marx21 Ausgabe Nummer 31 / 2013

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marx 21 03/2013 | JuLI / August / september

marx 21.de

4,50 eurO | www.mArx21.de

Magazin für internationalen SozialiSMuS

euro-Debatte Raus aus der Gemeinschaftswährung? türkei Anatomie einer neuen Bewegung

illan Pappe

stellt seine Vision für einen Frieden in Nahost vor

Bodo ramelow

über den NSU & die tödlichen Manöver der Geheimdienste

Kate Davison fragt: Wie links ist Femen?

h&M Aushilfen im Arbeitskampf richard Wagner Zwischen Revolution und Antisemitismus schulstart Inklusion als verstecktes Sparpaket?

T S I L A G E E I W ? L H A DIE W

ir w , lt h ä z ig n e w chen z u e r K s a d m u r llten. o s Wa n le h ä w E K DIE LIN m e d z t o r t r e b a

Österreich 4,70 eUrO schWeiZ 7,50 chF

radikale Denker Antonio Gramsci – Eine Einführung



Seit Monaten hetzt die französische Rechte gegen Homosexuelle. Ihre weit ins konservative Milieu ausgreifende Kampagne gegen die gleichgeschlechtliche Ehe brachte Hunderttausende auf die Straße. Zunehmend übernahmen gewaltbereite rechtsradikale und katholisch-nationalistische Gruppen die Regie. Mehrfach kam es zu heftigen Ausschreitungen. Überhaupt werden Homosexuelle in Frankreich so offen wie schon lange nicht mehr beschimpft und attackiert. Doch gleichzeitig wächst auch der Widerstand gegen Homophobie. Wie hier Ende Januar in Paris, kam es in den vergangenen Wochen immer wieder im ganzen Land zu zahlreichen Großdemonstrationen für die »Ehe für alle« und für das Recht auf Adoption von Kindern. »Wir bitten um nichts – wir fordern die Gleichstellung«, lautete eine der Parolen, unter der die bunte Demo mit über 150.000 Menschen über den Place de la Bastille zog.

Liebe Leserinnen und Leser,

S

eitdem marx21 auch am Kiosk erhältlich ist, erreichen uns immer wieder schöne kleine Kennenlerngeschichten, zuletzt von einer Leserin aus Bonn. Beim Durchblättern unseres Heftes entdeckte sie die Werbung für den Kongress »MARX IS‘ MUSS«. Dort war unter anderem der britische Marxist Alex Callinicos als Referent angekündigt. Von dem hatte sie gerade eben im Türkeiurlaub ein Buch gelesen, das ihr gut gefallen hatte. Deshalb kam sie nach Berlin zum Kongress, fand auch ihn überzeugend und wurde schließlich Unterstützerin unseres Netzwerks. Stichwort »Marx is‘ muss«: Es war eine durchweg gelungene Veranstaltung, das Feedback der über 500 Besucher überwiegend positiv. Ein Highlight zu Beginn stellte der Vortrag von Bodo Ramelow zum NSU-Skandal dar. Wir fanden ihn jedenfalls so gut, dass wir Bodo gleich im Anschluss dazu interviewten. Das Ergebnis könnt ihr ab Seite 16 nachlesen. Einen Bericht über den Kongress gibt es auf Seite 62. Nach dem Kongress ist ja bekanntlich vor dem Kongress – und überhaupt können wir uns nie über zu wenig Arbeit beschweren. Daher freuen wir uns sehr, dass wir beim Erstellen dieser Ausgabe Unterstützung von einem Praktikanten hatten. Marcus Stein hat Bilder gesucht, Texte korrigiert – und seine Meinung zum Drohnen-Desaster der Bundesregierung kundgetan. Seinen Kommentar gibt es auf Seite 23. Nicht nur Marcus bringt frischen Wind in unser kleines Büro, auch die ersten Verkaufszahlen unseres Kioskgangs sind nun bei uns reingeflattert. Sie sind noch nicht endgültig, doch mit großer Sicherheit können wir sagen, dass deutlich mehr als 400 Exemplare der Februar-Ausgabe über die Ladentische gegangen sind. Angesichts von etwa 900 Abonnentinnen und Abonnenten sowie 200 bis 300 Exemplaren, die normalerweise im Handverkauf weggehen, ist das ein ausgesprochen gutes Ergebnis – und mehr, als wir uns erhofft hatten. Der Sommer wird heiß – zumindest politisch. Ende September steht die Bundestagswahl an. Doch wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten, sagt nicht nur der Volksmund. Wir sehen das auch so – und plädieren trotzdem dafür, den Weg an die Wahlurne zu gehen. Warum, könnt ihr in unserem Schwerpunkt ab Seite 24 nachlesen. Zum Schluss noch ein kleiner Literaturtipp, falls euch dieses Heft als Sommerlektüre nicht ausreichen sollte: Kürzlich ist die neue Ausgabe unserer Theoriezeitschrift »theorie21« zum Thema »Marxismus und Gewerkschaften« erschienen. Unter anderem schreibt darin unsere Redakteurin Carolin Hasenpusch zusammen mit Olaf Klenke über das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse. Wir werden nun eine längere Sommerpause einlegen, damit wir uns – nach ein paar Tagen Urlaub und Verschnaufpause – mit vollem Elan dem Wahlkampf widmen können. Kurz nach der Bundestagswahl, Anfang Oktober, erscheint unsere nächste Ausgabe. Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin 030 / 89 56 25 10 redaktion@marx21.de www.facebook.com/marx21.de

EDITORIAL

© Association Nationale de Formation à l‘Actualité et aux Documentaires Voir / www.anfad.fr / CC BY-NC-ND

Frankreich

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NSU-Skandal

Femen: Sextremismus?

16

52 25 Wahlkampf von links

Aktuelle Analyse

Titelthema: Wie egal ist die Wahl?

Schwerpunkt: 150 Jahre SPD

08 Euro-Debatte: Das Entscheidende ist nicht die Währung Von David Meienreis

25 Gesellschaftliche Gegenkräfte stärken Von Christine Buchholz

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Die Deformpartei Von Stefan Bornost

12 Türkei: Revolution liegt in der Luft Von Erkin Erdoğan

28 Unsere Arena ist die Straße Von Bernd Riexinger

37

Willys Absturz Von Stefan Bornost

16 NSU: »An Pannen mag ich nicht glauben« Interview mit Bodo Ramelow

30

40

Agenda fatal Von Volkhard Mosler

Linke in Frankreich: »Ergreift die Macht!« Von Hadrien Clouet

44 Syrien: Putins Schüler Von Stefan Ziefle

Unsere Meinung 22

Barbie Dreamhouse: Pink stinkt Kommentar von Carolin Hasenpusch

23 Drohnen-Debakel: Unbemannte Interessenvertretung Kommentar von Marcus Stein 4

INTERNATIONALES

Türkei

neu auf marx21.de

Wie geht es weiter mit den Protesten? Wir berichten. Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

47 Mali: Die Legende vom sauberen Krieg Von Christine Buchholz 48 »Wir haben den Palästinensern ihr Land gestohlen« Interview mit Ilan Pappe


82 Wagner: Ersehnte Götterdämmerung

72 12 Türkei: Revolution liegt in der Luft

Frauenbewegung

Schulstart

Rubriken

52

72 Inklusion: Ein verstecktes Sparpaket? Von Nicole Eggers und Yaak Pabst

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 20 Fotofeature 42 Weltweiter Widerstand 64 Was macht das marx21-Netzwerk? 86 Review 95 Quergelesen 96 Preview

Femen: Der neue Sextremismus Von Kate Davison

Betrieb & Gewerkschaft

NEUE SERIE: Radikale Denker (1)

56 H&M: »Wir müssen Klassenkampf neu lernen« Interview mit Jan Richter

76

Antonio Gramsci Von Benjamin Opratko

Klassiker der Monats Netzwerk marx21 62 Nachruf auf Alexandra B. Cooper Von Loren Balhorn

80 E.P. Thompson: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse Von Christoph Jünke

GESCHICHTE

Kultur

66

17. Juni 1953: »Akkord ist Mord« Von Bernd Gehrke

82

70

Antifaschist Peter Edel: Der Fälscher Von Florian Osuch

Wagner: Ersehnte Götterdämmerung Von Simon Behrman und Rosemarie Nünning

INHALT

Inklusion: Ein Sparpaket?

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 7. Jahrgang, Heft 31 Nr. 3, Sommer 2013 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Carla Assmann, Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller, Carolin Hasenpusch, David Jeikowski, Yaak Pabst, Marcus Stein (Praktikant) Ständige Mitarbeit Frank Eßers (Umweltthemen), Win Windisch (Quergelesen) Lektorat Carla Assmann, Marcel Bois, Brian Janßen, David Paenson, Marijam Sariaslani, Manfred Schäfer, Christoph Timann Übersetzungen David Meienreis , Rosemarie Nünning, David Paenson Layout Georg Frankl, Yaak Pabst, Paula Rauch Covergestaltung Yaak Pabst, Carsten Schmidt Redaktioneller Beirat Michael Bruns, Christine Buchholz, Nicole Gohlke, Stefanie Graf, Ole Guinand, Werner Halbauer, Tim Herudek, Lisa Hofmann, Sven Kühn, Volkhard Mosler, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Azad Tarhan, Janine Wissler, Luigi Wolf, Hubertus Zdebel Redaktion Online Ole Gvynant, Jan Maas (verantw.), Paula Rauch, Marijam Sariaslani Aboservice-Team Phil Butland, Stefan Hanczuch, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 7. Oktober 2013 (Redaktionsschluss: 16.09.) 6

Carolin Hasenpusch, Redakteurin

M

an muss kein Hellseher sein, um sich vorzustellen, was im Herbst 2001 im Hause Hasenpusch los war. Carolin, damals 15 Jahre alt, wollte auf ihre erste Demo gehen, gegen den Afghanistankrieg protestieren. An sich keine große Sache. Doch das Pikante an der Geschichte: Ihr Vater arbeitete damals im Verteidigungsministerium. Da wird das Private schnell politisch. Dass es an der Zeit war, zu rebellieren, hat Carolin früh gemerkt: Mit 13 aß sie kein Fleisch mehr, färbte sich die Haare lila und weigerte sich, zur Konfirmation zu gehen. Das reichte aus, um die Familie zu schockieren. Ihre politische Sozialisation erfolgte folgerichtig nicht über das Elternhaus, sondern zusammen mit der besten Freundin. Später, während des Studiums, beschäftigte sich Carolin mit der Frankfurter Schule. Zugleich wuchs in ihr der Wunsch, Theorie und Praxis zusammenzubringen. Sie wollte nicht nur linke Bücher lesen und auf Demonstrationen gehen, sondern sich dauerhaft politisch organisieren. Kürzere Engagements bei Attac und in kleinen feministischen Gruppen konnten sie jedoch nicht ganz überzeugen. Im Jahr 2009 hielt sie sich in Istanbul auf, um an der Planung und Durchführung eines Gegenkongresses zum IWF- und Weltbanktreffen mitzuwirken. Dort hörte sie dann zum ersten Mal von marx21. Türkische Sozialisten erzählten ihr von uns. Zurück in Deutschland wurde Carolin schließlich Unterstützerin des Netzwerks. So kam sie dann auch zur Redaktion. Im Jahr 2011 fragte sie uns an, ob wir Interesse an einem Artikel über das Mesopotamische Sozialforum im kurdischen Diyarbakir hätten. Doch die Mail ging unter, erzählt sie. »Aber irgendwie bekam ich Wochen später eine E-Mail mit der Frage, ob ich Lust hätte in der Redaktion dabei zu sein.« Sie hatte Lust. Und wir sind froh, eine kompetente Rebellin in unseren Reihen zu wissen – auch wenn die Haare längst nicht mehr lila sind.

Das Nächste Mal: Phil Butland


ein begrenzter Entscheidungsspielraum für die Gestaltung ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse bleibt. Das Persönliche ist nicht politisch. Politisch ist, dafür zu kämpfen, dass junge Leute die Wahl haben, selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen. Frank Renken, Berlin

Zum Artikel »Ein Erfolg für die kurdische Bewegung« von Serdar Damar (Heft 2/2013)

Zur Titelseite von Heft 2/2013 Das Design ist echt eine Spitzenleistung! Freek Blauwhof, auf unserer Facebook-Seite Das Design der Zeitschrift allgemein ist hochprofessionell und sehr cool. Inhaltlich bin ich auch sehr angenehm überrascht. Dietmar Gottfried, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Let’s talk about sexism, baby« von Kate Davison (Heft 2/2013) Kate hebt im ersten Teil ihres Artikels zu Recht den Zusammenhang zwischen Klassengesellschaft und den ideologischen Auswüchsen der Frauenunterdrückung hervor. In ihren Schlussfolgerungen macht sie indes die persönliche Ethik zum entscheidenden Hebel für Veränderung. Sie argumentiert, dass wir die »Kritik an den sexistischen Ergüssen der Werbeindustrie ebenso unterstützen wie den bewussten Widerstand gegen die Festlegung auf geschlechtsspezifische Rollenbilder. Wir sollten auch versuchen, in unserem eigenen Leben und unseren Beziehungen solchen Mustern zu widerstehen.« Solche Aufforderungen zur Selbstläuterung ersetzen politische Strategien durch eine gehörige Portion Moralismus. Der Appell, Rollenbildern zu widerstehen ist deshalb auch immer gepaart mit dem Aufbau eines diffusen Drucks auf die Familien. Was ist gewonnen, wenn die eigenen Kinder in ein Schema gepresst werden, das den Jungs die Spielzeugautos und den Mädchen die Barbiepuppen verbietet? Kate sagt, junge Leute hätten ein »falsches Bewusstsein«, wenn die Frau hauptsächlich zu Hause bliebe und der Mann arbeiten ginge. Wer bestimmt, was das »richtige« Bewusstsein ist? Moralappelle suggerieren – ebenso wie die Bilder der Werbung – eine persönliche Freiheit, die es im Kapitalismus nicht gibt. Tatsächlich regieren die Zwänge des Arbeitsmarktes heute dermaßen in die meisten Arbeiterfamilien hinein, dass nur

Serdar hat mit seinem Artikel ein Loblied auf die PKK angestimmt. Das von ihm gezeichnete Bild dieser Organisation, die seit Jahrzehnten einen bewaffneten Kampf für die Befreiung Kurdistans führt, bedarf allerdings einer Korrektur. Die 1978 gegründete PKK war ein Produkt der Auseinandersetzungen in der türkischen Linken, die sich fast ausschließlich am Stalinismus oder Maoismus orientierte. Die Mehrheitsposition war, dass sich die Kurdenfrage nach der angestrebten Revolution von selbst löse. Diese mechanische Sichtweise, die von einer politischen Entwicklung in Etappen ausgeht, hat die PKK übernommen. Nur ist die Reihenfolge eine andere: erst die Lösung der Kurdenfrage durch einen eigenen Staat, dann die Revolution. In Serdars Darstellungen fehlt ein Hinweis auf das politische Programm der PKK. Das macht es ihm leicht, die Entwicklung der letzten Zeit als Erfolg zu verbuchen, ohne sich kritische Fragen zu stellen. Öcalan verhandelt aus dem Gefängnis mit der türkischen Regierung und erklärt hinterher einen Waffenstillstand und den Verzicht auf einen eigenen kurdischen Staat. Im Gegenzug will die Regierung die Rechte der Kurden stärken. Das alles, weil die kurdische Bewegung unter Führung der PKK so stark ist. Vor nicht einmal drei Jahren hat die Opposition in der Türkei, einschließlich der Kurden, geschlossen gegen das von Ministerpräsident Erdogan angestrengte Verfassungsreferendum gestimmt – und damit für die Beibehaltung der Verfassung der letzten Militärdiktatur. Dafür hatten sie vor allem zwei Argumente: Zum einen ging ihnen die Reform nicht weit genug, zum anderen befürchtete sie eine Stärkung der politischen Rolle des Präsidenten, weil der nun direkt vom Volk und nicht mehr vom Parlament gewählt wird. Hinter allem wurde die Gefahr einer schleichenden Machtübernahme durch die religiösen Fundamentalisten in der AKP vermutet, die mit dem Referendum den Einfluss des Militärs beschneiden wollten, um selbst mehr Spielraum zu gewinnen.

Trotz der breiten Opposition hat Erdogan das Referendum gewonnen und ist gestärkt daraus hervorgegangen. Weder eine schleichende Machtübernahme durch Fundamentalisten ist seitdem erkennbar noch ein Erstarken des kurdischen Befreiungskampfes. Trotzdem handelt die gleiche Regierung, die mit dem Verfassungsreferendum die Rechte der Kurden ausdrücklich nicht stärken wollte, einen Kompromiss mit der PKK aus. Die Erklärung dafür ist in der außenpolitischen Entwicklung in den Nachbarländern Syrien und Irak zu suchen – und nicht in der gewachsenen Stärke und Bedeutung der PKK, wie es Serdar nahelegt. Das ist deswegen so wichtig, weil der fast hundertjährige Kampf der Kurden zahllose tragische Beispiele dafür geliefert hat, wie aussichtslos es ist, sich auf das außenpolitische Kalkül der türkischen oder anderer Regierungen zu verlassen, um in der eigenen Sache weiterzukommen. Das ist auch bei dem Deal zwischen Öcalan und Erdogan nicht anders. Die Lösung besteht vielmehr darin, eine Verbindung des Kampfes der Kurden auf Selbstbestimmung mit anderen gesellschaftlichen und sozialen Fragen herzustellen. Die Türkei ist voller gesellschaftlicher und sozialer Widersprüche, aus denen politische Spannungen resultieren. Der wichtigste ist die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, weil der Wirtschaftsboom der letzten Jahre mit niedrigen Löhnen und der Missachtung von Arbeitsschutzmaßnahmen erzwungen worden ist. Türken und Kurden haben am Arbeitsplatz die gleichen Interessen. Das für sich zu erkennen ist der Schlüssel für politische Veränderungen, die auch die Kurdenfrage lösen. Jürgen Ehlers, Frankfurt am Main

Zur Rede »Soziale Kälte und nationale Enge« von Janine Wissler (marx21.de, 27.05.2013) Dieses Beispiel verstärkt die Annahme und zeigt, wie die AfD ideologisch-politisch zu verorten ist. Die AfD ist eine Partei, die in elitärer Art von oben nach unten denkt und an dem herrschenden wirtschaftspolitischen Kurs von unten nach oben festhält. Daher wäre nicht ganz nachvollziehbar, dass solch eine Partei der LINKEN Stimmen wegnimmt. Hier handelt es sich eindeutig um eine Ersatz-FDP in ein wenig nationalistisch-populistischerer Manier. Ali Atlan, auf unserer Facebook-Seite

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

LeserbriefE

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AKTUELLE ANALYSE

Das entscheidende ist nicht die W채hrung Mittlerweile diskutiert auch die deutsche Linke dar체ber, ob ein Ausstieg aus dem Euro sinnvoll w채re oder nicht. Dabei geht es um eine ganz andere Frage Von David Meienreis

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Aus guten Gründen war nahezu die gesamte europäische Linke – jedenfalls die Parteien links von Sozialdemokratie und Grünen – seinerzeit gegen die Einführung des Euro. Sie hat vor tiefgreifenden wirtschaftlichen Folgen wie der rücksichtslosen Vereinheitlichung des Zinsniveaus, möglichen Handelsbilanzungleichgewichten, der »Unabhängigkeit« der EZB von demokratischer Kontrolle, einem deutschen Übergewicht sowie fehlenden Regulierungsmöglichkeiten der Finanzmärkte gewarnt. Aufgrund des übermächtigen Einflusses Deutschlands wurde der Euro-Raum international von Anfang an als erweiterte D-Mark-Zone bezeichnet. Diese Vorhersagen haben sich bestätigt. Die Kritik, die wir damals geäußert haben, ist heute nicht falsch, nur weil der Euro jetzt Realität ist. Leider würde ein – zumal unkontrolliertes – Zerbrechen des Euro schwere wirtschaftliche und soziale Problemen mit sich bringen. Die traurige Wahrheit ist, dass Weltwirtschaftskrisen im Kapitalismus immer die Eigenschaft haben, solche Probleme hervorzurufen, egal in welcher Währung abgerechnet wird. Wie heftig die Kapitalseite zur Rettung ihrer Bilanzen zuschlagen kann, hängt davon ab, wie viel Widerstand ihr entgegentritt. Die Drohung, dass es zu wirtschaftlichen Verwerfungen kommen könnte, wird schon heute kaum einen jungen Menschen in

AKTUELLE ANALYSE

eitdem Oskar Lafontaine öffentlich für ein Ende des Euro eingetreten ist, hat die Debatte über die Zukunftschancen der europäischen Gemeinschaftswährung DIE LINKE erreicht. Die Partei diskutiert, ob sie den Austritt einzelner Staaten aus dem Euro ablehnen, tolerieren oder sogar dazu ermutigen sollten. Die Regierenden sind sich in dieser Frage zurzeit noch einig: Sie setzen auf den Erhalt des Euro-Verbundes, allerdings auf Kosten der unteren 80 Prozent der Einkommensbezieher. Sie sehen in der tiefen strukturellen Krise des Kapitalismus eine Chance, die Wirtschaft des Kontinents zu »modernisieren«, also die in Deutschland vollzogene Entwicklung von Lohnsenkung und Sozialstaatsabbau in potenzierter Form in ganz Europa nachzuholen. Um das zu verhindern, ist ein massives und organisiertes Eintreten der Bevölkerung nötig. Dieser Kampf steht an, denn ohne Widerstand werden die Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheiten in den Krisenländern und darüber hinaus unter die Räder kommen – ob mit oder ohne Euro. Die Verteilungsfrage ist letztlich eine Machtfrage und keine Frage der Währung. Unsere stärksten Waffen sind Widerstand von unten und internationale Solidarität. Die sollten wir nicht wegen währungspolitischer Fragen aufs Spiel setzen.

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Spanien, Griechenland oder Portugal dafür begeistern, am bisherigen Währungssystem festzuhalten. Denn dort ist jeder zweite unter 30 Jahren bereits arbeitslos. Mit Ausnahme Deutschlands, das im Jahr 2012 ein schwaches Wachstum von 0,7 Prozent erreichte, und einiger weniger anderer Länder schrumpft die Wirtschaft der gesamten Euro-Zone. Dabei verliert sie rapide ihr sowieso fragwürdiges Image als Insel des Wohlstands und der Demokratie. Gleichzeitig erleben wir in den Krisenländern eine Welle der Politisierung und Radikalisierung. Vor diesem Hintergrund wäre es geradezu fahrlässig, wenn wir als deutsche Linke kategorisch ausschließen würden, über Alternativen zum Euro nachzudenken, der wirtschaftlich womöglich bald ohnehin nicht mehr haltbar sein wird.

David Meienreis ist wirtschaftspolitischer Referent der Linksfraktion im Hessischen Landtag.

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Nichts nährt gegenwärtig nationalistische Ressentiments in Europa stärker als die Krisenpolitik der Troika, die mit dem »Bekenntnis zum Euro« gerechtfertigt wird. Zudem erhöht sie massiv die Gefahr eines Auseinanderbrechens der EU und der zarten Pflanze der europäischen Solidarität, die im Zuge der koordinierten Streik- und Protestaktionen entstanden ist. Wäre ein radikaler Kurswechsel der Troika oder eine radikale Umgestaltung der EU unmittelbar zu erwarten, könnte es sich lohnen, auf eine an sozialen und ökologischen Kriterien orientierte EU-(Währungs-) Politik zu hoffen. Und selbstverständlich muss die Linke gerade in Deutschland einen Kurswechsel der Troikapolitik fordern. Doch hierzulande haben sich sowohl das Kapital als auch alle möglichen künftigen Regierungsparteien in dieser Frage eindeutig positioniert. Deshalb dürfen wir – weder gegenüber der zu Recht immer eurokritischeren deutschen Bevölkerung noch auf internationaler Ebene – keinesfalls den Eindruck erwecken, als sei der Erhalt des Euro für die deutsche Linke eine zentrale Bedingung. Übrigens setzen sich nicht nur diejenigen dem Verdacht des Nationalismus aus, die die Abschaffung des Euro vorschlagen. Das »Bekenntnis zum Euro« teilen seine linken Befürworter sowohl hierzulande als auch in anderen europäischen Ländern mit konservativen und nationalistischen Parteien ebenso wie mit Vertretern des Kapitals. Diese Leute verstehen, dass das neoliberale Setup von Euro und EU seit jeher ein effektives Mittel für Lohndumping und Entdemokratisierung ist. Das könnte nur geändert werden, wenn die gesamte EU auf den Kopf gestellt würde – samt ihrer Verträge und Institutionen wie der völlig undemokratischen, aber sehr mächtigen EU-Kommission, dem weitgehend machtlosen EU-Parlament und dem bei Gewerkschaften berüchtigten Europäischen Gerichtshof. Die gegenwärtige EU ist tatsächlich ein Projekt der internationalen Zusammenarbeit – aber einer Zusammenarbeit der herrschenden Klassen, des »einen Prozents« gegen den Rest.

Es ist zudem fraglich, ob sich ein Zerfall des Euro angesichts der Tiefe der Krise mit staatlichen Mitteln überhaupt abwenden lassen wird. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise hat ihre volle Entfaltung noch gar nicht erreicht. Trotzdem befindet sie sich schon jetzt auf einem historisch neuen Niveau. Klar ist, dass ein wirtschaftliches und soziales Desaster wie in den südeuropäischen Krisenländern nicht lange bestehen kann ohne schwerwiegende politische Verwerfungen nach sich zu ziehen. Da die unmittelbare Ursache des grassierenden Elends die rabiate Kürzungspolitik der Troika ist, wird sich der Widerstand wahrscheinlich immer entschiedener gegen die EU richten. Auch in den weniger werdenden Euroländern, deren Bevölkerungen noch nicht unmittelbar von der Krise betroffen sind, nimmt die ablehnende Haltung gegenüber der EU zu. Diese ist aber nicht gleichzusetzen mit einer generellen Ablehnung von internationaler Solidarität. Erstens ist die EU nicht identisch mit Europa. Zweitens ist eine scharfe und grundsätzliche Kritik an Euro und EU völlig vereinbar mit der Vision eines anderen Europa, in dem die arbeitenden Menschen die Wirtschaft nach ihren Bedürfnissen anstatt nach den Vorgaben der EZB und des (Finanz-)Kapitals betreiben. Die Kritik an der EU sollte die Linke nicht der Neuen Rechten überlassen. Wir sollten nicht an diesem zunehmend verhassten und sozial verheerenden Projekt in der Hoffnung festhalten, es möglicherweise eines fernen Tages in sein Gegenteil wenden zu können: in ein Mittel zur Anhebung und Angleichung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in Europa. Die entscheidende Frage ist daher heute nicht: Euro – ja oder nein? Vielmehr geht es um die Verteidigung der Lebensqualität der 99 Prozent. Diese Abwehrkämpfe – gegen Steuererhöhungen, Lohn- und Rentensenkungen oder andere Kürzungen – werden weiterhin vornehmlich im nationalen Rahmen zu führen sein. DIE LINKE würde einen schweren Fehler machen, wenn sie sich angesichts der drohenden wirtschaftlichen Entwicklung an einer währungspolitischen Frage festbisse, die beizeiten durch den »stummen Zwang der Verhältnisse« ohnehin, auch ohne ihr Zutun, entschieden werden könnte. Ebenso wenig Hoffnung sollten wir in eine »Palastrevolution« in den Führungsetagen der Europäischen Union setzen. Stattdessen ist es die Aufgabe der europäischen und deutschen Linken, den Widerstand gegen die Angriffe des Kapitals zu unterstützen, zu politisieren und zu organisieren. Dazu sind politische Proteste wichtig. Letztlich verfügt aber die organisierte Arbeiterklasse als einzige gesellschaftliche Kraft über die Macht, der Profitlogik, nach der die Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in Europa ausgerichtet ist, eine menschenwürdige Alternative entgegenzusetzen. ■


„ All e in di e T he or i e w ird z ur mate r i el l e n G e w alt w e nn si e di e Ma ss e n e r g re if t . . . “

Kar l Mar x

Texte zur radikalen Erneuerung der Marxschen Ökonomiekritik

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Emanzipatorisches Denken aus dem Geist kritisch-materialistischer Analyse

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Ursachen eines unerklärten Krieges

Ilan Pappe / Jamil Hilal (Hrsg.) ZU BEIDEN SEITEN DER MAUER 500 Seiten / € 29 / ISBN 978-3-942281-38-6

Für eine neue Philosophie der Freiheit

Slavoj Žižek ABGRUND DER FREIHEIT / DIE WELTALTER 160 Seiten / € 38 / ISBN 978-3-942281-57-7

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GESCHICHTE

Revolutions- und Klassentheorie im 21. Jahrhundert

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AKTUELLE ANALYSE

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Revolution liegt in der Luft Was als lokaler Protest gegen die Zerstörung eines Parks begann, hat sich zu einem Massenaufstand gegen die türkische Regierung entwickelt. Die Unzufriedenheit über deren autoritäres Vorgehen hatte sich schon lange angestaut Von Erkin Erdoğan zur entscheidenden Wendung: Aus dem Widerstand wurde eine Massenbewegung. Die Angst wechselte die Seiten. Mehrere Zehntausend Menschen versammelten sich in der Istanbuler Haupteinkaufsmeile İstiklal Caddesi nahe dem Taksim-Platz aus Protest gegen das Vorgehen der Polizei. Nach 27 Stunden zog sich die Polizei zurück. Dieser Sieg verwandelte den Taksim-Platz in einen festlichen Ort und verlieh der Bewegung neues Selbstbewusstsein. Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan kündigte am nächsten Tag im Fernsehen an, dass er seine Pläne für den Bau des Einkaufszentrums nicht aufgeben werde und beschimpfte die Demonstranten als »Plünderer«. Doch das machte die empörte Masse im ganzen Land nur noch entschlossener. Das Fass war nun endgültig übergelaufen und die Bewegung, die den Rücktritt Erdogans fordert, breitete sich im ganzen Land aus: Die türkische Bevölkerung hat genug von der konservativ-neoliberalen Politik der Regierung, dem eingeschränkten Alkoholverkauf, der Verletzung des Demonstrationsrechts und des Rechts auf freie Meinungsäußerung, genug von den Versuchen, Abtreibung zu verbieten und den neoliberalen Umbaumaßnahmen in den Städten. Besonders diese wurden in den letzten Jahren oft kritisiert. Hier richtet sich die Wut der Bevölkerung vor allem gegen Bauvorhaben, die ohne die Zustimmung der Kom-

Die Wut richtet sich gegen den neoliberalen Umbau der Städte

Als die Zerstörung des Gezi-Parks am 28. Mai begann, veranstaltete eine Initiative ein Sit-in mit mehreren Hundert Beteiligten. Obwohl die Polizei das Camp angriff und die Zelte beschoss, räumten die Protestierenden nicht das Feld, sondern blockierten, unterstützt von Sırrı Süreyya Önder, einem Parlamentsabgeordneten der sozialdemokratischen und prokurdischen BDP (Partei des Friedens und der Demokratie), die Baumaschinen. Als die Regierung am vierten Tag die Proteste zerschlagen wollte, kam es

Erkin Erdoğan ist Mitglied der sozialistischen Partei DSIP und hat lange in Istanbul gelebt. Er ist aktiv in der LINKEN in Berlin.

AKTUELLE ANALYSE

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ie brutalen Angriffe der Polizei auf die friedlichen Umweltproteste in Istanbul haben eine Welle des Widerstands gegen die neoliberale Politik der regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ausgelöst. Allein an den ersten sechs Tagen fanden 252 Demonstrationen in 67 türkischen Städten statt. Inspiriert von dem Aufstand auf dem Tahrirplatz in Kairo und der Occupy-Bewegung organisierten die Demonstranten Sit-ins auf zentralen Plätzen. Neben einem Ende der Polizeigewalt verlangt die Bewegung, dass der Gezi-Park in Istanbul nicht einem Einkaufszentrum geopfert wird. Wie Amnesty International berichtete, wurden in der ersten Woche über 2000 Protestierende von der Polizei verletzt, zwei davon tödlich.

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© Giorgio Montersino / flickr.com / CC BY-SA

munen und ohne Berücksichtigung der möglichen Auswirkungen auf die Umwelt durchgesetzt wurden. Die AKP ließ keine Abstimmungen in den jeweils betroffenen Kommunen zu und Erdogan verhielt sich stur und ablehnend gegenüber sozialen Bewegungen. So werden gerade beispielsweise der Bau einer dritten Brücke über den Bosporus und eines dritten Flughafens in Istanbul geplant, was eine der letzten Waldflächen der Stadt zerstören wird. Auch bei dem, wie Erdogan es sogar selbst nennt, »verrückten Vorhaben«, einen großen Kanal parallel zum Bosporus zu bauen, wurden lokale Behörden und Interessenvertreter nicht gefragt. Stattdessen hielt die Regierung die Pläne lange geheim und stellte die Öffentlichkeit dann vor vollendete Tatsachen. In den letzten Jahren wurde in Istanbul eine »urbane Umstrukturierung« ohne Rücksicht auf ökologische Konsequenzen und die ablehnende Haltung der Bevölkerung durchgesetzt. Vor allem in ehemals armenischen und griechischen Vierteln stiegen die Mieten drastisch an, die ärmeren Bewohnerinnen und Bewohner, oft Angehörige von Minderheiten, wurden vertrieben. Beispiele für diese Politik der AKP gibt es überall. Mittlerweile wurden fast alle Flüsse des Landes für die nächsten 49 Jahre an Bauunternehmen verpachtet, damit sie Tausende von Staudämmen bauen. Den Protest der Menschen vor Ort gegen diese Dämme übergeht Erdogan oder diffamiert ihn. Ein weiterer Grund für die Wut auf die AKP-Regierung ist deren Vorgehen gegen Minderheiten. So soll beispielsweise die bereits erwähnte dritte Brü14

cke über den Bosporus nach Yavuz Sultan Selim benannt werden. Im 16. Jahrhundert richtete dieser Sultan ein Massaker an der alevitischen Bevölkerung an. Heute stellen die Aleviten 30 Prozent der Bevölkerung. Auch die verantwortlichen Generäle für das »Massaker von Uludere« im Dezember 2011, bei dem vierzig kurdische Zivilisten von der türkischen Luftwaffe ermordet wurden, mussten bis heute nicht vor Gericht. Darüber hinaus wurden nicht alle am Mord an dem armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink Beteiligten verurteilt. Gerade hochrangige Personen wurden durch fadenscheinige Ermittlungen gedeckt und am Ende gar befördert. Die Rechte von Homosexuellen und Transgendern werden von der Regierung Erdogan ebenso wenig respektiert wie die Rechte von ethnischen oder religiösen Minderheiten und der Gewerkschaften. Ferner führte die harte neoliberale Linie der AKP zu Unmut in der Bevölkerung. Sie war von Anfang an die Partei der Entscheidungsträger und der Wirtschaft und nicht die Partei der »kleinen Leute«. Die gesellschaftliche Ungleichheit wuchs in den vergangenen Jahren stetig und gerade der ärmere Teil der Bevölkerung litt unter der Ausweitung neoliberaler Politik. Die landesweiten Proteste und deren Erfolg müssen als Resultat all dieser Missstände und Unzufriedenheiten angesehen werden. Die aktuelle Widerstandsbewegung könnte durchaus der Startschuss für eine breitere Bewegung werden, die die Interessen aller Unterdrückten aufgreift. Doch ist auch Vorsicht geboten, denn viele verschiedene politische Gruppen versuchen bereits Einfluss


Die Regierung hat die Entschlossenheit der Bevölkerung unterschätzt und muss nun dafür zahlen

auf die Bewegung zu nehmen. Am sichtbarsten und gefährlichsten sind die Anhänger der kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei) und die türkischen Nationalisten. Sie missbrauchen die antikapitalistische Revolte für ihre protürkischen, nationalistischen Ziele, um Friedensgespräche mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu torpedieren. Bisher ist es ihnen aber nicht gelungen, die Führung der Bewegung an sich zu reißen. Der Widerstand im Gezi-Park ist die erste große Niederlage der AKP. Die Regierung hat die Wut und Entschlossenheit der Bevölkerung schlichtweg unterschätzt und muss nun dafür zahlen. Wenn es der Bewegung gelingt, ihre Breite und Offenheit beizubehalten, wenn sie es schafft, Teile der AKP-Basis für sich zu gewinnen, und wenn sie weiterhin furchtlos Widerstand leistet, wird die Regierung weitere Niederlagen hinnehmen müssen. Mit Sicherheit hat diese neue Massenbewegung einen Teil der Wählerschaft der AKP beeinflusst oder sogar mobilisiert. Es könnte der Anfang vom Ende der gegenwärtigen türkischen Regierung sein. Die Revolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei (DSIP) hat sich von Anfang an in die Widerstandsbewegung eingebracht. Unsere Genossinnen und Genossen nehmen weiterhin an den Massenaktionen auf dem Taksim-Platz und andernorts teil. Der Widerstand vom Gezi-Park stellt den Beginn eines neuen Abschnitts im Kampf für die Freiheit in der Türkei dar. Der Taksim-Platz ist nicht der Tahrir-Platz. Aber etwas Revolutionäres liegt bereits in der Luft. ■

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Solidaritätsaktion in Mailand Anfang Juni: Weltweit unterstützen Menschen die Bewegung in der Türkei, die sich unter dem Schlagwort #occupygezi auch im Internet schnell verbreitete

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»An Pannen mag ich nicht glauben« Der Prozess gegen das NSU-Mitglied Beate Zschäpe hat begonnen. Doch neue Erkenntnisse über braune Terrornetzwerke und die Verstrickung des Staates wird er nicht bringen, meint unser Interviewpartner Bodo Ramelow. Ein Gespräch über alte und neue Nazis – und die tödlichen Spiele der Geheimdienste Interview: Stefan Bornost Bodo, dem ARD-Politikmagazin »Report Mainz« wurde ein Papier zugespielt. Aus dem geht hervor, dass der sächsische Verfassungsschutz schon im April 2000 wusste, dass sich eine rechtsextreme Terrorgruppe im Untergrund formiert. Das Dokument ist schon länger bekannt. Auch die Informationen darin wa16

ren schon fast alle bekannt: Die späteren NSU-Mitglieder hatten bereits zu diesem Zeitpunkt Straftaten begangen und wurden per Haftbefehl gesucht. Neu war lediglich die Information, dass die drei ein großes Unterstützernetzwerk in der rechten Szene hatten. Im Jahr 2000 wussten die Behörden also schon, dass da etwas

in den Untergrund verschwunden ist, das ausländerfeindlich und antisemitisch eingestellt ist und mit Sprengstoff hantiert. Welche Konsequenzen zogen sie? Erstaunlicherweise keine. Der Verfassungsschutz legte dieses Dokument dem


Dafür kommen doch nur zwei Erklärungen in Frage: Inkompetenz oder bewusste Duldung. Die Behörden, so sie denn ihre Schuld einräumen, erklären dies durch Inkompetenz und mangelnden Informationsfluss. Dieser sei durch eine stärkere Verschränkung der Sicherheitsdienste behebbar. Wie siehst du das? Ja, es wird viel von Pannen geredet. Nur sind die aber so seltsam, dass sie eigentlich keine Pannen sein können. Das ganze Gerede soll doch nur von dem ablenken, was ich die »ordnende Hand« nenne. Offenkundig hat es sehr früh das Interesse von staatlichen Stellen, also von den Geheimdiensten, gegeben, aktiv in der Nazi-Szene drinzustecken.

Erinnerung an die Opfer: Der Verfassungsschutz wusste schon vor dem ersten Mord, dass Nazis in den Untergrund gegangen sind, um »schwere Straftaten zu begehen«

Bodo Ramelow

Bodo Ramelow ist Vorsitzender der Linksfraktion im Thüringer Landtag und Mitglied im Untersuchungsausschuss »V-Leute gegen Abgeordnete«.

Kannst du das belegen? Nehmen wir mal ein Thüringer Beispiel, das deutlich harmloser als die rassistischen Morde des NSU war, aber trotzdem schlimm genug. Hier steckten im Jahr 1997 Nazis Flugblätter in die Briefkästen aller Erfurter Haushalte, die sich gegen Angelo Lucifero richteten, einen Antifaschisten und zugleich stellvertretenden Vorsitzenden der Gewerkschaft HBV. Der V-Mann Thomas Dienel sagte dazu: Diese Flugblätter wurden vom Landesamt gegengelesen und das Landesamt übernahm die Finanzierung der Aktion. Darüber hinaus gab es rechte Störmanöver gegen die damals größte Oppositionsfraktion im Thüringer Landtag, die PDS. Tino Brandt, in den 1990er Jahren einer der aktivsten Nazikader in Thüringen und V-Mann des Verfassungsschutzes, gab an, dass diese Aktionen regelmäßig mit dem Landesamt besprochen wurden. In einem Untersuchungsschuss, der sich nun mit dem Treiben des vom Verfassungsschutz bezahlten Erfurter NPDKreisvorsitzenden Kai-Uwe Trinkaus beschäftigt, kam Ähnliches heraus: Dieser staatsbesoldete Spitzel agierte direkt gegen die drei Landtagsabgeordneten der LINKEN Knut Korschewsky, Frank Ku-

schel und Susanne Hennig, würdigte sie herab und diskreditierte sie. Wir reden also von direkten Aktionen von Nazis gegen linke Politiker, die mit dem Wissen und der Billigung der Geheimdienste stattfinden. Bei solchen Geschichten mag ich nicht an Pannen glauben. Das ist zwar schlimm, aber doch noch eine Nummer kleiner als die staatliche Unterstützung einer Naziterrorgruppe. Fakt ist, dass man sehr früh gewusst hat, dass sich eine zum Terror bereite Gruppe Sprengstoff und Waffen besorgte. Einige der Waffenbesorgungsaktionen sind sogar über Diensthandys gelaufen, die auf ein Innenministerium zugelassen waren. Davon soll jetzt abgelenkt werden. Fest steht aber, dass die Behörden mit und in dieser Szene gearbeitet haben. Das ergibt irgendwie keinen Sinn. Warum präsentiert sich der deutsche Staat mit großem Aufwand, etwa bei der Fußball-WM 2006, als weltoffen, geläutert und tolerant – und baut gleichzeitig eine Mordtruppe auf oder duldet sie zumindest? Für das Denken in deutschen Sicherheitsbehörden gilt, was der Vorsitzende der jüdischen Landesgemeinde in Thüringen auf folgenden kritischen Satz gebracht hat: Links steht der Feind, der aktiv bekämpft werden muss, rechts ist die bucklige Verwandtschaft, die man sich bekanntlich nicht aussuchen kann. Das halte ich für zutreffend. Die Sicherheitsbehörden sind geprägt vom jahrzehntelangen Antikommunismus des Kalten Krieges. Die westdeutschen Geheimdienste wurden mit alten Nazikadern aufgebaut, die eine zutiefst rassistische Ideologie vertraten. Dieses Erbe prägt und bestimmt bis heute das Strickmuster der geheimdienstlichen Aktionen im In- und Ausland, wie wir zurzeit in Luxemburg sehen können. Dass Luxemburg etwas mit dem NSU zu tun hat, ist mir neu... Medien und Ermittler sind nicht gewillt, diese offensichtliche Verbindung zu ziehen. In Luxemburg findet zurzeit ein Prozess statt, in dem es um rund dreißig Bombenanschläge in den 1980er Jahren geht: Auf Strommasten, auf einen Flugplatz und andere Einrichtungen. Es treten ernstzunehmende Zeugen auf, die als einen der Hauptakteure einen BNDMann ausmachen. Der war in Luxemburg im Rahmen geheimer NATO-Aktio-

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Innenministerium für eine Telefonabhörkontrolle vor. Schlussfolgerungen für die Politik zog daraus niemand. Auch gab es keine Anweisungen, dieser Gruppe das Handwerk zu legen. Für mich ist das ein weiteres Indiz dafür, dass man diese Leute hat gewähren lassen, mitsamt den V-Leuten aus dem Umfeld. Man wusste ganz genau, in welche Richtung sich diese Sachen entwickeln.

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nen, dem sogenannten »stay behind«, im Einsatz. »Stay behind« war für den Fall gedacht, dass Westeuropa von sowjetischen Panzern überrollt wird: Paramilitärische Geheimarmeen sollten dann in den besetzen Gebieten bleiben und dort Anschläge verüben. Diese Schattenarmeen zwischen Militär und Geheimdienst waren aber auch ohne sowjetischen Angriff aktiv und zwar in enger Verbindung mit der rechtsextremen Szene. In Italien haben sich diese Akteure unter dem Namen »Gladio« an Bombenanschlägen beteiligt, etwa in Bologna. Ihr Ziel war es, Unsicherheit zu schaffen, um als Reaktion einen starken Staat aufbauen zu können. Das ist aber mittlerweile über 30 Jahre her – da war Beate Zschäpe noch ein Kind. Keine besonders offensichtliche Verbindung... Das ist ja auch nicht alles. Der Prozess in Luxemburg hat weiteres Interessantes zu Tage gefördert: Der Hauptakteur von »Gladio« aus Italien hatte zur Zeit der Anschläge seinen Wohnsitz in Luxemburg. Zudem hat der Sohn des mittlerweile verstorbenen BND-Manns ausgesagt, dass sein Vater ein eingefleischter Rechtsradikaler war und den Sprengstoff für den Anschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980 besorgt hat. Wenn das stimmt, dann gibt es eine Verbindung zu Karl-Heinz Hoffmann und seiner »Wehrsportgruppe«, der größten Neonazi-Terrorgruppe der 1980er Jahre in Westdeutschland. Deren Mitglied Gundolf Köhler hat den Anschlag auf das Oktoberfest verübt – angeblich alleine. Hoffmann kam ursprünglich aus dem thüringischen Kahla und kehrte nach der Wende sofort dahin zurück. In Folge wurde Kahla zum Hotspot für militanten Neonazismus. Das Nazi-Netzwerk »Blood & Honour« baute hier rasant auf, auch die Arbeit mit Sprengstoff begann hier früh. Genau in diesem Umfeld hat sich der NSU entwickelt. Ein recht weiter Bogen... … der sich aber auch zu ganz konkreten Tatumständen ziehen lässt. Nach dem Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest sind 33 Erddepots mit Waffen, Munition und Sprengstoff gefunden worden. Hierzu sagt der Sohn des BNDManns, dass sein Vater dieses Material zur Verfügung gestellt hat. Das ist bisher leider nicht durch eine zweite Quelle zu überprüfen. Tatsache ist aber, dass nach einem tödlichen Schusswechsel in Bay18

Wegen der Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens wurde bereits 1998 nach den späteren NSU-Mitgliedern gefahndet. Die Polizei fand damals bei ihnen vier fertige Rohrbomben, mehr als ein Kilogramm Sprengstoff, Kabel und allerlei Nazi-Propaganda

reuth im Jahr 2008 im Rucksack des Erschossenen der Lageplan für zwanzig ähnliche Erddepots mit Waffen, fertigen Bomben und »Feindeslisten« gefunden wurde. Sie befanden sich in Bayern, Sachsen, in Thüringen und sogar in Österreich. Die offizielle Version ist, dass dieser Mann, laut Behörden ein Obdachloser, diese Waffenlager allein angelegt hat und es keinerlei Verbindung zum NSU gibt. Allerdings lag in einem dieser Erddepots ein Sprengsatz, der jenem Sprengsatz verblüffend ähnelte, der beim Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße verwendet wurde. Und der Zufall will es, dass sich eines dieser Erddepots im Dreieck Kahla-Jena-Saalfeld befindet, also genau dort, wo auch das Hauptaktionsfeld von »Blood & Honour« war und der Ursprung des NSU liegt. Hat das alles ein Obdachloser alleine bewerkstelligt? Da frag ich mich doch, für wie dumm die uns halten. Deine Vermutungen sind nicht neu: Im Jahr 1992 hat ein Journalistenteam das Buch »Das RAF-Phantom« veröffent-

licht und darin die »Stay Behind«-Einheiten in Verbindung mit den Morden der bis heute nicht identifizierten dritten RAF-Generation gebracht, insbesondere dem Mord an Alfred Herrhausen. Das Buch wurde damals in der Presse als verschwörungstheoretischer Käse verrissen. Siehst du nicht auch die Gefahr, in wilde Spekulationen abzugleiten und bei Verschwörungstheorien zu landen? Tja. Geheimdienste arbeiten so: Sie sind so geheim, dass sie, falls sie mal erwischt werden, erzählen können, es sei alles nur eine Verschwörungstheorie. Das Interessante am Buch »Das RAFPhantom« ist, dass einer der Hauptakteure ein gewisser Herr N. vom Geheimdienst war. Dieser Herr N. soll der V-Mann-Führer jenes V-Manns gewesen sein, dessen Aussagen die RAF in Verbindung mit dem Mord am Deutsche-BankChef Alfred Herrhausen brachten. Diese Aussagen erwiesen sich später als unhaltbar. Gegen N. wurde der Vorwurf der Anstiftung zur Falschaussage erhoben. N., mit vollem Namen Peter Jörg Nocken, ging nach der Wende nach Thüringen. Er


Denkst du, solche Verbindungen werden beim Prozess gegen Beate Zschäpe eine Rolle spielen? Nein, denn verblüffender Weise wird, anders als bei den RAF-Prozessen, nicht wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Dann müssten nämlich nicht nur die direkten Mordhelfer vor Gericht landen, sondern mindestens 150 Leute als Teil dieses terroristischen Netzwerks. Bei der RAF ist extra die Gesetzeslage geändert worden, um den Kreis der Angeklagten ausweiten zu können. Bei den Rechten sagt man heute – wie schon beim Oktoberfestanschlag: Das ist eine kleine Zelle gewesen, weitere Verbindungen werden nicht gezogen. Die Erddepots hat eine verwirrte Einzelperson angelegt, bei Beate Zschäpe wird die Schuld als Individuum festgestellt und nicht das Umfeld enttarnt, mit dessen Hilfe sie die Morde begehen konnte. Deshalb wird dieser Prozess mit dem Thema »Aufarbeitung des brauen Terrors« nichts zu tun haben. Wie steht es mit den NSU-Untersuchungsausschüssen? Die sollen ja tatsächlich die größeren Zusammenhänge erfassen... Die Untersuchungsausschüsse haben in den vergangenen anderthalb Jahren mehr Einblicke gewinnen können, als ich zu hoffen wagte. Das V-Leute-Wesen, der Aufbau der Nazistrukturen mittels Verfassungsschutzgeldern, das Agieren verschiedener Geheimdienste bis hin zum Armee-Geheimdienst MAD in der Szene – all das haben die Untersuchungsausschüsse an die Oberfläche gebracht. Hier wurde mehr Nachkriegsdeutschland aufgearbeitet als jemals zuvor. Doch in der medialen Aufbereitung des Zschäpe-Prozesses spielt das alles kaum eine Rolle. Dort wird eher über die Bluse von Frau Zschäpe berichtet oder ob sie grimmig dreinschaut als über rechte Terrornetzwerke und die Rolle staatlicher Stellen. Der Luxemburger Prozess findet in

der deutschen Medienlandschaft so gut wie gar keine Beachtung – obwohl er nur einen Steinwurf entfernt stattfindet und mittlerweile zwei ehemalige luxemburgische Präsidenten als Zeugen vorgeladen wurden. Und über die zwanzig Erddepots, die ja fast zeitgleich mit der Enttarnung des NSU gefunden wurden, erfährt man höchstens mal etwas in einer Lokalzeitung. Das macht deutlich, dass es so gut wie keinen Journalismus mehr gibt, der gewillt ist, mal die Geschichte hinter der Geschichte zu betrachten. Stichwort Berichterstattung: Den in Polizeikreisen entstandenen Begriff »Dönermorde« haben Teile der Presse einfach übernommen. Journalisten haben das nachträglich kritisiert und später wurde der Begriff sogar zum Unwort des Jahres 2011 erklärt. Die Frage ist, warum das so geschehen ist. »Dönermorde« hört sich interessant an, Döner kostet nicht viel und so wurde schnell auch der Mord am Blumenhändler ein »Dönermord«. Dadurch hatte man ein Milieu eingegrenzt, ein türkisches, und gleich mafiöse Strukturen vermutet. Das sind handwerkliche Fehler, die aber auf etwas ganz anderes verweisen: nämlich Rassismus im Allgemeinen und Muslimfeindlichkeit im Speziellen. Döner ist türkisch, Türken sind Muslime und die bringen sich halt gegenseitig um. Wenn in Deutschland drei US-amerikanische Bankmanager kurz hintereinander mit ein und derselben Waffe erschossen worden wären, hätte das Land Kopf gestanden. So waren es aber »nur« acht Türken und ein Grieche. Bis zur Enttarnung des NSU war das für die Presse ein Verweis auf die vermeintlich wüsten Gepflogenheiten in deren Reihen und daher lediglich eine Randnotiz wert. Was kann und sollte DIE LINKE tun? Wir haben drei Aufgaben. Dort, wo wir parlamentarische Mandate haben, sollten wir sie nutzen, um Aufklärung zu betreiben: Aktensicherung, Aktenfeststellung, Aktenbewertung. Da sind wir hier in Thüringen mit Martina Renner und Katharina König sehr gut vorangekommen. Wir haben über digitale Medien viel Transparenz geschaffen und zwei Bücher herausgeben. Zum Zweiten brauchen wir eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, in erster Linie über Rassismus. Er ist die Grundlage, auf der staatliche Stellen wie im Falle

der NSU agieren können. Da gehört Islamophobie dazu, aber ebenso Antisemitismus und andere Vorurteilsfolien. Im Fall der Ermordung der Heilbronner Polizistin Michèle Kiesewetter hat die Polizei reflexartig im, wie die Behörde sagte, »Zigeunermilieu« ermittelt. Das hat Romani Rose, den Vorsitzenden des Zentralrats der Sinti und Roma, tief getroffen. Deshalb haben wir ihn gebeten, für unser erstes Buch über den NSU ein Vorwort zu schreiben. Wie kann es sein, dass ein Begriff aus dem Faschismus, der zur Identifikation der Sinti und Roma vor ihrer Vernichtung im KZ diente, immer noch von der Polizei verwendet wird? Das zeigt doch, wie viel alltäglicher Rassismus dort noch vorhanden ist. Die dritte Aufgabe ist der Antifaschismus. Das heißt, ein Bekenntnis zu geben, dass Deutschland im Jahre 2013 die Lehren aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 zieht. Kürzlich ist dem sächsischen Ministerpräsidenten rausgerutscht, er wünsche sich, dass sein Land wieder eine Position in Deutschland und Europa einnimmt wie vor 1945. Der merkt gar nicht, was er da sagt! Das sollte uns alarmieren. Die Frage, wie wir mit dem Erbe des Nationalsozialismus, dem industriellen Massenmord umgehen, sollte uns ständig beschäftigen, damit alle Versuche, die Schamgrenzen runterzusetzen, scheitern. Und damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt: Den NSU konnte es nur geben, weil Alt- und Neu-Nazis von staatlichen Stellen mit Geld ausgestattet worden sind. Hätten wir ein aktives Bekenntnis zum Antifaschismus als Verfassungsauftrag, dann wäre auch klar, wer die Verfassungsfeinde sind – nämlich auch Beamte, die so etwas für normal halten. ■

DAS BUCH Bodo Ramelow: Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen. Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen (VSA 2013).

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wurde Vizechef des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz und brachte eine ganze Schar von Helfern aus den Reihen des hessischen Verfassungsschutzes mit. Genau um diese Leute entwickelte sich dann die Durchdringung und Einflussnahme auf die thüringische Neonaziszene und deren gute Ausstattung mit staatlichen Geldern. Ich überlasse es dem Betrachter, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.

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viertel zu ziehen und gegen den Kapitalismus und die neoliberale Kürzungspolitik in ganz Europa zu demonstrieren. Die Polizei verfolgte derweil eine Eskalationsstrategie. Oben: Die Frankfurter Innenstadt glich einer Trutzburg. Tausende hochgerüstete Polizisten waren im Einsatz. Unten links: Rund um das EZB-Gebäude waren mit Natodraht

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BLOCKUPY FRANKFURT | Die Blockupy-Proteste in Frankfurt am Main waren ein Erfolg. Tausende beteiligten sich am 31. Mai an der erfolgreichen Blockade der Europäischen Zentralbank und zahlreichen weiteren politischen Aktionen. Am 1. Juni kamen etwa 20.000 Menschen zusammen, um durch das Frankfurter Banken-

verstärkte Absperrgitter aufgestellt. Unten rechts: Demonstrierende wurden gezielt nach rassistischen Gesichtspunkten festgenommen. Schon auf der Hinfahrt war ein Bus mit Flüchtlingen gestoppt worden und musste nach Berlin zurückkehren, nachdem die Polizei gedroht hatte, alle »Illegalen« festzunehmen.


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in Eimern abgeseilt. Unten rechts: Nicole Gohlke (MdB), Janine Wissler (MdL) und weitere Parlamentarier der LINKEN stellten sich schützend zwischen Demonstranten und Polizei, nachdem letztere die Eingekesselten mit Schlagstöcken und Pfefferspray angegriffen hatte. Daraufhin wurden sie selbst abgeführt.

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Polizei ging dabei äußerst brutal vor. Hunderte wurden verletzt. Die Frankfurter Bevölkerung reagierte solidarisch: Aus einem angrenzenden Haus reichten Anwohner Wasser an die seit Stunden eingekesselten und teilweise durch Pfefferspray verletzten Demonstranten. Später wurden auch aus höheren Fenstern Wasserflaschen

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Oben: Bunt und laut startete am Samstag der Protestzug am Baseler Platz. DIE LINKE und der ihr nahestehende Studierendenverband Die Linke.SDS waren mit einem kämpferischen Block vertreten. Unten links: Doch bereits nach wenigen hundert Metern wurde die Demonstration gestoppt und die Demospitze eingekesselt. Die

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UNSERE MEINUNG Barbie Dreamhouse

Pink stinkt Von Carolin Hasenpusch

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m 16. Mai öffnete das »Barbie Dreamhouse« in Berlin seine Pforten. Auf pinken 2500 Quadratmetern können Besucherinnen und Besucher in alle Facetten aus dem Leben einer Plastikpuppe eintauchen und zwischen Cupcakes, Cocktailkleidern und Catwalk das komplette »Barbie-Erlebnis«, wie es die Veranstalter nennen, erfahren. Nicht alle sind mit der Ausstellung einverstanden. Bereits vor Wochen hat sich die Gruppe »Occupy Barbie Dreamhouse« gegründet, die zur Eröffnung vor dem Haus demonstrierte. »Das ist doch den Protest nicht wert«, schreibt hingegen »Zeit online«. Auch in Onlinedebattenforen stolpert frau öfters über die Frage, ob es nicht durchaus wichtigere Themen als ein Kinderspielzeug gäbe. Selbstverständlich gibt es andere und wichtigere Probleme. Trotzdem ist der Protest ebenso richtig wie wichtig und sollte nicht klein geredet werden. Es gibt für ihn einen Grund und der heißt: Frauenunterdrückung. Barbie ist natürlich nicht Ursache der Frauenunterdrückung, aber Ausdruck eines Rollenbildes, das durch sie gespiegelt und gefestigt wird. Solange sich Mädchen und Frauen primär dadurch auszeichnen sollen, hübsch und emotional zu sein – während von Jungs und Männern Rationalität und Tatkraft erwartet werden – müssen weder Löhne noch Aufstiegschancen dieselben sein. Die Kindererziehung können sie »nebenbei« übernehmen oder, wenn das Einkommensniveau stimmt, an andere Frauen delegieren. Lohndruck und Konkurrenz innerhalb der gesamten Arbeiterklasse sind die Folge. Letztlich profitieren von der Frauenunterdrückung nur die herrschenden ein Prozent. Barbie und Co. sind die ideologische Begleitmusik zu diesen strukturellen Gegebenheiten und sollten keineswegs unterschätzt werden: Nicht nur, dass laut Mattel momentan 90 Prozent aller Mädchen zwischen drei und zehn Jahren eine Plastikpuppe besitzen: Das antiquierte Frauenbild, für das Barbie steht, ist keine Ausnahme. Im Gegenteil, konservative Vorstellungen erhalten wieder vermehrt Einzug ins Kinderzimmer und »geschlechtsspezifische«

Spielsachen haben Konjunktur. So brachte Lego im vergangen Jahr mit »Lego Friends« eine Serie heraus, die bewusst Mädchen ansprechen soll. Im Zentrum stehen Familie, Mode und »Lifestylethemen«. Auch Ferrero brachte ein rosa Überraschungsei auf den Markt, laut Werbung ausdrücklich »nur für Mädchen«. Figuren wie die hochgradig sexualisierte Prinzessin Lillifee, die hauptsächlich dürr und niedlich ist und einen befliegbaren Kleiderschrank ihr Eigen nennt, erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Von frühster Kindheit an werden so Geschlechterverhältnisse trainiert und den Arbeitnehmerinnen von morgen vorgeführt, welche Rolle sie in Zukunft einnehmen sollen. Hier setzt die Kritik von »Occupy Dreamhouse« an. Daher legen die Aktivistinnen und Aktivisten Wert darauf, sich auch an gewerkschaftlichen Kämpfen von Arbeitnehmerinnen zu beteiligen – beispielsweise am Lehrerinnen-Streik der GEW am 14. Mai in Berlin. Wer den »Barbie-Protest« als rein konsumkritisch abtut, wird ihm nicht gerecht. Vielmehr sollte man den Kampf gegen das überdimensionale BarbieTraumhaus oder sexistische Werbung genauso unterstützen wie den Kampf für höhere Löhne, für den Ausbau sozialstaatlicher Strukturen, für Tarifverträge und gegen ein allgemein vorherrschendes Spardiktat. So lange Frauen immer noch 24 Prozent weniger verdienen als Männer, hauptsächlich in Teilzeit und Minijobs arbeiten, befristete Verträge haben, der Doppelbelastung von Arbeit und Familie ausgesetzt sind und sich auf eine »Herdprämie« freuen sollen, so lange ist das Barbie Dreamhouse fehl am Platz und lässt die Farbe pink zum Himmel stinken.

Von frühster Kindheit an werden Geschlechterverhältnisse trainiert

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★ ★★ Carolin Hasenpusch ist Redakteurin von marx21.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Drohnen-Debakel

Unbemannte Interessenvertretung Von Marcus Stein Regierung 739,3 Milliarden US-Dollar in die größte Militärmaschinerie der Welt. Der gesamte deutsche Bundeshaushalt desselben Jahres betrug »nur« 305,8 Milliarden Euro, also etwa die Hälfte. 31,5 Milliarden Euro flossen davon in die Verteidigung.

Deutschland will mit den USA gleichziehen Drohnen eignen sich für eine bestimmte Art von Kriegsführung. Mit ihrer Hilfe kann man über weite Entfernungen hinweg und ohne die Mobilisierung von tausenden Soldaten oder gar die Invasion eines ganzen Landes politische Gegner ausschalten. Seit Jahren führt die US-Armee in zahlreichen Ländern wie Afghanistan, Irak,

Jemen, Somalia und Pakistan eine Art Schattenkrieg. Sie setzt Drohnen dazu ein, vermeintliche Terroristen ausfindig zu machen und gezielt zu töten. Diesen Weg wollen auch die deutschen Eliten beschreiten. Jahrelang haben sie, zumindest offiziell, Drohnen nur zur Aufklärung eingesetzt. Zum Töten mussten sie US-amerikanische Kampfdrohnen anfordern. Nun will Deutschland mit den USA gleichziehen. Auch wenn das »Euro Hawk«-Projekt gegenwärtig wackelt, die strategischen Grundlagen des deutschen Drohnenkriegs bestehen weiter. ★ ★★ Marcus Stein ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Gesundbrunnen..

UNSERE MEINUNG

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iel ist im Zusammenhang mit der »Euro Hawk«-Affäre über die massive Geldverschwendung geredet worden. Weniger jedoch darüber, warum die Drohnenbeschaffung überhaupt so eine hohe Priorität für die Bundeswehr hat. In dieser Technologie und der damit verbundenen modernen Kriegsführung sehen Bundeswehrstrategen eine Chance, schrittweise mit globalen Konkurrenten gleichzuziehen und deutsche Interessen auch in Zukunft militärisch wirkungsvoll durchzusetzen. Die Bundeswehr ist im Vergleich mit dem US-amerikanischen Militär nur zu relativ kleinen Einsätzen fähig. Zurzeit sind nach ihren eigenen Angaben etwa 6800 deutsche Soldaten weltweit im Einsatz. Dagegen hatte das US-Militär Ende vergangenen Jahres knapp 173.000 Soldaten im Ausland stationiert. Auch der Verteidigungsetat der USA ist ungleich größer: Im Jahr 2011 pumpte die

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TITELTHEMA WIE EGAL IST DIE WAHL?

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DIE LINKE Plädoyer zum Mitmachen

Frankreich Erfolgreiche Wahlkampagne der Linksfront

© marx21 / Carsten Schmidt


Gesellschaftliche Gegenkräfte stärken Im September ist Bundestagswahl. Egal, wer gewinnt: Entscheidend wird sein, dass wieder eine starke linke Opposition im Parlament vertreten ist Von Christine Buchholz

Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in der globalen Konkurrenz muss erhalten und ausgebaut werden. Wesentliche Instrumente dafür sind ein Niedriglohnsektor, Leiharbeit und Hartz IV. Durch sie wird der Druck auf die Beschäftigten permanent aufrechterhalten und die Löhne werden gedrückt.

Die Militarisierung der Außenpolitik wird vorangetrieben. Die Bundeswehr soll zur weltweit operierenden Interventionsarmee umgebaut werden. Sie wird vom Kosovo über Afghanistan bis Mali eingesetzt – und tritt insgesamt immer forscher auf.

Die Innenpolitik folgt dem Muster von Zuckerbrot und Peitsche. Auf der einen Seite bedeutet das, dass die über Jahrzehnte erkämpfte gesellschaftliche Liberalisierung in Gesetzesform gegossen wird (zum Beispiel: Homoehe). Vorzugs-

weise geschieht das in Bereichen, die den Staat nichts oder nur wenig kosten. Auf der anderen Seite wird der Sicherheitsstaat ausgebaut und die Kompetenzen der entsprechenden Behörden ausgeweitet. Ständige Begleitmusik hierzu ist die Kampagne gegen den »Islamismus« – ein Freibrief zur Diskriminierung von Muslimen. Zumindest die Wirtschaftspolitik und die Militarisierung der Außenpolitik stoßen nur auf wenig Gegenliebe unter der Bevölkerung. Umfrage für Umfrage belegt, dass es große Mehrheiten gegen Bundeswehreinsätze, Rentenkürzungen und für einen Mindestlohn gibt. Seit Jahren verfolgen die Regierungen trotzdem unbeirrt eine Politik, die von der Mehrheit abgelehnt wird. Das ist der wesentliche Grund für die steigende Wahlabstinenz und Politikerverdrossenheit. Im Jahr 1972 betrug die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 91,1 Prozent, im Jahr 2009 waren es nur noch 70,8 Prozent. Bei der Kommunalwahl im Mai in Schleswig-Holstein gingen gerade einmal 46,5 Prozent zur Urne. Das vorherrschende Gefühl ist, mit der Stimmabgabe nichts beeinflussen zu können. Dieses Gefühl trügt nicht, denn die Zusammensetzung des Parlaments ist nur ein Oberflächenphänomen des Politikbetriebs. Viel einflussreicher sind Planungsstäbe, Ministerialbürokratien und Think Tanks. Sie sind eng mit der Wirtschaft und deren Interessen verwoben. Bei Regierungswechseln wird nur sehr wenig Personal ausgetauscht. Der Politikerkopf wechselt, der Normalbetrieb geht anhand der vorhandenen Planungen weiter. Es bleibt die oben skizzierte »Staatsräson«. Wer auch immer am 22. September das Ruder übernimmt, wird diesen Kurs beibehalten.

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Christine Buchholz ist Bundestagsabgeordnete der LINKEN und Mitglied im geschäftsführenden Parteivorstand.

TITELTHEMA WIE EGAL IST DIE WAHL

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ie Bundestagswahl am 22. September wird die deutsche Politik nicht fundamental verändern. So viel lässt sich aus den Erfahrungen der vergangenen 15 Jahre schließen. In diesem Zeitraum sind im Bund drei verschiedene Koalitionsvarianten durchgespielt worden: Rot-Grün (1998-2005), Schwarz-Rot (2005-2009) und SchwarzGelb (seit 2009), erst unter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder, dann unter Angela Merkel. So unterschiedlich die Personen an der Spitze der Regierungen waren, so sehr ähnelten sie sich hinsichtlich ihrer politischen Zielsetzungen. Sie folgten einer Strategie, die in den 1990er Jahren von den deutschen Eliten als Antwort auf die neue globale Situation nach dem Fall der Mauer entwickelt wurde. Deren Eckpunkte sind:

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Die Tatsache, dass die SPD starken Einfluss auf die Gewerkschaftsbewegung hat, führte dazu, dass es unter Rot-Grün wenig Widerstand gegen die Agenda 2010 gab. Aus dem gleichen Grund ist gegenwärtig der Kampf gegen Niedriglöhne so schwach. Das liegt daran, dass die DGB-Spitze auf eine Große Koalition setzt. Sie hofft, dass eine solche Bundesregierung weitere Maßnahmen zur Milderung der Krisenfolgen wie das Kurzarbeitergeld einführen wird. Doch diese Hoffnung ist trügerisch. Merkel und Steinbrück werden – im Fall, dass sich die Krise verschärft – sehr wahrscheinlich die in Südeuropa eingesetzten Rezepte auch hier anwenden. Die Gewerkschaften können nur Handlungsfähigkeit gewinnen, wenn sie auf ihre eigene Kraft vertrauen. Dafür müssen sie die Standortpolitik beenden, die hiesigen Kämpfe vorantreiben und Solidaritätskampagnen für die Menschen in Südeuropa entwickeln. Politisch leistet hier DIE LINKE einen wichtigen Beitrag. Sie kann und muss eine Alternative für enttäuschte SPD-Anhängerinnen und -Anhänger aufbauen. Zudem ist sie eine wichtige Partnerin bei den Antikrisenprotesten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Blockupy-Bewegung, an der DIE LINKE einen wichtigen Anteil hat: Sie war von Anfang an in dieser Bewegung aktiv und hat sich in dem Bündnis für die Einheit aller beteiligten Kräfte sowie für seine Ausweitung eingesetzt. Sie hat auf diese Weise viele Menschen zu Blockupy mobilisiert, die nicht von sich aus an einer antikapitalistischen Demonstration teilgenommen hätten. Aktivistinnen und Aktivsten der LINKEN haben zudem während der Blockupy-Proteste eine wichtige 26

© Jakob Huber

Die Umsetzung dieser ökonomischen und politischen Strategie kann nur verhindert werden durch massiven gesellschaftlichen Druck. Entscheidend wird sein, den Widerstand gegen die europäische Krisenpolitik und die zu erwartenden Angriffe auf die Bevölkerung in Deutschland zu stärken. Hier kommt DIE LINKE ins Spiel. Sie wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht mitregieren – und wenn sie es doch tut, ist sehr zweifelhaft, ob sie sich der Staatsräson entziehen kann. Denn der Einfluss der Wirtschaft auf die Politik ist groß, wer bockt, wird schnell »auf Linie gebracht«. Das ist derzeit gut im Nachbarland Frankreich zu beobachten, wo sich Staatspräsident Francois Hollande als sozialer »Anti-Merkel« wählen ließ und jetzt den Franzosen eröffnete, dass ihr Sozialstaat zu ausufernd und ihre Löhne zu hoch seien. Der Grund, sich für eine starke LINKE einzusetzen, ist ein anderer: Sie hat das Potenzial, die gesellschaftlichen Kräfte zu stärken, die der bisherigen Entwicklung etwas entgegensetzen wollen. DIE LINKE ist nicht die Antwort, sie kann aber ein wichtiger Teil davon sein.

Rolle in der Kommunikation mit Passantinnen und Passanten gespielt. Diese Fähigkeit hat die Partei gut entwickelt. Denn ihre Hauptaufgabe besteht in der Kommunikation linker Anliegen »nach außen«, an die Bevölkerung. Abgeordnete der LINKEN haben geholfen, die Proteste zu sichern und sind eingeschritten, als die Polizei die Demonstration gewaltsam gestoppt hat. Der Auftritt von Katja Kipping und vielen anderen Abgeordneten im Polizeikessel am 1. Juni hat geholfen, die Polizeigewalt sichtbar zu machen und das Vorgehen des Staates zu skandalisieren. Zudem spielt DIE LINKE eine wichtige Rolle in dem politischen Nachspiel zur Polizeigewalt. Bereits durch ihr Auftreten im Hessischen Landtag und im Bundestag in den Tagen nach den Protesten konnte sie einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, staatliche Repression aufzudecken und zu delegitimieren. Keine Frage: Die Ausgangslage ist schwierig. Keine der großen Negativentwicklungen, weder den Lohnund Sozialabbau noch die Militarisierung oder den Ausbau des Sicherheitsstaates, konnten wir in den vergangenen Jahren stoppen oder gar umdrehen. Aber es gibt auch Erfolge: Die Blockupy-Proteste haben bewiesen, dass Merkels Krisenpolitik auch im »Herzen der Bestie« nicht ohne Opposition ist. Im gewerkschaftlichen Bereich haben so unterschiedliche Gruppen wie Gebäudereiniger, H&M-Beschäf-


Die Macht liegt außerhalb des Parlaments tige und Kitaangestellte durch ihre Streiks gezeigt, dass Widerstand auch in Bereichen möglich ist, die als nicht kampffähig gelten. Lokale Bewegungen wie die gegen Stuttgart21 oder gegen Mietwucher in verschiedenen Großstädten haben zum Teil erstaunliche Erfolge errungen und die Politik unter Druck gesetzt. Das sind alles kleine Erfolge. Aber sie lassen sich durchaus verallgemeinern. Doch die Aufgabe, den großen Strom umzulenken, steht noch an. Dabei kann DIE LINKE auf verschiedenen Ebenen eine Rolle spielen. Aktivität von unten ist der Schlüssel. Doch Aktivität braucht Argumente und Analysen, wenn wir in den politischen Debatten gegen die Ideen der Herrschenden bestehen wollen. DIE LINKE hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 2007 zum Knotenpunkt für Kritik an den Verhältnissen entwickelt. Sie bündelt Argumente, die in linken Gewerkschaftskreisen, der Friedens- und Studentenbewegung entwickelt wurden, und trägt sie in die

Öffentlichkeit. Viele Themen sind mit Hilfe der LINKEN groß geworden: zum Beispiel die Werbetour der Bundeswehr durch Schulen, gegen die sich jetzt mehr und mehr Lehranstalten wenden. Auch über das unfassbare Treiben des Verfassungsschutzes in Sachsen und Thüringen haben Vertreterinnen und Vertreter der LINKEN einiges zutage gefördert. Viel von dieser Arbeit leisten die Fraktionen, die dafür die Mittel und den Zugriff zu Informationen nutzen, den eine parlamentarische Vertretung hat. Je stärker die Fraktion, desto mehr Arbeit kann sie leisten – ein guter Grund für eine starke LINKE. DIE LINKE bietet für bewegungsorientierte Arbeit einen organisatorischen Rahmen. Ihre Mitglieder haben mit nicht parteilich gebundenen Aktivistinnen und Aktivisten zusammengearbeitet und die außerparlamentarischen Bewegungen der letzten Jahre mit aufgebaut. Sie waren zum Beispiel bei der Solidaritätsarbeit für gewerkschaftliche Kämpfe, der lokalen Verankerung von antikapitalistischen Krisenprotesten und der Organisierung von Aktivitäten der Friedensbewegung dabei. Perfekt ist diese Partei bei weitem nicht. Im Parteialltag bleibt der aktive Bewegungsaufbau zu oft auf der Strecke. Und dennoch: DIE LINKE ist der beste Grund, am 22. September zur Wahl zu gehen – und gleichzeitig den Aufbau einer gesellschaftlichen Opposition fortzusetzen. ■

TITELTHEMA WIE EGAL IST DIE WAHL

Keine Aktion ohne Fraktion: Mandatsträger der LINKEN waren bei den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt dabei – auch sie landeten später teilweise im Polizeikessel

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TITELTHEMA

Unsere Arena ist die Straße DIE LINKE tanzt aus der Reihe. Deshalb braucht sie Unterstützung – nicht nur bei der Bundestagswahl. Ein Plädoyer zum Mitmachen VON Bernd Riexinger ★ ★★ Bernd Riexinger ist Parteivorsitzender der LINKEN.

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er wie ich häufig mit der Berliner S-Bahn zur Arbeit fährt, muss dieser Tage eigentlich überrascht sein. »Ist das gerecht?«, heißt es auf Plakaten an Bahnhöfen und Bushaltestellen. Damit ist aber keineswegs gemeint, dass sich unsere Gesellschaft in den vergangenen 15 Jahren in eine fatale Richtung entwickelt hat. Vielmehr stellt hier die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) die Frage, ob Mindestlöhne, Steuererhöhungen oder Bildung für alle gerecht sind. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Chuzpe die deutsche Sprache manchmal instrumentalisiert wird: Die INSM ist eine »Nichtregierungsorganisation« der Metall- und Elektroindustrie. Das bedeutet aber nicht, dass sie gegen die Regierung ins Feld zieht. Im Gegenteil: Sie will die neoliberalen Daumenschrauben fester anziehen und den gesellschaftlichen Druck für mehr soziale Gerechtigkeit kanalisieren – Menschen verunsichern, denn schließlich könnte deren richtiges Bauchgefühl rational doch falsch sein. Damit eröffnet sie den neoliberalen Wahlkampf vor den Parteien, aber durchaus für einige Parteien. Nüchtern betrachtet hätte der neoliberale Zeitgeist spätestens mit dem Ausbruch der Bankenkrise im Jahr 2008 seinen Abschied feiern müssen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Im Zusammenhang mit Peer Steinbrück wird häufig nur über die magische Anziehungskraft seiner Schuhsohlen auf Fettnäpfchen und seines Portemonnaies auf Geldscheine berichtet. In Vergessenheit gerät darüber leicht, welche inhaltlichen Konsequenzen die Nominierung von Steinbrück als SPD-Kanzlerkandidat hat. Denn in erster Linie bedeutet sie, dass die Sozialdemokratie sich entschieden hat, Ansätze einer mögli-

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© DIE LINKE Baden-Württemberg


Das vor Augen richtet sich der Blick auf den Wunschpartner der SPD, die Grünen: Steht wenigstens die vermeintliche Ökopartei für einen anderen Kurs als ihn INSM und Steinbrück fahren? Boris Palmer, Bürgermeister von Tübingen und mir aus den Schlichtungsgesprächen zu Stuttgart 21 noch sehr präsent, ist auf dem Parteitag der Grünen im April wie ein kleines Imitat von Peer Steinbrück aufgetreten. »Ich bin stolz auf diese Hartz-Gesetze, die uns Jobs brachten«, schmetterte er den Delegierten entgegen. Angesichts der moderaten Steuererhöhungspläne seiner Partei fühlte Palmer sich in einer Phalanx mit Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann bemüßigt, vor einem Überdrehen der Steuerschraube zu warnen. Obwohl das grüne Model Steuern unter dem Niveau der Kohl-Ära vorsieht, warnte Palmer, die Pläne seien »wirtschaftsfeindlich«. Am Ende konstatierte der Parteivorsitzende Cem Özdemir ganz nüchtern und sachlich, wenn man das Programm der Grünen neben die der anderen Parteien lege, komme man zu dem Schluss, dass es die »meisten Schnittpunkte« mit der SPD gäbe. Özdemir gilt bei den Grünen als Realo und tatsächlich gibt er mit dieser Einschätzung die Realität richtig wider. Wäre die deutsche Politik seit 1998 ein Vermächtnis, wäre die politische Botschaft der letzten 15 Jahre in einem Testament zu finden, dann wäre Europa die Erbin. Einst eine große Idee, ist der europäische Einigungsprozess heute eine große Misere. Die Krise hat das Vertrauen der Menschen in das Integrationsprojekt bis ins Mark erschüttert. In Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Zypern, überall werden sie in Armut gestürzt und Volkswirtschaften mit dem Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit rasiert. Die Logik der Agenda 2010 – die Legitimierung von dauerhaft prekärer Arbeit, von Millionen, die im Niedriglohnsektor arbeiten und auf der tickenden Zeitbombe Altersarmut sitzen – ist zum Exportschlager geworden. Vielfach wurde bereits über die Schuld der Bundesregierungen an der Krise geschrieben. Sicher ist: Die ohnehin vorhandenen wirtschaftlichen Ungleichheiten wurden und werden durch das deutsche »Exportmodell« verschärft. Gestützt auf optimale Weltmarktausrichtung in Kernbereichen der Industrie, hohe Produktivitätsstandards und die politisch durch die Agenda 2010 erzwungene Absenkung des Lohnniveaus erzielt die deutsche Wirtschaft gigantische Exportüberschüsse. Die erhöhen die Leistungsbilanzdefizite und so die Verschuldung der mediterranen Länder. Zugleich lebt die Mehr-

heit der Bevölkerung in Deutschland deutlich unter den Möglichkeiten dieses Landes und wird um die Resultate der eigenen Arbeitsleistung gebracht – ganz so, wie es die INSM mit Unterstützung der anderen Parteien gerne beibehalten möchte.

Linke Politik ist nicht nur eine Alternative DIE LINKE hat Positionen entwickelt, die geeignet sind, an die tatsächlichen Auseinandersetzungen gegen die neoliberale Hegemonie anzuknüpfen und zumindest Bausteine zur Entstehung eines sozialen, demokratischen, solidarischen, friedlichen und ökologischen Wandels zu formen. Eine Abkürzung zu den dafür erforderlichen gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, der Ausweitung sozialer Kämpfe und der Herausbildung europäischer und internationaler Solidarität gibt es nicht. Deshalb führt an der Zusammenarbeit, Koordination und Verständigung von Gewerkschaften, Linksparteien und Gruppen der sozialen Bewegungen kein Weg vorbei. Unser Programm und unsere Politik müssen dazu beitragen, diesen Prozess zu befördern. Um mit dem Politikwissenschaftler Elmar Altvater zu sprechen: »Die Bändigung des entfesselten Kapitalismus (oder seine Überwindung, Anm. d. Autors), die Regulierung von Finanzmärkten, sozial gesicherte Arbeitsplätze und die Wende zu erneuerbaren Energien sind Millenniumsaufgaben; in jedem Falle lassen sich diese besser in einem vereinten Europa bewältigen, als in einem durch den Spaltpilz der Finanzkrise und die Nullsummenspiele der Abwertungsraserei getrennten und vermutlich zerrütteten Europa.« Ist das gerecht? Bezieht man die Frage auf die Politik der letzten Jahre und die Millionenkampagne der Industrie, dann ist die klare Antwort: Nein. Aber auf diese Art kann linke Politik im Zusammenspiel mit sozialen Bewegungen nicht konkurrieren und antworten. Am Ende steht die Frage, was aus diesen Überlegungen folgt. SPD und Grüne spielen auf einem anderen Feld als wir und vertreten Kapitalinteressen eher im Stil der bürgerlichen Parteien – die Agenda-Politik und die klaglose Akzeptanz des europäischen Kahlschlags bringen dies zum Ausdruck. Daraus folgt aber selbstverständlich nicht, dass Fatalismus, Resignation oder gar Wahlenthaltung zum Maßstab linken Handelns werden sollten. Wir spielen in einer anderen Arena, unser Ort ist die Straße und das Parlament, der Betrieb und die Hochschule – der öffentliche Raum. Unsere Aufklärungsarbeit vollzieht sich nicht durch Plakatkampagnen, die Graswurzelcharakter imitieren sollen, sondern durch Aufklärungsarbeit vor Ort, an den Infotischen, in den Bewegungen. LINKE-Politik ist nicht nur eine Alternative, sie ist ganz anders und deshalb wichtig. ■

TITELTHEMA WIE EGAL IST DIE WAHL

chen Linksentwicklung im Keim zu ersticken. Veränderungen, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen könnten, sind mit der SPD nicht zu machen, schließlich ist bei Steinbrück von Altersweisheit wenig zu merken. Vor zehn Jahren hatte er gefordert, der Staat habe sich um die »Leistungsträger« der Gesellschaft zu kümmern – und zwar nur um sie. Diese Aussage steht bis heute unwidersprochen im Raum.

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© Philippe Leroyer / flickr.com / CC BY-NC-ND

»Die Macht dem Volke«: Im Wahlkampf waren die Anhänger der Linken nicht nur Zuschauer, sondern Akteure

»Ergreift die Macht!« Bei der französischen Präsidentschaftswahl im letzten Jahr gelang dem Linksbündnis Front de Gauche ein Überraschungserfolg. Die Wahlkampagne brachte nicht nur viele Stimmen, sie legte auch die Grundlage für zukünftige Mobilisierung Von Hadrien Clouet ★ ★★

Hadrien Clouet studiert Soziologie am Institut d‘études politiques in Paris und leitet die Deutschlandkommission des Parti de Gauche.

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inker Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2012: Kundgebungen mit Hunderttausenden, schließlich elf Prozent der Stimmen. Das ist die Bilanz der Wahlkampagne der französischen Front de Gauche (Linksfront), einem Bündnis aus neun linken Parteien. Und die Situation heute? Umfragen zufolge würden 15 Prozent der Bevölkerung für die Front de Gauche stimmen, 17 Prozent wünschen sich ihren ehemaligen Präsidentschaftskandidaten, Jean-Luc Mélenchon, als Premierminister. Mélenchon ist amtierender Vorsitzender einer der Parteien des Bündnisses, der franzöischen »Linkspartei« (Parti de Gauche). Heute entwickeln wir die Strategien weiter, die im Wahlkampf erfolgreich waren, und bleiben als Linksbündnis auch ohne Wahl in diesem Jahr aktiv. Vier Ansätze haben sich besonders bewährt: 1. Auf Konfrontation setzen: In politischen Auseinandersetzungen suchen wir den Konflikt und verwenden eine radikale Sprache. Auch wenn diese Taktik im Bündnis nicht unumstritten ist, erzielt sie

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in den Medien beachtliche Wirkung. Bei Interviews oder in Talkshows versuchen wir, den Rahmen der Debatte zu sprengen. Durch kritischen Umgang mit den Fragen gelingt es uns, die scheinbare Neutralität der Medien zu dekonstruieren. So wird deutlich, dass sie von Klasseninteressen gesteuert werden. Die entscheidende Dynamik erhält unsere Bewegung dadurch, dass wir die jetzige Staats- und Regierungsform komplett in Frage stellen. Im Rahmen der bestehenden französischen Republik lassen sich keine nachhaltigen Verbesserungen erreichen. Deshalb fordern wir einen völligen Neuanfang. Am 5. Mai gingen 180.000 Menschen mit uns auf die Straße, um gegen die autoritäre und undemokratischen Republik zu protestieren. Die wollen wir ersetzen durch eine soziale und demokratische Staatsform, in der die Arbeitenden auch über wirtschaftliche Fragen entscheiden, wo Frauenrechte – wie das Recht auf kostenlose Abtreibung – gewährleistet werden, die Netzneutralität geschützt wird und Volksvertreter jederzeit wieder abgewählt werden können. Statt der Schuldenbremse verlangen


wir eine »grüne Bremse«, ein Verbot umweltschädlicher Produkte und Produktionsverfahren. Die Stärke der Bewegung zeigt sich auf der Straße. In Paris waren wir 120.000, in Marseille 100.000, und je mehr Menschen mit uns demonstrieren, desto mehr schließen sich uns an. 2. Die richtigen Worte finden: Klassenkampf findet auch auf dem Feld der Sprache statt. Wir bringen eigene Schlagworte in die Debatten ein. Aus autoritär und Austerität (=Kürzungspolitik) wurde die »austeritäre EU«. Die Spitzenkandidaten der anderen Parteien (Hollande, Bayrou, Sarkozy, Le Pen) haben wir als die »vier Daltons der Austerität« (die Verbrecherbande aus der französischen Comicreihe »Lucky Luke«, Anm. d. Red.) bezeichnet. François Hollande ist für uns ein »Tretbootkapitän« auf der stürmischen See der Krise – inzwischen ein stehender Begriff. Diese Strategie hat mehrere Vorteile: Erstens fallen neue Ausdrücke auf. Unsere Schlagworte stechen gegenüber den langweiligen, alle Interessenskonflikte verschleiernden Wortschöpfungen des Neoliberalismus hervor, die heute das politische Feld beherrschen. Zweitens breiten sich diese Ausdrücke aus. Und wer sie benutzt, bezieht sich indirekt auf uns. Drittens bringen wir die Leute zum Lachen und zeigen, dass Politik auch lustig sein kann Unsere Slogans funktionieren anders. Sie zielen vor allem auf Selbstemanzipation. Zum Beispiel »Ergreift die Macht!« (»Prenez le pouvoir!«) oder »Platz für das Volk« (»Place au peuple«).

4. Mehrheitsfähig werden: Bei allen Themen versuchen wir, möglichst breite Bündnisse zu bilden. So waren bei der großen Demonstration für eine neue Republik am 5. Mai dieses Jahres nicht nur die neun Parteien der Front de Gauche dabei, sondern auch andere ehemalige Präsidentschaftskandidatinnen und -kandidaten, Philippe Poutou von der Antikapitalistischen Partei NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste) und Eva Joly von den Grünen. Ein Zeichen dafür, dass der Neuanfang ein Projekt der Mehrheit werden soll. Diese Politik der Mehrheit füllen wir mit Inhalten: Wir haben zum Beispiel eine Front de Gauche Afrika und eine Front de Gauche der Landwirtschaft gegründet, die mit unabhängigen Spezialisten zusammenarbeiten. Die Unterstützung von unabhängigen Fachleuten für unsere Politik zeigt der Öffentlichkeit, dass wir die Positionen der Mehrheit vertreten. So gab es Wahlaufrufe für die Front de Gauche von Krimiautoren, Philosophen und sogar von Besitzern kleiner und mittlerer Betriebe. Im Sinne dieser potentiellen Mehrheit haben wir auch unsere Klassenperspektive erweitert. Nach wie vor stehen wir an der Seite der Arbeiterklasse und unterstützen den Kampf in den Betrieben durch Kundgebungen, Gesetzesvorschläge und Solidaritätsaktionen. Aber wir kämpfen auch für das »Prekariat«, also alle Arbeitnehmer, die von dauerhaft unsicheren Arbeitsverhältnissen betroffen sind. Manche von ihnen verdienen sogar recht gut – nur wissen sie nicht, wie lange noch. Unsere Aufgabe ist es, diesen Leuten eine Perspektive zu eröffnen und den Begriff der Sicherheit zu rehabilitieren: das Recht auf soziale Absicherung, auf gute Arbeit und ein gutes Leben, auf das Streben nach Glück, kurz: das Recht auf Sozialismus. Die europäische Frage verlangt nach einer radikalen Alternative. In keinem Land kann linke Politik ohne entschlossenes Zurückdrängen der in der EU herrschenden Gesetze umgesetzt werden. Es gilt eine Strategie zu entwickeln, die damit bricht, ohne das Land zu isolieren. Die Auseinandersetzung um Europa muss politisiert, klassenmäßig aufbereitet und unter Einsatz aller politischen und diplomatischen Mittel mit allen möglichen Kräften in den verschiedenen Ländern geführt werden. In unserem Programm steht: »Frankreich wird eine Initiative für Generalversammlungen zur Neugründung Europas ergreifen. Dazu sollen alle zur Verfügung stehenden politischen und sozialen Kräfte aufgerufen werden.« Die Bedingungen dafür sind günstiger geworden. Das zeigen die Zunahme von sozialen Kämpfen, die wachsende Kritik an der herrschenden Politik in der EU sowie das offensichtliche Scheitern der »austeritären« Politik. ■

3. Die Wissenschaft für uns nutzen: Ein wesentlicher Teil unseres Kampfes besteht darin, mit wissenschaftlichen Argumenten zu überzeugen. Dazu verwenden wir Untersuchungen und Verlautbarungen bürgerlicher Institutionen. Wir stützen uns auf ihre Argumente, um ihre Widersprüchlichkeit aufzudecken und den ideologischen Charakter der neoliberalen Positionen zu enttarnen. In unserer Kampagne haben wir immer wieder betont, dass die krasse Ungleichverteilung des Reichtums nicht nur ein moralisches, sondern auch ein volkswirtschaftliches Problem ist. Selbst der Jahresbericht 2012 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen, stellt schließlich fest, dass die deutsche Exportpolitik die Schuldenkrise ausgelöst hat und das Einfrieren der Löhne Handelsasymmetrien verursacht, die die Eurozone langsam zerstören. Im Parti de Gauche haben wir Strukturen geschaffen, die es uns ermöglichen, auf neue Entwicklungen schnell zu reagieren und Argumente parat zu haben, wenn die Partei sie braucht.

TITELTHEMA WIE EGAL IST DIE WAHL

Wir suchen den Konflikt und verwenden eine radikale Sprache

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SCHWERPUNKT 150 JAHRE SPD

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Der Mythos Willy Brandt Die Grenzen seiner Reformpolitik

Das Erbe Gerhard Schrรถders Die Folgen seiner Agenda 2010


Die Deformpartei Die SPD feiert ihren 150. Geburtstag. Für wirkliche Reformen steht sie schon lange nicht mehr. Wir erklären, wie sie zu dem wurde, was sie heute ist Von Stefan Bornost ihr 150jähriges Jubiläum feiert, über dieses Kapitel ihrer Geschichte jedoch schweigt. Zum anderen ist die Frage, wie die SPD wurde wie sie ist, auch heute noch für den Umgang mit ihr relevant. Tucholsky sprach von dem »guten Namen«, den die Sozialdemokratie einmal hatte. Den erwarb sie sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Damals war die SPD das Kronjuwel der Zweiten Internationalen – die mächtigste und erfolgreichste Arbeiterpartei der Welt. Anfang des Jahres 1914 zählte sie eine Million Mitglieder, 110 Reichstags- und 231 Landtagsabgeordnete, 11.000 Gemeindevertreter und 320 Magistrate. Schon 1899 gab die Partei über 73 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 400.000 Exemplaren heraus, 49 dieser Zeitungen erschienen täglich. Dazu führte die SPD eine Reihe von Arbeitermassenorganisationen, in den Konsumgenossenschaften waren 1,3 Millionen Menschen organisiert, in den sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbänden sogar 2,6 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter. Dazu kamen sozialdemokratische Frauenverbände, Turnvereine und Gesangsgruppen. Die theoretische Basis der Partei bildete das radikale marxistische »Erfurter Programm« von 1891, in dem der Sozialismus als Ziel festgeschrieben wurde. Darin heißt es, dass der »Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat immer erbitterter« geführt würde: »Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit

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Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

Die Sozialdemokratie begriff sich mal als Klassenkampfpartei

SCHWERPUNKT 150 Jahre SPD

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s war der Satiriker Kurt Tucholsky, der im Jahr 1932 treffende Worte für den Charakter der Sozialdemokratie fand: »Es ist ein Unglück, dass die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen, wohin sie gehören: Zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.« Der 1. August 1914, auf den sich Tucholsky hier bezieht, ist so etwas wie die Urkatastrophe der deutschen Sozialdemokratie: Die bis dato revolutionär und antikapitalistisch aufgestellte Partei stimmte am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Reichstag für die Kriegskredite und unterstütze so die kaiserliche Militärmaschinerie. Nicht die SPD-Führung stellte sich später in Opposition gegen den Krieg, sondern Dissidenten, die deswegen aus der Partei geworfen wurden. Nicht die SPD-Führung setzte den Kaiser 1918 ab und erkämpfte die Republik, sondern revoltierende Arbeiter und Soldaten. Als die Bewegung sich radikalisierte, ließ die Führung der SPD sie im Bunde mit den alten Kräften, mit den Militärs, der nationalistischen Rechten, der kaiserlichen Verwaltung und den Unternehmern zusammenschießen. Die Folgen dieser Politik spalten die Arbeiterbewegung bis heute. Nun ist dies alles fast hundert Jahre her. Doch ein Blick zurück lohnt sich. Zum einen, weil die SPD

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Doch hinter der tiefroten Fassade tobte ein Flügelkampf. Im Kern ging es dabei um Folgendes: Alle Flügel waren sich einig darüber, dass es Aufgabe der Partei sei, eine allmähliche und ständige Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse im Rahmen des Kapitalismus zu erreichen. Wenn möglich, sollten parlamentarische Mehrheiten für Reformen genutzt werden. Außerdem sollten über gewerkschaftliche Kämpfe weitere Zugeständnisse durchgesetzt werden. Gestritten wurde darüber, ob sich die Strategie der SPD darin erschöpfen sollte. Die damaligen »Modernisierer« um den späteren Reichstagsabgeordneten Eduard Bernstein bejahten dies: Der Kapitalismus habe sich grundlegend gewandelt, große Krisen und Kriege seien nicht mehr zu erwarten. Deshalb sei der Übergang zum Sozialismus als das Ergebnis steter Reformbewegung denkbar – bis irgendwann eine Mandatsmehrheit der SPD dem Kapitalismus den Garaus machen würde. Bernsteins Position wurde durch die reale wirtschaftliche Entwicklung bestärkt. Deutschland boomte. Die durchschnittliche wirtschaftliche Wachstumsrate lag von 1895 bis 1913 bei 3,3 Prozent jährlich, dreimal so hoch wie in der langen Periode der Depression zuvor. Der Grund hierfür war die imperialistische Kolonialpolitik, an der sich alle Industrieländer zugleich und in Konkurrenz gegeneinander beteiligten. Der durchschnittliche Stundenlohn stieg seit den 1880er Jahren an, zwischen 1895 und 1913 wuchs er sogar um 54 Prozent. Die tägliche Arbeitszeit sank bis zum Jahr 1913 auf neun bis zehn Stunden. Diese Entwicklung sowie der Stimmen- und Mitgliederzuwachs der SPD brachte den »rechten« Flügel der Partei zu der Auffassung, gewerkschaftlicher und parlamentarischer Kampf reichten aus, um den Kapitalismus grundlegend zu verändern. Vor allem unter den Abgeordneten der Reichstagsfraktion kam diese Theorie an. So hieß es schon in einem Aufruf der SPD-Fraktion zur Reichstagswahl 1884: »Der Stimmzettel ist das Werkzeug, mit dem Ihr den Staat nach Eurem Gefallen, zu Eurem Nutz und Frommen zurechtzimmern könnt. Ihr seid also im wahrsten Sinne des Wortes Eures Glückes Schmied.« In solchen Formulierungen zeigt sich die Wende zur politischen Strategie des Reformismus, die linke Politik darauf reduziert, das jeweils Machbare im Parlament durchzusetzen. Die Aufgabe der Basis ist dann nur noch die passive Unterstützung der Parlamentarier. Vor 1914 konnten sich die Modernisierer jedoch nie theoretisch durchsetzen. Das Programm und der offiziell verkündete Anspruch blieben radikal antikapitalistisch. Insbesondere Rosa Luxemburg als 34

© marx21 / Ole Guinard

zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, dass die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.«

Peer Steinbrück (l.) ist der Ansicht, dass die Sozialdemokratie auf die Agenda 2010 von Gerhard Schröder (r.) stolz sein sollte. Ehemalige SPD-Anhänger sehen das anders, die Partei liegt in Umfragen seit Jahren unter der 30-Prozent-Marke Wortführerin des linken Flügels bot dem Reformismus Paroli. Sie argumentierte, dass der Aufschwung vom Kolonialwettlauf abhänge, der die Großmächte in den Krieg führen werde. Dieser Krieg werde alle Errungenschaften der Arbeiterbewegung zunichte machen – eine Analyse, die sich als prophetisch erwies. Doch der Reformismus gewann eine immer breitere soziale Basis in der Partei. Der heutige Parteichef Sigmar Gabriel hatte Recht, als er kürzlich in einem Interview mit dem »Handelsblatt« sagte: »Die SPD war nie eine reine Arbeiterpartei, schon gar keine Arbeitslosenpartei – sondern immer eine Mischung aus engagierter Arbeitnehmerschaft, aufgeklärtem und liberalem Bürgertum und linken Intellektuellen.« Natürlich sollte eine linke Partei offen sein für alle, die für linke Ziele kämpfen wollen. Im Falle der SPD aber führte der steigende Einfluss des »liberalen Bürgertums«, insbesondere in der Reichstagsfraktion


und auch der explosionsartig wachsenden Gewerkschaftsbürokratie, dazu, dass substanzielle Teile der Führungsschicht der Partei sich von dem Gedanken einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft verabschiedeten. Parteichef Friedrich Ebert brachte diese Haltung auf den Punkt, als er im Oktober 1918 über eine mögliche Revolution sagte: »Ich aber will sie nicht, ich hasse sie wie die Sünde.« Der Historiker Arno Klönne schreibt dazu: »Der organisatorische Erfolg der deutschen Sozialdemokratie seit Ende des ›Sozialistengesetzes‹ (Parteiverbot der SPD zwischen 1878 und 1890, Anm. d. Red.) hatte eine Kehrseite: Nicht wenige der zahlreichen Funktionäre in Partei und Gewerkschaften, gerade auch der hauptamtlichen, hatten sich angewöhnt, ihre Organisation und deren ungestörtes Funktionieren als Selbstzweck zu empfinden. Widerständige Aktivitäten und spontaner Protest erschienen ihnen als politische Verhaltensweisen, die da nur Probleme bereiten, den geregelten Umgang mit den Behörden destruieren und gerade in Kriegszeiten die Obrigkeiten unnötiger-

Trotzdem ist die SPD nicht einfach eine weitere bürgerliche Partei wie CDU oder FDP. Anders als diese ist sie schon immer eng mit der Arbeiterbewegung verbunden, die Gewerkschaften wurden Ende des 19. Jahrhunderts von Mitgliedern der SPD aufgebaut. Wegen dieser Sonderstellung charakterisierte der russische Sozialist Lenin die Sozialdemokratie als »bürgerliche Arbeiterpartei«. Bürgerlich insoweit, als dass sie in letzter Instanz denselben Prioritäten folgt wie andere kapitalistische Parteien: dem Wohlergehen der Wirtschaft und der Handlungsfähigkeit des kapitalistischen Staates. Arbeiterpartei in der Hinsicht, dass sie strukturell eng mit den Organisationen der Arbeiterbewegung, den Gewerkschaften, verwoben ist. Deshalb wird sie von der Masse der lohnabhängig Beschäftigten bis heute als kleineres Übel im Vergleich zu Schwarz-Gelb angesehen. Doch das vermeintlich kleinere Übel hat sich in der Vergangenheit schon oft als das größere erwiesen. Denn die Politik der SPD baut darauf auf, die Früchte von Wachstum und Aufschwung mittels Reformen an die Bevölkerung weiterzugeben. Dieser Ansatz setzt natürlich Wachstum voraus – einen immer größer werdenden Kuchen, von dem die Regierung Stücke verteilen kann. In Zeiten der Krise gibt es jedoch nichts zu verteilen. Reformpolitik bedeutet dann: Angriffe auf die abhängig Beschäftigten zugunsten der Unternehmen So zielte Schröders Agenda 2010 darauf ab, dem deutschen Kapital in der sich verschärfenden internationalen Konkurrenz die besten Standortbedingungen zu verschaffen. Diese Politik entlastete das Kapital und verschärfte die Ausbeutung der lohnabhängig Beschäftigten. Dafür war die SPD bereit, die Interessen und Bedürfnisse ihrer eigenen Anhängerschaft unter Arbeitern, Arbeitslosen und Rentnern anzugreifen. Dies illustrierte Schröder im Augenblick seines Wahlsiegs 1998 mit Einlassungen wie »Das Land ist wichtiger als die Partei« und »Mit mir wird es keine Politik gegen die Wirtschaft geben«. Eben das rechneten die Unternehmer ihm als »historischen Verdienst« hoch an. Der »Genosse der Bosse« nahm die Erosion der SPD-Basis billigend in Kauf, um das deutsche Kapital auf dem Weltmarkt zu stärken.

SCHWERPUNKT 150 Jahre SPD

weise provozieren würden.« Wie weit diese Identifikation mit dem Staat und seinen Zielen gediehen war, wurde zuerst in der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten und später in der Niederschlagung der revolutionären Bewegung deutlich. Mit ihnen war die Metamorphose der Sozialdemokratie von der Systemopposition zur staatstragenden Partei abgeschlossen. Noch heute bildet der Reformismus die politische Grundlage der SPD – und ist dabei zu einem Reformismus ohne positiven Inhalt verkommen. Als Gerhard Schröder von »Reformen« sprach, meinte er die Agenda 2010 – eine Gegenreform zur Abschaffung sozialstaatlicher Errungenschaften.

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© Urban Artefake / flickr.com / CC BY-NC-ND

Am 2. Oktober 2004 demonstrierten über 50.000 Menschen in Berlin gegen die Agenda 2010. Die Massenproteste fielen zusammen mit der Gründung der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), die sich später mit der PDS zur LINKEN vereinigte

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Schröder folgte hier einer Logik, die der SPD-Theoretiker Fritz Tarnow bereits im Jahr 1931 prägnant formuliert hat: Die SPD müsse der »Arzt am Krankenbett des Kapitalismus« sein. »Wenn der Patient (der Kapitalismus, Anm. d. Red.) röchelt, hungern die Massen draußen. Wenn wir das wissen und eine Medizin kennen, selbst wenn wir nicht überzeugt sind, dass sie den Patienten heilt, aber sein Röcheln wenigstens lindert, (...) dann geben wir ihm die Medizin und denken im Augenblick nicht so sehr daran, dass wir doch Erben sind und sein baldiges Ende (den Sozialismus, Anm. d. Red.) erwarten.« Praktisch bedeutete das: Unterstützung der unternehmerfreundlichen Politik der damaligen Reichsregierung. Dank kann die sozialdemokratische Rechte für diese Politik nicht ernsthaft erwarten. Die Unternehmer unterstützen sie nur, wenn konservative Regierungen aufgrund von wachsendem Widerstand in der Bevölkerung und insbesondere in den Gewerkschaften nicht mehr in der Lage sind, so viel Sozialabbau zu betreiben, wie aus ihrer Sicht nötig wäre. Dann wird die Sozialdemokratie zur interessanten Option: Aufgrund ihrer organischen Verbindung mit den Gewerkschaften kann sie die Arbeiterbewegung von innen heraus lähmen. Genau dies geschah unter Schröder. Sein Vorgänger im Kanzleramt, Helmut Kohl, wäre niemals in der Lage gewesen, die Agenda 2010 durchzusetzen. Im Jahr 1996 scheiterte er ja schon beim Versuch, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu kürzen, an massiven Streiks in der Metallindustrie. Undenkbar, dass er so ein radika-

les Kürzungsprogramm durchsetzen und gleichzeitig den Widerstand hätte deckeln können. Dazu bedurfte es Schröder. Ihre engen Verbindungen zur Arbeiterbewegung hegt die SPD-Führung übrigens bis heute: So ist auch die Berufung des IG-BAU-Chefs Klaus Wiesehügel in das Schattenkabinett von Peer Steinbrück zu verstehen – als Wink an die Gewerkschaften, dass ihre Interessen von einer SPD-geführten Regierung vermeintlich gewahrt werden. Die Rückschau auf 150 Jahre SPD birgt wichtige Schlussfolgerungen für DIE LINKE: Aufgrund ihrer Verbundenheit mit der »deutschen Staatsräson« und der Dominanz des rechten Parteiapparats ist eine nachhaltige Linkswendung der Sozialdemokratie so gut wie ausgeschlossen. Als Partner für die Umsetzung eines linken Programms, das Umverteilung, Verstaatlichung des Bankensektors und Friedenspolitik beinhaltet, gar in einer gemeinsamen Regierung, fällt die SPD aus. Jedoch lässt sich ihr Einfluss, insbesondere in den Gewerkschaften, nicht einfach wegwünschen – er ist eine historisch gewachsene soziale Tatsache. Daher muss DIE LINKE praktisch beweisen, dass nur sie die Anliegen vertritt, für die die Sozialdemokratie einmal stand und die viele SPD-Wähler auch heute noch von ihr erwarten. Dabei geht es nicht um Sonntagsreden – die waren auch in der alten SPD trotz gegenteiliger Praxis schnell geschrieben – sondern um die tagtägliche Arbeit in Stadtteil und Betrieb, in Schule und Universität. ■


SCHWERPUNKT

Willys Absturz Sozialdemokratische Reformpolitik: Das wird bis heute vor allem mit dem Namen Willy Brandt verbunden. Doch der profitierte damals von besonderen Umständen – und musste bald das Ende seiner Reformen miterleben Von Stefan Bornost

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eim Festakt zum 150-jährigen Bestehen der SPD wurde ein Sozialdemokrat besonders gewürdigt: Willy Brandt. Viele Sozialdemokraten sind vor mehr als drei Jahrzehnten wegen Brandt und seiner Reformpolitik in die Partei eingetreten. Allein 1972, im Jahr ihres größten Wahltriumphs nach dem Krieg, lag die Zahl der Neumitglieder bei über 150.000. Kein Wunder, dass sich viele die »gute, alte« SPD zurückwünschen, die sie mit der Brandt-Ära identifizieren.

Doch aufgrund des wirtschaftlichen Wachstums verbesserte sich auch der Lebensstandard der Bevölkerung spürbar. Die Grundpfeiler des Sozialsystems, die Schröder mit der Agenda 2010 attackiert hat, wurden in der Nachkriegszeit gelegt – von einer CDU-Regierung. Bei der Bundestagswahl 1969 erreichten SPD und FDP erstmals zusammen die Mehrheit der Bundestagsmandate und bildeten fortan die Regierung. Die SPD, die in den Jahren zuvor Juniorpartner einer Großen Koalition unter dem Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) war, stellte mit Willy Brandt zum ersten Mal nach dem Krieg den Regierungschef. Es begann die Reformphase der sozialliberalen Koalition. Die Reformen in der Anfangsphase der Brandt-Regierung waren, anders als Schröders Agenda-2010-Politik, echte Reformen, die eine wirkliche Verbesserung des Lebensstandards der lohnabhängig Beschäftigten brachten. Die Einführung des BAföG für Schüler und Studierende öffnete die Hochschulen für Arbeiterkinder. Zudem schaffte die Regierung die drei Karenztage für Arbeiter bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ab. Sie senkte das Renteneintrittsalter bei Männern auf 63 und bei Frauen auf 60 Jahre. Auch den Mieterschutz baute sie massiv aus. Dazu kamen die größten ta-

Der Mythos Willy Brandt ist allerdings ein Produkt besonderer Umstände: Seine Reformpolitik fand unter den Bedingungen eines Wirtschaftsaufschwungs und einer starken Arbeiterbewegung statt. Die Politik der SPD baute darauf auf, die Früchte von Wachstum und Aufschwung mittels Reformen an die Bevölkerung weiterzugegeben. Dieser Ansatz setzte jedoch Wachstum voraus. Das gab es im »goldenen Reformzeitalter« der 1950er und 1960er Jahre. Das »Wirtschaftswunder« begann, die Wachstumsraten stiegen. Nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs« erschien die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er Jahre nur noch wie ein ferner Spuk. Der Löwenanteil des steigenden gesellschaftlichen Reichtums floss jedoch zu den Unternehmern.

SCHWERPUNKT 150 Jahre SPD

Im Jahr 1972 strömten 150.000 neue Mitglieder in die SPD

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riflichen Lohnerhöhungen der Nachkriegszeit. Die sozialen Reformen gingen Hand in Hand mit einer politischen Liberalisierung. Durch eine Reform des Strafgesetzbuches wurde 1973 die Strafbarkeit der Homosexualität eingeschränkt. Brandt verfügte eine Amnestie für über 1000 Studierende, die während der 68er-Revolte ins Fadenkreuz der Justiz geraten waren. Außenpolitisch setzte Brandt die »Neue Ostpolitik«, die Normalisierung des Verhältnisses zur DDR, gegen den erbitterten Widerstand der CDU/ CSU durch.

Für das Kapital war klar: Der muss weg! Angesichts dieser Bilanz ist es kein Wunder, dass Brandt in und außerhalb der SPD fast mythisch verklärt wird. Dabei galt er während seines politischen Aufstiegs in der SPD in den 1950er und 1960er Jahren gar nicht als Linker. Und auch an der Regierung stand Brandt nicht nur für progressive Veränderungen. Die Berufsverbote gegen »Kommunisten« und der Ausbau des Verfassungsschutzes fallen ebenfalls in diese Zeit. So sind die Ursachen des Reformaufbruchs auch nicht in der Person Willy Brandt selbst zu finden, sondern in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die waren ab 1969 ideal für eine linke Reformpolitik. Soziale und politische außerparlamentarische Kämpfe hatten die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der Arbeiterklasse verschoben. Auf die Studentenproteste des Jahres 1968 folgte eine große Welle von wilden Streiks. Die Politisierung der Studierenden sprang auf die Lehrlinge über und fand Ausdruck in einer großen Lehrlingsbewegung. Die ungeheure Popularität von Brandts Wahlprogramm mit den Kernpunkten Frieden und innere Reformen war Ausdruck dieser Kräfteverschiebung – Brandt war von der Bewegung an die Macht gespült worden. Zu diesen politischen kamen günstige ökonomische Rahmenbedingungen: Das durchschnittliche jährliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts zwischen 1969 und 1974 betrug 5,2 Prozent. Damit waren, auch ohne zusätzliche Besteuerung der Reichen, ihrer Vermögen und Profite, Sozialreformen finanzierbar. Willy Brandts fulminante Wiederwahl im Jahr 1972 drückte die optimistische Stimmung in der Arbeiterschaft aus. Die Sozialdemokratie erzielte mit 45,8 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Mit einem »Wahlkampf gegen die Millionäre« brach sie massenhaft Angestellte und katholische Arbeiter von der CDU los, die Jugend strömte in die Partei hinein. Aber schon bald sah sich Brandt gezwungen, die Reformhoffnungen zu dämpfen und dazu aufzurufen, 38

»Maß zu halten« und »härter zu arbeiten«. »Wer nur neue Forderungen stellt, kann nicht erwarten, ernst genommen zu werden«, sagte er im Januar 1973. Grund dafür war, dass sich die Unternehmer langsam wieder sammelten und anfingen, Druck auf die Regierung auszuüben. Im Jahr 1974 setzte sich Brandt persönlich für Lohnzurückhaltung ein und lehnte deutliche Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst ab. Die Gewerkschaft ÖTV aber stand derart unter dem Druck der eigenen Basis, dass sie mit einem Streik eine Lohnerhöhung von elf Prozent durchsetzte. Brandt war nicht in der Lage und wohl auch nicht gewillt, eine selbstbewusste Arbeiterbewegung in die Schranken zu weisen. Für das Kapital war daher klar: Der muss weg! Doch gestürzt wurde Brandt letztlich nicht nur durch die Unternehmer, sondern durch den rechten Flügel der eigenen Partei. Der profilierte Parteirechte Helmut Schmidt trat gemeinsam mit Fraktionschef Herbert Wehner offensiv für einen Kurswechsel zugunsten einer unternehmerfreundlicheren Politik ein und demontierte so Brandt. Der verlorene Lohnkampf gegen die ÖTV war die innere Ursache für Brandts Rücktritt im Mai 1974, die Spitzelaffäre um den DDR-Spion Günter Guillaume lieferte den äußeren Anlass. Wehner und Schmidt waren lange vor Brandt vom Verfassungsschutz über Guillaume informiert worden. Sie ließen Brandt absichtlich in Unkenntnis und trieben ihn zum Rücktritt. Die SPD-Parteiführung opferte ihre populärste Führungspersönlichkeit, um es sich mit dem Kapital nicht zu verderben – ein Umstand, der zeigt, wie fest die Unternehmer die SPD im Griff hatten. Brandts Nachfolger wurde Helmut Schmidt. Im ersten Jahr seiner Amtszeit, 1974, brach die erste globale Wirtschaftskrise seit Kriegsende aus. Das reale Wirtschaftswachstum sank, die Arbeitslosigkeit stieg auf über eine Million – ein Schock nach Jahrzehnten der Vollbeschäftigung. Der sozialdemokratischen Politik, die Wirtschaftswachstum als Grundlage aller Reformen verstand, war damit der Boden entzogen. Schmidt erteilte Reformansprüchen eine deutliche Absage: »Angesichts der Weltwirtschaftskrise kann der Akzent nicht mehr auf Reformen oder gar moralischen Zukunftshoffnungen liegen.« Staatliche Investitionen sollten nach der sozialdemokratischen Lehre helfen, die Konjunktur wieder in Gang zu bringen. Die Nettokreditaufnahme des Bundes verdreifachte sich zwischen 1974 und 1975. Mit diesem Geld wurde jedoch nicht der private Konsum der Bevölkerung gefördert oder der Ausbau des Sozialstaats betrieben, sondern versucht, die Unternehmer zu mehr Investitionen zu bewegen. Dazu sollten Investitionszulagen, die Übernahme von Lohnkosten sowie Steuererleichterungen für die Industrie dienen. Was Schmidt den Unternehmern gab, kassierte er bei Arbeitern und Angestellten ein. Um die hohe


sengeld, bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, der Ausbildungsförderung, beim Kindergeld, in der Behinderten- und Altersversorgung – immer mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie wiederherzustellen. Wenig später fand sich die SPD in der Opposition wieder. Die Unternehmer, die Schmidt lange als »richtigen Mann in der falschen Partei« gelobt hatten und mit dessen Sparpolitik einverstanden waren, hatten angesichts der Wirtschaftskrise eine noch deutlichere Politik zu ihren Gunsten gefordert. Auch der Koalitionspartner FDP wollte weitergehende Kürzungen, etwa die des Arbeitslosengeldes auf 50 Prozent des letzten Nettoeinkommens und die Abschaffung des Mutterschaftsurlaubs. Das konnte selbst Schmidt der eigenen Partei nicht mehr zumuten. Im Oktober 1981 beendete ein Misstrauensvotum die 16-jährige Regierungszeit der SPD. Als Schmidt aus dem Amt schied, hinterließ er eine tief enttäuschte Arbeiterbasis. Bei der Bundestagswahl im Jahr 1982 enthielten sich viele Arbeiter der Stimme, zwei Millionen liefen sogar ins Lager der CDU über. Die Ära Kohl begann. Für DIE LINKE ist ein Rückblick auf die Brandt-Zeit lohnenswert, weil er eine wichtige Erkenntnis vermittelt: Erfolgreiche Reformpolitik setzt eine Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeiterbewegung voraus. In Zeiten ökonomischer Krise gilt das umso mehr. Eine solche Verschiebung muss Schritt für Schritt durch gesellschaftliche Kämpfe errungen werden. Das ist ein langer und harter Weg – aber der einzig gangbare. ■

★ ★★ marx21.de Bei diesem Artikel handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Version eines Textes, der im Jahr 2009 unter dem Titel »Willy kommt nicht mehr zurück« in marx21 erschienen ist. Die Originalversion gibt es online unter: marx21.de/content/ view/259/43/

SCHWERPUNKT 150 Jahre SPD

© wikimedia / B 145 Bild-F039405-0019 / Ludwig Wegmann CC-BY-SA

Verschuldung abzubauen, kürzte er 1976 das Arbeitslosengeld und die Ausbildungsförderung. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und anderer Verbrauchssteuern traf besonders die Arbeitnehmer als Konsumenten. Schmidt war von Reformen zu Gegenreformen übergegangen. Viele Sozialdemokraten hatten die Hoffnung, dass dies nur eine kurzzeitige Notwendigkeit sei, bis »die Wirtschaft wieder läuft«. Zunächst schien sich diese Hoffnung zu erfüllen. Zwischen 1978 und 1980 legte die Regierung Schmidt ein neues »Zentrales Investitionsprogramm« (ZIP) auf, ähnlich wie 1975, nur größer und langerfristiger angelegt. Erneut wurde die staatliche Nachfrage nach Investitionsgütern angekurbelt. Das reale Wachstum erhöhte sich wieder auf 4,2 Prozent. Innerhalb von zwei Jahren entstanden über 900.000 Arbeitsplätze. Doch die zweite große weltweite Rezession ab dem Jahr 1980 machte diese Anstrengungen wieder zunichte. Das Wachstum brach erneut ein und die Zahl der Arbeitslosen verdoppelte sich auf zwei Millionen. Weil die Angst vor Arbeitslosigkeit die Belegschaften lähmte, sanken die Reallöhne deutlich. Besonders schlimm für das Exportland BRD: Die Inflation stieg, die D-Mark wurde um acht Prozent aufgewertet, der Export sank massiv. Nun brachen in der Regierung Schmidt alle Dämme. Panikartig warf sie alle Grundsätze sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik über Bord. Statt wie zuvor die Krise dadurch zu bekämpfen, dass sie durch höhere Staatsausgaben die Nachfrage ankurbelte, senkte sie nun – mitten in der Krise – die Staatsverschuldung. Erneut setzte Schmidt bei seiner Sparpolitik unten an: Er kürzte beim Arbeitslo-

Bundesparteitag der SPD in Hannover im Jahr 1973: Willy Brandt (l.) wurde mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden gewählt – und kurze Zeit später vom rechten Parteiflügel um Helmut Schmidt (r.) aus dem Kanzleramt gedrängt

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Schwerpunkt

Agenda fatal Die deutsche Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Die SPD feiert das als späten Erfolg ihrer Agenda 2010. Eine Erfolgsgeschichte mit Schattenseiten Von Volkhard Mosler ★ ★★

Volkhard Mosler ist Redakteur von »Theorie21«.

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ls großen Erfolg feiert die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« die Agenda 2010 zehn Jahre nach ihrer Verkündung durch den damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD). Eines stehe fest: In der vergangenen Dekade habe »sich Deutschland vom ›kranken Mann Europas‹ zum wirtschaftlichen Zugpferd des gesamten Kontinents entwickelt.« Den Kern der Agenda 2010 bildet ein ganzes Bündel von Gesetzen und Maßnahmen, die allesamt auf eine drastische Absenkung der relativen Lohnkosten und die Erhöhung der Profite abzielten: • die Verkürzung der Bezugszeit von Arbeitslosengeld auf maximal ein Jahr • die Streichung der alten Arbeitslosenhilfe und die Einführung einer neuen Lohnersatzleistung (Arbeitslosengeld II oder auch »Hartz IV«) auf dem alten Sozialhilfeniveau • die Verschärfung der Zumutbarkeitsbedingungen • die Abschaffung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben, die Androhung eines Gesetzes zur Öffnung der Flächentarifverträge, um die Gewerkschaften zur »freiwilligen« Selbstverstümmelung zu zwingen • die großzügige Ausdehnung von Leiharbeit und befristeten Beschäftigungen • die Senkung von Kapital- und Gewinnsteuern um 50 Milliarden Euro, die Abschaffung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung durch erhöhte Eigenleistungen • der allgemeine Angriff auf die Sozialversicherungen zur Senkung der Unternehmerbeiträge

All dies führte dazu, dass der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen von 71,1 Prozent (2003) auf 64,2 Prozent (2012) gefallen ist. Entsprechend gestiegen ist dagegen der Anteil aus Gewinnen und Vermögen. Der größte Erfolg der Agenda – aus der Sicht ihrer Befürworter – war die Vergrößerung eines Niedriglohnsektors und die Ausdehnung prekärer Beschäftigungsverhältnisse wie der Leiharbeit. Dies vergrößerte die Angst in der Arbeiterklasse und im neuen Mittelstand vor dem sozialen Abstieg. Die Agenda 2010 veränderte die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit nachhaltig zugunsten des Kapitals. Nicht von ungefähr bezeichnen Befürworter das Reformprojekt heute als »historische« Leistung der Regierung Schröder. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück verteidigt die Agenda 2010 gegen Kritik aus den eigenen Reihen und Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier benennt sie als »die entscheidende Weichenstellung« dafür, dass es Deutschland heute deutlich besser gehe als seinen Nachbarn. Altkanzler Schröder bringt gegenüber »Bild« zwei Argumente, die sicher auch im bevorstehenden Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen werden: »Millionen Menschen sind in Arbeit gekommen« und »Deutschland ist besser durch die Krise gekommen, als alle anderen Länder Europas.« Tatsächlich ist die Zahl der Arbeitslosen gesunken, aber nicht, weil es mehr bezahlte Arbeit gibt, sondern weil die bestehende Arbeit auf mehr Menschen verteilt wurde. An sich wäre das eine richtige Idee, wenn die Löhne für die geleistete Arbeit mindestens gleich geblieben wären.


© Klaus Stuttmann

Die Einführung von Hartz IV wurde von einer Kampagne gegen die Empfänger staatlicher Transferleistungen flankiert. Von CDU bis SPD, von »Bild« bis »Spiegel«: Alle schlugen auf die vermeintlichen »Sozialschmarotzer«

Das war jedoch nicht der Fall. Vielmehr sind die Reallöhne der prekär Beschäftigten (23 Prozent aller abhängig Beschäftigten) um mehr als zehn Prozent gesunken und zugleich hat sich der Niedriglohnsektor ausgedehnt. Mehr Menschen arbeiten für weniger Lohn. Karl Marx hat eine solche Entwicklung als Steigerung der Ausbeutungsrate bezeichnet. Doch die Sicht von Steinmeier, Steinbrück und Schröder ist die der besitzenden Klasse. Sie verwechseln höhere Gewinne mit dem Allgemeinwohl. Bleibt das Argument, Deutschland sei besser durch die Krise gekommen. Das trifft tatsächlich zu.

umgekehrt. Die Ernennung Steinbrücks zum Spitzenkandidaten der SPD zeigt vor allem, wie stark die Anhänger der Schröderschen Agenda-Politik in dieser Partei noch sind. Einen Politikwechsel wird es mit ihm nicht geben. Wahrscheinlicher ist es, dass unter einem Kanzler Steinbrück eine »Agenda 2020« ausgerufen wird. Die hat Schröder jüngst gegenüber »Bild« gefordert – mit dem Ziel, »Deutschlands Vorsprung gegenüber ›aufstrebenden Wirtschaften‹ wie Brasilien und China zu verteidigen.« Eine Regierung unter einem Kanzler Steinbrück wäre nichts weiter als eine Neuauflage des Kabinetts Schröder. Die Berufung von Agenda-Kritikern in sein Kompetenzteam ist vergleichbar mit dem Aufbringen von Stickereien auf ein Hungertuch. Kürzlich feierte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung den zehnten Jahrestag der Agenda 2010. Eingeladen war auch Edmund Stoiber, Kanzlerkandidat der Unionsparteien im Jahre 2002. Er betonte in seiner Rede, dass es offenbar Reformen gibt, die nur die SPD durchsetzen kann: »Stellen Sie sich mal vor, ich hätte als Unionskanzler diese Positionen und diese Reformen durchzusetzen versucht. Dann hätten wir nicht nur Montagsdemonstrationen gehabt...« Diesen Satz sollten sich diejenigen, die noch heute glauben, die SPD sei die Partei des »kleineren Übels«, übers Bett hängen. ■

In den fünf Jahren seit Krisenbeginn wuchs die deutsche Wirtschaft jährlich um 0,8 Prozent. Die Wirtschaft der gesamten EU ist in diesem Zeitraum jährlich um 0,1 Prozent geschrumpft und auch das Jahreswachstum der US-amerikanischen Ökonomie (plus 0,6 Prozent) lag in den vergangenen fünf Jahren unter dem der Bundesrepublik. So ist Deutschland »Spitze« wie der Einäugige König unter den Blinden ist. Aus Sicht der Arbeiterklasse hat die Agenda 2010 total versagt, sie hat den Ausbruch der größten Krise seit den 1930er Jahren nicht verhindert, sondern Millionen Menschen in Armut getrieben. Auch hat sie nicht die Tendenz des allgemeinen Niedergangs, der Stagnation und der sich verschärfenden Krisenhaftigkeit gestoppt oder gar

SCHWERPUNKT 150 Jahre SPD

Die Wirtschaft verwechselt ihre Gewinne mit dem Allgemeinwohl

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WELTWEITER WIDERSTAND

USA Protest gegen Monsanto in Milwaukee: Insgesamt gingen Ende Mai mehr als zwei Millionen Menschen in 45 Ländern gleichzeitig auf die Straße, um gegen den Saatguther42

steller zu demonstrieren. Sie kritisierten, dass das Unternehmen Gentechnik verwendet und Landwirte durch bestimmte Patentrechte an seine Produkte bindet. Zudem wandten sie

sich, wie auf unserem Foto, gegen den Einsatz von speziellen Pestiziden, die für das weltweite Bienensterben verantwortlich gemacht werden.


SCHWEDEN

Rebellion gegen Kürzungen und Rassismus Nicht zum ersten Mal erschüttert ein Aufstand Schwedens Vororte. Doch diesmal ist es anders als sonst

8CHINA Im Songjiang-Bezirk von Schanghai demonstrierten Mitte Mai hunderte Anwohner gegen den geplanten Bau einer Batteriefabrik. Sie fürchten eine hohe Lithiumbelastung, die sowohl die nähere Umgebung als auch das größtenteils von dort stammende Trinkwasser der Stadt betreffen würde.

Von Åsa Hjalmers

ie Aufstände, die am 19. Mai im Stockholmer Vorort Husby begannen, hätten eigentlich niemanden überraschen dürfen. Sie waren eine Reaktion darauf, dass die Polizei einen 69-jährigen Mann in seiner Wohnung erschossen hatte. Die Situation eskalierte schließlich, als Polizisten weitere Bewohner des Viertels attackierten. Schnell weiteten sich die Aufstände auf zwanzig Stockholmer Vororte aus, aber auch auf andere Städte wie das 150 Kilometer entfernte Örebro. Die Rebellion geht von Menschen aus, die sich in hoffnungslosen Situationen befinden. Sie richtet sich gegen die Machthabenden. Ein Bewohner sagte der Presse: »Warum sollte man den Kids sagen, dass sie aufhören sollen zu protestieren? Sie versuchen, sich Gehör zu verschaffen. Das ist die einzige Art, mit der es ihnen gelingt.« Die meisten Einwohner Husbys sind Migranten und haben die alltäglichen rassistischen Schikanen der Polizei satt. Doch geht es nicht nur um Rassismus. Schweden hat in den vergangenen Jahren seine öffentlichen Einrichtungen noch schneller als andere Staaten privatisiert. Zudem wurde die Kürzungspolitik, die während einer Wirtschaftskrise in den 1990er Jahren begann, bis heute fortgesetzt. Sie trifft vor allem die Menschen in ärmeren Gegenden. In Husby und anderen Vierteln wurden Jugendzentren, Krankenhäuser, Bibliotheken und Schulen geschlossen. Die Gründe für die Aufstände sind dieselben wie in den Vororten anderer europäischer Großstädte: Langzeitarbeitslosigkeit, unsichere Jobs, erbärmliche Wohnbedingungen, Diskriminierung, Rassismus und Polizeischikanen. Schweden hat bereits 2008 und 2010 ähnliche Aufstände erlebt, hauptsächlich in Malmö. Doch diesmal ist etwas anders: In den vergangenen Jahren sind basisnahe Kam-

pagnen zur Verteidigung des öffentlichen Dienstes und gegen Privatisierungen entstanden. Deshalb haben die Menschen jetzt das Selbstvertrauen, Politiker und Medien dazu zu bewegen, auch über die sozialen Ursachen der Aufstände zu diskutieren. Eine wichtige Organisation junger Menschen in den Vorstädten ist »Megafonen«. Sie bietet Nachhilfeunterricht an, organisiert Gruppenreisen und kämpft gegen den Verkauf öffentlichen Wohneigentums. Ihre Aktivistinnen und Aktivisten treten häufig in den Medien auf. Sie verweigern sich dem Druck, die Aufstände zu verurteilen. Vielmehr erklären sie, dass sie die Beweggründe verstehen und dass die Kürzungen zurückgenommen werden müssten. Gerade einkommensschwache Gegenden dürften nicht länger vernachlässigt werden. Zudem fordern sie eine unabhängige Untersuchung, um den gewaltsamen Tod des Mannes aus Husby aufzuklären. Darüber hinaus verlangen sie eine offizielle Entschuldigung der Polizei bei der Witwe. Außerdem organisiert Megafonen einen Solidaritätsfonds für die Menschen, deren Autos bei den Aufständen beschädigt wurden. Politiker haben versucht, die Aufständischen zu verurteilen. Aber sie mussten bald ihre Strategie ändern, nicht zuletzt aufgrund des Drucks in den sozialen Medien. Denn die junge Generation will eine andere Geschichte ins öffentliche Bewusstsein bringen als die von »kriminellen Elementen« und »Hooligans«. Ihr geht es um die Themen Vernachlässigung, Rassismus und Kürzungen. Diese Aktivistinnen und Aktivisten und die örtlichen Netzwerke, die sie aufgebaut haben, geben uns Hoffnung für die Zukunft. ★ ★★ Åsa Hjalmers ist Redakteur bei »Antikapitalist«, dem Magazin der schwedischen Gruppe »Internationella Socialister«

8SCHWEIZ Ein Streik in einer Spar-Filiale in Dättwil im Kanton Aargau hat für landesweite Aufmerksamkeit gesorgt. Die 21 Angestellten fordern mehr Lohn, mehr Personal und mehr Respekt. Die Geschäftsleitung hat 40 Streikbrecher eingesetzt, die aber vertrieben werden konnten.

8USA Mitte Mai haben in fünf Städten der USA Mitarbeiter von Fastfood-Betrieben für einen Mindestlohn von 15 Dollar und das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung gestreikt. Alleine 400 Beschäftigte beteiligten sich in Detroit und legten so viele Geschäftsstellen lahm. Fastfood-Ketten gehören in der Stadt zu den größten Arbeitgebern, gleichzeitig leben über ein Viertel der Detroiter Familien unter der Armutsgrenze von 18.000 Dollar im Jahr.

Bangladesh

Aufstände auf Ruinen Nach dem Einsturz einer neunstöckigen Textilfabrikhalle Ende April hat es im Großraum Dhaka immer wieder Proteste gegeben. Bereits zwei Tage nach dem Unglück, das insgesamt 1127 Menschen das Leben kostete, gingen hunderttausende Arbeiter auf die Straße. Dabei wurden Fabriken demoliert und Autos angezündet, mehrere Menschen zum Teil schwer verletzt. Fast einen Monat später demonstrierten in dem Vorort Aschulia abermals etwa 20.000 Textilarbeiter. Sie forderten eine Lohnerhöhung von monatlich 38 auf 100 Dollar sowie bessere Sicherheitsbedingungen. Bangladesh ist nach China der zweitgrößte Textilhersteller der Welt. In 4500 Fabriken werden 80 Prozent des Exports des Landes produziert.

Weltweiter Widerstand

© Light Brigading / flickr.com / CC BY-NC

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8NEWS

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INTERNATIONALES

Putins Schüler ★ ★★

In Sonntagsreden stellen sich westliche Politiker hinter die Aufständischen in Syrien. Dabei wäre ihnen ein Sieg der Revolution gar nicht so recht Von Stefan Ziefle

Stefan Ziefle ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik der LINKEN.

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er syrische Diktator Baschar al-Assad hat von Wladimir Putin gelernt. Im Kampf gegen die Sezessionsbewegung in Tschetschenien war der russische Präsident vor einigen Jahren bereit, das Land zu zerstören. Wir erinnern uns: Seine Armee hat die Provinzhauptstadt Grosny mit ihren 250.000 Einwohnern dem Erdboden gleichgemacht. Wer jetzt durch syrische Städte fährt, aus denen sich die syrische Armee zurückziehen musste, wird sich an die Bilder von Grosny erinnert fühlen: Ganze Viertel ohne ein intaktes Haus, Straßenzüge vollständig zerstört. Und um gleich jedes Missverständnis auszuräumen: Das ist nicht das Werk von »aufständischen Terroristen«, wie das syrische Staatsfernsehen behauptet. Es ist unverkennbar das Werk einer massiven Bombardierung mit Waffen, über die nur Assads Armee verfügt. Wahlloses Töten, die Taktik der verbrannten Erde, Kollektivstrafen für die Bevölkerung, Massenmord – das sind die klassischen Mittel der Aufstandsbekämpfung, wenn sich herausstellt, dass die Unterstützung für die Aufständischen in der Bevölkerung ein »normales«, »polizeiliches« Vorgehen nicht mehr zulässt. Meistens sind es Besatzungsarmeen, die so vorgehen. Aber es gibt zwei Gründe, warum in diesem Fall ein einheimischer Herrscher diese Mittel anwendet, um sich an sein Amt zu klammern. Erstens ist die syrische Bevölkerung tief gespalten. Die Mehrheit unterstützt zwar den Aufstand, aber es gibt immer noch signifikante Teile, die hinter Assad stehen und sein Vorgehen gutheißen. Das ist haupt-

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sächlich deshalb der Fall, weil es dem Regime gelungen ist, Angst vor ethnischen Konflikten nach einem Sieg der Rebellen zu schüren. Hinzu kommt, dass ein Teil der Mittelschicht um seine sozialen Privilegien fürchtet. Auf der anderen Seite ist es den Aufständischen politisch nicht gelungen, die Unterstützung für Assad derart erodieren zu lassen, dass das Regime nicht mehr handlungsfähig wäre. Zweitens erhält das Regime massive Unterstützung aus dem Ausland. Der syrischen Armee wäre längst die Munition ausgegangen ohne den ständigen Nachschub aus Russland. Putin liefert, was immer gebraucht wird – für den Herrscher in Moskau zählt nur der Zugang zum Mittelmeer, den er über die syrische Hafenstadt Tartus erhält. Schon in Tschetschenien hatte er gezeigt, dass er bereit ist, für strategische Interessen hunderttausende Menschen zu opfern. Damals ging es um die Kontrolle über die Ölpipeline von Baku nach Westen. Aber auch unter den westlichen Eliten ist die Kritik an Assads Methoden leiser geworden. Selbst dem letzten Geheimdienstchef ist mittlerweile klargeworden, dass ein von den Rebellen ausgehender »Regime Change« nicht zu einem pro-westlichen Marionettenregime führen würde. Zu stark sind die demokratischen Organe der Revolution, die lokalen Koordinierungskomitees. Zu stark ist die Abneigung gegen die westliche Politik in der Region, gegen die Unterstützung Israels, gegen die Invasion im Irak, gegen die Tradition, sich genehme Diktatoren zu halten. Jede demokratische Regierung in Syrien wird pro-palästinensisch und anti-imperialistisch sein.


© Bo Yaser / wikimedia

Außerdem könnte ein Sieg des Aufstandes in Syrien allen Unzufriedenen in Katar, in Saudi-Arabien oder im Jemen Mut geben, es noch einmal selbst zu versuchen. Würde die Revolution jedoch gewaltsam erstickt, dann würde sich die Resignation wie ein bleierner Teppich über die ganze Region legen. Die Nachricht an alle anderen wäre: Wenn ihr es auch versucht, wird es euch nicht anders ergehen. Ihr werdet massakriert und eure Städte werden zerstört. Die Waffen dafür hat der Westen, allen voran die Bundesregierung, bereits an die entsprechenden Staaten geliefert. Das bedeutet keineswegs, dass die westlichen Regierungen zu glühenden Assad-Fans geworden sind. Sie hätten lieber einen Herrscher in Syrien, der nicht so eng mit Russland und dem Iran zusammenarbeitet. Aber internationale Politik ist kein Wunschkonzert. Daher lautet ihre Schlussfolgerung: Lieber zusehen, wie Assad die Revolution in Blut ertränkt, das Land zerstört und Syrien als politischer Faktor in der Region verschwindet, als eine erfolgreiche Revolution zuzulassen. Wie sagte der US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger bereits in den 1980er Jahren über den irakisch-iranischen Krieg? »Wir wünschen uns, dass beide Seiten verlieren.« Kon-

Zerstörter Straßenzug in Homs: Die Stadt hat sich zur Hochburg des Protests in Syrien entwickelt

INTERNATIONALES

Ein von den Rebellen ausgehender »Regime Change« würde nicht zu einem pro-westlichen Marionettenregime führen

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sequenterweise lieferte Washington damals Waffen an beide Seiten. Auch heute sieht es so aus, als ob der Westen bereit sei, das militärische Patt zwischen der Armee und den Rebellen aufrechtzuerhalten. Ein Sprecher des US-Außenministeriums erklärte, Präsident Obama könne gut mit einem langen Bürgerkrieg in Syrien leben. Bisher haben die Aufständischen jedenfalls keine Waffen erhalten, mit deren Hilfe sie dem schweren Kampfgerät der Armee etwas entgegensetzen könnten.

Libanon, die Errungenschaften der Hisbollah bei der Verteidigung der PLO und im Kampf gegen die israelische Besatzung würdigen, sollte man nie die politische Beschränktheit dieser nationalen Befreiungsorganisation vergessen. Hassan Nasrallah führt sie wie ein Alleinherrscher. Seine Priorität ist nicht die Befreiung der Palästinenser oder der Sieg über den Imperialismus in der Region, sondern die Stärkung seiner Position im politischen Geschehen im Libanon. Dafür, so Nasrallahs Rechnung, braucht er die Unterstützung aus Damaskus. Deswegen unterstützt die Hisbollah Assad. Über diesen Kurs gibt es jedoch einen scharfen Konflikt innerhalb der Organisation. Auch in den schiitischen Städten des Libanons findet man die Parolen der arabischen Revolutionen an den Wänden, allen voran: Das Volk will den Sturz des Regimes. Nasrallah ist Teil dieses Regimes im Libanon, Teile seiner Anhänger sehen das sehr kritisch. Unter den palästinensischen Organisationen unterstützt nur eine Splittergruppe, die Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando (PFLP-GC), das Regime in Damaskus. Alle anderen haben offiziell eine neutrale Haltung oder sie unterstützen, wie zum Beispiel Hamas, die Aufständischen. Ein Grund dafür sind sicherlich die Erfahrungen der Palästinenser mit dem Baath-Regime. Zumindest den Älteren ist das Massaker im libanesischen Flüchtlingslager Tel az-Zataar im Jahr 1976 noch sehr präsent. Dort ermordeten rechte Milizen im Windschatten der ersten syrischen Invasion tausende Palästinenser. Auch gegenwärtig haben die Bewohner von Flüchtlingslagern ihre Erfahrungen mit der syrischen Armee machen müssen, etwa in Jarmuk. Das dortige Camp wird seit Dezember 2012 belagert und bombardiert, weil gerade die jungen Palästinenser sich an den Protesten in den umliegenden Stadtvierteln beteiligt hatten. Von den ursprünglich 135.000 Bewohnern sind nur noch 40.000 im Lager – und die meisten auch nur deshalb, weil die Armee ihnen die Flucht unmöglich macht.

Der Westen will einen Patt zwischen Regierung und Rebellen

Seit Kurzem greift auch die libanesische Miliz Hisbollah offen in den syrischen Bürgerkrieg ein und unterstützt Diktator Assad. Das hat die EU umgehend zum Vorwand genommen, sie auf die Terrorliste zu setzen. Assad hingegen nimmt die Unterstützung durch Hisbollah gerne an, verleiht sie ihm doch den Anschein des Antiimperialisten. Denn anders als seine Baath-Partei hat die libanesische Miliz in den vergangenen Jahren ernsthaft gegen Israel gekämpft. Doch das Baath-Regime war nicht immer mit der Hisbollah befreundet, die als Abspaltung der pro-syrischen Amal entstand. Damals wurde sie vom Iran unterstützt, unter anderem, um ein Gegengewicht zum syrischen Einfluss im Libanon zu bilden. Die von Syrien aufgerüsteten Amal-Milizen bekämpften Mitte der 1980er Jahre die palästinensische Befreiungsorganisation PLO und töteten tausende Palästinenser in den libanesischen Flüchtlingslagern. Die Hisbollah hingegen unterstützte die PLO bei ihrer Verteidigung gegen die Amal-Milizen. Als letztere den Bürgerkrieg im Libanon zu verlieren drohten, marschierte die syrische Armee 1988 ein und erzwang, in enger Abstimmung mit den USA und Israel, einen instabilen Kompromiss. Die Herrscher in Damaskus änderten ihre Haltung zur Hisbollah erst im Zuge einer Annäherung an den Iran. Aber auch der Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung, im Westjordanland und im Gazastreifen in den späten 1980er Jahren, die erste Intifada, spielte eine Rolle, da mit ihr die verbale Unterstützung der Palästinenser opportun wurde. Volle Unterstützung erhielt die Hisbollah aus Damaskus aber erst, als die syrische Armee nach der Affäre um die Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri im Jahr 2006 gezwungen wurde, aus dem Libanon abzuziehen. Die Hisbollah hatte sich da bereits zum Sprachrohr der verarmten Mehrheit entwickelt und durch militärische Erfolge gegen die israelische Besatzung Südlibanons als wichtigste politische Kraft etabliert. So sehr Sozialisten in aller Welt, nicht zuletzt auch im 46

Weil Assad dank der ausländischen Unterstützung seine militärische Stellung im Bürgerkrieg verbessern konnte, werden Verhandlungen zu nichts führen. Jede echte Einigung würde den Übergang zu einer frei gewählten Regierung beinhalten, an der er und sein Familienclan vermutlich nicht beteiligt wären. Assad beharrt jedoch auf der uneingeschränkten Herrschaft. Bevor er die aufgibt, begnügt er sich lieber mit einem Teil des Landes und der militärischen Zerstörung des Restes. ■


INTERNATIONALES

Die Legende vom sauberen Krieg Der Militäreinsatz in Mali geht weiter. Er bleibt falsch und löst keines der Probleme des westafrikanischen Landes as erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Der von der Bundeswehr seit Beginn des Jahres unterstützte internationale Militäreinsatz im westafrikanischen Mali belegt diese Erkenntnis aufs Neue. Zwei Legenden sollen den Widerstand gegen den Einsatz untergraben: Zum einen, dass es sich um keinen wirklichen Krieg handele. Zum anderen, dass alle Malier mit ihm einverstanden seien. Die Legende von der sauberen Militäroperation ist Teil der Kriegsführung der französischen Armee, seit sie im Januar aus der Luft und am Boden mit viertausend Soldaten gegen einige hundert bewaffnete Islamisten vorging. Sie verhängte einen totalen Medien-Blackout. Bislang sahen wir kein einziges Todesopfer ihres Einsatzes. Doch es dauerte nicht lang, da sickerten die ersten Berichte von Menschenrechtsorganisationen durch. Sie schilderten willkürliche Hinrichtungen, die malische Truppen im Rücken der französischen Armee an »Kollaborateuren« der Islamisten verübt haben. Schließlich floh nahezu die komplette arabisch- und tuaregstämmige Bevölkerung aus Timbuktu – aus Angst vor Racheakten. Zahlreiche Geschäfte fielen Plünderungen zum Opfer. Mindestens ein Massengrab ist in der Stadt entdeckt worden. Die bewaffneten Islamisten wurden aus den Städten Nordmalis vertrieben. Doch die ethnischen Spannungen sind infolge der ausländischen Intervention erheblich angeheizt worden. Auch die Bundesregierung gibt lediglich Informationen über einen bestimmten Teil ihrer Aktivitäten preis, nämlich über die Ausbildungsmission im Rahmen des Mandates EUTM Mali. Das Lager Koulikoro, in dem gefechtsfähige Verbände der malischen Armee ausgebildet werden sollen, wurde willigen Medienvertretern geöffnet. »Bild« titelte: »Hier erklären deutsche Soldaten in Mali den Krieg.« Darüber hinaus betankt die Bundeswehr französische Kampfflugzeuge im Einsatz und transportiert westafrikanische Soldaten aus den Nachbarländern nach Mali. Über diese Aktivitäten im Rahmen des sogenannten Mandats AFISMA erfahren noch nicht einmal die Bundestagsabgeordneten des Verteidigungsausschusses etwas. Seit Wochen wird die lapidare Formel wiederholt: »Lufttransport und Luftbetankung zur Unterstützung der Operation AFISMA

findet planmäßig statt«. Niemand weiß, wie viele betankte Kampfflugzeuge welche Ziele angeflogen und bombardiert haben. Die zweite Legende betrifft die malische Gesellschaft. Das Land ist keineswegs »befreit«. Erst im April hat die Regierung den Ausnahmezustand um drei Monate verlängert. Obgleich im Juli gewählt werden soll, ist es der Opposition nicht möglich, Kundgebungen oder Veranstaltungen durchzuführen. Oumar Mariko, Abgeordneter der linken Partei SADI wurde am 11. Februar in der Hauptstadt Bamako festgenommen und, an den Händen gefesselt und mit Kapuze über dem Kopf, in die Zentrale der Staatssicherheit gebracht. Mariko steht der Militärintervention der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich kritisch gegenüber. Er ist mit seiner Ansicht nicht allein. Die bekannte malische Menschenrechtsaktivistin Aminata Traoré erklärte jüngst: »Bei der gegenwärtigen militärischen Intervention geht es um Wirtschaftsinteressen«. Sie benennt konkret das Interesse von multinationalen Unternehmen wie Areva an den Uranvorkommen Malis – sowie das geopolitische Interesse, den Einfluss der chinesischen Konkurrenz zurückzudrängen. »Wenn die dschihadistischen Anführer auch von woanders herkommen«, erklärt Traoré, »sind die Kämpfer in der Mehrheit junge Malier ohne Arbeit, ohne Bezugsperson und ohne Zukunftsperspektive. Die Mutlosigkeit und die materielle Armut der Berufsanfänger, Landwirte, Viehzüchter und anderer verwundbarer Gruppen schaffen den wahren Nährboden, der kriminellen Netzwerken Zulauf verschafft. (…) Alles würde in die richtige Richtung gehen, wenn die 15.000 Soldaten Lehrer, Ärzte und Ingenieure wären, und wenn die Milliarden Euro, die ausgegeben werden, für diejenigen bestimmt wären, die sie am dringendsten brauchen. Unsere Kinder müssten dann nicht hergehen und sich als schlecht bezahlte Soldaten, Drogendealer oder religiöse Fanatiker töten lassen.« Der internationale Militäreinsatz löst keines dieser Probleme. Stattdessen werden wir Zeuge, wie die Bundeswehr Teil der nächsten Endlosbesatzung wird, um beim Kampf um Bodenschätze einen Fuß in der Tür zu haben. Traorés Fazit ist unser Auftrag: »Gebt Mali den Maliern zurück.« ■

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Christine Buchholz ist friedenspolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag.

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Von Christine Buchholz

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»Wir haben den Palästinensern ihr Land gestohlen« Der israelische Politologe Ilan Pappe ist ein bekannter Kritiker der Besatzungspolitik seines Landes. Mit uns sprach er über die Vertreibung der Palästinenser, die Stimmung in Israel und Perspektiven für einen gerechten Frieden Interview: Stefan Ziefle

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© Khalid Albaih / flickr.com / CC BY


Was meinst du damit? Fast jeden Tag verliert ein Palästinenser seine Wohnung, sein Feld, sein Geschäft, sein Haus. Die Vertreibungen sind heute nicht mehr so massiv wie 1948, aber sie finden seit 56 Jahren statt. Alleine in Jerusalem wurden seit 1967 eine Viertelmillion Palästinenser vertrieben. Wenn jemand 250.000 Menschen zur Flucht zwingt, dann gibt es für dieses Verbrechen nur eine Bezeichnung: ethnische Säuberung. Wie kann so etwas in einem demokratischen Staat wie Israel – mit Parteien, freien Wahlen, unabhängigen Gerichten – geschehen? Es konnte passieren, weil Israel keine Demokratie ist. Israel ist das, was wir in der Politikwissenschaft »Herrenvolkdemokratie« nennen. Es ist eine Demokratie ausschließlich für Juden. Sie erfreuen sich demokratischer Rechte, Paläsinenser hingegen nicht. Die müssen ständig um ihren Verbleib fürchten. Das liegt an der »Vision« von einem Land mit so wenigen Palästinensern wie möglich. Sie ist Teil der israelischen Staatsideologie Zionismus. Das in den Medien vermittelte Bild von Israel unterscheidet sich deutlich von deiner Darstellung. Danach gibt es, neben einigen rechtsradikalen Verrückten natürlich, linke Parteien, eine

Ilan Pappe

Ilan Pappe ist Kind deutscher Juden, die vor den Nationalsozialisten nach Palästina flüchteten. Er lehrte mehr als zwanzig Jahre Politikwissenschaft an der Universität von Haifa. Wegen seiner kritischen Haltung gegenüber dem Staat Israel wurde ihm ein Rücktritt nahegelegt, weswegen er im Jahr 2007 nach Großbritannien auswanderte.

sozialistische Tradition, eine starke Gewerkschaft, offenen Umgang mit Homosexualität, kurz: eine offene und liberale Gesellschaft. Wie passt das zusammen? Es passt zusammen, weil einiges, was du aufzählst, auf Fehlinformationen beruht. Sozialismus spielt in Israel seit über 50 Jahren keine Rolle mehr. Aber auch damals, vor der Staatsgründung, als es noch sozialistische Tendenzen gab, vor allem in der kollektiven Landbewirtschaftung in den Kibbuzim, war das eine Minderheitenströmung. Mittlerweile ist Israel ein neoliberaler Modellkapitalismus, eine der radikalsten Marktgesellschaften in der Welt. Wenn es um Bürger- und Menschenrechte geht, etwa die Rechte für Schwule und Lesben, dann reden wir hier von einem Schaufenster, von Tel Aviv. Nur 15 Minuten davon entfernt leben Menschen, die nicht einmal das elementare Recht haben, das du hast: in einen Bus zu steigen und durch die Gegend zu fahren. Die meisten Palästinenser haben nicht das Recht, sich frei zu bewegen. Sie werden vom israelischen Staat daran gehindert, zur Universität zu fahren oder zu ihren Feldern zu gehen. Sie laufen Gefahr, ohne vorherige Verhandlung jahrelang eingesperrt zu werden. Es gibt zwei Realitäten

in Israel: die der Juden und die der Palästinenser. Die eine trifft übrigens auch nicht für alle Juden zu, einige von ihnen leben unter sehr ärmlichen Verhältnissen. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Der Kolonialismus hat Frauenrechte in ähnlicher Weise benutzt. Frankreich zum Beispiel behauptete in der Vergangenheit, ein sehr feministisches Land zu sein. Deswegen sei es richtig, Algerien zu besetzen. Das diente vermeintlich der Frauenbefreiung. In gewisser Weise argumentiert Israel auch so: Es ist richtig, dass wir das Land der Palästinenser besetzen, sie vertreiben und enteignen. Denn unsere Gesellschaft ist fortgeschrittener und egalitärer als ihre. Das ist ein sehr verzerrtes Bild. Und es ist schwer dagegen anzugehen, vor allem hier in Deutschland. Ich könnte mir vorstellen, dass gerade an Universitäten ein anderes Klima herrscht. Du warst Professor an der Universität Haifa, wie waren deine Erfahrungen? Auch hier gilt: Die akademische Welt in Israel ist sehr liberal und pluralistisch, solange man die Themen Zionismus und Israel ausspart. Sobald du als Wissenschaftler das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nutzen willst, um etwas über den Staat und seine Ideologie zu sagen, das nicht dem Mainstream entspricht, wirst du mit hoher Wahrscheinlichkeit ähnliche Dinge erleiden wie ich: nämlich den Ausschluss aus der Universität. Es ist sehr schwer, in der israelischen akademischen Welt den Zionismus in Frage zu stellen. Früher gab es eine starke Friedensbewegung in Israel. Hunderttausende gingen in den 1970ern für Frieden mit Ägypten auf die Straße, ebenso gegen den Libanon-Krieg im Jahr 1983. Was ist aus dieser Bewegung geworden? Ich denke nicht, dass das eine wirkliche Friedensbewegung ist. Israel ist eine Kolonialmacht. Und die einzige echte Friedensbewegung in einer kolonialen Gesellschaft, ist eine, die sich am antikolonialen Befreiungskampf der Kolonisierten beteiligt. Was du eine Friedensbewegung nennst, hatte mit den Palästinensern nichts am Hut. Die Aktivisten wollten Frieden mit Ägypten, was wirklich gut ist. Sie mochten die Vorstellung nicht, dass die israelische Armee Massaker christlicher Milizen im Libanon

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Eines deiner bekantesten Werke heißt »Die ethnische Säuberung Palästinas«. Ist dieser Begriff nicht etwas hart, wenn man an ethnische Säuberungen wie in Ruanda oder in Bosnien denkt? Ich glaube nicht, dass der Begriff zu hart ist. Ich verstehe die Irritationen, die er auslöst. Aber das US-Außenministerium hat mich schließlich davon überzeugt, dass das die beste Beschreibung dessen ist, was in Palästina im Jahr 1948 passiert ist. Auf seiner Homepage befindet sich eine umfassende Definition dessen, was »ethnische Säuberung« bedeutet. Sie deckt sich exakt mit dem, was Israel damals den Palästinensern angetan hat. Ich denke, es war wichtig, mit der Bezeichnung genau zu sein, die sowohl eine rechtliche als auch eine moralische Komponente umfasst, und insofern auch Einfluss auf die Art der möglichen Konfliktlösung hat. Der Begriff beschreibt, was Israel bis heute tut. Denn die ethnische Säuberung geht weiter.

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ermöglichte. Aber all das hatte nichts mit Frieden und Versöhnung zu tun, sondern mit Außenpolitik und Imagepflege. Es gibt eine richtige Friedensbewegung in Israel, aber sie ist niemals stark gewesen. Von Anfang an hat eine kleine Minderheit der jüdischen Einwanderer verstanden, dass der Zionismus eine invasive Kraft ist, und hat ihn abgelehnt. Nach drei Generationen der Kolonialisierung, ganz wie in Südafrika, kann man Frieden nur erreichen, indem man das Verhältnis zur ursprünglichen Bevölkerung vom Kopf auf die Füße stellt. Aber das erkennt nur eine wirklich kleinen Zahl von Juden. Diese Gruppe ist zwar über die Jahrzehnte gewachsen – vor allem auf Grund des Drucks von außerhalb. Aber leider ist sie immer noch unbedeutend.

le von Südafrika, zumindest von ein paar Regierungen übernommen werden würde, würde das die Zahl der israelischen Dissidenten erhöhen. Und wenn die Palästinenser ihre korrupten und undemokratischen Vertreter überwinden könnten und eine gewaltfreie Strategie der Massenbewegung übernehmen würden, könnte auch das die Friedensbewegung in Israel stärken. Wir wissen auch noch nicht, wie der Arabische Frühling weiterverläuft und wel-

Was meinst du mit Druck von außerhalb? Die BDS-Bewegung (»Boykott, De-Investition und Sanktionen«) hat gerade unter den jungen Israelis das Bewusstsein geschärft, dass es notwendig ist, die Realitäten zu verändern. Aber auch ohne BDS hat diese Generation die Erfahrung gemacht, dass, wohin in der Welt sie auch gehen, die Reaktionen tendenziell unangenehm sind, wenn sie sagen, sie kämen aus Israel. Du kannst nicht jeden, der die Stirn über Israel runzelt, als Antisemiten sehen. Die Erkenntnis wächst, dass etwas fundamental falsch läuft mit dem Staat. Die Kritik aus dem Ausland spielt eine bedeutende Rolle. Und zweitens gibt es eine Minderheit von Israelis, die bereit ist, sich anzuschauen, was der Staat in den besetzten Gebieten macht – auch wenn die Mehrheit noch immer die Augen davor verschließt. Wenn du kein fanatisch-messianischer Jude bist, reichen fünf Minuten im Westjordanland, um dich für dein Land zu schämen.

chen Widerhall er in Israel haben wird. Aber all das ist Zukunftsmusik, solange da noch so viele Fragezeichen stehen.

Gibt es eine Perspektive für eine Veränderung dieser Situation in naher Zukunft? Auf kurze Sicht auf keinen Fall. Die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Israel will nichts an seinem Verhältnis zu den Palästinensern, den arabischen Staaten und dem Rest der Welt ändern. Das haben wir bei den letzten Wahlen sehen können. Aber vielleicht verändert sich mittelfristig etwas. Wenn zum Beispiel die Boykott-Bewegung wie seinerzeit im Fal-

Ist das der Grund, warum so viele Israelis nicht zum Umdenken bereit sind? Absolut! Die aktuellen Siedler sehen brutaler aus, in der Art wie sie die Palästinenser behandeln, das Wasser und Land stehlen. Vielleicht würde man in einem guten Friedensprogramm damit beginnen, dass man ihnen verbietet, Wasser zu stehlen. Aber im Endeffekt sind wir alle Siedler, wir haben alle den Palästinensern ihr Land gestohlen. Glücklicherweise haben wir ihnen nicht angetan, was die

weißen Siedler mit den Ureinwohnern in Nordamerika gemacht haben. Wir haben keinen Völkermord begangen. Deswegen besteht der Konflikt bis heute. Wir müssen eine Übereinkunft finden zwischen den Siedlern, die teilweise seit drei oder mehr Generationen in Palästina leben, und der ursprünglichen Bevölkerung. Die meisten Palästinenser stellen sich darunter kein Spiegelbild der bestehenden Verhältnisse mit umgekehrten Rollen vor. Die Idee ist nicht, dass sie

Wir brauchen einen Staat, in dem alle gleich sind

Wäre ein gerechter Frieden mit den Palästinensern nicht eine Gefahr für den Wohlstand der Israelis, wenn sie sich das Land, das Wasser und alle anderen Ressourcen mit den Palästinensern teilen müssten? Einige würden etwas verlieren, gerade beim Land und Wasser. Aber wir würden auch einiges gewinnen: zum Beispiel Versöhnung und Frieden. Es hängt stark von der Verteilungspolitik ab. Wenn man einen klassisch sozialdemokratischen Ansatz wählen würde, nicht einmal einen sozialistischen, würden auch die meisten Israelis besser dastehen. Was wohl für einen Siedler schwer zu erkennen ist, der auf gestohlenem Land im Westjordanland lebt… Wir sind alle Siedler. Ich bin auch ein Siedler. Sie sind neue Siedler, ich bin ein alter Siedler.

das Wasser haben und man selber nicht mehr. Es geht um Gleichheit und eine gerechte Verteilung der Ressourcen für alle. Natürlich ist es einfacher für die Beraubten, dem zuzustimmen, denn sie gewinnen sehr unmittelbar. Und es ist schwerer für den Räuber, das Geraubte zurückzugeben. Aber wenn du Versöhnung willst, musst du dich darauf einlassen. Wie könnte eine solche Versöhnung praktisch aussehen? Ich denke, wir müssen uns das eher als eine Veränderung des Regimes vorstellen denn als Ersetzung von Staaten. Diese Veränderung wird über einen längeren Zeitraum stattfinden. Es gibt so viele Ebenen von Apartheid, von Transfer, von Enteignung, dass die Beseitigung einer dieser Ebenen nur ein kleiner Schritt wäre. Es wird also nicht auf einmal passieren. Wenn wir hier erfolgreich sind, werden wir in langsamen Schritten eine andere, gerechtere Realität schaffen. Ohne wirklich starken Druck aus dem Ausland wird es schwer – wie in Südafrika. Dort fiel die Apartheid nicht, weil die Weißen plötzlich keine Rassisten mehr waren. Selbst nach dem Ende der Apartheid waren viele von ihnen noch rassistisch. Aber sie haben aufgrund der internationalen Reaktionen erkannt, dass es so nicht weitergehen konnte. Wenn es gelänge, eine ähnliche Situation zu schaffen, könnte man mit der Veränderung beginnen. Es wird zudem erforderlich sein, die palästinensischen Flüchtlinge in diesen Prozess einzubinden. Ansonsten gibt es keine Chance auf Versöhnung.


© Rusty Stewart / flickr.com / CC BY-NC-ND

Du meinst damit die Rückkehr der Flüchtlinge von 1948 und ihre Nachkommen? Vorausgesetzt, sie wollen zurückkommen. Würde das nicht das Ende Israels bedeuten? Nein. Es wäre zwar das Ende des rassistischen Staates, der ethnisch exklusiv ist, das Ende der Apartheid. Aber in dem Augenblick, in dem Israel jedem, der je hier gelebt hat, erlauben würde, zurückzukommen, unabhängig von seiner Religion, wäre es vor allem der Beginn einer besseren Zukunft. Man kann keinen jüdischen Staat haben, das ist Blödsinn, denn Judaismus ist eine Religion und keine Nation. Es ist auch nicht richtig, einen muslimischen Staat – oder noch schlimmer: einen christlichen Staat – zu haben. Wir brauchen einen Staat, in dem alle gleich sind. In dem Augenblick, wo du dieses Ziel verfolgst, ist die Frage der Rückkehr der Flüchtlinge nicht mehr problematisch. Denn du würdest nicht zählen: Wie viele Juden leben in dem Staat und wie viele Palästinenser? Es gab nur

Die Kritik aus dem Ausland spielt eine wichtige Rolle

zwei ideologische Bewegungen, die gezählt haben, wie viele Juden an einem Ort lebten. Ich muss dir nicht sagen, welche. Und nur zwei Ideologien wollten genau wissen, wie man definiert, wer Jude ist und wer nicht. Ich setze sie nicht gleich, es gibt gewaltige Unterschiede zwischen beiden. Aber für mich als Nachkomme deutscher Juden in Israel sind diese Parallelen sehr bedrückend. Ich will nicht in einem Land leben, das seine Bewohner anhand ethnischer Maßstäbe definiert.

Abschließend würde mich interessieren, wen wir deiner Meinung nach als internationale Solidaritätsbewegung unterstützen sollten? Die Frage ist nicht so sehr wen, sondern was. Ich meine: Unterstützt die Menschenrechte. Meretz (israelische linke Partei, Anm. d. Red.) zum Beispiel wird euch sagen, die Palästinenser sollen zwanzig Prozent des Gebietes bekommen, die restlichen achtzig Prozent bleiben ein jüdischer Staat. Das ist die sogenannte Zwei-Staaten-Lösung. So einen Vorschlag kann ich nicht unterstützen, er verstößt grundlegend gegen die Menschenrechte. Die unterstützungswürdigen Menschen auf beiden Seiten sind jene, die die Wirkung des Zionismus verstehen und für eine grundlegende Gleichheit eintreten. Keine der zionistischen Parteien ist dazu bereit. Sie sind alle von der Idee der Demographie besessen: Wie kann man eine jüdische Mehrheit sicherstellen, weil das die Voraussetzung für Demokratie ist? Die Linken unter ihnen sind bereit, ein Stück von Palästina abzugeben, um eine jüdische Demokratie zu erhalten. Das ist ein rassistisches Konzept. ■

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Leben hinter Stacheldraht: Tausende israelische Checkpoints lassen Verwandtschaftsbesuche oder Fahrten zum Arzt für die Palästinenser zu einer Tortur werden

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© Irish Typepad / flickr.com / CC BY-NC-ND

FRAUENBEWEGUNG

s u m s i m e r t x Der neue Se pe Femen en sich Mitglieder der Grup lig tei be So «: ne oh n be »o ts Ste die rlin, an Demonstrationen für Be in n ste ote Pr ziNa tiAn an onen für eich und an Solidaritätsakti kr an Fr in e Eh e ich htl lec gleichgesch ? was steckt politisch dahinter die Band »Pussy Riot«. Doch Von Kate Davison

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s war ein grausiges Bild: Barbie hängte verkohlt und geschmolzen an einem weißen, brennenden Kreuz. Sie wurde von einer barbusigen blonden Aktivistin herumgewirbelt, die auf dem riesigen pinken Stöckelschuh im Eingangsbereich des neu eröffneten »Barbie Dreamhouse« stand. Auf deren Brüsten prangte der Slogan »Life in plastic is not fantastic« (»Als Kunststoff leben ist nicht fantastisch«), eine Anspielung auf den Anti-BarbieSong der Band Aqua aus dem Jahre 1997. Das Zelebrieren dieses »Barbie-cue« (Anspielung auf Barbecue) nahe des Berliner Alexanderplatzes am 17. Mai war eine weitere Aktion in der Reihe beeindruckender Protestaktionen der internationalen

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Maischberger«. Femen spielt daher – ob man es will oder nicht – eine wichtige Rolle in der antisexistischen Bewegung. Trotz ihrer zum Teil löblichen Beweggründe waren Femens politische Ansichten von Anfang an widersprüchlich. Auf der Webseite der Gruppe lässt sich nachlesen, dass sie »Frauenrechte unterstützen« will und ihre Mitglieder »demokratische Wachhunde« seien, die »das Patriarchat in all seinen Formen bekämpfen: und zwar Diktaturen, Kirchen und Prostitution.« Ihre Ideologie des »Sextremismus«, für die es keine eindeutige Definition gibt, beruht anscheinend auf der Idee, dass die öffentliche und schockierende Zurschaustellung von Brüsten die weibliche Emanzipation fördere. Die Taktik des Oben-ohneProtests hat in den öffentlichen Debatten in Europa starke Kontroversen hervorgerufen. In der Ukraine und Weißrussland wurden die Aktivistinnen bereits wegen Obszönität, moralischer Entrüstung und Unanständigkeit angeklagt. Andererseits mangelt es nicht an anzüglichen Andeutungen in Medien, die von der Darstellung der Frau als Objekt leben. In einem älteren Artikel des »Economist« über die Gruppe konnte man lesen, dass diese schon viel Aufmerksamkeit »erregte« und man »diesen Artikel lieber nicht in Anwesenheit seines Chefs lesen sollte« – alles klar, Jungs? Gleichzeitig bezichtigt man die Gruppe eines »schamlosen Verlangens« nach medialer Aufmerksamkeit. In gewisser Hinsicht ist die Aussage der deutschen Femen-Aktivistin Irina daher verständlich: »Ohne unsere Topless-Aktionen würde sich doch überhaupt niemand für das interessieren, was wir sagen.« Wie die britische Kritikerin Elly Badcock aber bemerkte, waren solche Taktiken »schon immer fragwürdig, um es gelinde auszudrücken. Natürlich ist der weibliche Körper nichts, dessen man sich schämen muss. (...) Aber in diesem Zusammenhang ist eine solche Vorgehensweise unangebracht. Mit solchen Aktionen bekräftigt man die Idee, dass es quasi per se befreiend ist, seine Brüste zu zeigen und Bekleidung ein eindeutiger Hinweis auf sexuelle Unterdrückung ist. Die Befreiung der Frauen kann sich aber nicht danach bemessen lassen, wie viel Haut wir zeigen dürfen.« Zweifelsohne ist Femens Herangehensweise oftmals amüsant, heiter und nicht zuletzt inspirierend für junge Frauen, die sich von der libertären Radikalität der Gruppe angesprochen fühlen. Nichtsdestotrotz offenbaren die Organisationsmethoden und politischen Äußerungen aber eine liberalistische Tendenz, die letztendlich einer solidarischen und gemeinsamen Organisierung im Wege steht.

Fünfjährige sahen, wie ihr liebstes Konsumidol in Flammen aufging

Femen wurde im Jahr 2008 unter dem Slogan »Die Ukraine ist kein Bordell« von Anna Hutsol, Oksana Schachko sowie Alexandra und Inna Schewtschenko gegründet, um gegen die im Ausland verbreitete Darstellung aktiv zu werden, die ehemalige Sowjetrepublik sei ein Ort für billigen und leicht zu habenden Sex. Die Aktionen von Femen folgen einem ganz bestimmten Muster: Eine kleine Gruppe von halbnackten oder nackten Aktivistinnen stürmt im Stil eines Flashmobs einen öffentlichen Ort und bleibt dort so lange, bis sie von der Polizei weggeschleppt wird. Die Markenzeichen der Aktivistinnen sind roter Lippenstift, politische Botschaften auf der Brust und Haarbänder aus Blumen und Schleifen. Spätestens im Jahr 2012 wurde Femen auch einem größeren internationalen Publikum bekannt. Ihre Aktionen richten sich häufig gegen religiöse Führer oder bekannte Politiker, darunter Wladimir Putin (»Der gefährlichste Diktator der Welt«), Wiktor Janukowytsch und Silvio Berlusconi. Die Gruppe beteiligte sich nicht nur an Anti-NaziProtesten in Berlin-Neukölln und Demonstrationen für die gleichgeschlechtliche Ehe in Frankreich, sondern organisierte auch eine Aktion zur Solidarität mit der Band »Pussy Riot« in Kiew im August 2012, bei der eine Aktivistin ein Holzkruzifix mit einer Kettensäge absägte. Die deutsche Femen-Gruppe hat sich im Januar 2013 gegründet. Eine ihrer ersten Protestaktionen fand zeitgleich mit der antisexistischen TwitterKampagne #Aufschrei statt. Dementsprechend groß war der Widerhall in den Medien. Die neue öffentliche Debatte über Sexismus brachte die Gruppe sogar bis zu »Menschen bei

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Kate Davison ist seit 15 Jahren in Bewegungen für Frauenrechte und gegen Sexismus aktiv. Sie arbeitet derzeit als Lehrbeauftragte für Geschlechterstudien an der Universität Potsdam.

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feministischen Gruppe Femen. Zurecht protestieren sie gegen die »Gottwerdung einer Plastikpuppe für Millionen von Mädchen«, deren »einziger Grund zu leben (…) in der stetigen Beschäftigung mit dem Aussehen und dem Haus dieser Puppe« bestünde. Die Aktion hätte sogar etwas Lustiges haben können, wenn da nicht die vielen ungläubigen und fassungslosen Fünfjährigen gewesen wären, die mitansehen mussten, wir ihr liebstes Konsumidol gerade in Flammen aufging. Und wenn die Aktion nicht von einer breit organisierten Demonstration mit über 300 Teilnehmern abgelenkt hätte. Das größte Problem besteht aber darin, dass Femen in den vergangenen zwei Jahren einen klientelistischen und zum Teil rassistischen Wandel erfahren hat und damit viele Personen abschreckt, die sonst mit dem Versuch einer Wiederbelebung der »dritten Welle des Feminismus« sympathisiert hätten.

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Zudem verfolgt Femen einen Weg des Feminismus, der auf rassistischen Vorurteilen beruht. Trotz ihres Versuchs, sich international mit Frauen zu solidarisieren, erfolgt dies auf einer rein individuellen Ebene. So verbreitet die Gruppe die Ansicht, dass Frauenunterdrückung kultureller oder religiöser Natur sei und dass Frauen in muslimischen Ländern nur die Rolle des »Opfers« einnehmen könnten. Im April 2012 veranstaltete Femen in Paris eine Protestaktion gegen Burkas, kurz nachdem diese von der französischen Regierung verboten worden waren. Dabei hielten entblößte Mitglieder der Gruppe Schilder hoch, auf denen Sprüche wie »Muslim women, let’s get naked« (»Muslimas, zieht euch aus«) und »Nudity is freedom« (»Nacktheit ist Freiheit«) zu lesen waren. Während der Olympischen Spiele in London 2012 organisierten sie einen »muslimischen Marathon«, um gegen die »scheißislamistischen Regierungen« zu protestieren. Eine Aktivistin hatte sich als »Muslim« verkleidet, in langer weißer Robe mit aufgemaltem Bart und dicken, zusammengewachsenen Augenbrauen. Die größte internationale Aufmerksamkeit erhielt Femen allerdings im April diesen Jahres, als die tunesische Feministin Amina Tyler Bilder im Femen-Stil auf ihrer Internetseite veröffentlichte. Ihre nackte Brust zierte der Spruch: »Mein Körper gehört mir und ist Niemandes Ehre«, woraufhin ein muslimischer Kleriker ihren Tod durch Steinigung verlangte. Als Antwort darauf führte Femen den »Internationalen Oben-Ohne-Dschihad-Tag« ein: Sie forderten Frauen auf der ganzen Welt dazu auf, öffentlich ihre Brüste zu zeigen (»Titslamismus«) und so in »sextremistischer« Weise vor muslimischen Organisationen und Moscheen gegen »islamistische Moralvorstellungen« zu demonstrieren. Auf die Idee, gemeinsam mit feministischen Gruppen aus diesen Ländern eine Solidaritätsbewegung für Amina Tyler zu initiieren, kamen sie freilich nicht.

schen Tag des Stolzes« (Muslimah Pride Day) ins Leben zu rufen. Sie meint, dass die Handlungen von Femen den »westlichen Imperialismus« verstärken und »allgemeine Zustimmung im Kampf gegen islamische Länder« hervorrufen würden. Die Reaktionen auf Ahmeds Initiative zeigen, so schreibt sie, »die Wut und Frustration der ständig bevormundeten muslimischen Frauen (...). Indem Femen die Rolle der westlichen Länder bei der Unterdrückung muslimischer Frauen herunterspielt und sie stattdessen nur muslimischen Männern zuschreibt, trägt sie dazu bei, den Islam zu dämonisieren, nicht aber, muslimische Frauen zu emanzipieren.« In einer Sondersendung des Nachrichtensenders alDschasira zum Thema »Wo ist die Stimme der muslimischen Frauen?« betonte die iranische Aktivistin Leila Mouri die große Diversität der muslimischen Länder, die »durch ihre kulturellen, ökonomischen, politischen und historischen Hintergründe beeinflusst« seien. Die Aufgabe einer auf Solidarität statt auf Paternalismus aufbauenden emanzipatorischen Frauenbewegung sollte darin bestehen, Frauen zu ermutigen, »eigene Strategien für die Kämpfe in dem sie umgebenden politischen Umfeld zu entwerfen«. Aber Femen macht weiter wie bisher. Jüngstes Beispiel für die Stellvertreterpolitik der Gruppe war eine Protestaktion am 29. Mai. An diesem Tag haben drei Aktivistinnen aus Frankreich und Deutschland eine Oben-Ohne-Aktion vor dem tunesischen Justizministerium in der Hauptstadt Tunis veranstaltet. Nach Angaben von Femen war es »der erste derartige Protest in der arabischen Welt«.

Femen ruft dazu auf, gegen »islamistische Moralvorstellungen« zu demonstrieren

Glücklicherweise haben muslimische Frauen weltweit darauf reagiert. Das Internet wurde geradezu mit Kritik an der Femen-Gruppe überflutet: Sie mache »Millionen von Frauen, die Hidschabs tragen und ihren Körper aus eigener Überzeugung verdecken« lächerlich, indem sie diese Frauen als naiv darstellten. Auf Twitter sind unter dem Stichwort #Muslimahpride bereits Tausende von Kommentaren erschienen, die Facebookseite »Muslim Women Against Femen«, die am 5. April online ging, hatte Anfang Juni schon 11.000 Anhängerinnen und Anhänger. Diese Gegenaktionen veranlassten die britische Studentin Sofia Ahmed dazu, den »Muslimi54

Femens paternalistischer Ansatz prägt auch ihre Aktionen gegen Prostitution in Europa. Der erste öffentliche Auftritt von Femen in Deutschland fand in Hamburgs »Bordellstraße«, der Herbertstraße, statt. Die Aktivistinnen veranstalteten einen Oben-Ohne-Protest vor einem der Bordelle und hielten dabei Fackeln und Schilder in die Luft, auf denen das »x« in »Sextremismus« durch ein Hakenkreuz ersetzt worden war. Sie verkündeten: »In KZs wurden Menschen zerstört, und die Prostitution zerstört auch die Seelen der Frauen. Das ist ein Genozid an Frauen, was hier passiert.« Außerdem sprühten sie den Spruch »Arbeit macht frei« an verschiedene Wände. Da überrascht es wenig, dass viele selbstorganisierte Prostituiertengruppen in Rage gerieten und sich von der Femen-Bewegung distanzierten. Schon während der Protestaktion sagte eine Prostituierte zu der Gruppe, sie sollten »sich verpissen«.


Wir sollten als Linke einen kritisch-solidarischen Umgang mit dieser neuen Generation von Feministinnen pflegen. Im besten Fall können wir darüber hinaus jungen Frauen, die die Schnauze voll haben von Sexismus, eine Perspektive bieten, die antirassistische Elemente mit dem Kampf gegen Frauenunterdrückung verbindet: Wir müssen gemeinsam Kämpfe führen, in denen deutlich wird, dass der wahre Feind im kapitalistischem System zu finden ist und nicht in einer falschen Kultur. Nur eine weltweite, unabhängige und von unten organisierte Bewegung kann das System in seinen Zentren angreifen und gleichzeitig regionale Spezifika berücksichtigen. Nur so kann eine echte sexuelle Revolution für uns alle und nicht nur eine oberflächliche Befreiung unserer Körper erreicht werden.■

»Nacktheit befreit mich nicht und ich muss auch nicht gerettet werden«: Junge Muslima wollen nicht von Femen bevormundet werden und starteten eine Kampagne. Alle Bilder sind auf der Facebookseite »Muslim Women Against Femen« zu sehen

FRAUENBEWEGUNG

Zweifelsohne ist hier eine neue Generation von Frauen entstanden, die keine Lust mehr auf Sexismus hat und sogar intuitiv antikapitalistisch eingestellt ist. Die Frauen sind aber immer noch auf der Suche nach einer allgemeinen Analyse zur Herkunft und Bekämpfung des Sexismus. Doch moralische Empörung über das »Patriarchat« verbunden mit der politischen Strategie, Argumente durch nacktes Auftreten in die Öffentlichkeit zu bringen, werden nicht ausreichen, um die materiellen Grundlagen der Frauenunterdrückung zu zerstören.

© Facebook-Muslim Women Against Femen

Man würde es sich zu einfach machen, solche Auftritte mit einer gewissen politischen Naivität der Femen-Aktivistinnen abzutun – das Durchschnittsalter der Aktivistinnen liegt bei 21 Jahren und viele sind zum ersten Mal politisch aktiv. Ihre Abwehrhaltung gegenüber sexistischer Heuchelei ist zwar radikal, wenn auch nicht konsistent, aber hat eine politische Anhängerschaft hervorgebracht, mit der man sich beschäftigen sollte. Viele Anhängerinnen sind von der älteren Generation der Feministinnen enttäuscht und werfen den wenigen, die es noch gibt, vor, zu passiv vorzugehen und den Kontakt zu den jüngeren Gruppen verloren zu haben. Von feministischen Schwergewichten wie Alice Schwarzer und der Zeitschrift »Emma«, mit denen sie die gleiche Sicht auf »den Islam« teilen, kommt hingegen Unterstützung. Was den jungen Frauen aber besonders wichtig ist, sind aktive Taten gegen Sexismus: »Es gibt seit den 1970ern oder 1980ern keine richtige Aktivisten-Frauenbewegung mehr, die in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Wir sind die einzigen, die auf die Straße gehen und unsere Meinung sagen«, sagt Irina. Trotz des sehr problematischen Oben-Ohne-Dschihad-Tages scheint die Bewegung immer weiter zu wachsen. Allein im Mai fanden nicht nur in Berlin Protestaktionen statt, sondern auch in Japan (gegen den Bürgermeister von Osaka, der sagte, dass es der militärischen Disziplin im Zweiten Weltkrieg gut getan habe, »Frauen zu trösten«), vor Notre Dame in Paris (ein Aufruf an französische Faschisten, es dem konservativen Politiker Dominique Venner gleichzutun, der sich am 21. Mai aus Protest gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und die »islamistische« Macht in Europa erschoss) und in New York (zur Unterstützung einer lobenswerten Entscheidung der lokalen Regierung, Frauen nicht zu kriminalisieren, die oben ohne herumlaufen). Mit dem Anwachsen der Femen-Gruppen offenbart sich ein tiefer politischer Widerspruch zwischen einem neu erwachten Bewusstsein für die Unterdrückung der Frau und dem Wunsch, etwas daran zu ändern. Zugleich macht es die Notwendigkeit deutlich, dass Linke sich aktiv in Bewegungen gegen Frauenunterdrückung einbringen, dort eine antirassistische Alternative anbieten und dabei helfen, die Betroffenen zu organisieren anstatt nur stellvertreterisch zu handeln.

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Betrieb & Gewerkschaft

»Wir müssen Klassenkampf neu lernen« Jan Richter arbeitet seit zehn Jahren erfolgreich dafür, dass die Beschäftigten einer Berliner H&M-Filiale selbstbewusst für ihre Forderungen einstehen. Wie er und die anderen Betriebsrätinnen das machen, erläutert er im marx21-Gespräch Interview: Hans Krause

Wieso hatte eure Filiale bis dahin keinen Betriebsrat? Davor gab es Regionalbetriebsräte, daher auch einen gemeinsamen Betriebsrat für alle Berliner Filialen. Den hatte H&M aber aufgelöst, weil er arbeitnehmerfeindliche Pläne der Geschäftsführung meist abgelehnt hatte. Also musste in jeder Berliner Filiale ein eigener Betriebsrat gegründet werden? Nein, zunächst ging die Strategie der Geschäftsführung auf. Nur in 3 der 29 Berliner H&M-Filialen haben engagierte Kolleginnen Betriebsräte gegründet: bei uns und in zwei weiteren Filialen. Mittlerweile gibt es in zehn Berliner Filialen einen Betriebsrat. Warum wollte deine Kollegin eine studentische Aushilfskraft im Betriebsrat haben? 56

Studierende sind bei H&M leider keine Aushilfen, sondern oft die Mehrheit der Belegschaft. Damals war das auch in der Friedrichstraße so. Die wenigen Vollzeitbeschäftigten hatten Angst, einen Betriebsrat zu gründen. Später meinte meine Kollegin, wenn sie das gewusst hätte, hätte sie gleich alle dort jobbenden Studierenden gefragt. Gibt es keine Stammbelegschaft wie bei anderen großen Unternehmen? Wir reden hier vom Einzelhandel. Das ist eine andere Welt als die Auto- oder Chemieindustrie. Inwiefern? Bei H&M und bei vielen anderen Einzelhändlern sind unbefristete Vollzeitbeschäftigte eine kleine Minderheit. Die meisten Angestellten haben befristete und Teilzeitverträge. Viele haben einen Vertrag über zehn Wochenstunden und erfahren frühestens ein paar Tage vorher, ob sie mehr arbeiten dürfen. Frühestens ein paar Tage vorher? Ja. Oft wird man auch weniger als 24 Stunden vor Schichtbeginn angerufen. Wer dann zu oft ablehnt, bekommt keine zusätzlichen Stunden mehr und könnte eine Entfristung oder Verlängerung gefährden.

© Andreas Gruenwald

Jan, du hast im Jahr 2003 als Studierender in der H&M-Filiale in der Berliner Friedrichstraße gejobbt und dabei den Betriebsrat mitgegründet. Wie kam das? Damals habe ich mich am Streik der Studierenden gegen Kürzungen an den Hochschulen beteiligt. Nach einer Streikaktion an der Uni musste ich zur Arbeit und eine Kollegin erzählte mir, sie wolle einen Betriebsrat gründen und dass ich mitmachen könne.

JAN RICHTER

Jan Richter ist Vorsitzender des Betriebsrats von H&M Berlin-Friedrichstraße.


Ist das eine neue Entwicklung? In den 1990er Jahren waren die Arbeitsbedingungen auch im Einzelhandel deutlich besser. Hier hat die SPD-Grüne-Regierung mit ihren Hartz-Gesetzen eine Branche mit drei Millionen überwiegend weiblichen Beschäftigten weitgehend umgekrempelt – mit katastrophalen Folgen für die Kolleginnen. Sind die Löhne besser als die Arbeitsbedingungen? Nein. H&M hält sich zwar an den Tarifvertrag. Aber das bedeutet einen Einstiegslohn von 11,08 Euro pro Stunde.

Beschäftigte protestieren vor der H&M-Hauptverwaltung in Hamburg. Der schwedische Konzern ist das zweitgrößte Textilhandelsunternehmen in Europa und beschäftigt weltweit mehr als 100.000 Personen. Deutschland ist sein wichtigster Markt

Viele Kolleginnen kommen gerade einmal auf 800 Euro brutto im Monat

Das klingt doch akzeptabel. Nicht bei den üblichen Teilzeitverträgen. Viele Kolleginnen kommen gerade einmal auf 800 Euro brutto im Monat. Ist das genug, wenn man ein Kind hat? Trotzdem gibt es woanders deutlich niedrigere Stundenlöhne als 11,08 Euro. Stimmt, Lidl oder KiK bezahlen deutlich weniger. Es könnte also schlimmer sein. Und ich verspreche jedem Kollegen und jeder Kollegin: Wenn wir nicht für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne kämpfen, kommt es auch schlimmer. Die Geschäftsführung versucht immer wieder, den Gewinn von H&M auf unsere Kosten zu erhöhen. Warum sollen wir das zulassen? Nur weil es Kolleginnen gibt, die noch schlechter dran sind? Wofür haben du und die anderen Betriebsräte sich hauptsächlich eingesetzt? Wir haben zunächst mit den Beschäftigten gesprochen, um herauszufinden, was ihre wichtigsten Ziele sind. Daraus ergaben sich in unserer Filiale als zentrale Forderungen: Keine Sonntagsarbeit, keine Öffnung nach 20 Uhr, keine Leiharbeiter in der Filiale und die Schaffung von Vollzeitstellen.

Wart ihr erfolgreich? Vor zehn Jahren arbeiteten in unserer Filiale von 47 Beschäftigten fünf in Vollzeit, vier in fester Teilzeit und 38 flexibel nach Wunsch der Geschäftsführung. Dabei mussten wir 3800 Überstunden anhäufen. Zwei Kolleginnen waren Mitglied von ver.di. Heute sind wir 57 Kolleginnen, davon 30 in Vollzeit, 14 in fester Teilzeit und 13 sind flexible Kräfte. Es gibt keine Überstunden und wir haben einen Organisationsgrad bei ver.di von 71 Prozent. Niemand muss sonntags arbeiten, die Filiale schließt immer um 20 Uhr. Wir haben keine Leiharbeiter und keine Mini-Jobber. Die Vollzeitbeschäftigten arbeiten pro Woche 37 Stunden und nicht mehr. Jeder hat mindestens jeden zweiten Samstag frei. Das sind große Unterschiede zu den meisten anderen H&M-Filialen, in denen es keinen Betriebsrat gibt. Wie habt ihr das geschafft? Wir mussten H&M unter Druck setzen. Und entscheidend dafür war die Beteiligung der Belegschaft. Wir haben Betriebsversammlungen, Umfragen und Workshops organisiert, in denen die Beschäftigten ihre Forderungen selbst diskutieren und ihre Aktionen selbst planen konnten. Hat das die Geschäftsführung beeindruckt? Ja. Das »Wirtschaftsmodell Einzelhandel« beruht größtenteils darauf, dass die Beschäftigten jede Anweisung, unter noch so schlechten Arbeitsbedingungen, zu einem noch so schlechten Lohn ausführen. Wenn sie das nicht mehr tun und stattdessen verlangen, über ihre Arbeit mitzubestimmen, funktioniert dieses Modell nicht mehr. Ist es nicht normal, dass ein Betriebsrat die Forderungen der Beschäftigten bündelt und mit der Geschäftsführung darüber verhandelt? Überhaupt nicht. Viele Betriebsräte versuchen eher, den Beschäftigten die Beschlüsse des Managements zu erklären. Über alle Branchen hinweg wagen es die wenigsten Betriebsräte, eine Forderung der Geschäftsführung grundsätzlich abzulehnen. Auch dann nicht, wenn sie den Interessen der Kollegen eindeutig widerspricht.

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Warum werden die Beschäftigten so schlecht behandelt? Das ist deutschlandweit das Geschäftsmodell von Konzernen wie H&M: Sie nehmen fast nur Leute, die jünger als 25 Jahre und bereit sind, maximal flexibel zu arbeiten. Die Kolleginnen erhalten einen Vertrag über 24 Monate, der bis zu dreimal ohne Sachgrund befristet werden kann und oft auch wird. Kaum jemand ist mehr als vier Jahre in der Branche, geschweige denn bei H&M.

57


© Jan Richter

Streikaktion vor der H&M-Filiale in der Berliner Friedrichstraße: Die langfristige Arbeit der Betriebsräte zahlt sich aus. Allmählich kämpfen immer mehr Kolleginnen und Kollegen offensiv für ihre Interessen

Wieso das? Sie haben Angst, dass die Manager die »vertrauensvolle Zusammenarbeit« mit ihnen aufkündigen. Die meisten Betriebsräte verstehen sich hauptsächlich als Partner der Geschäftsführung. Das ist die »Sozialpartnerschaft« zwischen Management und Betriebsrat. Was bedeutet das in der Praxis? Ein gutes Beispiel sind die Öffnungszeiten im Einzelhandel. In den meisten Filialen werden sie ausschließlich von der Geschäftsführung bestimmt. Und wenn der Betriebsrat und die Beschäftigten nicht darüber sprechen, scheint das selbstverständlich zu sein. Genauso, wie es selbstverständlich ist, dass die Geschäftsführung darüber entscheidet, welche Waren verkauft werden, und nicht die Angestellten. Und der Betriebsrat? Ein »sozialpartnerschaftlicher« Betriebsrat stellt längere Öffnungszeiten normalerweise nicht infrage, sondern erklärt den Beschäftigten, warum sie für das Unternehmen notwendig sind. Wenn überhaupt, fordert er für die Arbeit spätabends oder am Wochenende höhere Zuschläge. Aber bei euch läuft das anders? Unser Betriebsrat betreibt keine »Sozialpartnerschaft«. Wir helfen dabei, die Zie58

le der Beschäftigten durchzusetzen und meistens bedeutet das gerade nicht, als Betriebsrat Verständnis für die Anliegen des Arbeitgebers aufzubringen und diese widerstandslos gegen die Interessen der Beschäftigten durchzuwinken. Wie geht ihr mit den Plänen der Unternehmensleitung um? Wenn ein Manager mit Gewinnerlächeln in unser Büro kommt und sagt, er »habe eine neue Idee für unsere Filiale«, wissen wir, dass es wahrscheinlich nichts Gutes ist. Wenn die »neue Idee« dann darin besteht, sonntags zu öffnen, setzen wir unser Gewinnerlächeln auf und versprechen ihm, die Beschäftigten zu fragen, was sie davon halten. Und wenn die Kolleginnen sonntags nicht arbeiten wollen, lehnt der Betriebsrat die »neue Idee« kompromisslos ab und die Filiale bleibt geschlossen. Klingt, als sei es recht einfach, die Rechte der Beschäftigten durchzusetzen Erstens ist es nicht immer einfach und zweitens ist die entscheidende Frage: Wie schafft man es, dass die Beschäftigten ihre Forderungen selbst formulieren und gegenüber der Geschäftsführung einfordern? Viele linke Betriebsräte scheitern nicht am Unternehmer, sondern am mangeln-

den Klassenbewusstsein der Beschäftigten. Wenn ein Betriebsrat seinen Kolleginnen nicht erklären kann, warum er die Neueinstellung von Leiharbeitern ablehnt, nützt ihm die beste politische Theorie nichts. Und wenn die Kolleginnen nicht hinter ihm stehen, kann der Betriebsrat auch nicht viel durchsetzen. Auch dann nicht, wenn die Forderungen richtig sind. Sind solche gewerkschaftlichen Forderungen so schwierig zu verstehen? Natürlich. Wir Betriebsräte müssen lernen, dass heutzutage viele Beschäftigte kein blindes Vertrauen in die Gewerkschaften und ihre Forderungen haben. Jemand der sich noch nie mit »Arbeitnehmerinteressen« beschäftigt hat, weiß vielleicht nicht, dass Mehrarbeit keine Arbeitsplätze sichert, sondern vernichtet. Hat euer Betriebsrat auch solche Probleme? Durch unsere zehnjährige Arbeit an der Seite der Beschäftigten nur noch selten. Aber zu Beginn wurden auch wir von manchen Beschäftigten scharf kritisiert. Worin bestand der Konflikt? Im Jahr 2005 haben wir erreicht, dass mehrere Zehn-Stunden-Kräfte gegenüber der Geschäftsführung schriftlich


Wolfgang Gehrcke / Christiane Reymann (Hg.): Syrien – Wie man

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erklärt haben, dass sie Vollzeit arbeiten wollen. Bis dahin hatten die Manager behauptet, die Kolleginnen seien mit ihren flexiblen Verträgen zufrieden. Haben diese Erklärungen etwas genützt? Sie waren ein wichtiger Schritt. Denn jetzt hatten wir als Betriebsrat die Möglichkeit, jeden Einsatz von Leiharbeitern grundsätzlich abzulehnen, bis der Wunsch dieser Kolleginnen nach Vollzeit erfüllt wird. Hat die Geschäftsführung sich gewehrt? Ja. Zunächst haben sie Schichtpläne veröffentlicht, in denen Kolleginnen allein in einer Abteilung arbeiten sollten. Das war der Moment, in dem wir Betriebsräte von einzelnen Beschäftigten angebrüllt wurden, weil es völlig unmöglich ist, diese Arbeit allein zu leisten. Habt ihr den Kolleginnen nachgegeben oder sie ignoriert? Weder noch. Wir haben diskutiert, diskutiert und nochmal diskutiert. Unser Argument war: Wenn wir alleine arbeiten müssen, dürfen wir nicht versuchen, die Arbeit von drei Kolleginnen zu machen. Die Geschäftsführung ist schuld, wenn niemand die Kleidung aufräumt und der Laden nach ein paar Stunden im Chaos versinkt. Wir erledigen wie immer unsere Arbeit, aber nicht mehr. Hat das funktioniert? Ja. Wir haben gemeinsam entschieden, zuzulassen, dass die Filiale »vor die Wand fährt«, weil wir nicht schuld daran sind, dass die Geschäftsführung keine Vollzeitstellen schafft. Durch diese Diskussion haben wir eine neue Stufe des Klassenbewusstseins erlangt. Und die Vollzeitstellen? Nach der ersten Ein-Personen-Schicht sah die Filiale so aus, dass praktisch kein Verkauf mehr stattfinden konnte. Zwei Tage später hat die Geschäftsführung verbindlich neue Vollzeitstellen zugesagt. Alle 320 »unbesetzten« Arbeitsstunden wurden auf die eigene Belegschaft verteilt. Am nächsten Tag haben wir Betriebsräte uns neben eine Kollegin gestellt und gerufen: »Begrüßt unsere neue Vollzeitkraft.« Erst waren alle still und haben mit offenem Mund gestaunt. Dann kam der Beifall.

Streiks sind im Einzelhandel traditionell schwierig. Ist eure Belegschaft streikfähig? Auch hier gilt: Langfristige Arbeit der Betriebsräte zusammen mit den Beschäftigten zahlt sich aus. Wir haben in der Tarifrunde 2007/08 das erste Mal gestreikt. Beim ersten Versuch kamen zum Streiktreffpunkt am S-Bahnhof nur vier Kolleginnen. Aber nach einem halben Jahr Diskussion mit den Beschäftigten hat am Donnerstag vor Ostern 2008 die komplette Schicht vor der Filiale gestreikt. Außerdem sind zahlreiche Kolleginnen in ver. di eingetreten. Auch das war ein wichtiger Schritt, um unter den Beschäftigten das Bewusstsein zu verbreiten: Wir selbst müssen für unsere Ziele einstehen. Den Job erledigt niemand anders für uns. Das heißt, die Filiale war an diesem Streiktag geschlossen? Diese Frage beantworte ich als Arbeitnehmer, nicht als Betriebsrat (Betriebsräte dürfen nicht streiken, Anm. d. Red.): Leider nicht. H&M hat Streikbrecher aus Leipzig, Magdeburg und Rostock einbestellt, ihnen Hotels in Berlin bezahlt und angeordnet, sich den ganzen Tag bereit zu halten. Eine halbe Stunde nach Beginn des Streiks wurden die Streikbrecher mit Taxis zur Filiale gebracht. Den Laden wirklich dicht zu machen, ist eine Aufgabe, die wir in Zukunft anpacken wollen. War die Tarifrunde erfolgreich? Nach einer Forderung von 6,5 Prozent mehr Lohn haben wir 3,5 Prozent erreicht. Zwischen 2000 und 2008 gab es zwei Lohnerhöhungen: Einmal 0,8 und einmal 1,2 Prozent. Von daher waren die 3,5 Prozent ein Erfolg. Hat H&M euren Betriebsrat bekämpft? Ja. Der Höhepunkt war die Klage auf Amtsenthebung des Betriebsrats im Jahr 2011. Die Begründung war, dass mit uns keine »vertrauensvolle Zusammenarbeit« möglich sei. Kann ein Unternehmen einen Betriebsrat absetzen? Es gab eine Verhandlung vor dem Arbeitsgericht. Allerdings hat H&M die Klage während des Prozesses zurückgezogen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hatte. Hat diese Klage eure Position geschwächt?

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Die Betriebsratspinnwand bei H&M Friedrichsstraße: Die Einbindung der Belegschaft war die Grundlage für die Streiks

Ist eure Arbeit bei H&M Berlin-Friedrichstraße ein Einzelfall oder gibt es das öfter? Wir klassenbewussten Betriebsräte sind eine Minderheit, aber nicht alleine. Auch H&M-Betriebsräte in Berlin-Gesundbrunnen, München, Stuttgart, Hannover, Wiesbaden, Oldenburg oder Trier sind sehr engagiert, kämpferisch und versuchen, ausschließlich die Forderungen der Beschäftigten durchzusetzen und nicht die Wünsche des Kapitals. Zurzeit hat die Geschäftsleitung von H&M Trier die Kündigung des dortigen Betriebsrats Daminao Quinto beantragt. Unter welchen Bedingungen ist solch eine kämpferische Betriebsratsarbeit möglich? Unsere Filiale zeigt: Es gibt keine Bedingungen. Wir haben im Jahr 2003 unter Umständen angefangen, die viele erfahrene Gewerkschafter als hoffnungslos abgetan hätten. Aber durch kontinuierliche Arbeit, nicht für, sondern mit den Beschäftigten, haben wir aus einer gewerkschaftsfreien Zone eine konflikt- und streikfähige Filiale im Textileinzelhandel gemacht. Wenn das überall geht, warum passiert es dann nicht? Weil wir Betriebsräte und Gewerkschafter noch nicht genug umgedacht haben. Wir müssen aufhören, die Millionen meist weiblichen prekär Beschäftigten als »nicht organisierbar« abzutun und uns auf die großen Fabriken zu konzentrieren. Wer soll gegen Niedriglohn und Zehn-Stunden-Verträge kämpfen, wenn 60

© Jan Richter

Zunächst hat sie natürlich unsere Arbeit in der Filiale eingeschränkt. Aber am Ende ging der Schuss der Geschäftsführung nach hinten los, weil die Beschäftigten sich aus Eigeninitiative vor ihren Betriebsrat gestellt und die Amtsenthebung abgelehnt haben. Auch das war nur möglich, weil sich in unserer Filiale viele Beschäftigte bewusst sind, dass ihr Verhältnis zur Geschäftsführung zwangsläufig konfliktreich ist und dass sie für diesen andauernden Konflikt einen Betriebsrat brauchen. Damit hatte H&M scheinbar nicht gerechnet. Nach dem Prozess waren unsere Beschäftigten mit ihrem Betriebsrat noch näher zusammengerückt. Außerdem haben uns H&M-Betriebsräte aus ganz Deutschland ihre Solidarität erklärt.

nicht die Niedriglöhner und flexibel Beschäftigten selbst? Darauf zu hoffen, dass der Bundestag irgendwann von alleine die Hartz-Gesetze abschafft, halte ich für eine Illusion. Habt ihr auch in der jetzigen Tarifrunde des Einzelhandels gestreikt? Der Arbeitgeberverband hat den Tarifvertrag in Berlin zum 30. Juni gekündigt. Ver.di Berlin hat deshalb entschieden, erst ab Herbst zu Warnstreiks aufzurufen, obwohl Kolleginnen in Bayern, BadenWürttemberg und Hessen schon jetzt auf die Straße gehen und Selbstbewusstsein tanken. Das sollten wir Berliner aber meiner Meinung nach auch tun. Warum ist ver.di Berlin so zurückhaltend? Ein ver.di-Vertreter nannte das Argument, man müsse auf die Beschäftigten von Karstadt Rücksicht nehmen, weil das Unternehmen in einer tiefen Krise steckt. Aber Karstadt geht nicht Pleite, weil die Kolleginnen streiken und es wird nicht gerettet, wenn sie es nicht tun. Ich denke, das ist ein Fall, in dem wir die Interessen des Konzerns nicht mit den Interessen der Beschäftigten verwechseln dürfen. Klingt, als wollte ver.di Berlin in der Tarifrunde gar nichts erreichen…

Doch, natürlich wollen die Gewerkschaftssekretäre das. Die Frage ist: Wie? Ein Beispiel: In der Tarifkommission Einzelhandel von ver.di Berlin sitzen seit 15 Jahren dieselben Leute. Die meisten von ihnen haben ihr Leben lang die Gewerkschaft verwaltet und mit Managern verhandelt, aber kaum versucht, mit den Beschäftigten zu diskutieren, wie diese für ihre Ziele kämpfen können. Gerade im Einzelhandel hat ver.di Berlin in den letzten Jahren kaum versucht zu streiken. Klassenkampf ist etwas, das wir alle wieder neu lernen müssen. Heißt das, ihr seid zum Nichtstun verurteilt? Nein. Ich bin überzeugt, dass auch der Berliner Einzelhandel im Herbst erfolgreich streiken wird, wenn wir uns gut vorbereiten. Unser Betriebsrat will jetzt schon ein möglichst großes Bündnis schmieden, weil wir viel Unterstützung brauchen – auch von Leuten, die nicht im Einzelhandel arbeiten. Deshalb führen wir zum Beispiel Gespräche mit der LINKEN oder machen Veranstaltungen wie vor kurzem mit dem SDS an der Humboldt-Universität Berlin. Je mehr Hilfe wir kriegen, desto eher können wir den Angriff der Einzelhandelskonzerne abwehren. ■


s Kapitalismu er am Rande d Erschöpfung

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Über die Diagnose des „erschöpften Selbst“ im neoliberalen Kapitalismus und soziale Beschleunigung schreiben Fritz Reheis, Claus Leggewie und Frigga Haug. Katharina Gröning analysiert die Genderdimension von Stress und und das Theaterkollektiv Turbo Pascal erklärt den Wandel des Schlafens seit der Industriealisierung. Außerdem: Heteronormativitätskritik im Familienrecht u.v.m. im neuen prager frühling. Jetzt (schnell) bestellen:

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73 73 Ägypten: Regimewandel

Frühjahr 2013

Ägypten: Regimewandel Frühjahr 2013

ten, neue Netzwerke • TV-Satiriker Mali: Interview Bassem Yussif mit Boubacar Boris Diop • Palästinenser – Exil und Vertreibung: Kuwait,mit Jordanien, Mali: Interview BoubacarSyrien Boris •Diop Jordanien – Parlamentswahlen • • Palästinenser – Exil und VerSyrien: Kurden in Syrien – der andere treibung: Kuwait, Jordanien, Syrien syrische Aufstand • Deutschland /• • Jordanien – Parlamentswahlen Tunesien: Der Mord an Saleh Syrien: Kurden in Syrien – derBen andere Youssef Israel: Akiva Orr 1931-2013. syrische•Aufstand • Deutschland /

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BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Die Verfassung Ägyptens: Inhalte und Neuerungen • Die Lage nach der Präsidentenwahl • Ägyptens Wirtschaft: Die Verfassung Ägyptens: Inhalte und Keine Rettung• Die in Sicht? ArbeiterbeNeuerungen Lage •nach der Präwegung, Gewerkschaft und die Politik sidentenwahl • Ägyptens Wirtschaft: der MBRettung • Frauenbewegung • Die symKeine in Sicht? • Arbeiterbebolische der Revolutionsjugend wegung,Macht Gewerkschaft und die Politik •der Mursis – alte•SeilschafMB •Außenpolitik Frauenbewegung Die symten, neue Macht Netzwerke • TV-Satiriker bolische der Revolutionsjugend Bassem • MursisYussif Außenpolitik – alte Seilschaf-

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»Rock ‘n‘ Roll until the Revolution!« Wir trauern um unsere Freundin und Genossin Alexandra B. Cooper, die am 7. Mai ihren langen Kampf gegen den Krebs verlor. Sie verbrachte das letzte Jahr ihres Lebens umgeben von Freunden und Familie in ihrer Heimatstadt Pasadena in Kalifornien Von Loren Balhorn

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In den USA war sie zuvor schon lange als Aktivistin unterwegs gewesen: Sie hatte sich im Jahr 2003 im Rahmen der Bewegung gegen den Irak-Krieg politisiert. Am Lewis & Clark College in Portland, wo sie studierte, spielte sie eine zentrale Rolle in der Antikriegsbewegung. Ihre kompetente und langjährige Arbeit führte dazu, dass sie eine Zeit lang vom lokalen Antikriegsbündnis als Organisatorin angestellt wurde. Nach ein paar Jahren Bewegungsarbeit trat sie der International Socialist Organization (ISO) bei, der größten sozialistischen Organisation in den Vereinigten Staaten, und war mehrere Jahre in ihrer dortigen Ortsgruppe aktiv. Alex brachte sich auf vielfältige Weise in der Berliner LINKEN ein. Obwohl sie erst 2009 angefangen hatte Deutsch zu lernen, war sie schon bald ein aktives und wichtiges Mitglied der SDS-Gruppe an der Humboldt-Universität. Egal, ob es darum ging, für eine Veranstaltung Flyer zu verteilen oder Plakate aufzuhängen, Sitzungen zu moderieren – Alex war immer dabei. Sie besuchte bundesweite Treffen, erledigte organisatorische Dinge und beteiligte sich selbstverständlich auch an inhaltlichen Debatten. Ihr Deutsch war zwar nicht immer perfekt, dennoch beeindruckte sie durch ihr selbstbewusstes Auftreten, ihr großes politisches Wissen und ihre scheinbar unerschöpfliche Energie. In den wenigen Jahren, die Alex im SDS aktiv war, wurde sie zu einem unverzichtbaren Mitglied. Außerdem schrieb sie gelegentlich Artikel und Berichte über die politische Situation in Deutschland für die US-amerikanische Zeitschrift »Socialist Worker«. Dank ihrer Erfahrung mit Schriften und Grafik-Design konnte Alex auch die Redaktion von marx21 unterstützen. Bis ihre Krankheit sie daran hinderte, war sie als Layouterin tätig. Zudem prägte sie die

Ästhetik des Netzwerks, indem sie Reader und andere Veröffentlichungen von marx21 layoutete und diesen einen modernen Glanz verlieh. Sie war eine der Ersten, die sich im Jahr 2010 an der Vorbereitung von »marx21-Campus« in Berlin beteiligten – dem Versuch, studentische Lesekreise innerhalb des Netzwerkes zu etablieren. Dass die Lesekreise so gut vorbereitet und besucht wurden, lag nicht zuletzt an ihrem Engagement. Als im Jahr 2011 innerhalb des Studierendenverbandes Die Linke.SDS Kontroversen und hitzige Debatten stattfanden, half Alex mit, die Positionen von marx21 zu formulieren und beteiligte sich vor allem an der Debatte zu Feminismus und Frauenbefreiung. Wir werden Alex‘ positive Stimmung und lässige Art in unserem politischen Alltag vermissen. Sie war so oft gut drauf, begrüßte jeden mit einem »Hey yo, what‘s up?« in ihrem lauten kalifornischen Akzent und machte die politische Arbeit ein kleines bisschen lustiger. Sie liebte Fahrradfahren, David Bowie, Poesie und war in Berlin Mitglied des Chors »Cantus Domus«, mit dem sie mehrere Konzerte in der Berliner Philharmonie gab, auch noch während ihrer Krebserkrankung. Auch nachdem ihre Krankheit diagnostiziert wurde, blieb Alex politisch aktiv. Ihr war es wichtig, so lange engagiert zu bleiben, wie es ihr möglich war. Noch im vergangenen Jahr besuchte sie die Kongresse »Marx is‘ Muss« in Berlin und »Marxism« in London. Alex kämpfte zwei Jahre lang gegen ihre Krebserkrankung. Sie zog im vergangenen Jahr zurück in die USA, um mehr Zeit mit ihrer Familie und ihren Freunden verbringen zu können. Trotz der Umstände war sie auch in ihren letzten Monaten witzig und lebensfroh. Zwischen den Behandlungen ist es ihr auch noch gelungen, durch die USA zu reisen, alte Freunde zu besuchen und ihr Leben bis zum Ende zu genießen. Sie bereute nichts und konzentrierte sich darauf, das Leben zu zelebrieren. Unsere Gedanken sind bei ihren Eltern, John und Bette, ihrer Schwester Eliza und ihren engsten Freunden und Genossen in den USA. Als ich das letzte Mal mit Alex sprach, war bereits absehbar, dass sie nicht mehr lange leben würde. Sie war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 29 Jahre alt. Aber sie war wie immer: gut gelaunt und positiv eingestellt. Wir redeten über Politik, Musik und das Leben und sie meinte, dass sie zwar Berlin nicht so sehr vermisse, doch die Menschen und die Erfahrungen von dort nie vergessen würde. Ihrer Persönlichkeit treu bleibend verabschiedete sie sich mit dem Satz: »Rock ‘n‘ Roll until the Revolution!« Vielen Dank für alles, Alex. Wir werden dich sehr vermissen. ■

★ ★★

Loren Balhorn ist Mitglied von Die Linke.SDS an der Freien Universität Berlin. Er hat Alexandra Cooper im Jahr 2009 bei einem Infostand der LINKEN in Kreuzberg kennengelernt. Seitdem waren sie befreundet und gemeinsam politisch aktiv.

NACHRUF

W

ie so viele andere junge Menschen aus Nordamerika und Europa kam Alex im Jahr 2009 nach Berlin, um eine neue Phase ihres Lebens zu beginnen. Sie hatte nach ihrem Studienabschluss wegen der Wirtschaftskrise keinen sicheren Arbeitsplatz finden können. Es erging ihr also wie vielen jungen Amerikanern, deshalb entschied sie sich nach ein paar Jahren in Portland (Oregon) für Berlin mit seiner aufregenden Kulturszene und seinen niedrigen Mieten. Sie machte zunächst verschiedene Praktika, unter anderem bei der Zeitschrift »Exberliner« und dem Berliner Buchstabenmuseum, wo sie ihr großes Interesse an Schriftarten und Grafik-Design entdeckte. Dadurch angespornt entschied sie sich für ein erneutes Studium: Ab dem Wintersemester 2010/11 besuchte sie Seminare und Vorlesungen in Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität.

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Was macht Marx21?

»Fast heitere Stimmung« Was haben Jean-Paul Sartre und Gaga-Feminismus gemeinsam? Ganz einfach: Beide waren Thema bei unserem Kongress »Marx is’ muss 2013«

A

m 9. Mai war es wieder so weit. Vor dem Gebäude des »Neuen Deutschland« in Berlin-Friedrichshain flatterte die Arbeiterfaust im Wind, während drinnen die Köpfe rauchten. Über 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren zum diesjährigen »MARX IS’ MUSS«-Kongress gekommen, um in 69 Veranstaltungen und Podien zu diskutieren, zu lernen und sich auszutauschen. Überfüllte Räume, wie auf dem oberen Foto, waren keine Seltenheit. Damit haben wir unser Ziel erreicht, den Kongress noch etwas größer zu machen als im vergangenen Jahr. Aber es zählt natürlich nicht nur die Quantität, sondern vor allem die Qualität. Und so haben wir uns bemüht, das Programm noch vielfältiger und spannender zu gestalten. Wie in den Jahren zuvor startete der Kongress mit einem Seminartag (3. Foto v. oben). Neu war diesmal, dass zusätzlich noch eine thematische Schiene zu Fragen gewerkschaftlicher Strategie stattfand. Und auch sonst stand »MARX IS’ MUSS« dieses Jahr ganz im Zeichen des Klassenkampfs. Neben den international besetzten Podiumsdiskussionen und Veranstaltungen über Krise und Widerstand in Europa, widmeten sich viele Debatten den lokalen und be64

trieblichen Kämpfen in Deutschland. Zu den Höhepunkten zählten außerdem die Abschlussveranstaltung mit dem LINKEN-Vorsitzenden Bernd Riexinger (in der Mitte auf d. Foto unten) und der Vortrag des britischen Kulturphilosophen Terry Eagleton (rechts auf 2. Foto v. oben) zu marxistischer Ästhetik. Auch Themen, bei denen man nicht unbedingt einen marxistischen Zugang erwarten würde, wie Ethik, Pädagogik oder Behindertenpolitik fanden großes Interesse. Auf Youtube kommentierte ein Besucher: »Das waren drei phantastische Tage. Durchgängig freundliche, um nicht zu sagen heitere Stimmung, Referate und Diskussionen, auch bei konträren Standpunkten undogmatisch, zuhörend, offen, ohne Rechthabereien, erkenntnisgewinnbringend, aber auch zur praktischen Gegenwehr einladend. Und es war einfach schön, unter so vielen gleich/ ähnlich gesinnten Menschen zu sein. Auch Organisation und Küche: ganz hervorragend. Vielen Dank.« Diesen Dank können wir nur erwidern. Wir hoffen, dass auch alle anderen eine schöne Zeit hatten. Und allen, die dieses Jahr nicht dabei sein konnten, können wir versichern, dass die Planungen für »MARX IS’ MUSS 2014« bereits laufen. ■

© Alle Bilder: marx21

Von MARTIN HALLER


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DEIN MAGAZIN DEIN FORUM Du möchtest in deiner Stadt eine Veranstaltung zu einem der Themen aus diesem oder einem vergangenen Heft organisieren und brauchst Unterstützung? Wir helfen sehr gerne – mit einem Griff in unser Artikelarchiv oder die Bereitstellung von Literatur. Falls gewünscht stellen wir auch den Kontakt zu möglichen Referentinnen oder Referenten her. Melde dich einfach bei uns unter redaktion@marx21.de oder 030/89562510 und wir schauen, was wir gemeinsam auf die Beine stellen können.

TERMINE

17, U7 Richard-Wagner-Platz

Frankfurt | 04.07.2013 marx21-Unterstützerversammlung | Uhrzeit:19:00 | Ort: Bildungsraum, Schönstraße 28 | Kontakt: Christoph 0177/3474012

Frankfurt | 08.08.2013 marx21-Unterstützerversammlung | Uhrzeit:19:00 | Ort: Bildungsraum, Schönstraße 28

Oberhausen | 07.07.2013 marx21-Unterstützerversammlung Nordrhein-Westfalen | Uhrzeit:11:00 | Ort: Linkes Zentrum Oberhausen, Elsässer Str. 19 Münster | 14.07.2013 marx21-Lesekreis: »Revolutionäre Sozialisten im Parlament« | Uhrzeit:17:00-19:00 | Ort: Linkes Zentrum Münster, Achtermannstr. 19

Frankfurt | 19.09.2013 marx21-Unterstützerversammlung | Uhrzeit:19:00 | Ort: Bildungsraum, Schönstraße 28

Berlin | 04.08.2013 marx21-Lesekreis (Sommer/ Herbst 2013): »Marxismus & Gewerkschaften: Wer ist gewerkschaftlich organisiert?« | Uhrzeit: 14:00-17.00 | Ort: Geschäftsstelle DIE LINKE Charlottenburg, Behaimstr.

Berlin| 06.10.2013 marx21-Lesekreis (Sommer/ Herbst 2013): »Marxismus & Gewerkschaften: Bürokratie vs. Basis?« | Uhrzeit: 14:00-17.00 | Ort: Geschäftsstelle DIE LINKE Charlottenburg, Behaimstr. 17, U7 Richard-Wagner-Platz

5. 6. 7. 8. 9. 10.

Tarifrunde Einzelhandel: »Wir können diesmal nicht so handeln wie immer« Insgesamt waren 13.289 Besucher im Mai (13.045 im April) auf marx21.de

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ABO KAMPAGNE Stand: 951 (+26)

Ziel: 1000

SPEZIAL US-WAHL 2012

4.

AfD – eine schlechte Alternative

(1151) Marx neu entdecken (708) Klönnes Klassenbuch zum Jubiläum der SPD (538) »Der Lärm muss weichen« (695) Boston-Anschlag (599) Vom Organizing zum Amazon-Streik (556) Warum Obama Nordkorea mit Krieg droht (506) Streikrecht bei Kirche, Diakonie und Caritas (466) Weltsozialforum: Grundkonsens Widerstand (424)

marx21.de bei Facebook: ★  plus 126 Fans in den letzten drei Monaten (2214 Fans insgesamt) ★  706 Pinnwandeinträge, Kommentare und Verwendungen von »Gefällt mir« in den letzten vier Wochen ★  Durchschnittliche wöchentliche Reichweite in den letzten vier Wochen: 6061 (minus 12.549 seit März 2013)

Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de

3.

Frankfurt | 05.09.2013 marx21-Unterstützerversammlung | Uhrzeit:19:00 | Ort: Bildungsraum, Schönstraße 28

Frankfurt | 18.07.2013 marx21-Unterstützerversammlung | Uhrzeit:19:00 | Ort: Bildungsraum, Schönstraße 28

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APRIL / MAI

2.

Frankfurt | 22.08.2013 marx21-Unterstützerversammlung | Uhrzeit:19:00 | Ort: Bildungsraum, Schönstraße 28

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TOP TEN

1.

Münster | 11.08.2013 marx21-Lesekreis: »Betriebsbesetzungen« | Uhrzeit:17:00-19:00 | Ort: Linkes Zentrum Münster, Achtermannstr. 19

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GESCHICHTE

»Akkord ist Mord!« Zum sechzigsten Mal jährt sich der Aufstand des 17. Juni 1953. Für die SED-Führung ein vom Westen gesteuerter »faschistischer Putsch«, wurde die Erhebung in der Bundesrepublik als »Volksaufstand für die deutsche Einheit« gefeiert. Doch beide Interpretationen verfälschen den Charakter des Aufstandes Von Bernd Gehrke

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Magdeburg, Halle, Merseburg, Bitterfeld, Wolfen, Leipzig, Dresden und Görlitz bildeten diese Zentren. In vier Städten (Halle, Merseburg, Bitterfeld und Görlitz) hatten überbetriebliche Streikräte und Volkskomitees bereits die Macht übernommen. Hinsichtlich der Streik- und Aufstandsbeteiligung unterschieden sich die alten Hochburgen von KPD oder SPD nicht. Die Bewegung des 17. Juni war nicht nur eine Streikbewegung für wirtschaftliche und soziale Ziele, sie war ein politischer Massenstreik, der sich zu einem regulären Aufstand auswuchs, welcher zur Erstürmung von Gefängnissen, MfS-Einrichtungen, Partei- und FDJ-Gebäuden und Rathäusern führte. Sowohl zeitlich als auch räumlich war der Aufstand breiter als dies vor der Öffnung der DDR-Archive in der wissenschaftlichen Literatur bekannt war: Am 17. Juni selbst streikten knapp 500.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Trotz des noch am selben Tag verhängten Ausnahmezustands und der militärischen Besetzung der Städte und Großbetriebe sowie der Verhaftung von Streikleitungen dehnte sich der Ausstand am 18. Juni weiter aus. Nur unter Androhung von Erschießungen und militärisch durchgesetzter Aussperrungen konnte die Streikbewegung in den Zentren bis zum 19. Juni gebrochen werden, während sie in etlichen Betrieben noch bis zum 22. Juni anhielt. Nach letztem Forschungsstand haben zwischen dem 12. und 22. Juni rund eine Million Menschen in 702 Städten und Gemeinden an Streiks, Demonstrationen oder der Erstürmung von Gebäuden teilgenommen. Sechzig Haftorte wurden gestürmt und 1400 Häftlinge befreit. Allein durch diese Zahlen wird schon deutlich, dass in jeder Gesellschaft, in der die Arbeiterklasse die Mehrheit der Gesellschaft bildet, eine umfassende proletarische Erhebung immer auch den Charakter eines Volksaufstandes besitzt.

Diese veröffentlichten und unbestrittenen Fakten kontrastieren jedoch mit einer lange nur von westdeutschen Konservativen, seit dem 50. Jahrestag 2003 jedoch in der akademischen Zunft weithin gängigen Interpretation des Aufstandes, in der das spezifische Gewicht der Arbeiterklasse relativiert wird. In den Massenmedien ist diese Praxis ohnehin üblich. Unter dem Eindruck der Größe der Teilnehmerzahlen, der Anzahl der Ortschaften und im Detail bekannt gewordener Beteiligung von nichtproletarischen Schichten hat sich nunmehr auch bei Historikern der Begriff »Volksaufstand« mit der Konnotation eines »nationalen Volksaufstandes« anstelle des jahrzehntelang gepflegten Begriffs »Arbeiteraufstand« durchgesetzt. Die gesellschaftspolitische Implikation dieser Begriffsverschiebung ist leicht durchschaubar und läuft darauf hinaus, die Arbeiterklasse und ihre spezifischen Interessen begrifflich zu tilgen und die Rolle anderer sozialer Schichten aufzuwerten. Damit verbindet sich auch die unschwer erkennbare Absicht, die Ziele und Forderungen des Aufstands in sozialökonomischer Hinsicht im Sinne einer prokapitalistischen Restauration zugunsten des Adenauer-Staates umzudeuten. Die Diskussion über den politischen und sozialen Charakter des 17. Juni ist eng mit der von Baring entwickelten »Stufentheorie« verbunden, welche besagt, dass der in den Betrieben zunächst gut organisierte Streik der Belegschaften gegen die Normenerhöhung und für betriebliche und soziale Ziele später, während der Straßendemonstrationen, der Kontrolle der Streikleitungen entglitt und in einen allgemeinen, unkontrollierten Aufstand für freie Wahlen und Wiedervereinigung überging. Jetzt erst habe sich der Aufstand in einen politischen verwandelt, der sich auch in Randale, Gewalt und Zerstörungen entlud. Die »Stufentheorie« wird in etwas anderer Weise auch von jenen benutzt, die aktuell wieder mit der alten stalinistischen These aufwarten, die berechtigte soziale Unzufriedenheit der Arbeiter sei erst durch die Intervention des Westens, vor allem der Rundfunkanstalt RIAS, in eine gesteuerte politische Konterrevolution umgeschlagen. Beiden Interpretationen ist gemeinsam, dass sie den politischen Aufstand gegen die SED-Diktatur als restaurativ und pro-kapitalistisch identifizieren. Der Versuch, den »Arbeiteraufstand« in einem »allgemeinen Volksaufstand« aufzulösen, wird unter anderem damit begründet, dass sich den demonstrierenden Arbeitern die Angestellten der am Rande des Zuges gelegenen Geschäfte angeschlossen hätten, ebenso Hausfrauen und Jugendliche. Dabei wird außer Acht gelassen, dass sowohl die Hausfrauen als auch die Jugendlichen vor allem die Angehörige der marschierenden Arbeiter waren. Und

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er Aufstand des 17. Juni 1953 wurde vor allem durch die Industriearbeiterschaft in den Zentren der alten Arbeiterbewegung Mitteldeutschlands geprägt. Die Großbetriebe waren der Ausgangspunkt, der Motor und das Zentrum der Ereignisse. Im Gegensatz zu den medial vermittelten Bildern, die von den Reichweiten westlicher Kameras beeinflusst waren, ging zwar von Berlin die Initialzündung aus, doch hatte der Aufstand seine Höhepunkte und radikalsten Entwicklungen im mitteldeutschen Industriegebiet sowie in Ostsachsen. Diese Deutung belegen die DDR-Akten, die seit 1990 zugänglich sind. Sie bestätigen und bereichern das Gesamtbild des 17. Juni, das die Journalisten Klaus Harpprecht und Klaus Bölling schon 1954 in »Der Aufstand« sehr anschaulich beschrieben und das der Historiker Arnulf Baring 1957 innerhalb der akademischen Zunft zuerst analysiert hatte.

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★ ★★ WEITERLESEN Benno Sarel: Arbeiter gegen den »Kommunismus«. Zur Geschichte des proletarischen Widerstandes in der DDR 1945-1958 (Trikont Verlag 1975/ Neuausgabe: Schwarze Risse 1991).

Roger Engelmann, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953 (Vandenhoeck & Ruprecht 2005).

Ilse Spittmann und Karl-Wilhelm Fricke (Hrsg.): Der 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR. (Edition Deutschland Archiv 1988).

★ ★★ Hintergrund Bei diesem Artikel handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines in »Express. Zeitung für sozialistische Betriebsund Gewerkschaftsarbeit« (Nr. 8 und 9/2003) erschienenen Textes.

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obwohl bereits in den ersten Schilderungen des Aufstandes durch Harpprecht und Bölling auch die (periphere) Revolte von Bauern und einigen Akademikern erwähnt wird, geraten diese anderen Gruppen nun ins Zentrum der Argumentation gegen den »Arbeiteraufstand«. Auf diese Weise bleibt letztlich unerwähnt, dass der »allgemeine Volksaufstand« eben zu drei Vierteln ein Aufstand des Proletariats in der DDR war, zu dem eben auch die Familienangehörigen und große Teile der Angestellten gehörten. In Leipzig beispielsweise hatte die SED – nach Augenschein! – die demonstrierenden Massen wie folgt eingeschätzt: etwa 20.000 Arbeiter, 10.000 Hausfrauen, 10.000 Kleinbürger (wahrscheinlich viele Angestellte) und 2000 bis 3000 Jugendliche. Die Anzahl der am 17. Juni Verhafteten und dann verurteilten Personen bestätigt den sozialen Charakter des Aufstands eindeutig: Der Arbeiteranteil bei den von Gerichten später verurteilten Personen betrug 88 Prozent. Ein zentrales Element der auf Baring zurückgehenden und weit verbreiteten »Stufentheorie« ist die These, dass es einen Übergang vom sozialen Streik der Arbeiter zu einem nationalen Volksaufstand gegeben habe. Doch die Darstellungen der regionalen Abläufe, vor allem in den Zentren Sachsen-Anhalts und Sachsens, widerlegen eine »Stufentheorie«. Selbst in Berlin hatte der Bauarbeiterstreik bereits am Nachmittag des 16. Juni während der Demonstration vor dem Haus der Ministerien keinen ausschließlich sozialen Charakter. Als am Morgen des 17. Juni die Mehrzahl der Betriebe Ostberlins die Arbeit niederlegte, standen die Forderungen nach Rücktritt der Regierung und freien Wahlen gleichberechtigt neben denen nach der Aufhebung der Normen oder der Senkung der Preise der HO (Handelsorganisation, staatliches Einzelhandelsunternehmen). In den Betrieben von Halle, in Leuna, Bitterfeld, Leipzig, Dresden und den Buna-Werken in Schkopau waren die politischen Forderungen ebenfalls zu Streikbeginn am Morgen des 17. Juni aufgestellt worden. Durch die Rekonstruktion der lokalen Abläufe kann nunmehr auch ausgeschlossen werden, was der 17. Juni nicht war: ein faschistischer Putsch oder der berühmte, von westlichen Agenten oder dem RIAS organisierte »Tag X.« Die Spontaneität der Abläufe, die Ungleichzeitigkeit der Aktionen in den einzelnen Betrieben, die dazu führte, dass zahlreiche Betriebe erst am 18. Juni in den Streik traten, führen eine solche Annahme ad absurdum. Zudem konnte die Staatssicherheit diesen Zusammenhang nicht nachweisen, obwohl sie den Auftrag hatte, genau danach zu suchen.

Die Losungen der aufständischen Arbeiterklasse bildeten von Anfang an eine untrennbare Einheit wirtschaftlich-sozialer und politischer Forderungen. Der Ausgangspunkt des sozialen Konfliktes war die Normenfrage. Durch die Einführung der gesetzlichen Erhöhung der Normen um zehn Prozent hätte ein großer Teil der Akkordarbeiter bis zu dreißig Prozent seines Lohnes verloren. Bei steigenden HOPreisen und bei Abschaffung umfangreicher sozialer Leistungen wie der Fahrgeldzuschüsse war der Normenkampf vor allem ein Kampf für die Verteidigung eines Lebensstandards, der immer noch weit unter dem Vorkriegsniveau lag. Zugleich besaßen die Forderungen des 17. Juni auch einen dezidiert egalitären Charakter. Bereits auf der Kundgebung der Ostberliner Bauarbeiter vor dem Haus der Ministerien schleuderte ein Bauarbeiter Minister Fritz Selbmann entgegen, dass man nicht nur die Rücknahme der zehnprozentigen Normenerhöhung, sondern die Abschaffung aller Normen in ganz Deutschland wolle. Das war ein erster Hinweis darauf, dass die Aufständischen sich die Einheit Deutschlands etwas anders vorstellten als das Kapital. Die Losung »Akkord ist Mord!« war außerordentlich populär und in ihrem Bezug auf die Auseinandersetzungen der Weimarer Republik gegenwärtig. Die Kritik am tayloristischen Normensystem zeigte sich auch im Hass auf die Arbeitsdirektoren und die bei ihnen angesiedelten »Arbeitsnormer«, deren Ablösung vielerorts gefordert wurde. Sie galten als Personifizierung der Wiederkehr alter Hierarchien in den DDR-Betrieb. Der egalitäre Charakter der Arbeitererhebung des 17. Juni zeigte sich aber auch in der massenhaften Kritik an den privilegierten Gehältern der betrieblichen Intelligenz, die mit Einzelverträgen zur Mitarbeit am »Aufbau des Sozialismus« gewonnen werden sollte, sowie an den im Verhältnis zu Arbeiterinnen und Arbeitern hohen Gehältern von Partei- und Staatsfunktionären und der Volkspolizei. Die Belegschaft der Elektroschmelze Zschornewitz forderte sogar die Abschaffung aller Gehälter, die über 1000 Mark lagen. Im Forderungskatalog der Belegschaft des Kaliwerks »Deutschland«, wird auch der Versuch erkennbar, Einfluss auf die Planung der Betriebe zu bekommen. Trotz des fehlenden Diskussionsvorlaufes und des Ausbleiben einer breiten gesellschaftlichen Debatte ist eine Tendenz erkennbar, die in Richtung einer erhöhten Einflussnahme auf die wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse des Betriebes weist. Die wirtschaftlich-sozialen Forderungen, die auch in einer zweiten Streikwelle im Juli 1953 noch einmal präzi-

Die Aufständischen stellten sich die Einheit Deutschlands anders vor als das Kapital


schen Teilstaaten verstand, nicht – wie 1989/90 – als die Überstülpung des einen über den anderen. Die Arbeiterklasse von 1990 war immerhin 40 Jahre durch die Schule der SED-Diktatur gegangen, so hatte sie ihre sozialistischen Optionen verloren. Das war 1953 noch anders, als sich mit »Sozialismus« in Ost wie West eine Alternative zu Krieg und Faschismus verband. Die »Berliner Republik« des 17. Juni war also nicht die heutige, auf Sozialabbau und neue Kriege zielende. Sie war ihr Gegenteil. Sie war wohl am ehesten jene Republik, die der SPDVorsitzende Kurt Schumacher als »Staat des demokratischen Sozialismus« bezeichnet hatte und den er mit dem Staatskapitalismus in Ostdeutschland nicht verwechselt sehen wollte. Ob für eine Mehrheit der Arbeiterklasse galt, dass ihr Ziel am 17. Juni die Wiedergewinnung jener basisdemokratischen Freiheiten gewesen war, über die sie unmittelbar nach 1945 in den Betrieben verfügt hatte und von denen sie durch die SED seit 1948 enteignet worden war, wie Axel Bust-Bartel meint, darf bezweifelt werden (Vgl. Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953. Ursachen, Verlauf und gesellschaftspolitische Ziele, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25/1980, S. 24-54). Doch eine radikale soziale Demokratie, die sich aus sozialdemokratischer wie aus freiheitlich-sozialistischer und oppositionell-kommunistischer Tradition speiste, prägte das Antlitz des 17. Juni allemal. Sie ist es wert, dass auf sie zurückgekommen wird. ■

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Bernd Gehrke ist Politökonom. Aufgewachsen in Ostberlin war er seit den 1970er Jahren Linksoppositioneller in der DDR. Heute ist er freier Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

GESCHICHTE

Doch der Aufstand der DDR-Arbeiterklasse war nicht nur nicht restaurativ, er war auch antimilitaristisch. Der Kampf gegen die Aufrüstung war ein zentrales Anliegen und »Butter statt Kanonen« eine der häufigsten Losungen. »Wir brauchen keine Nationalarmee!«, skandierten die Demonstranten, die die erbeuteten Waffen ähnlich wie 1918 nicht gegen ihre Feinde richteten, sondern zerstörten. Erstaunliches sah der spätere SDS-Barde Bernd Rabehl, der den 17. Juni als Jugendlicher in Rathenow erlebte. Demonstranten trugen ein DDR-offizielles Plakat zum 1. Mai. Auf ihm stand: »Nie wieder SSEuropa – Nieder mit den Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland!« Was also wollten die Aufständischen erreichen? Gerade diese zuletzt zitierten Losungen machen deutlich, dass die oft gestellte Forderung nach »freien Wahlen in ganz Deutschland« etwas anderes meinen musste als eine Übernahme der DDR durch das Adenauer-Regime. Hier wurden Wahlen erhofft, die die Spaltungspolitik und die Hochrüstung beider Teile Deutschlands gegeneinander beenden und ein entmilitarisiertes Deutschland schaffen sollten. Dort würde es dann auch mehr Butter geben. Das war das einige Deutschland, welches die aufständische Arbeiterklasse erträumte. Die Forderungen und die politische Kultur, die trotz der nur acht Jahre zurückliegenden Zeit des Faschismus eine erstaunliche Vitalität der Arbeiterbewegungskultur aufwiesen, machen deutlich, dass die Ziele des 17. Juni soziale und politische sowie arbeiterspezifische und allgemein-demokratische Forderungen untrennbar miteinander vereinten. Die Arbeiterklasse in der DDR hatte eine »Berliner Republik« vor Augen, die sie als Alternative zu den deut-

Berlin, 17. Juni 1953: Mit Holzlatten gegen Panzer. Außerhalb der Hauptstadt übernahmen zum Teil Streikräte und Volkskomitees die Macht

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siert wurden, enthalten immer wieder auch Forderungen nach einer Reorganisation der Machtstrukturen in den Betrieben: 1. Die Partei und/oder ihre hauptamtliche Struktur soll aus dem Betrieb verschwinden und ihre Kontrolle über die wirtschaftlichen Abläufe aufgeben, 2. Die Gewerkschaft soll der Kontrolle der Partei entzogen werden, damit sie eine Kampforganisation der Werktätigen wird. Auch wird die Wahl von neuen Betriebsgewerkschaftsleitungen gefordert. Der Ruf nach einer echten und unabhängigen Gewerkschaft erschallt allenthalben, manchmal werden auch Betriebsräte gefordert, nie jedoch die generelle Auflösung des FDGB. Obwohl solche grundlegenden Fragen der wirtschaftlich-sozialen Machtstruktur im Betrieb thematisiert werden, findet sich jedoch nirgends die Forderung nach einer Reprivatisierung der verstaatlichten Großbetriebe! Es sind vor allem die heute sämtlich in den Akten nachzulesenden Forderungskataloge, die nur zu einem Schluss führen können: Der 17. Juni war keine Bewegung zur Restauration des Großkapitals und des Großgrundbesitzes in der DDR.

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GESCHICHTE

Der Fälscher ★ ★★

Vor 30 Jahren starb der antifaschistische Widerstandskämpfer, Maler und Schriftsteller Peter Edel. Er überlebte fünf Konzentrationslager – weil er für die Nazis Geld fälschte Von Florian Osuch

Florian Osuch ist Ingenieur für Drucktechnik, arbeitet als Grafiker in Berlin. Er ist Autor von »Blüten aus dem KZ. Die Falschgeldaktion ›Operation Bernhard‹ im KZ Sachsenhausen« (VSA 2009).

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er Lebensweg des Mannes, der hier nachgezeichnet wird, ist beeindruckend. Aufgewachsen in einer jüdischen Familie in Berlin wurde Peter Edel von den Nazis bereits als Jugendlicher schikaniert. Wegen der »Rassengesetze« musste er das Gymnasium abbrechen und begann eine Ausbildung als Grafiker, lernte zeichnen und malen. Zeitweise war er auch Schüler von Käthe Kollwitz. Dort konnte er aber nur illegal lernen, denn die Faschisten hatten ihre Macht inzwischen gefestigt und kritische Kunst verbannt. Peter Edel, der eigentlich Peter Hirschweh hieß, musste zwischen 1940 und 1943 Zwangsarbeit unter anderem bei Siemens leisten, bis ihn die Nazis wegen »artfremder Kunstbetätigung« in »Schutzhaft«

nahmen. Damals war er gerade einmal 22 Jahre alt, als seine Odyssee durch fünf Konzentrationslager begann. Er überlebte sie alle. Zunächst brachten ihn die Nazis 1943 in das KZ Großbeeren bei Berlin. Seine anschließende Deportation erfolgte in einem Viehwaggon ins Vernichtungslager Auschwitz, wo ihm als Jude die Ermordung bevorstand. Doch es kam anders. Die SS hatte zwischenzeitlich mit einer konspirativen Falschgeldaktion begonnen. Auf Befehl oberster Naziführer war im KZ Sachsenhausen eine moderne Druckerei installiert worden. Die stets um Liquidität bemühte SS wollte so ein europaweites Agentennetz mit falschen Pässen und ausreichend Devisen ausstatten. Zudem planten die Nazis, im großen Um-


fang britische Pfundnoten per Flugzeug über englischen Städten abzuwerfen. Auf diese Weise wollten sie eine Inflation provozieren und Großbritannien in die Knie zwingen. Das Reichssicherheitshauptamt war mit der Durchführung dieser Aktion beauftragt. Es bestand jedoch offenbar Unsicherheit darüber, ob die SS in den eigenen Reihen ausreichend vertrauenswürdige Spezialisten finden würde. Daher entschloss man sich, auf den schier endlosen Bestand von KZ-Insassen zurückzugreifen. Dementsprechend erging ein Suchbefehl an die Kommandanten der Konzentrationslager. Diese hatten alle Häftlinge »aus dem graphischen Gewerbe, Papierfachleute oder sonstige geschickte Handarbeiter« zu melden. Einzige Bedingung: Sie mussten Juden und der deutschen Sprache mächtig sein. Einige Männer meldeten sich freiwillig, um eine Verbesserung ihrer Situation zu erreichen. Der Leiter der Falschgeldaktion, SS-Sturmbannführer Bernhard Krüger, wurde aber auch persönlich in verschiedenen Lagern vorstellig. Im Vernichtungslager Auschwitz selektierte er Peter Edel für sein Kommando. Insgesamt 142 Männer kamen so in zwei streng abgeschirmte Barracken im KZ Sachsenhausen, darunter Drucker, Graveure, Schriftsetzer, Zeichner und ehemalige Bankbeamte. Nach einer Probephase druckten sie in einem Zweischichtbetrieb fast rund um die Uhr »Blüten«, insbesondere britische Pfundnoten. Die Männer stellten fast neun Millionen Scheine in einem Gesamtwert von 134 Millionen Pfund her. Peter Edel fertigte während der KZ-Haft zahlreiche Zeichnungen von Mitgefangenen an. Sie wussten, dass sie für die Nazis kriegswichtige Arbeiten verrichteten, als Experten waren sie jedoch nicht in gleicher Weise austauschbar wie andere Zwangsarbeiter. Schwer erkrankte Häftlinge wurden jedoch skrupellos getötet, um das Projekt nicht zu gefährden. Mehrere Männer entschlossen sich zur Sabotage. In seiner Autobiographie beschreibt Edel diese Aktionen: »Wo immer es ging, setzten Maschinen plötzlich aus, war ein Zubehörteil nicht mehr aufzufinden, gab es plötzlich einen Defekt.« Im Jahr 1944 wies die SS die Männer dann dazu an, US-Dollar zu fälschen. Für Peter Edel bot das die Chance, die Produktion systematisch zu sabotieren: »Die vorläufigen Resultate (der Dollarproduktion, Anm. d. Autors) müssen um (…) unseres Nochweiterlebens willen erfolgversprechend ausschauen, dürfen indessen auch wieder nicht produktionsreif ausfallen, damit immer mehr und mehr Experimente gerechtfertigt erscheinen, wobei ja Pannen und Defekte nicht auszuschließen sind.«

Die Häftlinge konnten die Herstellung der Banknoten massiv hinauszögern. Erst Anfang 1945 begann der Seriendruck, wenige Tage bevor die Produktion in Sachsenhausen eingestellt wurde. Männer, Material und Maschinen wurden im März per Sonderzug ins österreichische KZ Mauthausen verfrachtet. Im Außenlager Redl-Zipf wurde die Werkstatt zunächst wieder aufgebaut. Inzwischen stand das Nazireich jedoch kurz vor der Kapitulation. SS-Wachen ordneten an, sämtliche Unterlagen zu vernichten, Maschinen unbrauchbar zu machen und vorhandene Banknoten und Spezialpapier im nahegelegenen Toplitzsee zu versenken. Den letzten Befehl, die Erschießung der Männer, führten die SS-Wachen dann jedoch nicht mehr aus. Stattdessen überführten sie die Häftlinge ins KZ Ebensee – dort hatten ehemalige Insassen bereits die Kontrolle über das Lager übernommen – und setzten sich ab.

Wann immer es ging, setzten die Maschinen plötzlich aus

★ ★★ WEITERLESEN Peter Edel: Wenn es ans Leben geht. Meine Geschichte (Berlin 1979).

GESCHICHTE

Peter Edel lebte nach Ende des Krieges zunächst zwei Jahre in Österreich und war als Illustrator und Schriftsteller tätig. Im Jahr 1947 zog er zunächst in den Westsektor Berlins, wenige Jahre später dann nach Ostberlin. Vor den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen sagte er 1948 zur Falschgeldaktion aus. Belangt wurde jedoch kein einziger ehemaliger Nazi dafür, auch nicht für den Mord an den erkrankten Häftlingen. Für Peter Edel begann in der DDR eine bedeutsame Karriere als Publizist und Künstler. Vier Jahre war er Mitarbeiter der Zeitschrift »Die Weltbühne«, die bis in die 1960er Jahre auch in Westberlin gelesen wurde. Edel trat der SED bei und erhielt für seine journalistische Arbeit erste Auszeichnungen. Fortan war er als freischaffender Schriftsteller tätig und engagierte sich im Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer und anderen Organisationen. Bekannt wurde er insbesondere durch seinen Roman »Die Bilder des Zeugen Schattmann« (1969), für den er den Nationalpreis der DDR erhielt. Das Werk ist eine literarische Verarbeitung des Holocaust, ausgehend vom Prozess vor dem Obersten Gericht der DDR gegen den Nazijuristen und späteren Chef des Kanzleramtes im Adenauer-Kabinett, Hans Globke. Es wurde drei Jahre später verfilmt und als Vierteiler im DDR-Fernsehen gesendet. Peter Edel wurde Ende der 1970er Jahre Mitglied im Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes. Etwa zur gleichen Zeit registrierte ihn das Ministerium für Staatssicherheit als inoffiziellen Mitarbeiter. Seine zweiteilige Autobiografie »Wenn es ans Leben geht« erschien 1979. Im selben Jahr erhielt er mit dem Karl-Marx-Orden die höchste Auszeichnung der DDR. Peter Edel starb am 7. Mai 1983 im Alter von 62 Jahren in Berlin. ■

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SCHULSTART

Ein verstecktes Sparpaket? Kinder mit und ohne Behinderung sollen in Zukunft gemeinsam lernen dürfen. Doch das Projekt »Inklusion« droht zu scheitern ★ ★★

Nicole Eggers ist wissenschaftliche Referentin für Schul- und Hochschulpolitik der Linksfraktion im Hessischen Landtag.

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Yaak Pabst ist Redakteur von marx21.

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Von Nicole Eggers und Yaak Pabst

eit dem Jahr 2009 gilt in Deutschland die UN-Konvention für Behindertenrechte. Demnach muss jedem Kind der diskriminierungsfreie Zugang zu Bildung gewährleistet werden. Das bedeutet, dass alle die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu allen Bildungseinrichtungen, also auch zu allen Schularten, haben müssen. Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam lernen, sich gegenseitig helfen und fördern. Der Fachbegriff dafür heißt Inklusion.

sprochen wird, findet ihr Ende dort, wo tatsächlich individuell gefördert werden müsste anstatt auszusortieren. »Durchlässigkeit im Schulsystem« mag ein wohlklingender Begriff sein, aber von der Wirklichkeit ist er weit entfernt. So beträgt beispielsweise in Hessen das Verhältnis von »Aufstiegen« zu »Abstiegen« 1 zu 8,7. Das bedeutet, dass auf jeden Schüler oder jede Schülerin, die in eine »höhere« Schulform wechselt, beispielsweise von der Hauptschule auf die Realschule, fast neun Kinder kommen, die auf eine niedrigere Schulform wechseln. Die Förderschulen sind »nach oben« im Grunde also gar nicht durchlässig. Die Anzahl der Schulabgänger ohne Schulabschluss ist bei Menschen mit Behinderung mehr als doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung, Tendenz steigend.

Bund und Länder weigern sich, mehr Geld für Bildung auszugeben

Ungefähr eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Deutschland gelten als »behindert«. Nur 22 Prozent von ihnen besuchen eine reguläre Schule. Den Großteil machen dabei nicht die Schülerinnen und Schüler aus, die eine körperliche Beeinträchtigung haben. Vielmehr besteht die diagnostizierte Behinderung bei 75 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus Lernstörungen, Sprachförderbedarf oder in der sozialen und emotionalen Entwicklung. Unter ihnen ist wiederum der Anteil von Kindern aus sozial schwachen Familien und daher auch von Kindern mit Migrationshintergrund überproportional hoch. Viele dieser Kinder erreichen in den Förderschulen keinen Abschluss und haben kaum eine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt – das Schulsystem sortiert sie einfach aus. Das geschieht oft völlig beliebig und aus Bequemlichkeit, denn ein Kind, das zum Beispiel Schwächen im Lesen hat, in den regulären Klassen ausreichend zu fördern, bedeutet natürlich mehr Aufwand. Da ist es bequemer, das Kind in eine Förderschule zu schicken. Die »individuelle Förderung«, von der gern ge-

Diese Zahlen zeigen: Noch immer sondert das Bildungssystem viele Menschen mit Behinderung aus. Das ist nicht nur diskriminierend für die Betroffenen, sondern führt im späteren Leben häufig zu Armut und sozialer Vereinsamung. Menschen mit Behinderung nehmen seltener am Erwerbsleben teil als Menschen ohne Behinderungen. Während 76,5 Prozent der Menschen ohne Behinderung im Alter von 15 bis 65 Jahren arbeiten, sind es bei Menschen mit Behinderungen lediglich etwa die Hälfte. Frauen mit Behinderungen sind besonders stark von Armut betroffen: Laut Mikrozensus aus dem Jahr 2005 verfügten 32,4 Prozent von ihnen über ein monatliches Nettoeinkommen von weniger als 700 Euro. Für viele Menschen mit Behinderung sind ausreichende Gesundheits- und Altersvorsorgemaßnahmen kaum


mit dem derzeitigen Personal funktionieren kann. An einigen Tagen ist schlicht kein Unterricht möglich«, sagt Dirk Mescher von der Lehrergewerkschaft GEW. Damit Inklusion wirklich stattfinden kann, sind nicht nur deutlich kleinere Klassen und ein höherer Personalschlüssel sowie bauliche Maßnahmen nötig. Jedem Kind muss die Hilfe zugestanden werden, die es braucht, sei es die medizinische Betreuung, die Ausstattung mit Hörgeräten oder speziellen Sehhilfen oder auch Integrationshelfer und Gebärdendolmetscher. Und: Inklusion ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der nicht nur das Schulsystem betrifft. In der Kontroverse über die Forderung, die diskriminierende Aussonderung von Kindern mit Behinderung an den Förderschulen zu beenden, sind vor allem die Betroffenen gefragt, was Inklusion für sie bedeutet. Das alles kostet Geld. Die Schätzungen, wie teuer der Aufbau eines wirklich inklusiven Schulsystems sein wird, variieren ebenso wie die entsprechenden Umsetzungsideen. Doch könnte beispielsweise mit lokalen Aktionsplänen, wie DIE LINKE sie fordert, für die einzelnen Kommunen und Städte eine Finanzplanung erarbeitet werden. Zumindest Kinder mit einer körperlichen Behinderung besuchen vor der Schule schon Kindertagesstätten – der Be-

»Ich sehe was, was du nicht siehst«: Kinder entdecken im Rahmen des Projektes »Pinselklang« im Museum für Gegenwartskunst in Siegen Details von Bildern. Genau wie sie ist auch die Politik auf der Suche, nämlich nach angemessenen Rahmenbedingungen für inklusive Bildung

SCHULSTART

Dass das sehr gut funktioniert, haben in den letzten Jahrzehnten verschiedene Projekte wie die sogenannten GU-Klassen (Gemeinsamer Unterricht) deutlich gemacht. Die besondere Aufmerksamkeit, die die Kinder mit Behinderung dort erfahren, geht keineswegs zu Lasten der anderen Schülerinnen und Schüler. Im Gegenteil: Manfred Hilberg, der seit 15 Jahren GU-Klassen in Frankfurt am Main unterrichtet, ist überzeugt, dass alle Kinder profitieren. Gegenüber der »taz« erklärte er: »Sie lernen Respekt und Toleranz.« Ein solches inklusives Schulsystem würde bedeuten, Schulen organisatorisch, personell und mit Sachleistungen so auszustatten, dass sie jedem Kind und Jugendlichen zugänglich sind. Doch die meisten Regelschulen sind auf Inklusion kaum vorbereitet. Sie sind selten barrierefrei. Eine »Pädagogik der Vielfalt«, die allen Schülerinnen und Schülern gerecht wird, wird dort kaum praktiziert. Stattdessen wurzelt das deutsche Schulsystem noch immer tief im Denken homogener Lerngruppen. Die Kindergärten nehmen viele Inklusionskinder auf, die Grundschulen einige, in den weiterführenden Schulen sind es nur noch wenige und besonders wenige sind es an den Gymnasien. Damit sich das ändert, müssten weitgehende Verbesserungen durchgesetzt werden. Viele Lehrerinnen und Lehrer sowie Wissenschaftler fordern beispielsweise für alle Klassen eine hundertprozentige Doppelbesetzung mit einem allgemeinen Pädagogen und einem Sonderpädagogen. Zudem muss die gute und individuell an den Bedürfnissen der Kinder orientierte Arbeit der Förderschulen an die Regelschulen getragen werden – dieses Know-how ist unverzichtbar. Daher besitzt auch der Gedanke, die Förderschulen für alle Kinder zu öffnen, durchaus Attraktivität. Ein inklusives Schulwesen kann nur mit allen Beteiligten und Betroffenen zusammen gestaltet werden. »Es ist eine Illusion, dass Inklusion

© Inklusion BKJ e. V. / Foto: Julia Schumann / flickr.com / CC BY

möglich. Der Staat gestattet ihnen lediglich ein geschütztes Vermögen in Höhe von 2600 Euro, was drüber liegt wird von den Sozialleistungen abgezogen. Viele Menschen mit Behinderungen sind dadurch in ihrer wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeit dauerhaft eingeschränkt und lebenslang auf ein geringes Lebenshaltungsniveau festgelegt. Im Kampf für gleiche Rechte von Menschen mit Behinderung ist das Konzept der Inklusion deswegen begrüßenswert. Die inklusive Bildung basiert darauf, dass sich die Rahmenbedingungen in den Schulen an den Bedürfnissen und Besonderheiten der Schülerinnen und Schüler ausrichten müssen. Die Schule muss also dem Kind angepasst werden und nicht umgekehrt. Anders ist es bei der »integrativen Bildung«. Dort wird versucht, die zuvor »aussortierten« Kinder den Bedingungen der Regelschule anzupassen. In einem inklusiven Bildungssystem sollen behinderte Kinder schon ab dem Kindergarten gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern lernen.

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© Mareile Kirsch / http:kirschsblog.files.wordpress.com

Unter dem Deckmantel der Inklusion werden immer mehr Förderschulen geschlossen. Das eingesparte Geld wird aber nicht zur Verbesserung der Regelschulen eingesetzt

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darf, der auf die Schulen in unmittelbarer Zukunft zukommen würde, könnte also frühzeitig erfasst und entsprechende Planungen realisiert werden, bis schließlich alle Schulen barrierefrei und inklusiv tätig sind. Fakt ist jedoch, dass das Sonderschulsystem deutlich mehr Kosten als die Regelschulen verursacht. In Thüringen beispielsweise beliefen sich im Jahre 2005 die Gesamtkosten je Förderschüler auf 15.406 Euro, die Kosten pro Schüler auf dem Gymnasium (6191 Euro) oder der Realschule (6898 Euro) lagen deutlich niedriger. Trotzdem ist es nach wie vor eine Tatsache, dass bundesweit etwa 77 Prozent aller Förderschülerinnen und -schüler diese Schulen ohne Abschluss verlassen. Leider spielen die Kosten in der ganzen Diskussion noch eine andere Rolle. Unter dem Deckmantel der Inklusion werden immer mehr Förderschulen geschlossen, ohne jedoch die dadurch eingesparten Kosten in die Regelschulen zu stecken, um diese bedarfsgerecht auszustatten. Inklusion wird zu einem weiteren Mittel der Kürzungen in der Bildungspolitik. In Brandenburg hat sich ein Bündnis gebildet, zusammengesetzt aus Eltern- und Schülervertretung, Sozialverbänden und Schulen, das genau aus diesem Grund gegen die geplante Schließung der landesweit fast 100 Förderschulen im Jahr 2015 protestiert. Auch der Hochsauerlandkreis (HSK) in Nordrhein-Westfalen läuft mit Unterstützung der GEW Sturm gegen die für das kommende

Jahr beabsichtigte Schließung aller Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen. In einem öffentlichen Schreiben heißt es: »Die Schließung der ›Förderschulen L‹ im HSK stellt zurzeit nicht den Inklusionsgedanken in den Vordergrund, sondern bietet unseres Erachtens eine schnelle Möglichkeit zur Einsparung von Geldern.« Durch diese Ressourcenverweigerung ist die Befürchtung vieler Eltern nachvollziehbar, ihre Kinder seien an der Förderschule besser aufgehoben. Doch das deutsche Bildungssystem leidet seit Jahrzehnten an einer chronischen und politisch gewollten Unterfinanzierung. Trotz Unterzeichnung der UN-Konvention und allen Lippenbekenntnissen zur Inklusion, weigern sich die Bundesregierung und fast alle Landesregierungen, mehr Geld für Bildung auszugeben. Die Bundesregierung wälzt die Verantwortung für inklusive Bildung auf die Länder ab. Sie stockt die Mittel für Teilhabeleistungen nicht ausreichend auf und stellt den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention weiterhin unter Kostenvorbehalt. Fast alle Landesparlamente haben aber im Zuge der Schuldenbremse Sparpakete beschlossen. Allein in diesem Jahr sollen in Nordrhein-Westfalen 150 Millionen Euro gekürzt werden. Leidtragende dieser Politik sind die Kinder, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer. Dabei wäre es ein Leichtes, durch eine veränderte Steuer-


»Ein Klassiker über die politische Justiz der Bundesrepublik« DIE ZEIT Ob mit dem Versuch, Carl von Ossietzky zu rehabilitieren, der Verteidigung von Hans Modrow wegen Wahlfälschung, den Verfahren, in denen er Daniel Cohn-Bendit, Günter Wallraff, Otto Schily oder Peter-Paul Zahl verteidigte: Heinrich Hannover hat als Strafverteidiger Geschichte geschrieben. Uwe Wesel schrieb in der ZEIT, dass es sich bei Hannovers Aufzeichnungen um einen der wichtigsten Beiträge zur Rechtsgeschichte der Bundesrepublik handele. Das bleibt von Freund und Gegner unwidersprochen. Heinrich Hannover, der Max-FriedlaenderPreisträger 2012, hat viel zu erzählen und tut dies in einer klaren und schönen Sprache.

»Die Geschichte von Heinrich Hannover ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik – aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel, aber engagiert und unbestechlich.« NDR

Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts 1975-1995

Ob mit dem Versuch, Carl von Ossietzky zu rehabilitieren, der Verteidigung von Hans Modrow wegen Wahlfälschung, den Verfahren, in denen er Daniel Cohn-Bendit, Günter Wallraff, Otto Schily oder Peter-Paul Zahl verteidigte; Heinrich Hannover hat als Strafverteidiger Geschichte geschrieben. Uwe Wesel schrieb in der ZEIT, dass es sich bei Hannovers Aufzeichnungen um einen der wichtigsten Beiträge zur Rechtsgeschichte der Bundesrepublik handele. Das bleibt von Freund und Gegner unwidersprochen.

Der erste Band »Die Republik vor Gericht 1954-1974« ist bereits im Prospero Verlag erschienen.

Klappenbroschur, 570 Seiten, 24,– € ISBN 978-3-941688-41-4

Alles zu unserem Programm gibt es unter www.prospero-verlag.de

Heinrich Hannover, der Max-Friedlaender-Preisträger 2012, hat viel zu erzählen und tut dies in einer klaren und schönen Sprache.

SCHULSTART

Die Republik vor Gericht

Foto: Roland Pfaff

T

Im März hat ein Bündnis von 80 Organisationen, das sich für Inklusion einsetzt, einen Bericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland vorgelegt. Darin heißt es: »Von inklusiver schulischer Bildung ist Deutschland weit entfernt.« Im Kontext der gegenwärtigen politischen Diskussionen, die von Schuldenkrise und Sparzwang geprägt sind, wird der Kampf für Reformen hin zu einem inklusiven Schulsystem nur über erheblichen Druck durchsetzbar sein. Hier kann DIE LINKE gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrerinnen und Lehrern eine wichtige Rolle spielen. ■

SPANNENDE ZEITGESCHICHTE

Heinrich Hannover Heinrich Hannover Die Republik vor Gericht 1975-1995

he

baren Menschen.« Für die Wirtschaft stellt das Bildungssystem nichts anderes dar als Produktionsfabriken von »Humankapital«, das so billig wie möglich hergestellt werden und so schnell wie möglich einsatzfähig sein soll. Menschen mit Behinderung sind nicht so gut ausbeutbar wie Menschen ohne Behinderung. Die Etablierung von Kategorien über Menschen – wie »normal«, »wertvoll« und »leistungsfähig« auf der einen Seite und »nicht-leistungsfähig«, »hilflos« und »unnormal« auf der anderen Seite – verstärkt die Unterdrückung von Menschen mit Behinderung. Das Projekt der Inklusion stellt diese Sichtweisen infrage und stößt deswegen auch auf Widerstand von Seiten des Kapitals.

politik, etwa durch die Einführung der Vermögenssteuer, deutliche Mehreinnahmen zu erzielen und diese auch in den Bildungsbereich zu investieren. Dass das Projekt Inklusion zu scheitern droht, hat einen weiteren Grund: Das Bildungssystem in Deutschland ist eines der selektivsten weltweit. In einer vom Zwang zur Kapitalverwertung getriebenen Wirtschaft bedeutet eine höhere Komplexität des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsprozesses eben nicht, dass alle daran Beteiligten automatisch über ein höheres Maß an Bildung verfügen müssen. Da Bildung teuer ist und gut ausgebildete Arbeitskräfte meist höhere Einkommen beziehen, gab es in der Geschichte des Kapitalismus immer wieder die Tendenz, wissensintensive Tätigkeiten, zum Beispiel in den Bereichen Entwicklung, Organisation und Kontrolle, von ausführenden Tätigkeiten zu trennen. Damit konnten nicht nur Ausbildungs- und Lohnkosten reduziert werden, sondern auch hierarchische Strukturen und Privilegien in den Betrieben und in der Gesellschaft insgesamt reproduziert und legitimiert werden. Kinder und Jugendliche sollen möglichst kosteneffizient für den Arbeitsmarkt ausgebildet werden. Stefan Baron, ehemaliger Chefredakteur der »Wirtschaftswoche«, formulierte es einst so: »Die Berufsbildung steht an der Pforte zur Menschwerdung. Der Weg zum idealen Menschen führt über den brauch-

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SERIE: RADIKALE DENKER

Das Hirn funktionierte weiter In einer neuen Serie stellt marx21 ÂťRadikale DenkerÂŤ vor. Wir beginnen mit dem Leben und Denken des italienischen Marxisten Antonio Gramsci Von Benjamin Opratko

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te. Sie sollte die am stärksten prägende Erfahrung für Gramscis politische Entwicklung werden. Aus dem energischen, aber noch weitgehend einer idealistischen Philosophie des Voluntarismus verpflichteten Aktivisten wurde ein Theoretiker und Stratege der Arbeiterbewegung. Doch es war nicht nur die Beteiligung an den Kämpfen, sondern vor allem die Erfahrung des Scheiterns der Rätebewegung, die Gramscis Perspektive prägen sollte. Das »biennio rosso«, die Jahre 1919 und 1920, als die Turiner Arbeiterklasse de facto weitgehend die Organisation der Produktion und des Alltagslebens in der Stadt übernommen hatte, endete im Herbst 1920 in einer bitteren Niederlage. An seinem Ende stand die Erkenntnis, dass die Rätebewegung nicht nur am Widerstand der straff organisierten Unternehmer Norditaliens gescheitert war, die mit Schlägerbanden und der militärischen Unterstützung des Staates die Bewegung angegriffen hatten, sondern maßgeblich an der eigenen Unfähigkeit, Unterstützung durch weitere Teile der italienischen Arbeiterklasse – insbesondere der Landarbeiterinnen und Landarbeiter – zu erhalten.

Leben bedeutet Partei zu ergreifen

Im Sommer 1919 besetzten streikende Arbeiter in Turin ihre Fabriken und begannen, die Produktion selbstorganisiert wieder aufzunehmen. Gramsci und seine Genossen, die im Mai 1919 die Zeitschrift »L’Ordine Nuovo« (»Die neue Ordnung«) gegründet hatten, argumentierten, dass eine sozialistische Perspektive nur aus den konkreten Erfahrungen und Kämpfen der Arbeiter entwickelt werden könnte. Sie suchten nach existierenden Formen proletarischer Selbstorganisation, die ähnlich wie die Sowjets in der Russischen Revolution zur Grundlage einer neuen Arbeiterdemokratie werden könnten. Als die Kämpfe der Turiner Arbeiter sich ausweiteten, argumentierten sie, dass die »internen Kommissionen« in den Fabriken (bereits existierende Formen betrieblicher Mitbestimmung) solche »embryonale Formen der Arbeitermacht« darstellten. Diese Perspektive traf sich mit den Erfahrungen der streikenden, nach neuen Formen der Selbstorganisation suchenden Arbeiter. Die Transformation der internen Kommissionen in echte Arbeiterräte wurde bald zu ihrer zentralen Forderung. Aus der Streikwelle wurde eine revolutionäre Erhebung, und Gramsci zu einem zentralen Organisator und Agitator der Turiner Rätebewegung, die bis in den Herbst 1920 andauer-

Die Turiner Gruppe um Gramsci musste nun erkennen, dass der Kampf für eine revolutionäre Ausrichtung der PSI aussichtslos erschien. In der historisch entscheidenden Situation hatte sich die Parteiführung gegen die Bewegung entschieden, die die Herrschaft des Kapitals an ihren Wurzeln, in den Betrieben, herausgefordert hatte. Gramsci und seine Genossen zogen daraus die Konsequenz: Am 21. Januar 1921, beschlossen die linken Strömungen der PSI aus der sozialistischen Partei auszutreten und eine eigene Kommunistische Partei Italiens zu gründen. Gramsci wurde in das neue Führungsorgan gewählt und schließlich, im Mai 1922, nach Moskau geschickt, um die neue Partei bei der Kommunistischen Internationale zu vertreten. Während Gramsci in Moskau war und die hitzigen Diskussionen um den Aufbau der nachrevolutionären Sowjetunion miterlebte, bewahrheitete sich in Italien, was »L’Ordine Nuovo« schon im Mai 1920 vorhergesagt hatte. Sollte die Revolution keinen Erfolg haben, werde »eine furchtbare Reaktion der besitzenden Klasse und der regierenden Kaste« folgen, die versuchen würde, »die politischen Kampforganisationen der Arbeiterklasse (…) unerbittlich zu zerschlagen.« Und so geschah es. Auf dem Rücken der geschlagenen Revolution war der Faschismus an die Macht gelangt und versuchte, sozialistische wie kommunistische Parteien und die Gewerkschaften zu vernichten. Im Jahr 1924 kehrte Gramsci nach Italien zurück, zunächst geschützt durch die ihm formal zu-

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Benjamin Opratko ist Politologe an der Universität Wien.

RADIKALE DENKER

I

ch hasse die Gleichgültigen. (…) Ich glaube, dass leben bedeutet, Partei zu ergreifen. (…) Gleichgültigkeit ist Apathie, ist Parasitismus, ist Feigheit, ist das Gegenteil von Leben. (…) Ich lebe, ich bin parteiisch. Deshalb hasse ich den, der nicht eingreift, ich hasse die Gleichgültigen.« Als Antonio Gramsci 1917 diese wütenden Worte schrieb, war er 26 Jahre alt und sechs Jahre zuvor aus ärmlichen Verhältnissen von Sardinien nach Turin gekommen, um zu studieren. Mit einer Gruppe von Freunden, darunter Palmiro Togliatti, Angelo Tasca und Umberto Terracini, hatte er sich bald im Jugendverband der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) organisiert, für den er auch diesen Text verfasste. Sein »Hass auf die Gleichgültigen« richtete sich einerseits gegen jene, welche die bürgerliche Gesellschaft als »natürliche«, alternativlose Ordnung darstellten. Er verlieh aber auch der Haltung einer neuen Generation innerhalb der Arbeiterbewegung selbst Ausdruck, die gegen die »mechanische« Geschichtsauffassung opponierte, die damals in der europäischen Sozialdemokratie dominant geworden war. Sozialist zu sein bedeutete für Gramsci, aktiv und organisiert in die Geschichte einzugreifen – nicht, sich auf vermeintlich eherne Gesetzmäßigkeiten des historischen Materialismus zu verlassen, die den Kapitalismus früher oder später schon zu Fall bringen würden.

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stehende parlamentarische Immunität. Doch am 8. November 1926 wurde er – inzwischen zum Vorsitzenden der Kommunistischen Partei gewählt – trotzdem verhaftet und schließlich wegen Hochverrats zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Die politische Niederlage der italienischen Arbeiterbewegung hatte sich zur persönlichen Tragödie einer ihrer herausragenden Protagonisten ausgeweitet. Antonio Gramsci sollte seine Freiheit nicht wieder erlangen. Den Rest seines Lebens verbrachte er im Kerker, am 27. April 1937 starb er im Alter von 46 Jahren in Rom an den Folgen der Haftbedingungen. Während des Prozesses gegen Gramsci sprach der faschistische Staatsanwalt den Zweck der Inhaftierung deutlich aus: »Wir müssen für zwanzig Jahre verhindern, dass dieses Hirn funktioniert!« Doch er erreichte das Gegenteil. Dass heute, mehr als 75 Jahre nach seinem Tod, immer wieder auf Gramsci in politischen Debatten, in Bewegungen, Gewerkschaften und Universitäten Bezug genommen wird, dass seine Theorien diskutiert und seine Perspektiven weiterentwickelt werden, wurde paradoxerweise erst durch die Tragödie seiner letzten Lebensdekade ermöglicht. Er widersetzte sich der privaten und politischen Isolation der Gefangenschaft und beschloss, die Haftzeit für eingehende theoretische Reflexionen seiner politischen Erfahrungen zu nutzen. Er begann, Notizbücher mit Forschungsnotizen zu füllen, die sich mit unterschiedlichsten Themen befassten: Mehr oder weniger kurze Paragraphen zu Geschichte, Kultur, Politik, Philosophie und Ökonomie, vage geordnet nach übergeordneten Forschungsfragen, knapp 3000 handschriftliche Seiten verteilt auf 32 Hefte. Die Notizen, die in dieser Form nie zur Veröffentlichung vorgesehen waren und unter außergewöhnlichen Bedingungen entstanden – Gramsci hatte keinen Zugriff auf wichtige Literatur, musste häufig Texte aus dem Gedächtnis zitieren und nicht zuletzt seine Sprache so wählen, dass der Gefängniszensor nicht misstrauisch wurde – sind das, was wir heute als Gramscis »Hauptwerk« ansehen. Nach seinem Tod wurden sie nach und nach publiziert, erst in Auswahlbänden, später als Gesamtausgabe. Seit 2002 existieren die »Gefängnishefte« auch komplett auf Deutsch. Ein wahrer Schatz an lebendiger marxistischer Analyse und Theoriebildung, den viele Generationen von linken Aktivisten und Theoretikern aufs Neue entdecken konnten. Eine, ja vielleicht die Leitfrage der Gefängnishefte kann als Fortführung jener Reflexionen betrachtet werden, die Gramsci nach der gescheiterten Rätebewegung von Turin angestellt hatte: Wie können wir die unwahrscheinliche Stabilität der kapitalis-

tischen Ordnung verstehen? Wie werden kapitalistische Verhältnisse über Kämpfe, Krisen und revolutionäre Aufstände hinweg reproduziert? Gramsci betont dazu in den Gefängnisheften, dass die Herrschenden in modernen kapitalistischen Gesellschaften nicht nur durch Gewalt und Repression herrschen, sondern wesentliche Teile der Gesellschaft führen: Sie integrieren die Beherrschten in ihre »Hegemonie«. Hegemonie – dieser Begriff ist der Drehund Angelpunkt von Gramscis politischer Theorie. »Die normale Ausübung von Hegemonie«, schreibt er, »zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne dass der Zwang zu sehr über den Konsens überwiegt«. Die Macht des Kapitals wird also politisch so organisiert, dass die Einbindung wesentlicher Teile der untergeordneten sozialen Gruppen – Gramsci nennt sie die »Subalternen« – gewährleistet wird. Wie wird nun diese Balance aus »Zwang und Konsens« organisiert? Gramsci verweist in den Gefängnisheften auf drei Ebenen. Erstens versuchen soziale Gruppen, ihre Partikularinteressen als Interessen der Allgemeinheit zu formulieren. Wenn etwa Prinzipien der Konkurrenz, des Profitstrebens und des Wettbewerbs von breiten Teilen der Gesellschaft in das alltägliche Selbst- und Weltverständnis aufgenommen und Teil des »Alltagsverstands« werden, ist dies ein entscheidender Aspekt der Hegemonie, der als Universalisierung bezeichnet werden kann. Zweitens muss die führende Klasse ihre ureigensten, »ökonomisch-korporativen« Interessen teilweise überwinden und den Subalternen – Arbeitern und Bauern – materielle Zugeständnisse machen. Diese Ebene der Kompromisse kann ebenso in den unterschiedlichen Phasen kapitalistischer Entwicklung analysiert werden – etwa im »fordistischen« Nachkriegseuropa, als Kompromisse über Lohnpolitik, Einbindung von Gewerkschaften oder wohlfahrtstaatliche Infrastruktur organisiert wurden. Schließlich muss dieser Zusammenhang von diskursiver Universalisierung und materiellen Kompromissen staatlich, also auf politisch-institutioneller Ebene abgesichert werden. Gramsci argumentierte, dass wir den Staat nicht entlang formal-rechtlicher Grenzen verstehen sollten. Wenn der moderne, bürgerliche Staat das Terrain ist, auf dem das Kapital seine Herrschaft als Hegemonie organisiert, dann müssen in der Analyse auch jene Orte und Institutionen zum Staat gerechnet werden, die gemeinhin als »privat« gelten. Zu diesem »privaten Hegemonieapparat« zählt er etwa »die Bibliotheken, die Schulen, die Zirkel und Clubs unterschiedlicher Art, bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und zu den Namen dersel-

Die Überwindung der Gleichgültigkeit kann nur kollektiv organisiert werden

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ben«. Gramsci verwendet für den Zusammenhang von Staat im engeren Sinn (den er »politische Gesellschaft« nennt) und Staat in diesem »erweiterten« Sinn (den er »Zivilgesellschaft« nennt) den Ausdruck »integraler Staat«. Die Zivilgesellschaft ist in diesem Sinne kein positives Korrektiv zu Staat und Markt, wie das in vielen Debatten heute angenommen wird, sondern ein Kampfplatz um Hegemonie. Auf diesen drei Ebenen – Universalisierung, Kompromissbildung und politische Institutionalisierung – wird also nach Gramsci Hegemonie organisiert. Das bedeutet nicht, dass Zwang und Repression im Kapitalismus keine Rolle spielen würden. Polizei und Militär, Gefängnisse und Psychiatrien, Drill in Schulen und Jobcentern und nicht zuletzt der »Stumme Zwang der Verhältnisse«, der die Mehrheit der Menschen zwingt, ihre Arbeitskraft »wie die eigne Haut« zu Markte zu tragen (Marx) – all diese Zwangsverhältnisse sind nur allzu real und aktuell. Sie müssen aber, argumentiert Gramsci, selbst hegemonial abgesichert werden. Die Gewalt der Grenzwachen, Polizisten und Aufseher ist auf gesellschaftlichen Konsens angewiesen. Und dieser kann brüchig werden, wie etwa in erfolgreichen Kampagnen des zivilen Ungehorsams oder wenn es gelingt, bestimmte, lange etablierte Formen patriarchaler Gewalt zu skandalisieren. Diese kurzen Schlaglichter der Theorie der Hegemonie lassen erahnen, weshalb es auch heute noch sinnvoll und produktiv sein kann, sich mit Gramscis Werk zu beschäftigen. Ein Aspekt soll jedoch noch besonders hervorgehoben werden. Er betrifft die Frage, wer denn eigentlich den Konsens der Subalternen herstellt. Gramsci bezeichnet diese Akteure als »organische Intellektuelle«. »Intellektuell« meint in diesem Zusammenhang nicht, dass diese Akteure besonders klug oder belesen wären, sondern dass sie »organisierende Funktionen in weitem Sinne sowohl auf dem Gebiet der Produktion als auch auf dem der

Kultur und auf politisch-administrativem Gebiet« ausüben. Abteilungsleiterinnen und Ingenieure, Lehrer, Journalistinnen, Werbetexter oder wer sonst »was mit Medien« macht, organisieren bewusst oder unbewusst den Alltagsverstand, indem sie Weltauffassungen, Selbstverständnisse, Normen und Werte zivilgesellschaftlich ausarbeiten und durchsetzen. Letztlich ist es aus Gramscis Perspektive das übergeordnete Ziel, die Hegemonie einer sozialistischen Perspektive zu organisieren. Dafür ist es notwendig, eigene organische Intellektuelle hervorzubringen. Für die politische Strategie der Linken bedeutet das, dass es nicht ausreicht, für Demonstrationen und Besetzungen zu mobilisieren oder Streiks zu organisieren. Diese Elemente politischer Strategie müssen durch langfristige Bemühungen ergänzt werden, die auf die Alltagspraxen, gesellschaftlich verbreitete Selbst- und Weltverständnisse, kurz: auf den Alltagsverstand abzielen. Gramsci verwendete für diese Aspekte die Metaphern »Bewegungskrieg« und »Stellungskrieg« – ohne die langfristige Organisierung von letzterem kann ersterer nie über punktuelle Teilerfolge hinaus gelangen, kann wahre Emanzipation nicht gelingen. Die Herausforderung ist, dass sich das Kapital die eigenen Intellektuellen quasi nebenher selbst schafft. Die Subalternen dagegen, betont Gramsci, müssen ihre eigenen Intellektuellen, ihre Aktivisten und Theoretiker, bewusst selbst hervorbringen. Ihre Aufgabe ist es, gegen Passivität und Unterordnung zu agitieren und möglichst viele Menschen zu befähigen, gemeinsam in die Geschichte einzugreifen. Der Hass des jungen Gramsci auf die Gleichgültigen wird so in den Gefängnisheften zur Erkenntnis geformt, dass die Überwindung der Gleichgültigkeit nur kollektiv organisiert werden kann. Der Anspruch jedes sozialistischen Projekts, das diesen Namen verdient, müsse es sein, die »Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig zu machen«. Dafür, so Gramsci, gilt es, sich politisch zu organisieren. ■

★ ★★ WEITERLESEN Benjamin Opratko: Hegemonie. Politische Theorie nach Antonio Gramsci (Westfälisches Dampfboot 2012).

RADIKALE DENKER

© wikimedia / Jose Antonio

Streikende Arbeiter in einer Turiner Fabrik im Sommer 1919: Die Welle von Betriebsbesetzungen ging als »biennio rosso«, die zwei roten Jahre, in die italienische Geschichte ein. Gramsci wurde zu einem zentralen Organisator und Agitator dieser Bewegung. Sie sollte die am stärksten prägende Erfahrung für Gramscis politische Entwicklung werden

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KLASSIKER DES MONATS

Geschichte und Klassenbewusstsein Vor 50 Jahren erschien mit E. P. Thompsons Buch über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse das Pionierwerk der neueren Sozialgeschichtsschreibung Von Christoph Jünke

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Christoph Jünke lebt als Historiker und Publizist in Bochum. Im Herbst erscheint im Laika-Verlag sein neues Buch »Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert«, in dem er auch ausführlich das Leben und Werk von E.P. Thompson würdigt.

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ie Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen, lesen wir im Kommunistischen Manifest von 1848. Wenn wir aber, fragte sich der britische Marxist und Historiker E. P. Thompson mehr als hundert Jahre später, »die Geschichte an irgendeinem Punkt anhalten, finden wir keine Klassen, sondern schlicht und einfach eine Vielzahl von Individuen mit einer Vielzahl von Erfahrungen«. »Betrachten wir jedoch diese Menschen«, fuhr er im Vorwort seines 1963, vor nun 50 Jahren, erstmals erschienenen Werkes über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse fort, »während einer ausreichend langen Zeitspanne gesellschaftlicher Veränderung, so erkennen wir Muster in ihren Beziehungen, ihren Ideen und ihren Institutionen. Indem Menschen ihre eigene Geschichte leben, definieren sie Klasse, und dies ist letztes Endes die einzige Definition.« »The Making of the English Working Class« – der englische Originaltitel ist bewusst mehrdeutig und so nicht ins Deutsche zu übersetzen – wurde nicht nur, aber auch wegen des in ihm sich ausdrückenden Klassenbegriffs zum vielleicht bedeutendsten Pionierwerk der neueren Sozialgeschichtsschreibung. »Es heißt Making«, schreibt Thompson im Vorwort, »denn was hier untersucht wird, ist ein aktiver Prozess, Resultat menschlichen Handelns und historischer Bedingungen. Die Arbeiterklasse trat nicht wie die Sonne zu einem vorhersehbaren Zeitpunkt in Erscheinung; sie war an ihrer eigenen Entstehung beteiligt.« Klasse ist ihm also nichts Statisches, sondern etwas zutiefst Dynamisches, weniger eine analytische Kategorie und Struktur als vielmehr eine Handlung. Klassen sind historische Produkte, etwas Fließendes, aktiv zu Konstruierendes, »etwas,

das sich unter Menschen, in ihren Beziehungen, abspielt«, etwas, das ohne die Kategorie von »Erfahrung« nicht gedacht und verstanden werden kann. Klassen- und Klassenkämpfe sind nicht auf die Ökonomie zu reduzieren, sondern umfassen Ökonomie und Politik ebenso wie Kultur und soziale Traditionen. Und die daraus abzuleitende Klassenanalyse ist deswegen für Thompson vor allem die Analyse von Klassenbewusstsein. In der auch intellektuell bleiernen Zeit der beginnenden 1960er Jahre wirkten Thompsons Thesen wie ein Augenöffner. Seine Reaktivierung aktivistischer Elemente im marxistischen Theoriegebäude verfehlte seine befreiende Rolle auch auf die in traditionellen Bahnen befangene Linke nicht und sein Werk wurde zu einem Manifest der Neuen Linken. Thompson und seine Genossen – unter anderem aus der sogenannten »britischen Schule« marxistischer Geschichtsschreibung – wollten den alten marxistischen Dogmatismus überwinden, jenen Ökonomismus eines starr deterministischen Geschichts- und Klassenverständnisses, wie er sowohl für die sozialdemokratische als auch die kommunistisch-stalinistische Theorietradition der ersten Jahrhunderthälfte so typisch gewesen ist. Und was bald den Namen einer »Geschichte von unten« bekommen sollte, hier findet man sie thematisiert als alternative Gegengeschichte zur herrschenden Geschichtsschreibung großer Persönlichkeiten, Institutionen und Strukturen. In seinem über eintausend Seiten starken Buch untersucht Thompson die historische Herausbildung der englischen Arbeiterklasse im beginnenden 19. Jahrhundert. Auf der Suche nach der Logik des plebejischen Aufbegehrens lässt er die Besiegten der


Open-Air-Meeting der Chartistenbewegung in London im April 1848. Die Chartisten waren die erste große Bewegung der englischen Arbeiter und, wenn überhaupt, dann nur bestimmte Fragmente daraus zur Kenntnis genommen wurden, hat durchaus seine eigene Logik. Ein sich zur kommunistischen Tradition bekennender Historiker, der in der Erwachsenenbildung mehr Sinn und Erfüllung findet als in der akademischen Welt; ein dissidenter Kommunist, der sich als Antistalinist und Klassenkämpfer dem sozialistischen Humanismus verpflichtet weiß; ein demokratischer Sozialist, der sich der Sozialdemokratisierung letztlich verweigert und sensibel jede Form des politisch-theoretischen Elitismus aufspürt und anprangert; ein Internationalist, der gleichzeitig in der eigenen nationalen Kultur nicht nur verwurzelt ist, sondern diese Volkstümlichkeit auch politisch-strategisch vertritt; ein arbeiterbewegter Moralist, der nicht nur wissenschaftliche Standards einhält, sondern auch wissenschaftliche Trends zu setzen vermag – man braucht Thompson nur auf die ihn charakterisierenden Begriffe zu bringen und versteht sogleich, warum ein solcher Ansatz im doppelten Deutschland des Kalten Krieges keine Wurzeln zu schlagen vermochte. Im Angelsächsischen ist dies anders. Dort wird in diesem Jahr dem 50-jährigen Jubiläum der Veröffentlichung des Buches mit vielen Beiträgen, Tagungen und Gedenkveranstaltungen gedacht. Dabei steht dieser Klassiker durchaus nicht außerhalb der Kritik. Doch Klassiker sind Klassiker, weil sie ein geistiges Fundament abgeben, auf welchem man produktiv und schöpferisch weiterarbeiten kann und muss. Erneuern und weiterentwickeln kann man jedoch nur das, was man auch gelesen und verarbeitet hat. ■

★ ★★ DAS BUCH

Die deutsche Fassung von E.P. Thompsons monumentaler Studie über Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse (1963/68) erschien 1987 im Suhrkamp-Verlag und ist nur noch antiquarisch erhältlich. Eine anregende Diskussion der Aktualität Thompsons findet sich bei Ellen Meiksins Wood: Demokratie contra Kapitalismus. Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus (ISP-Verlag 2010).

KLASSIKER DES MONATS

Dass Thompson das deutschsprachige Spektrum von Historiografie und linker Politik nur marginal beeinflusst hat, dass es nie zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit seinem Werk gekommen ist,

© wikimedia

Geschichte, ihre Kämpfe und Vorstellungen, ihre Kultur und ihren Widerstandsgeist wieder lebendig werden, und führt uns ein in die Welt der Wanderarbeiter und Handwerker, der Weber und Bergleute, der politischen Aktivisten und Ideologen. Er erinnert an die indigenen und exogenen Traditionen des britischen Nonkonformismus und vertieft sich in die Welt der Maschinenstürmer und Verschwörer mit ihren gemeinschaftlichen Ritualen, mit ihrer Mischung aus Rebellion, vorwärtsweisenden Taten und rückwärtsgewandter Utopie. Anhand der Hunger- und Brotrevolten jener Zeit verdeutlicht er schließlich die in ihnen zutage tretenden spezifisch rationalen Wertvorstellungen, ihre »moralische Ökonomie«. Der Kampf gegen den Hunger und für die menschliche Würde verbindet sich nämlich in dieser frühen Arbeiterbewegung mit dem Kampf um Freiheit und Demokratie, mit dem Kampf um die Freiheit zur Artikulation und Organisierung der eigenen sozialen Bedürfnisse und Interessen. Thompson hat damit nicht nur eine vom geschichtswissenschaftlichen Mainstream weitgehend verdrängte Geschichte wieder lebendig werden lassen. Er hat den vergangenen Kämpfen des plebejischen Radikalismus nicht nur ihren Eigensinn wiedergegeben. Es ging ihm in diesem wie in seinen späteren Werken immer auch darum, mit dieser Erinnerungsarbeit zur Reaktivierung rebellischer Traditionen beizutragen. Geschichtsschreibung fungierte ihm zeitlebens auch als ein Mittel der Kritik, als eine Möglichkeit, die ideologischen Denkgewohnheiten neokapitalistischer Geschichtslosigkeit aufzubrechen und das für selbstverständlich Genommene in Frage zu stellen. Sie diente ihm dazu, gegen die dem Kapitalismus eigene Marktlogik zuallererst anzudenken und aufzuzeigen, dass der Kapitalismus nicht als das von seinen Befürwortern behauptete natürliche Ergebnis menschlicher Geschichte betrachtet werden sollte – dass der Markt kein unvermeidbares, natürliches, ewig währendes Gesetz ist, wie besonders Ellen Meiksins Wood in ihren Arbeiten im direkten Anschluss an Thompson immer wieder betont hat. In der Vergangenheit von sozialen und gesellschaftlichen Kämpfen immer auch ihre erneute Möglichkeit und die damit möglichen Lehren jener für diese zu erkennen – diese moralische Leidenschaft, mit der Thompson auch später immer wieder politischtheoretische Gegenwartsbezüge seiner historischen Forschungen zum 18. und 19. Jahrhundert hervorhob, zeichnete ihn zeitlebens aus. Anders als für viele zeitgenössische und spätere Marxisten blieb für ihn das alte Marxsche Diktum aktuell, dass die Kritik nicht die Leidenschaft des Kopfes, sondern der Kopf der Leidenschaft zu sein hat.

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KULTUR

© Richard Hubert Smith

Aufführung von Wagners Spätwerk »Parsifal« in London im Februar 2011. Es dokumentiert die reaktionären Positionen, bei denen Wagner mittlerweile angelangt war: »Rasse« und »Blutreinheit« spielen darin zentrale Rollen

Ersehnte Göt Den Komponisten Richard Wagner auf seine antisemitischen Auslassungen zu reduzieren, ist zu einfach. In jungen Jahren war er ein bürgerlicher Revolutionär und musikalisch ebnete er den Weg in die Moderne Von Simon Behrman und Rosemarie Nünning

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ie musikalischen Dramen Richard Wagners, dessen 200. Geburtstag wir in diesem Jahr begehen, zählen zu den bekanntesten Werken der klassischen Musik. Sie werden regelmäßig in allen großen Opernhäusern aufgeführt und die Eintrittskarten sind sofort ausverkauft. Dennoch bleibt Wagner ein höchst umstrittener Künstler. Für viele sind er und seine Musik untrennbar mit Antisemitismus und Nationalsozialismus verknüpft. In Israel dürfen seine Werke faktisch nicht aufge-

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führt werden. In nahezu allen Dokumentationen über Hitler wird Wagner als ein geistiger Ziehvater des nationalsozialistischen Deutschlands und Hitlers Hingabe an die Werke des Komponisten erwähnt. Tatsächlich gibt es bedauerlicherweise auf vielen Ebenen Verbindungen zwischen Wagner und den Nazis, dennoch wäre es zu einfach, sein Leben und Werk nur als eine Art Vorläufer des Faschismus zu betrachten. Vor allem wird dies den wirklich revolutionären Aspekten in Wagners Leben nicht gerecht.


Als Richard Wagner in den 1840er Jahren die musikalische Bühne betrat, befand sich die europäische Musik in der Krise. Das Erbe Beethovens warf einen langen Schatten. Mit ihm schien Musik als Ausdruck großer Themen und heroischer Ereignisse seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Die Nachfolger, wie Felix Mendelssohn-Bartholdy und Robert Schumann, wendeten sich daraufhin sehr viel intimeren Formen zu. Auf der anderen Seite wurden volkstümlichere Komponisten wie Gioachino Rossini, Giacomo Meyerbeer und Niccolò Paganini berühmt. Das Zeitalter einer Musik, die einer in Bewegung geratenen Geschichte Ausdruck verleiht, schien sein Ende erreicht zu haben. Diese Entwicklung spiegelt den Niedergang der großen europäischen Revolutionszeit wider, die im Jahr 1789 begonnen und mit Napoleons endgültiger Niederlage im Jahr 1815 geendet hatte.

Anfangs experimentierte Wagner mit verschiedenen Kompositionsstilen, meist in Anlehnung an die italienische und französische Oper. Er hatte sich inzwischen auch einen Namen als Kapellmeister der Dresdner Hofoper gemacht. Politisch radikalisierte er sich, er schloss Freundschaft mit dem Anarchisten Michael Bakunin, der sich seinerzeit in Dresden aufhielt, sowie dem Musikdirektor August Röckel und dem Architekten Gottfried Semper, beides überzeugte Republikaner. In Dresden war Wagner bald als »der rote Demokrat« bekannt. Als im Jahr 1848 erneut die Revolution in Europa ausbrach, erfasste sie im Mai 1849 auch Dresden. Wagner warf sich an vorderster Stelle in den Aufstand. Er verteilte Flugblätter und hielt Wache auf dem Dresdner Kreuzturm. In den Akten des Justizministeriums wurde seinerzeit die Beschuldigung erhoben, Wagner habe seinen Garten zur Verfügung gestellt, um dort »Besprechungen über Volksbe-

KULTUR

terdämmerung 83


★ ★★ Rosemarie Nünning ist Mitglied der LINKEN in Berlin. In ihrer spärlichen Freizeit hört sie gern klassische Musik.

Simon Behrman ist Verfasser des Buches »Shostakovich: Socialism, Stalin & Symphonies« (Redwords 2011). Er schreibt regelmäßig für die englische Zeitschrift »Socialist Review«.

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waffnung zu halten«, gemeinsam mit Röckel Handgranaten bei einem Gelbgießer bestellt und Semper zum Bau besserer Barrikaden angeregt. In einem Gedicht schrieb er unmittelbar nach dem Aufstand: »Schwört bei den frischen Hügeln, hebt die Rechte: / Zu dulden nicht mehr Herren oder Knechte. / Als Menschen jeden Menschen gleich zu achten, / Als Bruder jeden Menschen zu betrachten.« Nach der Niederschlagung der Revolution musste er ins Exil in die Schweiz fliehen. Später spielte er seine Teilnahme an dem Aufstand herunter.

kann sich mit der Natur versöhnen. Kein Wunder, dass George Bernard Shaw den »Ring« als eine antikapitalistische Parabel begriffen hat. Wagner verbindet in seiner Reaktion auf die gescheiterte Revolution von 1848 einen romantischen Antikapitalismus, der sich auf eine mythische vergangene Naturwelt bezieht, mit einem aggressiven Ultranationalismus. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und das Scheitern der Revolution danach brachten ein ähnliches ideologisches Gebräu und den Nationalsozialismus hervor. Die Identifizierung der Nazis mit Wagner ist deshalb kein Zufall. Diese Nähe wurde noch unterstrichen durch die enge Verbindung der Wagner-Familie mit dem Naziregime, weshalb Wagner und die Nazis als Teil eines dem Wesen nach deutschen Antisemitismus gesehen werden. Kurioserweise waren zwei wichtige Akteure bei der Herstellung dieser Verbindung aber britischer Herkunft: Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, der ein einflussreiches Werk des Rassenantisemitismus schrieb, und seine (erst nach Richard Wagners Tod geborene) Schwiegertochter Winifred Wagner, die zur persönlichen Freundin Hitlers wurde. Dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Wagner und den Nazis: Hitler und seine Partei waren immer Reaktionäre und überzeugte Feinde einer Revolution gewesen. Wagner hatte zunächst mit Leib und Seele für die Revolution gekämpft und sich erst später zu einem politischen Reaktionär entwickelt. Der Konflikt zwischen revolutionärer Politik, Enttäuschung über ihr Scheitern und dem Sog der Reaktion ist ein faszinierendes Motiv in Wagners Schaffen und insbesondere im »Ring«. Mit diesem Werk erneuerte Wagner eine Tradition, die mit Beethoven untergegangen war: Die Musik als Ausdrucksmittel für große historische Themen.

Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Wagner und den Nazis

In dieser Zeit vollzieht Wagner eine politische Wende. Zwei Jahre lang versuchte er, die Niederlage zu verarbeiten. Er veröffentlichte anonym einen Artikel mit dem Titel »Das Judentum in der Musik«. In diesem scheußlichen antisemitischen Traktat schmäht er jüdische Komponisten wie Mendelssohn-Bartholdy als wurzellos und deshalb unfähig, wahrhaft große Kunst zu schaffen. Diese, schrieb er, sei national im Charakter und müsse in der Volkstradition wurzeln. Damit vertrat er nun eine Politik der Demoralisation: Für die Niederlage der bürgerlichen Revolution suchte er einen Sündenbock unter den Unterdrückten, anstatt weiter gegen die Unterdrücker zu kämpfen. Gleichzeitig begann Wagner mit der Arbeit an seinem monumentalen vierteiligen Opernzyklus »Der Ring des Nibelungen«. Auch dieser lässt sich als Antwort auf das Scheitern der Revolution von 1848 interpretieren, weist aber progressivere Züge auf. Es geht um Liebe, Habgier und Verrat. Im Mittelpunkt dieser Sage steht der Diebstahl von Gold. Das Gold lag auf dem Grund des Flusses Rhein und wurde wegen seiner Schönheit gehütet und angebetet. Die Figur des Nibelungen Alberich entsagt der Liebe, um das Gold zu entwenden und seine Macht zu entfesseln. So schwingt er sich zum Herrscher seiner Gefährten, der Nibelungen, auf. Das Zwergenvolk, das tief unter der Erde in Nibelheim lebt, muss nun unter seiner Knute das Gold verarbeiten. Die Musik, die die Sklavenarbeit begleitet, ist inspiriert von den metallischen Geräuschen des Londoner Hafens, den Wagner besichtigt hatte. Laut seiner Ehefrau Cosima habe er festgestellt: »Der Traum Alberichs ist hier erfüllt, Nibelheim, Weltherrschaft, Tätigkeit, Arbeit, überall der Druck des Dampfes und Nebel.« Im »Ring« wird das Gold noch weiter entwertet, als der kriegerische Gott Wotan damit den Bau der Götterburg Walhalla bezahlt. Wotan kann jetzt die Herrschaft der Götter über die Welt errichten und die Natur dem Gesetz unterordnen. Am Ende des Epos wird die Herrschaft der Götter und der Habgier gestürzt (die Götterdämmerung) und die Menschheit

Wagners spätere Arbeiten waren geprägt von seinem Streben, das »Gesamtkunstwerk« zu schaffen. Diese Idee umfasste zwei Aspekte: Erstens versuchte er verschiedene Künste – Musik, Drama, Prosa – in einer einzigen ausdrucksvollen Form zu vereinen. Zweitens wollte er die Trennung zwischen Kunst und Alltagsleben überwinden. Wagner beschrieb seine Werke als einen Spiegel, den er dem Publikum vorhalte und durch den die Menschen ihre Welt besser verstehen könnten. Die volkstümlichen Themen in vielen seiner Werke sollen deshalb nicht einfach nur ein Blick in eine mythische Vergangenheit sein, sondern die Spannungen im Herzen der modernen Gesellschaft beleuchten. Mithilfe der Welt der nordi-


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Barrikadenkämpfe am Berliner Alexanderplatz in der Revolution von 1848 (oben). Nach Abebben der revolutionären Welle wurden viele der bürgerlichen Kämpfer konservativ, unter ihnen auch Richard Wagner (unten)

Und dennoch setzt Wagner mit »Parsifal« die musikalische Revolution fort, die er mit dem »Ring« begonnen hatte. Auch »Tristan und Isolde«, eine Feier der erotischen Liebe, wies über den ausgeprägten Romantizismus in Beethovens Spätwerken hinaus. Der berühmte, unaufgelöste Einleitungsakkord aus »Tristan« öffnet die Tür zur Atonalität und der modernen Klassik des 20. Jahrhunderts. »Parsifal« regte den französischen Komponisten Claude Debussy zu seinem ätherischen Stil an. Ironischerweise war die »Neue Musik«, die die Nazis später als »entartete Musik« verboten, die logische Folge von Wagners Revolution in der Musik. Das verdeutlicht, dass Wagner immer ein künstlerischer Revolutionär war, egal wie reaktionär er politisch wurde. Hitlers Verehrung für Wagners Werke und die gleichzeitige mörderische Kampagne gegen die »entartete Kunst« belegen nur das Banausentum der Nazis. Es kann nicht darum gehen, Wagners Kunst und Politik völlig getrennt zu betrachten. Gerade bei jemandem, der so dezidiert seine Ansichten über die Welt in seine Kunst gegossen hat, ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Leidenschaften und Widersprüche machen ihn zweifellos zu einem unangenehmen Zeitgenossen, sowohl wegen seiner politischen Einstellung als auch wegen seines persönlichen Lebens. In seinen Werken jedoch schlägt sich das auf bewegende Weise nieder, in der Wahl der Themen, der sinnlichen und hypnotischen Komposition, der spannenden Erzählung. Wagner der Mensch und Wagner der Künstler sind zu komplex und faszinierend, um ihn den Kleingeistern des Faschismus zu überlassen. ■

KULTUR

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schen Mythen kritisiert er im »Ring« den modernen Kapitalismus. In »Parsifal«, seinem letzten Werk, bedient sich Wagner der Legende vom christlichen Heiligen Gral, um das allgemeinere Thema der verlorenen Unschuld und der Erlösung zu behandeln. Ein weiteres Leitmotiv in »Parsifal« ist die Frage von Rasse und Blutreinheit. Zu dieser Zeit hatte der Rassismus bereits die Revolution als Hauptthema seiner Kunst ersetzt.

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Alfons Kiefer, "Marx-Statue", Acryl auf Karton, 2008. Š Alfons Kiefer

Review


AUSTELLUNG

Karl Marx – Kultbilder und Bilderkult

Vom wilden Jüngling zum Vasenmotiv Ein weiser Mann mit Bart – so kennt man Marx. Eine Ausstellung in Trier zeigt die vielfältige Geschichte von Darstellungen des radikalen Denkers Von Christian Baron herrschenden Linie, politische Konsequenzen aus der Kritik der Politischen Ökonomie ziehen zu wollen, sei eine überholte Idee. Jedoch zeigen die rund 150 Exponate, dass Trier seinen Marx allmählich aus der Schmuddelecke der Geschichte holt, denn die Ausstellung vermittelt ein gutes Bild der Wirkungsgeschichte dieses Mannes. So wird hier erklärt, warum wir uns Marx heute nur als weisen Rauschebartträger vorstellen können. Es ist dem schlichten Umstand geschuldet, dass kein als authentisch belegtes Jugendbild existiert; die wenigen Zeichnungen aus der Vor-BartÄra lassen einen wild entschlossenen jungen Mann erahnen. Aber auch der getreue Friedrich Engels hat seinen Anteil an dem im kollektiven Bewusstsein verankerten bärtigen Marx. Nach dessen Tod ließ er Abzüge einer Fotografie von 1875 anfertigen, die um die Welt ging und die Grundlage für die Ikone Marx bildet: der Revolutionär ganz leger im Anzug auf einem viktorianischen Stuhl sitzend, die rechte Hand napoleonisch im Jackett verstaut. Nahezu alle späteren Bilder beruhen auf dieser Fotografie, sei es eine mit Marx-Konterfei verzierten Vase aus dem Russland

der 1960er Jahre, ein 1990 entstandenes Satireplakat von Roland Beier (eine Marx-Karikatur mit dem Ausspruch: »Tut mir leid Jungs! War nur so ’ne Idee von mir…«) bis hin zu Jonathan Meeses Grafik »Erzmarx« (2007). Bei Marx, so lehrt die Schau, haben wir es immer auch mit einer Chiffre der jeweiligen Zeit zu tun. Im revolutionären Russland noch als einer unter vielen Leitsternen der Arbeiterbewegung dargestellt, entwickelte sich das Marx-Bild nach der Etablierung des Stalinismus zur gottgleichen Erscheinung. In der postdemokratischen Ära seit dem Ende des Kalten Krieges schließlich avancierte Marx zunehmend zu einem leeren popkulturellen Symbol ohne Bedeutung. Wie sich das Marx-Bild künftig entwickeln könnte, lässt auch ein Exponat der Ausstellung erahnen. Den Abschluss nämlich bildet ein Cover der rechten Schweizer Zeitung »Weltwoche« zur Zeit der Lehman-Brothers-Pleite im Jahr 2008. Es zeigt Marx als Freiheitsstatue mit dem »Kapital« in der einen und Hammer und Sichel in der anderen Hand, die Überschrift dazu lautet: »Die plötzliche Rückkehr der Planwirtschaft«. ■

★★ ★ Ausstellung Ikone Karl Marx – Kultbilder und Bilderkult Stadtmuseum Simeonstift Trier noch bis zum 18. Oktober 2013 Katalog Stadtmuseum Simeonstift Trier (Hrsg.) Ikone Karl Marx – Kultbilder und Bilderkult Verlag Schnell und Steiner Regensburg 2013 320 Seiten 34,95 Euro (im Museum 29,80 Euro)

REVIEW

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as Geburtshaus der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher beherbergt heute eine Praxis für alternative Heilmethoden. Was würden wohl die Apologeten der kürzlich verstorbenen Mutter des politischen Neoliberalismus sagen, wenn die Bergarbeitergewerkschaft, die einst durch Thatchers Politik marginalisiert wurde, das Haus gekauft und ihr dort ein Museum eingerichtet hätte? Zugegeben, das klingt unrealistisch, denn die Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben. Und nur deshalb ist eine ähnliche Konstellation unter umgekehrten Vorzeichen in Trier möglich: Seit 1968 befindet sich das dortige Geburtshaus von Karl Marx ausgerechnet im Eigentum der SPD-nahen FriedrichEbert-Stiftung. So verwundert es nicht, dass die Ausstellung im Trierer Stadtmuseum »Ikone Karl Marx« anlässlich seines 100. Todestages unter anderen von der langjährigen Leiterin des KarlMarx-Hauses, Beatrix Bouvier, kuratiert wird. Was aber erstaunt, ist der sachliche Grundton der Sonderschau. Auf die inhaltliche Darstellung von Marx‘ Werk wird zwar verzichtet, gemäß der in der SPD vor-

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ach, Frankreich! Flirrende Straßencafés, Kultur an jeder Straßenecke, der Wein fließt in Strömen und die Arbeiter sind wehrhaft wie sonst nirgendwo in Europa. Während das savoir-vivre, wörtlich zu-leben-wissen, bei uns das Ideal eines jeden Gourmets und Weltenbummlers ist, wird es unter Franzosen bloß im Sinne von gute Umgangsformen gebraucht. Was uns ein Hochgenuss, scheint den Franzosen obligat zu sein. Und auch musikalisch scheinen wir unserem Nachbarland bei Weitem nicht das Wasser reichen zu können. Heißen Schlagersänger und Schnulzendrescher hierzulande Andrea Berg und Udo Jürgens, haben sie jenseits des Rheins wohlklingende Namen wie Édith Piaf und Yves Montand. Selbst Popmusik scheint in Frankreich weniger Abfallprodukt ewiggleichen Radiogedudels zu sein, als vielmehr melodiöse Ausdrucksform echter zwischenmenschlicher Gefühle. Eben jene Klischees bedienend begeisterte im Jahr 2010 die Nouvelle-Chanson-Sängerin Zaz mit ihrem selbstbetiteltem Debütalbum, das sich in Frankreich und Belgien eine ganze Weile auf Platz eins der Albumcharts halten konnte und es in Deutschland mit fünfmonatiger Verspätung dann auch noch auf Platz drei schaffte. Zaz’ Markenzeichen ist eine Mischung aus fröhlich-naivem Auftreten, Straßenromantik und einer Stimme, die mitunter klingt, als habe sie ihre Kindheit in einer GauloisesFabrik verbracht. Vor ihrem Durchbruch stellte sich die heute 33-Jährige regelmäßig dem Straßenpublikum des Pariser Künstlerviertels Montmatre. Nach eigener Aussage lebte sie sogar eine Zeit lang ausschließlich von dem Geld, das sie auf diese Weise verdiente. Waren die Songs des ersten Albums musikalisch noch mi-

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Zaz | Recto Verso

CD DES MONATS Sie trat in den Straßen von Paris auf und sang, dass sie auf die Suite im »Ritz« gut verzichten könne. Nun ist das zweite Album der Chansonsängerin Zaz erschienen. Statt Authentizität gibt es diesmal seelenlosen Wohlfühl-Pop – so zumindest der erste Eindruck. Glücklicherweise täuscht er Von David Jeikowski

★★ ★ CD | Zaz | Recto Verso | Sony Music Entertainment 2013

nimalistisch gehalten, bietet das neue Album »Recto Verso« einen bunten Mix aus ruhigen Chansons, Gypsy-Swing und Mitklatsch-Pop. Letzteres stellt ein Novum bei Zaz dar und könnte dazu führen, dass Fans des vorherigen Albums beim ersten Anhören von »Recto Verso« enttäuscht sind. Seltsam blutleer kommt dann auch das erste Lied des Albums »On ira« daher, das zugleich erste Singleauskopplung ist. Zu programmierten SchlagzeugBeats und Streichern werden hier stakkatoartig Poesiealbum-Weisheiten vom Stapel gelassen: »Oh wie schön ist unser Glück/ dass sich tausend Farben dieser

Menschheit/ vermischen in unseren Unterschieden/ an der Wegkreuzung des Schicksals/«. Als diente diese Anbiederung an seelenlosen WohlfühlPop nur der argumentativen Vorbereitung auf das kommende Lied, wehrt sich Zaz dort gegen den grade noch gewonnenen Eindruck: »Ihr ändert mich nicht./ Ich bin so,/ dumm gelaufen/Ihr hindert mich nicht daran/ meinem Weg zu folgen/ und auf meine eigenen Hände zu vertrauen/«. Dazu ein lockerer Swing-Sound samt Gitarre und Klavier und plötzlich macht »Recto Verso« Spaß. Nach einem weiteren, dafür jedoch heftigen Schwächeanfall (»Gamine«), geht es kontinuierlich bergauf.

»T’attends quoi?« (»Worauf wartest du?«) beispielsweise erzählt die Schicksale indigener Bevölkerungen, die vom Klimawandel betroffen sind. Die einfachen, doch schönen Beschreibungen kulminieren im Refrain in einer gemeinsamen, anklagenden Frage: Worauf wartest du eigentlich bei der Bekämpfung der Klimaerwärmung? Dabei setzt ein Schlagzeug ein, das eben noch minimalistische GitarrenLied wird laut und mitreißend, ohne dabei jedoch seine Tragik zu verlieren. Eher gruselig schön ist »J’ai tant escamoté« geraten. Ein heulender Wind, dazu ein Leierkasten-Walzer und eine raue, abgekämpfte Stimme. Sie berichtet von innerer Zerrissenheit und einer destruktiven Liebschaft. Die Stimme findet Kraft, bäumt sich auf und doch – es bleibt vergebens. Eine Tuba ertönt und gibt dem Lied eine tragikomische Note, vor den Augen des Zuhörers entsteht ein Geister-Zirkus. Spätestens beim albern-verspielten »Oublie Loulou« geht das dem Konsumenten durch Albumtitel (zu Deutsch etwa: »vorne hinten«) und Farbkleckser auf dem Coverfoto aufgedrängte Konzept des Albums dann auch endgültig auf: Zaz’ Stimme funktioniert bei Musik fast jeder Richtung und Couleur. Besonders ärgerlich sind daher auf »Recto Verso« jene Tracks, bei denen Zaz mit ihrer Stimme genauso wenig Innovation zeigt wie die Claps, die sie begleiten. Zum Glück hält sich ihre Zahl in Grenzen. Wenig ist geblieben von der Zaz, die zu Kontrabass und Gitarre Pariser Fußgänger und deutsche Radiohörer begeisterte. Auf »Recto Verso« hat sie sich dafür, trotz kleiner Schönheitsfehler, in sehr würdiger Form wiedererfunden. La reine est morte, vive la reine. ■


BUCH

Jörn Böhme und Christian Sterzing | Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts

Auf der Suche nach der gerechten Besatzung Eine »neutrale« Geschichtsschreibung gibt es nicht. So ist auch eine neue Einführung zur Geschichte des Nahostkonflikts zugleich eine Einführung in die Widersprüche des Linkszionismus. Einen guten Überblick bietet sie trotzdem Von Paul Grasse So wird die Vertreibung der Palästinenser vor und während der Gründung des Staates Israel 1948 als Unrecht benannt, die Gewährung des Rechts auf Rückkehr für die Palästinenser aber als Gefahr für das Bestehen Israels gesehen. Der Konflikt erscheint nicht als Kampf zwischen einem hochgerüsteten Siedlerstaat und den Opfern seiner Politik, sondern als Konflikt zwischen gleichberechtigten Ansprüchen. Die Stärke des Buches liegt im sehr übersichtlichen chronologischen Aufbau, der den Einstieg in den Konflikt auch Menschen leicht macht, die sich noch nicht mit der israelischen Besatzung beschäftigt haben. Zwar werden einige grundlegende Mythen des Zionismus anerkannt, andere gängige Legenden aber widerlegt: Die Kolonisierung begann schon lange vor dem Holocaust, die Siedlungspolitik machte Hunderttausende Palästinenser zu Besitzlosen, die Teilung der Region geschah entsprechend der Interessen der Großmächte, um nur einige unbequeme Fakten aus dem Buch zu zitieren. Politisch ist die Sicht der beiden Autoren aber in vielerlei Hinsicht problematisch. Sie schreiben eine Geschichte von oben, bestimmt durch große Persönlichkeiten und Verträge. Die Darstellung des palästinensischen Widerstands un-

terschlägt die breiten zivilen Proteste zugunsten einer Verklärung der Rolle der Autonomiebehörde. Zusammenfassend bietet der Band einen verständlichen und gut lesbaren Einstieg in die Geschichte der Vertreibung der Palästinenser und die Besatzung Palästinas. Viele Argumente widersprechen der herrschenden israelfreundlichen Darstellung des Konflikts in den bürgerlichen Medien. Auf der anderen Seite sollte der Band sehr kritisch gelesen werden, von der Beschreibung des Sechstagekrieges als »Präventivkrieg« bis hin zur Darstellung des palästinensischen Widerstands als von oben organisiert. Der sogenannte Friedensprozess ist auch in den Augen der Autoren eine Sackgasse, aber es fehlt eine Analyse seiner Rolle in der Legitimierung der fortschreitenden Besatzung. Vollkommen hilflos sind die Autoren dann auch, wenn es um eine Perspektive für die Zukunft geht. Die sehen sie darin, mit »politischer Unterstützung von außen (...) eine Regelung umzusetzen, die den legitimen Interessen und Traumata beider Seiten gerecht wird«. Es geht aber nicht um Traumata, sondern um Interessen, und zwar um die Interessen einer militärischen Besatzungsmacht gegen die Interessen der entrechteten Palästinenser. ■

★★ ★ Jörn Böhme und Christian Sterzing | Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts | Wochenschau Verlag Schwalbach 2012 | 144 Seiten | 12,80 Euro REVIEW

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as übersichtliche Büchlein »Kleine Geschichte des israelischpalästinensischen Konflikts« von Jörn Böhme und Christian Sterzing beschreibt dessen Verlauf seit Ende des 19. Jahrhunderts, als der politische Zionismus entstand. Die beiden Autoren stammen aus dem Umfeld der Heinrich-Böll-Stiftung und waren beide im Vorstand des »deutsch-israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten«. Dieser Arbeitskreis begreift seine Aufgabe in dem Eintreten für »das Recht des Staates Israel auf gesicherte Existenz« vor dem Hintergrund der Verantwortung Deutschlands für den Holocaust. Dies sei aber nur möglich, wenn auch den Palästinensern die nationale Selbstbestimmung nicht vorenthalten bliebe. Diese »linkszionistische« Sichtweise, die die politische Richtung des Buches bestimmt, erkennt an, dass die Gründung Israels auf Kosten der Palästinenser geschah. Die Autoren bezeichnen den Zionismus durchaus als ein koloniales Projekt, das nur durch die Unterstützung von imperialen Supermächten möglich wurde. Dennoch erscheint ihnen die Gründung des Staates Israel als Schutz vor Antisemitismus unbedingt notwendig. Dieses Herangehen führt zu Widersprüchen.

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Buch

Eva Illouz | Warum Liebe weh tut

Emotionaler Kapitalismus Die Intimität einer Liebesbeziehung ist nicht nur romantisches Ideal, sondern gilt auch als letztes Refugium vor den Zumutungen unserer Gesellschaft. Eine soziologische Analyse des Liebeskummers erklärt, warum es sich genau umgekehrt verhält Von Moritz Rüge

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★★ ★ Eva Illouz | Warum Liebe weh tut | Suhrkamp Verlag | Berlin 2011 | 467 Seiten | 24,90 Euro

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uchtitel wie »Tausend Tricks, wie die Liebe kommt und bleibt« oder »Diesen Partner in den Warenkorb legen?« lassen keinen Zweifel, dass es unter der aufgeklärten Oberfläche der modernen Beziehung noch gewaltig brodelt. Eva Illouz, Soziologieprofessorin an der Hebrew University in Israel und kritische Theoretikerin, diagnostiziert in ihrem aktuellen Buch »Warum Liebe weh tut« ein neues Leiden an der Liebe, oder besser, an deren marktförmiger Organisation. Der Wert des Selbst sei heute entscheidend von seinem Erfolg auf dem Heiratsmarkt abhängig. Das mache das Leiden an der Liebe existenzieller als noch vor einem guten Jahrhundert: »Was genuin modern ist am romantischen Leiden, ist der Umstand, dass (…) das Leiden zum Zeichen eines beschädigten Selbst geworden ist.« Wer also trauert, weil eine Liebesbeziehung in die Brüche gegangen ist, gelte als gestört. Illouz will mit ihrer Analyse eine Alternative zur »psychologischen Sprache der Selbstbezichtigung« bieten, indem sie die Ursache für das Leiden an der Liebe in den gesellschaftlichen Zuständen identifiziert. Das verdeutlicht sie durch einen Vergleich mit dem 19. Jahrhundert: Damals sei der Charakter für die Menschen zentral

gewesen und dieser habe sich nach der Konformität mit sozialen Normen gemessen. Heute jedoch stehe die »Persönlichkeit« im Mittelpunkt, die einzigartig sein und individuell gestaltet werden müsse. Mit diesem Zwang zur Selbstverwirklichung seien die meisten Menschen aber schlicht überfordert. Die Entfesselung der Konsumsphäre im 20. Jahrhundert habe die romantische Liebe sowohl radikal kommodifiziert als auch subjektiviert, so die Autorin. Erfolg auf dem Marktplatz der Liebe hänge vom vorhandenen »erotischen Kapital« ab; wer nicht sexy genug ist und in der Lage, den oder die »Richtige« anhand passender Eigenschaften ausfindig zu machen, versage an der Partnerbörse. Angesichts der Flut von potentiellen Partnern – oder Enttäuschungen – habe sich die Tendenz entwickelt, romantisches Begehren zu rationalisieren, um Fehlschläge zu vermeiden. Dieses »Erkalten des Begehrens« stelle die Sexualität um ihrer selbst Willen in das Zentrum von Beziehungen, während Gefühle nur als hinderlich gelten. Auf dieser Rationalisierung und Subjektivierung gründet nach Illouz auch eine neue, »emotionale« Herrschaft von Männern über Frauen. Dies klingt zunächst widersprüchlich, war doch die Los-

lösung der Sexualität aus den engen Grenzen bürgerlicher Ehe- und Moralvorstellungen ein wichtiger Schritt für die Frauenemanzipation. Doch die neuen, von Freiheit und Autonomie bestimmten Beziehungsmodelle begünstigen die Männer. Die unterschiedliche Sexualität von Männern und Frauen ist ein Spiegel ihrer sozialen Stellung. Die Männer, formuliert Illouz provokativ, verhielten sich als »emotionale Kapitalisten«. Sie hätten die größere Auswahl, sie müssten nicht mehr heiraten, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Frauen treffe die Altersdiskriminierung stärker und sie geraten unter kapitalistischen Reproduktionsbedingungen immer noch in Abhängigkeit von Männern, wenn sie eine Familie wollen. Männer könnten so den Heiratsmarkt über das knappe Gut ihrer Bindungswilligkeit dominieren. Andererseits blieben auch sie Gefangene der Marktlogik und müssten sich dem »gewinnbringenden« Modell von Männlichkeit anpassen. »Warum Liebe weh tut« ist eine sehr genaue Analyse des Liebesleids und seiner gesellschaftlichen Ursachen im gegenwärtigen Kapitalismus. Auch wer sich für neue Perspektiven auf die Geschlechterbeziehungen interessiert, wird hier fündig werden. ■


David Harvey | Rebellische Städte

BUCH DES MONATS In den Städten brodelt es: steigende Mieten, Verdrängung, Privatisierung öffentlicher Güter. Ein neues Buch erklärt die Gründe dafür – und zeigt auf, wohin Protest dagegen führen könnte Von Carla Assmann

★ ★★ BUCH | David Harvey | Rebellische Städte | Suhrkamp Verlag | Berlin 2013 | 283 Seiten | 18 Euro

Ausbeutungsformen, die die lohnabhängig Beschäftigten nach der Auszahlung ihres Lohnes treffen: überhöhte Preise für notwendige Konsumartikel, insbesondere Mieten und Immobilienkredite. Harvey argumentiert, dass diese sekundären Formen der Ausbeutung »zumindest in

fortgeschrittenen kapitalistischen Wirtschaftssystemen, ein weites Feld für Akkumulation durch Enteignung bilden«. Vor diesem Hintergrund kritisiert er auch scheinbar progressive Mittel der Bekämpfung städtischer Armut in Entwicklungsländern wie die sogenannten Mikrokredite: Genau wie die Vergabe von Immobilienkrediten an einkommensschwache Haushalte in den USA dienen sie nur dazu, noch aus den Ärmsten der Armen Gewinne herauszupressen – die Betroffenen stürzen sie zudem in die Schuldenabhängigkeit. Um dieser Hegemonie der kapitalistischen Form der Stadtentwicklung etwas entgegenzusetzen, greift Harvey auf den Begriff der »Gemeingüter« zurück. Gemeingüter sind nicht unbedingt Flächen oder Gebäude, sondern auch immaterielle Formen der Stadtgestaltung, die von den Bewohnern produziert werden, wie eine nachbarschaftliche Atmosphäre oder Straßenfeste. Sie werden beständig von allen oder einigen

Bewohnern erzeugt, dann aber vom Kapital kommodifiziert, beschlagnahmt und zu Profit gemacht – ganz analog zum Mehrwert, den der Kapitalist in der Fabrik abschöpft. Es ist die »Tragödie« der Gentrifizierung. Diese Gemeingüter im Besitz der Bewohner zu erhalten, sieht Harvey als erste Forderung, um das »Recht auf Stadt« durchzusetzen. Doch auch gegen die anderen Formen der Verwertung der Stadt erhebt sich Widerstand. Harvey legt dar, dass es sich bei den urbanen sozialen Bewegungen um Klassenkämpfe handelt. Sie entzünden sich an speziellen Fragen der Klassenunterdrückung wie der sekundären Ausbeutung – auch wenn zunächst andere Forderungen, etwa in Bezug auf Bürgerrechte oder soziale Reproduktion, im Vordergrund stehen. Die einzig mögliche Lösung, diese städtischen Kämpfe dauerhaft zu gewinnen, sei demnach die Revolution. Und die Stadt, so Harveys These, hat das Potential, nicht nur Schauplatz, sondern Trägerin dieser kommenden Revolution zu werden. Die Umstrukturierungen der Wirtschaft nämlich machten es notwendig, dass neue Formen der Arbeiterorganisation die traditionellen ergänzen, um einen erfolgreichen Kampf zu führen. Am Beispiel der Massenaufstände in Bolivien in den Jahren 2003 und 2007 verdeutlicht er, wie sich die verschiedenen Bewegungen im städtischen Raum zusammenschließen und einen erfolgreichen Kampf führen können. Allgemeine Rezepte, wie aus lokalen Protesten revolutionäre Bewegungen werden können, gibt das Buch bewusst nicht. Doch die Verbindung der Analyse der Zustände mit einer Perspektive des Klassenkampfes in den und für unsere Städte wirkt – trotz einiger Längen in der Argumentation – inspirierend.■

REVIEW

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ie Massenproteste, die sich Ende Mai von Istanbul ausgehend in der Türkei ausbreiteten, erscheinen als Illustration der Thesen, die der marxistische Geograf David Harvey in seinem neuen Buch aufstellt. Gegen die geplante Bebauung des zentral gelegenen Gezi-Parks entzündete sich Widerstand, der bald in wachsende Proteste gegen die autoritäre türkische Regierung umschlug. Im Mittelpunkt des Aufstandes zeigte sich Istanbul als »rebellische Stadt«. Harveys Buch ist jedoch keine vergleichende Beschreibung existierender urbaner Protestbewegungen. »Rebellische Städte« zeigt auf der Grundlage einer Analyse der besonderen Rolle, die die Städte im kapitalistischen System einnehmen, Perspektiven auf, wie diese zum Ausgangspunkt grundlegender gesellschaftlicher Veränderung werden können. In Zeiten des modernen Finanzkapitalismus haben Städte eine doppelte Funktion. Zum einen bieten Immobilien eine Möglichkeit, überakkumuliertes Kapital zu absorbieren. Gerade während einer Wirtschaftskrise gelten sie als sichere Anlagemöglichkeit. Große Bauprojekte können zudem eine in der Rezession steckende Wirtschaft wieder ankurbeln. So hatte die staatliche Förderung der Suburbanisierung in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg einen erheblichen Anteil am wirtschaftlichen Boom jener Zeit. Auch für das derzeitige Wirtschaftswachstum in China sind in hohem Maße staatliche Investitionen in Städtebau und Infrastruktur verantwortlich, wie Harvey darlegt. Sowohl der Zentralstaat als auch die chinesischen Kommunen haben sich dabei hoch verschuldet, und so halte Chinas rasante Urbanisierung das weltweite System der Kapitalakkumulation trotz Krise am Laufen. Zum anderen sind Städte das bevorzugte Feld für

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Mein Lieblingsbuch

ichail Bulgakow schrieb von 1928 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1940 an einem Buch, das manche Kritiker als den besten russischen Roman des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Lange stand er auf dem Index verbotener Bücher. Erst im Jahr 1967, während des kurzen politischen Tauwetters, wurde er in der Sowjetunion veröffentlicht. Die deutsche Erstausgabe folgte im Jahr darauf. In den ersten Jahren der russischen Revolution hatte es Bulgakow zu einem beliebten und erfolgreichen Schriftsteller gebracht. Damit war es im Jahr 1929 vorbei: Der staatliche Literaturverband RAPP begann eine scharfe Kampagne gegen die »Bulgakowerei«, seine Theaterstücke wurden abgesetzt, seine Bücher verboten. Bulgakow galt nun als »mystischer Schriftsteller« und hatte im »sozialistischen Realismus« keinen Platz mehr. »Der Meister und Margarita« hat mystische und politische Seiten, vor allem aber ist es ein satirisches Werk, blumig und sinnlich geschrieben (und von Thomas Reschke hervorragend übersetzt), das in mitreißender und unglaublich unterhaltsamer Weise brisante Fragen berührt – besonders im Russland der Schauprozesse, aber auch heute noch heikel. Der Roman führt uns mitten hinein ins Moskau der frühen 1930er Jahre. Eines schwülen Sommerabends trifft der unbedarfte junge Lyriker Iwan Besdomny, der sein Brot mit dem Verfassen glühender Gedichte auf den Fortschritt der Revolution unter Führung des Politbüros verdient, auf den wunderlichen, fremdländischen Schwarzen Magier Voland. Dieser eröffnet ihm, er habe mit Immanuel Kant gefrühstückt, um über dessen Beweise gegen die Existenz Gottes zu diskutieren. Außerdem will er in Jerusalem Zeuge der letzten Verhandlungen zwischen dem mittellosen Wanderprediger Jeschua und Pontius Pilatus gewesen sein. Dabei habe der

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Von marx21-LESER David Meienreis

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem ihr denkt, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreibt uns – und präsentiert an dieser Stelle euer Lieblingsbuch. Diesmal: »Der Meister und Margarita« von Michail Bulgakow

★★ ★ Michail Bulgakow | Der Meister und Margarita | Sammlung Luchterhand | München 2006 | 10 Euro

Angeklagte gestanden, gesagt zu haben, »dass von jeder Staatsmacht den Menschen Gewalt geschehe und dass eine Zeit kommen werde, in der kein Kaiser noch sonst jemand die Macht hat. Der Mensch wird eingehen in das Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit, wo es keiner Macht bedarf.« Iwan Besdomny ist überzeugt, es mit einem Verrückten zu tun zu haben, landet aber kurz darauf selbst in einer Nervenklinik, während Voland in Moskau für ein ziemliches Tohuwabohu sorgt. Dabei stellt er die ganze Kleinlichkeit und Verlogenheit der neuen Ordnung und ihrer Führung bloß und einiges an Geschirr geht zu Bruch. Als zum Beispiel die Nachricht vom Tod des Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes MASSOLIT – an dem der Magier seinen Anteil gehabt zu haben scheint – dessen Kollegen erreicht, verfassen diese einen herzzerreißenden Nachruf auf den tapferen Revolutionär und begeben sich dann betreten hinunter in die Kantine. Dort wird Musik gespielt und flugs überwinden die Trauernden ihren Gram: »Es tanzten Mitglieder und Gäste, Moskauer und Zugereiste, der Schriftsteller Johann von Kronstadt, ein gewisser Vitja Kuftik aus Rostow, ein Regisseur wohl, dessen eine Wange mit lila Grind bedeckt war, es tanzten die angesehensten Vertreter der Sektion Lyrik innerhalb der MASSOLIT (…) Kurzum, ein Inferno.« In diese turbulente Geschichte treten irgendwann »der Meister« und Margarita, über die ich hier nichts verraten will. Die Moskauer Ereignisse um die Protagonisten Iwan, Voland und den Meister werden zunehmend verwoben mit jener Geschichte im fernen Judäa, in der sich Pontius Pilatus und Jeschua gegenüberstehen, der Machthaber und der Visionär. Wie diese Geschichte ausgegangen ist, wissen wir. Bulgakow jedoch weiß mehr: Zweifel, Sehnsüchte und sein Bedauern wird er niemals loswerden, »der grausame fünfte Prokurator von Judäa, der Ritter Pontius Pilatus.« ■


BUCH

G. John Ikenberry | Liberal Leviathan. The Origins, Crisis, and Transformation of the American World Order

Same same, but different Die Wahl Obamas zum Präsidenten der USA weckte international Hoffnungen auf ein Ende der kriegerischen Außenpolitik. Doch dafür gibt es wenig Grund, wie das Buch eines Obama nahestehenden Intellektuellen zeigt Von Klaus Henning Präventivkriegen aufbauende Globalstrategie der Neokonservativen. Die »Neocons«, die sich selbst auch als »liberale Imperialisten« bezeichneten, bestimmten die US-Außenpolitik unter George W. Bush bis zum Jahr 2009 und besitzen weiterhin großen Einfluss, etwa über Think Tanks und Mediennetzwerke. Gegenwärtig trommeln sie für ein militärisches Eingreifen in Syrien und Iran. Unabhängig davon, dass liberale Theorien, etwa über die Friedfertigkeit liberaler Demokratien, historisch widerlegt sind, offenbart das Buch die engen Grenzen einer »liberalen« Wende in der US-Außenpolitik. Ikenberry setzt dem Konzept des »Imperiums« der Neocons das der »Liberalen Hegemonie« entgegen. Bei allen Unterschieden befürwortet er damit den Anspruch der USA auf globale Dominanz als »führender Staat«. Daraus folgt, dass amerikanische Außenpolitik auf die Erhaltung dieser Dominanz zielen muss. Nicht in ihren Zielen unterscheiden sich Liberale daher von Neocons, sondern in der »Strategie der Herrschaft«: Ikenberry befürwortet im Unterschied zu den Neocons die Beachtung internationaler Verträge sowie die Mitarbeit in internationalen Organisationen und Bündnissen

wie UNO, IWF, Weltbank oder NATO. Die beteiligten Staaten erhalten so gewisse Möglichkeiten der Mitsprache, werden aber zu Unterstützern der USPolitik und übernehmen auch Kosten, zum Beispiel bei Militärinterventionen. Da die USA die internationalen Institutionen dominieren, können sie sie letztlich für ihre eigenen Interessen nutzen. Ikenberry verweist darauf, dass die Berücksichtigung der Interessen schwächerer verbündeter Staaten ein Erfolgskonzept im Kalten Krieg war. Auch wenn Ikenberry dafür eintritt, stärker auf Wirtschaftsund Militärhilfe, Sanktionen und Anreize zu setzen, sieht er in militärischen Interventionen ein legitimes Mittel der Durchsetzung gegen unwillige Staaten, solange sie von der »demokratischen Staatengemeinschaft« mitgetragen werden. Entsprechend kritisiert er auch den Irakkrieg nicht an sich, sondern im Grunde nur, dass er unilateral, ohne die UNO, begonnen wurde. Eine pazifistische US-Außenpolitik ist unter liberaler Führung nicht zu erwarten, wohl aber ein Zuwachs an Strategien indirekter Kriegsführung sowie eine stärkere Einbindung der europäischen Regierungen in neue Interventionen.■

★★ ★ BUCH | G. John Ikenberry | Liberal Leviathan. The Origins, Crisis, and Transformation of the American World Order | Princeton University Press | Princeton 2011 | 392 Seiten | 18,99 Euro

REVIEW

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ür den US-Imperialismus lief es in den vergangenen Jahren schlecht. Im Irak und in Afghanistan hat er eine militärische Niederlage erlitten, die Bewegungen im Nahen Osten und Lateinamerika haben seinen regionalen Einfluss geschwächt und China schwingt sich zum weltpolitischen Rivalen auf. Angesichts dieser Herausforderungen ringt die US-Elite um eine Erfolg versprechende imperialistische Globalstrategie. Ein wichtiger Beitrag ist dabei das Buch »Liberal Leviathan« von John Ikenberry. Der Autor ist Politologe an der US-Eliteuniversität Princeton und gehört zu den Vordenkern »liberaler« US-Außenpolitik, der Variante von Außenpolitik also, der sich Präsident Obama verschrieben hat. Ikenberry vertritt die Ansicht, dass der Kapitalismus durch grenzüberschreitende Wirtschaftsbeziehungen zu einer Befriedung der zwischenstaatlichen Beziehungen beiträgt. Regierungen sind gezwungen, ihre Politiken international zu koordinieren. Tun sie dies nicht, so handeln sie irrational oder folgen egoistischen Einzelinteressen, die sich demokratisch nicht legitimieren lassen. In dieser Hinsicht kritisiert Ikenberry die auf unilateralen

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BUCH

Semiya Simsek mit Peter Schwarz | Schmerzliche Heimat

Die Stimme erheben Die Presse schrieb von »Dönermorden«, die Polizei unterstellte den Familien der Opfer Mafiaverbindungen. Fast dreizehn Jahre nach dem ersten Mordanschlag des NSU schildert die Tochter eines Opfers die Ereignisse aus ihrer Sicht Von Michael Klein

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★★ ★ Semiya Simsek mit Peter Schwarz | Schmerzliche Heimat | Rowohlt Verlag | Berlin 2013 | 272 Seiten| 18,95 Euro

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ehr als zehn Jahre zog die Terrorbande des Nationalsozialistischen Untergrunds durch Deutschland und ermordete zehn Menschen. Dies alles vor der Nase des deutschen Verfassungsschutzes, der sich das rechte Auge schon zugehalten haben muss, um dem Treiben nicht auf die Spur zu kommen. Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten bei den neun Morden an Menschen mit Migrationshintergrund nur in eine Richtung: ihre Nachforschungen richteten sich gegen die Familien der Opfer. Das erste Opfer des NSU, der Blumengroßhändler Enver Simsek, wurde am 9. September 2000 erschossen. »Schmerzliche Heimat« sind die Erinnerungen seiner Tochter Semiya an diese Geschehnisse. Als die Neonazis ihren Vater ermordeten, war Semiya Simsek 14 Jahre alt. Der Schock und die Erschütterung über seinen Tod sind in dem Buch sehr deutlich zu spüren. Die Worte der Autorin lassen keinen Zweifel daran, dass die vergangenen Jahre nicht spurlos an ihr vorbeigegangen sind. Jedoch geht es ihr nicht um eine Abrechnung mit dem deutschen Staat, der Wunsch nach Rache liegt ihr fern. Ihr Hauptanliegen ist es, der Sichtweise der Betroffenen, die in den Medien bisher kaum Beachtung fand, Gehör zu verschaffen.

Unter die Haut geht insbesondere die Beschreibung der letzten Tage ihres Vaters, die die Autorin sehr plastisch beschreibt. Und dann die Zeit danach! Obwohl inzwischen kaum mehr ein Tag vergeht, an dem nicht neue Ungeheuerlichkeiten über die damaligen Ermittlungen an die Öffentlichkeit gelangen, kann man sich der Erschütterung kaum erwehren, die einen angesichts Simseks Schilderung der polizeilichen Verhörmethoden überfällt. Ihre Mutter wurde systematisch eingeschüchtert, die Polizisten erzählten ihr Lügen über den Ermordeten, jedes Mittel war recht, um die Verdächtigten zu brechen. Das Entsetzen, als sie erfährt, welche zwielichtige Rolle der Verfassungsschutz und der Staat bei den Morden des NSU gespielt haben, schildert die Autorin besonders eindringlich. Ihr Stil bleibt bei alldem nüchtern und klar, das Erschreckende des Textes hat seine Wurzeln in der persönlichen Geschichte der Autorin. »Elf Jahre durften wir nicht einmal Opfer sein«, fasste Semiya Simsek auf der Trauerfeier für die Ermordeten im Jahr 2012 die Zeit bis zum Auffliegen der Nazibande zusammen. Ihr Buch macht aber deutlich, dass sie sich mit der Opferrolle nicht zufrieden gibt, sie greift als Handelnde in die Debatte ein. So ist »Schmerzliche Heimat« mehr als der Erlebnisbericht einer jungen Frau, die

zweifach zum Opfer gemacht wurde. Das Buch bietet auch Einblicke in das Agieren der Polizei. Der laufende Gerichtsprozess gegen die Täter, von dem sich viele auch eine Aufarbeitung der Rolle staatlicher Stellen erhoffen, versinkt in endlosen Anträgen und juristischen Verzögerungen. Simsek hatte Einblick in die Polizeiakten und beschreibt packend die Hintergründe des Verbrechens, rekonstruiert die Ermittlungspannen und Irrwege der Polizei. »Schmerzliche Heimat« behandelt einen der größten politischen Skandale in der Geschichte Deutschlands. In seiner Mischung aus persönlichem Erlebnisbericht und Schilderung der Tatsachen leistet das Buch einen wichtigen Beitrag, um zu verstehen, wie und in welchem gesellschaftlichen Klima es dazu kommen konnte. ■


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ie Debatte über mögliche Ausstiegsszenarien aus dem Euro ist in vollem Gange. Zwei Texte spielen diese Szenarien genauer durch und ziehen dabei unterschiedliche Schlüsse. Der Wirtschaftswissenschaftler Francisco Louca ist eine der führenden Personen des portugiesischen Linksblocks. Bereits im vergangenen Jahr hat er einen Artikel in der Zeitschrift »transform!« (Nr. 10/2012) veröffentlicht, in dem er die Komplexität eines portugiesischen Euro-Ausstiegs darlegt. Sein Resümee: Solange das Land nicht zu einem direkten kolonialen Protektorat wird, sollten die Menschen dort für alternative Lösungen kämpfen.

Seit einigen Monaten findet in der Zeitschrift »Sozialismus« eine Debatte über Privatisierungen im Krankenhaussektor statt. In der aktuellen Ausgabe (Nr.

Zum Gruseln sind die Bilder eines nächtlichen Fackelmarsches von tausenden Faschisten durch Athen. Mittendrin: Die Nazipartei »Goldene Morgenröte«. Doch was genau macht diese Formation aus? Der griechische Journalist Dimitris Psarras skizziert in einem Interview mit der »SoZ – Sozialistische Zeitung« (Mai 2013) die Entwicklung der Partei. Er erklärt, wie sie gezielt Gewalt einsetzt, warum sie seit Beginn der Krise so rasant wächst und weshalb die griechische Linke die Gefahr immer noch verkennt.

von Win Windisch und Marcel Bois

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Publikationen

★ ★★ WEBLINKS Transform!: transform-network.net/de/zeitschrift/ Rosa-Luxemburg-Stiftung: www.rosalux.de Sozialismus: www.sozialismus.de SoZ: www.sozonline.de M: mmm.verdi.de

Das Aus der »Financial Times Deutschland« war nur die Spitze des Eisberges. Insgesamt befindet sich die Wirtschaftspresse in Deutschland in einer tiefen Krise. Im Jahr 2000 kamen die verschiedene Zeitschriften und Zeitungen aus diesem Segment auf zusammen zweieinhalb Millionen Käufer. Diese Zahl ist mittlerweile auf eine Dreiviertelmillion zusammengeschrumpft. Uwe Polkaehn ist Vorsitzender des DGB Nord. In einem Interview mit der medienpolitischen Zeitschrift »M – Menschen – Machen – Medien« der Gewerkschaft ver.di macht er für diese Krise vor allem die Themenauswahl dafür verantwortlich. Denn »Wirtschaft« umfasse nicht nur Arbeitgeber, sondern auch Arbeitnehmer. Doch deren Belange kämen ebenso zu kurz wie der Verbraucherschutz. Er verlangt: »Die Berichterstattung sollte endlich von dem Kopf auf die Füße gestellt werden.« ■

REVIEW

Zu einem anderen Fazit kommen der Keynesianer Heiner Flassbeck und der Marxist Costas Lapavitsas in einer neuen Studie, die sie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung erarbeitet haben. Sie ist auf Englisch erschienen und trägt den Titel »The systemic crisis of the euro – true causes and effective therapies«. In einer deutschsprachigen Kurzfassung heißt es: »Aus der politischen Diskussion die Möglichkeit eines Ausstiegs zu verdrängen, weil man Europa nicht infrage stellen will, wäre unverantwortliche Schönfärberei und würde am Ende nur den EuropagegnerInnen in die Hände spielen.« Interessant für Aktivistinnen und Aktivisten aus Deutschland ist die Untersuchung, weil die Autoren auch auf die Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft und deren starke Exportorientierung eingehen. Zudem legen sie dar, welche Klassenauseinandersetzungen möglicherweise anstehen.

6/2013) stellt Nils Böhlke die Auswirkungen auf die Beschäftigten und die Patientinnen und Patienten dar. Dabei zeigt er auf, dass die Konkurrenz durch die privaten Klinikkonzerne sich ebenso negativ in den öffentlichen Krankenhäusern bemerkbar macht wie die wettbewerbsorientierte Politik der aktuellen Bundesregierung und ihrer Vorgängerinnen.

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Preview Š Joe Malcomehill / CC BY-NC-SA / flickr.com


BUCH

Bibliothek des Widerstands, Band 20: Black Panther | Laika-Verlag

Black Panther trotzen Eurokrise Eine historische Bewegung erhält unerwartet einen Ableger. Zeit, sich einmal ausführlich mit dem Original zu befassen Von Michael Ferschke Jahr 2012 einen Besuch ab und sprach dort bei einer Maikundgebung vor Jugendlichen. Der frühere »Kulturminister« der BPP, Emory Douglas, verfasste erst kürzlich anlässlich der Vorstadtunruhen eine Videogrußbotschaft an die schwedischen Aktivsten, um ihnen den Rücken zu stärken. Der Sprecher der schwedischen Panther erklärte, dass sie große Gemeinsamkeiten mit den amerikanischen Vorbildern sehen, »die sowohl gegen ökonomische Ungerechtigkeit als auch gegen Rassismus kämpften«. Hier zeigt sich, dass die aktuellen Kämpfen gegen Unterdrückung Anknüpfungspunkte an vergangene Auseinandersetzungen bieten. Die Geschichte der Black Panther Party bildet einen großen Wissensschatz. Es war eine sehr dynamische Organisation, die innerhalb weniger Jahre diverse strategische und taktische Ansätze erprobt hat. Aus ihren Erfahrungen, sowohl von Erfolgen als auch von Niederlagen, können Lehren für die Gegenwart und Zukunft gezogen werden. Aber was genau waren die Ziele der Black Panther Party? Welche Strategien verfolgten sie, um ihre Forderungen durchzusetzen? Wie organisierten sie sich und warum gab es am Ende eine große Spaltung? Berechtigte Fragen, liebe Leserinnen und Leser. Aber die können leider nicht im Rahmen dieses kleinen Artikels beantwortet werden. Glücklicherweise erscheint Ende des Jahres im Rahmen der »Bibliothek des Widerstands« beim Hamburger Laika-Verlag ein Sammelband zur Geschichte der Black Panther Party, an dem auch der Autor dieser Zeilen mitgearbeitet hat. Dort finden sich zudem Beiträge ehemaliger Panther-Mitglieder, wie etwa Kathleen Cleaver, die über die Rolle der Frauen in der Partei schreibt. Zusätzlich sind dem Buch zwei Dokumentarfilme beigelegt. Mehr zum Inhalt findet ihr auf der Verlagshomepage. ■

★★ ★

BUCH | Bibliothek des Widerstands, Band 20: Black Panther | Laika-Verlag | Hamburg | 24,90 Euro | Erscheint Ende 2013

PREVIEW

E

rinnert sich jemand an die Black Panther Party, kurz BPP, aus den USA? Ja, genau, die mit den schwarzen Lederjacken und Gewehren, die Ende der 1960er Jahre gegen Rassismus und Polizeischikanen aufstanden. Diese Organisation hat sich längst aufgelöst. Dennoch wirkt sie bis heute weiter, auch in Europa. Kaum zu glauben: Seit kurzem gibt es eine BlackPanther-Gruppe in Griechenland. Ihre Mitglieder, afrikanische Einwanderer in ihren Athener Wohngebieten, wollen zur Selbstverteidigung den Kampf gegen die Nazischläger der »Goldenen Morgenröte« organisieren. Das US-Vorbild hieß übrigens anfangs mit vollem Namen »Black Panther Party for Self-Defense« (für Selbstverteidigung). Noch greifbarer wird das Erbe der Panthers derzeit in Schweden. In einem Vorort von Göteborg haben migrantische Jugendliche vor zwei Jahren eine Gruppe gegründet, die sich, inspiriert vom Kampf der Black Panther Party, »Pantrarna« (Panther) nennt. In der Tat sind in einigen Vororten Schwedens die Verhältnisse durchaus mit denen in den Ghettos der USA vergleichbar: Hohe Arbeitslosigkeit gerade unter Jugendlichen, Armut, mangelnde Infrastruktur, Polizeischikanen und eine Bevölkerung, die überwiegend einen Migrationshintergrund hat – in einigen Vororten sind es bis zu 90 Prozent. Und das inmitten eines der reichsten Länder Europas. Der Unmut über diese Verhältnisse brach sich erst kürzlich bei den massiven Unruhen in Stockholms Vorstädten Bahn: Autos brannten, Straßenschlachten mit der verhassten Polizei und verwüstete Geschäfte. So ähnlich, wenngleich in viel größerem Ausmaß, verliefen auch die Ghettoaufstände in den 1960er Jahren in den USA. Das führt uns zurück zur eigentlichen Black Panther Party. Deren Mitbegründer Bobby Seale stattete den schwedischen Patrarna im

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KONGRESS | Sommerakademie der Sozialistischen Linken

Politisch auftanken Ende Juni findet zum siebten Mal die Sommerakademie der Sozialistischen Linken statt. Die ganze Partei ist zu Workshops und Diskussionen eingeladen – vom Neumitglied bis zum Politikprofi. Organisator Alban Werner gibt einen Ausblick Interview: Carla Assmann Das Motto eurer diesjährigen Sommerakademie lautet: »Die LINKE aufbauen – Klassenorientierung oder Partei neu erfinden?« Worauf wollt ihr damit hinaus? DIE LINKE hat sich vor dem Göttinger Parteitag zu stark von dem ablenken lassen, was wir für ihren Kern halten: Sie muss die glaubwürdige Kraft für Demokratie, gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit sein. Nach Fukushima hieß es aus vielen Ecken: »Wir müssen uns mehr der Ökologie widmen«. Dann hieß es: »Seht – Piratenpartei! Beschäftigen wir uns mehr mit dem Internet, mit Transparenz oder Bürgerbeteiligung«. Und was ist heute? Die Piraten kentern und die Grünen reden auf ihren Parteitagen mehr über Umverteilung als über Atomkraft. Für die Sozialistische Linke und das Vorbereitungsteam zeigt sich da: Die Partei muss sich nicht neu zu erfinden, sie soll nicht jedem Trend hinterherlaufen, sondern sie muss ihren Auftrag als sozialistische politische Kraft ernst nehmen. Das ist anstrengend, das zwingt zur Aufbauarbeit auf allen Ebenen, zum ständigen Lernen, zu Bündnisfähigkeit, zu Mobilisierung, zum Umgang mit Niederlagen; das sind die »Mühen der Ebene«, wie es bei Bertolt Brecht heißt. Für uns lautet die Agenda, sich klar als klassenbewusste Partei zu verstehen. Wie spiegelt sich das Motto in den einzelnen Veranstaltungen wieder? Damit klarer wird, was wir mit »Klassen« meinen, haben wir gleich zwei Workshops zur Klassentheorie ins Programm aufgenommen. Die Klassenorientierung wird aber auch in den Workshops deutlich werden, in denen es um Eckpunkte des nötigen linken Politikwechsels geht: Umfairteilen, sozial-ökologischer Umbau, Europa von links. Ebenfalls in 98

Alban Werner

Alban Werner ist Mitglied im BundessprecherInnen-Rat der Sozialistischen Linken und im Vorbereitungsteam der Sommerakademie. Sie findet vom 28. bis zum 30. Juni in Bielefeld statt. Informationen unter sozialistische-linke.de, Anmeldung unter soli-verein.de.

Workshops, wo wir mit mehr »Fragezeichen« diskutieren: Was denken eigentlich Lohnabhängige über die Krise? Kann man »Prekarisierte« heute noch mit linker Politik erreichen – und wenn ja, wie? In diesem Sommer beginnt ja der Wahlkampf. Ist der auch bei euch ein Thema? Auf jeden Fall. Wir haben mehrere Work-

shops im Angebot, die sich auf Wahlkampf und aktive Parteiarbeit an der Basis konzentrieren. Wir unterstützen eine Orientierung auf »aufsuchenden Wahlkampf«. Wahlkampf kann die Menschen erreichen und soll Spaß machen. Hinterm Infostand verstecken gilt nicht. Erklär doch bitte mal kurz das Konzept hinter der Sommerakademie. Es geht um einen Raum abseits vom politischen Alltagsgeschäft, wo man sich »auftanken« kann mit Ideen und Motivation. Man lernt nie so viel über die Partei und die politischen Ziele wie im direkten Austausch. Es ist auch ein toller Ort, um Genossinnen und Genossen aus der gesamten Republik und allen Ebenen kennenzulernen. Worüber reden eigentlich die Referentinnen und Referenten der Bundestagsfraktion? Die Abgeordneten der Landtage? Das alles findet auf der Sommerakademie statt. An wen richtet sich dieses Angebot? Wie es bei der Volkshochschule heißt: für »Einsteigerinnen und Fortgeschrittene«. Die Sommerakademie ist toll für Neumitglieder, weil es einführende Workshops zu linker Wirtschafts- und Sozialpolitik, Geschlechterpolitik und vielem mehr gibt. Sie ist aber auch für Genossinnen und Genossen mit mehr Erfahrung spannend, weil hier Debatten zu den wichtigen Themen mit Teilnehmern von innerund außerhalb der Partei stattfinden. Auf welche Veranstaltungen freust du dich besonders? Ich denke, dieses Jahr freuen wir uns alle besonders, dass Bernd Riexinger bei gleich zwei Veranstaltungen dabei ist. Unser Samstagabendpodium wird mit Sicherheit ein Highlight.■


marx 21

Nr. 23 | Winter 2011 /12 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de

MAGAZIN FÜR INTERNATIONALEN SOZIALISMUS

Nicole Gohlke

spricht über die Perspektiven für die Studierendenproteste

Rechter Terror Staatliche Repressionen helfen nicht

Oliver Stone & Tariq Ali

Afghanistan 10 Jahre Krieg und Widerstand

Rosemarie Nünning

Fernsehserie »Mad Men« Früher war alles noch schlechter

diskutieren die Schwäche des US-Imperiums über Rotlichtviertel und Doppelmoral

Südpol Ein Wettlauf und seine Folgen

Arno Klönne schaut zurück auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 Costas Lapavitsas spricht Klartext über den Euro und die Währungsunion

Alex Callinicos von Die revolutionären Ideen

KARL MARX

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en. he nach strategischen Alternativ Suc der d un n fte cha rks we Ge der tandsaufnahme Wolf und anderen. widmet sich einer kritischen Bes a Principe, Volkhard Mosler, Luigi arin Cat Die neue Ausgabe von theorie21 , sch pu sen Ha olin Car h, ger, Heiner Dribbusc Mit Beitr채gen von: Bernd Riexin theorie21 | No 1/2013 340 Seiten | 8,25 Euro frei Haus bestellbar 체ber: www.marx21.de


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