunter auch meine Organisation, die DSIP) beteiligten sich aktiv am Kampf gegen die militärische Bevormundung und gegen den Putsch.

rungsmaßnahmen. Patienten, die früher stundenlang vor den staatlichen Krankenhäusern Schlange stehen mussten, hatten nun die Möglichkeit, sich gegen ein geringes Entgelt in privaten Kliniken behandeln zu lassen. Doch langsam werden die Auswirkungen der »Reformen« deutlich: Die zunächst recht geringen Behandlungskosten in den Privatklinken steigen gegenwärtig extrem schnell. Im Großen und Ganzen ist die Bilanz von zehn Jahren AKP-Regierung mehr als ernüchternd. Die rigorosen Privatisierungen gingen einher mit dem Abbau des schwachen türkischen Sozialstaats. Auch der im AKP-Programm zentrale Begriff der »Demokratisierung« ist bislang nur eine leere Worthülse geblieben. Der Zypernkonflikt dauert an und der EU-Beitritt ist auf unbestimmte Zeit vertagt worden. Dabei gaben die meisten AKP-Wähler im Jahr 2002 an, die Partei aufgrund der versprochenen Demokratisierungsprozesse unterstützen zu wollen. Auch in der wichtigsten Frage hinsichtlich demokratischer Entwicklungen, der Kurdenfrage, stehen wirkliche Veränderungen noch aus. Vor allem seit den Prozessen gegen die Putschisten hat die AKP angekündigt, große Schritte in Richtung Frieden gehen zu wollen und eine Lösung der Kurdenfrage zu finden. Doch die Lösungsansätze laufen keineswegs linear: Nach jedem Schritt vorwärts ging die Partei wieder einen Schritt zurück. Dem harten Vorgehen gegen die PKK folgt die Bereitschaft zum Dialog und umgekehrt. Auch wenn sich die AKP gegenwärtig wieder dialogbereit gibt, kann man davon ausgehen, dass die bisher ungeklärten Morde an den kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız, Fidan Dogan und Leyla Saylemez in Paris am 9. Januar die Verhandlungen wieder erschweren werden. Eine starke Opposition gegen die AKP ist möglich – allerdings nur, wenn sie gegen jede Form von neoliberaler Politik vorgeht und das Prinzip der Freiheit verteidigt. In der Türkei bedeutet das vor allem die kurdischen Bewegungen und ihren politischen Organe, also die legalen Parteien BDP und DTP, bedingungslos, aber (mit Blick auf die PKK) durchaus kritisch zu unterstützen. Freiheit und Gleichheit können nur mit Hilfe der Arbeiterklasse gewonnen werden. Deshalb müssen die sozialistischen Kräfte in der Türkei, die sich gegen Nationalismus und eine kurdenfeindliche Politik aussprechen, eine politische Alternative zur AKP anbieten. Nur so kann die Regierung Erdogan wirklich erschüttert werden. ■

Die an der AKP geäußerte Kritik, dass sie eine »religiöse« Partei sei oder gar die »Islamisierung« der Türkei vorantreibe, geht am Kern der Sache vorbei. Zwar bilden gläubige Muslime die Basis der Partei, aber die Gründung eines islamischen Staates ist nicht das politische Ziel der AKP. Die Beziehung zur Religion ist bei den Mitgliedern vergleichbar der Haltung von CDU-Anhängern in Deutschland: Sie steht vor allem für eine Rückbesinnung auf konservative Werte. Wenn Kritiker ihr vorrangiges Augenmerk auf die Religion legen, blenden sie dabei völlig aus, dass die AKP die türkische Partei ist, die die gnadenloseste neoliberale Politik durchführt und unverständlicherweise dadurch die meisten Wähler gewinnt. Beispielsweise hat Erdogan zahlreiche »Reformen« im öffentlichen Sektor durchgeführt, sprich: Privatisierungen in den Bereichen Bildung, Erziehung, Gesundheit, Kommunikation und Straßenbau. Zudem hat die Regierung das private Eisenbahnnetz massiv ausgebaut. Nachdem die Türkei zwischen den Jahren 2000 und 2002 in eine Wirtschaftskrise gestürzt war, führte diese Politik zu einem schnellen Aufschwung, einer wachsenden Wirtschaft, zu Stabilität und vermehrten Investitionen. Damit konnte die AKP bei großen Teilen der Bevölkerung punkten. Selbst von der gegenwärtigen Finanzkrise ist die Türkei bisher nicht ernsthaft beeinträchtigt worden. Obwohl das Wirtschaftswachstum etwas gesunken ist, liegt es im europäischen Vergleich noch relativ hoch. Gleichzeitig sank während der Regierungszeit der AKP die Inflationsrate ständig. Der Großteil der Bevölkerung, der während der 1990er Jahre noch eine gewaltige Inflation durchleben musste, ist mit der stablien Wirtschaft und der niedrigen Inflation sehr zufrieden. Die AKP wurde demnach nie ernsthaft für ihre neoliberale Politik kritisiert – gerade auch deswegen nicht, weil das Land ohnehin nie über einen wirklichen Sozialstaat verfügte. Insofern begrüßten viele die Privatisie-

INTERNATIONALES

Eine starke Opposition gegen die AKP ist möglich und nötig

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Jean Ziegler war UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Er erklärt, wer für den Hunger in der Welt verantwortlich ist – und warum man das nicht akzeptieren darf Interview: Peter Wolter »Wir lassen sie verhungern« heißt Ihr neues Buch, Untertitel: »Massenvernichtung in der Dritten Welt«. Wer ist verantwortlich dafür, dass Millionen Menschen jedes Jahr verhungern? Der »World Food Report« der UN sagt: Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, 57.000 Menschen jeden Tag. Von den sieben Milliarden Menschen, die es heute auf der Welt gibt, ist ein Siebtel permanent schwerstens unterernährt. Zugleich stellt der Report aber fest, dass die Weltlandwirtschaft nach dem heutigen Stand der Produktivkräfte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren kann. Anders als noch vor wenigen Jahrzehnten gibt es heute keinen objektiven Mangel mehr. Das Problem ist der Zugang zur Nahrung. Und der hängt von der Kaufkraft ab – jedes Kind, das während unseres Gesprächs verhungert, wird ermordet. Wer also sind die Herren dieser kannibalischen Weltordnung? Da möchte ich zunächst die zehn größten multinationalen Konzerne nennen, die 85 Prozent der 66

JEAN ZIEGLER

Der Schweizer Jean Ziegler war der erste UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und ist heute Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UNMenschenrechtsrates.

weltweit gehandelten Lebensmittel kontrollieren – sie entscheiden jeden Tag, wer isst und lebt, wer hungert und stirbt. Ihre Strategie ist die Profitmaximierung. Können Sie Namen nennen? Die US-Firma Cargill Incorporated hat vergangenes Jahr 31,8 Prozent des weltweit gehandelten Getreides kontrolliert, die Dreyfus Brothers 31,2 Prozent des Reis. Es sind im Wesentlichen vier Mechanismen, die den Hunger verursachen. Zunächst wäre da die Börsenspekulation mit Grundnahrungsmitteln. Seit dem Finanzcrash 2007/08 sind die meisten Hedgefonds und Großbanken auf die Rohstoffbörsen umgestiegen, vor allem auf Agrarprodukte. Wie gehabt wird auch auf diesem Sektor weiter mit Derivaten, »Short Selling« und anderen legalen Finanzinstrumenten gehandelt, um mit Reis, Mais und Getreide astronomische Profite einzufahren. Mais zum Beispiel ist auf dem Weltmarkt in den vergangenen zwölf Monaten um 63 Prozent teurer


Das können in der Dritten Welt aber nur wenige bezahlen… Laut Weltbank müssen 1,2 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar pro Tag leben. Sie hausen in den Slums der Welt: in Manila, Karatschi, MexikoStadt, Sao Paulo. Von dieser winzigen Summe müssen Mütter ihre Kinder ernähren – wenn die Lebensmittelpreise explodieren, verhungern sie. Ein zweiter mörderischer Mechanismus ist der zunehmende Einsatz von Agrartreibstoffen. Allein in den USA wurden

sind es 10.000 Kilo. Der deutsche Bauer ist nicht fleißiger oder klüger als sein afrikanischer Kollege, im Unterschied zu ihm hat er aber Mineraldünger, selektiertes Saatgut, Bewässerung, Traktoren etc. Dem afrikanischen Bauern kann auch sein Staat nicht helfen. Der hat nämlich nur Schulden. An diesem Punkt kommen öffentliche Finanzinstitute wie die Weltbank oder die Europäische Entwicklungsbank ins Spiel. Die sagen diesen Staaten: Baut Eure Schulden dadurch ab, dass Ihr das Ackerland Hedgefonds und Investoren überschreibt. »Landgrabbing« nennt sich das, alleine in Afrika waren es im vergangenen Jahr 41 Millionen Hektar. Diese Investoren haben Kapital, Technik, Transportmittel und Handelsbeziehungen. Sie

Die kannibalische Weltordnung kann gestürzt werden im Jahr 2011 aus hunderten Millionen Tonnen Mais und Getreide Biomethanol und Biodiesel hergestellt. Das Land verbraucht jeden Tag das Äquivalent von 20 Millionen Barrel Erdöl, zwischen Alaska und Texas werden aber nur acht gefördert. Zwölf Millionen Barrel müssen eingeführt werden, aus dem Irak, Nigeria, Zentralasien, Saudi-Arabien und anderen gefährlichen Ländern. Das bedeutet, dass die USA unglaubliche Summen für ihr Militär ausgeben müssen. Obama will daher fossile durch biogene Brennstoffe ersetzen. Aber hunderte Millionen Tonnen Nahrungsmittel auf einem Planeten zu verbrennen, wo alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und der dritte Mechanismus? Das ist die Überschuldung der ärmsten Länder. Von den 54 Staaten Afrikas sind 37 reine Agrarstaaten mit meist geringer Produktivität. Sie haben kein Geld, um in Bewässerung, Agrartechnik oder Dünger zu investieren. Nur 3,8 Prozent der Fläche Schwarzafrikas ist bewässert. Auf dem Rest wird Regenlandwirtschaft wie vor fünftausend Jahren betrieben. In einem normalen Jahr – ohne Krieg, Dürre oder Heuschrecken – wird in der Niger-Sahelzone durchschnittlich 600 bis 700 Kilogramm Getreide pro Hektar geerntet. In Baden-Württemberg hingegen

pflanzen auf diesem Land dann Exportprodukte wie Avocados, Südfrüchte oder Kaffee an. Für die Versorgung der einheimischen Bevölkerung bleibt nichts übrig. Ein vierter Mordmechanismus ist das Agrardumping. Auf jedem afrikanischen Markt können Sie heute frisches Gemüse, Geflügel und Früchte aus Italien, Frankreich oder Deutschland kaufen, je nach Saison um die Hälfte oder ein Drittel billiger als gleichwertige einheimische Erzeugnisse. Afrikanische Bauern haben nicht die geringste Chance, auch nur das Existenzminimum zu erwirtschaften. Das, was die Kommissare in Brüssel anrichten, ist abgrundtief verlogen: Durch ihre Dumpingpolitik erzeugen sie den Hunger in Afrika – und wenn die Hungerflüchtlinge sich nach Europa retten wol-

DAS BUCH Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt (Bertelsmann 2012).

len, werden sie mit militärischen Mitteln brutal ins Meer zurückgeworfen, wo jedes Jahr Tausende ertrinken. Gibt es eine Schätzung, wie viele Menschen durch die Wirtschaftspolitik der entwickelten kapitalistischen Staaten ums Leben gekommen sind? Nach der Statistik des Wirtschafts- und Sozialrates der UN sind vergangenes Jahr 52 Millionen Menschen Epidemien, verseuchtem Wasser, Hunger und Mangelkrankheiten zum Opfer gefallen. Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in wenig mehr als einem Jahr. Haben Sie mit Ihrer Arbeit bei den UN etwas bewegen können? Wohl eher mit meinen Veröffentlichungen. Mein Buch basiert nicht nur auf Statistiken, es ist auch ein Erlebnisbericht, ich habe die Lage in vielen Ländern an Ort und Stelle studiert. Ich kann jetzt genau sagen, wer die Schurken sind, aber auch darauf hinweisen, welche Hoffnungen es gibt. Für die Völker des Südens hat der dritte Weltkrieg längst begonnen. Solange wir schweigen, sind wir Komplizen der Mörder. Che Guevara hat gesagt: »Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse« – und diese Risse werden zunehmend sichtbar! Immer mehr Menschen wird klar, dass diese kannibalische Weltordnung von Menschen gemacht wurde und auch von ihnen gestürzt werden kann. Mit der Mobilisierung der Zivilgesellschaft – ATTAC, Greenpeace, Via Campesina usw. – ist ein neues historisches Subjekt entstanden. Ihr einziger Motor ist der moralische Imperativ. Immanuel Kant hat gesagt: »Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.« Es ist an der Zeit, die mörderischen Mechanismen, die Millionen Menschen durch Hunger töten, auf demokratischem und friedlichem Wege zu brechen. Karl Marx sagte: »Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören.« Der Aufstand des Gewissens in Europa steht bevor. ■ ★ ★★ Das Interview erschien zuerst in der jungen Welt vom 16. November 2012. Diese Fassung ist leicht gekürzt. Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung

INTERNATIONALES

geworden, die Tonne Weizen hat sich auf 272 Euro verdoppelt, der Preis für philippinischen Reis ist regelrecht explodiert: von 110 auf 1200 Dollar.

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NEUES AUS DER LINKEN

LINKE solidarisch mit dem Streik bei Neupack

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eim Verpackungshersteller Neupack in Hamburg und im niedersächsischen Rotenburg herrscht der Unternehmer Krüger wie ein Gutsherr aus dem 19. Jahrhundert. Für die gleiche Arbeit gibt es ganz unterschiedliche Löhne, je nach Laune des Chefs. Mal erhalten fünf Beschäftigte eine Lohnerhöhung, ein anderes Mal nur drei und viele jahrelang gar keiner. Ein Mitarbeiter hat einmal unglaubliche 43 Cent Weihnachtsgeld bekommen. Viele müssen mit 7,80 Euro Stundenlohn auskommen. Aber nicht nur bei den Löhnen wird gespart, auch bei der Arbeitssicherheit gibt es große Mängel. Seit Anfang November streiken deshalb die Beschäftigten für einen Tarifvertrag. Die Landesvorstände und Abgeordnete der LINKEN aus Bremen, Hamburg und Niedersachsen haben sich mit dem Streik solidarisiert. Zusammen mit Streikenden haben Mitglieder der Hamburger LINKEN im Januar vor zwei Edeka-Supermärkten demonstriert. »Hungerlöhne und Willkür bei Neupack müssen ein Ende haben – dafür nehmen wir jetzt auch Edeka und Milram in die Pflicht«, erklärte der Bundestagsabgeordnete der LINKEN, Jan van Aken. Heinz Willemsen

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und120 Menschen haben am 24. November 2012 in Hannover für ein Ende der Bombardierung des Gazastreifens durch die israelische Luftwaffe demonstriert. DIE LINKE. Hannover unterstützte den Protest und stellte Infrastruktur zur Verfügung. Eine junge Muslima postete auf Facebook: »Die Zahl (der Demonstranten; Anm. d. Verf.) war heute nicht wichtig, sondern die Message, die wir rübergebracht haben!«

Magdeburg Nazifrei

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enn die marschieren, werden wir blockieren«, so lautete das Motto des Bündnisses Magdeburg Nazifrei am 12. Januar. Dieser Tag steht für die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg und diente den Nazis als Anlass für ihre Demonstration. Durch die Blockade konnten sie lediglich eine Kundgebung abhalten. Der Preis, den die Gegendemonstranten dafür zahlen mussten, war massive Polizeige-

walt und Repressionen der staatlichen Behörden. Laut dem antifaschistischen Bündnis kam es sogar auf der »Meile der Demokratie«, dem Teil der Gegendemonstration, der sich im Vorfeld nicht klar für eine Blockade ausgesprochen hatten, zu heftigen Übergriffen der Polizei. DIE LINKE hat von Anfang an eine Blockadetaktik gegen die Nazidemonstration unterstützt und überregional mobilisiert. Tobias Paul


Kampf für das kommunale Klinikum in Offenbach Stelle hatte der Regierungspräsident die Rechnung aber ohne die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Offenbach gemacht. Diese wollen keinen Verkauf des Klinikums. Sie befürchten, dass das die Verschlechterung der Gesundheitsversorgung oder sogar die Schließung des Klinikums bedeuten könnte. Unmittelbar nach dem Beschluss der Stadtverordneten gründete sich eine Bürgerinitiative für den Erhalt des kommunalen Klinikums und zur Durchsetzung eines Volksentscheids in dieser Frage. Das Bündnis wird von der LINKEN, den Piraten, Vertretern der Kirchen und Bürgerinitiativen getragen. Anfang dieses Jahres gelang es

der Bürgerinitiative mit vielen Unterstützern und aufsehenerregenden Aktionen wie dem Sammeln von Unterschriften bei einem Pokalspiel der Kickers Offenbach, trotz klirrender Kälte genügend Unterschriften für ein Bürgerbegehren zu sammeln. Damit konnte die BI deutlich zeigen, dass die Offenbacher Bürgerinnen und Bürger ein Klinikum in öffentlicher Hand wollen. Nun muss die Stadtverordnetenversammlung über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens entscheiden. Die Bürgerinitiative für den Erhalt des Klinikums wird auch den weiteren Weg des Verfahrens mit Aktionen und Protesten begleiten. Lisa Hofmann

Erfolg gegen Studiengebühren

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Augen auf bei der Berufswahl

ayern und Niedersachsen sind die einzigen Bundesländer, die noch Studiengebühren verlangen. Im Freistaat müssen Studierende gegenwärtig 500 Euro pro Semester zahlen. Für die Abschaffung der Gebühren formierte sich ein breites gesellschaftliches Bündnis und führte ein erfolgreiches Volksbegehren durch. Weit mehr als 1,3 Millionen Wählerinnen und Wähler haben im Januar gegen Studiengebühren unterzeichnet. Damit ist

der Weg frei für einen Volksentscheid. Auch DIE LINKE war Teil des Bündnisses. Höhepunkt der Kampagne war eine Kundgebung am 26. Januar mit Gregor Gysi und Nicole Gohlke auf dem Marienplatz in München. Trotz Minustemperaturen versammelte sich eine beachtliche Menge und strömte danach zum Unterschreiben ins Rathaus. Carla Assmann

MACH MIT! Die Rubrik »Neues aus der LINKEN« lebt von der Mitarbeit der marx21Leser. Die Redaktion kann nicht überall sein – aber das Magazin und seine Leser schon. Auf dieser Doppelseite wollen wir über interessante Aktionen und Kampagnen der LINKEN berichten. Mach mit und Schicke Deinen Beitrag an: redaktion@marx21.de.

Nicht nur Offiziere und hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft nahmen an der Eröffnung des neuen Bundeswehrlogistikzentrums in Erfurt teil, sondern auch Friedensaktivistinnen und -aktivisten sowie die Genossinnen und Genossen der Erfurter LINKEN und des Jugendverbandes ['solid]: Sie machten mit einer spontanen Protestkundgebung vor den Toren des Zentrums auf den »Arbeitgeber Bundeswehr« aufmerksam.

Bürgerbegehren gegen Streichkonzert DIE LINKE kämpft zusammen mit Essener Bürgerinnen und Bürgern für den Erhalt kultureller Bildungseinrichtungen wie der VHS Essen oder dem Haus der jüdischen Kultur. Durch die Schließungen sind insgesamt 690 Arbeitsplätze bedroht. Die Bürgerinitiative kulturgutEssen sammelt bis Ende Februar Unterschriften zur Initiierung eines Bürgerbegehrens.

NEUES AUS DER LINKEN

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ie Stadt Offenbach am Main ist pleite und das städtische Klinikum haushoch verschuldet. Kurz vor Weihnachten wurden die Stadtverordneten Offenbachs vom zuständigen Regierungspräsidenten dazu gezwungen, ein Verkaufsverfahren für das Klinikum einzuleiten. Die Finanzaufsichtsbehörde verweigerte einen Weiterbetrieb des Klinikums in öffentlicher Hand: Werde der Konzern nicht privatisiert, drohe die sofortige Insolvenz. Vor diese Wahl gestellt, entschieden sich die Stadtverordneten mehrheitlich für einen Verkauf des Klinikums. An dieser

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»Wir Frauen müssen doppelt kämpfen« Seit über hundert Jahren wird am 8. März der Internationale Frauentag begangen. Auch Gisela Kessler kämpft seit langer Zeit für die Rechte von Frauen. Im Interview erklärt sie, warum Emanzipation mehr ist als Gleichberechtigung mit dem Mann

Gisela Kessler

Interview: Stefan Bornost Gisela, du warst viele Jahre als Gewerkschafterin tätig. Was waren die wichtigsten Erfolge und Sternstunden deiner Arbeit? Manches sieht Mann oder Frau erst im Rückblick klarer. Heute bin ich der Meinung, dass es einer unserer zentralen Erfolge war, dass sich die Kolleginnen in unserer Organisation durch Bildungsarbeit und in gemeinsamen Aktionen, Kämpfen und Streiks in ihrer Persönlichkeit weiterentwickelt haben. Wir hatten das Glück, in der IG Druck und Papier eine Kampf- und Widerstandsorganisation zu finden und haben als Frauen nicht wenig dazu beigetragen, dass dies auch so blieb. Die Frauenstrukturen haben wir schrittweise zu einem Wechselspiel zwischen Autonomie und Integration entwickelt. Unser strategischer Ausgangspunkt war der Betrieb. Dort trifft der Interessengegensatz von Kapital und Arbeit am unmittelbarsten aufeinander. Solidarisches Handeln zur Gegenmacht muss stets neu entwickelt werden. 70

Gisela Kessler war von 1971 bis 1991 Frauensekretärin im Hauptvorstand der IG Druck und Papier, später der IG Medien. Bis 1995 war sie zudem stellvertretende Vorsitzende ihrer Gewerkschaft. Im Jahr 1979 organisierte sie die Solidaritätsbewegung mit den »Heinze-Frauen«. Heute ist Gisela Kessler stellvertretende Vorsitzende des Ältestenrates der LINKEN.

Was die Kolleginnen angeht, würde ich gerne eine Journalistin zitieren, die unsere Bundesfrauenkonferenz beobachtet hat. Sie überschrieb ihren Artikel: »Eine unnachahmliche Mischung aus Phantasie, Heiterkeit, Frechheit, Erfahrung, Wissen, gelebter Solidarität und harter Arbeit«. Zu den Sternstunden: Das war fraglos die bundesweite Solidaritätsbewegung mit den Heinze-Frauen Anfang der 1980er Jahre, die erfolgreich entlang aller Instanzen bis zum Bundesarbeitsgericht gegen Lohndiskriminierung gekämpft haben. Eine Frauenforscherin der Universität Bonn betrachtet das heute als »einen der bedeutendsten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik«. Offensichtlich unterscheidet sich das Leben heutiger Frauen grundlegend von dem ihrer Mütter und Großmütter. Erwerbstätigkeit ist zum Beispiel die Regel, nicht mehr die Ausnahme. An den Universitäten studieren mehr Frauen als Männer und Deutschland wird von einer Frau regiert. Sind die wesentlichen Ziele der Emanzipationsbewegung erreicht?


In der Frauenbewegung wird immer wieder über das Verhältnis von sozialer Befreiung und Frauenbefreiung gestritten. Du hast dich dafür stark gemacht, die Geschlechterfrage mit der Klassenfrage zu verknüpfen. Warum?

Vorab: Ich bin aus voller Überzeugung Mitglied der Strömung Sozialistische Linke. Was dort gesagt und geschrieben ist, entspricht meiner langjährigen Erfahrung als Gewerkschafterin. In der Gründungserklärung heißt es unter anderem, dass wir einen neuen Anlauf unternehmen wollen, »um die Herrschaft des Kapitals zu überwinden«. Außerdem verstehen wir uns als »realistisch, kritisch, radikal und klassenorientiert zugleich«. Was die Frauenfrage angeht, so lesen wir etwa bei den Frauen der Europäischen Linken, dass es eine Verschränkung von Klasse und Geschlecht im Le-

on, ohne die im Übrigen noch keine Befreiungsbewegung ihre Heterogenität hat überwinden können…«. Was aber heißt das für unseren politischen Alltag? Wir Frauen müssen doppelt kämpfen, einerseits mit allen Lohnabhängigen zusammen gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Sozialund Demokratieabbau und gegen Krieg – andererseits mit den Frauen zusammen gegen soziale, sexuelle und kulturelle Unterdrückung. Und wenn wir mit Clara Zetkin weiterhin sagen »die Frauenfrage ist ein Teil der sozialen Frage«, dann verstehen wir darunter die Zusammenfassung von all dem.

Frau-Sein bedeutet in verschiedenen Klassen Unterschiedliches benszusammenhang von Frauen und Männern gibt. Nun wollen wir doch wissen, wie sich das konkret verhält. Und da sind wir auf eine Untersuchung zu »Klasse und Geschlecht« gestoßen. Die beiden Autorinnen Margareta Steinrücke und Petra Frerichs kritisieren darin, dass vielen Untersuchungen ein Erklärungsansatz gemeinsam ist: Menschen werden nur auf ihre Eigenschaft, Männer oder Frauen zu sein, reduziert. Damit wird von anderen, für sie möglicherweise bedeutsameren Eigenschaften, wie Angehörige einer bestimmten Klasse zu sein, abstrahiert. Aus dem Blick geraten dabei spezifische Unterdrückungserfahrungen von Frauen verschiedener Klassen, sowie die Solidarität von Frauen und Männern einer Klasse, wenn sie gemeinsam gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Not auftreten. Nun kann ich hier nicht die gesamte Untersuchung erläutern. Wichtig ist das Ergebnis: Die Autorinnen sagen, dass wir auf keinen Fall von einem einheitlichen und damit solidarisierungsfähigen Großsubjekt »Frau« ausgehen können. Frau-Sein bedeutet in verschiedenen Klassen Unterschiedliches. Und – das ist wichtig für uns – »dazu bedarf es«, so schreiben sie, »diskursiv strukturierter Zusammenhänge von Frauen und der politischen Organisati-

Was gibst Du der LINKEN für ihren Kampf gegen Frauenunterdrückung mit auf den Weg? Genau das! Es geht um emanzipatorische Forderungen, die gleichzeitig mobilisierungsfähig sein müssen – also Kristallisationspunkte, in denen sich wie in einem Brennglas gebündelt Diskriminierung, Unterdrückung, Abhängigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse spiegeln. Aber es geht auch um kreative Aktionsformen, die die Entwicklung der Solidarität fördern und damit dem neoliberalen Denkgift entgegenwirken. Die Frauen der LINKEN brauchen freilich auch Bündnispartnerinnen und Bündnispartner. Wie wäre es zum Beispiel mit Betriebsrätinnen? Davon gibt es über 50.000 und bestimmt – mir fehlen die genauen Zahlen – noch einmal so viele Personalrätinnen. Sie alle sind, wenn sie Frauendiskriminierung aufgreifen, Grenzgängerinnen zwischen den Klassen- und Geschlechterverhältnissen und zwar am unmittelbaren Ort des Geschehens. Die Frauen der Sozialistischen Linken haben sich vorgenommen, an all diesen Herausforderungen weiterzuarbeiten. Und das ist gut so. ■ ★ ★★ Bei diesem Text handelt es sich um die leicht überarbeitete und gekürzte Version eines Interviews, das erstmalig im Februar 2008 in marx21 erschienen ist.

INTERNATIONALER FRAUENTAG

Zweifellos gibt es Fortschritte, etwa im gewachsenen Selbstbewusstsein der Frauen, im fortschreitenden Bildungsstand oder der größeren ökonomischen Unabhängigkeit vom Mann. Aber die sind nicht wie Geschenke vom Himmel gefallen. Die meisten Fortschritte sind das Ergebnis von Kämpfen, in die sich Frauen zunehmend eingemischt haben, in den Betrieben, als Betriebs- und Personalrätinnen, in den Gewerkschaften, in den Parteien und der Politik, auf Demonstrationen, bei Streiks. Es gibt jedoch auch Rückschläge. Schauen wir doch mal genau hin, wie sieht es aus mit der Erwerbstätigkeit von vielen Frauen? Dort haben prekäre Arbeitsverhältnisse erheblich zugenommen: Leiharbeit, Zeitarbeit, befristete Beschäftigung, erzwungene Teilzeitarbeit, Mini- oder Midi-Jobs, von Hartz IV ganz zu schweigen. Für immer mehr Menschen wird die Existenzsicherung unter Vorbehalt gestellt. Die Verunsicherung reicht hinein bis in die lohnabhängigen Mittelschichten. Millionen Menschen können nicht mehr von ihrer Arbeit leben. Die Arbeits- und Rentenzeit wird verlängert statt verkürzt, Kinderarmut grassiert, Beruf und Familie sind für viele nicht vereinbar. Da fragst du, ob die Ziele der Emanzipationsbewegung erreicht sind? Was heißt denn überhaupt Emanzipation? Ich habe gelernt, dass es ein Prozess oder eine Bewegung zur Befreiung ist, zur Befreiung von Fesseln. Es geht um mehr als die Gleichberechtigung mit dem Mann. Emanzipation hat etwas gesellschaftlich Anderes zum Ziel, etwas, das über den Kapitalismus hinausweist. Es geht um die Überwindung der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Es geht um Individualität – nicht Individualismus –, also um die Freiheit des Individuums, sicher auch um die ökonomische Unabhängigkeit der Frau vom Mann, ebenso um die Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, und um eine Welt ohne Gewalt und Krieg.

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SERIE: WAS WILL MARX21?

Keine Schreibtischtäter Mit der Serie »Was will marx21« möchten wir die politischen Grundlagen unseres Netzwerkes vorstellen. Diesmal fragen wir: Welchen Stellenwert hat Theorie für die politische Praxis? Teil 15 der Serie

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n der letzten der »Elf Thesen über Feuerbach« schrieb Karl Marx, die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es käme aber darauf an, sie zu verändern. Der große Denker Marx als Feind der Theorie? So scheint es im ersten Moment. Betrachtet man jedoch die Thesen in ihrer Gesamtheit, dann enthüllt sich der wahre Sinn der berühmten elften These. Marx forderte nämlich die Einheit von Theorie und Praxis als »praktisch-kritische Tätigkeit«. In dieser Tradition stehend be72


zeichnete der italienische Sozialist Antonio Gramsci Jahrzehnte später das Zusammenspiel von Erkenntnis und Theorie als »Philosophie der Praxis«. Marx wusste, dass eine Veränderung der Gesellschaft nicht ohne das gewissenhafte, sorgfältige Studium der Geschichte und Gegenwart möglich ist. Nach dem Motto »Know your enemy« (»Kenne deinen Feind«) ging es ihm darum, die Bewegungsgesetze des Kapitalismus und seine inneren Widersprüche zu analysieren, um das System besser bekämpfen zu können. Das Studium der bürgerlichen Gesellschaft sollte aufzeigen, wie sich dort die Interessen des Kapitals durchsetzen. Zugleich sollte es aber auch deutlich machen, was das für die Durchsetzungsmöglichkeiten der Bedürfnisse der unteren Klassen bedeutet. Anders als viele Sozialisten seiner Zeit begnügte sich Marx nicht damit, ein besseres »alternatives« Weltbild zu entwerfen und die Menschen dazu zu bekehren. Das wissenschaftliche Studium der Gesellschaft sollte letztlich dazu dienen, Ansatzpunkte und Perspektiven für die praktische Intervention zum Sturz des Kapitalismus zu entwickeln. Ein solches theoretisch angeleitetes Handeln kann nicht allein am Schreibtisch entwickelt werden. Die großen Theo­retiker des Marxismus waren ausnahmslos Menschen der Tat, die Zeit ihres Lebens für die Organisierung der Arbeiterklasse als unabhängige politische Macht gekämpft haben. Selbst wenn sie äußere Umstände oder die Verfassung größerer theoretischer Werke zwangen, längere Zeit in Bibliotheken oder im Arbeitszimmer zu verbringen, waren sie keine »Schreibtischtäter«. Sie verfassten ihre Schriften als Teil eines kollektiven politischen Körpers – meist im Rahmen von Parteien – deren Aufgabe die gesellschaftsverändernde Praxis war. Marx und Engels waren persönlich und organisatorisch eng mit der Arbeiterbewegung ihrer Zeit verbunden. Sie verstanden sich als Lernende der Klassenkämpfe. Dementsprechend widmeten sie sich in Zeiten des Niedergangs von Bewegungen stärker der Erforschung des Kapitalismus als in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe. In solchen Phasen standen eher Fragen zu aktuellen Auseinandersetzungen im Mittelpunkt ihrer Analysen und Interventionen. Ihre Theorie der politischen Machteroberung konkretisierten Marx und Engels erstmals nach den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871. Für Marx stellte die Kommune »die endlich entdeckte politische Form« dar, »unter der sich die ökonomische Befreiung der Arbeit vollziehen konnte«. Aus seinen Beobachtungen zog er weitreichende Schlüsse

für die künftige Strategie der Arbeiterbewegung und scheute sich dabei nicht, auch eigene alte »Gewissheiten« in Frage zu stellen. »Nach den praktischen Erfahrungen der Pariser Kommune«, schrieb er im Jahr 1872, sei das Programm des Kommunistischen Manifests von 1848 »stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, das die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann.« Auch ein großer »Praktiker« wie Lenin hat mehrmals mit theoretischen Schriften in die Klassenkämpfe des zaristischen Russlands eingegriffen. Zentral für seine Intervention während der Revolution von 1917 war das Studium der Werke von Marx und Engels, die er in seiner Schrift »Staat und Revolution« (1917) eindringlich zusammenfasste und dem reformistischen Kurs der Sozialdemokratie entgegenstelle. Darüber hinaus war es von entscheidender Bedeutung, dass Lenin und seine Partei, die Bolschewiki, in der Lage waren, aus den Kämpfen nach Marx’ Tod neue Lehren für die revolutionäre Strategie zu ziehen. So hatte eine erste Revolu­tion in Russland im Jahr 1905 mit den dort entstandenen Arbeiterräten ein neues Organisationsmodell der proletarischen Gegenmacht auf die Tagesordnung gesetzt. Diese Erfahrung spitzte Lenin 1917 in der Losung »Alle Macht den Räten!« zu und wies damit auf die Notwendigkeit hin, über die bürgerlich-parlamentarische Staatsform hinauszugehen. Ähnlich war es bei Rosa Luxemburg: Ihre Streitschrift über den Massenstreik als moderne Kampfform des Proletariats ist im Wesentlichen eine Theoretisierung der Erfahrungen aus der Russischen Revolution von 1905, an der sie selber in Warschau teilgenommen hatte, das damals zum Zarenreich gehörte. Die Broschüre »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« (1906) hat in ihren Aussagen über die Dialektik von politischen und ökonomischen Kämpfen bis heute kaum an Aktualität verloren, wie beispielsweise der bisherige Verlauf der ägyptischen Revolution zeigt. Man könnte weitere Beispiele hinzufügen, etwa Leo Trotzkis Schrift »Die permanente Revolution« (1929) oder Georg Lukács’ Aufsatzsammlung »Geschichte und Klassenbewusstsein« (1923, siehe auch die Rubrik »Klassiker des Monats« in diesem Heft). Auffällig ist, dass wesentliche theoretische Durchbrüche oftmals mit einem hohen Niveau von gesellschaftlicher Bewegung und Klassenkämpfen einhergehen – reale Kämpfe werfen Fragen auf, auf welche

WAS WILL MARX21?

Marx und Engels verstanden sich als Lernende der Klassenkämpfe

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★ ★★ WEITERLESEN Alex Callinicos: Die revolutionären Ideen von Karl Marx (VSA 2011).

die »Theoretiker« Antworten suchen. So verstanden kann man die marxistische Theorie auch als Kompass im Klas­senkampf sehen. Ohne diesen Kompass verlieren die politischen Akteure an der nächsten Weggabelung schnell die Orientierung. Umgekehrt wachsen ihr Selbstbewusstsein und ihre Zielgenauigkeit mit Hilfe dieses Kompasses. Aber im Unterschied zur Natur, in der die Pole feststehen, bedarf dieser Kompass der ständigen Justierung. Deshalb genügt es auch nicht, die Klassiker des Marxismus zu studieren und ihre Lehrsätze anzuwenden. Der Marxismus ist kein starres System von Dogmen, die, einmal formuliert, auf alle Fragen eine Antwort geben können. Das hängt damit zusammen, dass der Kapitalismus selbst ein höchst dynamisches – und zugleich zerstörerisches – Produktionsverhältnis ist, das in seiner mittlerweile gut vierhundertjährigen Geschichte immer neue Epochen durchlaufen hat, die sich von den vorangegangenen in wichtigen Charakteristika unterschieden. Diese neuen Epochen sind sowohl von alten, weiter bestehenden als auch von neuen Widersprüchen gekennzeichnet. Zudem werfen sie stets neue Fragen auf. Allein das 20. Jahrhundert lieferte als »Zeitalter der Extreme« viele Phänomene, die Sozialisten vor ganz neue Herausforderungen stellten: etwa die beiden Weltkriege, Faschismus und Holocaust, der Aufstieg und Fall der Russischen Revolution, der Kalte Krieg oder der Wandel der Arbeiterklasse durch den wachsenden Dienstleistungssektor. Deshalb ist eine stete Theoriearbeit wichtig, die es erlaubt, die gesellschaftliche Realität des Kapitalismus zu durchdringen und zu erfassen. Sie soll kein Selbstzweck sein, sondern zur Neujustierung unseres Kompasses für den heutigen Klassenkampf dienen. Die wichtigsten theoretischen Fragen stehen dabei meist im Verhältnis zu den wichtigsten Fragen der politischen Praxis – aktuell beispielsweise wenn es um das Verhältnis von marxistischer Krisentheorie zur Frage nach der Euro-Rettung geht. Ähnliches gilt etwa auch für eine Analyse der Ursprünge von Frauenunterdrückung und den sich daraus ergebenden Perspektiven für die Frauenbefreiung. Sorgfältige und wissenschaftliche Analysen sind kein geistiger Luxus, sie sind unverzichtbar für die Entfaltung erfolgreicher Klassenkämpfe zur Überwindung des Kapitalismus. Ein »richtiges« Verständnis der Entwicklungstendenzen des modernen Kapitalismus ist die Voraussetzung für erfolgreiche Intervention handelnder Kollektive.

Der Marxismus ist kein starres System von Dogmen

Theorielose Praxis und praxislose Theorie sind weit verbreitet und unser Anspruch, Theorie und 74

Praxis zusammen zu bringen, ist nicht immer einfach einzulösen. Doch praxislose Theorie, etwa als akademische Auseinandersetzung über eine korrekte Textexegese von Marx’ Schriften entstellt den Marxismus. Eine theorielose Praxis ist zwar sympathischer, gerade weil spontane Aktionen immer bis zu einem gewissen Grad theorielos sind. Aber: Spontaneität kann zwar Türen aufstoßen, aber erfolgreich werden Kämpfe erst durch den Übergang zum bewussten Handeln. Alle großen Revolutionen der letzten Jahrhunderte haben als spontane Kämpfe begonnen. Erfolgreich waren aber nur solche, die von der spontanen Rebellion zum theoretisch geleiteten, planmäßigen Handeln übergingen.

Als handelndes Kollektiv sieht es das marx21-Netzwerk daher als wichtige Aufgabe an, die Aneignung und Entwicklung von Theorie zu fördern. Es geht darum, »organische Intellektuelle« (Gramsci) herauszubilden. »Organisch« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es nicht um die Ausbildung privilegierter Experten geht, sondern um die intellektuelle »Bewaffnung« der Subalternen selbst. Es reicht nicht aus, wenn lediglich eine Minderheit der Aktivistinnen und Aktivisten über theoretisches Wissen verfügt. Ein Kernelement der Tradition des Sozialismus von unten, in der marx21 steht, ist das Ziel der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse, die nicht stellvertretend durch Berufspolitiker erfolgen kann. Selbstermächtigung der Aktivistinnen und Aktivisten bedeutet, ihnen das theoretische Rüstzeug zu liefern, um eigenständig in den Debatten und Kämpfen argumentieren und handeln zu können. Das bedarf einer bewussten Anstrengung, denn häufig kommt in der tagtäglichen politischen Praxis (Infostände, Demonstrationen oder Wahlkämpfe) die Beschäftigung mit der Theorie zu kurz. Aufgrund dieser Erfahrung hatte beispielsweise die revolutionäre Black Panther Party aus der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung im Jahr 1969 in ihren »Parteiregeln« formuliert, dass jeder Vollzeitaktivist »mindestens zwei Stunden am Tag lesen muss, um politisch immer auf dem neuesten Stand zu sein«. Die Umsetzung wurde zwar nicht ernsthaft überprüft und oft wurde die Forderung von den Aktivistinnen und Aktivisten ignoriert, aber der Anspruch war richtig formuliert. Die Panthers organisierten Lesekreise und Diskussionsveranstaltungen, um das theoretische Wissen ihrer Mitglieder zu heben. Daran gilt es auch heute wieder anzuknüpfen, denn ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis. ■


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WAS WILL MARX21?


Was macht Marx21?

SAVE THE DATE

marx21-Netzwerk

Bundesweite Unterstützerversammlung

Auf in den Betrieb

Frankfurt | 23. - 24.02.2013 ★ ★★

Für eine erfolgreiche linke Politik müssen Partei und Gewerkschaften zusammenarbeiten. Doch wie setzt man das um? Ein Seminarwochenende brachte erste Vorschläge

A

m letzten Novemberwochenende des Jahres 2012 veranstaltete marx21 in Berlin zum ersten Mal ein Seminar zur Gewerkschaftspolitik. Die zweitägige Veranstaltung begann mit einer Debatte über die Möglichkeiten einer linken Intervention in die Gewerkschaften. Bisher wurde das Thema Gewerkschaftspolitik noch zu wenig innerhalb des Netzwerkes diskutiert, weshalb zunächst der Austausch von Erfahrungen und eine theoretische Aufarbeitung des Themas anstanden. Genossinnen und Genossen berichteten unter anderem aus den 1970er Jahren, in denen sie an der Universitätsklinik in Hannover eine sozialistische Betriebsgruppe aufgebaut hatten. Doch das zentrale Ziel des Wochenendseminars war es, sich innerhalb des Netzwerkes darüber zu verständigen, wie sich marx21 in Zukunft positionieren soll, welche Schritte als nächstes folgen sollen und welche Beiträge konkret geleistet werden können. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschlossen auch schon erste Aktionen, zum Beispiel eine gemeinsame Mobilisierung für die Konferenz »Erneuerung durch Streik« von ver.di Stuttgart und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die am ersten Märzwochenende in Stuttgart stattfindet. 76

So wurde diskutiert, wie eine bessere Vernetzung kämpferischer Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aussehen könnte – und welche Rolle dabei die Partei DIE LINKE und ihre Strukturen spielen. Weitere marx21-Treffen in anderen Städten sollen das Thema im Netzwerk präsenter machen. Zudem bieten solche regionalen Treffen die Möglichkeit, interessierten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern ein Angebot für weiterführende Diskussionen vor Ort machen zu können. Das Gewerkschaftspolitik-Wochenendseminar soll nun regelmäßig einmal im Jahr stattfinden, immer in der zweiten Jahreshälfte. Außerdem wurde angeregt, auf dem Kongress »Marx is' Muss« ein Vernetzungstreffen linker Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter anzubieten. marx21 ist ein breites und offenes Netzwerk innerhalb der LINKEN. Eine stärkere Einbindung kämpferischer Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und die Ausarbeitung einer gemeinsamen Position sind mehr als notwendig. Wenn ihr Lust habt, euch an diesem Prozess zu beteiligen, oder einfach nur Fragen zu der marx21- Vernetzung von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern habt, könnt ihr euch gerne bei Lisa Hofmann melden: lisa.hof@gmx.de. ■

KONGRESS

MARX IS MUSS

Berlin | 09. - 12.05.2013 ★ ★★

DEIN MAGAZIN DEIN FORUM

Du möchtest vor Ort eine Veranstaltung zu einem in diesem Magazin angeschnittenen Thema organisieren und brauchst Unterstützung? Wir wollen und können helfen – mit einem Griff in unser Artikelarchiv, durch Literatur, und wenn möglich mit ReferentInnen. Kontaktiere uns unter redaktion@marx21.de oder 030/89562510 und wir schauen, was wir gemeinsam auf die Beine stellen können.


Aktiv und überzeugend

TERMINE

Zum Jahresanfang kamen die Berliner Unterstützer des marx21-Netzwerkes zusammen, um die kommenden politischen Herausforderungen zu besprechen. Das Hauptthema war schnell gefunden aber nur DIE LINKE versucht wirklich, Widerstand aufzubauen. In Berlin liegt der Fokus dabei vor allem auf der Umfairteilen-Kampagne und dem Energievolksbegehren, während bundesweit die Blockupy-Aktionen Ende Mai im Mittelpunkt stehen. Diskutiert wurde auch darüber, wie sich DIE LINKE im Wahlkampf klar von SPD und Grünen unterscheiden kann. Als Alleinstellungsmerkmale betonten viele der Anwesenden die klare Antikriegsposition und den Kampf gegen Islamophobie. Wenn wir diese Differenzen herausarbeiten und uns aktiv in Proteste und Bewegungen einbringen, kann es noch ein sehr spannendes Wahljahr werden. ■

Hamburg | 19.02.2013 marx21-Unterstützertreffen | Uhrzeit: 19:00 | Ort: unter 0176-57125464 (Christoph) erfragen Berlin | 20.02.2013 marx21-Forum »Warum gibt es Frauenunterdrückung?« | Uhrzeit: 19:00 | Ort: Mehringhof, Gneisenausstraße 2a, Hinterhof, Seitenflügel, 1. OG, U6/U7 Mehringdamm

Berlin | 09. - 12.05.2013 »MARX IS MUSS« Kongress | Ort: ND-Haus, Franz-MehringPlatz 1, Ostbahnhof

Frankfurt | 23. - 24.02.2013 Bundesweite Unterstützerversammlung von marx21Netzwerk für internationalen Sozialismus | Ort: unter info@ marx21.de erfragen Münster | 17.03.2013 marx21-Lesekreis »Islamophobie und die Linke« | Uhrzeit: 17:00 | Ort: LINKES ZENTRUM, Achtermannstr. 19

ONLINE ANGEKLICKT

TOP TEN

marx21.de besser nutzen:

NOVEMBER – JANUAR 1.

Europa brennt! Deutschland pennt?

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Erich Fromm: Den Geist ruiniert

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DIE LINKE: marx21-Thesenpapier Wahlkampf

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(859) (835) (800) (695) (599) (556) (506) (466) (424)

»Die Freiheit, Gesellschaft selber zu gestalten«

(394)

Insgesamt waren 13.863 Besucher im Januar (11.845 im Dezember) auf marx21.de

marx21.de bei Facebook: ★  plus 117 Fans in den letzten drei Monaten (1511 Fans insgesamt) ★  596 Pinnwandeinträge, Kommentare und Verwendungen von »Gefällt mir« in den letzten vier Wochen ★  Durchschnittliche wöchentliche Reichweite in den letzten vier Wochen: 4878 (plus 2758 seit November 2012)

Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de

10.

Oberhausen | 16.03.2013 marx21-Forum NRW: »Gewerkschaften zwischen Krisenkorporatismus und Klassenkampf. Die Rolle der LINKEN« | Uhrzeit: 14:00 -17:00 | Ort: LINKES ZENTRUM Oberhausen, Elsässer Str. 19

ABO KAMPAGNE Stand: 917 (+1)

Ziel: 1000

SPEZIAL US-WAHL 2012

D

ie Berliner Unterstützer trafen sich am 27. Januar, um politische Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam eine Perspektive für anstehende Aufgaben und Aktivitäten zu entwickeln. Schwerpunkt der Versammlung war die Strategie für DIE LINKE in diesem Wahljahr. Am wichtigsten sei ein bewegungsorientierter Wahlkampf, Infostände aufzustellen und Plakate aufzuhängen reiche da nicht aus. Wenn DIE LINKE dem Anspruch gerecht werden möchte »Motor von Bewegungen« zu sein, muss sie soziale Kämpfe mit dem Wahlkampf verbinden. Denn auch SPD und Grüne geben sich im Wahlkampf gerne links,

Münster | 17.02.2013 marx21-Lesekreis »Politik im Parlament – Tribüne oder Tod der revolutionären Linken?« | Uhrzeit: 17:00 | Ort: LINKES ZENTRUM, Achtermannstr. 19

Münster | 14.04.2013 marx21-Lesekreis »Die Staatsgewalt« | Uhrzeit: 17:00 | Ort: LINKES ZENTRUM, Achtermannstr. 19

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Kongress »Marx is’ muss«

Mitmachen, diskutieren, Perspektiven entwickeln Vom 9. bis 12. Mai findet der diesjährige Kongress »Marx is' Muss« statt. Das vielfältige Programm bietet einen guten Auftakt zum Superwahlkampf 2013, findet Loren Balhorn aus dem Organisationsteam Loren, in Deutschland, und gerade in Berlin, finden das ganze Jahr über zahlreiche linke Veranstaltungen statt. Warum sollte man gerade »Marx is' Muss« besuchen? Es stimmt natürlich, unser Kongress ist nicht die einzige linke Veranstaltung in Deutschland, aber ich glaube, dass er doch einmalig ist. So viele linke Kongresse gibt es ja auch wieder nicht und vor allem nicht besonders viele mit einem derart breiten Programm: Jedes Jahr versuchen wir, eine Mischung aus Aktivistinnen und Aktivisten, Expertinnen und Experten, Parteiprominenz der LINKEN und internationalen Gästen zusammenzubringen. Das machen wir nicht nur, um einen interessanten Kongress anzubieten, sondern auch um strategische Debatten innerhalb der Linken zu begleiten und zu bereichern. DIE LINKE steht als Partei und als gesellschaftliche Kraft vor großen Herausforderungen. Europaweit spitzt sich die Krise weiter zu, aber mit Ausnahme Griechenlands scheint es kein Land zu geben, in dem die Linke angemessen darauf reagiert und massenhafte Gegenwehr organisiert. In Deutschland ist zwar die wirtschaftliche Lage nicht so dramatisch wie anderswo, dennoch stehen auch hier dieses Jahr wichtige Aktionen an, vor allem der Aufbau der Blockupy-Proteste und der Bundestagswahlkampf. Unser Kongress bietet die beste Gelegenheit, mit anderen politisch Aktiven und Interessierten zu diskutieren und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Und wie spiegelt sich das im Programm wider? Wir haben den Kongress in verschiedene thematische Blöcke aufgeteilt. Es wird so78

Loren Balhorn

Loren Balhorn studiert an der Freien Universität Berlin und ist Mitorganisator des Kongresses »Marx is' Muss 2013«.

wohl Workshops als auch größere Podiumsdiskussionen geben. Ich persönlich freue mich am meisten auf »Die Aktualität von Karl Marx« mit Alex Demirovic und Terry Eagleton. Auch spannend wird das Podium zu Krise und Widerstand in Europa mit Gästen aus Griechenland, Irland und Portugal. Vom Parteivorsitzenden Bernd Riexinger stammt das geflügelte Wort, DIE LINKE müsse als »Sprachrohr und Motor von Bewegungen« agieren. Bei »Marx is' Muss« wird er darüber sprechen, was das im Superwahljahr 2013 bedeutet. Der Kongress beginnt am Donnerstag mit einem Seminartag. Was passiert da? Wir haben gemerkt, dass auch bei uns selbst die Aneignung von politischer Theorie zu kurz kam. Viele Aktivistinnen und Aktivisten haben schlicht nicht die Zeit, nach der ganzen politischen Praxis noch theoretische Texte zu lesen. Weil wir da-

von überzeugt sind, dass man die Welt verstehen muss, um sie zu verändern, bieten wir sieben verschiedene Seminare zu marxistischen Klassikern an. So hat man einen ganzen Tag, um Klassiker der marxistischen Theorie zu lesen, zu verstehen und zu diskutieren. Ab April werden die Seminartexte auf unserer Homepage www.marxismuss.de zum Download bereitstehen. Was kann ich tun, um den Kongress zu unterstützen? Früh anmelden! Jede Anmeldung hilft uns bei der Planung. Alle, die sich bis April anmelden, zahlen fünf Euro weniger und erhalten außerdem das Buch »Studie über Rosa Luxemburg« von Tony Cliff kostenlos dazu. Darüber hinaus hoffen wir, dass viele Kongressgäste im Vorfeld mitmobilisieren und ihre Genossinnen und Genossen, Freundinnen und Freunde mitbringen. Besucht unsere Homepage und unsere Facebook-Seite, drückt »Gefällt mir« und teilt sie mit euren Freunden. Es hilft uns auch, wenn ihr an der Uni, im Betrieb oder in Kneipen und Cafés »Marx is' Muss«-Plakate aufhängt oder Flyer auslegt. Gerne schicken wir Mobilisierungsmaterialien an Interessierte. Schreibt einfach eine Mail an mim@marx21.de. ■

INFO Alle, die sich bis zum 1. April zum Kongress anmelden bekommen das Buch »Studie über Rosa Luxemburg« von Tony Cliff kostenlos dazu.


THEMENBLÖCKE

Marxismus und Befreiung  Er, sie oder ganz anders? Wird unser Geschlecht konstruiert?  Behindert ist man nicht, behindert wird man  Pinkwashing Israel: Homophobie im Nahen Osten  Podium: Frauen und Familie im neoliberalen Zeitalter

Blockupy! Debatten für die Bewegung

 Vom Wahl- zum Klassenkampf: Linke Wahlkampagnen einmal anders  Sozialisten und das Parlament  Medien. Macht. Manipulation.  Warum die SPD immer noch gewählt wird  Piraten: Ist die Party schon vorbei?  Wie marx21 DIE LINKE aufbauen will  Podium: Linke Kommunalpolitik zwischen Vision und Wirklichkeit  Podium: RotRot-Grün – Eine Perspektive für Veränderung?

 Der Feind im Inneren: Wie der Staat gegen die Linke vorgeht  Eine kurze Geschichte der Autonomen  Arbeiterkontrolle. Von der Pariser Kommune bis heute  Podium: Aufstand in Europa gegen die Krise  Podium: Ist eine Revolution in Deutschland möglich?

REDNERINNEN Terry Eagleton

Richard Boyd Barrett

Ulla Plener

[Historikerin, Autorin von »Rosa Luxemburg und Lenin: Gemeinsamkeiten und Kontroversen«]

Weltweiter widerstand  Israel/Palästina: Plädoyer für einen gemeinsamen, weltlichen Staat  Wie fortschrittlich ist Syriens Opposition?  Venezuela: Welche Zukunft hat der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« nach Chávez  Die politische Ökonomie der Türkei  Was macht die Bundeswehr in Afrika?  Klassenkämpfe in China  Podium: Ägypten – Revolution auf des Messers Schneide

Ökologie

Seminartag  Kritik der Ökonomie  Frauenbefreiung  Klassentheorie  Staatstheorie  Imperialismus  Kultur  Ökologie

Betrieb und Gewerkschaft  Linke Betriebsarbeit in den Siebzigerjahren  Arbeiterkämpfe und Gewerkschaften in der ägyptischen Revolution  Demokratische Streikkultur und gewerkschaftliche Erneuerung  Klassenkämpfe im IT-Bereich

 Hunger im Überfluss: Ursachen der Ernährungskrise  Möglichkeiten und Grenzen des Konsumverzichts  Wie ökologisch waren Marx und Engels?  Podium: Wir grün kann der Kapitalismus sein?

Bernd Riexinger

[DIE LINKE, Parteivorsitzender]

[Syriza, Griechenland]

Catarina Principe

[Parlamentsabgeordneter »People Before Profit Alliance«, Irland]

[MdB, DIE LINKE]

 Jean Paul Sartre und der Existenzialismus  Hannah Arendt und die Theorie der totalen Herrschaft  Lenin und der Staat  Rosa Luxemburg und sozialistische Demokratie  Paulo Friere und die Pädagogik der Unterdrückten  Podium: Die Aktualität des Marxismus

Haris Triandafilidou

[Kulturphilosoph, Autor von »Warum Marx Recht hatte«]

NICOLE GOHLKE

Radikale Denker

 Steht Lady Gaga für Emanzipation?  Der Jazz-Untergrund im Dritten Reich  Politisches Theater von Piscator bis heute  Sozialistischfeministische Science-Fiction: Joanna Russ und die Folgen  Gibt es eine marxistische Ästhetik?

 Marx und Religion  Marxismus und Ethik  Marx' Theorie der Entfremdung  Gibt es heute noch Klassen?

Alex Callinicos

 Vom biologischen zum kulturellen Rassismus  Hitlers willige Vollstrecker? Die Deutschen und der Nationalsozialismus  Ist Neukölln überall? Mythen und Realität eines Berliner Stadtteils  Die Beschneidungsdebatte und ihre Konsequenzen

Kultur

Warum Marx ein Muss ist

[Autor »Die revolutionären Ideen von Karl Marx«]

Rassismus Und Faschismus

[Bloco de Esquerda, Portugal]

Christine Buchholz

[MdB, Parteivorstand DIE LINKE]

Gabriele Winker

[Sozialwissenschaftlerin, Feministisches Institut HH]

Alex Demirovic

[Redaktion der Zeitschrift PROKLA]

Janine Wissler

[FRAKTIONSVORSITZENDE, DIE LINKE Hessen]

Ilan Pappe

[Historiker, Autor von »Die ethnische Säuberung DIETMAR DATH Palästinas«] [Autor »Rosa Luxemburg«]

Einfach online unter www.marxismuss.de anmelden. Telefonisch unter 030 / 89 56 25 11 oder Brief an: marx21, Postfach 44 03 46, 12003 Berlin. Teilnehmerbeiträge [bis 1. April FrühbucherRabatt] • Berufstätige: 40 Euro [statt 45 Euro] • Geringverdiener / Studierende: 20 Euro [statt 25 Euro] • Hartz-IV-Betroffene / Jugendliche unter 16 Jahren: 15 Euro [statt 20 Euro]

Kongress »Marx is’ muss«

 Eine kurze Geschichte der Schulden  Linke Perspektiven für Griechenland  Karl Marx' Krisentheorie  Soziale Marktwirtschaft: Ist Ludwig Erhard ein Vorbild für DIE LINKE?  Podium: Befürworten Linke die Rettung des Euro?

HERAUSFORDERUNG BUNDESTAGSWAHL

ANMELDUNG

Krise ohne ende

(Vorläufiges Programm, Änderungen sind möglich)

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KULTUR

Seitdem Quentin Tarantinos Film »Django Unchained« in den Kinos läuft, wird wieder über den Italo-Western gesprochen. Das Genre gilt als Trash. Zu Unrecht: Denn es behandelt ein Thema, das im klassischen Western fehlt Von Frank Eßers

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r. King Schultz ist durchaus abgebrüht. Doch als der deutschstämmige Kopfgeldjäger mitansehen muss, wie sein Gastgeber, der Plantagenbesitzer Calvin Candie, einen seiner Sklaven von Hunden zerfleischen lässt, wird er »grün im Gesicht« – wie Candie belustigt feststellt. Schultz' Partner, der schwarze Ex-Sklave und Revolvermann Django, lässt sich hingegen nichts anmerken. Candie fragt ihn daraufhin boshaft, ob er – im Gegensatz zu Schultz – einen solchen Anblick gewohnt sei. Django erwidert lakonisch: »Ich bin Amerikaner einfach mehr gewohnt als er.« Es sind solche scharf geschliffenen Dialoge und die drastische Darstellung der Sklaverei in Quentin Ta-

80 80

© Columbia Pictures

rantinos Film »Django Unchained«, die in den USA eine neue Debatte über Rassismus und die Zeit der Sklaverei eröffnet haben (neben dem ebenfalls derzeit erfolgreich laufenden Steven-Spielberg-Film »Lincoln«). Unabhängig davon, wie man sonst zu Filmen von Tarantino steht, muss man dies als seinen Verdienst ansehen. Anerkennenswert ist auch, dass Tarantino dem Western-Genre einen schwarzen Gunman in der Hauptrolle hinzugefügt hat. Bis heute sind im USWestern eigentlich die Hauptcharaktere mit Weißen besetzt – von wenigen Ausnahmen wie Clint Eastwoods Spätwestern »Erbarmungslos« (1992) abgesehen. Darin verkörpert Morgan Freeman den ExRevolverhelden Ned Logan, der an der Seite seines


ehemaligen Partners William Munny (Clint Eastwood) noch einmal auf Kopfgeldjagd geht. Allerdings wird Logan ermordet – und liefert damit Munny (also dem weißen Hauptdarsteller Eastwood) das Motiv und die Gelegenheit für den Showdown (den der Weiße überlebt). Schwarze Cowboys tauchten zwar bereits in Filmen der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf, aber diese Filme wurden von weißen Produzenten für ein ausschließlich schwarzes Publikum gedreht. In den Jahren 1968 und 1969 lief die Western-Serie »Outcasts« über zwei Kopfgeldjäger im US-amerikanischen Fernsehen: der eine, Jemal David, ein ehemaliger Sklave, der andere, Earl Corey, ein ehemaliger Sklavenhalter. »Amerikas weiße Gesellschaft hat erstmals Gelegenheit zu sehen, dass auch die

Schwarzen in diesem wichtigen Abschnitt der Geschichte eine wichtige Rolle gespielt haben«, zitierte damals das Nachrichtenmagazin Der Spiegel HansJürgen Massaquoi, den Mitherausgeber der für den afroamerikanischen Markt produzierten Zeitschrift Ebony. Eine solche Darsteller-Konstellation spiegelte das sich verändernde gesellschaftliche Klima in den USA und den Kampf der Bürgerrechtsbewegung gegen Rassismus wider. Doch das Duo ist ein ungleiches. Die Titelhelden sind keine Freunde, vielmehr nennt Corey Jemal häufig »Boy«, eine abwertende Bezeichnung für einen (schwarzen) Laufburschen. Jemal hingegen nennt Corey »Boss«. Ganz anders das Verhältnis von Schultz und Django in Tarantinos Film: Es ist von Respekt und Freundschaft geprägt.

KULTUR

Das Westerngenre ist dem Thema Sklaverei bislang ausgewichen. Quentin Tarantino hat das mit »Django Unchained« geändert

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★ ★★

Frank Eßers ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Neukölln und leidenschaftlicher Filmfan. Von den Berühmtheiten des »Wilden Westens« sind ihm Geronimo und Sitting Bull sympathischer als Wyatt Earp und Doc Holliday.

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Erst in den Blaxploitation-Western der 1970er-Jahre durften Schwarze »echte Westernhelden« sein. In Jack Arnolds Film »Boss Nigger« (1975) zum Beispiel repräsentiert ein schwarzer Gunman nun das Gesetz in einer von Weißen bewohnten Stadt. Wer über diese Filme (und über Tarantino, der solche Filme in seinen eigenen gerne zitiert) die Nase rümpft, sollte zumindest diese Tatsache anerkennen.

den Helden oft und gern über Leichen gingen. Genau in der Zeit, als die amerikanische Nation zum ersten Mal das Gefühl hatte, einen ungerechten Krieg zu führen, fiel im Western die letzte Grenze: die zwischen Freund und Feind.« Wie der Italo- ist auch der US-amerikanische Spätwestern ein Produkt dieser veränderten gesellschaftlichen Stimmung, an der selbst Hollywood nicht vorbeikam: Im Jahr 1966 drehte Richard Brooks mit »Die gefürchteten Vier« einen Film, der von der Kritik gefeiert wurde. Es war eine der ersten Hollywood-Produktionen, die sich indirekt kritisch zur US-amerikanischen Intervention in Vietnam äußerten. Der Film spielt im Mexiko des Jahres 1917. Vier Revolverhelden sollen die angeblich von Banditen entführte Frau des reichen USamerikanischen Ranchers Grant retten. Die Gunmen glauben, für das Gute zu kämpfen, müssen aber nach und nach erkennen, dass sie auf der falschen Seite stehen. Die mexikanischen »Banditen« entpuppen sich als Revolutionäre, die angeblich entführte Frau ist in Wahrheit von ihrem Vater zur Heirat mit Grant gezwungen worden und nun zu einem der Revolutionäre geflohen, mit dem sie liiert ist. Unterschwellig verurteilt der Film das Einmischen der USA in die mexikanische Revolution der Jahre 1910 bis 1920. Die Revolution ist allerdings nicht das Hauptthema des Films. Der Kampf der Unterdrückten gegen die Diktatur bleibt ausgespart und dient lediglich als Hintergrundkolorit, vor dem sich die Story des Films entfaltet. Nur selten wird im US-Western der Kampf von Unterdrückten dargestellt. »Die glorreichen Sieben« (1960) von John Sturges ist eine dieser Ausnahmen. Auch hier ist Mexiko der Schauplatz. »Die Bösen« sind allerdings nicht die Vertreter einer Diktatur, des Kapitals oder des Großgrundbesitzes, sondern eine Bande mexikanischer Banditen, die regelmäßig die armen Bewohner eines Dorfes ausrauben. Vor allem ist die Story auch keine amerikanische Erfindung. »Die glorreichen Sieben« basiert auf dem Film »Die sieben Samurai« (1954) des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa. Kurosawa war es auch, der mit »Yojimbo – Der Leibwächter« (1961) die Vorlage für den ersten erfolgreichen Italo-Western lieferte: Sergio Leones Kultfilm »Für eine Handvoll Dollar«. Der erschien 1964 und trug dazu bei, Clint Eastwood zu einem Star zu machen. An dessen Art, den wortkargen Revolverhelden darzustellen, orientierten sich viele nachfolgende Western. Das Neue an »Helden« der Sorte Eastwood oder Franco Nero (dem ursprünglichen Django-Darsteller) war, dass sie keine edle Ritterlichkeit zeigten,

Der ItaloWestern beerdigt die Gründungsmythen der USA

Neben den Anspielungen auf Blaxploitation-Produktionen enthält »Django Unchained« zahlreiche Verweise auf sogenannte »Spaghetti-Western«. Von Kritikern wird gerügt, dass sowohl BlaxploitationFilme als auch Spaghetti-Western Sex und Gewalt explizit darstellen, um damit Kasse zu machen. Die Auseinandersetzung mit der Sklaverei sei mit den Mitteln dieser Genres unmöglich. Das ist eine einseitige Betrachtung der Italo-Western. Denn sie enthalten oft einen gesellschaftskritischen Unterton in der Darstellung von Minderheiten und Unterdrückten. In seiner Genrestudie »Italo-Western« beschreibt der Sprachwissenschaftler Philipp Strazny die Entstehung dieser Filmgattung: »Das Genre ›Italo-Western‹ bildete sich heraus, als der Vietnamkrieg die Proteste gegen das ›Establishment‹ verursachte und in Europa die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit das Vertrauen vieler junger Menschen in die Gesellschaft erschütterte. Das Wertesystem der Elterngeneration wurde abgelehnt; Provokation stellte ein beliebtes Mittel der Auseinandersetzung dar. Die Italo-Western mit ihrer provokanten und für damalige Verhältnisse schockierenden Stilistik und ihrem Nihilismus fügten sich daher gut in die damalige Stimmungslage ein. Die Behauptung, dass es gerade die Negierung der traditionellen Werte war, die den Italo-Western zu seiner Zeit so populär machte, führt daher sicherlich nicht zu weit.« Gesellschaftskritische Akteure und Regisseure der 1960er- und 1970er-Jahre empfanden das Hollywood-Kino als »gesäuberte« Version der Realität. Inhaltlich galt der klassische Western als verharmlosende Version der US-Geschichte und war damit auch formal überholt. Gerade in sogenannten B-Movies wurde der Versuch unternommen, zu einer anderen Darstellung zu finden (am Beispiel des Horrorfilms beschreibe ich diese Entwicklung in dem Artikel »Als die Monster menschlich wurden«, marx21, Nr. 24, Februar/März 2012). Auch das Mainstreamkino hat sich dadurch nachhaltig verändert. Treffend schreibt Spiegel-Filmkritiker Lars-Olav Beier in seinem Artikel »Die Guten waten im Blut«: »In den sechziger Jahren ging die Trennschärfe zwischen Gut und Böse weitgehend verloren – nicht nur im Italo-Western, in dem die aus Europa stammen-


Im US-Spätwestern, der Anfang der 1960er-Jahre entstand, werden solche »edle Helden« als müde, gealterte Revolvermänner gezeigt, die beklagen, dass die früher intakte Gesellschaft heruntergekommen sei und grundlegende Werte wie Ritterlichkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Gleichheit aus den Augen verloren habe. Der Italo-Western hingegen bestreitet, dass diese Werte überhaupt jemals existiert haben: Er beerdigt also Gründungsmythen der USA. Expliziter als im Spät-Western wird der Kampf von Unterdrückten in Italo-Western wie Sergio Leones »Todesmelodie« (1971) gezeigt, in dem die mexikanische Revolution im Mittelpunkt steht. Allerdings liefert der Film keine politische Analyse, sondern ist ein actiongeladenes Spektakel mit gesellschaftskritischen Untertönen. Politisch deutlicher als Leone äußert sich der ebenfalls italienische Regisseur Sergio Corbucci in seinen drei Spaghetti-Western »Leichen pflastern seinen Weg« (1968), »Mercenario – Der Gefürchtete« (1968) und »Lasst uns töten, Compañeros« (1970). »Leichen pflastern seinen Weg« spielt im Jahr 1898. Die Einwohner des kleinen Dorfes Snowhill im US-Bundesstaat Utah leiden unter dem harten Winter und unter dem Richter Pollicut, der in Personalunion auch Bankier und Kaufmann des Ortes ist. Die Ärmsten des Dorfes müssen hungern und sehen sich in ihrer Not gezwungen, zu Outlaws zu werden: Sie überfallen die Reichen, um zu überleben. Pollicut setzt auf ihre Ergreifung (»tot oder lebendig«) Prämien aus, was Snowhill zu einem Hauptquartier geldgieriger Kopfgeldjäger macht, die von Loco angeführt werden (hervorragend verkörpert von Klaus Kinski). Unbarmherzig knallen sie die Outlaws ab und bemühen sich gar nicht erst, jemanden lebendig einzufangen. Sie agieren unter dem Deckmantel der Legalität als Vertreter des Rechtssystems im Auftrag des Kapitalisten und Richters Pollicut. Auch der Ehemann der schwarzen Pauline wird von Loco über den Haufen geschossen. Rassistisch kommentiert Loco die auf Paulines Mann ausgesetzte Prämie: »Was ist das für eine verrückte Zeit? Ein Schwarzer ist doppelt so viel wert wie ein Weißer.« Pauline bittet daraufhin den stummen Revolvermann Silence um Hilfe. Er soll Loco töten und die Kopfgeldjäger vertreiben. Silences Eltern sind von Kopfgeldjägern getötet worden, er selbst als Kind von diesen verstümmelt worden, wodurch er seine Sprachfähigkeit verloren hat. Silence versteht also

die Lage der armen Dorfbewohner gut. Doch zunächst geht es ihm nur um persönliche Rache. Außerdem verlangt er von Pauline 1000 Dollar für seine Dienste, woraufhin diese sich gezwungen sieht, Pollicut ihr Haus zum Verkauf anzubieten, da sie das Geld anders nicht auftreiben kann. Silences Methode, Kopfgeldjäger im Einklang mit den bestehenden Gesetzen zur Strecke zu bringen, funktioniert eine Weile recht gut: Er provoziert einen Bounty Hunter so lange, bis dieser beleidigt seine Waffe zieht. Dann kann der »KopfgeldjägerJäger« Silence ihn »in Notwehr« erschießen. Doch Loco ist raffinierter und lässt sich nicht provozieren. Auch der neue Sheriff des Ortes, der die Kopfgeldjäger verabscheut, scheitert, weil das Morden der Outlaws nicht gegen Gesetze verstößt. Es dauert nicht lange, bis Loco den Sheriff erschießt, durch den er sich in seinem »Job« behindert fühlt. Dann machen die restlichen Kopfgeldjäger erfolgreich Jagd auf Silence und die Outlaws. Am Ende werden Silence und alle, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist, erschossen. Ein solches Ende ist bemerkenswert für einen Western, denn in diesem Genre gewinnen gewöhnlich die Opfer – vertreten durch professionelle Gunmen, die für sie gegen »die Bösen« kämpfen. Doch Corbucci hatte eine andere Botschaft im Sinn: Die Befreiung der Unterdrückten muss das Werk der Unterdrückten selbst sein. Auf einen Erlöser zu hoffen und die Befreiung von Dritten zu erwarten, führt unweigerlich zum Scheitern jedes Widerstandes. In »Mercenario« variiert er diese Botschaft: Zunächst engagieren mexikanische Revolutionäre einen ausländischen Söldner, um sie auszubilden. Doch dieser verlangt viel Geld und leistet sich auf Kosten der Widerstandskämpfer einen vergleichsweise üppigen Lebensstil, während diese sich kaum das Lebensnotwendige leisten können. Obwohl die Revolution noch nicht beendet ist und die Revolutionäre sich noch nicht so geschickt anstellen wie der erfahrene Söldner, trennen sie sich von ihm in der Erkenntnis, dass die mexikanischen Arbeiter und Armen nur aus eigener Kraft gewinnen können. Den Italo-Western durchziehen reißerische Aufmachung, voyeuristische Gewaltdarstellungen und Machismus. Das wird oft zu Recht kritisiert. Dennoch muss man dem Genre zugutehalten, dass gesellschaftskritische Töne in dieser Deutlichkeit bis zu seiner Erfindung die absolute Ausnahme waren. Dass Quentin Tarantino mit »Django Unchained« daran erinnert und außerdem dem Genre eine originelle Note verpasst hat, indem er »den Westen« in den Süden verlagerte, hat ihm verdientes Lob der meisten Kritiker und auch des Publikums eingebracht. Bisher ist das Thema Sklaverei vom US-Kino vernachlässigt worden. Tarantino bemerkte treffend in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Auch der Western ist dem Thema auffällig ausgewichen, obwohl viele Western exakt in der Zeit spielen und auch in Texas, wo die Sklaverei blühte.« Vielleicht ändert sich das nun. ■

KULTUR

sondern eigennützig handelten. Entweder ging es ihnen um Geld oder um Rache. Im Italo-Western ist die Gesellschaft von Gewalt, Armut, Ausbeutung, Korruption und Unterdrückung zerstört. Für den Typus des edlen, sich stets selbstlos für andere oder die Gemeinschaft einsetzenden Cowboys, den Darsteller wie John Wayne oder James Stewart im klassischen Western bis in die 1970er Jahre hinein verkörperten, ist im Italo-Western kein Platz.

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Klassiker des Monats

Das ganze Bild sehen Schöne Idee, wird aber nie funktionieren? Georg Lukács erklärt, warum so viele Menschen resignieren statt zu kämpfen. Diesem »gesunden Menschenverstand« hat sein Buch etwas entgegenzusetzen Von Alexander Schröder ★ ★★

aLexander Schröder studiert moderne Sinologie an der Universität zu Köln und ist aktiv bei Die Linke.SDS.

A

ls Volkskommissar der ungarischen Räterepublik erlebte der Philosoph Georg Lukács Revolution und Konterrevolution nach dem Ersten Weltkrieg hautnah mit. Seine theoretischen Schlussfolgerungen hielt er in dem Buch »Geschichte und Klassenbewusstsein« fest, das 1923 erstmals veröffentlicht wurde. Die Essaysammlung hat die linke Debatte der letzten neunzig Jahre nachhaltig geprägt. Seither ist der Marxismus nicht mehr ohne Lukács zu denken.

Kein Wunder, dass die bürgerlichen Ökonomen die Weltwirtschaftskrise nicht verstehen

Im Jahr 2010 berichtete das Handelsblatt: »Die Queen hatte bei einem Besuch der London School of Economics vor einigen Monaten die Ökonomen um Aufklärung gebeten, warum kaum ein Volkswirt die große Finanzkrise vorausgesehen habe. Viele von ihnen, so die Antwort der Forscher, hätten einzelne Krisenherde durchaus richtig erkannt (…) – aber kaum einer der Volkswirte sei in der Lage gewesen, die einzelnen Punkte zu verbin84

den, um so das große Bild zu erkennen.« Lukács hätte diese epochale Blamage nicht verwundert. Ein bekannter Ausspruch von Karl Marx hatte ihn inspiriert: »Die herrschenden Gedanken sind immer die Gedanken der Herrschenden.« Lukács entwickelte Marx Theorie weiter. Die Herrschenden sind im Kapitalismus die Kapitalisten, beziehungsweise das Bürgertum. Sie sind an der Sicherung ihrer Herrschaft und der Ausbeutung der Lohnarbeiter interessiert.

Aber die Kapitalisten konkurrieren untereinander auf Gedeih und Verderb um Profit. Lukács schloss daraus, dass sie »die kapitalistische Entwicklung stets vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten« betrachten, der von kurzsichtigem Profitstreben geprägt ist. Kein Wunder also, dass die heutigen bürgerlichen Ökonomen die Weltwirtschaftskrise nicht vorausgesehen haben und auch im Nachhinein nicht verstehen – von ihrem Klassenstandpunkt aus sind sie schlicht nicht dazu in


der Lage, »das große Bild« zu erkennen. Die Kritik der herrschenden Ideen ist zentral für Lukács. Als Revolutionär in Ungarn hatte er im Jahr 1919 miterlebt, wie die rechten Sozialdemokraten (ähnlich wie in Deutschland) die bürgerliche Ordnung stützten. Deshalb konnte sich die sozialistische Räterepublik nicht durchsetzen. Doch in »Geschichte und Klassenbewusstsein« geht es um mehr, als nur »Verrat« zu schreien – Lukács argumentiert, dass die Basis der Sozialdemokratie im Bewusstsein der Menschen zu finden sei. Die Stärke der Sozialdemokratie rühre daher, dass zentrale Elemente ihrer Politik Teil des Massenbewusstseins seien. Die Fixierung auf das Parlament und die Bereitschaft der meisten Menschen, politische Entscheidungen ihren parlamentarischen Stellvertretern zu überlassen, gehören unter kapitalistischen Bedingungen zum »gesunden Menschenverstand«. Lukács stellt fest, dass das Verbleiben der Menschen »bei ihrem unklaren Klassenbewusstsein eine unumgängliche Voraussetzung für den Bestand des Bourgeoisregimes« ist. Wie aber kann die Macht der herrschenden Ideen aufgebrochen werden?

Die revolutionäre Partei ist auch bei Lenin die wichtigste Organisation, um die Verwirrung und Zersplitterung der Arbeiterklasse zu überwinden. In ihr kommen die Revolutionäre zusammen, um ideolo-

Georg Lukács hat die linke Debatte der letzten neunzig Jahre nachhaltig geprägt gische Reife und effektives Handeln der radikalsten und entschlossensten Arbeiterinnen und Arbeiter zu erreichen. Aber für Lenin, wie für den an Lenins Denken geschulten Georg Lukács ab 1924, war das keine Selbstverständlichkeit, sondern das Resultat von harten politischen und ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung und speziell auch innerhalb der Partei. Erst in diesen Auseinandersetzungen entwickelt sich ein Verständnis der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und ein differenzierter Standpunkt im Interesse der Mehrheit kann sich herausbilden. Auf diesem Weg wird die Partei zu der Organisation, die entschieden und fähig ist, eine erfolgreiche Revolution zu beginnen. Spannend ist, dass Lukács Lenins Auffassung auch dann noch verteidigte, als er im ungarischen Volksaufstand des Jahres 1956 auf Seiten der Arbeiterschaft gegen den Stalinismus stand. Lukács ist trotz seiner idealistischen Tendenzen zu Recht ein Klassiker der marxistischen Ideologiekritik und gerade angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise immer noch aktuell. ■

★ ★★ DAS BUCH

Georg Lukács Geschichte und Klassenbewusstsein Sammlung Luchterhand Neuwied am Rhein 1970 Nur noch antiquarisch erhältlich.

KLASSIKER DES MONATS

Hier setzt Lukács auf die Selbstemanzipation der Arbeiterklasse. Deswegen hatte sein Buch großen Einfluss auf die »Neue Linke« von 1968. Denn deren Revolte richtete sich genauso wie Lukács' Buch gegen die fatalistische Interpretation des Marxismus bei Sozialdemokraten und Stalinisten, wonach die Entwicklung des Kapitalismus quasi unvermeidlich und ohne revolutionäre Aktion der Massen zu einer besseren »sozialistischen« Gesellschaft führe. Im kapitalistischen Alltag gäbe es überhaupt keine Garantie für eine Entwicklung von Klassenbewusstsein und dem Ausbrechen der Revolution, warnt hingegen Lukács. Darum ist für ihn die Parteiorganisation von zentraler Bedeutung. An diesem Punkt argumentiert Lukács jedoch teilweise schwach, denn in seiner Parteitheorie kam er dem späteren stalinistischen Slogan »Die Partei hat immer Recht« gefährlich nahe. Er identifizierte nämlich die kommunistische Partei als sicheren Garanten für die Revolution. Jedoch revidierte er diesen Standpunkt schon bald und wehrte sich jahrzehntelang gegen eine Neuauflage von »Geschichte und Klassenbewusstsein«. Die Lektüre der Schriften Lenins veranlasste Lukács zu einer umfassenden Selbstkritik. Er schrieb später, dass Lenin durch seine materialistische Analyse der Realität zu einer reifen Parteitheorie gekommen sei, während in Lukács' eigener, von idealistischem Wunschdenken geprägten Theorie unklar bliebe, wie die Partei »das große Bild« der Strategie für die Revolution erkennen soll.

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Review


FILM-TIPP Lincoln | Regie: Steven Spielberg

Ein lupenreiner Demokrat In »Lincoln« erklärt Regisseur Steven Spielberg, was ein Präsident tun soll, wenn die Abgeordneten nicht seiner Meinung sind: sie bestechen Von Hans Krause mung »besorgte«.Wer vermutet, das sei langweilig, liegt richtig. Von den Millionen Menschen, die im Jahr 1865 im Sezessionskrieg kämpften, bekommt man ebenso wenig mit wie von den hunderttausenden Sklaven, die den Krieg zur Flucht in die Freiheit nutzten. Der Film spielt überwiegend im Weißen Haus und in Parlamentsgebäuden. Der Präsident erreicht schließlich die erforderliche Stimmenzahl, hauptsächlich indem er Abgeordnete mit Posten und Geld besticht, was Regisseur Spielberg absurderweise als strategische Großtat feiert. Dass »Lincoln« weitgehend langweilt und enttäuscht, liegt an diesem eingeschränkten Blick auf Politik und Geschichte. »Normale« Menschen treten nur in zwei kurzen Szenen auf, die zeigen sollen, dass Schwarze Lincoln unterstützen und dass Weiße fast alle dumpfe Rassisten sind. Vor allem Letzteres ist falsch: Die Bewegung zur Beendigung der Sklaverei in den USA war so alt wie die Sklaverei selbst. Seit dem 18. Jahrhundert wurden hunderttausende Unterschriften gesammelt und große Boykottkampagnen von Waren organisiert, die in Sklavenarbeit hergestellt wurden. Ein informelles Netzwerk von Schwarzen und Weißen ermöglichte im 19. Jahrhundert mit geheimen Routen, Schutzhäusern, Fluchthelfern und verschlüsselter Kommunikation etwa 100.000 Sklaven die

Flucht. Es war hauptsächlich der Erfolg dieser Bewegungen, dass die Sklaverei bis 1830 in allen nördlichen Bundesstaaten abgeschafft wurde. All das erwähnt der Film mit keinem Wort, denn damit wollte Lincoln nie etwas zu tun haben. Weil er sich wie heutige Politiker auf Krieg und Parlamentarismus stützte, konnte er die Sklaverei in den Südstaaten jahrelang gar nicht und 1865 nur mit undemokratischen Mitteln beenden. »Lincoln« spiegelt damit eine Gesellschaft wider, deren Elite glaubt, dass Politik aus parlamentarischen Winkelzügen besteht. Demokratische Grundsätze müssen dabei nicht immer eingehalten werden. Der Film ist trotz des interessanten Themas der Sklaverei konservativ und langatmig. Das ist bedauerlich, weil einer der voraussichtlich zahlreichen Oscars tatsächlich verdient ist: Daniel Day-Lewis gelingt es in den wenigen emotionalen Szenen beeindruckend, die in vielen historischen Quellen erwähnte Kauzigkeit, den verschmitzten Humor und die Traurigkeit von Abraham Lincoln auf die Leinwand zu bringen. Wer sich den Film trotz dieser Kritik antut, sollte sich ein historisches Foto Lincolns ausdrucken und mit ins Kino nehmen. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. ■

★ ★★ FILM | Lincoln | Regie: Steven Spielberg | USA/Indien 2012 | 149 Minuten | Seit dem 24. Januar im Kino REVIEW

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uf eben diesem Buch basiert der neue Spielfilm von Steven Spielberg. Lincoln war zwischen 1861 und 1865 republikanischer Präsident und wird heute jedem US-amerikanischen Schulkind als Lichtgestalt der Politik dargestellt – vor allem weil in seine Amtszeit der Sieg der Nordstaaten im Sezessionskrieg gegen die Konföderation der Südstaaten fällt, in dessen Folge die Sklaverei abgeschafft wurde. Anders als heute waren die Republikaner damals eine liberale Partei, die die Sklaverei mehrheitlich ablehnte. Die Demokraten hingegen waren konservativ und wollten die Sklavenhaltung in den Südstaaten erhalten. Obwohl der Titel »Lincoln« einen biographischen Film erwarten lässt, spielt er fast ausschließlich im Januar 1865. Zu diesem Zeitpunkt war der Präsident gerade für eine zweite Amtszeit gewählt worden und der Krieg praktisch gewonnen. Für die Befreiung der Sklaven hatte sich Lincoln bis dahin jedoch nur eingesetzt, wenn er glaubte, dass es ihm Unterstützung für den Krieg brachte. Nun versuchte er, das Verbot der Sklaverei in der Verfassung zu verankern. Hierfür benötigte Lincoln eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, zu der ihm zwanzig Stimmen fehlten. Der Film handelt zweieinhalb Stunden fast ausschließlich davon, wie er sich diese bis zur Abstim-

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azis morden weiter – und der Staat schiebt fleißig ab/ Es ist und bleibt schlussendlich das gleiche Rassistenpack.« Wer jemals auf einer linken Demonstration war, hat diesen (etwas abgewandelten) Spruch schon einmal gehört. In den Verfassungsschutzbehörden Mecklenburg-Vorpommerns müssten diese Zeilen nun auch kürzlich zu hören gewesen sein, findet man sie doch auch auf dem neuen Album von Feine Sahne Fischfilet. Mitarbeiter der Behörde attestierten der Rostocker Band jüngst eine »explizit anti-staatliche Haltung« und bescherten ihr damit Aufmerksamkeit von taz und Spiegel Online bis hin zum NDR und Tagesspiegel. Zu Recht waren die genannten Medien entsetzt darüber, wo die Beamten die wahren Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu finden meinen. So wurden dem Punk-Sextett im Verfassungsschutzbericht 2011 knapp zwei Seiten gewidmet, während der NSU, dessen Mordserie in jenem Jahr bekannt wurde, gerade mal in drei Absätzen Erwähnung findet – und das, obwohl eines der Opfer ein türkischstämmiger Rostocker war. Feine Sahne Fischfilet reagierten auf so viel Aufmerksamkeit, indem sie persönlich beim Innenministerium vorstellig wurden und sich mit einem Präsentkorb aus dem Supermarkt für die Promotion bedankten. Der entgegennehmende Ministeriumssprecher reagierte freundlich, bekannte sogar, dass die eigene Tochter Fan der Band sei und veredelte den Jungs damit ein weiteres vielfach geklicktes YouTubeVideo. »Scheitern und Verstehen«, das neuste Erzeugnis der Gruppe mit dem kulinarisch-kreativen Namen, strotzt, nüchtern betrachtet, nicht gerade vor staatszersetzenden Zeilen. Textlich bewegt man sich zwischen den Themen Freundschaft, Nazis und Langeweile in ostdeutschen Kleinstädten, musikalisch wird

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Feine Sahne Fischfilet | Scheitern und Verstehen

CD DES MONATS Der Verfassungsschutz attestiert ihnen eine »explizit anti-staatliche Haltung«. Doch Feine Sahne Fischfilet singen hauptsächlich über Freundschaft, Nazis und Langeweile. Anhören kann man sich das neue Album der Rostocker trotzdem Von David Jeikowski

★ ★★ CD | Feine Sahne Fischfilet | Scheitern und Verstehen | Audiolith 2012

»Punk mit Bläsern« geboten, mal schmuseweich (»Weit hinaus«), mal direkt in die Fresse (»Gefällt mir«). Das Album beginnt ruhig, doch bestimmt: zögerliche E-Gitarre, schnelles Schlagzeug, im Hintergrund eine Bass-Line. Dann setzen die Bläser ein, die E-Gitarre reißt sich los, ein Kribbeln in Mundwinkeln und Tanzbeinen entsteht. Sänger Monchi erhebt seine Stimme: »Dich treibt die Liebe und dein Mut/ Dich treibt die Sehnsucht nach der Wut/ (...) willst scheitern und verstehen/ Die Scheiße war, bleibt und ist/ Es endet mal wieder in der Tristesse/« In die gleiche Kerbe schlägt »Komplett im Arsch«, die er-

ste Singleauskopplung. »Ich bin komplett im Arsch/ weiß nicht wohin mit mir/«, heißt es im Refrain, der sich sofort dauerhaft im Gehörgang festkrallt und sich ab dem zweiten Hören wunderbar mitgrölen lässt. Thema hier abermals: Lethargie und Perspektivlosigkeit, die sich zwar nicht heilen, jedoch zusammen mit Freunden und Alkohol in kollektiver Tanzwut ertränken lassen. Doch die Band beschwört hier außerdem ein nachhaltigeres Mittel: »Mein radikales ›Nein‹ zu dieser Welt ist was mich stark lebendig macht«. »Nicht hinnehmen – kämpfen!« lautet die Devise, doch kommt die Band hierbei leider textlich kaum

über linke Allgemeinplätze und antideutsche Plumpheiten hinaus: »Verfassungsschutz und Nazis gehen weiter Hand in Hand/ Noch ein paar Reformen, schon sind alle froh in diesem Land«. In »Gefällt mir« gehen die Jungs aus Rostock noch einen Schritt weiter: »Heute wird geteilt, was das Zeug hält/ Deutschland ist scheiße, Deutschland ist Dreck/ Gib mir ein ›Like‹ gegen Deutschland/«. Zwar lässt sich durch den Facebook-Jargon ein gewisses Augenzwinkern nicht verleugnen, doch Feine Sahne Fischfilet machen es sich hier ein bisschen einfach, wenn sie meinen, gesellschaftlich verankerte Verwertungslogik als etwas typisch Deutsches ausmachen zu können und infolgedessen das Land insgesamt ablehnen: »Ihr seid ach so tolerant, ihr seid ach so reflektiert/ doch wenn Ronny nicht schuftet, wollt ihr, dass er krepiert/« Doch zum Glück gibt es auch noch andere Menschen im Leben von Monchi und Co., und so überraschen Titel wie »Mit dir«, »Geschichten aus Jarmen« und »Weit hinaus« mit so manchen Passagen, die schon kräftig am Prädikat »kitschig« kratzen. Der perfekte Soundtrack für ein Wiedersehen mit alten Freunden und das gemeinsame Besäufnis danach. Insgesamt besticht »Scheitern und Verstehen« nicht durch politische Tiefe. Die Band will den Rechten bei Themen wie Zusammenhalt und Systemkritik nicht das Feld überlassen, sondern zeigen, dass man nicht Nazi sein muss »um ein cooles Leben in MeckPomm zu haben«, und dabei einfach gut klingen. Dass sie das so gekonnt hinbekommen wie derzeit kaum eine andere Band, davon kann sich jeder ab sofort überzeugen. Übrigens: Der Landesverfassungsschutz hat seinen Jahresbericht inzwischen zurückgezogen und einige Zeit später korrigiert wiederveröffentlicht. Die Mordserie der NSU wird nun auf mehreren Seiten diskutiert – nach Feine Sahne Fischfilet sucht man jedoch vergebens. ■


BUCH

Omar Barghouti | Boykott – Desinvestment – Sanktionen. Die weltweite Kampagne gegen Israels Apartheid und die völkerrechtswidrige Besatzung Palästinas

Zeit zu handeln Die Initiatoren einer internationalen Solidaritätskampagne für Palästina vergleichen die israelische Besatzungspolitik mit dem Apartheidregime in Südafrika. Deshalb riefen sie zum Boykott israelischer Waren und Institutionen auf. Ein neues Buch erzählt ihre Geschichte Von Phil Butland Vergleichbarkeit der Situation lasse sich aus früheren Erfolgen für heutige Kämpfe gegen Ungerechtigkeit lernen. Barghouti erklärt, warum er nicht an eine Zwei-Staaten-Lösung glaubt. Er bezweifelt die Bereitschaft der Mehrheit der israelischen »Linken«, mit der kolonialen Siedlermentalität zu brechen: »Normale Beziehungen können zwischen zwei Völkern nur entstehen, wenn die Unterdrückung aufhört und nicht vorher«. Trotzdem sei es notwendig, dass die Kampagne nur begrenzte Forderungen stellt, um alle zusammenzubringen, die Gerechtigkeit für Palästina wollen. Diese Forderungen sind: ein Ende der Besatzung von Gaza und des Westjordanlands, gleiche Rechte für Palästinenser in Israel und ein Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge. Gewaltlosigkeit ist die Grundbedingung für alle Aktionen der Kampagne, im Einzelnen jedoch müsse sich die konkrete Strategie nach den besonderen Gegebenheiten des jeweiligen Kontextes richten. Dieser Punkt erscheint mir sehr wichtig, gerade für die Situation in Deutschland. Im vergangenen Jahr ist hierzulande die Bereitschaft deutlich gestiegen, Israels Politik zu kritisieren. Anders als noch vier Jahre zuvor beteiligten sich hunderte Menschen nicht-arabischer Abstammung

an den Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg. Die Asymmetrie des Nahostkonfliktes zugunsten Israels scheint mittlerweile vielen bewusst zu sein. Gleichzeitig bleibt eine Verunsicherung, die eine massenhafte Kampagne zum Konsumverzicht unmöglich macht. Eine lebendige Kampagne gegen deutsche Waffenlieferungen beispielsweise hätte jedoch durchaus Aussicht auf Erfolg. Denn durch Waffenexport nach Israel macht sich Deutschland nicht nur mitschuldig am Tod palästinensischer Zivilisten, sondern diese Waffenlieferungen werden auch noch staatlich subventioniert. Die jetzige Situation im Nahen Osten beschreibt Barghouti als »Ausdruck des ›internationalen Konsenses‹«, eines Konsenses »der hegemonialen Mächte auf der Erde, und nicht der Völker«. Ungerechtigkeit resultiert also aus der Eintracht der herrschenden Klassen. Aber der Arabische Frühling hat gezeigt, dass sie nicht allmächtig sind. Alternativen von unten sind möglich, auch in Palästina oder in Deutschland. Barghoutis Buch gibt wichtige Anregungen, wie wir solche Alternativen entwickeln können. Noch mehr lernt man aber in der Praxis – daher sollten wir schnell loslegen. ■

★ ★★ BUCH | Omar Barghouti | Boykott – Desinvestment – Sanktionen. Die weltweite Kampagne gegen Israels Apartheid und die völkerrechtswidrige Besatzung Palästinas | Neuer ISP Verlag | Köln/Karlsruhe 2012 | 232 Seiten | 19,80 Euro

REVIEW

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m 10. Dezember vergangenen Jahres kamen in einem Berliner Theater über 200 Menschen zusammen, um über »Boykott-Desinvestment-Sanktionen« zu diskutieren. Hierbei handelt es sich um eine seit dem Jahr 2005 laufende Kampagne gegen die israelische Besatzungspolitik. Die Größe der Veranstaltung und die dort herrschende Aufbruchstimmung scheinen die letzten Worte in Omar Barghoutis neuem Buch zu bestätigen: »Unser südafrikanischer Augenblick ist endlich gekommen«. Der Autor ist Koordinator dieser internationalen Kampagne, die das Ziel hat, Israel in seinem Vorgehen politisch zu isolieren. Unterstützer sind unter anderem die britische Gewerkschaft der Universitäts- und Collegebeschäftigten UCU, der südafrikanische Gewerkschaftsbund sowie weitere Veteranen der Antiapartheidbewegung, darunter Erzbischof Desmond Tutu. Das Buch behandelt die Frage, inwieweit Israel mit dem Südafrika der Apartheid vergleichbar ist. Barghouti argumentiert, dass es zwar eine genauso klare »Rassentrennung« und »ein vergleichbares unantastbares Recht auf ethnisch-religiöse Vorherrschaft« gebe, sich deren Ursprünge und die wirtschaftlichen Bedingungen jedoch deutlich unterscheiden würden. Doch auch ohne völlige

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Buch

Arezu Weitholz | Wenn die Nacht am stillsten ist

Glanzlose Generation Zwischen angesagter Medienredaktion und tristem Altersheim liegt nur der Feierabend. Ein Buch über zwei Welten, eine schlimmer als die andere Von Raphael Mühlhölzer

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★ ★★ BUCH | Arezu Weitholz | Wenn die Nacht am stillsten ist | Kunstmann Verlag | München 2012 | 224 Seiten | 17,95 Euro

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in Roman, der in der popkulturell interessierten Feuilletonszene angesiedelt ist – das lässt befürchten, man bekäme es entweder mit der Selbstbeweihräucherung blasierter Großstädter zu tun, oder aber mit einer verbitterten Abrechnung aus dem hochkulturell imprägnierten Bildungsbürgertum. Doch Arezu Weitholz' Debütroman umschifft mühelos beide Klippen. Die Autorin ist bestens geeignet, dieses Sujet zu bearbeiten, hat sie doch als Journalistin für Zeitungen und Magazine die Innenperspektive auf die über Popthemen schreibende Zunft. Darüber hinaus ist sie auch Lyrikerin, hat zwei Gedichtbände veröffentlicht und als Textdichterin für Musiker wie Grönemeyer oder die Toten Hosen gearbeitet. Die Kombination von journalistischer Genauigkeit und Poesie machen die inhaltliche und sprachliche Qualität des Romans aus. »Wenn die Nacht am stillsten ist« beginnt mit einer nächtlichen Anklage. Die Hamburger Journalistin Anna rechnet mit ihrem Kollegen und Exfreund Ludwig ab, der bewusstlos auf dem Boden liegt. Ihr Monolog enthält alles, was sie ihm, der ihr an diesem Morgen den Laufpass gegeben hat, während ihrer Beziehung nie sagen konnte. Der egozentrische, karrierebewusste Kisch-Preisträger beanspruchte nämlich in der Liebe genauso wie im Job den dominanten Redeanteil.

Das kommt in der folgenden Vorgeschichte zu jener Nacht heraus. Anna ist kürzlich aus Südafrika zurück- und in Hamburg noch nicht wirklich angekommen. Das hippe Leben als Großstadtjournalistin mit »Afterwork« auf der Schanze und Feiern in Szeneclubs bleibt ihr verwehrt. Ganz im Gegensatz zu ihren Arbeitskollegen. Mit diesen »Poptrotteln« teilt sie lediglich das Büro des popkulturbeflissenen Zeitungsressorts. Denn während jene bei Prosecco smalltalken und unbeschwert ihr privilegiertes Leben genießen, muss Anna nicht nur mit dem Selbstmord ihres Vaters zurechtkommen, sondern auch mit einer Mutter, die schwerkrank in einem Altersheim dahinvegetiert und sich nicht von »Zeitarbeitstussen« waschen lassen will. Diese Passagen in der Parallelwelt Seniorenheim nehmen im Laufe des Romans einen immer größeren Raum ein. Genaue Schilderungen der Schwierigkeiten beim Verstauen eines Rollstuhls im Kleinwagen oder der Atmosphäre bei Gemeinschaftsveranstaltungen gewähren einen erschütternden Einblick in die Tristesse solcher Institutionen, deren Bewohner immer zahlreicher werden. Dadurch setzt der Roman einen scharfen Kontrapunkt zur Gegenwartsbesessenheit der was-mit-Medien-machenden Generation Golf (Weitholz ist Jahrgang 68) und entlarvt deren

»Lifestyle« als empathielos und realitätsfremd. Krankheit und Tod sind in der Welt von Ludwig und seinesgleichen nicht vorgesehen, alte Menschen werden gemieden (»ich habe Angst mich anzustecken«), sich zu kümmern ist »Gutmenschmüll«. Dass das Buch dennoch keinem deprimierenden Kulturpessimismus huldigt, liegt wesentlich am Rhythmus des Romans. Wie Anna bei ihrem Job als DJane in Südafrika verschiedene Platten mischte, so wechseln sich die Beobachtungen der trostlosen Realität im Altersheim und des Hamburger Redaktionsalltags ab. Zudem gelingt es Weitholz durch ein enges Geflecht von popkulturellen Anspielungen, den oberflächlichen »Poptrotteln« die eigenen Themen abzujagen und diese unterhaltsam und klug in die Geschichte einzubinden. ■


Interventionen gegen die deutsche »Beschneidungsdebatte«

BUCH DES MONATS Kaum ein Thema hat im vergangenen Jahr die Gemüter so erhitzt wie die Beschneidungsdebatte. Nun zeichnet ein Buch ihren Verlauf nach – und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen Von Christine BuchholZ

★ ★★ BUCH | Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß, Salih Alexander Wolter | Interventionen gegen die deutsche »Beschneidungsdebatte« | Edition Assemblage | Münster 2012 | 96 Seiten | 9,80 Euro Argumentationsfigur, die sich beispielsweise in einem offenen Brief hunderter Ärzte wiederfindet, der auf FAZ.net veröffentlicht wurde. Darin hieß es: »Als Kinder der Aufklärung müssen wir endlich die Augen aufmachen: Man tut Kindern nicht weh!« Dabei wird offen die Assoziation mit Kindesmissbrauch und Genitalverstümmelung ge-

weckt. Diese scheinbar aufgeklärte Position macht es vielen atheistisch eingestellten Menschen leicht, sich auf die Seite der Beschneidungsgegner zu stellen. Auf einmal wird nicht mehr eine gemeinsame »jüdisch-christliche Kultur« propagiert, sondern die »freiheitlichdemokratische Grundordnung«. Die drei Autoren kritisieren solche Argumentationsmuster und stellen sich auf die Seite von Juden und Muslimen, die zu Recht eine Kriminalisierung jüdischer und muslimischer Eltern fürchten. Stattdessen verweisen sie auf das Recht der Eltern, ihre Kinder nach eigenen religiös-kulturellen Traditionen zu erziehen und zu sozialisieren. Heinz-Jürgen Voß gibt in seinem Beitrag einen hervorragenden Überblick über wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Beschneidung. In der öffentlichen Debatte wurde immer auf bestimmte Studien verwiesen, die einseitig Positionen der Beschneidungsgegner stützen. Internationale Studien, die die Folgen der Beschneidung auf die Empfindsamkeit des beschnittenen Penis untersuchen, kommen hingegen zu keinen

einheitlichen Ergebnissen. Auch stellen mehrere Studien fest, dass sich die Beschneidung im Säuglingsalter zum Beispiel positiv auf Harnwegsinfekte auswirkt, die Komplikationsraten sind gering. Zu der in der deutschen Debatte viel zitierten Traumatisierung durch Beschneidung gibt es zwar anekdotische, aber keine wissenschaftlichen Beiträge. Voß zitiert einen Artikel, der nahelegt, dass »gerade kulturelle Erwartungshaltungen Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden mit der Zirkumzision (Beschneidung, Anm. d. Red.) zeigen könnten. (…) Es ergeben sich daraus Hinweise, dass die herrschende Kultur und ihr Umgang mit Zirkumzision (und ggf. beschnittenen Menschen) wichtige Auswirkungen auf das Erleben der Zirkumzision haben.« Cetin, Wolter und Voß weisen mit Bezug auf den Schriftsteller Navid Kermani darauf hin, dass das Problem, »das hier beim Blick in fremder Männer Hose konstruiert wird«, vor allem »als Projektion derer, die selber nicht beschnitten sind« existiere. Sie betonen, dass sich im deutschen Sprachraum »keine innerjüdische oder im weitesten Sinn innermuslimische Initiative von Zirkumzisionsgegnern ausfindig machen« lasse. Das kleine, handliche und verständlich geschriebene Buch liefert nicht nur wichtige sachliche Argumente. Es ist vor allem deshalb so wertvoll, weil es gezielt in die Debatte innerhalb der gesellschaftlichen Linken eingreift. Denn es gehört zu den Paradoxien der Beschneidungsdebatte, dass Politiker von CDU und FDP Ansichten im Sinne einer toleranten, multikulturellen Gesellschaft vertreten haben, während die Positionen, die praktisch die Religionsfreiheit infrage gestellt haben, aus den Reihen von SPD, Grünen und LINKEN kamen. ■

REVIEW

I

m Dezember haben Bundestag und Bundesrat ein Gesetz zur Regelung der Beschneidung von minderjährigen Jungen verabschiedet. Das Gesetz war nötig geworden, weil seit einem Urteil des Kölner Landgerichtes vom Mai 2012 die religiös motivierte Beschneidung von Minderjährigen als strafbar galt. Die Debatte hierzu füllte während des Sommers die Zeitungen und Magazine. Wer allerdings gehofft hatte, dass nun nach der Verabschiedung des Beschneidungsgesetzes die religiöse Praxis von Juden und Muslimen in Deutschland nicht mehr infrage gestellt würde, wird enttäuscht. So sorgte Anfang Januar der Passauer Strafrechtler Holm Putzke mit der Aussage für Aufsehen, er halte das neue Gesetz für verfassungswidrig. Die Rolle, die besagter Putzke im Rahmen der öffentlichen Diskussion der vorausgegangenen Monate spielte, analysieren Zülfukar Çetin und Salih Alexander Wolter in dem gemeinsam mit Heinz-Jürgen Voß herausgegebenen Büchlein »Interventionen gegen die deutsche Beschneidungsdebatte«. Seit 2008 veröffentlicht Putzke regelmäßig Presseartikel, in denen er Eltern das Recht abspricht, über eine Beschneidung ihres Sohnes zu entscheiden. Mithilfe eines Freundes, der als Korrespondent bei der Financial Times Deutschland tätig war, konnte er dort am 26. Juni 2012 einen Artikel platzieren, der die deutsche Beschneidungsdebatte medienwirksam anstieß. Minutiös zeichnen die Autoren des Buches die Vor- und Nachgeschichte des Kölner Urteils nach, neben der Rolle Putzkes auch die Unregelmäßigkeiten im Verfahren. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich in der Debatte die Kritik an der Beschneidung minderjähriger Jungen mit antimuslimischen und antisemitischen Klischees mischt. Sie beschreiben, wie die Religionspraxis von Juden und Muslimen als defizitär beschrieben wird – eine

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C

Mein Lieblingsbuch

ase ist ein ausgebrannter CyberspaceCowboy, ein Hacker. Er war einer der Besten. Doch sein Versuch, sich auf Kosten seiner Auftraggeber zu bereichern, für die er das Netz durchstreifte, wurde hart bestraft: Seine Nerven sind von russischem Mykotoxinen so geschädigt, dass ihm der Zugang zur Matrix des Cyberspace unmöglich geworden ist. Doch er erhält eine zweite Chance. Der geheimnisvolle Armitage bietet ihm an, seine geschädigten Nerven in einer illegalen Klinik heilen zu lassen. Im Gegenzug muss Case einen heiklen Auftrag im Cyberspace übernehmen. Seine Begleiterin dabei ist Molly, eine Straßenkämpferin mit implantierten Sehlinsen und ausfahrbaren Skalpellen unter den Fingernägeln. Alle zusammen sind sie nur Schachfiguren, angeheuert von der künstlichen Intelligenz Wintermute, die sich aus ihren elektronischen Fesseln lösen will. Daraus entwickelt sich ein Abenteuer, das in mehreren Städten und im Orbit seinen Lauf nimmt. Cyberspace, künstliche Intelligenz, virtuelle Realität – im Jahr 2013 ist das alles kalter Kaffee, vieles mittlerweile Teil unserer Lebensrealität geworden. 1984 aber, als William Gibsons Roman »Neuromancer« erschien, hieß das Internet noch Bildschirmtext, kurz BTX, und kam von der staatlichen Post. Akustikkoppler machten drollige Piepsgeräusche wie die StarWars-Robotertonne R2D2, die Bildschirme waren klein und zeigten im Regelfall nur zwanzig Zeichen – deshalb erklärt der Übersetzer in den Fußnoten zur deutschsprachigen Ausgabe auch beflissen, was zum Beispiel ein Cursor ist. Damals bedurfte es erheblicher visionärer Kraft, um eine nahe Zukunft zu entwerfen, die den heutigen Zustände verdammt nahe kommt. Wie durchschlagend das Gibson gelungen ist, zeigt sich etwa darin, dass seine Wortschöpfung »Cyberspace« Jahre später sogar zum Synonym für das Internet wurde. Die Realität hat die Fiktion nicht nur eingeholt, son-

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Von marx21-Redakteur Stefan Bornost

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Neuromancer« von William Gibson

★ ★★ William Gibson | Neuromancer | Heyne | München 1987 | 366 Seiten | antiquarisch erhältlich

dern ihre Selbstbeschreibung aus der Fiktion selber geschöpft. »Neuromaner« hat auch eine neue Richtung in der ScienceFiction-Literatur begründet – den »Cyberpunk«. Nun macht eine solide technologische Prognose noch keinen lesenswerten Roman. »Neuromancer« ist aber mehr. Im Rahmen einer recht konventionellen Krimistory (Gruppe von Experten versucht, »das große Ding« durchzuziehen, in Form sowohl eines realen als auch eines virtuellen Einbruchs) entwickelt Gibson eine Gesellschaftsstudie über Macht und Dissidenz. Macht, das bedeutet in Cases Welt Konzernmacht: »Die Zaibatsus, die multinationalen Konzerne, die den Lauf der menschlichen Geschichte bestimmten, hatten alle Barrieren überwunden. Wenn man sie als Organismen betrachtete, hatten sie eine Art von Unsterblichkeit erlangt.« Doch die Kommandohöhen der Gesellschaft bleiben dem Leser genauso verschlossen wie den Protagonisten des Romans. Sie wühlen sich durch die Unterseite der Gesellschaft, durch die Slums der Megapoli und finden hier ihre Verbündeten – die Panther Moderns, eine technofetischistische Anarcho-Hackertruppe, oder die Rastafaris der Orbitalstation New Zion – Weltraum-Bauarbeiter mit Dreadlocks und Hass auf »Babylon«, das System. Die Geschichte von »Neuromancer« verläuft packend schnell, und die Sprache erscheint klar und kohärent wie ein Laser. Selbstverständlich liest sich das Buch heute anders als im Jahr 1990, als ich es zum ersten Mal in den Händen hielt. Natürlich strahlt die Seelenlosigkeit der beschriebenen Zustände auch auf die Protagonisten ab – Sympathieträger oder Identifikationsfiguren gibt es hier keine. Trotzdem: Diese Beschreibung einer Welt, in der wir nicht leben möchten, entfaltet nach wie vor eine Art Sogwirkung, auch wenn man mit Science-Fiction vielleicht sonst nichts anzufangen weiß. ■


BUCH

Norbert Mappes-Niediek | Arme Roma, böse Zigeuner – Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt

Jenseits von Zigeunerromantik Sie werden unterdrückt, bekommen keine Jobs und leben in Slums. Kaum einer ethnischen Minderheit in Europa geht es so schlecht wie den Roma Von Irmgard Wurdack Familien ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken – sofern sie es denn überhaupt vorher taten. Denn oft trauten sich die Kinder nicht dorthin, weil sie gemobbt wurden. Außerdem konnten sich viele Familien den Schulbesuch gar nicht leisten, weil dann ein Mitverdiener ausfiel. »Das Problem stellt sich besonders scharf in der Ostslowakei dar, wo die Roma während des Zweiten Weltkriegs und sogar danach an entlegene Orte umgesiedelt wurden, aus denen sie heute gar nicht mehr herauskommen.« Weit verbreitet ist das Klischee vom »klauenden Zigeuner«. Doch Mappes-Niediek weist darauf hin, dass eine höhere Diebstahlrate rund um die Slums keineswegs Roma-typisch sei, sondern wie überall auf der Welt zur Überlebensstrategie der Armen gehöre. Hingegen gebe es in RomaGhettos kaum Gewalttaten. Selbst in einem für Fehden berüchtigten Viertel der rumänischen Stadt Craiova fanden in fünf Jahren »nur« vier Morde statt. Das ist deutlich weniger als in vergleichbaren Slums in Brasilien oder Südafrika. Besonders beeindrucken die Teile des Buches, in denen sich Mappes-Niediek mit den vielfältigen Folgen von Unterdrückung auseinandersetzt. Roma in der Walachei und Moldavien lebten vom Mittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Sklaven. Die traumatischen Erlebnisse wirken in den Familien bis heute nach – ähnlich wie bei den Nachfahren der schwarzen Sklaven Nordamerikas. Scharf kriti-

siert Mappes-Niediek die Politik der EU-Staaten im gemeinsam ausgerufenen »Jahrzehnt der Roma-Inklusion« 2005 bis 2015. Für den Autor ist klar: Es gibt kein »Roma-Problem«, sondern ein Armutsproblem, das gelöst werden muss. Statt aber die allgemeine Armut in Südosteuropa zu bekämpfen, werde in unwirksame »Roma-Projekte« investiert. Mappes-Niediek schildert, dass sie an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeigehen, weil sie meist darauf abzielen, die Roma zu »erziehen« oder zu »fordern«. Vor allem aber schüre die vermeintliche Bevorzugung durch die EU den Hass anderer Bevölkerungsgruppen: »Besonders den Dorfbewohnern der Übergangsgesellschaften ging und geht es tatsächlich schlecht. Im ungarischen Gyöngyospata brach die Hysterie gegen die Roma in dem Moment aus, als die Finanzkrise dort angekommen war.« Die jüngsten Pogrome in Ungarn sollten Antirassisten und Antirassistinnen auch hierzulande eine Warnung sein. Wer Argumente gegen die Vorurteile sucht, die Innenminister Friedrich und andere derzeit gegen Roma-Flüchtlinge aus Südosteuropa schüren, wird in »Arme Roma, böse Zigeuner« fündig. Der Band ist lebendig geschrieben und so spannend, dass ich dem Autor gern nachsehe, dass im Reportage-Stil manchmal der rote Faden verloren zu gehen scheint und auch ein detaillierteres Inhaltsverzeichnis fehlt, das das Nachschlagen erleichtern würde. ■

★ ★★ BUCH | Norbert Mappes-Niediek | Arme Roma, böse Zigeuner – Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt | Christoph Links Verlag | Berlin 2012 | 208 Seiten | 16,90 Euro

REVIEW

M

it einer Gesamtzahl von – je nach Schätzung – bis zu zwölf Millionen stellen Roma die größte ethnische Minderheit in Europa dar. Die Wurzeln ihrer Herkunft reichen bis nach Indien, rund 70.000 Roma und Sinti haben einen deutschen Pass, die meisten von ihnen leben in Südosteuropa. Wer sich für die Entstehung der über sie kursierenden, sich hartnäckig haltenden Vorurteile interessiert, dem sei das Buch »Arme Roma, böse Zigeuner« von Norbert Mappes-Niediek nachdrücklich empfohlen. Eindrucksvoll stellt der Journalist darin die Situation der Roma in Südosteuropa dar. Bis zum Zusammenbruch des »Ostblocks« waren die meisten dort in den Arbeitsprozess integriert. Allerdings hatten sie die einfachsten und am schlechtesten bezahlten Jobs, die nach dem Siegeszug des Neoliberalismus als erste wegrationalisiert wurden. In Rumänien verloren nach dem Sturz des Diktators Ceausescu ausnahmslos alle Roma ihre Arbeitsplätze. Armut und Obdachlosigkeit waren die Folge. Viele leben heute in Slums, ohne Strom und fließendes Wasser, wie zum Beispiel am Rand der berühmt-berüchtigten Müllhalde Pata-Rât. Mit dem Verkauf von gesammeltem Müll kämpfen sie hier ums tägliche Überleben. Da in vielen Staaten die Buslinien zwischen Roma-Siedlungen und den Ballungszentren privatisiert und schließlich eingestellt wurden, können viele

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BUCH

Romeo Rey | Solidarity – Entwürfe zu einer neuen Gesellschaft

»Eine Utopie, die einmal Realität sein wird« Als Lateinamerika-Korrespondent verschiedener deutschsprachiger Zeitungen eröffnete Romeo Rey eine andere Perspektive auf die Situation des Kontinents. Sein neues Buch ist eine scharfe Abrechnung mit den herrschenden Zuständen – und dennoch voller Zuversicht Von Helmut Horst

A

★ ★★ BUCH | Romeo Rey | Solidarity – Entwürfe zu einer neuen Gesellschaft | VSA Verlag | Hamburg 2012 | 320 Seiten | 24,80 Euro

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usgangspunkt des Buches »Solidarity« bildet eine deutliche und ausführliche Kritik am kapitalistischen Prinzip der Profitmaximierung ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Folgen. Doch Romeo Rey belässt es nicht dabei, sondern wagt einen Gegenentwurf, der zwar zunächst utopisch scheint, jedoch »in wichtigen Teilen jetzt schon existiert und im Bewusstsein vieler Menschen tief verwurzelt ist«. Ziel der Bemühungen Reys ist »eine alternative Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung, die den Gedanken der Solidarität auf Kosten der Gewinnund Konkurrenzmentalität in den Vordergrund rückt«. Dabei setzt er auf umfassenden sozialen Ausgleich, um eine egalitäre, friedliche Gesellschaft und hinreichende Lebensqualität für alle zu schaffen. Wichtigster Hebel zur Bekämpfung der immensen globalen Ungerechtigkeit ist für den Autor eine radikale Reform der Steuerpolitik. Der Staat müsse sich endlich das Geld bei denen holen, die im Reichtum schwimmen. Durchsetzen ließe sich das, schreibt Rey, mit einer kombinierten Strategie aus scharfer Steuerprogression, wirksamer Besteuerung von Erbschaften, internationaler Besteuerung von Finanzgeschäften (nach dem Modell der »Tobinsteuer«) und der Beseitigung von Steueroasen. Die Demokratisierung der Ge-

sellschaft ist Reys zentrales Anliegen. Er stellt sich in die Tradition, die Gesellschaft von unten zu verändern. Hier sieht er aktuell erfolgversprechende praktische Ansätze. Dabei kann der Autor auf seine langjährige Erfahrung als LateinamerikaKorrespondent zurückgreifen. Neben dem Widerstand der Occupy-Bewegung, den Weltsozialforen, den attac-Organisationen in vielen Ländern, beschreibt er den Aufbau von Basisorganisationen und Gemeinderäten in südamerikanischen Ländern wie in Kuba, Venezuela, Ecuador und Bolivien. Auch das wirtschaftliche und politische Bündnis »Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika« (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América, ALBA), das durch solidarische Handelsbeziehungen der Mitgliedsländer für Unabhängigkeit von den USA und Europa sorgen soll, sieht Rey als Grundlage für eine gemeinsame Überwindung der Unterentwicklung an. Besonders wichtig ist ihm die Demokratisierung der Wirtschaft. Die Beschäftigten müssen echte Mitbestimmungsrechte erhalten und an den Gewinnen ihrer Firmen beteiligt werden. Das gesamte Wirtschafts- und Finanzsystem müsse demokratisch reguliert werden. Der Autor übt Kritik am verbreiteten Wachstumsmythos. Statt-

dessen propagiert er eine Ökonomie der »Lebensfülle« mit Zeitsouveränität und Lebensqualität auf der Basis materieller Genügsamkeit. Rey zitiert den ägyptischen Wirtschaftswissenschaftler Samir Amin, der aus früheren Versuchen, mit dem Kapitalismus zu brechen, die Lehre zog: »Sozialismus ist entweder demokratisch oder er existiert nicht«. Gerade in der Tatsache, dass die weltweite Wirtschaftskrise immer dramatischer wird, sieht Rey die Chance für den notwendigen Umbruch. Sein Resümee ist optimistisch: »Das ist unsere Zukunft: Solidarität aller mit allen, die an diese Bestimmung der Gemeinschaft glauben, das ferne Ziel einer auf das Gemeinwohl ausgerichteten Wirtschaft im Auge behalten und das alte System der Profitmaximierung um jeden Preis, des individuellen und kollektiven Egoismus und des inhumanen Materialismus begraben wollen.« Durch konkrete Vorschläge und kenntnisreiche Fallbeispiele leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zur aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussion und wirkt wie inspirierendes Gegengift zum verbreiteten Krisenpessimismus. ■


D

er englische Historiker Perry Anderson kommentiert in Le Monde diplomatique (Nr. 9982, 14.12.2012) die Vergabe des Friedensnobelpreises an die Europäische Union. Dabei kritisiert er jene Stimmen, die in der EU ein Vorbild für die zukünftige Weltgesellschaft sehen. Bei solcher Euphorie habe »der europäische Narzissmus der letzten zwanzig Jahre einen neuen Gipfel erreicht«. Anderson kontrastiert dies mit der Tendenz, dass sich Deutschland zu einer »regionalen Großmacht« in Europa entwickele.

Als Obdachlose zogen zwei Reporter vor einem Jahr durch Kronberg im Taunus, eine der reichsten Gemeinden Deutschlands. Auf ihrer Suche nach Essen und Unterkunft erhielten sie wenig Hilfe. Nun haben sie sich in einen der ärmsten Bezirke des Landes begeben. Eine Woche lang waren sie in Berlin-Neukölln in zerschlissener Kleidung und zertretenen Schuhen unterwegs – und haben Unerwartetes erlebt: Entgegen der Voraussagen von Soziologen schlug ihnen große Hilfsbereitschaft entgegen. Die beeindruckende Sozialreportage hat Die Zeit (Nr. 52/2012) unter dem Titel »Maria und Josef in

von Win Windisch und Marcel Bois

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Publikationen

★ ★★ WEBLINKS Le Monde diplomatique: www.monde-diplomatique.de Prokla: www.prokla.de Die Zeit: www.zeit.de Blätter für deutsche und internationale Politik: www.blaetter.de Rosa Luxemburg Stiftung: www.rosalux.de Neues Deutschland: www.neues-deutschland.de SoZ: www.sozonline.de International Socialism: www.isj.org.uk

Er baute im Auftrag der Kommunistischen Internationale das zweitgrößte Medienunternehmen der Weimarer Republik auf. Heute ist Willi Münzenberg nahezu in Vergessenheit geraten. Im Oktober lud die Rosa Luxemburg Stiftung (RLS) zur ersten wissenschaftlichen Tagung seit zwanzig Jahren über das Leben des Kommunisten. Lesenswerte Berichte darüber haben Ralf Hoffrogge (auf der Homepage der RLS), Mario Keßler (Neues Deutschland, 15.10.2012) und Raimund Waligora (SoZ, Januar 2013) verfasst. In Frankreich steckt die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) in einer tiefen Krise. Viele Mitglieder sind ausgetreten. Denis Godard ist zwar noch dabei, doch er verlangt einen Neuanfang und fordert, die eigenen Fehler ehrlich zu analysieren. In International Socialism (Nr. 137, Winter 2013) schreibt er, schuld an der Krise sei nicht die Konkurrenz durch die Linkspartei Front de Gauche, sondern das eigene Versäumnis, sich in die zahlreichen neuen Bewegungen nicht stärker eingebracht zu haben. Ein spannender Text über das Wechselverhältnis von Bewegung und Organisation (nur auf Englisch). ■

REVIEW

Die Krisenjahre haben einen Trend deutlich gemacht: Die chinesische Wirtschaft ist in eine neue Phase getreten. Das Land ist nicht mehr nur ein Exporteur mit einem wachsenden Binnenmarkt. Seine Unternehmen treten nun selbst als Investoren im Ausland auf. Unter dem Titel »Staatskapitalismus goes global« beschreibt Sarah Nagel in der Zeitschrift Prokla (Nr. 169, Dezember 2012) diese Entwicklung. Sie zeigt, wie der Staat seit zwanzig Jahren seine eigenen Unternehmen immer stärker fusionieren lässt, damit sie auf dem Weltmarkt bestehen können. Zugleich fördere er aber die Konkurrenz untereinander und die Entstehung eines privatwirtschaftlichen Sektors.

Neukölln« veröffentlicht. Einst schrieb Karl Marx, die Presse sei erst frei, wenn sie kein Gewerbe mehr sei. Angesichts der Insolvenz der Frankfurter Rundschau und der Einstellung der Financial Times Deutschland erhält dieser Satz eine ganz neue Aktualität. In den Blättern für deutsche und internationale Politik (Nr. 1/2013) analysiert Reinhard Blomert die Auswirkungen des Zeitungssterbens auf die Meinungsvielfalt eines Landes. Zugleich zeigt er Alternativen zum Marktwahnsinn der Medienlandschaft auf. In Italien und Frankreich beispielsweise würden Tageszeitungen staatlich subventioniert – um die Demokratie zu stützen.

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Preview Š seven resist / CC BY-NC-SA / flickr.com


SPIEL

Grand Theft Auto V | Rockstar Games

Zeichen von Realität und Widerstand »Grand Theft Auto« ist seit Jahren eine der erfolgreichsten Computerspielserien. Auch der fünfte Teil führt das bewährte Konzept fort. Doch mit der Figur des einsamen Rächers ist es endgültig vorbei Von Richard Plant ler eine Runde »GTA« spielt: Intellektuell mag er das ganze Spektakel auseinandernehmen, doch zugleich wird er auf eine Weise zum aktiven Komplizen des Geschehens, wie es beim passiven Konsum anderer Medien nicht möglich ist. Was will uns Rockstar mit diesem Spiel sagen und welche Zeichen von Widerstand und Realität sind darin zu erkennen? Das prägende Moment unserer Zeit ist die kapitalistische Krise, die Kürzungspolitik und der Widerstand dagegen. »GTA IV« war in vielerlei Hinsicht eine Wetterfahne im Wind der aufkommenden Unsicherheiten in der Ära vor dem Crash. Vordergründig handelt es sich um eine amerikanische Erfolgssaga, denn der Held mit Migrationshintergrund, Niko Bellic, schafft es durch Rücksichtslosigkeit und Verrat bis in die obersten Kreise. Doch oben angekommen, muss er feststellen, dass Wohlstand und Glück ihm versagt bleiben, während die wirkliche Macht fest in der Hand der Mafia-Elite bleibt. Was zunächst wie eine Glorifizierung gewaltsamer Eroberung daherkommt, ist letzten Endes eine Verdammung jener Aufsteiger, die die Verantwortung gegenüber ihren eigenen Leuten vergessen. Die neue Version zeigt, dass die Entwickler viel gelernt haben aus den Zeiten, die wir durchleben. Statt mit einem einsamen Antihelden auf der Suche nach Macht und Vergeltung haben wir es nun mit Gaunern und Ausgestoßenen zu tun. Die Anforderungen an ein erfolgreiches Actionspiel verlangen, dass jeder Charakter zum Killer und Verfolgten wird – aber mit dem triumphalen Gefühl des Außenseiters, der ganz allein die Machtstrukturen mit physischer Gewalt umstürzen kann, ist es vorbei. Die zu Ende gehende Phase kapitalistischer Entwicklung wirft einen langen Schatten, auch auf die apokalyptischen Gewaltfantasien der Unterhaltungsindustrie. ■

★★★

SPIEL | Grand Theft Auto V Rockstar Games | 59 bis 69 Euro | erscheint im Frühjahr 2013

PREVIEW

D

er Spieleentwickler Rockstar Games ist wieder da mit einer neuen Version von »Grand Theft Auto«. Das Marketing für »GTA V« läuft schon seit geraumer Zeit auf vollen Touren: Das größte derartige Spiel, das das Unternehmen jemals geschaffen habe, wird uns versprochen. Die erste Auszeichnung hat es bereits: Obwohl es erst diesen Frühling in die Läden kommt, hat ein Senator in den USA nach dem Massaker an einer High School ein Verbot des Spiels gefordert. In sorgfältig inszenierten Presseankündigungen werden uns nach und nach Informationshäppchen serviert. Wir erfahren beispielsweise, dass es drei Hauptcharaktere gibt, deren Geschichten miteinander verwoben sind. Abspielen soll sich das Ganze in einer Art idealisiertem Los Angeles. Jetzt sind wir im Bilde. Aber in welchem? Anders ausgedrückt: Warum sollten sich Sozialisten für solch ein kommerzielles Spiel interessieren? Die bürgerlichen Medien reduzieren es auf die Darstellung von Gewalt oder befassen sich erst gar nicht damit, da sie meinen, es liege unter ihrem Niveau. Dem gegenüber stehen Millionen Spielerinnen und Spieler aus allen gesellschaftlichen Schichten. Ein Thema wären auch die zahlreichen Arbeiterinnen und Arbeiter in der Spieleindustrie, fast alle in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, und auf der anderen Seite ein Riesenprofit, der selbst die Gewinne der wachsam beobachteten Filmindustrie in den Schatten stellt. Für eine marxistische Spielekritik gibt es aber noch eine ergiebigere Herangehensweise, indem nämlich der ideologische Dialog zwischen dem Erzeugnis der Unterhaltungsindustrie und der Spielerin oder dem Spieler in den Fokus gerückt wird. Der Kampf um die kulturelle Hegemonie wird selten so anschaulich wie dann, wenn ein kritischer Spie-

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KONGRESS | Zehnte Linke Medienakademie

»In der veränderten Medienwelt Gehör finden« Im März findet in Berlin die zehnte Linke Medienakademie statt. Geschäftsführer Christoph Nitz erklärt, warum Revolutionäre auch Layouten lernen sollten Interview: Carla Assmann Die Linke Medienakademie findet dieses Jahr zum zehnten Mal statt. Was ist die Idee hinter dem Kongress? Professionelle und ehrenamtliche Medienarbeiterinnen und -arbeiter sollen zusammenkommen und sich vernetzen, weiterbilden und diskutieren. Seit ihrer Gründung 2002 steht die LiMA für den Anspruch, alternatives Denken, politische Haltung und gesellschaftliches Engagement mit professioneller und kompetenter Kommunikation zu verknüpfen. Guten Journalismus vorantreiben, spannende Medienkonzepte entwickeln, das Internet geschickt und mit geringem Budget nutzen, sich mit anderen vernetzen – mit dem Konzept sind wir mittlerweile der größte alternative Medienkongress Deutschlands. Was macht ihr für Projekte? Neben dem jährlichen Kongress in Berlin bieten wir inzwischen in vielen Bundesländern Tages- und Wochenendseminare an. Mit LiMAregional wollen wir unsere Idee des Dreiklangs von Debatte, Netzwerk und (Weiter-)Bildung auch vor Ort entwickeln. Erstmalig haben wir letztes Jahr einen Kurzfilmwettbewerb durchgeführt. Das wollen wir in diesem Jahr fortsetzen. Die meisten Projekte entstehen im Dialog zwischen den Teilnehmenden. Als gemeinnütziger Bildungsverein mit geringen Ressourcen könnten wir das auch gar nicht anders organisieren. Die diesjährige LiMA vom 11. bis 17. März steht unter dem Motto »Fair | Ändern«. Das ist doch mehr als ein griffiges Wortspiel? 98

Christoph Nitz

Christoph Nitz ist Journalist und Dozent für Medienthemen in Berlin.

★ ★★ DER KONGRESS Die 10. Linke Medienakademie findet vom 11. bis zum 17. März an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin statt. Tickets für die Workshops an den ersten gibt es ab 15 Euro. Der Besuch des Kongresswochenendes ist kostenfrei Tickets und alle Infos zur #LiMA13 unter: www.lima13.de

Veränderung passiert überall und jeden Tag – es kommt darauf an, dass diese Änderungen der Lebensverhältnisse »fair« und solidarisch und nicht neoliberal und ausgrenzend sein sollten. Gerade vor dem Hintergrund des dramatischen Wandels der Medienwelt ist es für linke Aktive besonders wichtig, dass die Idee einer solidarischen Gesellschaft Gehör findet. In der digitalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts müssen wir auch über

Veränderungen der Arbeitswelt diskutieren. Die Abwälzung der Krisenfolgen auf die Bevölkerung wird auch dieses Jahr ein großes Thema sein. Dabei spielen Medien eine besondere Rolle, gleichzeitig sind gerade sie auch von der Krise betroffen. Gegen die Macht der internationalen Konzerne müssen wir eine Gegenmacht linker Positionen stark machen. Was erwartet Teilnehmerinnen und Teilnehmer der LiMA? Dieses Jahr bieten wir in der Woche und am Sonntag Weiterbildungsangebote an. Auf unserer Website findet jeder sein individuelles Programm. Insgesamt werden rund achthundert Stunden (Weiter-) Bildung zur Auswahl stehen. Die Workshops gliedern sich thematisch in Foto und Grafik, Öffentlichkeitsarbeit, Online, Print, Radio und TV, Recherche, Ressourcen und Fundraising. Exkursionen sollen einen Einblick in die Arbeit verschiedener Redaktionen und Archive geben.

Zum Abschluss des Kongressen findet von Freitagabend bis Sonntag die LiMAarena statt. Was hat es damit auf sich? Die LiMAarena ist das Format der Köpfe und Themen auf der Linken Medienakademie, bei der man den besonderen politischen Charakter des Medienkongresses spürt. Im Rahmen von Podien, Vorträgen, Lesungen und Diskussionsrunden werden zu folgenden Schwerpunkten Meinungen gebildet und ausgetauscht: »Linke und das Web«, »Lobbyismus«, »Aktiv gegen rechts«. Auch Film und Theater ergänzen das Weiterbildungsangebot. ■


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erklärt, wer für den Hunger in der Welt verantwortlich ist

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analysiert die Rolle der Gewerkschaften in der Krise

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Nicole Gohlke [MdB DIE LINKE]

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