marx21 Ausgabe Nummer 33 / 2013

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marx 21 05/2013 | DEZEMBER / JANUAR

marx 21.de

Neue regierung Standort über alles

4,50 EURO | www.MARx21.DE

Imran Ayata

Magazin für internationalen SozialiSMuS

über die unentdeckte Musik der Einwanderer

Kate Davison

analysiert den Popfeminismus von Lady Gaga

Olympia 2022 Münchener Sieg über Kommerz und Arroganz

Sameh Naguib

berichtet im Interview über die Lage in Ägypten

Front National Rechtsruck in Frankreich? Flüchtlinge Hamburger kämpfen für Bleiberecht Bittere Pillen Wie uns die Pharmaindustrie krank macht

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zu retten ist. Warum dieses Projekt nicht -Kritik. ein Plädoyer für eine linke eU

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A L P t r AU M eUrOPA

ÖSterreIch 4,70 eUrO SchWeIZ 7,50 chF

20 Jahre Zapatisten Das andere Gesicht der Globalisierung



Fast 3500 englische Schulen mussten Mitte November für einen Tag schließen, nachdem die Lehrergewerkschaften NUT und NASUWT vielerorts zum Streik aufgerufen hatten. Auslöser der Proteste waren die Pläne von Erziehungsminister Michael Gove, zukünftig die Bezahlung der Lehrer leistungsabhängig zu gestalten sowie das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Den Aktionen, die unter anderem in Bristol, London und Brighton (Foto) stattfanden, gingen bereits Anfang Oktober ähnliche Proteste voraus. Dabei ließen sich die Lehrer auch nicht von Vorwürfen beirren, die häufig gegen Streikende aus Care-Berufen erhoben werden: Sie würden durch ihren Ausstand ihre Aufsichtspflicht verletzen. »Kein Lehrer wünscht sich, die Eltern zu belasten oder die Bildung der Schüler zu vernachlässigen. Die Unvernunft liegt hier nicht auf Seiten der Lehrer«, sagte die Vorsitzende der NASUWT.

Liebe Leserinnen und Leser,

H

eute beginnt die Befreiung von der Elite und von Europa.« Mit diesen Worten traten am 13. November Geert Wilders und Marine Le Pen vor die Presse. Die Rechte Europas tut sich zusammen, ihr erklärtes Ziel ist eine gemeinsame Fraktion im Europaparlament. Die Chancen hierfür stehen leider nicht schlecht: Wäre nächsten Sonntag Europawahl, so läge Le Pens Front National mit 24 Prozent der Stimmen in Frankreich vorne. In den Niederlanden könnte Wilders Partei für die Freiheit laut Prognosen die 17 Prozent der letzten Europawahl noch übertreffen. Europa rückt in der Krise offenbar nach rechts: Zehntausende Nazis marschierten kürzlich in Warschau auf, griechische Faschisten ermordeten auf offener Straße den linken Aktivisten Pavlos Fyssas. Antiziganismus, Islamophobie und Antisemitismus gehören mittlerweile in vielen Ländern wieder zum Alltag. Das »Projekt Europa« ist in vielerlei Hinsicht gescheitert. Gerade deshalb darf die Linke das Feld der EU-Kritik nicht den Rechten überlassen. Doch wie genau sieht eine linke Kritik an der Europäischen Union aus? Lässt sich das Bündnis noch retten oder gehört es abgeschafft? In unserem Schwerpunkt ab Seite 24 versuchen wir Antworten zu finden. Wir sind noch immer geschockt und voll Trauer über den Tod unserer Genossin Uta Spöri, die im Oktober bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen ist. Unsere Gedanken sind bei ihrer Familie und ihren Freunden und Freundinnen. Ab Seite 56 erinnern wir an ihr Leben und ihre politischen Aktivitäten. Noch ein paar Anmerkungen in eigener Sache: In den vergangenen Wochen haben wir stark an unserer Internetpräsenz gearbeitet. Fast täglich gibt es nun Hintergründe und aktuelle Analysen auf marx21.de. Klickt doch mal rein. Von den Kiosken des Landes gibt es ebenfalls Positives zu berichten. Die Verkaufszahlen unseres Heftes steigen: Von Ausgabe 2/2013 haben wir 465 Exemplare abgesetzt, Heft Nr. 3 ist sogar 559 Mal über den Ladentisch gegangen. Vielen Dank dafür! Dennoch sind wir weiterhin auf eure Unterstützung angewiesen. Informiert weiter eure Freundinnen, Freunde und Bekannten, wenn das neue Heft da ist. Auch im Redaktionsalltag können wir Hilfe gebrauchen. Vor allem suchen wir ehrenamtliche Helferinnen und Helfer für das Layout und für Übersetzungen. Besonders für die Sprachen Englisch, Französisch und Spanisch besteht Bedarf. Auch Praktikantinnen und Praktikanten sind immer bei uns willkommen (Schülerpraktika leider ausgenommen). Wenn ihr Lust habt, Teil unseres Teams zu werden, dann kontaktiert uns gerne unter: redaktion@marx21.de. Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

© raysto / CC BY-NC / flickr.com

GroSSbritannien

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20 Jahre Zapatisten

Interview: Imran Ayata

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82 20 Fotostory: Protest gegen Klimaerwärmung

Aktuelle Analyse

Unsere Meinung

Titelthema: Alptraum Europa

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Flüchtlinge: Von Lampedusa nach Hamburg Von Florian Wilde

22 Prostitutionsdebatte: Der Irrweg der Alice Schwarzer Kommentar von Rosemarie Nünning

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Für eine linke Europakritik Von Werner Halbauer

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Hessen: Der Drahtseilakt Von Volkhard Mosler

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Frankreich: Sparkurs stärkt die Rechten Von Hans Krause

16 Koalitionsvertrag: Die Politik der harten Hand Von David Maienreis

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Europakonzepte: Vorwärts und doch vergessen… Von Stefan Bornost

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»Blockupy ist ein Symbol« Stimmen aus Europa

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Blockupy: Den Widerstand entfachen Von Christine Buchholz und Heinz Bierbaum

Philippinen: Der Westen muss zahlen! Kommentar von Niema Movassat

Bestraft für einen Sieg über Nazis Von Azad Tarhan neu auf marx21.de

Auf der Flucht

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Wir berichten über das Schicksal syrischer Flüchtlinge in Jordanien. Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de


52 Die Abzocke der Pharmaindustrie

76 42 Ägypten: Was macht die Linke?

Internationales

Gesundheit

Rubriken

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03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 20 Fotostory 40 Weltweiter Widerstand 48 Neues aus der LINKEN 54 Was macht das marx21-Netzwerk? 86 Review 95 Quergelesen 96 Preview

»Wir müssen Tahrir zurückerobern« Interview mit Sameh Naguib

Pharmaindustrie: Bittere Pillen Von Kirsten Schubert

Betrieb & Gewerkschaft

Weihnachten

50 Maredo: Hürden und Erfolge der Solidaritätsarbeit Von Jürgen Ehlers

70 Geschenktipps der Redaktion

Netzwerk marx21

72 Zapatisten: Das andere Gesicht der Globalisierung Von Mike Gonzalez

56 Nachruf auf Uta Spöri Soziale Bewegung 60

Bayern ziehen dem IOC die Lederhosen aus Von Max Steininger

65 Sport ist nicht gleich Sport Kommentar von Max Steininger

Geschichte

Kultur 76 Lady Gaga: Ästhetik ohne Widerstand Von Kate Davison 82 Gastarbeitersongs: Musiker mit Haltung Interview mit Imran Ayata

INHALT

Gaga: Ästhetik ohne Widerstand

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 7. Jahrgang, Heft 33 Nr. 5, Winter 2013/14 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Carla Assmann, Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller, Carolin Hasenpusch, David Jeikowski, Yaak Pabst Lektorat Carla Assmann, Marcel Bois, Brian Janßen, David Paenson, Rosemarie Nünning, Marijam Sariaslani, Manfred Schäfer, Christoph Timann Übersetzungen Rabea Hoffmann , David Paenson, David Maienreis, Xenia Wenzel Layout Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat Michael Bruns, Christine Buchholz, Nicole Gohlke, Stefanie Graf, Ole Gvynant, Werner Halbauer, Tim Herudek, Lisa Hofmann, Sven Kühn, Volkhard Mosler, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Azad Tarhan, Janine Wissler, Luigi Wolf, Hubertus Zdebel Redaktion Online Ole Gvynant (verantw.), Hans Krause, Jan Maas, Paula Rauch, Stefan Ziefle Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Bianca Klenke, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 10. Februar 2014 (Redaktionsschluss: 20.01.) 6

Kate Davison, Autorin

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b ein Uranbergwerk besetzen oder bei eisiger Kälte auf einem Dock übernachten: In der Politik gibt es für Kate keine halben Sachen. Lächelnd erzählt sie von dem Arbeitskampf beim der australischen Logistikfirma Patrick Corporation im Jahr 1998: »Ich weiß noch, wie glücklich ich war, als ich die Angst in den Augen der Polizisten sah, die keine Chance gegen die Blockade der streikenden Dockarbeiter und ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer hatten. Das war ein sehr hoffnungsvoller Moment und hat mir gezeigt, dass wir gewinnen können!« Geschichten wie diese hat Kate viele zu erzählen. Gemeinsamer Kampf und Solidarität sind für sie keine leeren Phrasen. Aufgewachsen in Melbourne kam sie im Jahr 2006 nach Berlin. Eine ihrer ersten politischen Aktionen in Deutschland war dann gleich der Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Schon bald wurde der Karaoke -fan auch Mitglied der LINKEN in Berlin-Neukölln und im SDS. Darüber hinaus engagiert sie sich stark in der LGBT- und der Gewerkschaftsbewegung, kämpft gegen Rassismus sowie für die Rechte von Geflüchteten. Besonders der Kampf gegen Homo-/Transphobie und Sexismus ist ein wichtiges Thema für sie. Kein Zufall also, dass Kate regelmäßig bei uns über sexuelle Unterdrückung und Befreiung schreibt – selbst von Australien aus, wo sie gegenwärtig wieder wohnt. In dieser Ausgabe könnt ihr von ihr eine Analyse des neuen Popfeminismus auf S. 76 lesen. Kates politisches Engagement lässt sich gut mit dem Titel des Widerstandsliedes »We Shall Overcome« zusammenfassen. Zufällig hat sie herausgefunden, dass ihre Eltern es schon 1968 bei der ersten Studentendemo für Menschenrechte in Belfast gesungen haben. In diesem Sinne: Zusammen können wir alles bewältigen! Und: Fight on, dear comrade!

Das Nächste Mal: Yaak pABST


Einige Mitglieder hetzen gegen Muslime, andere feiern mit ihnen das Fastenbrechen. Einige hetzen gegen Ausländer, andere fordern Abschaffung der Residenzpflicht und Recht auf Arbeit für Flüchtlinge. André Paschke, Hamburg

Zum Artikel »Das Dilemma von Mythen« von Ute Evers (Heft 4/2013)

Zum Artikel »Mit links gegen die EU« von Volkhard Mosler (Heft 4/2013) Dem Aufruf von Volkhard Mosler ist vollkommen zuzustimmen: Neben der Beteiligung an Kriegseinsätzen ist das Thema »Eurorettung« das zweite große Politikfeld, auf dem DIE LINKE ein Alleinstellungsmerkmal im Parlament besitzt. Dieses Thema darf nicht der AfD überlassen werden, es muss von der LINKEN offensiv besetzt werden. Allerdings denke ich, dass man dem Auftauchen der AfD auch Positives abgewinnen kann. Dass in den letzten Monaten überhaupt über die Eurokrise diskutiert wurde, liegt zu einem großen Teil auch an der AfD, da die etablierten Parteien das Thema gerne im Wahlkampf ignoriert hätten. Vor allem aber könnte es in der Geschichte der BRD erstmals eine Partei rechts von der CDU und damit eine Spaltung im konservativen Lager geben. Als Linke kennen wir diese Spaltungen sehr genau und wissen, dass diese meistens zu einer Schwächung des politischen Lagers im Parlament führen. Das Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag ist ein erstes Anzeichen für die Gefahr, die von der AfD fürs bürgerliche Lager ausgeht. Auch Angela Merkel wird es in Zukunft schwerer haben, unbegrenzt mit (teils verbalen, teils realen) Annäherungen an sozialdemokratische Positionen im Lager von SPD und Grünen nach Stimmen zu fischen. So wird es ihr in Zukunft nicht mehr gelingen, ihre Europapolitik als alternativlos darzustellen, da sie damit rechnen muss, dass im Gegenzug Wähler zur AfD abwandern. Dieser Druck kann hilfreich sein, da er die Union und Angela Merkel zu klaren Positionen zwingt, die sie in den letzten Jahren immer vermieden hat, womit ihre Beliebtheit und die daraus resultierende politische Lähmung der öffentlichen Debatten zumindest teilweise erklärt werden kann. Darüber hinaus ist die AfD noch in einer Findungsphase; ob sie sich klar rechtspopulistisch entwickelt, ist noch nicht sicher:

Die Rezension des Buches »Schwarze Haut, weiße Masken« von Frantz Fanon halte ich für den bedeutsamsten Artikel des gesamten Heftes, weil sie sich einem in Deutschland sträflich vernachlässigten Thema widmet, das angesichts der wachsenden Zahl von Migranten viel öfter thematisiert werden sollte: den psychischen Auswirkungen von Rassismus als Instrument der Unterdrückung. Als Mutter von vier afro-deutschen Kindern und als Betreuerin in einer Jugendwohnung mit hohem Migrantenanteil kann ich sagen: Es ist ein ständiger Kampf gegen Rechtfertigungsdrang, Scham, Selbsthass und ähnlich »erbauliche Emotionen«. Besonders schlimm ist da die Haltung mancher weißer Mitbürger, die im Brustton der Überzeugung kundtun, dass es in Deutschland keinen Rassismus mehr gäbe und die Klagen nichtweißer Personen als Überempfindlichkeit oder gar Einbildung abtun. In der Psychologie nennt man das »doppelte Traumatisierung«: zuerst das Trauma, später dessen Leugnung. Garnet Bräunig-Boampong, Hamburg

Zum Interview mit Terry Eagleton (Heft 4/2013) Es würde mich wirklich interessieren, welche Kritik Eagleton an Dawkins und Hitchens hat. Er sagt zwar, sie seien im Unrecht, macht aber nicht klar inwiefern. Marx war Materialist. Wo bleibt da noch Raum für Übersinnliches? Lars Stern auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Der syrische Alptraum« von der marx21-Redaktion (Heft 4/2013) In eurem neuesten Syrien-Artikel behauptet ihr, die Militärfachzeitung »Jane‘s« habe geschrieben, nur 10 Prozent der bewaffneten Rebellen seien radikale Islamisten. Im britischen »Telegraph« wird der Inhalt der Analyse von »Jane‘s« aber ganz anders wiedergegeben: Von 100.000 Kämpfern sollen allein 10.000 Dschihadisten in Verbindungen zu al-Qaida stehen, weitere 30.000 bis 35.000 werden als »islamistische Hardliner« aufgeführt. Soweit ich sehe, berücksichtigt der Artikel in »Jane‘s« auch nicht die Tatsache, dass sich inzwischen ein erheblicher Teil der

FSA-Gruppen radikal-islamistischen Bündnissen angeschlossen – oder um genauer zu sein: untergeordnet – hat, was auch einiges über den Charakter der FSA als Dachorganisation aussagt. Wenn es um die Zukunft der syrischen Gesellschaft geht, kann man wohl kaum nur die »salafistischen Internationalisten« à la Jabhat an-Nusra oder ISIS als radikale Islamisten berücksichtigen. A. Holberg, Bonn

Zum Briefwechsel zwischen Arno Klönne und Stefan Ziefle zum Thema Syrien (Heft 4/2013) In Syrien gibt es vom Regime kontrollierte, umkämpfte und befreite Gebiete. In den befreiten Gebieten hoffen die Menschen, dass das brutale Regime Assads gestürzt wird. In den umkämpften Gebieten wird ein sehr großer Teil das ebenfalls hoffen, sonst könnten dort keine Kämpfe geführt werden. In den von Regime kontrollierten Gebieten wird es sicherlich noch viele Anhänger des Regimes geben. Für uns Linke in Deutschland ist nicht die Frage, ob wir auf eine Revolution hoffen. Die Frage ist vielmehr: Wenn in Syrien noch so viele mit der Hoffnung auf einen Erfolg ihrer Revolution kämpfen, was können Linke in Deutschland tun, um diese revolutionäre Entwicklung zu stärken? Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Menschen, die nach fast drei Jahren opferreichen Kampfes für den Sturz des unterdrückerischen Regimes es wollen, dass das Regime wieder die Macht über sie zurückgewinnt. Sie hoffen auf einen Erfolg ihres Kampfes. Solange diese Menschen ihre Hoffnung nicht aufgegeben haben, werde ich als Linke in Deutschland nicht den »Rat« geben: »Gebt doch auf, Eure Revolution ist sowieso schon enteignet worden und verloren.« Gerade weil die Menschen in Syrien für ihr tägliches Überleben einen politischen, demokratischen Kampf führen, sind sie sehr wohl in der Lage zu erkennen, wer den Kampf gegen das Regime nur deswegen führt, um die eigene Herrschaft durchzusetzen. Wir müssten als Linke gemeinsam deutlich sagen: Die kämpfenden Teile der Bevölkerung brauchen unsere Solidarität, damit sie überhaupt in der Lage bleiben, selber eine Rolle dabei zu spielen, wie es in Syrien weitergehen kann. Stefanie Haenisch, Frankfurt am Main

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

LeserbriefE

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AKTUELLE ANALYSE

Von Lampedusa nach Hamburg Während es vielerorts in Europa zu rassistischen Pogromen gegen Flüchtlinge kommt, erlebt die Hansestadt gerade das Gegenteil: eine breite Bewegung für das Bleiberecht von Flüchtlingen, verbunden mit dem Kampf für ein Recht auf Stadt Von Florian Wilde ★ ★★

Florian Wilde ist Mitglied im Parteivorstand der LINKEN.

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s waren ungefähr dreihundert westafrikanische Flüchtlinge, die im Frühjahr 2013 von Libyen kommend Hamburg erreichten. Ihr Weg hatte sie nach einer gefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer zunächst auf die italienische Insel Lampedusa geführt. Laut den EU-Regelungen wäre Italien als erstes europäisches Land, das die Flüchtlinge betraten, für sie zuständig gewesen. Doch die dortigen Behörden drückten den Menschen etwas Geld und – in anderen EU-Ländern wertlose – Papiere in die Hand und schickten sie nach Norden. In Hamburg angekommen, weigerten sich die Behörden unter Verweis auf die EU-Richtlinien, den Flüchtlingen eine dauerhafte Unterkunft zur Verfügung zu stellen und versuchten, sie gleich wieder aus der Stadt zu treiben. Doch die Flüchtlinge wollten nicht weiter ziehen. Wohin denn auch? Sie entschieden sich zu bleiben, an die Öffentlichkeit zu gehen und für ihre Rechte zu kämpfen. Sie stießen dabei auf eine spontane Welle der Sympathie und Solidarität in Teilen der Bevölkerung. Evangelische Kirchen öffneten ihre Tore, ebenso Moscheen. Auch alternative Zentren und Wohnpro-

jekte nahmen Flüchtlinge auf. Etwa 80 fanden Unterschlupf in der St.-Pauli-Kirche, gleich neben den ehemals besetzten Hafenstraßen-Häusern und dem Park Fiction, einem von den Anwohnern gegen Investoreninteressen durchgesetzten und selbstgestalteten Park. Dort organisierten die Anwohner mehrere Willkommens-Grillabende für die Flüchtlinge. Jeden Tag wurden Lebensmittel und Decken zur Kirche gebracht, um die Flüchtlinge zu unterstützen. Der Fußballclub FC St. Pauli spendete Getränke und Fanbekleidung, für jedes Spiel werden Gratiskarten an Flüchtlinge gegeben. ver.di und die GEW organisierten eine Willkommensparty im Gewerkschaftshaus. Die Flüchtlinge traten kollektiv bei ver.di ein, wodurch sie in den Genuss des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes kamen. Nachdem es zu rassistischen Pöbeleien von Burschenschaftern gegen die Flüchtlinge gekommen war, meldete sich ein bekannter Kiez-Türsteher freiwillig, um wochenlang nachts vor der Kirche Wache zu halten. Der damals noch linke AStA der Universität Hamburg, linke und autonome Gruppen, DIE LINKE, ver.di, GEW und andere organisierten eine erste große antirassistische Demonstration Anfang April dieses Jahres. Auch auf der gro-


doch. Sie würden sich sonst illegaler Fluchthilfe schuldig machen. Als es Anfang Oktober vor Lampedusa zu einer Schiffskatastrophe mit über 270 ertrunkenen Flüchtlingen kam, wuchs die Solidarität in der Hamburger Bevölkerung weiter. An der harten Linie des Senates änderte sich allerdings nichts. Im Gegenteil: Er stellte den Flüchtlingen ein Ultimatum, sich bis zum 11. Oktober bei den Behörden zu melden und registrieren zu lassen. Nach Ablauf des Ultimatums begannen massive rassistische Polizeikontrollen mit dem Ziel, die Flüchtlinge zu erfassen und ihre Abschiebung vorzubereiten. Vor Kirchen und anderen Unterkünften lauerten die Beamten afrikanisch aussehenden Menschen auf. Dagegen erhob sich eine spontane Welle des Protests. Noch am gleichen Abend gingen in Altona über 1000 Menschen auf die Straße, spontan, wütend und sehr laut. Am nächsten Tag, einem Samstag, versammelten sich bereits am Mittag trotz Hamburger Dauerregens viele hundert Menschen im Park Fiction und zogen durch St. Pauli. Viele An-

AKTUELLE ANALYSE

Ein bekannter Kiez-Türsteher hielt nachts vor der Kirche Wache

© marx21 / CC BY-SA

ßen Herbstdemonstration »Keine Profite mit der Miete« des Hamburger »Recht auf Stadt«-Bündnisses am 28. Oktober spielte das Thema eine wichtige Rolle. Doch während die Flüchtlinge viel Solidarität aus der Bevölkerung, von linken Gruppen und Gewerkschaften erfuhren, blieb der SPD-geführte Hamburger Senat bei seiner harten Linie: Die Anwesenheit der Flüchtlinge verstoße gegen EU-Richtlinien, sie müssten die Stadt verlassen. Als es im Herbst kälter wurde, wollten die Kirchen Container aufstellen, in denen die Flüchtlinge schlafen könnten. Während der Bezirk Altona mit den Stimmen von SPD, Grünen und LINKEN diesem Vorgehen zustimmte, untersagte der Senat es den Kirchen je-

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PROTEST

Wir Bleiben! Hamburg 21. 12. Der Kampf der Flüchtlinge für ein Bleiberecht in Hamburg geht weiter. An allen vier Adventssamstagen sind Demos durch die Hamburger Innenstadt geplant. Am 21. Dezember findet eine bundesweite Großdemonstration statt. Weitere Infos findest du unter: www.lampedusa-inhamburg.tk

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wohner schlossen sich an. Am Sonntag blockierten 50 Unterstützer aus Protest den Eingang des Hamburger Rathauses. Noch am gleichen Abend kam es in der Roten Flora, dem besetzten autonomen Zentrum im Schanzenviertel, zu einer Vollversammlung, um den Umgang mit den Polizeikontrollen zu diskutieren. Im Anschluss demonstrierten erneut über 500 Leute spontan durch die Schanze für ein Bleiberecht der Flüchtlinge. Die Vollversammlung beschloss außerdem ein Ultimatum an den Hamburger Senat: Wenn dieser nicht bis zum kommenden Dienstagabend die Polizeikontrollen der Flüchtlinge beende, werde man wieder auf die Straße gehen und den Protest eskalieren: »Wir beschränken uns nicht mehr auf legale Protestformen, wenn tagtäglich Menschen im Mittelmeer ertrinken und dies alles vom Hamburger Senat trotz internationaler Kritik lediglich zum Anlass genommen wird, den Druck auf Flüchtlinge zu erhöhen.« Tatsächlich versammelten sich am Dienstagabend weit über 1000 Menschen vor der Roten Flora und zogen unangemeldet durch das Schanzenviertel. Nach wenigen hundert Metern wurde die Demonstration von der Polizei brutal angegriffen, als Reaktion flogen Steine, Flaschen und Böller. Stundenlang setzten Kleingruppen den Protest fort. Nur einen Tag später, am Mittwoch, den 16. Oktober, waren es erneut etwa 1100 Menschen, die von einem Protestcamp der Flüchtlinge vor dem Hauptbahnhof aus durch die Innenstadt zogen. Gleichzeitig veröffentlichte die 10. Klasse einer Schule auf St. Pauli einen Aufruf, in dem es hieß, sie würden ihre Turnhalle den Flüchtlingen zu Verfügung stellen. Als der Senat darauf verlauten ließ, die Schüler

»Come together«: Die Hamburger demonstrieren ebenso für das Bleiberecht von Geflüchteten wie gegen den Ausverkauf der Hansestadt

»Wir sind stolz darauf, dass unsere Kinder dem Senat die Stirn zeigen« würden sich strafbar machen, folgte ein Aufruf des Elternrates der Schule. Die Eltern der Schüler zeigten sich darin aus Solidarität selbst an und erklärten: »Wir stehen voll und uneingeschränkt hinter unseren Schülern. Wir sind stolz darauf, dass unsere Kinder dem Senat die Stirn zeigen (…) Wir rufen die Bürger dieser Stadt zum Ungehorsam gegen den Rassismus in dieser Stadt auf!« Am 25. Oktober folgten fast 10.000 Menschen einem Aufruf der FC-St.-Pauli-Fanszene und marschierten nach dem Fußballspiel aus Solidarität zur St.-Pauli-Kirche. Eine Woche später, am 2. November, beteiligten sich etwa 15.000 an der bisher größten Demonstration zur Unterstützung der Flüchtlinge.

Die Proteste in Hamburg beziehen ihre Stärke und Dynamik auch aus ihrer engen Verbindung mit der »Recht auf Stadt«-Bewegung, die sich gegen die Privatisierung des öffentlichen Raumes, für günstigen Wohnraum, gegen Kommerzialisierung und für Freiräume für alle – also auch Flüchtlinge – einsetzt. In Hamburg gibt es eine lange Tradition linker stadtteilpolitischer Kämpfe und Bewegungen. So wurden in den 1980ern und frühen 1990er Jahren die Hafenstraße, die Rote Flora und viele weitere Häuser besetzt und ihr Erhalt, meist in der Form von Wohnprojekten, durchgesetzt. Die Rote Flora besteht sogar seit 1989 als besetztes autonomes Zentrum ohne jeden Vertrag. Zwar wurden andere Projekte geräumt und beendet, wie im Jahr 2002 der Bauwa-


Unter dem Druck der Proteste hat der Senat inzwischen der Aufstellung von beheizten Containern auf dem Gelände der Kirchen zugestimmt. Der eigentlichen Forderung der Flüchtlinge verweigert er sich aber weiter: einer Kollektivlösung inklusive des Bleiberechts für die gesamte Gruppe. Der Straßenprotest wird bisher im Wesentlichen von linken und autonomen Gruppen, der Partei DIE LINKE und einigen Gewerkschaftsgliederungen getragen. Die konkrete Solidarität mit den Flüchtlingen besteht vor allem in den von jahrelangen linken Bewegungen geprägten Stadtteilen wie St. Pauli, Altona und Sternschanze. Andernorts trifft die Haltung des Senats weiterhin auf viel Zustimmung und zum Teil auch auf weitverbreitete rassistische Ressentiments. Um die mit absoluter Mehrheit regierende SPD tatsächlich zu einer Abkehr von ihrem Kurs zu zwingen, wird es für die Bewegung notwendig sein, den Druck aufrechtzuerhalten, zu erhöhen und andere Spektren wie sozialdemokratische und grüne Milieus in die Bewegung hineinzuziehen. Dies ist in Ansätzen mit der Großdemonstration am 2. November bereits gelungen. Der Herbst 2013 hat in Hamburg heiß begonnen, und es soll so weitergehen: Zahlreiche weitere Demonstrationen und Aktionen für ein Bleiberecht für die Flüchtlinge und für ein Recht auf Stadt sind geplant. Sie sollen in einer bundesweiten Großdemonstration am 21. Dezember unter dem Motto »Here to stay: Refugees, Esso-Häuser, Rote Flora – Wir bleiben alle« gipfeln. ■

AKTUELLE ANALYSE

© Rasande Tyskar / CC BY-NC / flickr.com

genplatz »Bambule«. Jedoch folgten darauf monatelange, zum Teil militante Proteste, die der Stadt die Lust an weiteren Räumungen nahmen. Als in den späten 2000er Jahren die Mieten in Hamburg regelrecht explodierten, formierte sich auch der Widerstand in einem »Recht auf Stadt«-Netzwerk neu. Alljährlich gelingt es seitdem, viele tausend Menschen zu Herbstdemos gegen den »Mietenwahnsinn« zu mobilisieren. Sobald Investorenpläne für die innerstädtischen Gebiete bekannt werden, gibt es Proteste: Anwohner hängen Protestfahnen aus den Fenstern, Aktivistinnen und Aktivisten besetzen symbolisch Häuser und organisieren Informationsveranstaltungen, aktuell etwa gegen den drohenden Abriss der sogenannten »Esso-Häuser« an der Reeperbahn. Zwar konnten die Proteste viele Investorenpläne trotzdem nicht verhindern, aber unter dem Druck der Bewegung sahen sich schließlich alle Parteien in Hamburg gezwungen, die Mietenfrage in das Zentrum des Wahlkampfes zu rücken und massive Wohnungsbauprogramme zu verspre-

chen. Aber auch ganz konkrete Erfolge konnte die Bewegung erzielen: Im Sommer des Jahres 2009 besetzten Künstlerinnen und Künstler das Gängeviertel, zwei kleine denkmalgeschützte Straßenzüge in der Innenstadt, um den Abriss durch einen Investor zu verhindern. Seitdem besteht das Gelände als selbstverwaltetes nichtkommerzielles Wohn- und Kulturprojekt. Im Spätsommer 2013 wurde bekannt, dass die Rote Flora in ihrer Existenz als besetztes linksautonomes Zentrum bedroht ist Vor Jahren schon von der Stadt an einen Investor verkauft, hat dieser nun angekündigt, die Flora in eine kommerzielle Konzerthalle zu verwandeln. Alle Parteien bis hin zur CDU haben sich gegen eine Veränderung an der Roten Flora ausgesprochen: Sie gehöre so, wie sie ist, zum Schanzenviertel. Denn allen ist klar: Die Flora hat eine weit über Hamburg hinausreichende Bedeutung. Ihre Räumung würde zu heftigen Protesten führen und immense finanzielle und politische Kosten verursachen. Diese scheut die Politik. Dennoch ist es möglich, dass der Investor vor Gericht seine Interessen und damit eine Räumung der Roten Flora durchsetzt. Seit dem Bekanntwerden der Gefährdung der Flora wurden von dort aus zahlreiche Aktivitäten entfaltet, die sich zugleich immer auch auf den Kampf der Flüchtlinge beziehen.

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AKTUELLE ANALYSE

Ein Drahtseilakt Die Sondierung in Hessen ist vorbei, ein rot-rot-grünes Bündnis vom Tisch. Der Druck auf DIE LINKE, in die Regierung zu gehen, war immens. Doch die Partei blieb ihren Grundsätzen treu ★ ★★

Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21 und Mitglied der LINKEN in Frankfurt.

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Von Volkhard Mosler

84 Prozent der LINKENWähler in Hessen wollten Rot-Rot-Grün

ach der hessischen Landtagswahl im September war klar: Die Koalition aus CDU und FDP wird nicht weiter regieren. Stattdessen verfügen nun SPD, Grüne und DIE LINKE im Landtag über eine Mehrheit von zwei Stimmen. Anders als das Ergebnis der Bundestagswahl signalisierte dieser Wahlausgang eine gewisse Wechselstimmung: Die hessische SPD unter Thorsten Schäfer-Gümbel hat wesentlich besser abgeschnitten als die Bundespartei mit Kanzlerkandidat Per Steinbrück, konnte aufgrund der Verluste der Grünen aber keine rot-grüne Koalition bilden. Eine Koalition unter Beteiligung der erneut in den Landtag eingezogenen LINKEN war hingegen möglich – und wurde von vielen Menschen auch gewünscht. Infratest-Dimap ermittelte Mitte Oktober, dass 42 Prozent der SPD-Wähler, 48 Prozent der Grünen-Wähler und 84 Prozent der LINKEN-Wähler in Hessen ein solches Regierungsbündnis befürworten würden. In den Tagen und Wochen nach der Wahl wurde die Landtagsfraktion der LINKEN geradezu mit Zuschriften bombardiert. Meistens stand darin, sie solle kompromissbereit sein und so eine Ablösung des Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) durch ein linkes Regierungsbündnis ermöglichen. Diese Forderung wurde nicht zuletzt von Menschen und Organisationen erhoben, an deren Seite DIE LINKE in den vergangenen Jahren gekämpft

hat: Gewerkschaften, Initiativen gegen den Fluglärm, Mieterinitiativen und Flüchtlingsnetzwerke. DIE LINKE stand also unter Druck, weil viele erhebliche Hoffnungen auf eine rot-rot-grüne Regierung setzten.

Diese Hoffnungen waren jedoch unrealistisch. Dies zeigt sowohl ein Blick auf die Rahmenbedingungen als auch auf die politische Linie der möglichen Koalitionspartner SPD und Grüne. Zunächst zu den Rahmenbedingungen: Das Land Hessen macht jährlich etwa 1,5 Milliarden Euro neue Schulden, bei einem Haushaltsvolumen von etwa 22 Milliarden Euro. Nach den Vorgaben der »Schuldenbremse« müsste diese Neuverschuldung bis zum Jahr 2020 auf null reduziert werden. SPD und Grüne hatten beide erklärt, dass sie die Schuldenbremse einhalten wollen. Hierbei setzen sie sich sogar noch ehrgeizigere Ziele als die bisherige schwarz-gelbe Regierung, die auch noch für 2020 eine Neuverschuldung von 370 Millionen Euro vorgesehen hatte. Will man die Schuldenbremse tatsächlich einhalten, muss man das größte Kürzungsprogramm in der Geschichte des Landes Hessen durchsetzen – größer noch als im Jahr 2003 die »Operation sichere Zukunft« des damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU), welche Einsparungen von einer Milliarde Euro umfasste. Sozialdemokraten und Grüne hatten im Vorfeld der Verhandlungen auch schon


© DIE LINKE Main-Kinzig

Es war ein schmaler Grat für Janine Wissler, die Fraktionsvorsitzende der hessischen LINKEN: Die »rote Linie« nicht überschreiten und gleichzeitig den Wählerinnen und Wähler nicht vor den Kopf stoßen

verbunden mit der Mobilisierung der Bevölkerung. Zudem hätte sie Landeshaushalte verabschieden müssen, die keinerlei Kürzungen, sondern Mittelaufstockungen enthalten hätten. All dies haben SPD und Grüne jedoch kategorisch ausgeschlossen. Das war also die Situation vor den Verhandlungen. Allerdings war der hessischen Bevölkerung davon nur wenig bekannt. Die Frage war also, wie DIE LINKE mit den Erwartungen ihrer Wählerinnern und Wähler sowie vieler Mitglieder umgehen sollte. Die Partei befand sich in Hessen schon einmal in dieser Situation, nämlich im Jahr 2008. Wir sprachen damals von einem »Drahtseilakt«, den DIE LINKE zu meistern habe, bei dem sie sehr leicht nach links oder nach rechts abstürzen könnte. Heute fügen wir hinzu: Die Absturzgefahr nach rechts war wesentlich größer, weil der Druck von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften groß war, sich bedingungslos in ein »linkes« Regierungsbündnis zu begeben. Unter den oben beschriebenen Bedingungen hätte dies jedoch bedeutet, dass DIE LINKE früher oder später für Sozialabbau und Massenentlassungen im öffentlichen Dienst verantwortlich sein würde. Die Fraktionsvorsitzende der hessischen LINKEN, Janine Wissler, hat in den Sondierungsgesprächen immer wieder betont, dass ihre Partei für eine Ablö-

AKTUELLE ANALYSE

geäußert, wie sie diese massive Ausgabenkürzung bewältigen wollten: durch Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst, etwa bei den Lehrern. Der Kürzungsdruck für eine neue Regierung wäre geringer, wenn auf Bundesebene eine massive Steuererhöhung für Reiche und Konzerne beschlossen worden wäre. Das hätte Ressourcen für die öffentliche Infrastruktur auch auf kommunaler und auf Landesebene gebracht. Doch die Bundes-SPD hat in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU ihre Forderungen nach Steuererhöhungen für Reiche fallenlassen. Die neue Landesregierung wird also, egal wie sie sich zusammensetzt, frontale Angriffe auf die Wählerschaft von LINKEN, SPD und Grünen durchführen müssen: Es stehen massive Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst an, Mittelkürzungen bei Kitas, Schulen und Hochschulen sowie im ÖPNV und beim sozialen Wohnungsbau. Zudem ist mit weiteren Privatisierungen zu rechnen. Für DIE LINKE wäre die Rolle als Juniorpartner in einer Regierung, die spart »bis es quietscht«, einem politischen Selbstmord gleichgekommen. Die einzige Alternative, die eine rot-rot-grüne Landesregierung zum Verrat an ihren eigenen Wahlprogrammen gehabt hätte, wäre ein offensiver Kampf gegen die Steuerpolitik der Bundesregierung gewesen,

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sung von Ministerpräsident Volker Bouffier und für ein rot-rot-grünes Bündnis bereit sei. Das hat viele irritiert, gehört doch sowohl sie als auch ihr Landesverband eher zum linken Parteiflügel, der Regierungsbeteiligungen unter den heutigen finanziellen Bedingungen und sozialen Kräfteverhältnissen kritisch, ja ablehnend gegenübersteht. Janine Wissler und der hessische Landesvorsitzende Ulrich Wilken haben aber von Beginn an keinen Zweifel daran gelassen, dass sie nicht bereit sind, unter dem Druck der Schuldenkrise Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst oder anderen Formen des Sozialabbaus zuzustimmen. Wissler sprach von einer »roten Linie«, die DIE LINKE nicht überschreiten werde. Nach links hätte die hessische LINKE sehr leicht abrutschen können, wenn sie mit Verweis auf negative Erfahrungen in anderen Bundesländern von Anfang an erklärt hätte, dass sie gegen jedes Regierungsbündnis mit SPD und Grünen sei. Der politische Preis einer solchen abstrakten Weigerung wäre hoch gewesen, DIE LINKE hätte die Mehrheit ihrer Wählerinnen und Wähler vor den Kopf gestoßen, die Hoffnungen in ein solches Bündnis setzen und nicht wissen, wie begrenzt dessen Handlungsmöglichkeiten gewesen wären. Die einzige Möglichkeit, den Drahtseilakt der Bündnisverhandlungen einigermaßen unversehrt zu bewältigen, bestand darin, den Wählerinnen und Wählern deutlich und nachvollziehbar zu machen, dass ihre Hoffnungen auf bessere Verhältnisse am mangelnden Durchsetzungswillen von SPD und Grünen scheiterten. Die ausführlichen, über vier Wochen dauernden Sondierungsgespräche zwischen Sozialdemokratie, Grünen und LINKEN sind ein Lehrstück für eine solche Politik. In den ersten beiden Verhandlungsrunden wurden viele Gemeinsamkeiten in der Bildungspolitik, der Energiepolitik, der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik festgestellt. In der Innenpolitik zeigte sich DIE LINKE »kompromissbereit«: Sie machte die Abschaffung des Landesamtes für Verfassungsschutz ebenso wenig zur Vorbedingung eines Regierungsbündnisses wie die Schließung der neuen Landebahn des Frankfurter Flughafens oder die Schaffung von Tausenden Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst. Aber sie rückte nie von ihren Grundbedingungen ab: kein Stellenabbau, kein Sozialabbau und keine Privatisierungen. Nach der vierten Run-

de zitierte die »Frankfurter Neue Presse« (FNP) SPDChef Thorsten Schäfer-Gümbel, der weiterhin eine »positive Grundstimmung« für einen Politikwechsel ausmachte. Aber, fragte die Zeitung, was heiße schon »positive Grundstimmung«, wenn es »mit den Programmen nicht klappt?« Den Verhandlungspartnern seien »viel zu viele der häufig beschworenen ›roten Linien‹ im Weg«, über die »niemand gehen« wolle. So verweigere die Linkspartei »standhaft Kompromisse bei den Personalkosten, während sich SPD und Grüne einig sind, dass es ohne Einschnitte in den Bestand der Landesbediensteten keine Konsolidierung geben kann«. Die Vertreter von SPD und Grünen, die jeweils gemeinsam zu den Verhandlungen anrückten, ließen keine Gelegenheit aus, öffentlich die Unnachgiebigkeit der LINKEN für das mögliche Scheitern der Sondierungsgespräche verantwortlich zu machen – und verschwiegen, dass nicht nur die Maximalforderungen der LINKEN, sondern auch ihre eigenen Minimalziele mit der Schuldenbremse nicht umzusetzen sind. Den Vorsitzenden der LINKEN-Landtagsfraktion, Willy van Ooyen, zitierte die »FNP« mit den Worten: »Wir sind die einzigen, die dieses Bündnis wirklich wollen.« Die »FNP« stimmte zu: »Damit hat von Ooyen wohl Recht.« Nachdem die Verhandlungen über Rot-Rot-Grün in Hessen endgültig gescheitert sind, wissen die Wählerinnen und Wähler, dass DIE LINKE zu Verbesserungen in Bildung und Sozialpolitik bereit war, sich aber geweigert hat, den Haushalt zu Lasten der Beschäftigen des öffentlichen Dienstes zu sanieren – und das heißt auch: zu Lasten der Schülerinnen, Schüler, Eltern, Studierenden und vieler anderer. Zwei wichtige Lehren ergeben sich aus den hessischen Sondierungsgesprächen für DIE LINKE auch andernorts: 1. Öffentlich und offensiv auf die »roten Haltelinien« zu bestehen vermeidet den Weg in die politische Isolation, ohne die Identität der Partei zu verraten. 2. Die Politik der Haushaltskonsolidierung ohne eine andere Steuerpolitik, die zu Mehreinnahmen der öffentlichen Hand führt, geht verschärft zu Lasten des öffentlichen Dienstes. Die Angriffe richten sich auf die dort Beschäftigten ebenso wie auf die Menschen, die auf öffentliche Dienstleistungen und Unterstützung angewiesen sind. DIE LINKE hat sich dabei in Hessen nicht zur Komplizin gemacht. So sollte sie es auch andernorts halten. ■

Wisslers Haltung hat viele irritiert, gilt sie doch als Linke

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AKTUELLE ANALYSE

Die Politik der harten Hand Der schwarz-rote Koalitionsvertrag trägt eine deutliche Handschrift – die der Konzerne. Eine Analyse Von David Maienreis

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David Maienreis ist wirtschaftspolitischer Referent der Linksfraktion im hessischen Landtag.

ach langen Verhandlungen haben sich die Vorsitzenden von SPD, CDU und CSU am 27. November auf einen Koalitionsvertrag geeinigt (vorbehaltlich des SPDMitgliederentscheids, der erst nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe stattfand, Anm. d. Red.). Große Enttäuschungen enthält er nur für die wenigen SPD-Wähler, die darauf gehofft hatten, die Sozialdemokratie würde sich tatsächlich von der Agenda-Politik aus der Schröder-Fischer-Zeit distanzieren. Doch allein schon die Kür Peer Steinbrücks zum Spitzenkandidaten machte deutlich, dass dies recht unwahrscheinlich sein würde.

Die Kürzungen werden alles Gekannte übertreffen

Was die Großkoalitionäre nun als Programm für die kommenden vier Jahre vorgestellt haben, lässt sich als eine Politik der ruhigen, aber harten Hand beschreiben. Frontale Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung will die Bundesregierung nicht selbst unternehmen, dafür wird das Geschäft der schmerzhaften Einschnitte auf die unteren Ebenen, also die Länder und Kommunen, verlagert. Steuererhöhungen, durch die der Bund wieder in die Lage käme, tatsächliche Verbesserungen für die Bevölkerung zu

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finanzieren, hat die neue Regierung eine pauschale Absage erteilt. Das bedeutet, dass der Bund den Status quo verwalten wird, Länder und Gemeinden aber dazu gezwungen werden, tausendfach und schmerzhaft im Kleinen zu kürzen: Das wird vor allem bei den sogenannten freiwilligen Leistungen geschehen, also bei den Zuschüssen zu Schwimmbädern, Bibliotheken, beim Nahverkehr, bei sozialen Einrichtungen, öffentlichen Investitionen und letztlich beim öffentlichen Dienst. Dort steht vielerorts ein Stellenabbau bevor, der die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Hand auf die Aufgaben eines Nachtwächterstaates zurückstutzt. Die auf Grund der Finanznot anstehenden Kürzungsattacken in Ländern und Gemeinden werden alles bisher Gekannte übertreffen, wenn die »Schuldenbremse« tatsächlich eingehalten werden soll. Aber es wird nicht die Bundesregierung sein, die deswegen den Hass der Bevölkerung auf sich zieht. Für die Schließungen von Frauenhäusern und Nachhilfeeinrichtungen und den systematischen Betrug bei den Unterkunftskosten von ALG-II-Beziehern sind schließlich die Kommunen zuständig. Bürgermeister und Ministerpräsidenten werden sie zu verantworten haben.


© Jakob Huber / Campact / CC BY-NC

Copy-and-paste eingefügte Passagen aus der Rohstoffstrategie des Bundes der Deutschen Industrie (BDI). Auch aus älteren gemeinsamen Anträgen der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zur »Verzahnung« der unterschiedlichen Instrumente der deutschen Außenpolitik, einschließlich der Entwicklungs- und Sicherheitspolitik, haben die Autoren des Koalitionsvertrages geklaut. Sie alle sollen dem Ziel dienen, die internationalen Investitionsbedingungen für deutsche Konzerne zu verbessern und deren Zugriff auf strategische Rohstoffe zu sichern. In diesen Zusammenhang gehört ebenfalls das beeindruckend sture Festhalten an der bisherigen Europapolitik. Die hat ebenso wie die deutsche Exportoffensive zu einer tiefgreifenden Zerrüttung eben jener wirtschaftlichen und politischen internationalen Strukturen beigetragen, auf deren Erhalt das

Von Merkel in Ketten gelegt: Protestaktion am Rande der Sondierungsgespräche zwischen Sozialdemokraten und Union. Dem echten SPD-Chef Gabriel könnte genau das in den kommenden vier Jahren blühen

AKTUELLE ANALYSE

Die Bundesregierung legt derweil ein Programm vor, das auf die internationale Rolle Deutschlands und der deutschen Industrie fokussiert. Die »bewährte Flexibilität auf den Arbeitsmärkten« soll erhalten werden, also die Hartz-Reformen, die das Lohnniveau gedrückt und so den Exportboom der deutschen Industrie befördert haben. Zudem sollen mit einer immer schlechter gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft und einem wachsenden Niedriglohnsektor im Rücken die deutschen Monopolkonzerne, die »nationalen Champions«, bei ihrer Eroberung des Weltmarkts unterstützt werden. Den zweiten Schwerpunkt des Koalitionsvertrags bildet die Weiterentwicklung der politischen und militärischen Handlungsfähigkeit des deutschen Staats in der Welt. Unter dem Stichwort der »Rohstoffsicherung« finden sich im Koalitionsvertrag per

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deutsche Kapital und seine Bundesregierung setzen. Noch im Sommer hat Sigmar Gabriel dem Deutschlandradio gegenüber eine Große Koalition ausdrücklich ausgeschlossen. Nun hat die Parteiführung der SPD das Problem, dass die Zusammenarbeit mit der Union bei ihrer Basis und Anhängerschaft auf wenig Gegenliebe stößt. Sie steht vor einem Dilemma: Die Spitzen der Partei hatten am Kurs der CDU schon in den vergangenen Jahren an keinem einzigen Punkt Wesentliches auszusetzen. Der SPD-Basis aber, die in einer Mitgliederbefragung über den Koalitionsvertrag abstimmen soll, muss sie nun beweisen, dass sozialdemokratische Kernanliegen in der neuen Regierung berücksichtigt werden. Ihr »cleverer« Ausweg ist ein ziemlich durchsichtiges Verfahren. Gemeinsame Arbeitsgruppen der Koalitionspartner haben Vorschläge zu den Herzensanliegen der SPD-Anhängerschaft entwickelt, zum Beispiel zur Renten- und Sozialpolitik. In der Vorabfassung des Koalitionsvertrages hieß es hierzu dann jeweils: »Lösungsoptionen liegen vor. Wegen strittiger Finanzierung nicht abschließend konsentiert.« Was von diesen Anregungen in der Endfassung des Vertrags übrig geblieben ist, steht nun unter Finanzierungsvorbehalt. Gleichzeitig hat sich die Koalition auf eine drastische Reduzierung der Neuverschuldung und eben auf den Verzicht auf Mehreinnahmen festgelegt. Das bedeutet im Klartext: Nichts, was Geld kostet, wird umgesetzt. Und selbst die Einführung eines Mindestlohns in ungewisser Höhe und mit ungeklärtem Geltungsbereich hat die Koalition für das Jahr 2017 angekündigt, also für das Ende der Legislaturperiode oder gar für die Zeit nach ihrer Regierungszeit. Die »sozialdemokratische Handschrift« in diesem Vertrag mag nur erkennen, wer die Geschichte der Partei über die letzten 15, 50 oder 100 Jahre verfolgt hat. Doch den Anhängern der SPD wird dieses Regierungsprogramm oder was davon künftig umgesetzt wird, ähnlich enttäuschend vorkommen wie die Politik der rot-grünen Bundesregierung oder die der Großen Koalition der Jahre 2005 bis 2009. Beide Projekte führten zu massiven Mitglieder- und Wahlverlusten der SPD. Das Zustandekommen dieser Koalition und das gute Abschneiden der CDU bei der Bundestagswahl resultieren nicht nur aus der »Sozialdemokratisierung« der CDU unter Merkel. Sondern sie sind auch ein Ergebnis der Enttäuschung von SPD- und Grünen-Wählern über deren Politik als Opposition im Bundestag und als Regierung in Ländern wie BadenWürttemberg. Merkels Erfolg basiert nicht auf ihren

Angriffen auf die Lohnabhängigen und gesellschaftliche Randgruppen, sondern darauf, dass die deutsche Bevölkerung dank ihrer Politik von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bislang kaum unmittelbar betroffen ist. Zudem sieht die Mehrheit ihre sozialen Anliegen bei einer Regierung in guten Händen, die mit Zustimmung der großen Gewerkschaften eine Politik verfolgt hat, mit der die deutschen Unternehmen gut leben konnten. Dadurch sind die sozialen Kosten der Krise bislang relativ gering gehalten worden. Umfragen belegen derweil regelmäßig, dass dies keine Auswirkungen gehabt hat auf die mehrheitliche Ablehnung sämtlicher zentraler Projekte der Agenda-Politik. Die rot-grünen »Reformen« bei der Rente, der Gesundheit, der Bildung, vor allem aber die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse werden unverändert von deutlichen Mehrheiten abgelehnt. DIE LINKE ist weiterhin die einzige Partei, die diese Mehrheitsmeinung in den politischen Raum trägt.

Nichts, was Geld kostet, wird umgesetzt

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Wenn der hessische Spitzenkandidat der Grünen, Tarek Al-Wazir, der seine Partei gerade in die erste Koalition mit der national-konservativen hessischen CDU geführt hat, von der LINKEN fordert, sie müsse von der Protest- zur Gestaltungspartei werden, dann weist er damit unabsichtlich den Weg einer erfolgreichen Politik des Widerstandes. Der wird in den kommenden Jahren nötig sein und lässt sich womöglich zu einer landesweiten Protestwelle ausweiten. Denn SPD und Grüne rücken mit den Koalitionen, auf die sie sich jetzt einlassen, ein weiteres Stück vom gesellschaftlichen und betrieblichen Widerstand ab. Selbst die SPD-nahen Gewerkschaftsführungen werden sich in den nächsten Jahren hin und wieder gezwungen sehen, die Große Koalition wegen ihrer Untätigkeit und ihrer Politik der sozialen Nadelstiche zu kritisieren. In privaten und öffentlichen Betrieben besteht das Potenzial für zahlreiche Proteste gegen die Auswirkungen von Krise und Kürzungspolitik. Bei Themen wie Gorleben und Frankfurter Flughafen, Blockupy und den Volksbegehren gegen die Verschleuderung öffentlichen Eigentums können und wollen sich SPD und Grüne nicht mehr blicken lassen. Dieser höchst berechtigte Widerstand wird sich auf Grund der Krise und der tatsächlich wachsenden Rolle und Verantwortung des Staates für das wirtschaftliche Geschehen rasch politisieren. DIE LINKE ist hier in den kommenden Jahren gefordert, ihn aufzubauen und zu unterstützen und die großen Chancen, die sich ihr bieten, zu nutzen. ■


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AKTUELLE ANALYSE


© Alle Bilder Seite 16: Dieter Hoelscher

FotoSTORY

GESUNDHEIT | Am 16. November protestieren in 53 Städten insgesamt 3000 Pflegekräfte, um auf Missstände in ihrer Branche hinzuweisen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Aktion »Pflege am Boden« fordern nicht nur mehr politische und finanzielle Anerkennung, sondern vor allem eine deutliche Verbesserung der Per-

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sonalsituation. Unten links: Vor allem in kleineren Städten wie Karlsruhe, Melle oder Osnabrück schließen sich vergleichsweise viele Personen dem Protest an. Mitte: Oft machen sie wie hier in Osnabrück durch Flashmobs auf sich aufmerksam, bei denen sich alle Protestierenden zeitgleich auf den Boden legen. Allein in Osna-

brück beteiligen sich etwa 400 Leute. Der dortige »Runde Tisch Pflege« hatte die Idee zu dem bundesweiten Protest. Unten rechts: Viele leiden unter der körperlich und psychisch anstrengenden Arbeit. Sie fordern daher eine personelle Entlastung sowie mehr Förderung, um den Beruf attraktiver zu machen.


© Mark Klotz / CC BY-NC-SA / flickr.com

Fotostory

sprechen sich bei Umfragen etwa 80 Prozent gegen die Pipelines und den damit verbundenen Öltankerbetrieb vor der Küste aus. Die Provinzhauptstadt Vancouver bildet mit 2000 Menschen bei einer Kundgebung das Zentrum des Protestes. Unten rechts: Ein riesiges Müllmonster symbolisiert die Pipelinebetreiber.

© flickr.com / Say NO - UNiTE / CC BY-NC-ND

lungen mit dem Pipelinebetreiber Enbridge über die Zukunft des Projekts entscheiden werden. Unten links: »Das nervt«. Als ölverklebtes Opfer eines Pipeline-Lecks versucht ein Demonstrant auf mögliche Umweltschäden aufmerksam zu machen, sollte die Baugenehmigung erteilt werden. Mitte: In der Provinz British Columbia

© flickr.com / Fla Via / CC BY-NC-SA

© Larissa Sayer / CC BY-NC / flickr.com

Klimaerwärmung | Hände weg von unserem Klima!«. Unter diesem Motto versammeln sich Mitte November in ganz Kanada Tausende Umweltschützer und Aktivisten, um gegen den geplanten Bau einer Ölpipeline zu protestieren. Der Protest richtet sich vor allem an Premierminister Steven Harper, dessen Verhand-

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UNSERE MEINUNG

Prostitutionsdebatte

Der Irrweg der Alice Schwarzer Von Rosemarie Nünning

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enigsten einen Satz von Alice Schwarzer, Herausgeberin des feministischen Magazins »Emma«, möchte ich verteidigen: Prostitution ist kein Beruf wie jeder andere, ist nicht dasselbe wie schlecht bezahlt an einer Supermarktkasse zu sitzen. Prostitution bedeutet das Feilbieten des eigenen Körpers gegen Geld zum Zwecke des sexuellen Gebrauchs – im Unterschied zu einem intimen Austausch, wo die andere Person als gleichberechtigt und mit eigenen Bedürfnissen anerkannt wird. Deshalb ist auch die Erklärung der Prostituiertenorganisation Doña Carmen, »Prostitution ist ein Menschenrecht!«, abzulehnen. Umgekehrt wäre es richtig. Es muss ein Menschenrecht sein, sich nicht prostituieren zu müssen. Prostitution ist nicht zu trennen von Frauenunterdrückung. Die allerdings ist nicht so alt wie die Menschheit, wie es Evrim Sommer von der LINKEN im »Neuen Deutschland« geschrieben hat, sondern ist erst mit der Entstehung von Privateigentum und Klassengesellschaft aufgekommen. Aber mehr Übereinstimmung mit Schwarzer kann ich nicht aufbringen. Schwarzer veröffentlichte einen moralistischen »Appell gegen Prostitution«, werbewirksam parallel zur Lancierung ihres Buchs »Prostitution – Ein deutscher Skandal«. Darin fordert sie vor allem das repressive Eingreifen des Staats gegen Freier, Bordellbesitzer und Zuhälter, um auf diese Weise einen »Bewusstseinswandel« herbeizuführen. Sie befindet sich damit in einer unheiligen Allianz mit CDU und SPD, die sich in ihren Koalitionsverhandlungen auf eine Verschärfung der Prostitutionsgesetze geeinigt haben. Zur Untermauerung ihrer Forderungen operiert Schwarzer nach dem »Prinzip Sarrazin«: Sie setzt Zahlen in die Welt, die sie nicht belegt – bis zu einer Million Frauen in der Prostitution, über neunzig Prozent schon als Kinder missbraucht, jeder zweite Mann ein Freier, neunzig Prozent Armutsund Zwangsprostituierte. Und nebenbei macht sie

die »›sexuelle Revolution‹ der 68er-Linken«, die »Schranken eingerissen« habe, für diese Verhältnisse verantwortlich. Alle Zahlen in diesem Bereich können nur Schätzungen sein. Die Zahl von 400.000 Prostituierten in Deutschland geistert seit Ende der 1980er Jahre durch die Presse, das sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut SPI und der Unternehmerverband Erotikgewerbe sprechen jetzt von möglicherweise 200.000 Sexarbeiterinnen. Noch unsicherer wird es bei der Zwangsprostitution, schon weil die Definitionen mehr als verschwommen bleiben. Der allererste Zwang, der Frauen in die Prostitution treibt, ist ein ökonomischer. Wenn von osteuropäischen Frauen die Rede ist, die in deutsche Städte drängen, dann handelt es sich um die Opfer der Wirtschaftskrise, des europäischen Markts, der mit neoliberaler Politik erzwungenen Massenarbeitslosigkeit – und mit Blick auf Roma um Opfer von Rassismus, die zu neunzig Prozent arbeitslos in Gettos ohne Infrastruktur leben müssen. Aber auch hier in Deutschland steigt mit der Verarmung durch Arbeitslosigkeit und Hartz IV der Druck, sich zu prostituieren. Dem ökonomischen Zwang zu begegnen, hieße Arbeitsplätze zu schaffen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dazu schweigen Alice Schwarzer, CDU und SPD. Jeder repressive Eingriff in die Prostitution schafft erst die Möglichkeit der Ausübung direkten Zwangs. Die Einrichtung von Sperrbezirken und Sperrzeiten drängt Frauen in unsichtbare Bereiche, macht sie abhängig von Bordellen und Zuhältern und gefährdet sie unmittelbar. Frauen schützen zu wollen, indem sie in den Untergrund gedrängt werden, ist ein Widerspruch in sich. ■

Schwarzer operiert nach dem »Prinzip Sarrazin«

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★ ★★ Rosemarie Nünning ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Kreuzberg. Eine ausführlichere Version dieses Kommentars gibt es auf marx21.de.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Philippinen

Der Westen muss zahlen! Von Niema Movassat der Folgen und für das Ergreifen von Vorsorgemaßnahmen zu leisten – und eine engagierte Klimapolitik zu betreiben. Doch die diesjährige UN-Klimakonferenz verlief für die armen Länder einmal mehr enttäuschend. Die Verursacher sind nicht

Die Armut macht Schutz unmöglich bereit, für den von ihnen angerichteten Schaden zu bezahlen. Und das, obwohl jedes Zögern die Kosten immer höher treibt. So erklärt die UN: »Für jeden Dollar, der jetzt für Klimavorsorge und -anpassung ausgegeben wird, lassen sich zwischen vier und 36 Dollar bei künftigen Naturkatastrophen sparen«.

Derweil wechselt der Staatsminister im Bundeskanzleramt Eckart von Klaeden (CDU) direkt zu Daimler. Kurz darauf verhindert die Bundesregierung auf EUEbene strengere Abgasnormen für die Automobilbranche. Über Kompensationszahlungen wird hierzulande nicht einmal debattiert. Das ist die bittere Realität. Klimagerechtigkeit und einen besseren Schutz vor Naturkatastrophen werden die Menschen in den Ländern des Globalen Südens nur bekommen, wenn sie ihn sich erkämpfen. Wir können und müssen dabei solidarisch an ihrer Seite stehen. ■ ★ ★★ Niema Movassat ist Bundestagsabgeordneter der LINKEN und Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

UNSERE MEINUNG

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und zwölf Millionen Menschen in der Region rund um die Philippinen sind von den Folgen des Tropensturms Haiyan betroffen. Das Ausmaß der Zerstörung ist apokalyptisch. Geschockt verfolgen wir die Bilder. Was muss – neben der humanitären Hilfe – politisch passieren? Es ist die absolute Armut im Globalen Süden, die es vielen Menschen unmöglich macht, sich vor einem Sturm oder einer Überschwemmung zu schützen. Zudem können arme Länder aufgrund schwacher staatlicher Strukturen dem anschließenden Chaos nicht Herr werden. Es ist ein tragischer Zynismus, dass ausgerechnet die Weltregionen am schwersten von den Folgen des Klimawandels betroffen sind, die am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben. Deshalb ist es die Pflicht der westlichen Staaten, heute und in Zukunft angemessene Kompensationszahlungen zur Bewältigung

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TITELTHEMA Alptraum Europa

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Frankreich Sparpolitik st채rkt die radikale Rechte

Vor 100 Jahren Sozialdemokratische Europakonzepte

Erwartungen Europas Aktivisten schauen auf uns

Blockupy Wie weiter f체r die Bewegung?


Für eine linke Europakritik Am 25. Mai 2014 wählt Europa. Die extreme Rechte in Europa erhofft sich einen Durchbruch. Doch die Linke kann kontern – wenn sie ihre Haltung zur Europäischen Union klärt Von Werner Halbauer

Der Erfolg der AfD zeigt: Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung steht der EU und ihren Institutionen misstrauisch gegenüber. Auch Gewerkschaften und soziale Bewegungen kritisieren die Europäische Union. Die Kritik entzündet sich unter anderem an den Deregulierungsmaßnahmen für den europäischen Arbeitsmarkt, die die Beschäftigten und Gewerkschaften im Kampf für soziale Standards schwächen. Sie richtet sich gegen die Wettbewerbsregeln, die den freien Kapitalverkehr der großen Konzerne begünstigen, national erkämpfte Tarife aushöhlen, Privatisierungen öffentlichen Eigentums befördern und die aggressive Expansionspolitik europäischer Konzerne auf dem Weltmarkt durch EU-Mittel unterstützen. Auf Ablehnung stößt nicht zuletzt der Aufbau gemeinsamer europäischer

Einsatzkräfte (Battle Groups), um die Fähigkeit zu militärischer Intervention zu erhöhen. Die Frage ist, ob es sich hier um korrigierbare Fehlentwicklungen oder um einen grundsätzlichen Konstruktionsfehler der Europäischen Union handelt. Von ersteren geht offenbar das Forum Demokratischer Sozialismus, eine Strömung innerhalb der LINKEN, aus, wenn es mit folgenden Worten die Reform der EU fordert: »Wir setzen uns dafür ein, dass unsere neue Linkspartei die europäische Integration und die Erweiterung der Europäischen Union auf gleichberechtigter, solidarischer, ziviler und demokratischer Grundlage befürwortet.« Doch die EU und ihre Vorläufer wurden keineswegs um der Völkerverständigung willen gegründet. Darüber kann auch die Vergabe des Friedensnobelpreises an die EU für ihren »erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte« nicht hinwegtäuschen. Vielmehr stand von Beginn an das wirtschaftliche und geopolitische Interesse des europäischen Kapitals im Zentrum dieses Projekts. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein bipolares System um die beiden Weltmächte USA und Sowjetunion entstanden, in dem die westeuropäischen Staaten deutlich an internationalem Einfluss verloren hatten. Mitte der 1950er Jahre stammten 75 Prozent der weltweit größten Unternehmen aus den USA. Um mit der Stärke des US-amerikanischen Kapitals mitzuhalten und wieder international konkurrenzfähig werden zu können, musste das europäische Kapital seine Ressourcen bündeln. Die Märkte in

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Werner Halbauer ist Mitglied im Sprecherkreis der Sozialistischen Linken Berlin.

TITELTHEMA ALPTRAUM EUROPA

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ie Alternative für Deutschland (AfD) hat im September nur knapp den Einzug in den Bundestag verfehlt. Ihr zentrales Wahlkampfthema war die Kritik an der Europäischen Union. Im Mittelpunkt ihrer Kampagne stand die Empörung darüber, dass deutsche Steuergelder für die Staatsschulden der Krisenländer und die Rettung europäischer Banken aufgewendet werden. Als einzige im Bundestag vertretene Partei hatte DIE LINKE stets der Bankenrettung auf Kosten der Bevölkerung die Zustimmung verweigert. Doch in ihrem Wahlkampf spielte die Kritik an Merkels EUPolitik kaum eine Rolle. Auch deshalb wanderten insgesamt 340.000 Protestwählerinnen und -wähler von der LINKEN zur AfD ab.

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Mit der Gründung der Währungsunion erfolgte im Jahr 1990 ein weiterer entscheidender Schritt. Ziel war es, die den Freihandel störenden Schwankungen der Wechselkurse zu beseitigen und eine starke Gemeinschaftswährung in Konkurrenz zum USDollar zu etablieren. Die spätere Einführung des Euro war ein Mittel, um die Einigung Europas unter dem Diktat der wirtschaftlich stärksten Länder – insbesondere Deutschlands – weiter voranzutreiben. Die Tatsache, dass der Währungsunion keine Wirtschafts- und Finanzunion folgte, wird häufig als Konstruktionsfehler der Gemeinschaftswährung bezeichnet. Tatsächlich war es aber von Anfang an beabsichtigt, die Nationalstaaten untereinander in Konkurrenz bezüglich ihrer Steuer-, Arbeitsmarktund Sozialpolitik zu setzen. Durch den gemeinsamen Binnenmarkt und Währungsraum können Unternehmen innerhalb der Eurozone ohne Einschränkungen operieren.

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© European Parliament / CC BY-NC-ND / flickr.com

den einzelnen Nationalstaaten waren zu klein. Ein gemeinsamer europäischer Markt war nötig, damit Unternehmen so weit wachsen konnten, um mit denen der USA konkurrieren zu können. Im Jahr 1951 wurde mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) die erste überstaatliche Organisation auf europäischer Ebene geschaffen. Sie ermöglichte den Mitgliedsstaaten Deutschland, Frankreich, Italien und Benelux zollfreien Zugang zu Kohle und Stahl. Frankreich ging es zunächst vor allem darum, Einfluss auf die deutschen Kohlegebiete und die Schwerindustrie zu erlangen. Die Bundesrepublik wiederum strebte nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg und der deutschen Teilung eine Eingliederung in das westliche Staatenbündnis an. Aus der Montanunion ging im Jahr 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hervor. Deren Gründung war der nächste Integrationsschritt. Es ging um den Aufbau eines gemeinsamen Marktes, in dem sich Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte frei bewegen konnten. Bereits 1968 wurden die letzten Binnenzölle aufgehoben, jedoch geriet der Prozess auch immer wieder ins Stocken. Erst mit dem Vertrag von Maastricht von 1993 und der damit einhergehenden Gründung der EU wurde der gemeinsame Binnenmarkt vollendet. Die Aufhebung der Handelsschranken beschleunigte den Integrationsprozess und hatte zum Ziel, die Konsolidierung des Kapitals weiter zu stärken. Die Zahl der Unternehmensfusionen in Europa wuchs rasant. Durch den Zusammenschluss der nationalen Märkte zu einem großen Binnenmarkt wurde ein europäischer Wirtschaftsblock in Konkurrenz zu den USA geschaffen. Je stärker die gegenseitige Kapitaldurchdringung in Europa voranschritt, umso stärker wurden die überstaatlichen Institutionen und umso tiefer ging die Integration.

Die wirtschaftsliberale Ordnung der EU ist vertraglich festgeschrieben


Viel heiße Luft: 766 Abgeordnete sitzen im Europäischen Parlament. Es ist das einzige direkt gewählte Organ der Europäischen Union. Nach wie vor hat es kaum Kompetenzen

bedenken. »Die wirtschaftsliberale Ordnung der EU ist vertraglich fest eingeschrieben, und das seit ihrer Gründung 1957. Die bestimmende Grundlage ist der Binnenmarkt, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital garantiert wird.« Das sei »die eigentliche Verfassung der Union«, so Wehr weiter. »Darauf aufbauend hat sich über die Jahrzehnte eine aus Tausenden von Richtlinien und Verordnungen bestehende Ordnung entwickelt, die, abgesichert durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, von der Europäischen Kommission beständig weiter entwickelt wird.« Nicht nur auf politischer Ebene ist eine Reform der EU nicht denkbar – auch die Strukturen stehen ihr entgegen: Die nicht gewählte EU-Kommission verfügt über das alleinige Recht, Gesetze zu initiieren. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Institutionen, die weitgehend gegen demokratische Mitbestimmung abgeschirmt sind: der EZB-Rat, die Verteidigungsagentur, der Ratspräsident, der Hohe Vertreter

TITELTHEMA ALPTRAUM EUROPA

Die einzelnen Staaten stehen in einem scharfen Standortwettbewerb miteinander und sind gezwungen, die Unternehmenssteuern und Lohnkosten zu senken, den Arbeitsmarkt zu deregulieren und den Sozialstaat abzubauen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Unter diesem Druck konnten die Angriffe auf die Bevölkerung wesentlich leichter durchgesetzt werden. Der letzte Schritt der Integration erfolgte mit dem Versuch der Verabschiedung eines EU-Verfassungsvertrags. Dieser wurde zwar 2005 in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt. Jedoch übernahm der Vertrag von Lissabon, der im Jahr 2009 in Kraft trat, seine wesentlichen Elemente. Im Kern ging es darum, unter dem Deckmantel der Demokratisierung den Einfluss der großen Mitgliedsstaaten auszubauen und die Mehrheitsbeschaffung zu erleichtern. Diese Grundausrichtung der Europäischen Union lässt sich nicht reformieren. »Die EU ist alles andere als ein beliebig neu beschreibbares leeres Blatt«, gibt auch der linke Euro-Kritiker Andreas Wehr zu

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für Außen- und Sicherheitspolitik. Genau deswegen, weil die EU-Institutionen dem Druck von unten noch weiter entrückt sind als die nationalen Regierungen, werden immer mehr gesetzgeberische Kompetenzen dorthin verlagert. Heute kommen siebzig bis achtzig Prozent der Gesetze aus Brüssel. Den Gesetzgebungsprozess umschrieb einst JeanClaude Juncker, ehemals Vorsitzender der EuroGruppe, folgendermaßen: »Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit

Eine grundlegende Reform der EU ist kaum möglich

Auch die Währungsunion dient nicht den Menschen in Europa, sondern ist auf die Interessen der europäischen Konzerne zugeschnitten. Indem sie Wechselkursschwankungen beseitigt, nutzt sie allen europäischen Konzernen, insbesondere aber der deutschen Exportindustrie. Als Deutschland noch eine nationale Währung hatte, wurde jede Steigerung der Exporte und Handelsbilanzüberschüsse deutscher Konzerne durch die Aufwertung der D-Mark an den Finanzmärkten konterkariert und dadurch die Exporte erschwert. Der Zusammenschluss in einem gemeinsamen Währungsraum mit schwächeren Nationen führt nach außen zu einer Art Durchschnittswährung. Die dämpft den Aufwertungsmechanismus für die stärkeren Nationen und verhindert gleichzeitig, dass die Konkurrenten im Währungsraum sich mit Abwertung wehren können, um ihre Exporte zu retten. Trotz dieser Nachteile wollten und wollen auch schwächere Ökonomien in die Währungsunion. Zu groß ist die Angst, ansonsten von Kapitalströmen und Marktzugängen abgeschnitten zu sein. Dazu bringt ein EU-Eintritt für die jeweiligen herrschenden Klassen auch gewisse Vorteile: Sie können ihre Pläne von Sozialstaatsabbau und Lohnsenkung mit dem Verweis auf EURichtlinien vorantreiben. Die europäischen Großkonzerne und Banken werden alles daran setzen, dass die für sie vorteilhafte EU ebenso erhalten bleibt wie der Euro, solange nicht sie für die Krisenbewältigung und Bankenrettung zahlen müssen, sondern die Mehrheit der europäischen Bevölkerung und besonders die Bevölkerung in den Krisenländern. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dieser Analyse für linke Politik, gerade im Vorfeld der Europawahl am 24. Mai 2014?

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© aesthetics of crisis / flickr.com / CC BY-NC-SA

ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.«

Street Art in Athen: Der Künstler erwartet sich von Angela Merkel und dem griechischen Ministerpräsidenten Andonis Samaras »keine Zukunft«. In Griechenland ist die Hoffnung


Zunächst einmal: Je größer der Widerstand der Bevölkerung gegen die EU wird und je tiefer die Widersprüche werden, desto schwieriger wird es für die Herrschenden, das Kartell mit EU-Verträgen und einzelnen Hilfsmaßnahmen aufrechtzuerhalten. Deshalb sollte DIE LINKE jegliche Widerstandsbewegung in den Krisenländern solidarisch unterstützen. Zudem sollte sie für einen radikalen Schuldenschnitt zu Lasten der Banken und für das Recht der Krisenländer eintreten, der EU ohne Sanktionen den Rücken zu kehren. Von der Kapitalkonzentration und der Krisenbewältigungspolitik ist neben der Arbeiterklasse auch der Mittelstand besonders betroffen. Rechtspopulistische Parteien wie die AfD greifen mit Parolen wie »Die Griechen leiden, die Deutschen zahlen, die Banken kassieren« diese Entwicklung auf und öffnen

Die Forderung nach einem Austritt aus der EU oder dem Euro ist zwar unter dem Gesichtspunkt der Schwächung der deutschen Großmachtinteressen abstrakt richtig, würde aber hier den Widerstand gegen den Klassenkampf von oben in Europa eher schwächen. DIE LINKE muss aber deutlich machen, dass sie nicht bereit ist, die EU oder den Euro auf Kosten der Bevölkerung zu retten. Sie muss nicht nur im Wahlkampf ihre Solidarität mit den Kämpfen in den Krisenländern sichtbar machen, zum Beispiel indem sie Redner aus anderen Ländern zu ihren Wahlkampfveranstaltungen einlädt. Dafür sind Slogans geeignet wie »Kein Sozialabbau für den Euro«, »Wir zahlen nicht für ihre Krise«, »Sozialstaat retten, nicht die Banken«, die auf den Klassenkonflikt zuspitzen und propagandistisch an den Frontlinien der bestehenden Auseinandersetzungen ansetzen ‒ und nicht an technischen Diskussionen über Währungsräume. Wir sollten nicht die EU und den Euro verteidigen, sondern die erkämpften Sozialstandards und demokratischen Rechte. Die Idee eines solidarischen Europas ohne Grenzen wird nicht über das Projekt EU und ihre gemeinsame Währung erreicht, sondern durch die gemeinsamen Kämpfe der Lohnabhängigen für ihre Interessen. Damit uns im Wahlkampf zugehört wird, müssen wir vor allem diejenigen sein, die laut und deutlich den berechtigten Unmut der Bevölkerung über die EU äußern. Eine Diskussion über imaginierte Reformen der EU im Interesse der Bevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen, würde nur unsere Glaubwürdigkeit schwächen und die Kritik relativieren. ■

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die Tür für nationalistische und rassistische Propaganda. Sie fordern Deutschlands Austritt aus dem Euro. Schlösse DIE LINKE sich dieser Forderung an, würde sie ebenfalls als nationalistische Partei wahrgenommen, zumal noch immer viele die Europäische Union als Instrument der Völkerverständigung und Befriedung in Europa missverstehen, auch wenn sie die derzeitige EU kritisch sehen. Zugleich sollte DIE LINKE aber auch nicht auf eine vollkommen realitätsferne Perspektive hoffen, nämlich eine grundlegende soziale und demokratische Reform der EU. Stattdessen muss sie klar sagen: Dieses Projekt ist nicht zu retten. Zugleich sollte sie sich bei der bevorstehenden Europa- und bei anderen Wahlen dezidiert als Protestpartei gegen die bestehende Politik der EU positionieren. Denn es gibt gegenwärtig keine durchsetzungsfähige Reformbewegung für eine andere EU. Was aber existiert, sind Massenproteste und Widerstand gegen die Versuche der europäischen Herrschenden, die Krise auf die Bevölkerung abzuwälzen. Aus solchem gemeinsamen Widerstand kann vielleicht irgendwann ein solidarisches Europa von unten wachsen.

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© Rémi Noyon / CC BY / flickr.com

TITELTHEMA

Die Vorsitzende des Front National Marine Le Pen am Tag der Präsidentschaftswahl 2012. Sie erhielt knapp 18 Prozent der Stimmen – mehr als je zuvor ein Kandidat der radikalen Rechten

Sparkurs stärkt die Rechten Nach aktuellen Umfragen hat der rechtsradikale Front National gute Chancen, stärkste Partei bei der Europawahl in Frankreich zu werden. Die Partei profitiert von Kürzungsmaßnahmen der sozialdemokratischen Regierung ebenso wie vom Rassismus der großen Parteien Von Hans Krause ★ ★★ Hans Krause ist Onlineredakteur von marx21.de.

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n einer Umfrage vom Oktober erreichte der Front National 24 Prozent, die konservative UMP 22, die sozialdemokratische PS 19, der liberale Mouvement Démocrate elf und die Linkspartei zehn Prozent. Laut derselben Umfrage haben 42 Prozent der Franzosen eine »gute Meinung« von der Front National-Vorsitzenden Marine Le Pen. Beim sozialdemokratischen Präsidenten Francois Hollande sind es nur 35 Prozent. So beliebt waren die Rechtsradikalen noch nie. Bei den Wahlen des Jahres 2007 kamen sie nur auf rund vier Prozent. Im Jahr 2012 waren es bereits 14 Pro-

zent. Aufgrund des französischen Wahlrechts ist die Partei trotzdem nur mit zwei Abgeordneten im Parlament vertreten. Eine davon ist Le Pens 23-jährige Nichte. Warum wollen plötzlich so viele Menschen in Frankreich die radikale Rechte wählen? Ein Grund ist die große Enttäuschung der Menschen über die sozialdemokratische Regierung. Hollande hatte bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr eine Kampagne mit vielen sozialen Versprechungen geführt und damit den Amtsinhaber Nicolas Sarkozy knapp geschlagen. Er ist der


erste sozialdemokratische Präsident seit dem Jahr 1995. Dementsprechend löste sein Wahlsieg große Begeisterung und Hoffnung auf ein Ende der marktliberalen und kriegerischen Politik aus. Am Wahlabend feierten Zehntausende vor der sozialdemokratischen Parteizentrale, Autokorsos fuhren hupend durch die Großstädte. Doch Hollande hätte seine Wahlversprechen kaum schneller und gründlicher brechen können. Die offizielle Arbeitslosenquote ist mit elf Prozent doppelt so hoch wie in Deutschland. Nach offiziellen Angaben haben von den jungen Menschen 26 Prozent keine Arbeit. Doch statt Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu schaffen, wie im Wahlkampf versprochen, erhöht Hollande die Mehrwertsteuer ab Januar auf zwanzig Prozent und die Mindestbeitragszeit für den Erhalt der vollen Rente auf 43 Jahre. Dies ist wegen der hohen Arbeitslosigkeit jedoch für kaum jemanden zu erreichen.

Während die UMP rassistische Politik fordert, setzen die Sozialdemokraten sie an der Regierung um. Letzten Monat gingen tausende Schüler auf die Straße, weil die 15-jährige Roma Leonarda Dibrani während eines Schulausflugs von der Polizei verhaftet und in den Kosovo abgeschoben wurde. Sie kann dort nicht zur Schule gehen und spricht auch nicht die Amtssprache Albanisch. Innenminister Manuel Valls erklärte die Abschiebung ausdrücklich für richtig und begründete dies mit rassistischen Vorurteilen: »Nur wenige RomaFamilien sind bereit, sich in Frankreich zu integrieren. Die meisten müssen zurückgeschickt werden«, so Valls. Die Linkspartei versucht zu kontern: Sie missbilligt die Abschiebungen der Regierung und hat Demonstrationen dagegen mitorganisiert. Doch nicht in allen Punkten kann die französische Linke Paroli bieten: Als das Parlament im Jahr 2010 beschloss, Frauen zu verbieten, auf der Straße den islamischen Ganzkörperschleier zu tragen, enthielten sich die meisten Abgeordneten der Linkspartei, statt dagegen zu stimmen. Ihre Begründung lautete, dass religiöse Überzeugungen nicht in der Öffentlichkeit gezeigt werden sollten. Tatsächlich verbietet das Gesetz aber nicht grundsätzlich religiöse Symbole wie das christliche Kreuz, sondern ausschließlich die islamische Verschleierung – meist von Frauen getragen, die aus dem Ausland stammen. Laut französischem Innenministerium hat die Polizei seitdem 661 Geldstrafen gegen muslimische Frauen wegen Verschleierung verhängt. Erst im Juli dieses Jahres hatten Polizisten in Trappes eine Frau auf der Straße angeschrien, bedroht und nach einer Rangelei verhaftet, weil sie verschleiert war. Der Aufstieg des Front National zeigt, welche Gefahren von rechts drohen, wenn Regierungen die europäische Wirtschaftskrise auf Kosten der Menschen bewältigen wollen. Werden dazu noch Migrantinnen und Migranten diskriminiert und abgeschoben, können rechtsradikale Parteien damit Erfolg haben, Ausländer für die Armut der Menschen verantwortlich zu machen. Linke dürfen nicht für eine vermeintlich fortschrittliche »europäische Idee« eintreten, die den Menschen in Europa in Wirklichkeit nur Sozialabbau bringt. Ebenso wenig sollten sie eine Politik gegen Muslime unterstützen, die sich nur vorgeblich allgemein gegen Religion richtet. Beides kann den Rechten eine Chance bieten, sich als angebliche Rebellen gegen die etablierte Politik darzustellen, wie es der Front National geschafft hat. ■

Die französische Linkspartei Parti de Gauche macht Opposition von links und ruft am 1. Dezember zu einer landesweiten Demonstration »Für die Steuerrevolution« auf – zentrale Forderung ist eine höhere Besteuerung von Konzernen und Reichen. Doch wesentlicher Profiteur der sozialdemokratischen Politik ist der Front National. Er führt gegen Hollande eine rechte Kampagne, welche die unverantwortlichen Kürzungen in Krankenhäusern und die enge Bindung der Politiker an »die Kapitalisten« verurteilt. Als Schuldige werden meist Konzerne, Millionäre und Ausländer in einem Satz genannt. Im Anschluss daran fordert die Partei den Ausstieg aus dem Euro, »um Frankreich wieder aufzurichten«. Diese Parolen kommen bei manchen Französinnen und Franzosen auch deshalb so gut an, weil Hollande seinen Sozialabbau mit der Schuldengrenze der Staaten des Euroraumes rechtfertigt. Er behauptet, der Abbau der Schulden könne nur durch Kürzungen erreicht werden. Noch vor einem Jahr hatte Hollande im Wahlkampf jedoch angekündigt, stattdessen Steuern für Banken, Konzerne und Millionäre zu erhöhen. Auch die Hetze des Front National gegen Ausländer wird immer beliebter, weil die etablierten Parteien sich daran teilweise beteiligen. So wird die UMP im Dezember einen Gesetzesentwurf einbringen, der das jetzige Recht aufheben soll, wonach in Frankreich geborene Kinder von Migranten mit dem Erreichen der Volljährigkeit automatisch die französische Staatsbürgerschaft erhalten. Dieses Geburtsortprinzip durch das Abstammungsprinzip zu ersetzen, ist eine uralte Parole des Front National.

TITELTHEMA ALPTRAUM EUROPA

Marine Le Pen gibt Konzernen, Millionären und Ausländern die Schuld an der Krise

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TITELTHEMA

Massenmeeting während des Sozialistenkongress 1907: Als Redner traten August Bebel, Rosa Luxemburg und Jean Jaurès auf. 60.000 Menschen hörten zu

Vorwärts und doch vergessen… Welches Europa wollen wir? Schon vor hundert Jahren spaltete diese Frage die deutsche Linke. Wir werfen einen Blick auf eine alte Debatte, die überraschend aktuell ist Von Stefan Bornost

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Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

★ ★★ ZUM TEXT Dieser Artikel ist erstmals im Februar 2012 in marx21 erschienen.

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orneweg eine kleine Quizfrage: Von welchem Sozialdemokraten stammt das folgende Zitat? »Nichtsdestoweniger bleibt für Deutschland nur ein Weg übrig, seine wirtschaftliche Position zu behaupten und zu kräftigen: Es muss auf eine Beseitigung der wirtschaftlichen, politischen und nationalen Schranken zwischen den europäischen Ländern hinarbeiten und den großen Markt, den es außerhalb Europas nicht finden kann, sich in Europa selbst zu schaffen suchen.« War es Altkanzler Helmut Schmidt, der auf dem letzten SPD-Parteitag eine Grundsatzrede zu Europa hielt? Oder war es der Europaparlamentarier Martin Schulz, der sich ein wettbewerbsfähiges Europa wünscht? Weit gefehlt. Das Zitat stammt aus einer Rede des Reichstagsabgeordneten Richard Calwer. Gehalten hat er sie im Jahre 1905. Das zeigt: Weder ist die Debatte über Europa neu, noch sind es die sozialdemokratischen Irrwege in dieser Debatte. Calwers Logik ist wohlbekannt – es ist die Logik von Schröders Agenda 2010: Geht es der deutschen Wirtschaft gut, dann geht es auch dem deutschen Arbeiter gut. Damit es aber der deutschen Wirtschaft gut geht, braucht sie einen großen Markt – Europa.

Und wenn sie diesen Markt dominiert, dann ist sie global konkurrenzfähig. So schwärmte denn auch schon Calwer von den Vorteilen, die sich aus einem einheitlichen europäischen Wirtschaftsgebiet ergäben. Sie seien »von so immensem Werte, dass gerade die sozialistische Arbeiterschaft in erster Linie auf die Verwirklichung dieses Zieles hinarbeiten muss. Der nächste Weg zum Sozialismus führt daher für die deutsche Arbeiterklasse über die Voraussetzung eines wirtschaftlichen Zusammenschlusses der europäischen Staaten«. In der Praxis hat diese Strategie kräftig Schiffbruch erlitten. Zwar ist das deutsche Kapital wie von Calwer vorausgesagt tatsächlich Nutznießer des europäischen Marktes. Doch die deutschen Arbeitnehmer haben davon wenig profitiert. Im Gegenteil: Sie und vor allem ihre europäischen Kollegen haben über den permanenten Angriff auf Löhne und Sozialstandards einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Auch die Idee der »Friedensmacht Europa«, wie sie die SPD in ihren aktuellen außenpolitischen Leitlinien formuliert, ist nicht sonderlich originell. Der Parteitheoretiker Karl Kautsky versuchte schon vor ziemlich genau 100 Jahren, nämlich 1911, seine Partei darauf einzustimmen. Damals schrieb er: »Für eine ständige Fortdauer des Friedens, die das Ge-


Dieser Vorstoß trat eine Debatte in der SPD los, die sich anzuschauen immer noch lohnt. Schärfste Kritikerin Kautskys war Rosa Luxemburg. Ihr Hauptargument gegen sein Konzept lautete: Kapitalistische Staaten ändern ihren Charakter nicht dadurch, dass sie sich zu einem Block zusammenschließen. Auch dann stünden sie weiter mit anderen Staaten und Staatenblöcken in Konkurrenz um Rohstoffe und Absatzmärkte. Die Auseinandersetzung würden sie wie gehabt mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln ausfechten. Einher ginge das ganze mit gesteigertem Rassismus: »Und jedes Mal, wo bürgerliche Politiker die Idee des Europäertums, des Zusammenschlusses europäischer Staaten auf den Schild erhoben, da war es mit einer offenen oder stillschweigenden Spitze gegen die ›gelbe Gefahr‹, gegen den ›schwarzen Weltteil‹, gegen die ›minderwertigen Rassen‹, kurz, es war stets eine imperialistische Missgeburt.« Luxemburg zog daher die Schlussfolgerung, dass die Forderung nach einer Union der europäischen Staaten »objektiv innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur wirtschaftlich einen Zollkrieg mit Amerika und politisch einen kolonialpatriotischen Rassenkampf bedeuten« könne. Die Staaten eines geeinten Europas würden vielleicht keine Kriege mehr gegeneinander führen, dafür aber umso machtvoller gegen außereuropäische Staaten und die Kolonialvölker auftreten. Vom internationalistischen Standpunkt her sei das kein Fortschritt. In eine ähnliche Kerbe schlug der russische Sozialist Lenin mit seiner Kritik an Kautsky. Er schrieb: »Natürlich sind zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten möglich. In diesem Sinne sind auch die Vereinigten Staaten von Europa möglich als Abkommen der europäischen Kapitalisten.« Doch worüber, so fragte er rhetorisch, würden diese Abkommen gehen? »Lediglich darüber, wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken, gemeinsam die geraubten Kolonien gegen Japan und Amerika verteidigen könnte.«

Ein Jahrhundert später sehen wir, dass sich Luxemburgs und Lenins Befürchtungen bewahrheitet haben. Zwar ist ein Krieg zwischen den europäischen Kernländern nun wirklich sehr schwer vorstellbar, doch stattdessen baut sich die EU als Militärmacht auf und führt außerhalb ihres Territoriums Kriege wie den in Afghanistan. Aber es gibt in der alten sozialdemokratischen Europadiskussion durchaus Ansätze, die DIE LINKE auch heute noch guten Gewissens vertreten kann. Den Überlegungen eines »Europa von oben« von Calwer und Kautsky stand eine andere Idee gegenüber: Internationalismus und Arbeiterverbrüderung. Im Jahr 1916 fasste Luxemburg diese Position zusammen: »Seit jeher galt in der Sozialdemokratie der Klassenkampf und die internationale Solidarität des Proletariats als oberster Grundsatz. In diesem Grundsatz wurzelt die ganze politische und wirtschaftliche Macht der Arbeiterklasse, in ihm wurzelt auch ihre künftige Befreiung, der Sieg des Sozialismus. Zwei Nationalitäten gibt es in Wirklichkeit in jedem Lande: die der Ausbeuter und die der Ausgebeuteten. Der eigene deutsche Kapitalist ist dem deutschen Proletarier Feind, der fremde Proletarier hingegen, ob Franzose, Engländer oder Russe, ist sein Bruder.« Luxemburg befürwortete durchaus auch die europäische Einheit – allerdings als eine Einheit »von unten«. Sie entstehe aus der Solidarität gemeinsamer Bewegungen und könne natürlich auch das Ergebnis einer länderübergreifenden sozialistischen Revolution sein. Höchste Zeit, diesen Faden eines vereinten Europas weiterzuspinnen. ■

Fast 900 Delegierte aus 25 Ländern beschworen beim Sozialistenkongress 1907 in Stuttgart die internationale Solidarität. Aber schon damals waren in den Arbeiterparteien nationalistische Stimmen zu hören

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spenst des Krieges für immer bannte, gibt es heute nur einen Weg: die Vereinigung der Staaten der europäischen Zivilisation in einem Bunde mit gemeinsamer Handelspolitik, einem Bundesparlament, einer Bundesregierung und einem Bundesheer – die Herstellung der Vereinigten Staaten von Europa.« Würde dieses Ziel erreicht, so Kautsky weiter, »wäre Ungeheures erreicht. Diese Vereinigten Staaten besäßen eine solche Übermacht, dass sie ohne jeglichen Krieg alle anderen Nationen, soweit sie sich ihnen nicht freiwillig anschlössen, dazu zwingen könnten, ihre Armeen aufzulösen, ihre Flotten aufzugeben.« Wäre ein solcher Zustand erreicht, höre auch für die Vereinigten Staaten von Europa »jede Notwendigkeit einer Bewaffnung auf«, frohlockte er. »Damit wäre die Ära des ewigen Friedens sicher begründet.«

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TITELTHEMA Von Daniel Bravo Nieto

Inspiration

WAS ERWARTEST DU?

Im kommenden Jahr gehen die Blockupy-Proteste in die nächste Runde. Was erhoffen sich eigentlich Europas Aktivisten von der deutschen Linken? Wir haben uns umgehört

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Daniel Bravo Nieto ist Unterstützer der sozialistischen Organisation En Lucha in Spanien.

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ie Austeritätspolitik und die Sozialkürzungen werden von der konservativen Regierungspartei Partido Popular, den Banken und großen Firmen verteidigt. Auf der europäischen Ebene wird die deutsche Regierung als »harter Kern« dieser Politik gesehen. Blockupy ist eine Kampfansage an die Europäische Zentralbank und die Troika sowie an Merkel und alle Regierungen, die wie die spanische Kürzungen durchsetzen. Blockupy könnte sich auch auf Spanien auswirken. Es könnte unsere Gewerkschaftsführungen unter Druck setzen und den moderateren Teil der Linken davon überzeugen, mehr Druck auf der Straße zu machen. Sicher wäre ein erfolgreiches Blockupy auch eine Motivation für alle Aktiven an der Basis und die kämpferischen linken Organisationen. Seit langem herrscht in Spanien eine Atmosphäre der Empörung über die Regierung und ihre Kürzungspolitik. Ein großer Teil der Menschen ist bereit, sich dagegen zu wehren. Die großen Gewerkschaften und die parlamentarische Linke haben dies allerdings bisher nicht besonders unterstützt. Das Bild einer massenhaften Mobilisierung im Herzen des europäischen Kapitalismus wäre eine Inspiration für unsere Kämpfe hier. Zudem widerspricht es der Argumentation derer, die behaupten, dass in Deutschland alles gut läuft und die von dort verordnete Politik hier umgesetzt werden müsse. Obwohl in Deutschland keine allgemeine Kampf-

stimmung herrscht, kann Blockupy außerdem ein Begegnungspunkt für politisch und gewerkschaftlich Aktive sein, die bisher vielleicht eher auf lokaler Ebene Widerstand geleistet haben. Dazu kommt, dass es eine Antwort auf die Enttäuschung über Merkels erneuten Wahlsieg gäbe. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter könnten angeregt werden, sich an ihren Arbeitsplätzen zu organisieren, nachdem sie in Kontakt mit einer Masse von Aktivisten und Aktivistinnen gekommen sind, die beweisen, dass Solidarität und große Mobilisierungen möglich sind. Seit meiner Teilnahme an Blockupy im Jahr 2012 bin ich von dessen Symbolkraft für ein soziales Europa und gegen ein Europa der Spekulation und der Kürzungen überzeugt. Während fehlender Protest dazu führt, dass die Hoffnung auf Veränderung sinkt, kann Blockupy als Inspiration und Referenzpunkt für Widerstand und Solidarität in ganz Europa werden. ■

Blockupy könnte sich auch auf Spanien auswirken


LESERBRIEFE

WAS IST DEINE MEINUNG? Mit diesen beiden Beiträgen ist die Debatte eröffnet. Jetzt bist du gefragt! Was erwartest du von der Linken 2014? Sende deine Meinung per E-Mail an: redaktion@marx21.de Oder schreibe uns per Post: marx21 – Magazin, Postfach 44 03 46 12003 Berlin. Wir freuen uns auf zahlreiche Zuschriften!

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Marco Marques ist langjähriger Aktivist der »Assoziation für den Kampf gegen Prekarität – die unbeugsamen Prekarier« und Mitglied der Linkspartei Bloco de Esquerda in Portugal.

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Die Aufgabe der deutschen Linken ist es, Merkels EUSparkurs anzugreifen

Von Marco Marques

tätsnetzwerke auf europäischer Ebene zu stärken. Nur sie sind imstande, den Alptraum der Austerität zu beenden. Wir brauchen heute dringender denn je internationale Initiativen, die die Bewegungen mehrerer Länder zur Verteidigung des Sozialstaats und der Gewerkschaftsrechte zusammenbringen. All diese Angriffe sind Teil einer abgestimmten Strategie, die in allen europäischen Ländern durchgesetzt werden soll. Nur eine gemeinsame, stetige und aktivistische Intervention auch auf internationaler Ebene – mit Erfahrungsaustausch und koordinierten Aktionen vor Ort – kann den Angriff auf die Demokratie aufhalten. ■

Antworten

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uch nach den Bundestagswahlen hat sich am Negativimage des Duos Merkel/Schäuble nicht viel geändert, nur dass sie in den Medien weniger präsent sind. Schäubles Stellungnahmen, die an Rassismus grenzen, und Merkels Unnachgiebigkeit werden als die vorherrschende Haltung der EU wahrgenommen. Das Duo scheint unwidersprochen die Europapolitik und die innere Politik Portugals gleichermaßen zu dominieren. Die drängendste Aufgabe der deutschen Linken ist es meiner Meinung nach, der Argumentation, mit der die drastischen Sparmaßnahmen und damit einhergehend die Zerstörung der südeuropäischen Wirtschaften gerechtfertigt werden, mit klaren Antworten zu begegnen. Stimmt es, dass die Länder Südeuropas über ihre Verhältnisse gelebt haben? Sind die Arbeiterinnen und Arbeiter im Süden faul und unproduktiv? Zahlt die Bevölkerung Deutschlands die öffentlichen Schulden Portugals? Um diese Fragen zu beantworten, muss man erklären, was in Ländern wie Portugal oder Griechenland wirklich vor sich geht – die Zerstörung des Sozialstaats, die brutale Deregulierung des Arbeitsmarkts samt massiver Arbeitslosigkeit, Lohnsenkungen auf breiter Front und grassierendes Prekarität, das Aushöhlen gewerkschaftlicher Widerstandskraft und die Privatisierung und Privatisierung von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen. Außerdem muss man sagen, dass der von Merkel forcierte EU-Sparkurs für die strukturellen Probleme der Peripheriewirtschaften keine Lösung bietet. Die Europawahlen sind wichtig, weil sie die Gelegenheit bieten, einen alternativen, linken Diskurs zur Europafrage zu schaffen, der das Muster nicht enden wollender Kürzungen ablehnt. Einer der Gründe für die fortgesetzte Austeritätspolitik liegt in der Abschottung der Bürger Europas von den politischen Entscheidungen. Daher können Wahlen eine Zeit sein, in der die Menschen wieder mit der Europapolitik zusammengeführt werden können. Das kann allerdings nur gelingen im Rahmen eines umfassenden Reformprogramms für die europäischen Institutionen und politischen Prozesse. Obwohl Wahlen die Strategie der EU nicht unmittelbar verändern oder herausfordern werden, können sie den Anlass für die Schaffung und Konsolidierung eines Widerstandsnetzwerks auf europäischer Ebene bieten. Die Unterstützung für und Teilnahme an solchen Protesten wie Blockupy von Menschen in Deutschland sind unabdingbar, um den rechten Diskurs in Deutschland und damit die Rolle Deutschlands in Europa zu brechen. Große Proteste sind auch unbedingt nötig, um die Solidari-

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Den Widerstand entfachen Von Heinz Bierbaum und Christine Buchholz

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Blockupy geht in die n채chste Runde: Auch im kommenden Jahr wollen wieder Tausende vor der Europ채ischen Zentralbank in Frankfurt demonstrieren. Doch vorher gibt es einige Fragen zu kl채ren

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Heinz Bierbaum ist Mitglied des geschäftsführenden Parteivorstandes der LINKEN und Abgeordneter des saarländischen Landtags. Er hat sich an der Vorbereitung und Durchführung der Blockupy-Proteste der vergangenen Jahre beteiligt.

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Christine Buchholz ist Bundestagsabgeordnete und Mitglied des geschäftsführenden Parteivorstandes der LINKEN. Auch sie hat sich an der Vorbereitung und Durchführung der Blockupy-Proteste der vergangenen Jahre beteiligt.

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ie können wir produktive und machtvolle Verbindungen zwischen unseren Kämpfen herstellen? Wie können wir gemeinsam für eine Veränderung der Kräfteverhältnisse sorgen? Wir haben in den letzten Jahren einen Aufschwung vereinzelter sozialer und politischer Kämpfe erlebt. Aktuell sehen wir uns einer Welle von Kämpfen und Streiks im Dienstleistungsbereich gegenüber, wie den Streiks im Einzelhandel oder lokalen Kämpfen für die Rekommunalisierung der Energieversorgung als auch gegen die Privatisierung von Krankenhäusern. Daneben gibt es Proteste gegen Mietwucher, gegen staatliche Überwachung und für eine humane Flüchtlingspolitik. Mit den Blockupy-Protesten gelang in den vergangenen zwei Jahren wieder ein größerer antikapitalistischer Protest, der trotz massiver Kriminalisierungsversuche auf viel Sympathie in der Bevölkerung stieß. In vielen Kämpfen gab es wichtige kleine Erfolge. Es ist allerdings nicht gelungen, einen breiten Widerstand gegen Merkels Politik im Inland und in Europa zu entfachen. Das Ausbleiben dieses Widerstandes ist auch auf die wirtschaftliche Sondersituation Deutschlands zurückzuführen, dessen Eliten von der Merkelschen Krisenpolitik profitieren. Ein anderer Grund ist die massive Verunsicherung durch die Maßnahmen im Rahmen der Agenda 2010-Politik, wie die Einführung von Hartz IV und die drastische Ausweitung des Niedriglohnsektors. Das steht im Zusammenhang mit dem Stillhalten der großen DGB-Gewerkschaften, die in ihrer großen Mehrheit nicht bereit sind, die Agenda-Politik und die deutsche Europa-Politik zu bekämpfen. Zugleich sehen wir uns mit einer drastischen Polarisierung in Europa konfrontiert. Bei den Europawahlen im Mai droht ein Rechtsruck. In Deutschland heißt das, dass die AfD zukünftig als politischer Akteur eine größere Rolle spielt. Rechtspopulisten sehen sich im Aufwind. In Frankreich droht die Front National stärkste politische Kraft zu werden. In anderen Ländern erreichen offen faschistische Kräfte ein neues Maß an Unterstützung. Am 10. November demonstrierten 50.000 (!) Faschisten in Warschau. Die große Frage, vor der die Bewegungen in Deutschland stehen, ist die nach der Erweiterung ihrer sozialen Basis und der Schaffung von politischen Grundlagen, um den Widerstand zu verbreitern. Nur so können wir dazu beitragen, die Kräfteverhältnisse in Europa nach links zu verschieben und linke, internationalistische Antworten auf die Krise zu popularisieren.

Für die Gewerkschaftsbewegung stellt sich die Frage, wie in den vorhandenen Auseinandersetzungen Impulse für eine gewerkschaftliche Erneuerungsbewegung gesetzt werden können, die nicht auf Standortnationalismus und den Krisenkorporatismus zwischen Industrie und Gewerkschaften setzt. Für die lokalen Proteste heißt das, eine Brücke von ihren spezifischen Anliegen zur EU-Politik zu schlagen und sich so in die internationalen Blockupy-Proteste einzubringen. Wir sehen es als unseren Beitrag dazu an, Themen und Aktionsfelder herauszuarbeiten, an denen wir diese Verbindung praktisch sichtbar machen. Neben den bereits stattfindenden Auseinandersetzungen im Dienstleistungsbereich könnte das beispielsweise die Tarifrunde im öffentlichen Dienst 2014 sein, die unter den Vorzeichen von Schuldenbremse und Fiskalpakt steht. In welchem Verhältnis denken wir ungehorsame Aktionsformen (Massenblockaden, soziale und Generalstreiks, Platzbesetzungen und vieles mehr), Bündnisaufbau und gemeinsamen Aufbruch? Aktionen des zivilen Ungehorsams können eine wichtige Rolle spielen, um Forderungen zuzuspitzen und symbolische Erfolge zu erzielen. Sie können helfen, ein Anliegen in die Öffentlichkeit zu bringen. Ziviler Ungehorsam war zum Beispiel erfolgreich, um die Naziaufmärsche in Dresden zu stoppen. Im Kampf gegen Sozialabbau und kapitalistische Krisenlösungen können Formen des zivilen Ungehorsams allerdings nur ein erster Schritt hin zu den traditionellen Mitteln des Klassenkampfes sein, hin zu Massendemonstrationen und politischen Massenstreiks. Massenhafter Widerstand auf den Straßen kann unter Umständen zum Funken werden, der zur sozialen Explosion und zu politischen Massenstreiks führt. Eine solche Entwicklung konnten wir in den letzten Jahren vermehrt beobachten, zum Beispiel in Athen und auch in Kairo. Die entscheidende Bedingung ist, dass zwei Dinge zusammenkommen: Funke und hinreichend (sozialer) Sprengstoff. Der Übergang von der Solidarität kämpfender Minderheiten zu Massenstreiks ist in Deutschland noch Zukunftsmusik: Der Wahlerfolg von Angela Merkel zeigt das, auch die breite Unterstützung in den Eliten und Medien für ihr »Krisenmanagement«. Auch wenn die deutsche Realität durchaus eine andere und von sozialen Widersprüchen gekennzeichnet ist. Die unmittelbaren Erfahrungen einer wenig kampferprobten Arbeiterklasse lassen warme Worte auf fruchtbaren Boden fallen. Viele meinen, dass wir »mit einem blauen Auge davongekommen« sind.

Ziviler Ungehorsam ist nur ein erster Schritt


Keine Aktion ohne Fraktion: Mandatsträger der LINKEN waren bei den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt dabei – auch sie landeten später teilweise im Polizeikessel

Wie können wir den Widerstand im Süden und Norden zusammenbringen? Was sind die Bedingungen der verschiedenen Kämpfe im Europa der Krise? Wie verknüpfen wir dies mit den Zielen und Vorstellungen gemeinsamen Widerstandes auch in Ländern wie Deutschland, als Zentrale des EUKrisenregimes, wo bei den letzten Wahlen eine fast absolute Mehrheit für die Weiterführung dieser kapitalistischen Politik gestimmt hat? Ein Zusammenbringen des Widerstands kann es als tatsächliche internationale Kampagne nur im Rahmen von Gipfelmobilisierungen geben, so wie es im globalisierungskritischen Jahrzehnt von 19992007 der Fall war, wie zum Beispiel beim G8-Gipfel in Heiligendamm. Wir sehen einen positiven Ansatz in dem europäischen Streik- und Aktionstag, wie er am 14. November 2012 stattgefunden hat. Alternativ kann es parallele Aktionen geben, die zeitgleich in vielen Ländern und Städten durchgeführt werden. Die bisherigen Versuche in eine solche Richtung haben wenig Erfolg gehabt und sind in höchstens einem oder zwei Ländern über einen reinen

symbolischen Wert hinaus gewachsen, da die Mobilisierungsfähigkeit in den unterschiedlichen Ländern stark durch nationale Themen und die Agenda der jeweiligen nationalen Akteure bestimmt wird. Grundlage für eine relevante Beteiligung aus Deutschland an europäischen Krisenprotesten ist ein Projekt, welches die Auswirkungen der Krise mit den prekären Lebensrealitäten in Deutschland verbindet. Die anstehende Europawahl bietet hierfür eine passende Gelegenheit. Zu keinem anderen Zeitpunkt wird in der breiten Öffentlichkeit so intensiv über die EU und die Krisenpolitik diskutiert werden. Was DIE LINKE betrifft, wollen wir einen Europawahlkampf, der an der berechtigten Wut vieler Menschen über die EU ansetzt, der eine scharfe Kritik am Europa der Banken und Konzerne formuliert und sich solidarisch mit den Menschen in Europa und ihren Kämpfen zeigt. Welche Rolle hat Blockupy 2014 im Kontext der europäischen Krise und der Krisenproteste? Die Blockupy-Proteste werden aller Wahrscheinlichkeit nach die einzigen relevanten Krisenproteste in der Bundesrepublik im kommenden Jahr sein. Für den Widerstand in ganz Europa wird es wichtig sein, dass auch aus dem Deutschland der Großen Koalition eine deutliche Stimme des Widerspruchs kommt. Wir werden uns wieder auf vielfältige Art und Weise an dem Aufbau und der Durchführung der Proteste beteiligen. Dabei engagieren wir uns auch dafür, dass europäische Bewegungen aktiv an den Blockupy-Protesten teilnehmen. ■

★ ★★ HINTERGRUND Vom 22. bis 24. November fand in Frankfurt eine europäische BlockupyAktionskonferenz statt. Die Vorbereitungsgruppe hatte im Vorfeld verschiedene Fragen gestellt und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer um Beantwortung gebeten. Die hier dokumentierten Antworten wurden zunächst auf der Website der LINKEN veröffentlicht (www. die-linke.de).

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Ziviler Ungehorsam kann keine Abkürzung auf dem Weg zu breitem gesellschaftlichen Widerstand sein. Wir versuchen zu helfen, dass der soziale Unmut organisiert wird. Dabei unterstützen wir zum Beispiel diejenigen, die in den Betrieben und Gewerkschaften tagtäglich für eine offensive Interessenvertretung und eine kritische Auseinandersetzung mit der herrschenden Politik eintreten. Und so für einen praktischen Bruch mit der sozialdemokratischen Hegemonie in ihrem Wirkungsbereich kämpfen.

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WELTWEITER WIDERSTAND

USA »1984 war keine Betriebsanleitung« und »Danke, Edward Snowden«, lauteten die Slogans auf den Schildern Tausender US-Amerikaner, die sich Ende Oktober in Washington trafen. Unter dem Slogan »Stop watching us« (»Hört auf, uns zu 40

beobachten«) zogen sie zum Capitol. Unter den Demonstrierenden befanden sich neben ehemaligen NSA-Mitarbeitern und Whistleblowern auch einige Prominente und hochrangige Politiker, wie der ehemalige Gouverneur New Mexicos. Reichte so

das politische Spektrum von linken NGOs bis zu vereinzelten Anhängern der rechten TeaParty-Bewegung, war man sich doch in der Ablehnung der NSA-Spionage und der Begeisterung für den Whistleblower Edward Snowden einig.


Schulbesetzung gegen Abschiebungen Die Regierung Hollande hetzt gegen Roma und lässt Flüchtlinge abschieben. Zwei besonders krasse Fälle bringen Frankreichs Jugend auf die Barrikaden

© Elvert Barnes / CC BY-SA / flickr.com

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Von Dave Sewell

ausende Studierende, Schülerinnen und Schüler besetzten Mitte Oktober ihre Universitäten und Schulen und marschierten durch Frankreichs Straßen, wutentbrannt über die Abschiebung zweier ihrer Mitschüler. Einer der beiden ist der 19-jährige Khatchik Khachatryan. Er berichtete, dass er nach dreiwöchiger Abschiebehaft am 12. Oktober gefesselt und geknebelt in ein Flugzeug nach Armenien gezerrt wurde. Von dort waren er, seine Schwester und seine Eltern im Jahr 2011 aus politischen Gründen geflohen. Wenige Tage zuvor war die 15-jährige Roma Leonarda Dibrani während eines Schulausflugs vor den Augen ihrer Mitschüler verhaftet und kurz darauf gemeinsam mit ihrer Familie in den Kosovo abgeschoben worden. Dabei war Leonarda noch nie im Kosovo, kennt dort niemanden und spricht auch nicht die Landessprache. An Dutzenden Schulen und Universitäten regte sich Widerstand gegen diese Vorgehensweise: An einem Protestmarsch durch Paris beteiligten sich 7.000 Personen, am nächsten Tag folgten die Schul- und Universitätsbesetzungen. »Bringt Khatchik und Leonarda zurück – sie gehören hierher«, riefen Schülerinnen und Schüler des Lycée Charlemagne. »Wir wollen, dass alle Schüler und Studenten, mit oder ohne Papiere, in Frankreich bei ihren Familien bleiben können«, sagte Ivan Dementhon von der Schülergewerkschaft UNL (Union Nationale Lycéenne). »Es ist inakzeptabel, Leute auszuweisen, deren Leben hier in Frankreich ist«, meinte Hochschulstudent Yan. »Khatchik und Leonarda sind der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.« Bis Oktober dieses Jahres wurden 130 Romalager zwangsgeräumt und die Bewohner des Landes verwiesen. Die repres-

sive Politik begann zwar schon unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy, doch der neue Präsident François Hollande und seine Sozialistische Partei (PS) führen sie gnadenlos fort. Während Hollandes Popularität derzeit bröckelt, verfolgt Innenminister Manuel Valls rigoros eine rassistische Agenda. Im September behauptete er, Roma hätten einen »Lebensstil«, der »auf Konfrontationskurs« mit der französischen Bevölkerung stünde. »Die Roma sind aufgerufen, in ihr Land zurückzukehren und sich dort zu integrieren«, ließ er verlautbaren. Die Teilnehmer der Protestmärsche fordern nun seien Rücktritt. Immerhin hat Leonardas Ausweisung auch innerhalb der Regierung Empörung ausgelöst. Bildungsminister Vincent Peillon verurteilte das Vorgehen der Behörden und betonte, dass die Schule ein besonders geschützter Ort sein müsse. Letztendlich war auch Hollande gezwungen, zu intervenieren, machte jedoch nur den beschämenden Vorschlag, Leonarda dürfe ihren Schulbesuch in Frankreich fortsetzen, wenn sie ihre Familie im Kosovo zurückließe. Dies wurde jedoch abgelehnt – zuerst von Leonarda selbst, dann auch von Hollandes Parteikollegen, dem Vorsitzenden der PS, Harlem Désir. Laut Meinungsumfragen driftet Frankreich deutlich nach rechts ab. Die rechtsextreme Partei »Front National« könnte unter Umständen bei den Europawahlen im kommenden Jahr von diesem Trend profitieren. Doch der Protest der Studenten und Schüler zeigt auch, dass es möglich ist, sich der rassistischen Politik der französischen Regierung entschieden entgegenzustellen. ★ ★★ Dave Sewell schreibt regelmäßig für die britische Wochenzeitung »Socialist Worker«. Dort ist dieser Text auch erstmals erschienen.

8NEWS 8Niederlande »The Dutch against Plasterk«, ein Bündnis niederländischer Aktivisten und NGOs, hat Anfang November Klage gegen Innenminister Ronald Plasterk eingereicht. Die Gruppierung wirft dem Politiker vor, den Austausch von Daten zwischen dem niederländischen Geheimdienst AIVD und der NSA zu dulden, obwohl er öffentlich das Ausspionieren durch die NSA verurteilt. Laut Bündnis widerspricht der Datenaustausch niederländischem Recht.

8Kambodscha Seit August demonstrieren in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh regelmäßig etwa tausend Textilarbeiterinnen und -arbeiter für höhere Löhne und sichere Arbeitsverhältnisse. Viele von ihnen sind bei SL Garment Processing beschäftigt, einem Unternehmen, das unter anderem für H&M, Hollister und Levi’s produziert. Mitte November kam es zu einer Konfrontation mit der Polizei, bei der 38 Protestler festgenommen und eine Demonstrantin tödlich verletzt wurde.

Indonesien

Proteste gegen HOHE Preise

In Indonesien streikten Ende Oktober mehr als zwei Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter für eine Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent. Allein in der Hauptstadt Jakarta gingen etwa 300.000 Angestellte auf die Straße, im benachbarten Bekasi sogar 400.000. Bei Zusammenstößen mit der Polizei wurden Dutzende Arbeiter verletzt, einige lebensbedrohlich. Auslöser der Proteste waren unter anderem die enormen Preiserhöhungen für Benzin und Lebensmittel. Viele Menschen leben inzwischen auf der Straße, da sie trotz Job ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 6 Prozent gehört Indonesien zu einem der aufstrebenden »emerging markets«.

Weltweiter Widerstand

Frankreich

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INTERNATIONALES

»Wir müssen Tahrir zurückerobern« Nach der Absetzung von Präsident Mursi durch das Militär herrscht in Ägypten Friedhofsruhe. Der Aktivist Sameh Naguib berichtet über die schwierigste Zeit für die Linke seit Beginn der Revolution vor drei Jahren Interview: Rana Nessim und Rosemary Bechler Es ist viel passiert, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben. Wie ist es dir ergangen und wie steht es um die Revolutionären Sozialisten in Ägypten? Es ist schwieriger als jemals zuvor. Eine der größten Schwierigkeiten besteht darin, dass die Mehrheit der linken und liberalen Intellektuellen Ägyptens Militärführung hundertprozentig unterstützt. Eine ungewöhnliche Koalition... Ja, das ist eine eigenartige Definition von Liberalismus. Das sind Leute, die eigentlich von sich behaupten, links zu sein – und ich spreche nicht nur von organisierten Gruppen wie der Kommunistischen Partei, sondern auch von Schriftstellern wie Sonallah Ibrahim, von Intellektuellen, berühmten Dichtern, bekannten Figuren mit einer langen Geschichte des Kampfes für Demokratie und Menschenrechte. Sie alle singen sie ein Loblied auf General Al-Sisi. Hat die Unterstützung durch die liberalen Intellektuellen und Künstler dazu geführt, dass auch die Bevölkerung den Militärherrschern vertraut?

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Sameh Naguib

Sameh Naguib ist ein führendes Mitglied der Revolutionären Sozialisten, einer relevanten Organisation der radikalen Linken in Ägypten.

Sie konnten einen Großteil der Menschen überzeugen, aber die Lage ist kompliziert. Nicht alle sind mit an Bord. Das Problem ist aber, wenn wir jetzt eine Demonstration organisieren würden, würden wir innerhalb weniger Minuten von Schlägertrupps angegriffen, egal, wo wir demonstrieren. Lehnen inzwischen auch die ganz normalen Leute die Proteste ab? Die Reaktionen der einfachen Leute sind unterschiedlich. Es gibt diese Angst: Wir wollen das nicht mehr, das ist zu gefährlich. Andere sagen: »Hört damit auf, überlasst die Situation dem Militär. Wir haben von all dem genug.« Manche passive Beobachter zeigen eine Art widerwillige Zustimmung. Aber im Großen und Ganzen wagen es heute außer den Muslimbrüdern nur noch erfahrene Aktivisten, sich an öffentlichen Protesten zu beteiligen. Wie ist euer Verhältnis zu den Anhängern der Muslimbruderschaft? Auch das gestaltet sich schwierig. Wir beteiligen uns nicht an ihren Demonstra-


»Nieder mit dem Militärregime!« Erstmals seit der Absetzung Mursis im Juli versammelten sich am 18. und 19. November wieder die säkularen anti-militaristischen Kräfte der Revolution zu Großkundgebungen und Demonstrationen

Wir werden von allen Seiten angegriffen

tionen, das können wir nicht. Nicht nur wegen des harten Vorgehens der Sicherheitskräfte, sondern auch weil die Slogans der Muslimbrüder so sektiererisch sind und sie weiterhin für Mursi als Präsidenten eintreten. Diese Forderung unterstützen wir nicht. Wie es aussieht, hat das Regime die gesamte erste und zweite Riege der Muslimbruderschaft inhaftiert. Die Muslimbruderschaft wird das überleben. Sie ist so groß und so tief verwurzelt, dass sie diese Angriffe wegstecken kann. Wir könnten das nicht. Wenn die Reste der organisierten Linken in dieser Weise angegriffen würden, wären wir für Jahre von der Bildfläche verschwunden. Die

Was ist aus der Gewerkschaftsbewegung geworden? Der Vorsitzende der Föderation unabhängiger Gewerkschaften, Kamal Abu Eita ist jetzt Arbeitsminister und einer der überzeugtesten Vertreter des Militärregimes. Das ist ein gewaltiger Schlag ins Gesicht der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung. Eine eigenartige Definition von »unabhängig«. Es ist tragisch. Die Gewerkschaftsbewegung war eine ernstzunehmende und unabhängige Bewegung, die während der Massenstreiks aus Streikkomitees entstand. Abu Eita war einer der wichtigsten Anführer dieses Kampfes. Was aus ihm geworden ist, zeigt das enorme Ausmaß des Verrats, der in Ägypten stattgefunden hat. Gibt es außer von den Muslimbrüdern keinen Widerstand gegen die Regierung? Von außen betrachtet entsteht der Eindruck, als gäbe es eine überwältigende Zustimmung zu Al-Sisi und sonst nichts. Wenn man sich die Unterstützer von AlSisi aber genauer anschaut, zeigt sich, dass sie ein sehr widersprüchliches Bewusstsein haben und sehr unterschiedliche Gründe für ihre Unterstützung haben – von ihren Hoffnungen gar nicht zu reden. Und ihre Erwartungen werden nicht erfüllt. Der Staatsstreich dauert jetzt vier Monate und der Tourismus in Ägypten hat sich noch nicht wieder erholt. Das Eisenbahnnetz, das während der britischen Besat-

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Positionen, die wir vertreten, finden bei den jungen Anhängern der Muslimbrüder Anklang. Das kann man zum Beispiel an ihren Kommentaren auf Facebook erkennen. Wie man sich vorstellen kann, fragen sie uns aber, warum wir nicht mit ihnen zusammen auf die Straße gehen. Gleichzeitig werden wir von den Leuten, die das Militär unterstützen, als Teil einer Verschwörung der Muslimbruderschaft verleumdet. Wir befinden uns also in einer sehr isolierten, einsamen Lage. Wir werden von allen Seiten angegriffen. Es ist äußerst schwierig, in dieser Situation eine unabhängige Linie zu verfolgen und die Menschen für den Kampf zu mobilisieren.

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Unter Mursis Präsidentschaft hätte es in diesem Fall doch eine Welle von Protesten gegeben. Warum reagieren die Menschen jetzt anders? Noch sind die Menschen im Zweifelsfall für das Regime. Hier kommen die vom Militär kontrollierten Medien ins Spiel. Die haben eine massive Kampagne losgetreten, in der sie Al-Sisi mit Nasser vergleichen. Sie sprechen andauernd von der nationalen Aufgabe der Armee, der Rolle des Militärs bei der Modernisierung des Landes, der zentralen Bedeutung des Militärs. Es ist eine außergewöhnliche Leistung des Militärs, alle auf Linie zu bringen – aber ich glaube nicht, dass das lange funktionieren wird. Sollte man nicht hoffen, dass General AlSisi zum Präsidenten gewählt und dann in der Öffentlichkeit ebenso kritisch behandelt wird wie Mursi? Al-Sisi wird genauso wenig wie Mursi die Forderungen der Revolution nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit erfüllen, also was gäbe es zu verlieren? Wir brauchen unbedingt einen Kandidaten für die Führung, der sich nicht ans Militär verkauft hat, aber auch kein Islamist ist. Selbst wenn dieser Kandidat nur einen kleinen Stimmenanteil bekäme, könnten wir der Oppositionsbewegung einen gewissen Schwung sichern. Deshalb arbeiten wir mit der »Front des revolutionären Weges« zusammen, die im Grunde genommen eine kleine Minderheitenposition vertritt, indem sie versucht, in dieser Lage eine unabhängige dritte Stimme zu organisieren. Die Schriftstellerin Ahdaf Soueif und einige andere bekannte Leu-

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zungszeit gebaut wurde, ist zum ersten Mal in seinem 150-jährigen Bestehen außer Betrieb. Daher fahren dieses Jahr nicht einmal zu den großen Festtagen Züge. Die Stilllegung der Bahn kommt viele Menschen teuer zu stehen. Jeden Tag pendeln drei Millionen Menschen aus Banha oder Tanta und all den Kleinstädten im Nildelta nach Kairo. Sie sind nun auf Sammeltaxis oder andere private Transportmittel angewiesen, müssen für die Fahrt doppelt so viel Zeit aufbringen und das Drei- oder Vierfache zahlen. Man kann sich ausrechnen, dass die große Unterstützung für Al-Sisi und seine neuen »Erlöser« über kurz oder lang wegbrechen wird.

Die Demonstranten zogen in die Mohammed-Mahmud-Straße am Tahrir-Platz, um hier der Opfer des Massakers zu gedenken, das die Sicherheitskräfte vor zwei Jahren verübt haben te gehören der Front an. Sie vereinigt Organisationen wie die Bewegung des 6. April, die Revolutionären Sozialisten, Teile der Partei des Starken Ägypten, eine linke Partei, deren Basis vor allem aus jungen ehemaligen Islamisten besteht, unabhängige junge Gewerkschaftsaktive, Anarchisten und alle möglichen nichtorganisierten Leute. Außerdem beteiligen sich ein paar Intellektuelle, die sich nicht ans Militär verraten haben. Die Front des revolutionären Weges versucht, die gegenwärtige Spaltung der Opposition zu überwinden. Wie passen die Muslimbrüder in dieses Bild? Sie leisten Widerstand gegen die Militärherrschaft, aber die Opposition kann sich nicht auf ihre Seite stellen, denn, wie du sagst, wäre das zu gefährlich... Zunächst einmal geht es nicht nur um die Risiken. Es geht auch darum, dass die Muslimbrüder eine sektiererische, kon-

Noch ist die Mehrheit der Menschen im Zweifelsfall für das Regime


Werden sie sich fragen, ob sie einen großen Fehler begangen haben, als sie sich auf die Seite des Militärs und der Polizei stellten? Da bin ich sicher. Es ist nur logisch: diese Frage muss aufkommen. Die Muslimbrüder lobten Al-Sisi, die Generäle und die Polizei so lange, bis diese sie zerschlu-

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Einen Großteil der Demonstranten stellen revolutionäre Jugendgruppen. Jubel bricht aus, als der Demonstrationszug auf den Tahrir-Platz ankommt

servative Politik verfolgen. Man kann sich nicht einfach Leuten anschließen, die unter solchen Slogans demonstrieren. Sie fordern Mursis Rückkehr. Wir haben uns an den Demonstrationen gegen Mursi beteiligt, wir wollen nicht, dass er zurückkommt. Aus unserer Sicht richtete sich der Militärstreich gegen die Revolution und deren Forderungen. Aus Sicht der Muslimbrüder richtete er sich gegen den rechtmäßig gewählten Präsidenten Mursi. Zwischen diesen beiden Positionen besteht ein erheblicher Unterschied. Gegen Mursi gab es eine wirkliche Massenbewegung, nicht nur Demonstrationen, sondern auch Streiks. Und einige Generäle haben diese Massenbewegung benutzt, um Mursi loszuwerden und gleichzeitig die Uhr der Revolution zurückzudrehen. Was die enttäuschten Anhänger Mursis angeht, so haben die Unterdrückungsmaßnahmen sie sicherlich zusammengeschweißt. Ihre gesamte Führung sitzt hinter Gittern, Tausende wurden umgebracht. Daher gibt es in ihrem Lager keine großen internen Auseinandersetzungen. Aber natürlich werden alle möglichen Fragen diskutiert. Zum Beispiel haben die Revolutionären Sozialisten durchgängig argumentiert, dass die Revolution niedergeschlagen würde, wenn wir nicht den Staat auseinandernehmen. Darauf antworteten sie damals, das würde bedeuten, den Staat zu verraten, und das Militär müsse vereint bleiben. Von einer Entmachtung des Staates wollten sie nichts wissen. Sie standen uns sehr kritisch gegenüber und wollten uns für diese Position sogar ins Gefängnis bringen. Mittlerweile geben uns einige der jüngeren Mitglieder der Muslimbrüder Recht und sagen: »Der Staat hat uns zerschlagen, und wir haben das zugelassen, weil wir nicht versucht haben, ihn zu zerschlagen.« Inwieweit das repräsentativ für die Muslimbrüder insgesamt ist, kann ich nicht einschätzen.

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gen. Diese Strategie hat offensichtlich Schwachstellen gezeigt. Unter den jetzigen Umständen aber wird niemand einen internen Aufstand vom Zaun brechen. Werden die Muslimbrüder bei den nächsten Wahlen eine Rolle spielen? Im Moment sind sie damit beschäftigt, dem Militär Zugeständnisse abzuringen, um wenigstens ihre Führung aus dem Gefängnis zu bekommen und ein wenig politischen Spielraum zurückzugewinnen. Mursi soll am 4. November vor Gericht gestellt werden. Aber ein Telefonat genügt, und sein Termin kann um mehrere Monate verschoben werden (der Prozess wurde nach dem ersten Verhandlungstag auf Januar verschoben, Anm. d. Red.). Das ist nur Teil der Show, denn alles hängt davon ab, wie die Verhandlungen sich weiter entwickeln. Die Muslimbruderschaft weiß, dass das Land nicht lange ohne Eisenbahnverkehr und ähnliches auskommen kann. Es wird gesagt, die Mitglieder sollen Geduld haben und den Druck aufrechterhalten. Sie wissen, dass das System sich so nicht halten kann und sich etwas ändern muss. Dieser Druck führt zu Meinungsverschiedenheiten unter den Generälen. Die fragen sich, ob sie mit den Muslimbrüdern Gespräche aufnehmen oder einige von ihnen in die Freiheit entlassen sollten. Wenn die Muslimbruderschaft den alltäglichen Druck aufrechterhalten kann, werden sie früher oder später Zugeständnisse machen müssen. Die Muslimbruderschaft war schon früher verboten. Aber sie ist Teil der ägyptischen Gesellschaft und hat mehr als eine Million aktive Mitglieder. Die kann man nicht alle einsperren. Und dazu kommen zehn Millionen Wähler und Unterstützer. Die Muslimbrüder gibt es seit achtzig Jahren und sie werden sich nicht einfach auflösen. Demnächst soll der Entwurf einer neuen Verfassung vorgestellt werden. Darüber soll es eine Volksabstimmung geben und dann Wahlen. Wird sich die Opposition daran beteiligen? Bei früheren Wahlen sind viele Menschen den Wahlurnen ferngeblieben, weil sie vermuteten, dass die Wahlen ohnehin gefälscht würden, wenn das Militär alles in der Hand hat und keine internationalen Beobachter zulässt.

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Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob ein Boykott sinnvoll wäre oder nicht. Ich glaube, eher nicht. In dieser besonderen Situation wird sich die Opposition an den Wahlen beteiligen müssen, um all den enttäuschten Menschen eine Alternative anzubieten, all den Menschen, die bis dahin tiefe Zweifel entwickelt haben. Wohin sollen die sich wenden? Wenn wir uns nicht an den Wahlen beteiligen, werden die uns fragen, was wir ihnen noch zu sagen haben und ob alles vorbei ist. Das wäre gefährlich und deshalb muss die Opposition sich an den Wahlen beteiligen. Aber alles kommt auf den weiteren Verlauf der Dinge an. Wenn vor jedem Wahllokal Panzer aufgefahren werden und Schlägertrupps die Straßen unsicher machen, dann werden

Wir müssen das Gefühl überwinden, dass die Revolution schon vorbei ist

★ ★★ ZUM TEXT Dieses Interview ist eine stark gekürzte Version eines Texten, der am 8. November auf www.opendemocracy.org erschienen ist.


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wir uns das nochmal überlegen müssen. Es hängt davon ab, wie schlimm die Lage bis dahin sein wird. Ist es für euch wichtig, dass die Augen der Welt in diesem Prozess auf Ägypten gerichtet sind? Nun, das ist eine zweischneidige Sache. Auf der einen Seite, ja, selbstverständlich. Wir brauchen so viel internationale Solidarität für die ägyptische Revolution wie möglich. Aber dieser Unterstützung wird in hysterischer Weise unterstellt, dass es eine ausländische Verschwörung sei, die Pläne zur Zerstörung des ägyptischen Staates hege. Wir müssen vor allem im Kopf behalten, dass wir ihnen helfen würden, den ganzen Sieg davonzutragen, wenn wir uns

jetzt demoralisieren lassen. Und ganz haben sie noch nicht gewonnen. Aber dieses Gefühl, dass die Revolution schon vorbei ist, müssen wir überwinden.Die Symbolik der ganzen Sache ist nie so deutlich gewesen. Der Tahrir-Platz ist zu einem Friedhof geworden. Er ist zu einem Parkplatz für Panzer verkommen. Für Menschen auf der ganzen Welt war Tahrir das Symbol der Revolution, von Wandel und Demokratie. Zu sehen, wie diese Hoffnung in einen gigantischen Parkplatz für etliche Dutzend Panzer, gepanzerte Armeefahrzeuge mit Mauern und Stacheldraht verwandelt wurde, auf dem keine Menschenseele mehr zu sehen ist – das ist, gelinde gesagt, demoralisierend. Aber das bedeutet nur, dass wir uns den Tahrir-Platz zurückerobern müssen. Wir

stehen jetzt an einer Wegscheide, wo es keinen anderen Ausweg gibt. Die ägyptische Revolution kann nur wiederbelebt werden, wenn wir sie uns wieder aneignen. Die anstehende Schlacht wird um den Tahrir-Platz ausgefochten werden. Deshalb hat die Muslimbruderschaft am 6. Oktober versucht, ihn zu besetzen. Und genau deshalb hat die Armee scharf geschossen und mehr als 50 Menschen umgebracht, obwohl sie friedlich versuchten, zum Tahrir-Platz zu marschieren. Die Armee weiß, dass sie wieder große Probleme bekommt, wenn sie diesen Platz verliert. Und alle in der Muslimbruderschaft und alle in der Linken wissen: Wenn wir diesen Platz nicht zurückerobern stecken wir in ernsten Schwierigkeiten. ■

INTERNATIONALES

»Nur für Revolutionäre – Zutritt verboten für Muslimbrüder, Soldaten, Ehemalige«, steht auf einem großen Transparent am Eingang der Mohammed-Mahmud-Straße. Doch die meisten wissen, dass dies lediglich ein frommer Wunsch ist

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NEUES AUS DER LINKEN

EINZELHANDEL

Lohnkampf MAL ANDERS Seitdem der Manteltarif im Einzelhandel von den Arbeitgebern gekündigt wurde, stehen die Beschäftigten vor einer ungewissen Zukunft. Oft sieht man sie vor einzelnen Filialen streiken. Doch zu Verhandlungen kam es bislang nicht. Wie kann der Arbeitskampf jetzt vorankommen? In Berlin plante die Gewerkschaft ver. di neuartige Aktionen, die DIE LINKE und DieLinke.SDS tatkräftig unterstützten. Streiks müssen wehtun, betont der Parteivorsitzende Bernd Riexinger. Tatsächlich sind die neuen Aktionsformen darauf angelegt, die Arbeitgeber nervös zu machen.

Kürzungsstadtrat geht Baden

E

in Schock für die Menschen im Bielefelder Stadtteil Gadderbaum: Der SPD-Oberbürgermeister verkündete, ihr Freibad solle abgerissen werden. Die Stadt wollte die Sanierungskosten in Höhe von 2,5 Millionen Euro nicht aufbringen. Dabei hatte der Stadtrat noch 2010 einstimmig einer Sanierung zugestimmt. Nun sollte dies angesichts der kommunalen Finanzkrise nicht mehr gelten. Das Pikante an der Sache: Das Freibad ist ein grünes Prestigeobjekt. Vor allem deswegen hatten die Grünen bei den Kommunalwahlen 2009 in der Bezirksvertretung sagenhafte 39,1 Prozent der Stimmen erhalten. Jetzt stimmte die grüne Stadtratsfraktion aber wie SPD, FDP, CDU und dem Bund freier Bürger gnadenlos für den Abriss.

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Allerdings hatte der Stadtrat die Rechnung ohne die Betroffenen gemacht. Schnell hatte der Freibadverein die notwendigen Unterschriften für ein Bürgerbegehren gesammelt. Unterstützung kam von der LINKEN. Die Partei druckte eine Sondernummer ihrer lokalen Zeitung in einer Auflage von 20.000 Exemplaren. Darin forderte sie die Bürger auf, mit Ja zu stimmen. Am Beispiel des erfolgreichen Kampfes für den Erhalt des städtischen Wiesenbades in den 1980er Jahren zeigte sie: »Widerstand lohnt sich«. Das Ergebnis macht deutlich, dass die LINKE Recht hatte. Bei einer höheren Beteiligung als zu den Kommunalwahlen entschieden sich die Bürger für den Erhalt des Bades. Heinz Willemsen

Mit einem Flashmob wurde die Galeria Kaufhof auf dem Berliner Alexanderplatz, deren Belegschaft sich bislang nicht am Streik beteiligt hatte, am 26. September zur Bühne der Auseinandersetzung. Beschäftigte aus dem Einzelhandel und Unterstützerinnen und Unterstützer fanden sich mit ver.di-Shirts und Schildern im obersten Geschoss des Kaufhauses ein. Auf ein Zeichen hin machten alle ihre T-Shirts sichtbar und strömten langsam durch alle Etagen zum Ausgang. Der stille Trauerzug war ein Erfolg für die Streikenden. Wir waren viele, wir wurden von Kolleginnen und Kollegen bemerkt und die Arbeitgeberseite war sichtlich angespannt. Zunehmend beliebt ist es auch, die Beschäftigten aus dem laufenden Betrieb in den Streik zu rufen. So versammelten sich an einem Freitag im November 800 Menschen auf dem Alexanderplatz, um die Beschäftigten herzlich in Empfang zu nehmen, die es mutig auf sich genommen haben, mitten im Geschäft von Galeria Kaufhof in den Streik zu treten. Solche Aktionen stören erfolgreich den Betrieb und sind eine gute Gelegenheit für DIE LINKE, die Kolleginnen und Kollegen vor Ort zu unterstützen. Fanni Stolz


»Genug gelabert!«

A

m 10. Oktober besetzten Aktivistinnen und Aktivisten des Studierendenverbandes Die Linke.SDS für einige Stunden den Zugang zum Oberbürgermeisterbüro in Münster. Damit machten sie auf die miserable Situation auf dem Wohnungsmarkt aufmerksam. Die Explosion der Mietpreise und der Mangel an bezahlba-

rem Wohnraum machen das Leben in Münster für Azubis, Rentner, Erwerbslose, junge Familien, Menschen mit geringem Einkommen oder Studierende immer schwieriger. Jonas Freienhofer, SDS-Mitglied im Studierendenparlament, erklärt: »Mehr als leere Versprechungen sind bis jetzt vom Oberbürgermeister Lewe nicht gekommen. Im Gegenteil: Bei der kommunalen

Wohn+Stadtbau werden Mieterhöhungen durchgedrückt und die jährlichen Gewinnausschüttungen in Millionenhöhe an die Stadtkasse fehlen beim Neubau bezahlbarer Wohnungen«. »Wir haben sieben konkrete Forderungen, die auf kommunaler Ebene umgesetzt werden könnten und zu denen Herr Lewe sich klar bekennen könnte«, ergänzt Benja-

min Körner, Mitglied im SDSBundesvorstand. Das aber lehnt Lewe ab: »Er hat sich dafür entschieden, weiter rumzulabern und sich hinter Allgemeinplätzen zu verstecken. Wir haben uns dafür entschieden zu handeln, denn wir werden es nicht tatenlos hinnehmen, dass Wohnraum zum Spekulationsobjekt verkommt.« Hannes Draeger

Mit neuen Kräften ins semester Ein voller Erfolg für Die Linke.SDS an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main: 19 Interessierte bei der Vorstellung des SDS, darunter neun zum ersten Mal dabei und seitdem immer 15 Menschen bei unseren wöchentlichen Treffen. Die Arbeitsatmosphäre ist beinahe euphorisch, was vor allem ein Ergebnis un-

serer guten Vorbereitung ist. Bereits in den Semesterferien hatten wir auf einer Klausurtagung die kommenden Aktionen geplant. So konnten wir viel auf die Beine stellen und neue Mitglieder direkt in Aktionen einbinden, wie etwa die Mietenaktionswoche, die Gründung einer ver.di-Hochschulgruppe und Unterstützung der Tarifauseinandersetzung im Einzelhandel. Alle Aktivitäten haben wir mit inhaltlichen

Diskussionen begleitet. Dabei zeigte sich, dass der Bedarf an Theorieangeboten sehr hoch ist. Das wollen wir weiter ausbauen, denn die teils mühsame politische Praxis kann frustrierend werden, wenn die theoretischen Zusammenhänge nicht klar sind. Deshalb sind wir schon fleißig in den Vorbereitungen für unsere Regionalkonferenz »EU in der Krise« im nächsten Frühjahr. Daniel Schultz

NEUES AUS DER LINKEN

UNISTART

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Betrieb & Gewerkschaft

Maredo ist überall: Hürden und Erfolge der Solidaritätsarbeit Zwei Jahre dauerte der Kampf der Belegschaft einer Frankfurter Filiale der Restaurantkette Maredo. Ein Kreis von Unterstützern blieb dabei an ihrer Seite. So wichtig die Solidaritätsarbeit politisch war, so schwierig gestaltete sich mitunter die Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft NGG Von Jürgen Ehlers

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Jürgen Ehlers ist Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN in Frankfurt am Main und Mitbegründer des Solidaritätskomitees für die Beschäftigten bei Maredo.

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ie Steakhauskette Maredo ist ein Restaurantbetrieb, der wie Mc Donalds oder Burger King zur sogenannten Systemgastronomie gehört. Eine Branche, die für miese Bezahlung und schlechte Arbeitsbedingungen bekannt ist. Regelmäßig behindern die Geschäftsleitungen Versuche der Belegschaften, Betriebsräte zu wählen, die etwa Arbeitszeiten und Entlohnung kontrollieren würden. Dort, wo es Betriebsräte gibt und Arbeitsverträge existieren, nach denen die Beschäftigten in den Augen der Geschäftsleitung zu teuer sind, wird alles daran gesetzt, diese loszuwerden. So auch in einer Filiale von Maredo in Frankfurt am Main. Im November 2011 setzte die Geschäftsleitung mit Unterstützung von Anwälten und Sicherheitskräften eine große Zahl der Mitarbeiter bei Schichtwechsel im Lokal fest. Unter dem Vorwand, es habe einen Stromausfall gegeben, schlossen sie die Filiale. Die Beschäftigten wurden mit der Behauptung konfrontiert, sie hätten jahrelang den Betrieb systematisch bestohlen und betrogen. Die Geschäftsführung unternahm alles, um sie einzuschüchtern, damit sie sofort eine Eigenkündigung unterschreiben. In ihrer

Angst ließen sich einige überrumpeln, die Mehrheit aber verweigerte das und wandte sich stattdessen an ihre Gewerkschaft. Für die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) hatte diese Filiale einen besonderen Stellenwert. Mit 80 Prozent war dort der Organisationsgrad ungewöhnlich hoch und seit vielen Jahren hatten drei Betriebsräte die Interessen der Kollegen vertreten. Die zuständige Geschäftsstelle der NGG in Frankfurt wurde ebenso wie ihre Mitglieder von dem brutalen Vorgehen der Maredo-Geschäftsleitung völlig überrascht und sah sich nicht in der Lage, eine Gegenwehr zu organisieren. Als Genossinnen und Genossen der Frankfurter LINKEN von den Vorgängen erfuhren, beschlossen sie sofort, den Beschäftigten den Rücken zu stärken. Am Anfang der Solidaritätsarbeit stand die einfache Frage: »Wollt ihr euch wehren? Wir unterstützen euch!« sowie das Angebot praktischer Unterstützung. Nachdem wir Kontakt aufgenommen hatten, mussten wir zunächst die richtigen Ansprechpartner in der NGG und unter den drei Betriebsräten finden, um mit ihnen über Handlungsperspektiven und eine


© David Paenson

mögliche Unterstützung zu reden. Da wir von außen kamen, mussten wir versuchen, durch die Instanzen zur entlassenen Belegschaft vorzudringen. Dabei war es uns wichtig, ein überparteiliches Solidaritätskomitee zu bilden. Das Engagement für den Kampf der Kolleginnen und Kollegen stand so im Mittelpunkt und führte phasenweise zwanzig Menschen zusammen, darunter Sozialdemokraten, LINKE, Vertreter der radikalen Linken und Unorganisierte. Der psychische Druck auf die gefeuerten 29 Kollegen war besonders zu Beginn des Kampfes sehr hoch. Zu den Existenzängsten gesellten sich die Verstörung und die Wut über das brutale Vorgehen der Geschäftsleitung. Einerseits war das eine entscheidende Triebfeder, den Kampf aufzunehmen, andererseits aber auch ein Handicap, weil eine Klärung von politischen Perspektiven mit einer in Kämpfen unerfahrenen Belegschaft dadurch noch weiter erschwert wurde. Bei den ersten gemeinsamen Aktionen, die den Rausschmiss selbst, die Motive der Geschäftsführung und die Verleumdung in der Öffentlichkeit bekannt machen sollten, begann sich das Selbstbewusstsein der Kollegen wieder aufzurichten. Neben

In Aktion: Flashmob von ver.di-Jugend, SDS und LINKEN zur Solidarität mit den Maredo-Beschäftigten

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Zu den Existenzängsten gesellten sich Verstörung und Wut

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regelmäßigen Protestkundgebungen – immer samstags vor dem »Tatort«, der Filiale in der Frankfurter City – gab es wöchentliche Zusammenkünfte, beides organisiert und getragen von dem Solidaritätskomitee. Bei den Kundgebungen sorgten ein Transparent mit der Forderung nach sofortiger Wiedereinstellung der Kolleginnen und Kollegen ebenso für Aufmerksamkeit wie Reden über Lautsprecher und der Besuch von Prominenten, wie zum Beispiel dem Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahl. Ein Musiker unterstützte die Kampagne mit eigens geschriebenen Liedern. Auf der Straße und bei Veranstaltungen haben wir weit über 4.000 Unterschriften gegen das Vorgehen von Maredo gesammelt. Zu den bekanntesten Erstunterzeichnern gehörten Günter Wallraff, Konstantin Wecker, der Spitzenkandidat der SPD in Hessen, Thorsten Schäfer-Gümbel, und Rainer Einenkel, Betriebsratsvorsitzender bei Opel in Bochum.

ersten Instanz mit einer Niederlage, so wie Tausende andere ähnlich gelagerte zuvor. Es ist nicht entscheidend, ob die vorher diskutierte Strategie zu einem anderen Urteil geführt hätte. Sie hätte aber die Chance geboten, den wohlüberlegten Plan der Steakhauskette zu entlarven, sich mit ihrem Vorgehen schnell und billig langjährig Beschäftigter zu entledigen, um sie durch Billiglöhner zu ersetzen. Damit wäre die politische Diskussion in der Öffentlichkeit anders verlaufen, der Druck auf die Geschäftsleitung wäre deutlich erhöht worden. Die Verantwortung für das eigenmächtige Handeln des DGB-Rechtsschutzes und des für die Vertretung der Betriebsräte engagierten Anwaltes trägt die NGG. Sie wusste über das Ergebnis der Vordiskussion Bescheid, setzte es aber gegenüber den von ihr beauftragten Anwälten und der Vertreterin des DGB-Rechtsschutzes nicht durch. Auch alle anderen politischen Diskussionen um Perspektiven und Strategien führten zu keinem Ergebnis, das umgesetzt worden wäre. Zwar genoss der lange Kampf der Kolleginnen und Kollegen viel Sympathie und Anerkennung in Frankfurt, aber über das Solidaritätskomitee hinaus kam es zu keiner tatkräftigen Unterstützung. Dabei standen die Chancen gut. Es gab prominente Unterstützer, die Gewerkschaft hätte mit Hilfe von weiteren Genossinnen und Genossen bundesweit Proteste vor Filialen der Steakhauskette initiieren können. Auch eine übergreifende Kampagne zusammen mit anderen Einzelgewerkschaften zu Gewerkschaftsrechten im Betrieb und zum Thema Billiglöhne wäre möglich gewesen. Die Trennung von politischen und gewerkschaftlichen Fragen und die »Betriebsblindheit« der Gewerkschaften standen dem jedoch im Weg.

Aus Opfern wurden engagierte Kämpfer

Im Verlauf des anderthalb Jahre währenden Protestes wurden aus Opfern engagierte Kämpfer. Allerdings konnten die Beschäftigten ihren Kampf nur teilweise selbst bestimmen. Am deutlichsten wurde das in der Auseinandersetzung um die Strategie für den Prozess beim Arbeitsgericht. Die von der Gewerkschaft beauftragten Rechtsvertreter sprachen sich für die Verteidigung nicht mit den Beschäftigten ab. Laut dem vor Prozessbeginn beschlossenen Vorgehen hätten die von Maredo betriebene Videoüberwachung und der Einsatz von Detektiven gegen die Belegschaft im Mittelpunkt stehen müssen. Stattdessen gab es vor Gericht eine kleinteilige Auseinandersetzung über den Konsum von Brotresten und Espressi. Dabei spielte es keine Rolle, dass dieser jahrelang mit ausdrücklicher Duldung des Managements stattgefunden hatte. Denn zugleich gab es eine anderslautende Anordnung, die im Betrieb aushing: »Keine Ware ohne Bon!« Für das Gericht war es auch unerheblich, dass der Maredo-Filiale durch diese sogenannte »betriebliche Übung«, die dem Aushang widersprach, kein nennenswerter materieller Schaden entstanden ist. Einzig und allein der behauptete Vertrauensverlust der Düsseldorfer Zentrale gegenüber der Belegschaft war bei der Urteilsfindung ausschlaggebend. Folgerichtig endeten deswegen alle Prozesse in der

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Der Kampf hat den Kolleginnen und Kollegen geholfen, ihre durch den Rauswurf beschädigte Würde wiederherzustellen. Doch ihr mangelndes Selbstbewusstsein hat dem eigenständigen Durchsetzen ihrer Vorstellungen und der Artikulation von Kritik zu enge Grenzen gesetzt, um dem Kampf eine andere Richtung zu geben. Die kritischen Beiträge von Mitgliedern des Solidaritätskomitees wurden regelmäßig durch die Gewerkschaftsvertreter und die Rechtsanwälte ausgebremst. Trotzdem war es richtig, die Loyalität zum


Gewerkschaftsapparat nicht in Frage zu stellen. Eine Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaftssekretären und Mitgliedern des Solidaritätskomitees wäre an den entlassenen Kolleginnen und Kollegen vorbeigegangen. Bei den wenigen Anlässen, zu denen die Betroffenen selbst lautstark das Wort ergriffen, zeigte sich rasch, dass die Wirkung der von ihnen vorgetragenen Kritik auf die Gewerkschaftssekretäre um ein Vielfaches höher war. Es kam also auch hier darauf an, nicht stellvertretend zu agieren, sondern die Betroffenen zu ermutigen, für sich selbst zu sprechen. Das Gerichtsverfahren endete mit einem Vergleich, die Entlassungen blieben wirksam, doch wurden Abfindungen zugesagt. Alle anderen Streitpunkte wurden fallengelassen.

Unabhängig vom Ausgang des Kampfes hat sich das Engagement für DIE LINKE gelohnt. Wir haben gezeigt, dass wir eine politische Kraft sind, die sich von allen anderen dadurch unterscheidet, dass sie nicht nur Forderungen aufstellt, sondern auch zum Handeln bereit ist, wenn Menschen sich wehren wollen. Das macht Mut. Der Konflikt hat dazu beigetragen, dass aktive Gewerkschafter in anderen Bereichen der Frankfurter Innenstadt (zum Beispiel im Einzelhandel) heute eher bereit sind, mit der LINKEN zu kooperieren. Ein Teil der ehemaligen Kolleginnen und Kollegen von Maredo und der Aktiven des Solidaritätskomitees haben sich auch bei Aktionen der Frankfurter LINKEN gegen Lohnraub und Niedriglöhne und für einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro vor Burger King sowie an Solidaritätsaktionen im Einzelhandelsstreik beteiligt. Es ist ein kleines, aber handlungsfähiges Netzwerk entstanden, auf dem wir aufbauen können. ■

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© David Paenson

Durch die Solidaritätsarbeit wurde der Kampf in die Öffentlichkeit getragen. Maredo-Beschäftigte und Unterstützer bei einer europaweiten Demo gegen Lohndumping in Brüssel im Januar 2013

Dieses Ergebnis des Kampfes spiegelt seinen Verlauf wider. Er blieb auf die Filiale in Frankfurt beschränkt und damit der Druck auf die Zentrale in Düsseldorf begrenzt. Denn die Geschäftsführung von Maredo hat nur unter dem Druck von Umsatzeinbußen und der Befürchtung, bei einer Fortsetzung des Konfliktes einen weiteren Imageschaden zu erleiden, überhaupt einen Vergleich angestrebt. Die Verhandlungen führte ein Rechtsanwalt in Abstimmung mit den Betriebsräten und der NGG. Eine Diskussion mit allen Kollegen über das Ergebnis gab es nicht, so dass bei einigen auch eine berechtigte Unzufriedenheit zurückgeblieben ist. Bei diesem Verfahren wurden fünf Kollegen buchstäblich vergessen, weil sie von einem anderen Anwalt vertreten worden sind. Weder die Betriebsräte noch die Gewerkschaftssekretäre sahen es als ihre Aufgabe an, diese Kollegen mit einzubinden. In ihrer Unerfahrenheit und mit mangelnden Sprachkenntnissen waren sie ihrem Anwalt und dessen Taktik ausgeliefert. Ein folgenschwerer Fehler. Mit weiteren Kundgebungen vor der Filiale in Frankfurt unterstützte das Solidaritätskomitee die fünf Betroffenen in ihrem Kampf. Den mussten sie ohne ihre früheren Kollegen führen, denn der Vergleich sieht vor, dass diese sich in Zukunft nicht mehr gegen Maredo engagieren dürfen. Die weitere Unterstützung war wichtig, denn der Druck, der von dieser Öffentlichkeitsarbeit ausging, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass auch diesen fünf Kollegen ein Vergleich angeboten wurde. Sie haben ihn angenommen, obwohl er schlechter ist als jener der anderen. Die unter besonderem Kündigungsschutz stehenden Betriebsräte war Maredo ja inzwischen losgeworden, was den Preis des Vergleichs nach unten drückte.

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Was macht Marx21?

Eine Frage der Strategie

SAVE THE DATE ★ ★★

Wie kann radikal linke Politik unter der Großen Koalition aussehen? Bei den marx21-Herbstkonferenzen suchten Hunderte Aktivisten nach Antworten

S

Von Loren Balhorn

ieben Städte, über zwanzig Veranstaltungen und knapp 300 Besucher – die Bilanz der »MARX IS‘ MUSS«Herbstkonferenzen kann sich sehen lassen. Unter dem Motto »Vom Wahlkampf zum Klassenkampf« luden wir in Berlin, Frankfurt, Freiburg, Hannover, Kaiserslautern, Oberhausen und Pößneck zur Diskussion. Die Konferenzen waren unser Beitrag zu der strategischen Debatte innerhalb der LINKEN, wie es politisch nach der Bundestagswahl weitergeht. Deutschland steckt nach wie vor nicht so stark in der Krise wie unsere südlichen Nachbarn. Die erhoffte Massenbewegung für soziale Gerechtigkeit ist bislang ausgeblieben. In dieser Situation besteht die Gefahr, dass wir uns im parlamentarischen Klein-Klein verfangen. Um hier gegenzusteuern, empfehlen wir im Wesentlichen zwei Projekte für die nächste Zeit: die Arbeit in und mit den Gewerkschaften und den Aufbau der Blockupy-Proteste, um ein starkes Zeichen gegen die Austeritätspolitik und das europäische Finanzdiktat auch in Deutschland zu setzen. Nach einem Jahr Pause hat die marx21-Gruppe in Pößneck wieder eine Herbstkonferenz organisiert. Mit knapp 40 Besuchern war es die größte, die wir dort bislang veranstaltet haben. Stanlislav, ein Besucher aus Weimar, meinte: »Die lebhafte Diskussion mit den interessierten Zuhörern und Diskutanten hat ge-

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zeigt, dass es auch im Osten dringend notwendig ist, sich mit Marx zu beschäftigen.« Besonders lobten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in verschiedenen Städten die Veranstaltungen zur strategischen Erneuerung der Gewerkschaften. In Berlin referierte Olaf Klenke zur Solidaritätsarbeit mit H&M- und Charité-Beschäftigten. Hierbei erläuterte er, wie sich DIE LINKE als strategischer Akteur in der Arbeiterbewegung aufstellen kann. In Oberhausen sprach Luigi Wolf zu einem ähnlichen Thema. Hauptthema der Konferenzen war aber die Frage der revolutionären Strategie: In verschiedenen Städten diskutierten wir mit Vertretern der Interventionistischen Linken darüber, wo und wie eine revolutionäre Strömung aufzubauen ist. Dabei haben wir festgestellt, dass wir zumindest in den aktuellen Fragen (wie Blockupy) viel mehr gemeinsam haben als gedacht. Insgesamt sind die Herbstkonferenzen erfolgreich verlaufen. Wir freuen uns, Debatten angestoßen und mit vielen unserer Leserinnen und Leser diskutiert zu haben. Schön wäre es, wenn wir solche Veranstaltungen im nächsten Jahr in noch mehr Städten anbieten könnten. Grundsätzlich gibt es für jede Leserin und jeden Leser die Möglichkeit, marx21-Veranstaltungen in ihrem Heimatort zu organisieren. Falls du Interesse hast, dann melde Dich bei uns unter info@marx21.de. ■

KONGRESS

MARX IS MUSS

Berlin | 06. - 06.09.2014 ★ ★★

marx21-Netzwerk

Bundesweite Unterstützerversammlung Frankfurt | 01. - 02.03.2014


★ ★★

TERMINE

DEIN MAGAZIN DEIN FORUM Du möchtest in deiner Stadt eine Veranstaltung zu einem der Themen aus diesem oder einem vergangenen Heft organisieren und brauchst Unterstützung? Wir helfen sehr gerne – mit einem Griff in unser Artikelarchiv oder die Bereitstellung von Literatur. Falls gewünscht stellen wir auch den Kontakt zu möglichen Referentinnen oder Referenten her. Melde dich einfach bei uns unter redaktion@marx21.de oder 030/89562510 und wir schauen, was wir gemeinsam auf die Beine stellen können.

Hessen: »Regieren ist kein Selbstzweck«

3.

Der syrische Alptraum

4.

Linke und Macht

5.

Vom Wahlkampf zum Klassenkampf

6.

Nachruf auf Uta Spöri:

7.

»Wir müssen Klassenkampf wieder ... «

8.

Film »Fack ju Göhte«:

9.

»Marx war ein moderner Prophet«

10.

Umwelt: Eine Zukunft ohne Autos

Frankfurt/M. | 23.01.2014 marx21-Unterstützertreffen Uhrzeit 19:00 | Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28

Berlin | 15.01.2014 marx21-Forum: »Wie stehen Linke zu Prostitution?« | Uhrzeit: 19:00-21:00 | Ort: unter www.marx21.de

Frankfurt/M. | 04.02.2014 marx21-Unterstützertreffen | Uhrzeit 19:00 | Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28

Hamburg | 15.01.2014 marx21-Lesekreis »Rassismus« | Uhrzeit: 19:00-21:00 Uhr | Ort: Parteibüro DIE LINKE.Altona, Am Felde 2

(1264) (1210) (1059) (1050) (963) (952) (822) (785) (633) (613)

Insgesamt waren 12.663 Besucher im November (Stand: 22.11. / 19.364 im Oktober) auf marx21.de

marx21.de bei Facebook: ★  plus 94 Fans in den letzten zwei Monaten (2476 Fans insgesamt) ★  316 Pinnwandeinträge, Kommentare und Verwendungen von »Gefällt mir« in den letzten vier Wochen ★  Gesamtreichweite in einem Monat: 10.697 (davon 1525 Besucher, die mit marx21 auf Facebook interagiert haben (= Klicks, Kommentare, »Gefällt mir« etc.))

ABO STAND Zahl der Abonnenten (Stand 22.11.): 930 (+19)

SPEZIAL US-WAHL 2012

Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de

2.

Frankfurt/M. | 09.01 2014 marx21-Unterstützertreffen | Uhrzeit 19:00 | Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28

marx21.de besser nutzen:

Oktober/November Flüchtlinge: Von Lampedusa nach Hamburg

Köln | 18.01.2014 marx21-Forum mit drei Veranstaltungen: »2014 - Perspektiven der Bewegung«, »Die Europäische Union: Ein Projekt der Bosse?«, »Marxistische Philosophie für Einsteiger« | Uhrzeit: 12:00-18:00 | Ort: Parteibüro DIE LINKE, Zülpicher Str. 58

ONLINE ANGEKLICKT

TOP TEN

1.

Essen | 21.12.2013 marx21-Forum mit drei Veranstaltungen: »Widerstand in Merkelland«, »Konsumkritik. Ein Weg, die Welt zu verbessern?« und »Klassenkampf statt Islamophobie« | Uhrzeit: 12:00-18:00 | Ort: Heinz-Renner-Haus, Severinstr.1

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© Thomas Kunz

NACHRUF

»Nicht nur tun, sondern auch wissen und erklären« Am 24. Oktober ist unsere Genossin Uta Spöri tödlich verunglückt. Als revolutionäre Sozialistin setze sie sich von 1968 bis zu ihrem Tod für eine Welt ohne Ausbeutung und ohne Kriege, ohne Rassismus und ohne Frauenunterdrückung ein. Ein Nachruf VoM marx21-Koordinierungskreis

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Uta hatte sich einen hohen Grad an Verankerung in ihrer Klasse erkämpft, zugleich aber ihre politische Praxis aus einer sicheren Verortung in marxistischer Theorie abgeleitet. Ein Herangehen, das in der deutschen Linken leider viel zu wenig verbreitet ist. Uta war in den letzten Jahren freigestellte Personalrätin beim größten Arbeitgeber ihrer Stadt, der Uniklinik Freiburg, als ver.di-Vertrauensfrau hat sie sich die Anerkennung ihrer Kolleginnen und Kollegen in mühsamer Kleinarbeit über lange Jahre erkämpft. Zugleich hat sie sich im Netzwerk marx21 in Freiburg für den Aufbau einer klassenkämpferischen sozialistischen LINKEN engagiert. Oder – um es mit Bertolt Brechts Gedicht »Lob des Revolutionärs« auszudrücken: »Er organisiert seinen Kampf um den Lohngroschen, um das Teewasser und um die Macht im Staat.« Utas politischer Lebenslauf begann sehr früh. Zwei Ereignisse, die scheinbar nichts miteinander gemeinsam haben, sind doch prägend gewesen für ihre politische Entwicklung: die Flucht der Familie aus der DDR im Jahr 1961 und die Beteiligung an der 68er-Revolte. Die Mutter verließ am 12. August 1961 zusammen mit Uta und ihren zwei älteren Geschwistern Dresden und die DDR – einen Tag, bevor die Berliner Mauer gebaut wurde. Die Familie hatte keine Ausreiseerlaubnis erhalten, um an der Beerdigung von Utas Großvater im Westen teilzunehmen. »Grund genug für die Flucht«, wie Uta im Jahr 2009 in einem Interview sagte. Die Familie zog in die Nähe von Freiburg. Uta besuchte ab 1965 das Gymnasium in Freiburg. Noch als Zwölfjährige geriet sie in den Freiburger Zweig der 68er-Bewegung. Als Freiburger Direktkandidatin der LINKEN im Bundestagswahlkampf 2009 wurde sie während eines Interviews mit der Studentenzeitung »fudder« gefragt: »Frau Spöri hat ja schon einige Aktionen in ihrem Leben mitgemacht – gibt es einen Protest, an dem sie teilgenommen hat und den sie für die heutige Situation besonders prägend fand?« Uta antwortete: »Am ehesten prägend war der Wasserwerfereinsatz bei der Demo gegen Fahrpreiserhöhung 1969.« Anfang Februar 1968 (Uta hatte sich wohl im Jahr geirrt) war es in Freiburg wie zuvor in Bremen, Hannover und anderen Städten zu Massendemonstrationen sowie Straßen- und Gleisblockaden gegen Fahrpreiserhö-

hungen gekommen. Die »neue politische Kultur« des Protestes und des zivilen Ungehorsams war auch in Freiburg angekommen und politisierte Uta und hunderte weitere Jugendliche. »Demonstrationen gegen Notstandsgesetze und Vietnamkrieg schlossen sich an«, erinnerte sie sich später. Kurze Zeit später verließ sie das Gymnasium. »Ich wollte etwas Praktisches machen, mein eigenes Geld verdienen, selbständig sein«, erzählte sie vor einigen Jahren in einem Interview mit der »Badischen Zeitung«. Fortan besuchte sie die Fachschule für chemisch-technische Assistenten. Auf Nachfrage, »wieso« sie sich ausgerechnet dafür entschied, sagte sie: »Da konnte ich das Praktische mit dem Grundlagenwissen verbinden. Nicht nur etwas tun, sondern auch wissen und erklären, warum und wieso bestimmte Prozesse ablaufen. Wie in der Politik.« Eine wichtige, prägende Erfahrung war in den 1970er Jahren Utas Beteiligung an dem ersten (und letzten) siegreichen Kampf gegen den Bau eines Atomkraftwerkes bei Wyhl am Kaiserstuhl. Die Auseinandersetzung dauerte von 1970 bis 1975. Eine ganze Region erhob sich damals erfolgreich. »Wyhl« wurde zum Synonym für radikalen und massenhaften Widerstand gegen Staat und Konzerne. Der erfolgreiche Widerstand wurde zum Fanal für eine große, bundesweite Antiatombewegung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Utas politische Biografie weist zwei Besonderheiten auf, die sie von anderen ihrer Generation der »Achtundsechziger« unterscheidet. Sie ist zwar – wie viele radikalisierte 68er in Freiburg – für kurze Zeit im maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) aktiv gewesen, aber vollzog dessen spätere Rechtsentwicklung und Auflösung in die neu entstehende Partei der Grünen nicht mit. Nach dem Rückzug aus dem KBW hat sie sich zunächst gar keiner Partei mehr angeschlossen. Uta ist damals vom politischen Kampf in den betrieblich-gewerkschaftlichen oder ökonomischen Klassenkampf gegangen. Auch das hat sicherlich dazu beigetragen, dass sie in den Jahren des Niedergangs der Klassenkämpfe in Deutschland nicht mit den Grünen nach rechts gegangen ist. Über ihren Sohn Dirk, der sich in den 1990er Jahren der revolutionären marxistischen Organisation Linksruck angeschlossen hatte, kam sie in Kontakt zu neuen antikapitalistischen Protesten der globalisierungskritischen Bewegung, in Deutschland wurden diese wesentlich von Attac getragen. In Freiburg gehörte Uta zu den Mitbegründerinnen dieses globalisierungskritischen Netzwerks. Nach Einschätzung von Linksruck bot Attac ein neues Forum für sozialistische und marxistische Ideen. Von

NACHRUF

G

riechenland, dem Land und den Menschen, galt ihre besondere Liebe. Uta Spöri hatte die griechische Sprache erlernt und verbrachte ihre Urlaube dort. Zuletzt war sie auf der Insel Tilos. Dort ist sie am 24. Oktober bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen.

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rum für sozialistische und marxistische Ideen. Von den Massenprotesten gegen die WTO-Konferenz in Seattle (1999) über die großen Demonstrationen gegen die IWF-Tagung in Prag (2000) und den G8Gipfel in Genua (2001) formierte sich eine neue antikapitalistische Massenbewegung, an der auch Uta aktiv teilgenommen hat und in der sie sich selbst repolitisierte. Die neue Bewegung war von Beginn an eine internationale Bewegung. Aus diesen Erfahrungen entstand auch Utas ausgeprägter, praktizierter Internationalismus, der politische Austausch mit radikalen Linken im nahen Frankreich oder auch ihre große Solidarität mit der griechischen Arbeiterbewegung. Als dann im Jahr 2004 in Deutschland mit der »Wahlalternative« eine neue politische Partei aus der sozialen Protestbewegung gegen die Agenda 2010 entstand, war Uta von Beginn an dabei. Mittlerweile auch schon Mitglied von Linksruck gründete sie nun die WASG in Freiburg.

lutionären griechischen Partei SEK bestürzt von der Nachricht ihres Todes, Uta hatte vor ein paar Jahren auf ihrem Kongress in Athen gesprochen. Utas Tod ist auch deshalb so tragisch, gewaltsam und zerstörerisch, weil ihr politisches Tempo und ihre Fähigkeiten, andere Menschen politisch zu führen, gerade in den letzten Jahren enorm gewachsen waren. Seit dem Jahr 2010 war sie Sprecherin des Kreisverbandes der LINKEN in Freiburg und hat deren Wahlkampf in Freiburg in hohem Maße geprägt – mit zahlreichen Aktionen und Aktivitäten auf den Straßen und Plätzen, gegen den drohenden Krieg gegen Syrien, gegen die unmenschliche Flüchtlingspolitik der rot-grünen Landesregierung, gegen Mietwucher in Freiburg. Zudem war sie, ebenfalls seit 2010, freigestellte Personalrätin. Im Jahr 2005 hatte sie sich am erfolgreichen Abwehrkampf gegen die Einführung der 41-Stundenwoche in der Klinik maßgeblich beteiligt. Sie führte den Streik gegen den Ausstieg der Unikliniken aus dem Tarifverbund erfolgreich mit und war zurecht sehr stolz, dass »wir es an der Klinik bisher geschafft haben, alle Leiharbeitsanträge abzulehnen.« Die Menschen in Freiburg haben in den letzten zehn Jahren erfolgreiche Abwehrkämpfe gegen die Privatisierung des kommunalen Wohnungsbestandes geführt. Freiburg verfügt über eine Tradition erfolgreicher Kämpfe, aus Freiburg kamen im vergangenen Jahr immer große Delegationen zu nationalen und internationalen Protesten wie Blockupy in Frankfurt. Vorne stand fast immer eine revolutionäre Sozialistin: Uta Spöri. Utas politische Ausstrahlung, ihr Eintreten für eine Welt ohne Ausbeutung und ohne Kriege, ohne Rassismus und ohne Frauenunterdrückung, war auch deshalb so stark, weil sie selbst nie eigennützig, überheblich oder arrogant gegenüber Andersdenkenden auftrat. Unsere Gedanken sind bei Utas Sohn Dirk und den Freiburger Genossinnen und Genossen, die jetzt ohne Uta weitermachen müssen.Aber es gehörte auch zu Utas Stärken, dass sie ihre Überzeugungen nicht nur praktiziert und erklärt hat, sondern damit auch viele Mitkämpferinnen und Mitkämpfer geprägt und aufgebaut hat. Auch wenn ihr Tod ein großer Verlust ist, werden andere ihren Kampf weiterführen. Uta Spöri wurde nur 58 Jahre alt. Am 18. November fand ihre Beerdigung im engsten Familienkreis auf Kreta statt, wo sie Griechenland vor über zwanzig Jahren kennen und lieben lernte. Sie wollte in Griechenland leben, sie liebte den Süden und das Meer. Nun ist sie dort geblieben. ■

Vorne stand fast immer eine revolutionäre Sozialistin

Uta hat sich mit zunehmendem Alter nicht »gemäßigt«, sie hat vielmehr ihre Kapitalismuskritik aus der »Achtundsechziger-Epoche« nur wieder belebt, weiterentwickelt und gefestigt. Wer sich ihre »Chronik« auf Facebook anschaut, wird feststellen, dass Uta kaum eine Möglichkeit ausgelassen hat, den gewerkschaftlichen Kampf gegen die Arbeitgeber auf eine höhere Ebene des politischen Klassenkampfes gegen den Kapitalismus zu führen. Dank Utas Einfluss steht die Uniklinik Freiburg heute exemplarisch für eine Gewerkschaftstätigkeit, die auf Aktivierung, Mitgliedergewinnung und politische Aktionen setzt. Ihr Sohn Dirk schreibt: »Für mich war beeindruckend, wie sie schon im Jahr 1999 gegen den Kosovokrieg über die Vertrauensleute eine Mahnwache an der Uniklinik organisierte.« Wie ein roter Faden zieht sich durch ihre Aktivitäten die uneingeschränkte Solidarität mit dem Widerstand der südeuropäischen Arbeiterklassen gegen die fortschreitende Verelendung durch den Kapitalismus. Uta beteiligte sich an den großen Europäischen Sozialforen, die zwischen 2002 und 2006 in Florenz, Paris, London und Athen stattfanden. Zuletzt besuchte sie internationale Kongresse wie das Weltsozialforum 2013 in Tunis und den »Alter Summit«, der diesen Sommer in Athen stattfand. Während ihres letzten Urlaubs nahm sie an einer Kundgebung von Syriza teil, der griechischen Schwesterpartei der LINKEN. Wie die Genossinnen und Genossen von Syriza waren auch die der revo-

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SOZIALE BEWEGUNG

Bayern ziehen dem IOC die Lederhosen aus

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Die Bewerbung M端nchens f端r die Olympischen Winterspiele 2022 ist vom Tisch. In einem B端rgerentscheid entschieden sich die Menschen der Region gegen die Kommerzialisierung der Alpen und gegen eine politische und wirtschaftliche Klasse, die es mit ihrer Arroganz wieder mal 端bertrieben hatte Von Max Steininger

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★ ★★

Max Steininger ist Mitglied der LINKEN in München.

I

m Jahr 2022 werden keine Olympischen Winterspiele in München stattfinden. In einem Bürgerentscheid in der bayerischen Landeshauptstadt (52,1 Prozent) sowie den Landkreisen Markt Garmisch-Partenkirchen (51,6 Prozent), Traunstein (59,7 Prozent) und Berchtesgadener Land (54,0 Prozent) stimmten die Bürgerinnern und Bürger gegen eine gemeinsame Bewerbung. Es ist gerade einmal zwei Jahre her, dass München mit seiner Bewerbung für die Winterolympiade 2018 scheiterte. Bei der entscheidenden Abstimmung im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) unterlagen die Bayern mit nur 25 von 95 möglichen Stimmen gegen die Bewerber aus dem südkoreanischen Pyeongchang. Für das Organisationskomitee und die Befürworter der Bewerbung waren sogleich die

Der Olympia-Vertrag lastet nahezu alle Risiken der Stadt an und gibt fast alle Rechte an das IOC

Schuldigen gefunden: »Einige wenige Spaßbremsen« der Kampagne »NOlympia« hätten nicht nur dafür gesorgt, dass in Garmisch-Partenkirchen zwei Monate vor der IOC-Entscheidung ein Bürgerentscheid gegen den erklärten Willen des Bürgermeisters zugelassen wurde (die Wählerinner und Wähler stimmten damals knapp für die Bewerbung). Die Nörgler vom Bündnis NOlympia hätten überdies noch kurz vor der Abstimmung versucht, mit Hilfe von Musterbriefen und Postkartenaktionen an IOCMitglieder München vom Favoritenthron zu stoßen. Das Organisationskomitee um den Münchner Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) zog aus der Niederlage 2018 die Lehre, dem IOC diesmal im Vorfeld der Bewerbung die große Unterstützung durch die Bevölkerung zu beweisen. Die Idee war, über ein sogenanntes Ratsbegehren einen möglichst deutlichen Mehrheitsentscheid pro Olympia herbeizuführen. Unter diesem Vorzeichen lief auch die Kampagne für eine erneute Bewerbung: Zuerst wurde die umstrittene Ausrichtung von Langlauf- und Biathlonwettbewerben in Garmisch gestrichen und stattdessen der bereits bestehende Langlauf- und Biathlon-Weltcupstandort Ruhpolding in die Planungen aufgenommen.

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Der offiziellen postalischen Wahlbenachrichtigung lag neben der zweiseitigen Begründung des Stadtratsbeschlusses ein ausführliches Faltblatt mit ausschließlich Pro-Argumenten bei. »Die Bewerbung um die Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2022 bietet die Chance, eine neue Qualität von Sportgroßveranstaltungen zu definieren und gemeinsam mit Bürgern und Verbänden ein einzigartiges Umwelt- und Nachhaltigkeitskonzept zu erarbeiten«, war dort zu lesen. Die Verantwortlichen knüpften allerlei Zusagen an eine erfolgreiche Bewerbung: Die Infrastruktur sollte ausgebaut, Mietwohnungen neugebaut, die Region als Touristenzentrum aufgewertet und die heimische Wirtschaft unterstützt werden. Hauptsponsoren der Kampagne waren unter anderem BMW, Audi, Infineon, die Münchner Brauereien, Sky, SAP, Bayerische Hausbau und der Hotel- und Gaststättenverband. Daneben unterstützten auch der Flughafen und die S-Bahn München die Bewerbung, letztere sogar mit Fahrgastansagen. Auch allseits bekannte Gesichter aus dem deutschen Sportmarketing rührten fleißig die Werbetrommel. Die ehemaligen Skiläufer Rosi Mittermeier und Christian Neureuther durften bei ihrer Eigenwerbung für neue »Fernsehexpertenverträge« ebenso wenig fehlen wie die Eishockeymannschaft vom EHC München, die Fußballer des FC Bayern München, die Skirennfahrerin Maria Höfl-Riesch und natürlich unser Kaiser Franz Beckenbauer. Er selbst hat keine Verschwendung seiner Steuergelder zu befürchten, da er seinen Hauptwohnsitz bereits im Jahr 1982 nach Österreich verlagerte und seitdem seine Einkünfte dort zu versteuern pflegt. Alle Parteien außer der LINKEN und einer Mehrheit der Grünen unterstützten die Bewerbung. Doch ausgerechnet die grüne Landesvorsitzende Theresa Schopper machte in der Woche vor der Abstimmung – gegen die Beschlusslage in ihrer Partei – noch einen medienwirksamen Werbetermin für die Bewerbung. Die Einmütigkeit von Funktionären, Politikern, Medien und Wirtschaft in der Pro-Fraktion und deren Millionenetat ließ sie überheblich werden. Die Frage war aus ihrer Sicht nicht, ob sie gewinnen würden, sondern lediglich wie hoch das Ergebnis pro Olympiabewerbung ausfallen würde. Münchens OB Ude kündigte ein »klares 4:0 für Olympia« an und sagte, es werde keine Bewerbung geben, wenn nur einer der vier Bürgerentscheide verloren ginge. Mit einem Etat von lediglich 35.000 Euro startete dagegen das Bündnis NOlympia, zu dem neben LINKEN und Grünen vor allem der BUND, Umweltstiftungen, Attac, Naturfreunde, Vogelschutzbund und die Gesellschaft für ökologische Forschung aufgerufen hatten. Ihr Hauptmedium war dabei interessanterweise die im Gegensatz zur Kampagnenseite


SOZIALE BEWEGUNG

© Jaan-Cornelius K / CC BY-SA / flickr.com

o-ja-2022.de sehr sperrig daherkommende Internetseite nolympia.de. Dort wird schon seit der Bewerbung für Olympia 2018 eine Vielzahl wissenschaftlicher und journalistischer Expertisen präsentiert und damit den Befürwortern der Wind aus den Segeln genommen. Insbesondere ein Rechtsgutachten im Auftrag der Gesellschaft für ökologische Forschung zum »Host City Vertrag« (HCV) des IOC für die Bewerbung 2018 stellte die Olympiabefürworter bloß. Das Gutachten stellte fest: • »Nach deutschem Recht wird man den Vertrag als sittenwidrig nach § 138 BGB ansehen müssen (völlig einseitige Risiko- und Lastenverteilung, Ausnutzung einer Monopolstellung)« • »Die Stadt würde deshalb mit Abschluss des Vertrages außerhalb ihrer verfassungsrechtlich garantierten bzw. gesetzlich zugewiesenen Kompetenzen handeln« • »Der HCV ist ein Knebelvertrag. Das IOC nutzt beim Abschluss des HCV seine unkontrollierte Monopolstellung für teilweise rechtlich groteske, den Vertragspartner einseitig belastende Regelungen, die jedem Anstands- und Gerechtigkeitsgefühl widersprechen« • »Eigene Verpflichtungen des IOC stehen in seinem Ermessen. Der Vertrag lastet nahezu alle Risiken der Stadt an und gibt fast alle Rechte an das IOC« • »Dem Ziel einer erfolgreichen Olympia-Bewerbung würde das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung als zentraler Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips geopfert«

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© Klaus Stuttmann

Auch einige Inhalte des Vertrages wurden bekannt. Demnach sollten 2000 Limousinen für die »olympische Familie« bereitgestellt werden, was einen Wertverlust der Neuwagen in Höhe von 20 Millionen Euro binnen dieser zwei Wochen bedeutet hätte. Jegliche Form von Nahrungsmittelverkauf, Merchandising, Werbeflächen und sogar Bierausschank im Umfeld der Wettkampf- und Medienzentren wären ausschließlich den offiziellen Sponsoren vorbehalten gewesen. Alle Einkünfte aus Eintrittsgeldern, Senderechten und Vermarktung der Olympischen Spiele verblieben beim IOC. Das IOC wäre dabei von jeglicher Besteuerung freigestellt gewesen. In keiner Austragungsstätte und keinem dorthin führenden Verkehrsweg hätte andere Werbung als die offizielle Werbung der IOC-Partner angebracht werden dürfen. Stadien- oder Straßennamen hätten während der Spiele durch die Ausrichter geändert werden können. Zudem mussten die Ausrichtergemeinden für hundertprozentige Schneesicherheit garantieren. Für die bayerischen Alpen hätte das bedeutet, künstlich gekühlte Wasserreservoirs zu bauen, um auch bei wenig winterlichen Temperaturen die künstliche Beschneiung garantieren zu können. Und schließlich unterstand der Host-City-Vertrag keiner nationalien Gerichtsbarkeit. Über die Vertragserfüllung wacht allein der internationale Sportsgerichtshof in Lausanne, dem Sitz des IOC. Der Ausrichter verzichtet auf jegliche Einspruchsmöglichkeiten gegen den Host-City-Vertrag. Die Offenlegung der Geschäftspraxis von IOC, Sportfunktionären und Politik machte vor allem eines sehr deutlich: Es geht nicht um die olympische Idee,

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sondern um ein weltweit vermarktetes Entertainment- und Werbeevent. Leistungssport ist Werbung und Olympia stellt die Ausrichtergemeinden unter das Diktat des IOC: »Wer die Spiele will, muss ein paar Kröten schlucken«, schrieb die »Süddeutsche Zeitung«, die sich, wie nahezu alle Medien, eher für die Bewerbung aussprach. Die Abstimmung um ein »Olympia dahoam« wurde so zunehmend zu einer Abstimmung über die Frage »Lassen wir uns dieses IOC noch gefallen?« Die Kampagne NOlympia nahm in den letzten zwei Monaten vor der Abstimmung enorm an Fahrt auf. Neben guter Kooperation zwischen den Organisatorinnen und Organisatoren des Bündnisses waren es vor allem viele Ehrenamtliche, die die Befürworter an Infoständen, in Leserbriefen und im persönlichen Umfeld mit starken Argumenten in die Defensive drängten. Mit Argumenten, mit persönlichem Engagement und mit Gesichtern, die aufgrund ihrer Überzeugung und nicht als Werbeträger sprachen, konnte die Kampagne NOlympia am Ende in allen vier Bürgerentscheiden die Mehrheit gewinnen. Am letzten Tag vor der Abstimmung hatte der Deutsche Alpenverein (DAV), seinerseits größte Mitgliedsorganisation im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), zu seiner Hauptversammlung geladen. Noch zu Beginn der Konferenz warb DOSB-Präsident Michael Vesper gemeinsam mit dem DAV-Präsidenten Josef Klenner für die Spiele in München. Am Nachmittag entschieden dann die 600 Delegierten mit überraschend großer Mehrheit von 70 Prozent, dass der DAV eine Bewerbung für München 2022 aus ökologischen Gesichtspunkten


ablehnt. Der Stab von Marketingexperten, der die Pro-Kampagne mit einem Millionenetat möglichst massentauglich, effekthascherisch, parolenhaft und mit von der Werbebranche bezahlten Sport-Promis inszeniert hatte, wurde bloßgestellt: Ihre Kampagne diente der Selbstbereicherung der deutschen Sportmarketingbranche auf Kosten der öffentlichen Kassen und der Natur. Am Ende stimmte die Mehrheit gegen die »Großkopferten« von IOC und aus der Politik, gegen die Kommerzialisierung der bayerischen Alpen zugunsten internationaler Großkonzerne und gegen eine politische und wirtschaftliche Klasse, die es mal wieder übertrieben hatte mit ihrer Arroganz. Ob der positive Ausgang des Bürgerentscheids gegen eine Bewer-

bung zu Olympia 2022 aber dazu führen wird, dass die weltweit größten Eventkonzerne IOC und Fifa ihre Geschäftspraktiken ändern werden, wird allerdings woanders entschieden. Mit den olympischen Winterspielen in Sotschi und der Fußball-WM in Brasilien stehen im Jahr 2014 zwei umstrittene Megaevents vor der Tür. Im russischen Sotschi scheint die geschundene Natur bereits chancenlos zu sein, ihre Zerstörung schreitet ungebremst voran. In Brasilien ließ dagegen der Confed-Cup im Sommer darauf hoffen, dass die Menschen auch im kommenden Jahr der Zerstörung von Sozialstaatlichkeit, dem Missbrauch ihrer beliebtesten Sportart und dem Ausverkauf der Kommunen ihren solidarischen Widerstand entgegensetzen. ■

kommentar

Sport ist nicht gleich Sport weiter und macht unter anderem die überzogenen Erwartungen der Wählerinnen und Wähler verantwortlich. Man müsse bedenken: »Im Kapitalismus können der Sport und Olympia nicht die reine Lehre des Sozialismus verkörpern oder umsetzen.« Schwer vorstellbar, dass diese Mahnung zu mehr Realismus die revolutionäre Ungeduld des traditionell linksradikalen oberbayerischen Wahlvolks noch bremsen kann – schon bei der Landtagswahl im September kam die CSU dort auf 47, DIE LINKE auf 1,8 Prozent der Stimmen. Hier offenbart sich das Dilemma der Sportpolitik selbst: Sport ist dort lediglich ein Synonym für Leistungssport. Sportpolitischer Erfolg misst sich an der Zahl der Medaillen bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften – und an der Höhe des Umsatzes in der Wirtschaftsbranche Profisport. Dank Fernsehen und Werbewirtschaft ist längst nicht mehr jeder Berufssportler bei der Bundeswehr oder der Polizei angestellt, aber gerade unter den Olympiateilnehmerinnen und -teilnehmern immer noch ein großer Teil.

Dementsprechend ist die Sportpolitik dem Innen- und nicht dem Gesundheitsministerium untergeordnet. Auch der »Breitensport« dient aus dem Blickwinkel einer solchen Sportpolitik der Rekrutierung künftiger Leistungssportler. Entsprechend sorgt sich auch Kunert in erster Linie darum, ob auch in Zukunft Kinder und Jugendliche noch den »Olympioniken nacheifern« – etwa im Rahmen von »Jugend trainiert für Olympia«. Hierbei handelt es sich um das bekannteste Castingverfahren für künftige Spitzensportlerinnen und -sportler. Von den 800.000 daran teilnehmenden Schülerinnen und Schülern, werden nur 0,3 Prozent zu den Finalveranstaltungen eingeladen. Selbst von diesen steht nur den wenigsten eine Karriere als Profisportler oder gar als Olympionike offen. Die übrigen 99,9 Prozent sollen gefälligst als Fans und Werbekonsumenten mit Chips und Bier auf ihrem Logenplatz im Fernsehsessel Platz nehmen. Nicht umsonst ist in westlichen Industriestaaten die Platzierung auf dem olympischen Medaillenspiegel direkt proportional zur Fettleibigkeit der heimischen Bevölkerung. ■

SOZIALE BEWEGUNG

O

b Familienausflug ins Schwimmbad, Wander- oder Skiurlaub, Fußballspiel im Freundeskreis auf der Stadtparkwiese oder Besuch eines Fitnessstudios – Sport erfreut sich großer Beliebtheit. Für die meisten Menschen ist er ein willkommener Ausgleich zu einseitigen Belastungen im Büro- Schul-, Studienund Fabrikalltag. Mit der Ausrichtung von Olympischen Spielen hat die Joggingrunde um den Ententeich allerdings nicht besonders viel zu tun. Das sieht die sportpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag wohl anders: »Die abgelehnte Olympiabewerbung ist ein Verlust für den Sport«, kommentiert sie auf der Website der Fraktion. Mit Bedauern nimmt Katrin Kunert – selbst langjährig aktive Leichtathletin – den Ausgang des oberbayerischen Ratsbegehrens zur Kenntnis: »Jede Sportlerin und jeder Sportler träumt von Spielen im eigenen Land.« Ach, so? »Die Ablehnungsgründe der Bürgerinnen und Bürger müssen analysiert und vor allem ernst genommen werden«, schreibt sie

Von Max Steininger

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GESUNDHEIT

Bittere Pillen Der Medikamentenmarkt boomt, die Pharmaproduzenten kassieren. Doch werden wir wirklich immer kranker? Eine Spurensuche Von Kirsten Schubert

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Kirsten Schubert ist Ärztin, Referentin für Gesundheitspolitik bei medico international und Mitglied im erweiterten Vorstand des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte.

er Konsum von Tabletten gegen chronische Krankheiten hat massiv zugenommen. Das bestätigt die aktuelle Studie der OECD »Health at a Glance« (»Gesundheit im Überblick«). Teilweise ist dies auf die deutliche Steigerung der Lebenserwartung und das gehäufte Auftreten von Erkrankungen im Alter zurückzuführen. Doch zusätzlich existiert ein großer Industriezweig, der von der Medikalisierung der Gesellschaft profitiert: die Gesundheitsindustrie. Frei nach dem Motto: »Es gibt nicht den gesunden Menschen, es gibt lediglich den ›schlecht diagnostizierten‹ Menschen« versucht sie Krankheitsdefinitionen zu dehnen und Ärzte zu beeinflussen. Kaum eine andere Branche kann solche Wachstumszahlen vorweisen. Vom »Bedarf« schon längst entkoppelt kommt eine Tablette nach der anderen auf den Markt. Alter wird zur Hormonmangelkrankheit, Schüchternheit zur sozialen Phobie und aufgeweckte Kinder haben ein Hyperaktivitätssyndrom. Doch es regt sich kaum Widerstand. Die Profite der Pharmakonzerne und ihre Nebenwirkungen scheinen gesellschaftlich legitimiert.

Die Gesundheitsindustrie ist längst vom »Bedarf« entkoppelt

Megatrend demographischer Wandel. »Ein neues Altersverständnis und eine neue Alterungskultur sorgen dafür, dass Gesundheit zur immer stärker nachgefragten Schlüsselressource wird, an der sich die Märkte und Innovationen von morgen entwickeln. Gesundheit wird so zum nächsten großen Wachstumsmotor«, schreiben die Autoren der Broschüre »Silberne Revolution« des Zukunftsinstituts. Senioren werden zunehmend medienkompetent.

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Das subjektiv empfundene Alter sinkt, bestätigen diverse Studien. Ganze Marketingabteilungen der Gesundheitsindustrie beschäftigen sich aktuell mit der Frage, wie man Produktentwicklung, Werbung und Vertrieb für die »Best Ager« optimieren kann. Der nach den Wechseljahren bei Frauen eintretende Hormonmangel wird pathologisiert. Er kann zur Osteoporose führen und muss therapiert werden, um möglichen Knochenbrüchen vorzubeugen. Und auch Männern wird eingeredet, das Älterwerden sei eine Testosteronmangelkrankheit, an der etwa ein Viertel von ihnen leide. Mögliche Folgen: Depression, Antriebsschwäche, Rückbildung der Muskulatur, wachsendes Bauchfett und der Rückgang der Potenz. Die passenden Produkte sind schon entwickelt. Wissenschaftliche Studien und Experten bestätigen den Nutzen. Gesundheit ist eine Ware. Genau wie Kugelschreiber, Handys und Bananen handelt es sich bei Medikamenten um Produkte, die in unserer kapitalistischen Gesellschaft meist von Privatfirmen mit der Absicht der Gewinnerzielung produziert und vertrieben werden. Die Pharmaindustrie ist mittlerweile einer der größten Wirtschaftszweige weltweit. Seit den frühen 1990er Jahren sind die Verkaufszahlen massiv in die Höhe geschnellt. Aktuell kann ein jährlicher Zuwachs von 10 Prozent verzeichnet werden. Es wird erwartet, dass die weltweiten Ausgaben für Arzneimittel im Jahr 2014 die gigantische Summe von einer Billion US-Dollar übersteigen. Mehr als zwei Drittel dieses Umsatzes beschränken sich dabei auf die USA, Japan und die fünf umsatzstärksten EU-


Die Zeit der großen pharmazeutischen Neuentdeckungen ist jedoch vorbei. Läuft die Patentzeit des

»Blockbusters« eines Pharmaunternehmens aus, werden deshalb oft Medikamente entwickelt, die minimale Abweichungen beinhalten, aber keinen großen Zusatznutzen haben: die sogenannten »me too«Präparate. Hiermit werden die bereits geschaffenen Bedürfnisse bei der Behandlung bekannter Erkrankungen und Risiken genutzt. Gleichzeitig werden neue Bedürfnisse geschaffen. Zu erwartender Profit macht erfinderisch. Es werden gezielt Krankheitsdefinitionen ausgeweitet oder gleich neue Krankheitsbilder erfunden (sogenanntes disease mongering). Frühe, schwache oder präsymptomatische Formen von Erkrankungen werden mit in die ursprüngliche Definition der Krankheit einbezogen, natürliche Entwicklungen wie Haarverlust bei Männern werden pathologisiert und Risikofaktoren avancieren zu Krankheitsbildern, die einer Behandlung bedürfen. Bluthochdruck, Osteoporose oder erhöhte Cholesterinwerte sind ohne Zweifel ernstzunehmende Risikofaktoren für schwerwiegende Erkrankungen

Wer ist denn hier bitte krank? Zur Stärkung der Pharmaindustrie werden Krankheitsdefinitionen erweitert oder sogar neue Krankheitsbilder entwickelt

GESUNDHEIT

Überversorgung auf der einen Seite, Unterversorgung auf der anderen. Nicht nur im geographischen Sinne. Auch Medikamente für seltene Erkrankungen in den reichen Ländern, wie zum Beispiel Enzymdefekte bei Kindern, werden kaum erforscht oder weiterentwickelt. Interessanter sind sogenannte »Blockbuster«: Medikamente, die das Potenzial haben, einen Umsatz von mindestens einer Milliarde US-Dollar zu generieren. Hierzu eigenen sich insbesondere Medikamente, die weiterverbreitete Gesundheitsrisiken beeinflussen, wie Bluthochdruck oder Fettstoffwechselstörungen. Sie werden oft über Jahre und Jahrzehnte verordnet und versprechen einen langfristigen Absatzmarkt. Allein die 30 umsatzstärksten Medikamente machen in Deutschland mehr als 20 Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung aus. Oft schaffen es Pharmakonzerne durch geschickte Werbestrategien und Beeinflussung der Ärzte, dass nicht das gleichwertige, preiswertere Produkt der Konkurrenz verschrieben wird, sondern das von ihnen vertriebene. So zum Beispiel bei dem Cholesterinsenker Atorvastatin (Markenname: Sortis). Erst das Einschreiten des Gemeinsamen Bundesausschusses, das höchste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Deutschlands, bereitete dem Spuk ein Ende. Der Hersteller Pfizer musste massive Umsatzeinbrüche in Kauf nehmen. So lassen sich viele der umsatzstarken Medikamente durch günstigere ersetzen. Es wird von einem Einsparpotential von mehr als einer Milliarde Euro ausgegangen.

© Techniker Krankenkasse / CC BY-NC-ND / flickr.com

Länder. Unterstützt wird »Big Pharma« dabei von einer globalen Patentpolitik, die auf neu zugelassene Medikamente einen Extragewinn verspricht. Über einen Zeitraum von bis zu zwanzig Jahren werden so die Preise vieler essenzieller Medikamente künstlich hochgehalten. Ein Vertrieb von Generika, also wirkstoffgleicher Medikamente anderer Firmen, ist erst nach Ablauf dieser Frist möglich. Die dramatischsten Auswirkungen hatte diese Politik bei der Behandlung von HIV-infizierten Menschen. Millionen von ihnen wurde der Zugang zu den überlebensnotwendigen Medikamenten verwehrt. Erst durch massive Proteste und rechtliche Schritte – es lohnt sich die Geschichte der »Treatment Action Campaign« in Südafrika nachzulesen – konnte ein Teil der Medikamente endlich erschwinglich gemacht werden. Weiterhin haben jedoch Millionen Menschen weltweit keinen Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten, weil die Preise zu hoch gehalten werden oder mögliche Therapien für die Erkrankungen erst gar nicht erforscht und vertrieben werden. Der zu erwartende Profit mit armutsassoziierten und Tropenkrankheiten ist zu gering.

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oder Schädigungen. Daraus den Bedarf einer medikamentösen Behandlung abzuleiten wäre jedoch zu voreilig. So erhöht der Verlust an Knochendichte im Alter (Osteoporose) zwar nachweislich das Risiko für Knochenbrüche, sie bleiben jedoch weiterhin sehr selten und die Einnahme der entsprechenden Medikamente verringert das Risiko nur gering. Die Bandbreite an Nebenwirkungen und die Möglichkeit, Osteoporose auf natürlichem Weg vorzubeugen oder entgegenzuwirken, sollten die medikamentöse Therapien oder Prophylaxe eher in den Hintergrund rücken lassen. Dennoch wurde jahrzehntelang Millionen Frauen eingeredet, eine Hormonersatztherapie

Die Marketingkosten übersteigen die Ausgaben für Forschung nach den Wechseljahren sei das Richtige. Neben der Linderung von Wechseljahresbeschwerden würde dies auch das zunehmende Risiko für HerzkreislaufErkrankungen und Osteoporose mildern. Doch die Nebenwirkungen überwogen bei weitem die Vorteile der Therapie: Schlaganfälle nahmen um 41 Prozent zu, Herzinfarkte um 29 Prozent, die Brustkrebshäufigkeit um 26 Prozent und Thrombosen traten doppelt so häufig auf. Eine natürliche Entwicklung wurde pathologisiert, das Altern und die dadurch hervorgerufenen Hormonveränderungen wurden behandlungsbedürftig. Erst die Ergebnisse zweier Studien, die belegten, dass das Risiko größer war als ihr Nutzen, beendeten den Einsatz der Hormonersatztherapie in großem Maßstab. Ein ähnlicher Verlauf kann für viele andere »neue Krankheiten« nachgezeichnet werden. Der eher schwach regulierte Arzneimittelmarkt in Deutschland bietet hierfür ideale Voraussetzungen. So sind in Deutschland 59.000 Arzneimittel auf dem Markt, wohingegen Länder mit einer sogenannten Positivliste wie Österreich mit gerade mal 10.000 Medikamenten auskommen. Der Versuch, ein solches Instrument auch in Deutschland

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einzuführen ist zweimal gescheitert. Das lässt vermuten, dass Pharmaunternehmen nicht nur ihre eigene Preis- und Produktpolitik bestimmen können, sondern auch die rechtlichen Rahmenbedingungen. Nicht der Bedarf bestimmt, welche Arzneimittel produziert werden, sondern der Gewinn. Die auf dem ersten Gesundheitsmarkt über Krankenkassenbeiträge finanzierten Absatzmärkte der Pharmaunternehmen lassen sich dabei nur indirekt steuern. Eine Direktwerbung für rezeptpflichtige Medikamente ist in Deutschland verboten (anders als zum Beispiel in den USA). So richtet sich ein Großteil der Anstrengungen zum einen auf die Mittler, die Ärzte, und auf indirekte Werbung durch Bildungsangebote für Patienten wie zum Beispiel Internetforen zu diversen Erkrankungen wie Diabetes oder Krebs. Pharmafirmen sponsern die Konferenzen, bei denen die Krankheit definiert wird, bezahlen Studien und Experten, die die möglichen Therapien erforschen und publizieren – negative Ergebnisse fallen dabei regelmäßig unter den Tisch - und investieren Unmengen an Geld in Medienkampagnen, Schulungen für Ärzte und Aufklärungsmaterialien für Patienten. Alleine in Deutschland sollen knapp 20.000 Pharmareferenten in Kliniken und Praxen unterwegs sein. In einer Befragung von niedergelassenen Ärzten in Deutschland gaben 65 Prozent der Befragten an, mehrmals in der Woche Besuch von Pharmavertretern zu erhalten. Nur 2,8 Prozent lehnten diese Besuche vollständig ab. Diese


© Bill Brooks / CC BY-SA / flickr.com

Ob der Bluthochdruck erst bei 140/90 mmHg beginnt oder bereits bei 130/80 mmHg, bedeutet für die Pharmafirmen eine Differenz in Milliardenhöhe. Die vergleichbar geringen Investitionen in das Marketing, um diese Grenzverschiebung zu erreichen, sind also gut angelegt. Selbst in sehr angesehenen medizinischen Journalen sind oft mehr als zwei Drittel der publizierten Studien pharmagesponsort. Die gesamten Marketingkosten übersteigen dabei im Durchschnitt den Anteil, der von Pharmafirmen in Forschung und Entwicklung investiert wird, bei weitem. Diese Tatsache ist insbesondere deswegen wichtig, da die hohen Preise und langen Patentierungszeiten oft mit den hohen Ausgaben für die Entwicklungskosten innovativer Medikamente gerechtfertigt werden. Zudem findet ein Großteil der für die Entwicklung eines neuen Wirkstoffes notwendigen Forschung meist an öffentlichen Einrichtungen statt. Die zunehmende Steuerung über Drittmittel, aber auch die marode Finanzlage vieler Universitäten und öffentlicher Forschungseinrichtungen führt dazu, dass die Wissenschaft zunehmend von privatkapitalistisch organisierten Unternehmen bestimmt wird. Die Medikalisierung der Gesellschaft schreitet ungebremst voran. Der Boden hierfür wurde vor Langem bereitet. Der historisch in der Industrialisierung geprägte Krankheitsbegriff, der Erkrankungen auf Fehlfunktionen einzelner Organe reduziert, blendet soziale und umweltbedingte Faktoren weitgehend aus. Das Herauslösen einer Erkrankung aus dem gesellschaftlichen Kontext birgt die Gefahr, dass eine aktive Auseinandersetzung mit der Erkrankung er-

schwert und die Anwendung kausaler (also die Ursache berücksichtigender) Behandlungsmethoden unterbleibt. So spielt Gesundheitsförderung im gesundheitspolitischen Alltag kaum eine Rolle. Reduziert auf Verhaltensänderungen – mit dem Rauchen aufhören, abnehmen, Sport treiben, sich gesund ernähren, Stress vermeiden – werden Krankheitsursachen individualisiert und kapitalistisch verwertbar. Krankheit wird zum schuldhaften Versagen. »Welcher Konsumtyp sind Sie?«, fragt die bunt bebilderte Grafik einer großen Unternehmensberatung. Der passive Zauderer, der sorglose Sportler oder eher der traditionelle Minimalist? Es gibt das passende Produkt für jeden Gesundheitstyp, so die Aussage. Droht die profitgetriebene Ausschöpfung des Krankheitsbegriffs an ihre Grenzen zu stoßen, ist die Vermarktung »gesunder Lebensweisen« hingegen scheinbar unendlich. Wellness, Beauty, Tourismus, Ernährung, Unterhaltung, Wohnen. Krankheitsprävention als Marktlücke. Der zweite Gesundheitsmarkt – privat finanzierte Produkte und Dienstleistungen rund um Gesundheit – verspricht Absatzmärkte jenseits des reglementierenden Staats. Die Definitionshoheit über Krankheit und Gesundheit wurde der Mehrheit der Bevölkerung längst entzogen, sofern sie diese jemals besaß. Ein entschiedenes Zurückdrängen profitgesteuerter Akteure und eine echte Demokratisierung aller (!) Strukturen des Gesundheitswesens inklusive der Hersteller von Medikamenten, Medizintechnologie oder der Anbieter von gesundheitsfördernden Maßnahmen ist zentral. Ein erster Schritt könnte sein, ein Werbeverbot für Gesundheitsprodukte zu fordern. Auf massiven Widerstand müsste man sich allerdings gefasst machen. ■

GESUNDHEIT

Besuche sind häufig verbunden mit Kleingeschenken, Essenseinladungen und dergleichen, die eine langfristige Produktbindung fördern sollen.

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WEIHNACHTSTIPPS

Geschenktipps der marx21-Redaktion Politisches unterm Weihnachtsbaum? Es müssen ja nicht immer die gesammelten Schriften von Marx und Engels sein. Wir empfehlen sieben zeitlose Werke für die Feiertage ★ ★★

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★ ★★

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David Jeikowski empfiehlt die Comicreihe »Infocomics«

Carla Assmann empfiehlt das Hörspiel »Sherlock Holmes und der Fall Karl Marx«

Marcel Bois empfiehlt die DVD »Just a Kiss«

»Gegen den Durchzug im Gehirn« sollen sie sein: die »Infocomics« zu Themengiganten wie Quantentheorie, Marxismus, Ethik oder Psychoanalyse. Damit vor lauter Intellektualitäten die Aufmerksamkeit aber nicht gleich flöten geht, halten sich hier Sachtext und pointierte Zeichnung recht genau die Waage. Meist begleitet von schwebenden Aristoteles-, Marx- oder FreudKöpfen, wird einem hier vieles – im wahrsten Sinne des Wortes – anschaulich erklärt. So kommt einem nach 180 Seiten Themendschungel zumindest jeder Baum schon irgendwie bekannt vor.

Umweht von Themsenebeln und Opiumschwaden durchkämmt Sherlock Holmes das viktorianische London auf der Suche nach einem entwendeten Manuskript: dem »Kapital«. Als auch sein Auftraggeber plötzlich verschwindet, findet sich der Meisterdetektiv zwischen den Fronten konkurrierender revolutionärer Gruppen. Das ebenso unterhaltsame wie atmosphärische Hörspiel ist hervorragend geeignet, wenn kurz vor knapp noch ein Geschenk fehlt. Einfach den Titel im Internet suchen, legal umsonst herunterladen, brennen und ein hübsches Cover basteln.

COMIC Infocomics Sachcomicreihe zu diversen Themen TibiaPress Verlag Überlingen (seit 2010)

HÖRSPIEL Sherlock Holmes und der Fall Karl Marx Buch: David Zane Mairowitz Regie: Dieter Carls WDR 2001 59 Minuten

Die Lehrerin Irin unterrichtet in Glasgow an einer katholischen Schule. Als sie sich in den pakistanisch-stämmigen DJ Casim verliebt, stoßen beide in ihrem beruflichen und familiären Umfeld auf fast unüberwindliche Probleme. »Just a Kiss« ist wenige Jahre nach dem 11. September 2001 erschienen. Der britische Regisseur Ken Loach fängt auf wunderbare Art und Weise die Atmosphäre dieser Zeit ein. Frei von Klischees ist ihm ein einfühlsames Drama über Liebe, Religion und Rassismus gelungen. DVD Just a Kiss Regie: Ken Loach Großbritannien 2004 100 Minuten

Unsere Anregungen, falls kurz vor knapp noch ein Geschenk fehlt


★ ★★

★ ★★

★ ★★

Yaak Pabst empfiehlt die DVD »Twin Peaks«

Martin Haller empfiehlt das Kinder- und Jugendbuch »Die Schwarzen Brüder«

Stefan Bornost empfiehlt das Sachbuch »1812. Napoleons Feldzug gegen Russland«

Carolin Hasenpusch empfiehlt die DVD »Beasts of the Southern Wild«

In der Kleinstadt Twin Peaks wird eine Schülerin ermordet. Während der Ermittlungen kommt hinter der idyllischen Fassade ein Geflecht aus Gewalt, Habgier, Drogen und Sex zum Vorschein. Die Serie besticht, weil sie die Stereotypen der Soap-Opera neu interpretiert, um sie umso deutlicher entlarven zu können. Filmemacher David Lynch lässt uns in das alltägliche Labyrinth einer amerikanischen Kleinstadt eintauchen und verwandelt es in einen faszinierenden Alptraum. Der derzeitige Serienboom wäre ohne dieses Vorreiterwerk kaum denkbar.

Wenn Giorgio in die Schlote steigt, ist es dunkel und dreckig. Mit nackten Händen muss er den Ruß von den Kaminen kratzen. Wie ihm erging es im 19. Jahrhundert vielen Tessiner Bauernkindern, deren Eltern sie aus Not zum Arbeiten nach Mailand verkauft hatten. Von ihrem Schicksal handelt der 1941 erschienene Jugendroman von Lisa Tetzner und ihrem Mann, dem Revolutionär und Arbeiterpoeten Kurt Kläber. Berthold Brecht spottete, einige der im Exil lebenden Autoren hätten schon angefangen, »harmlose Kinderbücher« zu schreiben. Harmlos ist der Roman jedoch nicht. Er handelt von Leid, Ausbeutung und Unterdrückung und zugleich von Tatkraft, Selbstbehauptung und Freiheitswillen. Ein Muss für kleine wie große Revolutionäre.

Über ein halbe Million Soldaten zogen im Jahr 1812 mit Napoleon gegen Russland in den Krieg, weniger als 40.000 kehrten zurück. So kennen wir es aus den Geschichtsbüchern. Doch wie erlebten die Mannschaften selbst dieses Martyrium, wie sah ihre Hoffnung und schließlich ihre Verzweiflung aus? Der Historiker Adam Zamoyski hat Augenzeugenberichte ausgewertet und so eine Darstellung des Feldzugs geschrieben, die weit über die übliche Feldherrenprosa hinausgeht. Packend.

Die sechsjährige Hushpuppy und ihr Vater leben in einem Sumpfgebiet an der Küste Louisianas in der Hüttensiedlung »Bathtub«. Dort gibt es kein Geld, keine Technik und keinen Kontakt zum Rest der Welt – zumindest solange, bis das Stück Land aufgrund einer drohenden Überflutung evakuiert werden soll. In eindrucksvollen Bildern porträtiert der Film die einzigartige Welt der Protagonisten sowie deren Stärke und Freiheit. In einer Mischung aus Sozialdrama und Fantasy zeigt er eine Gemeinschaft, der es gelungen ist, den Kapitalismus zu überleben, die nun aber in der Naturkatastrophe unterzugehen droht.

DVD Twin Peaks Regie: David Lynch, Mark Frost USA 1990 Pilotfilm + 29 Episoden in 2 Staffeln

BUCH Adam Zamoyski 1812. Napoleons Feldzug gegen Russland C.H. Beck München 2012 720 Seiten

DVD Beasts of the Southern Wild Regie: Benh Zeitlin USA 2012 93 Minuten

BUCH Lisa Tetzner und Kurt Kläber Die Schwarzen Brüder Fischer Sauerländer 20. Aufl., Frankfurt 2011 484 Seiten

WEIHNACHTSTIPPS

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© Seven Resist / www.disorder-berlin.de / CC BY-NC-SA / flickr.com

GESCHICHTE

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Im Januar 1994 betreten die Zapatisten die Bühne der Weltgeschichte – und fragen: Warum gibt es so viele Arme, wenn die Weltwirtschaft doch so reich ist? Damit inspirieren sie eine ganze Generation von Aktivistinnen und Aktivisten Von Mike Gonzalez

Übersetzung: David Paenson


Millionen Menschen beraubte sie des Zugangs zu sauberem Trinkwasser. Die Lebensmittelproduktion befand sich in den Händen weniger, während in Chiapas immer mehr Kinder hungerten. Die Selva Lacandona war überwiegend von Indigenen bewohnt. Sie sprachen 30 Indianersprachen, von Tojolabal bis K‘iche‘. Sie hatten jahrzehntelang für ihre Gemeinschaften gekämpft. Nun schlossen sie sich zusammen und schufen die nach dem großen Bauernführer Emiliano Zapata benannte EZLN. Unter den führenden Figuren befinden sich auch einige wenige Nicht-Indigene. Bei ihnen handelt es sich um Sozialisten, die nach der massiven Repressionswelle gegen Studenten und Arbeiter im Jahr 1968 in die Region kamen. Einer von ihnen hat unter dem Pseudonym Subcomandante Marcos, oder einfach »El Sub«, weltweiten Ruhm erlangt. Der Januaraufstand dauerte nur wenige Tage. In dieser Zeit besetzten die Zapatisten die Gemeindehauptstadt San Cristóbal de las Casas und weitere Städte. Sie forderten eine Landreform, Indianerrechte und mehr Demokratie in Wirtschaft und Politik. Diesmal konnte die Regierung allerdings nicht auf die altbewährten Methoden zurückgreifen und einfach die Bevölkerung terrorisieren. Denn nun schaute die ganze Welt auf Chiapas.

Konzerne rauben den Menschen ihr Land

Chiapas, der südlichste Bundesstaat Mexikos und an Guatemala angrenzend, ist eine der ärmsten Regionen Lateinamerikas. Im Jahr 1990 waren 50 Prozent der Einwohner unterernährt, 42 Prozent hatten keinen Zugang zu sauberem Wasser, 33 Prozent waren ohne Strom und 62 Prozent hatten nicht einmal die Grundschule abgeschlossen. In Vorbereitung auf Mexikos Integration in die NAFTA hatte der damalige mexikanische Präsident Carlos Salinas de Gortari im Jahr 1990 einen massiven Privatisierungsplan vorgelegt. Davon waren nicht nur staatliche Einrichtungen betroffen, sondern auch Land, das sich im Besitz der Dorfgemeinschaften befand. Durch diesen Schritt wäre das in einem jahrzehntelangen Kampf erworbene Bodenrecht der Landbevölkerung zunichte gemacht worden. Die Gemeinden der Hochlandregionen Chiapas waren schon mehrmals von ihrem Boden vertrieben worden. Um Platz zu machen für die expandierenden Rinderfarmen der multinationalen Burgerketten, wurden die indigenen Gemeinden immer tiefer in die Selva Lacandona, ein Urwaldgebiet an der Grenze zu Guatemala, verdrängt. Die Regierung bot ihnen keinerlei Schutz. Der damalige Gouverneur von Chiapas war selbst einer der größten Rancher im ganzen Bundesstaat. Der ganze Pomp, mit dem die drei Präsidenten die zu erwartenden Vorzüge der Globalisierung priesen, war dann der Tropfen, der das Fass in Chiapas zum Überlaufen brachte. Noch am Tag ihrer Gründung riss der Aufstand der Zapatisten der NAFTA die Maske vom Gesicht und enthüllte der Weltöffentlichkeit die grausame Wirklichkeit der Globalisierung. Sie mochte sechs verschiedene Sorten Tafelwasser versprechen, aber

In ihren ersten Erklärungen aus der Selva Lacandona stellten die Zapatisten eine sehr direkte Frage: Warum gibt es so viele Arme, wenn die Weltwirtschaft doch so reich ist? Eine einfache Antwort hätte lauten können, dass diese Menschen von der Modernisierung »vergessen« wurden, als primitive Völker, die noch nicht so weit waren, um am neoliberalen Mahl teilnehmen zu können. Das Elend dieser Gemeinden hat allerdings nichts mit Isolation oder Rückständigkeit zu tun. Chiapas war bereits Teil der modernen Welt, auch wenn die zapatistischen Kämpfer alte Sprachen benutzten und sich einfach kleideten. Es waren die multinationalen Konzerne, die ihnen ihr Land geraubt, die Maispreise gedrückt und ihre Wasserrechte genommen hatten. Das Paradoxe an der Situation zog Intellektuelle und Medien weltweit in den Bann: Während die mexikanische Armee keine Zeit verlor, die zapatistischen Gemeinden zu umzingeln, kommunizierte El Sub als Sprecher des Koordinierungskomitees der indigenen Völker mit der ganzen Welt übers Internet. Von seiner belagerten Stellung aus veröffentlichte er eine Kritik am Neoliberalismus und gab die indigene Version der Geschichte Lateinamerikas wieder. Das

★ ★★

Mike Gonzalez ist ein britischer Historiker. Er war Professor für Lateinamerikastudien an der Universität Glasgow.

GESCHICHTE

A

m 1. Januar 1994 luden die Präsidenten Kanadas, Mexikos und der USA zu einer Pressekonferenz, um die Gründung der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA zu verkünden. Sie sei ein erster Schritt auf dem Weg zu einer einigen und globalen kapitalistischen Wirtschaft über die Grenzen der drei Staaten hinweg, hieß es damals. Auf den Titelseiten der Tageszeitungen weltweit waren allerdings nicht die Porträts der Politiker zu sehen, sondern Bilder von bewaffneten Mexikanern indigener Herkunft. Sie waren mit Strumpfhosen maskiert, trugen Sandalen und einfach gewebte Decken über den Schultern. So betrat die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, die EZLN, aus Chiapas erstmals die Bühne der Weltgeschichte.

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war das wahre Gesicht der Globalisierung. Die Zapatisten repräsentierten die Opfer der kapitalistischen Modernisierung – und sie wehrten sich! Unter der Leitung des radikalen Bischofs von Chiapas, Samuel Ruiz, wurden in San Andrés Friedensverhandlungen begonnen. Sie zogen sich über Jahre hin. Es war eine nicht enden wollende Pattsituation, die die Regierungsseite nutzte, um den Belagerungsring immer enger zu ziehen.

Währenddessen litten Millionen mexikanischer Arbeiter unter steigender Armut, zunehmender Arbeitslosigkeit und der Zerstörung sozialer Einrichtungen im Zuge der Privatisierungen. Alle schauten nun auf die EZLN, von der sie eine Direktive, eine Marschrichtung erwarteten. Als Antwort kam allerdings lediglich der Aufruf, die Forderungen der Gemeinden von Chiapas zu unterstützen. Die Zapatisten symbolisierten den wachsenden Widerstand gegen die Globalisierung, aber sie entschieden sich dazu, ihm keine Führung zu bieten. Stattdessen riefen sie zur Wahl von Cuauhtémoc Cárdenas auf, einem linken Präsidentschaftskandidaten. Dabei waren sie sich jedoch nicht im Klaren, dass er ihre Popularität lediglich zum Stimmenfang nutzte, aber niemals vorhatte, sich ihrer Sache anzuschließen. Der entscheidende Augenblick kam womöglich im August 1994, als 6000 Vertreter und Vertreterinnen der sozialen Bewegungen Mexikos auf einem speziell für diese Zusammenkunft gebauten Stadion in der Selva Lacandona zusammenkamen. Es war eine ganz außerordentliche Versammlung. Aber die Tatsache, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Autonomie der Gemeinden und deren spezifischen Forderungen betonten, bot den Millionen Unterstützern in den urbanen Zentren keine Handlungsperspektive. Es steht außer Frage, dass der zapatistische Aufstand außerhalb Mexikos die Fantasie einer neuen Generation weckte, die sich mit den brutalen Gegebenheiten der Globalisierung konfrontiert sah. Die Zapatisten hatten gezeigt, dass sogar die am meisten Unterdrückten und Ausgebeuteten sich wehren können und es auch tun. Marcos’ Manifeste und lyrische Essays bildeten das Muster für eine andere Art von Politik.Diese mehrheitlich jungen Protestierenden hegten tiefes Misstrauen gegenüber den altmodischen und in Misskredit geratenen politischen Methoden, die jetzt unter dem Schutt der Berliner

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© Oriana Eliçabe / CC BY-NC-SA / flickr.com

Marcos’ Manifeste und lyrische Essays standen für eine andere Art von Politik

Mauer begraben lagen. Aber in Mexiko selbst setzte Marcos seine Verhandlungen mit dem kapitalistischen Staat fort. Er vertrat die Ansicht, man könne »die Macht ergreifen ohne die Macht zu ergreifen« und den Gang der Dinge durch Überzeugungskraft und Solidarität beeinflussen. Es war eine verlockende Botschaft, die überall auf der Welt Anklang fand. Als die antikapitalistische Bewegung im Jahr 1999 in Seattle geboren wurde, hielten viele der Demonstrationsteilnehmer prozapatistische Plakate hoch und trugen die roten Bandanas (Kopftücher) aus Chiapas. Ihre Motivation war großartig: Die Bewegung war internationalistisch, sie identifizierte sich mit den Kämpfen der Unterdrückten, sie bot Solidarität und gemeinsame Ziele, sie nannte unserer aller Feind, den globalen Kapitalismus, klar beim Namen. Und sie feierte das Herzstück von Marcos’ Philosophie, nämlich die Verpflichtung zur Gemeinschaft und zu


wahrer Demokratie unter Gleichberechtigten. Aber schon bald nach dem zehnten Jahrestag ihres Aufstands hüllten sich die zapatistischen Gemeinden in Schweigen. Wiederholte Verrate seitens politischer Kräfte, die nur aus opportunistischen Gründen die Nähe zu ihnen gesucht hatten, um sich anschließend von ihnen wieder abzuwenden, hatten die Bewegung in ihrer Ablehnung dessen bestätigt, was sie »schlechte Politik« nannten. Gemeint war der Kampf um die Staatsmacht. Daraus zogen die Zapatisten die Konsequenz, sich fernab der Außenwelt in ihre autonomen Gemeinden, ihre »Caracoles«, zurückzuziehen. Die Belagerung blieb bestehen und sie waren wiederholt Zielscheibe von Angriffen seitens des mexikanischen Staats oder lokaler Politiker. Ihre alternative Lebensweise der Kollektivität, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit hielten die Zapatisten

trotz dieser widrigen Umstände aufrecht. Am 12. Dezember 2012, einem wichtigen Tag im Kalender der Mayas, konnten sie ihre stolze Leistung verkünden, als Beispiel für eine andere Lebensart überlebt zu haben. Die Zapatisten waren eine Inspiration für die antikapitalistische Bewegung und alle, die in den Jahren nach deren Aufstand am wachsenden Widerstand gegen das globale Kapital teilnahmen. Diese Kräfte haben auch begonnen neue Organisationsformen zu entwickeln. In Bolivien, Venezuela und Ecuador haben soziale und indigene Bewegungen Regierungen zu Fall gebracht, Großkonzerne in die Knie gezwungen und neue, komplexe Formen von Volksmacht und -organisation kreiert. Auf der Suche nach Mitteln, die Zukunftsvision der Zapatisten wahr werden zu lassen, probierten sie allerdings einen anderen Weg als die Bewegung in Chiapas: Sie forderten den Staat direkt heraus. ■

GESCHICHTE

Subcomandate Marcos (2. v. r.), vermummt und mit Pfeife, auf einer Versammlung der Zapatisten im Januar 2006 in Zitácuaro

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KULTUR

Ästhetik ohne Widerstand Lady Gaga ist nicht nur eine der erfolgreichsten Künstlerinnen der Gegenwart, sie beteiligt sich auch an Demonstrationen gegen Homophobie und kritisiert öffentlich Sexismus. Nicht wenige sehen in ihr deshalb eine Ikone des Feminismus. Doch was steckt dahinter?

Kate Davison ist seit 15 Jahren in Bewegungen für Frauenrechte und gegen Sexismus aktiv. Sie forscht gegenwärtig an der Universität Melbourne zu sexueller Unterdrückung im 20. Jahrhundert.

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D

er Auftritt von Miley Cyrus bei den diesjährigen MTV Video Music Awards hat heftige Diskussionen ausgelöst. Dabei wurden all die Probleme der Tendenz in unserer Gesellschaft deutlich, Frauen zu Sexobjekten herabzuwürdigen. Einige empfanden voyeuristische Erregung, andere äußerten moralische Entrüstung. Zudem gab es eine Rekordzahl von Kommentaren in dem sozialen Netzwerk Twitter. Auf der Bühne hatte Cyrus, lediglich mit einem hautfarbenen Kunststoff-Bikini bekleidet, einen sexuellen Akt mit einer schwarzen Hintergrundtänzerin imitiert. Letztere erklärte später, dass sie sich ausgenutzt und »unmenschlich« behandelt gefühlt habe. Zusammen mit ihrem – im Dreiteiler bekleideten – Kollegen Robin Thicke führte Cyrus anschließend dessen Song »Blurred Lines« auf – ein Lied, das Vergewaltigung rechtfertigt. Die beiden sangen: »Du bist ein gutes Mädchen / wie du mich packst / (…) Ich geb‘ dir etwas, das groß genug ist, um dir den Arsch entzweizureißen«. Dieser Skandal zeigt einmal mehr, wie tief Sexismus und Rassismus in der kapitalistischen Populärkultur verwurzelt sind. Dabei sei die Performance lediglich der Versuch von Cyrus gewesen, die Konkurrenz in der Musikindustrie »platt zu machen« und sich in den Charts nach oben zu katapultieren. So formulierte es zumindest Elton John, als er versuchte, seine Kollegin zu verteidigen. Doch am meisten nutzte der Auftritt der Musikindustrie. In einem offenen Brief an Cyrus erklärte daher die irische Sängerin Sinead O’Connor: »Die Musikbranche kümmert sich einen Dreck um dich oder um irgendeinen von uns. Sie prostituieren dich einfach nur ganz und gar und

verstehen es, dich in dem Glauben zu belassen, dass es genau das ist, was DU willst… Und wenn du dann deswegen in einer Entzugsklinik landest, sonnen sich diese Leute in Antigua auf ihrer Yacht, die sie sich durch die Vermarktung deines Körpers kaufen konnten, und du wirst dich dann sehr allein fühlen.« Ähnlich beschreibt die britische Sängerin Charlotte Church den Druck, der auf Frauen in der Popindustrie lastet. Oft seien sie zu »sexuell demonstrativem Verhalten« gezwungen, um ihre Karriere nicht aufs Spiel zu setzen. Mehrfach sei sie selbst von Plattenbossen daran erinnert worden, »wessen Geld hier ausgegeben wird«.

Nicht alle Popstars sind gleich

Bei den MTV Video Music Awards waren auch Katy Perry und Lady Gaga anwesend. Genau wie Robin Thicke oder Miley Cyrus haben auch sie massenhaft Fans in Deutschland, besonders junge Mädchen. Plattenfirmen, Kleidermarken und andere Zweige der Popindustrie verdienen Millionenbeträge an ihnen. Auf Twitter gab Cyrus selbst mit ihrer Bekanntheit an: »Mein VMA-Auftritt hatte 306.000 Tweets pro Minute. Das ist mehr als beim Stromausfall oder beim Superbowl (dem Finale der American-Football-Liga in den USA; Anm. d. Red.)!« Sich mit Popmusik auseinanderzusetzen ist aber nicht in erster Linie wegen der Wirkung wichtig, die sie vermeintlich auf leicht zu beeindruckende junge Menschen hat, sondern weil sie uns etwas darüber verrät, was im Mainstream akzeptabel ist. »Twerking«, also sexuell provokatives Tanzen, war auch schon vor den Video Music Awards bei Schülern auf Facebook angesagt. Nicht alle Popstars sind gleich. Es gibt wichtige Unterschiede zwischen Cyrus und Perry auf der einen und Lady Gaga auf der anderen

© Yne VDM / CC BY / flickr.com

★ ★★

Von Kate Davison


Mit rund 90 Millionen verkauften Tonträgern zählt die US-amerikanische Popsängerin Lady Gaga zu den erfolgreichsten Künstlern der Gegenwart. Im Jahr 2011 stand sie auf Platz 11 der Forbes-Liste der »mächtigsten Frauen der Welt«

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Seite. Perrys Musik ist meist gespickt mit extrem sexistischen Stereotypen, doch auf ihrer neuen Single »Roar« singt sie über die individuelle Macht von Frauen. Noch interessanter ist jedoch Lady Gagas aktuelle Auskopplung »Applause«, die mit der Vorstellung von Ruhm in der Popindustrie spielt. Im Vi-

Die Musikindustrie nötigt Künstlerinnen zu sexuell demonstrativem Verhalten deo dazu führt sie uns in immer neuen Kostümen durch die berühmt gewordenen Bilder ihres ersten Albums »Fame Monster«. Dazu erklingt in steter, beinahe monotoner Wiederholung der Refrain »Ich lebe für Applaus, Applaus, Applaus«. Im Jahr 2011 stand Lady Gaga auf Platz 11 der Forbes-Liste der »mächtigsten Frauen der Welt« und auf dem ersten Platz der Liste der »einflussreichsten Prominenten«. Sie hat ein Jahreseinkommen von 52 Millionen US-Dollar und 20 Millionen Menschen folgen ihr auf Twitter. In ihren Videos und Texten unterstützt sie mit deutlichen Worten die homosexuelle Community. Sie beteiligt sich an Demos gegen Homophobie und hat in Interviews immer wieder Kritik an Sexismus geübt. Aus diesem Grund sehen einige in ihr eine Ikone des Feminismus. Die bekannte US-amerikanische Gendertheoretikerin Judith Jack Halberstam hat ein neues Buch mit dem Titel »Gaga Feminismus« geschrieben. Darin argumentiert sie, dass Lady Gaga einen neuen Weg zur Überwindung des »Genderparadigmas« repräsentiere, worunter sie anscheinend die Befreiung der Menschheit von Frauenunterdrückung und deren Auswirkungen versteht. Halberstam bezeichnet ihr eigenes Buch als Manifest für »einen Feminismus, der seine Wurzeln in Zerstörung und Verweigerung hat, nicht in Schöpfung und Zustimmung«. In Lady Gagas stark kommerzialisierter Variante von Pop Art verbinden sich der Einfluss absurder Kunst wie Dada, dem Surrealismus und Fluxus mit der Postmoderne. In »Applause« durchschaut sie ihre eigene Rolle innerhalb der Kommerzialisierung: »Popkultur war Teil der Kunst / Jetzt ist Kunst nur Teil der Popkultur in mir«. Halberstam argumentiert, dass dies der Schlüssel zu unserer Befreiung aus dem eisernen Käfig des Kapitalismus sei. Aber trotz ihrer kraftvollen Sprache und fundierten Kulturanalyse stehen Resignation, Verwirrung und Rückzug im Zentrum ihres Buchs, verpackt in die lebhafte Beschreibung einer herbei-

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fantasierten Zukunft: »Wenn du dich einmal entscheidest, wirklich und ernsthaft gaga zu werden, die scheinbare Rationalität von Leben und Liebe in unserer Gegenwart hinter dir zu lassen, wenn du bereit bist, die Lügen der Romantik, des Zwangs von Liebe und Ehe, der Fiktion von Gleichheit und Einheit zu durchschauen, wenn du für einen neuen Feminismus offen bist, für einen Gaga-Feminismus, der sich mit den Kräften von Widerstandsbewegungen auf der ganzen Welt vereint, wirst du schließlich begreifen, dass wir bereits in der Zukunft leben, die wir uns immer vorzustellen suchten (…). Der GagaFeminismus ist für die Versager, die Verlierer, für jene, denen der Preis des Erfolgs zu hoch ist, und denen sich durch den Verlust von Geld neue Türen öffnen können.« Letztendlich ist das ein Aufruf dazu, sich passiv zu verhalten. Anstatt gemeinsam gegen Unterdrückung zu kämpfen und dadurch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse fundamental zu ändern, fördert Halberstam den Rückzug in die Sphären von Kunst und Kultur. Hier sind Wahrnehmungen – und nicht materielle Bedingungen und materielle Kämpfe – von ausschlaggebender Bedeutung. Der französische Philosoph Louis Althusser schrieb einst, Kulturprodukte ließen uns die Ideologie erkennen, unter denen sie entstanden sind. In Klassengesellschaften wird Kunst für die Reichen produziert. Währenddessen werden die Massen mit einem billigen Abklatsch von Kunst abgespeist, der nahtlos in das System der Hegemonie passt, das der italienische Marxist Antonio Gramsci beschrieb. Gramsci hat an Lenin anknüpfend argumentiert, dass die Hegemonie (oder Vorherrschaft) durch eine Kombination aus Zwang und Konsens ausgeübt wird. Die herrschende Klasse versuche durch die Kultur, die Medien und andere Formen der Ideologievermittlung die Zustimmung der von ihr Unterdrückten zu gewinnen. Ähnlich stellten Karl Marx und Friedrich Engels in ihrer Schrift »Die deutsche Ideologie« dar, wie die herrschenden Ideen jeder Epoche die Ideen der herrschenden Klasse sind. Der Einfluss antimaterialistischer und postmoderner Ideen hat jedoch dazu geführt, dass viele Kulturanalytiker die marxistische Theorie der Hegemonie fehlinterpretieren, darunter auch Gramscis Ausführungen. Sie verstehen »Macht« als rein ideologisches oder kulturelles Phänomen und nicht als Ausdruck materieller Verhältnisse. Hier lässt sich der Einfluss des überschäumenden Pessimismus und der letztendlich wirkungslosen Vorstellung von der »Streuung« und »Dezentralisierung« eines Antonio Negri und Michael Hardt erkennen, wie sie ihn in ihren Büchern »Empire« und »Multitude« äußern. Halberstam schreibt dem diskursiven oder kulturellen Widerstand irrtümlich zu viel Gewicht zu und ignoriert, dass aufgrund der materiellen Hindernisse nicht einfach jeder »gaga« werden kann.


Miley Cirus bei ihrem Auftritt während der Bambi-Verleihung im November. Einige Frauen glauben, sich selbst zum Sexobjekt zu stilisieren sei ein Ausdruck von Selbstbestimmung

KULTUR

Halberstam ist nicht die Erste, die einem Megastar die Führung des Feminismus übertragen will. Liberale feministische Kommentatorinnen haben bereits früher versucht, Madonna, J-Lo, Shakira und vor allem Beyoncé auf diesen Thron zu heben. In vielen ihrer eigenen und auch mit dem Trio Destiny´s Child aufgenommenen Songs stellt Beyoncé die Freiheit von Frauen als etwas dar, das individuell durch finanzielle Unabhängigkeit erreichbar sei. »Independent Women«, »If I Were a Boy« und »Single Ladies« sind als feministische Hymnen gefeiert worden. Andere Songs wie »No Scrubs« von TLC zeichnen das Bild schwarzer Frauen, die nicht einfach irgendeinen Typen akzeptieren, und schon gar keinen armen und arbeitslosen. Die Rhetorik dieser Lieder ähnelt einigen der liberal-emanzipatorischen Slogans der zweiten Welle des Feminismus. Sie spiegeln zwar den Komplex von Klassen- und Geschlechterverhältnissen in vielen Latino- und schwarzamerikanischen Gemeinden wider, wo bis zu einem Drittel aller jungen Männer hinter Gittern sitzen und doppelt so viele Männer wie Frauen einen Hochschulabschluss erlangen. Dennoch kann diese Musik aber, ebenso wie die von Lady Gaga, als logisches Erbe des bürgerlich-liberalen Feminismus verstanden werden. Die Hoffnungen der Frauen beschränken sich auf materielle Unabhängigkeit im Rahmen des Klassensystems, auf finanziellen Erfolg und ein augenfälliges Eintreten für körperliche Selbstbestimmung. Damit kann eine sexistische Gesellschaft sehr gut leben. Auf diese Weise werden sexuelle Stereotypen weiter verbreitet. Auf die Frage, was ihre Version des Feminismus sein könnte, antwortete Beyoncé, ihr Vorbild sei »Bootylicious« (in etwa mit »Poköstlichkeit« übersetzbar; Anm. d. Red.). So lautete der Titel eines Lieds, in dem sie sang: »Mein Körper ist zu köstlich für dich / Für diese Götterspeise bist du noch nicht gut genug.« Das größte Problem mit Halberstams These ist, dass sie die Bedeutung des Kampfs, und insbesondere des Klassenkampfs gegen Frauenunterdrückung ignoriert. Ihre Vorschläge, wie uns der Gaga-Feminismus helfen könne, den Kapitalismus zu überwinden, sind »Tauschbörsen, Kooperativen, nachbarschaftlicher Austausch von Arbeit und Gütern«. So könnten »Beispiele informeller Wirtschaftssysteme« geschaffen werden, »die außerhalb der profitorientierten Systeme stehen«. Solche Projekte mögen Spaß machen und können den durch die Ausbeutung entstehenden Druck mildern. Aber sie stellen kaum eine Strategie dar, um den Kapitalismus abzuschaffen. Die Kommentare zu den Video Music

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Awards beschränkten sich weitgehend darauf, Cyrus vorzuwerfen, dass sie erwachsen und eine Person mit eigenständiger Sexualität geworden sei und ihre frühere Rolle als vorpubertärer Disney-Engel abgelegt habe. Niemand interessiert sich hingegen für Robin Thicke, gegen dessen Schritt sie »twerkte«. All das ist symptomatisch für die »Raunch Culture« (»Geilheitskultur«), wie sie Ariel Levy im Jahr 2005 in ihrem Buch »Female Chauvinist Pigs« (»Weibliche Chauvinistenschweine«) beschrieb. Die Frauenbewegungen der 1970er Jahre wurden kommerzialisiert und als Muster für Selbstbestimmung vermarktet. Heutzutage glauben manche Frauen, sich zum Sexobjekt zu machen, sei ein Ausdruck von Selbstbestimmung – oder von Humor. Halberstam zeigt, dass Lady Gaga offene Kritik daran übt, wie Frauenkörper in der Popkultur und Künstlerinnen in der Musikindustrie behandelt werden. Trotzdem bestätigt Gaga stillschweigend sexistische und sexualisierte Bilder von Frauenkörpern. Darauf hat die britische Feministin Laurie Penny im vergangenen Jahr auf »Spiegel Online« hingewiesen: »Ein Grund, warum Lady Gagas Kostüme gut ankommen, ist die Gewissheit des Publikums, dass sich unter Fleischlappen und Froschköpfen der perfekte Körper einer jungen, weißen, heterosexuellen Frau befindet. Beth Ditto (Sängerin der Band Gossip, Anm. d. Red.) könnte sich nicht so verkleiden, sie ist eine übergewichtige Lesbe, die alles Mögliche versuchen muss, um den Leuten zu gefallen. Für Popstars – und junge Frauen allgemein – gilt das Gebot, den Männern zu gefallen. Und das stärker denn je.« Wir können Lady Gaga daher als Produkt einer sexistischen Geilheitskultur verstehen. Zugleich ist sie aber auch eine Kritikerin, wie es Miley, Perry, Beyoncé, Rihanna, Kesha und andere nicht sind. Gaga bedient sich humorvoller Ironie und hält so in gewissem Maße der durchgedrehten kapitalistischen Musikindustrie den Spiegel vor. Während ihres Auftritts bei den MTV Video Music Awards tanzte sie zum Beispiel mit einem riesigen, abgeschnittenen Barbie-Bein. Dabei verdient sie aber auch eine Menge Geld, und sogar ihre Interventionen als Aktivistin fügen sich nahtlos in ihr vermarktetes Image. Das macht aus Gaga vielleicht eine interessante Popkünstlerin, aber keinesfalls eine Leitfigur des Feminismus und schon gar kein Vorbild im Kampf für sexuelle Befreiung. Viel authentischer ist die Sängerin Pink, die oft antisexistische und antihomophobe Aussagen und Auftritte gemacht hat, auch wenn es finanzielle Nachteile für sie hatte. Lady Gaga hinge-

gen produziert bestenfalls halb-oppositionelle Pop Art und nutzt ihre Bekanntheit dafür, individuelle sexuelle Freiheit zu propagieren und Rassismus und Sexismus verbal zu kritisieren. Aber sie ist, genau wie Cyrus, auch eine Geschäftsfrau, die Profit aus der Gaga-Marke ziehen will. Deshalb verlässt sie den sicheren Boden des aufgeklärten bürgerlichen Liberalismus nicht.

Die Popkultur kann auch Widerstand hervorbringen

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Das Beispiel Pink zeigt: Auch die Popkultur kann Widerstand hervorbringen. Doch das passiert leider viel zu selten. Zumeist müssen wir uns die Popkultur als säkulare Religion vorstellen, in der Popstars als Idole fungieren. Sie ist dazu da, wie Gaga sagt, uns zu unterhalten, uns vergessen zu lassen und uns Erholung zu gönnen. Gleichzeitig müssen wir den Prozess verstehen, durch den kulturelle Ausdrucksformen zu etwas Entfremdetem werden und dann zu einem Werkzeug der Hegemonie, in diesem Fall des Sexismus. In einer Welt, in der »Germany´s Next Topmodel«, Lap-Dancing-Kurse und eine zunehmende Pornografisierung der Popkultur den Ton angeben, werden Auftritte wie der von Cyrus bei den Music Awards vom Mainstream akzeptiert. Nehmen wir das zum Maßstab, dann wird deutlich: Das emanzipatorische Potenzial der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen ist in die Erwartung umgeschlagen, dass wir selbstsicher und selbstbewusst sexuell verfügbar sein sollen – und zwar immer und unter allen Umständen. Die Lösung liegt in der Gesellschaft, nicht in der Kunst. Anders als Halberstams Ansichten nahelegen, werden wir den Sexismus nicht überwinden, indem wir »gaga« werden. Im Gegensatz zu Stars wie Lady Gaga oder Miley Cyrus können die meisten Frauen und Mädchen aus der Arbeiterklasse kaum über ihr Leben bestimmen. Dementsprechend leiden sie unter sexuellen Stereotypen, denen sie nie entsprechen werden können. Wir brauchen echte Befreiung. Das bedeutet, sich nicht dem ökonomischen und politischen System anzupassen, sondern es zu bekämpfen. Der Kapitalismus benutzt Sexismus, Rassismus und Homophobie zur Spaltung der Arbeiterklasse. Auf der Jagd nach Profiten beherrscht er alles und benutzt die Massenkultur dazu, den Status quo aufrechtzuerhalten. So wichtig Stellungnahmen von berühmten Menschen zum Beispiel gegen Homophobie sind: Letztlich kann es wirkliche Befreiung nur durch den gemeinsamen Kampf der von Diskriminierung und Unterdrückung Betroffenen gegen diese Verhältnisse geben. ■


ischen Alternativen. ften und der Suche nach strateg cha rks we Ge der e ahm ufn dsa Bestan d anderen. e21 widmet sich einer kritischen pe, Volkhard Mosler, Luigi Wolf un nci Pri a arin Cat Die aktuelle Ausgabe von theori , sch pu sen Ha ger, Heiner Dribbusch, Carolin Mit Beitr채gen von: Bernd Riexin theorie21 | No 1/2013 340 Seiten | 8,25 Euro frei Haus bestellbar 체ber: www.marx21.de

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KULTUR

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Münchner Imran Ayata hat zusammen mit dem Liedern und Künstler Bülent Kullukcu eine CD mit der ersten Musik von türkischen Einwanderern of Generation herausgebracht. »Songs menstellung Gastarbeiter« dürfte die erste Zusam hivrecherdieser Art sein. Ein Gespräch über Arc ck chen, Rassismus und anatolischen Ro Interview: Thomas Blum

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ie Eltern eines Kollegen von mir sind als sogenannte Gastarbeiter in den 1960er Jahren in die Bundesrepublik gekommen. Bis heute wird er von Lesern danach gefragt, wann er »zurück in seine Heimat« ginge. Oh Gott! Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht? Es kommt inzwischen selten vor, dass ich derlei gefragt werde. Das war bis vor wenigen Jahren häufiger der Fall. Dass man immer wieder zum Türken gemacht und türkisiert wird, das gehört aber immer noch zum Standardrepertoire. Da gibt es unterschiedliche Nuancen, von rassistischen, schnippisch-lustigen Bemerkungen bis hin zu positiver Diskriminierung. Seit den späten 1950er Jahren kommen Einwanderer in die BRD. Warum hat es 50 Jahre gedauert, bis ein Album wie dieses erscheint? Das hat damit zu tun, dass diese MusikSubkultur hier nicht stattgefunden hat, obwohl sie hier entstanden ist, hier produziert worden ist. Diese spezifische Periode – Songs aus den 1970er und 1980er Jahren – ist nie wahrgenommen worden. Konsumiert wurde die Musik vornehmlich in der eigenen Community. Nicht nur in der türkischen, sondern auch in der spanischen, griechischen und anderen. Die deutsche Öffentlichkeit hat das ignoriert. Später, als der »ausländische Mitbürger« entdeckt wurde und man Nachbarschaftsfeste feierte, Anfang der 1980er, hat man auch mal Ali auf die Bühne geholt. Zuvor war das ja selbst für die Sozialarbeiterindustrie kein Thema. Mit dem Multikulturalismus veränderte sich das. Es handelt sich um Material, das auf dem gewöhnlichen Popmarkt keine Chance hatte. Wie haben Sie diese Musik denn gesucht und gefunden? Ein paar von den Songs und Musikern kennt man, wenn man eine Geschichte hat wie ich. Cem Karaca etwa gilt als Begründer des anatolischen Rock. Er ist 1980 vor den Militärs geflohen und hat für einige Jahre Musik in Almanya gemacht. Ein, zwei andere auf dem Album zu hörende Musiker kannte ich beispielsweise von Auftritten auf Hochzeiten. Anfangs dachten Bülent Kullukcu und ich, mit ein bisschen Suchmaschinen-Suche, ein

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bisschen Youtube, da kriegt man schon etwas zusammen. Dem war aber nicht so. Wir mussten viel telefonieren und in Archiven wühlen. Auf zwei Songs wird der Schriftsteller Max Frisch zitiert: »Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.« War es eine Grunderfahrung vieler so genannter Gastarbeiter, dass sie Zurückweisung erlebt haben, sich nicht willkommen fühlten? Die Erfahrung von Rassismus im Alltag, im Betrieb, politische Ausgrenzung, das ist ja keine Erfindung deutscher Soziologen, sondern gesellschaftliche Realität. Und die hat eine lange Geschichte, die noch weit hinter die Anwerbezeit in den 1950ern zurückgeht. Dass all das in diesen Songs aufgegriffen wird, ist also nicht ungewöhnlich. Eigentlich wird das Frisch-Zitat fortgeschrieben. Die Musiker nehmen eine Haltung ein, erzählen, was das eigentlich bedeutet, dass Menschen angekommen sind. Wenn ich mich an die westdeutsche Radio- und Fernseh-Monokultur der 1970er Jahre erinnere, ist das schon ziemlich drastisch: »Der blaue Bock«, Peter Frankenfeld. Den »Ausländer« kannte man hauptsächlich von den Kriminellenfotos aus »Aktenzeichen XY ungelöst«. Exakt. Und als leicht exotisierte Schlagerfigur, die im deutschen Schlager ankommt, so wie Bata Illic zum Beispiel. Einwanderer waren seinerzeit in den Medien kaum präsent. War auch das ein Grund für die Abschottung vieler Migranten von den heute sogenannten BioDeutschen? Der Aspekt der Repräsentation ist wichtig. Im deutschen Fernsehen bekam das irgendwann seinen konsequenten Ausdruck: Zu den unmöglichsten Zeiten liefen so genannte Gastarbeitersendungen, die Titel hatten wie »Ihre Heimat, unsere Heimat«, oft in der Landessprache, zwanzig Minuten, da wurde die Woche abgefrühstückt. Später wurden diese Sendungen reformiert und bekamen ein multikulturelles Antlitz: Junge Leute, die Deutsch sprechen, haben sie moderiert. Das heißt: Die Repräsentation war im Fernsehen fast nicht vorhanden. Wir haben zu dem Thema Gastarbeiter-Mu-

Imran Ayata

Imran Ayata ist Schriftsteller und Mitbetreiber einer PR-Agentur in Berlin. Ende der 1990er Jahre war er Mitbegründer der antirassistischen Aktivistengruppe »Kanak Attak«. Zuletzt erschien sein Roman »Mein Name ist Revolution« (Blumenbar Verlag 2011).


© wikimedia / Bundesarchiv / B 145 Bild-F040747-0009 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA

Beengte Verhältnisse: Eine italienische Familie in ihrer Wolfsburger Wohnung. Im Jahr 1961 hatte die VW-Leitung mit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte begonnen. Nur vier Jahre später arbeiteten bereits fünftausend Italiener in der Autostadt sik viel recherchiert. Sie finden kaum etwas, auch nicht in linken Medien. Nicht einmal in den Milieus, in denen man es aufgrund einer gemeinsamen politischen Praxis erwartet hätte. Mikis Theodorakis ist natürlich ein Thema, Stimme des Protests in Griechenland. Doch der war ein akzeptierter linker Musiker. Sie finden nichts zu der Musik, die im Gastarbeiterwohnheim entstanden ist. Salopp gesagt: Die Medien waren sich einig, dass man den Ausländer nicht zum Singen und Tanzen nach Deutschland geholt hat, sondern zum Arbeiten. Genau. Neugier auf etwas, das nicht das Eigene ist, ist nicht gerade die Stärke in Deutschland. Ich hoffe, ich werde eines besseren belehrt und irgendjemand sagt: Du Idiot, du hast nicht richtig recherchiert, hier, guck mal in unser Archiv. Dann nehme ich das gerne zurück. Wir haben jetzt 70 Songs gefunden, die wir

gut finden. Aus pragmatischen Gründen haben wir jetzt mit denen von türkischen Einwanderern angefangen. Als wir anfingen, uns richtig damit zu beschäftigen, waren wir sprachlos und uns ging auf, wie vielschichtig diese Musik ist. ■ ★ ★★ ZUM TEXT Dieses Interview erschien erstmalig im »Neuen Deutschland« vom 11. November 2013. Wir danken dem Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung.

DAS ALBUM Songs of Gastarbeiter Vol. 1 Zusammengestellt von Imran Ayata & Bülent Kullukcu Trikont 2013 KULTUR

In den Medien finden Sie nichts zu der Musik, die im Gastarbeiterwohnheim entstanden ist

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Review


AUSTELLUNG

Dürer – Deutscher Meister | Städelmuseum Frankfurt

Bilder aus Zeiten des Umbruchs Als Amerika »entdeckt« wurde, hatte der 21-jährige Albrecht Dürer gerade seine Lehrjahre absolviert. Die neu angebrochene Zeit inspirierte ihn zu einem beeindruckenden künstlerischen Werk Von David Paenson meister Michael Wolgemut typischerweise noch die Dreidimensionalität und das Streben nach Realitätstreue in der Abbildung, beschäftigte sich Dürer intensiv mit den menschlichen Proportionen sowie den Gesetzen der Perspektive und malte detailreiche Charakterportraits, so wie die Renaissance insgesamt das Streben auch nach Wissenschaftlichkeit darstellte. Mit 23 Jahren unternahm er seine erste Italienreise. Aus dieser Zeit stammen verschiedene Landschaftsaquarelle, die die Stationen der Reise detailgenau dokumentieren und gleichzeitig eine Leichtigkeit ausstrahlen, die an wesentlich modernere Maler wie Vincent van Gogh erinnert. Dürer drückte in vielerlei Hinsicht sein Gefühl für den Wandel seiner Zeit aus – beispielsweise in den beiden im Jahr 1497 entstandenen Gemälden »Bildnis einer jungen Frau mit offenem Haar« und »Bildnis einer jungen Frau mit geflochtenem Haar«, von denen die Kunsthistoriker annehmen, dass es sich entweder um dieselbe Frau handelt oder um Schwestern. Während die Frau im ersteren Bild die Hände zum Beten gefaltet hält, ihr Blick sich nach innen richtet und ihr Hemd den ganzen Oberkörper bedeckt, ihr Haar aber seltsam frei um ihre Schultern fällt, schaut die Frau auf dem zweiten Bild dem Betrachter auffordernd und gar verlockend direkt in die Augen, womit Dürer

mit dem Kodex seiner Zeit deutlich bricht. Die Ausstellung zeigt auch zahlreiche Holz- und Kupferstiche. Dürer betätigte sich nämlich auch als Drucker und veröffentlichte mehrere biblische Erzählungen mit ganzseitigen Holzschnitten – der Text auf der linken Seite, das Bild auf der rechten. Es waren im wahrsten Sinne Bilderbücher. Dabei gelang es ihm, die Technik so zu verfeinern und die Bilder mit Licht und Schatten so detailreich zu gestalten, dass eine nachträgliche Kolorierung, die noch wenige Jahre zuvor gang und gäbe war, sich erübrigte. Während seines Aufenthalts in Brüssel im Jahr 1520 hatte er die Gelegenheit, einige Kunstschätze aus Mexiko, dem »neuen gulden Land«, zu bewundern. Während die spanischen Eroberer eifrig zugange waren, alles Gold zu schmelzen, um den aufkeimenden Kapitalismus in Europa mit dem nötigen Flüssigen zu versorgen, blieb dem gelernten Goldschmied Dürer die wunderbare Schönheit und Kunstfertigkeit dieser Objekte nicht verborgen. Was mich auf meinen Rundgängen schließlich stark beeindruckte, war die Intensität, mit der die Besucher und Besucherinnen die vielfältigen Objekte betrachteten und dazu die Erklärungen lasen oder sich über Audiosets anhörten. Man verlässt die Ausstellung jedenfalls reicher als man sie betreten hat. ■

★ ★★ AUSTELLUNG | Dürer – Deutscher Meister | Noch bis 2. Februar 2014 | Städelmuseum Frankfurt | Öffnungszeiten: Dienstag/ Mittwoch, Wochenende: 10 bis 19 Uhr, Donnerstag/Freitag: 10 bis 21 Uhr

REVIEW

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lbrecht Dürer im Licht seines Zeitalters ist das Leitmotiv der neuen Sonderausstellung im Frankfurter Städelmuseum. Wie er sich von zeitgenössischen und älteren Künstlern, aber auch reichen Gönnern – nicht zuletzt dem Kaiser höchstpersönlich – beeinflussen ließ und seinerseits die Kunstwelt beeinflusste, wird in zahlreichen Exponaten dargestellt und auf Tafeln erklärt. Dürer war schließlich europaweit bekannt, schon zu seinen Lebzeiten entstanden reichlich Plagiate, gegen die er sich juristisch und mit kaiserlicher Unterstützung, jedoch ziemlich erfolglos, zu wehren suchte. Es waren Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs. Den Kuratoren ist es tatsächlich gelungen, mit geschickter Auswahl und Gegenüberstellung der Werke Dürers und anderer Künstler aufzuzeigen, wie sich die neuen Zeiten in den Gemälden des berühmten Renaissancemalers auf widersprüchliche Weise niederschlugen. Denn als er im Jahr 1471 geboren wurde, war Amerika noch nicht »entdeckt«. Doch als er als junger Mann zu wirken anfing, waren die Eroberungen schon in vollem Gange. Es war die Zeit, in der die mehr oder minder geschlossene Welt des Mittelalters endgültig aufbrach. Diese Zeitenwende schlug sich auch unmittelbar in der Malerei nieder. Fehlte den Werken von Dürers Lehr-

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er Kopf ist verbunden mit dem Nacken/ Der Nacken ist verbunden mit dem Arm/ Der Arm ist verbunden mit der Hand/ Die Hand ist verbunden mit dem Internet/ Ist verbunden mit Google, ist verbunden mit der Regierung/«. Als M.I.A. im Jahr 2010 mit diesen Worten ihr Album /\/\ /\ Y /\ (MAYA) eröffnete, klang das für den bundesdeutschen Medienkonsumenten noch nach dem Verfolgungswahn verkiffter Orwell-Fans. Ende 2013 weiß hingegen auch der letzte »Bild«-App-Nutzer, dass multinationale Konzerne und Geheimdienste im großen Stil E-Mails und Telefonate ausspionieren. Schutz bieten da teilweise Kryptographie-Programme, die Daten ver- und beim Empfänger wieder entschlüsseln sollen. Da scheint es kein Zufall, dass M.I.A.s neustes Album »Matangi« mit seiner Mischung aus indischem Bhangra und kreischenden Elektro-Samples mitunter klingt wie ein noch nicht dechiffrierter Telefonanruf aus dem tropischen Regenwald Sri Lankas. Dabei beginnt das Album recht behutsam: Auf Harfentöne und ein meditatives »Om« folgen eine passiv-aggressive Bassline und moderne Wortspiele zu hinduistischen Schöpfungsmythen (»Es gibt eine Eröffnungszeremonie und wir haben alle den gleichen Ursprung/ Zellen werden zu Cell Phones (Handys)/ Manche formen Zellen/ Manche werden in Zellen gesteckt/«). Doch dann geht’s los: ein treibender Trommelrhythmus, tranceartige Gesänge, SirenenSamples und etwas, das klingt wie ein auf den Schwanz getretener Chihuahua machen aus dem Titelsong »Matangi« eine repetitive Soundkulisse, die sich nur von innen heraus – mit dem Beat gehend – genießen lässt. Genau dazu ruft M.I.A. im Refrain auf und zählt in ähnlich monotoner Hartnäckigkeit alle möglichen Länder auf, die sie vereint auf der Tanzfläche sehen möchte. Raver aller

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M.I.A. | Matangi

ALBUM DES MONATS Die Londoner Sängerin M.I.A. macht es einem mit ihrem neuen Album »Matangi« nicht einfach, ihr in ihre Welt zu folgen. Dabei verstecken sich dort viele politische Aussagen über Flüchtlingszelte bis hin zu Freundschaften auf Facebook Von David Jeikowski

★ ★★ CD | M.I.A. | Matangi | Interscope (Universal) 2013

Länder, vereinigt euch. »Matangi« ist dabei nicht nur der bürgerliche Vorname von M.I.A. sondern auch eine hinduistische Göttin, auf die im Album immer wieder Bezug genommen wird und zum Gesamtkunstwerk M.I.A. nicht besser hätte passen können. Als bewaffnete Unberührbare und Göttin der Rede und Musik ist sie quasi die GhettoRap-Queen der hinduistischen Götterwelt. Ihr Mudra, eine rituelle Handgeste, besteht kurioserweise darin den Mittelfinger zu zeigen. Als M.I.A. dies 2012 während eines Gastbeitrages für Madonna beim Super Bowl

tat, sorgte sie damit für Furore und wurde prompt von der NFL auf 1,5 Millionen Dollar Schadensersatz verklagt. Obwohl sie sich solche Ausgaben sicher mittlerweile problemlos leisten kann, bezeichnet sich die in Sri Lanka geborene Londonerin noch immer als Flüchtling. Zusammengefasst als Bewohner von Flüchtlingszelten (engl. tent) handelt ein Lied auf »Matangi« dann auch von Exilanten. Dabei wird in Wörtern, die das im Englischen häufig gebrauchte Suffix »-tent« enthalten, jene Silbe immer zusätzlich durch eine laute, blecherne

Computerstimme betont. Solcherart penetriert, sowie ebenfalls auf der Erzählebene mit dem Thema konfrontiert, kommt der Zuhörer daher hier gar nicht drum herum, (zumindest abstrakt) seine Aufmerksamkeit auf die Situation von Flüchtlingen zu richten. Sinnigerweise heißt der Song, bei dem angeblich auch Wikileaks-Gründer Julian Assange mitgearbeitet hat, daher auch »aTENTion«. Konträr zu seinen Vorgängern beginnt »Come walk with me« sehr harmonisch als warmer Arme-hin-und-her-Schwenker, erleidet dann aber doch plötzlich mittendrin eine Art epileptischen Anfall und läuft als Technomonster weiter. M.I.A. singt hingegen völlig unbeirrt weiter. Zwar scheint es hier um Freundschaft zu gehen (»Kann ich dein bester Freund sein/ (...) Komm mit mir mit/«), doch nach den ersten Zeilen beschleichen einen Zweifel: »Heutzutage gibt es tausende Wege dich zu treffen/ tausende Wege jemanden aufzuspüren/ Was immer du gesagt und getan hast/ es gibt tausende Wege daraus etwas zu machen/«. Anscheinend geht es hier eher um das Bestätigen von Freundschaftsanfragen bei Facebook, als um das Austauschen von Freundschaftsarmbändern. Der Aufruf der Sängerin, ihr als Freund zu folgen, lässt sich so auch mutterseelenallein vor dem heimischen PC erledigen. Echte Verbundenheit wird hier ad absurdum geführt, tieferes Empfinden für sein Gegenüber wird so fast unmöglich. Ja, M.I.A. macht es einem auf »Matangi« oft nicht leicht, ihr in ihre Welt zu folgen. Die vielen politischen Aussagen verstecken sich sozusagen im Kleingedruckten und die Instrumentals haben sicherlich für viele mehr mit der Soundkulisse der A7 gemein als mit wirklicher Musik. Wer es jedoch wagt, sich darauf einzulassen und insbesondere bei den Texten genauer hinhört, der will am liebsten gar nicht mehr raus, aus M.I.A.s quietschig-buntem Autobahn-Zelt. ■


BUCH

Uli Schöler | Wolfgang Abendroth und der »reale Sozialismus«. Ein Balanceakt

Eine unbekannte Seite Wolfgang Abendroth war ein scharfer Kritiker des »Realsozialismus«. Doch in den 1970er Jahren rechtfertigte er plötzlich die Entwicklungen in der DDR und der Sowjetunion. Ein neues Buch geht diesem Sinneswandel nach Von Philipp Kufferath alternative Handlungsoptionen und moralische Bewertungen lassen. In Analogie zur Französischen Revolution bezeichnet er beispielsweise die Zwangskollektivierungen und die bürokratische Wirtschaftskontrolle in der Sowjetunion als »objektiv erforderliche« und »unvermeidliche« Begleiterscheinungen der »sozialistischen ursprünglichen Akkumulation«. Er findet sogar Erklärungen und damit in gewisser Weise auch Rechtfertigungen für expansive Bestrebungen und die Unterdrückung jeglicher Opposition. Später begrüßte Abendroth allerdings auch die Öffnungsprozesse in den kommunistischen Parteien Westeuropas, die unter dem Stichwort »Eurokommunismus« eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte begannen. Den Zusammenbruch des Staatssozialismus konnte Abendroth freilich nicht mehr intellektuell einordnen, er starb im September 1985. Als einem der besten Kenner des Gesamtwerks von Abendroth ist es Uli Schöler gelungen, die Widersprüche in dessen intellektuellen Lebensweg in Bezug auf den »realen Sozialismus« klar herauszuarbeiten. Schöler versucht Antworten dafür zu finden, warum der dezidierte Antistalinist Abendroth, der 1948 vor drohender Verfolgung in den Westen floh, später einer Sowjet-Apologetik so nahe kam. Schöler findet Erklärungsansätze in Abendroths taktischer Sicht auf die po-

litische Kräftekonstellation. So ist sein Lebensweg geprägt von den Bemühungen, trotz fundamentaler Streitfragen einen Dialog zwischen den verschiedenen antikapitalistisch-sozialistischen Strömungen zu suchen. Viele Aussagen Abendroths, die Schöler mit zeitgenössischen und aktuellen – auch eigenen – Forschungsergebnissen und dessen eigener Vergangenheit konfrontiert, lesen sich vor diesem Hintergrund wie das Bemühen, bei der nicht-kommunistischen Linken in der Bundesrepublik Verständnis für die jeweilige Handlungslogik des »kommunistischen Lagers« wecken zu wollen. Abendroths Denken wirkt hier allerdings seltsam mechanisch, mögliche alternative Optionen der handelnden Akteure blendet er weitgehend aus. Schöler bezeichnet dies treffend als »pessimistischen Geschichtsdeterminismus«. Dessen ungeachtet bleibt für ihn das Abendrothsche Gesamtwerk aufgrund seiner Vielschichtigkeit eine »politisch wie wissenschaftlich epochale Lebensleistung«. «. Schölers Buch wiederum bietet eine geeignete Grundlage, um einige Mythen über Abendroth einerseits und die Geschichte des Kommunismus andererseits auf den Prüfstand zu stellen. Schölers Buch wiederum bietet eine geeignete Grundlage, um einige Mythen über Abendroth einerseits und die Geschichte des Kommunismus andererseits auf den Prüfstand zu stellen. ■

★ ★★ BUCH | Uli Schöler | Wolfgang Abendroth und der »reale Sozialismus«. Ein Balanceakt | Verlag für Berlin-Brandenburg | Berlin 2012 | 216 Seiten | 19,95 Euro REVIEW

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olfgang Abendroth gilt als einer der wenigen, die angesichts der polarisierten Fronten des Kalten Krieges ihren analytischen Blick und ihr scharfes politisches Urteil nicht verloren. Als juristisch versierter Marxist und entschiedener Antistalinist war der Marburger Politikprofessor gleichsam unbequem für liberale Sozialdemokraten wie für die »sozialistische« Machtelite in der DDR. Abendroth vertrat bis weit in die 1960er Jahre die Auffassung, dass es einen alternativen, demokratischen Weg zum Sozialismus geben müsse und richtete seine Forschungen und seine Praxis auf eine solche Perspektive. Es wäre jedoch nur die halbe Wahrheit, würde man bei dieser Charakterisierung stehenbleiben. Denn von Abendroth – und noch mehr von seinen Marburger Schülern – existieren aus den 1970er Jahren zahlreiche Aussagen und Analysen, die stutzig machen, weil sie eine ganz andere Sicht auf den »realen Sozialismus« zum Vorschein bringen. Auf einmal kritisiert Abendroth nicht mehr das »totalitäre System« des Stalinismus, sondern findet erklärende und bisweilen verständnisvolle Worte für den Gang der Geschichte im Osten. Er beschreibt die Entwicklung von der Oktoberrevolution zum Stalinismus in der Sowjetunion, von der Gründung der DDR zum Mauerbau mit Begriffen, die kaum mehr Spielraum für

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Buch

Eva Kuda, Jürgen Strauß, Georg Spöttl, Bernd Kaßebaum (Hrsg.) | Akademisierung der Arbeitswelt? Zur Zukunft der beruflichen Bildung

Master statt Meister Mit der Mär vom »Fachkräftemangel« wurden die Reformen der Hochschulbildung begründet. Ein neuer Sammelband erklärt, warum das Unsinn ist und welche Arbeitsplätze wirklich auf Absolventen des Bachelorstudiums warten Von Klaus Henning

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★ ★★ BUCH | Eva Kuda, Jürgen Strauß, Georg Spöttl, Bernd Kaßebaum (Hrsg.)| Akademisierung der Arbeitswelt? Zur Zukunft der beruflichen Bildung | VSA Verlag | Hamburg 2012| 384 Seiten | 22,80 Euro

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ildung gehört zu den wenigen Politikfeldern, auf denen in den letzten Jahren Erfolge errungen werden konnten. Der Umbau der Hochschulen nach den Kriterien kapitalistischer Funktionalität sollte mit der Einführung von Studiengebühren seine Krönung erhalten. Diesen Plan durchkreuzten die Proteste von Studierenden. Ein wichtiger Faktor war dabei die Unterstützung der studentischen Gegenwehr durch die Gewerkschaften. Die Überwindung der Spaltung zwischen Akademikern und Arbeitern ist zentral für die Entfaltung durchsetzungsfähiger Protestbewegungen. Vor diesem Hintergrund darf ein Sammelband von 21 gewerkschaftsnahen Arbeits- und Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie Gewerkschaftsfunktionären der IG Metall nicht unbeachtet bleiben, der sich mit der »Akademisierung der Arbeitswelt« beschäftigt. Unter Akademisierung verstehen die Autorinnen und Autoren einen Verdrängungsprozess: Hochschulabsolventen nehmen in der Arbeitswelt zunehmend Positionen ein, in denen früher Absolventen des Berufsausbildungssystems gearbeitet haben. Der Band beschäftigt sich ausführlich mit den Ursachen, dem Ablauf und den Folgen dieses Prozesses. Nach Meinung der Autorinnen und Autoren hat die

geplante Anhebung der Zahl von Hochschulabsolventen in Deutschland (von gegenwärtig 21 Prozent auf den OECDDurchschnitt von 37 Prozent) politische Ursachen und entspricht nicht den Anforderungen im Arbeitsprozess. Aufgrund der politisch gewollten wachsenden Verfügbarkeit von billigen Akademikern geraten jedoch Berufsausbildungsabsolventen ins Abseits. Da Facharbeiterinnen und -arbeiter selbst nach betrieblicher Weiterbildung kaum noch Chancen haben, mittlere Positionen in der Betriebshierarchie einzunehmen, muss es zu einer Entwertung des Berufsausbildungssystems zugunsten des Hochschulsystems kommen. Die Folgen für die Hochschulen sind absehbar: Mehr Studierende und überfüllte Hörsäle bei gleichzeitiger Spezialisierung, Hierarchisierung und Entwertung der Abschlüsse. Das Buch ist sehr zu empfehlen, da es ein bisher wenig beachtetes Phänomen erfasst, das für fast alle gesellschaftliche Bereichen relevant ist. Auch bietet es Argumente gegen die Ansicht, die Entwertung der Hochschule durch die Bachelor-Master-Reform würde den Erfordernissen der Wirtschaft widersprechen. Falsche Thesen wie die vom »Fachkräftemangel« und der »Wissensgesellschaft« lassen sich so entkräften. Kritisiert wird die Akademisierung der Arbeitswelt jedoch vor

allem, weil sie zum Niedergang des dualen Ausbildungssystems in Deutschland beitrage, welches die Autoren erhalten möchten. Empirisch lässt sich solch ein Niedergang allerdings nicht feststellen. Auch scheinen die deutschen Wirtschaftsverbände mit dem dualen System (Arbeit im Betrieb, Ausbildung in der Berufsschule, Prüfung bei der IHK) zufrieden zu sein, denn Forderungen nach dessen Abschaffung haben sie bislang nicht gestellt. Warum auch – es versorgt sie mit gefügigen Arbeitskräften und ermöglicht ihnen einen Zugriff auf die Prüfungsinhalte. Hier würde eine Bestandsaufnahme der realen Probleme des dualen Systems gut tun. Abgesehen von einer kleinen Minderheit, die einen guten Ausbildungsplatz in einem großen Industrieunternehmen (inklusive Mitbestimmung der IG Metall) oder der öffentlichen Verwaltung findet, sind die meisten Auszubildenden in Kleinbetrieben, in denen sie nicht selten als billige Arbeitskraft ausgebeutet werden. Zudem bekommen viele Jugendliche nicht einmal dazu die Chance. Laut Arbeitsagentur haben in diesem Sommer wieder zehntausende Schulabgänger keinen Ausbildungsplatz gefunden. ■


BUCH | Was tun mit Kommunismus?!

BUCH DES MONATS Linke aus unterschiedlichen Traditionen geben ihre Sicht auf das Ende des »Realsozialismus« wieder und diskutieren über aktuelle Kämpfe. Herausgekommen ist ein lesenswertes Buch Von Thomas Walter

★ ★★ BUCH | Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (Hrsg.) | Was tun mit Kommunismus?! Kapitalismus. »Realexistierender Sozialismus«. Konkrete Utopie heute | Unrast-Verlag | Münster 2013 | 338 Seiten | 18 Euro

nen, wirklich selbst ihre eigene Macht zu erkennen und revolutionär anzuwenden. Während er sich analytisch also auf Marx stützt, ist er in den praktischen Folgerungen eher bei den Anarchisten. Marxisten sehen bei aller Kritik die Rolle von Parteien und Gewerkschaften positiver. Denn diese können beispielsweise linke Debatten in die Öffentlichkeit tragen. Für Lucy Redler von der Sozialistischen Alternative Voran führt der Bezug auf Lenin oder Trotzki nicht zwangsläufig zu einer stalinistischen Diktatur. Vielmehr hätten beide wichtige theoretische und praktische Beiträge zu den Wechselbeziehungen zwischen theoretischer und praktischer Kapitalismuskritik und auch zur Rolle reformistischer Politik geleistet. Redler setzt aber in ihrem Beitrag nicht unmittelbar bei den Klassikern an, sondern ganz in deren Tradition bei gegenwärtigen Kämpfen, etwa beim Streik gegen das Charité Facility Management in Berlin, beim Kampf gegen Stuttgart21 oder bei der Blockupy-Bewegung. Sie hält diese Kämpfe für notwendig, damit die Arbeiterklasse ein Bewusstsein und auch

die Fähigkeit entwickelt, den Kapitalismus durch eine gerechtere Wirtschaftsordnung abzulösen. Auch die Kreuzberger Künstlerin Bini Adamczak verweist auf aktuelle Kämpfe. Sie untersucht den Arabischen Frühling, der das Gerede vom Kapitalismus als Ende der Geschichte beendete, auch wenn die Arabellion keineswegs entschieden oder gar abgeschlossen ist. Erwähnt sei schließlich Monika Runge von der LINKEN, die sich mit praktischen Alltagsfragen auseinandersetzt. Gestützt auf einen missverständlichen Bericht des »Neuen Deutschland« über eine „MARX IS‘ MUSS“Veranstaltung im Jahr 2012 beklagt sie, dass das Netzwerk marx21 Kommunalpolitik als »Kommunalquatsch« diffamiere. Hier sei nur kurz klargestellt: Das ist nicht die Auffassung von marx21. Vielmehr geht es dem Netzwerk um die Frage, wie Alltagskämpfe vor Ort mit einer langfristigen revolutionären Zielrichtung verbunden werden können. Es kann hier nicht auf alle Beiträge eingegangen werden. Insgesamt spiegelt das Buch die derzeitigen Probleme und Standpunkte in der deutschen Linken wider. Die Autoren sind sich darin einig, dass der »real existierende Sozialismus« eine Diktatur war und kein Sozialismus. Das Buch wirft aber auch weiterführende Fragen auf: Wie könnte ein gemeinsames Handeln der Linken aussehen? Welche Rolle spielt der Staat, vor oder nach einer Arbeiterrevolution? Die Theorie des Staatskapitalismus, eine Analyse der Oktoberrevolution, der Leninschen Politik könnten zukünftig weitere Themen für diese Debatten sein. Jedenfalls stimmen die Autoren darin überein, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist. Es macht Mut, sich zu engagieren. Das ist eine gute Grundlage für weitere Diskussionen. ■ REVIEW

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narchisten und Marxisten, DDROppositionelle, Vertreter der LINKEN und andere Aktivistinnen und Aktivisten stritten Ende 2011 über die Aufgaben, die sich der Linken nach dem Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus« stellen. »Was tun mit Kommunismus?« lautete damals der Titel einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe in Berlin, deren Beiträge nun in Buchform erschienen sind. Das einigende Band der Autorinnen und Autoren ist die Ablehnung (post-)stalinistischer Formen des Sozialismus. Ansonsten unterscheiden sie sich in ihren politischen Ansichten sehr. Der libertäre Anarchist Ralf Landmesser beispielsweise sieht den Beginn des »autoritären Sozialismus« schon bei Karl Marx. Er fordert, dass Linke nicht hinter die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaften zurückfallen dürfen, wenn es um Menschen- und Bürgerrechte geht. Er räumt aber ein, dass sich die Linke schlecht individualanarchistisch organisieren könne, wenn die kapitalistischen Regierungen sich selbst von bürgerlichen Rechten verabschieden. Christian Frings, der verschiedene Werke des US-Marxisten David Harvey übersetzt hat, prüft auf Grundlage einer anspruchsvollen marxistischen philosophisch-ökonomischen Analyse, wie die Weltkommune der »sieben Milliarden« den Kapitalismus abschütteln kann. Angenehm überrascht seine These, dass in der jahrhundertelangen Geschichte des Kapitalismus die Arbeiter immer mächtiger geworden seien, was freilich große Rückschläge und Katastrophen wie Weltkriege und Faschismus nicht ausschließe. Zuversichtlich sieht Frings, dass die Arbeiter sich von alten Formen der »Repräsentation«, dazu gehören seiner Meinung nach Parteien oder Gewerkschaften, verabschieden und es mehr und mehr ler-

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Mein Lieblingsbuch

in Buch, das jeder lesen sollte? »Die Dämonen« des russischen Schriftstellers Dostojewski! Der Romantitel verweist auf die biblisch inspirierte Handlung: Das altersschwache Mütterchen Russland des 19. Jahrhunderts wird von »Dämonen« heimgesucht. Verkörpert werden diese bösen Geister durch einen sektiererischen Zirkel von Studenten im sakrosankten Petersburg. Deren Ziel scheint zunächst die Umwälzung Russlands mittels verworrener utopischer Vorstellungen zu sein. Am Ende stellt sich jedoch heraus, dass die Studenten vor allem nihilistische Terroristen sind, die nichts als Chaos und Unheil über die sowieso schon geplagten und verzweifelten Russen bringen wollen. Im Unglauben sah Fjodor Dostojewski den Grund für den elenden Zustand des russischen Volkes. Der Roman sollte zum literarischen Warnsignal gegen die lauter werdenden revolutionären Ideen im orthodoxen Russland werden. Deswegen lässt er die Figuren über »Gott und die Welt« (das Hauptmotiv bei Dostojewski) diskutieren, wobei christliche Erlösungsutopien mit faschistoiden Wahnvorstellungen und Forderungen nach Menschenrechten gegeneinander antreten – wie die bisweilen absurden Diskussionen in heutigen WG-Küchen! Aus den ideologischen Differenzen erwächst ein Komplott gegen einen abtrünnigen Studenten, was zu (Selbst-)Mord und Totschlag ausufert. In einer Szene planen die Studenten den Aufstand: »Wir werden, sag’ ich Ihnen, einen Aufruhr zustande bringen, dass alles aus den Fugen geht«, sagt der zynische Antiheld Werchowenskij. Sein Mitverschwörer Stawrogin beklagt, heutzutage gäbe es furchtbar wenige »selbständig denkende Köpfe« – und folgert daraus, es reichten schon diese beiden für den nötigen Umsturz. Werchowenskij verkörpert den Alptraum der Besitzenden: »Kaum ist Familie oder Liebe

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Von marx21-Leser Alexander Schröder

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Die Dämonen« von Fjodor Dostojewski

★ ★★ Fjodor Dostojewski | Die Dämonen | Anaconda Verlag | Neuauflage Köln 2012 | 928 Seiten | 9,95 Euro

da, so stellt sich auch schon der Wunsch nach Eigentum ein.« Dieser Individualismus müsse ausgemerzt werden: »Alles wird auf einen Nenner gebracht, um der vollständigen Gleichheit willen.« Indem die Verschwörer »unmittelbar ins Volk« eindringen und ihr dämonisches Gedankengut umsetzen, soll alles Heilige in Russland (Familie, Liebe, Individualität, Eigentum) dem Erdboden gleichgemacht werden. Obwohl Dostojewski solchermaßen versucht, die radikale Jugend in Russland zu verunglimpfen, gelingt es ihm nicht wirklich. Denn das extreme Abgleiten der »Revolutionäre« in Menschenhass wirkt unglaubwürdig. Man ist zwar entsetzt, wenn die Abgründe ihrer dämonischen Seelen beleuchtet werden, aber man fühlt mit, sobald ihre innere Zermürbung offenbar wird. Es sind Männer und Frauen, die verzweifelt einen Ausweg aus der Misere suchen. Das macht sie sympathisch. Ironischerweise schafft der Autor es also nicht, die Antihelden seines Buches völlig unmenschlich zu gestalten. Das liegt nicht an fehlendem Talent, sondern an der realistischen Darstellung der Figuren. Die künstlerisch-realistische Seite des Autors kämpft mit seiner antikommunistischen. Den größenwahnsinnigen Revoluzzer Werchowenskij lässt er offenbaren: »Ich bin doch ein Spitzbube, aber kein Sozialist, haha!« Schließlich kann man den Roman als künstlerische Abbildung der damaligen Klassenkonflikte lesen. Und es drängt sich beim Lesen der Verdacht auf, dass die Erlösung des russischen Volkes weder durch Dostojewskis Glauben noch durch Verschwörung, sondern nur durch die demokratische Lösung der sozialen Frage erfolgen kann. »Die Dämonen« sind so wider Willen ein Plädoyer für Demokratie und Sozialismus. Dostojewskis politische Vorurteile beeinträchtigen zwar teilweise sein künstlerisches Schaffen, aber dieser Roman ist ein ebenso schönes wie sozialkritisches Meisterwerk, das Sozialisten kennen sollten. ■


BUCH

Jean-Yves Ferri, Didier Conrad | Asterix bei den Pikten

Zaubertrank und Malzwasser Zuletzt war jeder neue Band der traditionsreichen Asterix-Comicserie eine herbe Enttäuschung. Doch nun gibt es wieder Hoffnung für den schlagkräftigen Gallier und seinen Freund mit dem Hinkelstein Von Marcel Bois ein Hinweis auf deren Sitte, sich auffällig zu tätowieren. Auf einen Vertreter dieser Ethnie treffen Asterix und Obelix beim Spaziergang am heimischen Strand. In einem Eisblock eingefroren hat ihn das Meer angespült. Der zunächst Sprachlose entpuppt sich bald als schottischer Clanchef. Seine Widersacher wollten ihn loswerden, um mit Hilfe der Römer die Herrschaft über die Stämme im Norden der britischen Insel an sich zu reißen. Da dauert es nicht lange, bis sich Asterix und Obelix auf eine abenteuerliche Rettungsmission begeben. Gespickt ist die Geschichte, wie in jedem Asterix-Band, mit allerhand kulturellen und regionalen Stereotypen. So sind die antiken Schotten begnadete Baumstamm-Weitwerfer, trinken Malzwasser und tragen karierte Kilts. Auch ein Vorfahre von Nessie, dem Ungeheuer von Loch Ness, darf nicht fehlen. Das ist mal mehr, mal weniger lustig. Sehr gelungen ist in der deutschen Übersetzung die Namensgebung der Pikten. Einer der Schurken heißt Mac Ymesserh und der neue Freund der Gallier trägt den Namen Mac Aphon. Diese Anspielung erhält einen zusätzlichen Witz, da der Pikte im Eis seine Stimme verloren hat und zunächst nur gestikulieren kann. Ziemlich bemüht wirkt hingegen der vermeintliche Running Gag, dass Mac Aphon permanent Songs

des 20. Jahrhunderts anstimmt. Zeitgenössische Gesellschaftsentwicklungen spielten in den Frühwerken stets eine wichtige Rolle: In »Asterix als Legionär« wurde die Fremdenlegion aufs Korn genommen, bei »Asterix in Spanien« der moderne Massentourismus persifliert und in »Asterix bei den Olympischen Spielen« das Thema Doping aufgegriffen. Mit »Die Trabantenstadt« kritisierten Goscinny und Uderzo die seinerzeit von Pariser Stadtplanern entworfenen Satellitenstädte. Und als Asterix und Obelix in »Die Odysee« nach Mesopotamien aufbrachen, um ihrem Druiden das dringend benötigte Steinöl zu besorgen, war der Verweis auf die in den Jahren vor Erscheinen des Bandes eskalierte Ölkrise nicht zu übersehen. Diesmal hätte sich beispielsweise angeboten, die regionalen Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa zu thematisieren. So weit geht Ferri leider nicht. Doch wer genau hinsieht, entdeckt zumindest die ein oder andere politische Anspielung – etwa wenn der Dorfchef Majestix sagt: »Für uns Gallier ist Recht auf Asyl kein leeres Versprechen.« Bei diesem Band war Uderzo noch beratend tätig. Möglicherweise ist das eine Erklärung für manch inhaltliche Schwäche. Doch oft genug blitzt das erzählerische Potential von Ferri auf. Für die Zukunft lässt das hoffen.■

★ ★★ BUCH | Jean-Yves Ferri (Text), Didier Conrad (Zeichnungen) | Asterix bei den Pikten | Egmont Ehapa Verlag | Berlin, Köln 2013 | 50 Seiten | 6,50 Euro

REVIEW

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ir befinden uns im Jahr null. Ein unbeugsamer Zeichner hat endlich aufgegeben. Albert Uderzo, mittlerweile 86 Jahre alt, entwickelt fortan nicht mehr die Abenteuer des kleinen Galliers Asterix. Und das ist gut so. Nach dem frühen Tod des begnadeten Texters René Goscinny im Jahr 1977 hatte Uderzo die Reihe alleinverantwortlich fortgeführt. Je länger er das tat, desto mehr verloren die Geschichten an Niveau. Zeichneten sich die früheren Abenteuer durch subtilen Humor aus, so überwog zuletzt platter Klamauk. Den traurigen Tiefpunkt dieser Entwicklung stellte der Band »Gallien in Gefahr« aus dem Jahr 2005 dar, in dem Außerirdische und Superhelden das antike gallische Dorf besuchten. Der 35. Band der Asterix-Reihe ist nun also der erste, der ohne seine beiden Schöpfer zustande gekommen ist. Autor Jean-Yves Ferri und Zeichner Didier Conrad haben übernommen – und versuchen an die Traditionen aus der goldenen Goscinny-Ära anzuknüpfen. Deren Markenzeichen waren die vielen Reisen des kleinen Galliers und seines Freunds Obelix. Auch in »Asterix bei den Pikten« zieht es die beiden in die Ferne. Diesmal geht’s ins historische Schottland. Die dort lebenden Völker wurden von den Römern als Pikten (lateinisch: picti) bezeichnet. Übersetzt bedeutete das »die Bemalten« und war

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BUCH

Shereen El Feki | Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt

Tabubruch Der Umgang mit Sexualität sagt viel über gesellschaftliche Strukturen aus, findet die Wissenschaftsjournalistin Shereen El Feki. Für ihr Buch befragte sie über fünf Jahre Frauen und Männer in arabischen Ländern zu ihrem Intimleben Von Reuven Neumann

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★ ★★ BUCH | Shereen El Feki | Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt | Carl Hanser Verlag | München 2013 | 416 Seiten | 24,90 Euro

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uf den ersten Blick ein ungewöhnliches Thema: Liebe und Sexualität in der arabisch-islamischen Welt. Denn noch immer ist die herrschende Vorstellung, dass dort rückwärtsgewandte religiöse Regeln das Verhältnis zwischen den Geschlechtern prägen und dabei Gleichberechtigung ebenso verhindern wie sexuelle Selbstbestimmung. Mit dem Buch »Sex und die Zitadelle« will die Journalistin Shereen El Feki einen anderen Blick auf das Liebesleben in dieser Region eröffnen. Das soll ausdrücklich vor dem Hintergrund der bis heute andauernden massiven Umwälzungen geschehen, die viele arabische Länder in den vergangenen drei Jahren erschütterten und neue gesellschaftliche Realitäten hervorgebracht haben. Zu diesem Zweck unternimmt die Autorin mit dem Leser eine Reise durch die arabische Welt, erkundet in Interviews, Gesprächen und anhand von Statistiken die Thematik und zeichnet so ein wirklichkeitsnahes Bild vom Verhältnis zwischen Männern und Frauen, der Liebe und der Sexualität. Zu Beginn verweist sie auf die grundlegende Veränderung in der Wahrnehmung, denn noch bis ins 19. Jahrhundert galt die islamische Welt in Bezug auf Sexualität und Liebe als freizügig und liberal. Zudem gab es dort eine rege literarische Be-

schäftigung mit diesem Thema. Nun aber habe sich eine Art »Wandel der Stereotypen« vollzogen, so dass die Freiheit der Sexualität heute ausschließlich im Westen verortet und die arabische Welt als rückwärtsgewandt und reaktionär charakterisiert wird. Die Realität, die El Feki beschreibt, ist jedoch vielschichtiger. So betont sie zwar, dass Liebe und Sexualität in der Öffentlichkeit immer noch stark tabuisiert werden, zeigt zugleich jedoch, dass sie in all ihren Facetten zum Alltag gehören. Die Autorin betrachtet verschiedene Themenfelder wie Sexualpraktiken, Gewalt gegen Frauen, Beschneidung von Mädchen, Prostitution, künstliche Befruchtung und die Situation Homosexueller, ohne dabei das individuelle Schicksal aus den Augen zu verlieren. So kommen zum Beispiel zwei schwule Männer aus Ägypten selbst zu Wort und berichten über ihre schwierige Lebenssituation. El Feki macht deutlich, dass es falsch ist, den Islam als grundsätzlich sexualfeindlich zu verstehen, indem man bestimmte Auslegungen des Koran als allgemeingültige Meinung auffasst. Vielmehr zeige sich in den unterschiedlichen Deutungen der religiösen Schriften in Bezug auf Sexualität und Liebe durch islamische Gelehrte die große Heterogenität des Islam.

Mit Sinn für Ironie beschreibt die Autorin, dass vieles, was die islamischen Sittenwächter als »gefährliche ausländische Ideen« verteufeln, schon lange bevor es vom westlichen Liberalismus aufgegriffen wurde, »geistiges Gemeingut der arabisch-islamischen Welt« gewesen sei. Sie kommt zu dem Schluss, es sei der falsche Weg, lediglich westliche Normen und Praktiken zu importieren. Stattdessen müssten die Menschen in der islamischen Welt eigene Ansätze finden, um ihre sexuelle Freiheit zu erreichen. Leider bezieht sie hier – entgegen dem Anspruch ihres Buches – den aktuellen Wandel in den arabischen Ländern nur bedingt in ihre Darstellung ein. Daher bleibt ihre Einschätzung der Perspektive für Veränderungen mitunter vage. Insgesamt stellt das Buch aber einen lesenswerten Beitrag zu einer hier meist mit zahlreichen Vorurteilen behafteten Thematik dar. Hilfreich ist auch die Ergänzung durch eine Internetseite mit weiterführenden und vertiefenden Informationen (www.sexandthecitadel.com). ■


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xplodierende Mieten und die Verdrängung der einkommensschwächeren Bevölkerung aus den Innenstädten sind derzeit vielerorts ein brennendes Thema. Doch allzu oft verzetteln sich die Debatten zwischen Empörung und hochtheoretischen ökonomischen Konzepten. Nicht so der Artikel über Gentrifizierung von Anett Gröschner im Kulturteil des »Freitag« (21.11.2013). Sie geht von eigenen Beobachtungen aus, bleibt jedoch dabei nicht stehen, sondern erklärt anschaulich die dahinter stehenden wirtschaftlichen Mechanismen. »Die Stadt wird mir fremd«, heißt der Artikel, doch das sei nur umso mehr ein Grund, »sie gegen den Umbau von einer Integrations- in eine Konkurrenzmaschine zu verteidigen«.

In der von Alice Schwarzer mit ihrer Verbotsforderung angestoßenen »Prostitutionsdebatte« dominieren Extrempositionen. Losgelöst vom gesellschaftlichen Kontext verdammen oder befürworten sie Prostitution. Aus dieser Frontstellung sticht der Artikel von Antonia Baum im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (19.11.2013) heraus. Baum kritisiert Alice Schwarzer scharf, argumentiert differenziert und wirft die Frage auf, inwieweit man grundsätzlich von Freiwilligkeit in Bezug auf

Der Themenschwerpunkt der neuen Ausgabe der »Z. – Zeitschrift Marxistische Erneuerung« (Nr. 96, Dezember 2013) umfasst Beiträge der Tagung »Klassenanalyse und Intelligenz heute«, die im April in Frankfurt am Main stattfand. Anfang der 1970er Jahre hatte das Institut für Marxistische Studien und Forschungen die Frage nach den Beziehungen zwischen dem »Kern der Arbeiterklasse« und der Intelligenz diskutiert. Die diesjährige Tagung zielte darauf, dieses Thema unter aktuellen Blickwinkeln neu zu diskutieren. Anne Geschonnek und Simon Zeise fragen beispielsweise in ihrem Beitrag: Wo liegen die Chancen für sozialistische Politisierung bei den heutigen Studierenden unter den veränderten, von Prekarisierung geprägten Studienbedingungen?

von Win Windisch und Marcel Bois

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Publikationen

★ ★★ WEBLINKS Freitag: www.freitag.de Interface: www.interfacejournal.net FAZ: www.faz.net Z.: www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de SoZ: www.sozonline.de

Seit einem halben Jahr leitet der Argentinier Franziskus die katholische Kirche. Nun beginnt er, in der Kurie aufzuräumen. Kardinäle, die für die bisherige höfische Herrschaftskirche standen, werden entlassen, ebenso sämtliche Anhänger des italienischen Skandalpolitikers Silvio Berlusconi. Thomas Seiterich liefert in der aktuellen »SoZ« (Dezember 2013) einen lesenswerten Überblick über die Reformbemühungen des neuen Papsts. Er gibt allerdings auch zu bedenken, dass das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche alle Macht habe, das zu tun, was es für richtig hält: »Sollte der Nachfolger von Franziskus die Dinge anders sehen, kann er alle Reformen wieder zurückdrehen«. ■

REVIEW

Wer etwas zu Bewegungen auf dem ganzen Globus und über engagierte Bewegungsforschung von Marxisten und Anarchisten erfahren möchte, sollte sich das kostenlose, englischsprachige Onlinemagazin »Interface« anschauen. Forscherinnen und Aktivisten schreiben darin zumeist über progressive soziale Bewegungen. Doch in der aktuellen Ausgabe (Vol. 5, Issue 2, November 2013) analysiert ein Autor beispielsweise auch, wie sich Neonazis in Deutschland als »Autonome Nationalisten« organisieren. Darüber hinaus gibt es stets Rezensionen von Büchern über Protestbewegungen.

Erwerbsarbeit im Kapitalismus sprechen kann. Für die »FAZ« überraschend endet der Artikel mit dem Satz: »Vielleicht, nein sicher, müsste Alice Schwarzer, wenn sie nicht Alice Schwarzer wäre, die Abschaffung dieser Gesellschaft fordern.«

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Preview Š seven resist / CC BY-NC-SA / flickr.com


BUCH

Chris Harman | Wer baute das siebentorige Theben? Wie Menschen ihre Geschichte machen

Krisen, Konflikte und soziale Kämpfe Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken – Chris Harmans Globalgeschichte erzählt davon. Im März erscheint die deutsche Ausgabe. Übersetzerin Rosemarie Nünning gibt schon mal einen Ausblick Von Rosemarie Nünning entwickelt waren als die kolonialistische Geschichtsschreibung uns glauben machen will. Es besitzt eine eigene Faszination zu erfahren, wie im westlichsten Zipfel Eurasiens schließlich aus einer rückständigen feudalen Gesellschaft heraus der Kapitalismus geboren wird, dessen Ordnung schließlich den gesamten Globus überzieht. In Harmans Weltgeschichte treiben nicht »große Männer« wie Könige, Religionsstifter, Philosophen die Geschichte an, sondern herrschende und beherrschte Klassen und die Kämpfe, die sie ausfechten. Schon das Alte Reich in Ägypten wurde von Bauernaufständen erschüttert, ebenso wie die mesoamerikanischen Zivilisationen oder die frühen Dynastien in China. Im feudalen Europa finden wir um das Jahr 1000 einen ersten Bericht über aufbegehrende normannische Bauern, die sich in die Hand schwören, »nicht Vogt noch Herrn zu dulden«. Schon bald entstehen infolge gesellschaftlicher Umbrüche aber auch rückwärtsgewandte Bewegungen wie die der Geißler und die Kreuzzüge. Die zweite Hälfte des Buchs ist der modernen kapitalistischen Welt gewidmet: den bürgerlichen Revolutionen, der Expansion des Kapitalismus mit seinen Kolonisierungsfeldzügen und dem 20. Jahrhundert als Zeitalter der revolutionären Hoffnung wie der imperialistischen Barbarei der Weltkriege und des Faschismus – bis zu dem Zusammenbruch des Ostblocks und einer »neuen Weltordnung«. All dies ist durchsetzt mit einer breiten Ideen- und Kulturgeschichte der Entstehung von Religionen, kulturellen Strömungen wie der Renaissance und sogar der Filme eines Charlie Chaplin. Diese Übersetzung war kein leichtes Unterfangen. Ich hoffe, sie ist insoweit gelungen, als dass sie auch hier Geschichte begreifbar macht und allen als Handbuch dienen kann, die die Welt zum Besseren verändern wollen. ■

★★★ BUCH | Chris Harman | Wer baute das siebentorige Theben? Wie Menschen ihre Geschichte machen | Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning, Bearbeitung David Paenson | Laika Verlag Hamburg | erscheint voraussichtlich zur Leipziger Buchmesse im März 2014

PREVIEW

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ls Chris Harmans Buch »A Peopleʼs History of the World« im Jahr 1999 in Großbritannien erschien, war sofort klar, dass es unbedingt auch auf Deutsch veröffentlicht werden muss. Doch erst vor zwei Jahren fand sich mit dem Laika-Verlag ein Herausgeber – und als diese mich fragten, die Übersetzung zu übernehmen, blieb mir gar nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Harman hat – gestützt auf eine Unmenge Literatur – wahrhaftig eine Welt- und Menschheitsgeschichte verfasst, die von den herrschaftsfreien Gesellschaften im »Urkommunismus« bis zum Jahr 2000 reicht. Sein Anliegen ist es, von der Entstehung von Klassengesellschaften und den gescheiterten wie erfolgreichen Bewegungen für ihren Sturz zu erzählen. Dazu blättert er die gesellschaftlichen Entwicklungen in den verschiedensten Gegenden der Welt auf, die nicht selten denen des »Westens« weit voraus waren. Er verfolgt dabei einen methodischen Ansatz: nämlich zu zeigen, wie Gesellschaft durch das Zusammenwirken von technologischer Entwicklung, von Klassenstrukturen und Klassenkämpfen geprägt wird. So ist dies keine Geschichte von einem unaufhaltsamen Aufstieg der menschlichen Gesellschaft, sondern auch von der Erstarrung oder dem Zurückfallen entwickelter Zivilisationen. Der weit gespannte Bogen der Erzählung beginnt mit der Darstellung der »neolithischen Umwälzung« vor etwa 10.000 Jahren, die sich auf verschiedenen Kontinenten vollzieht. Ihr folgt mit der Entstehung von Klassen und Privateigentum die städtische Revolution in Ägypten, auf Kreta oder auch am Indus, und die »welthistorische Niederlage der Frau«. Die Zeit des Altertums ist die Griechenlands und Roms, aber auch der ersten chinesischen Reiche. Für das frühe Mittelalter streift Harman unter anderem durch das byzantinische Reich und die afrikanischen Zivilisationen, die oft sehr viel höher

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JAHRESTAG | Einhundert Jahre Erster Weltkrieg

»Geschichte sollte in der Linken eine größere Rolle spielen« Erst kriegsbegeisterte Massen, dann Tod und Verderben. Diese Bilder kennt man vom Ersten Weltkrieg. Zum kommenden Gedenkjahr schildert der Historiker Florian Wilde, woran zu wenig erinnert wird Interview: Marcel Bois Florian, im kommenden August jährt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal. Schon jetzt ist absehbar, dass das Jubiläum zum medialen Großereignis wird. Warum ist die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« noch heute relevant? Der Erste Weltkrieg ist nicht nur die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Er ist auch der Ausgangspunkt der bis heute andauernden Spaltung der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung in, grob gesagt, einen radikalen und einen reformistischen Flügel. Die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 schockierte die revolutionären Linken, die ja Teil der Sozialdemokratie waren. Noch am Abend desselben Tages versammelten sie sich in der Wohnung Rosa Luxemburgs und konstituierten sich als eigenständiges Netzwerk. Insofern war der Beginn des Kriegs auch die Geburtsstunde des Spartakusbundes, aus dem später die Kommunistische Partei Deutschlands hervorging, also eine Vorläuferorganisation der LINKEN. Die kritische Beschäftigung mit den damaligen Ereignissen kann für DIE LINKE heute eine wichtige, identitätsstiftende Funktion haben. Zumal damit viele Aspekte verbunden sind, die auch heute noch Relevanz haben: Etwa der enge Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg oder die Ursachen für den Verrat der SPD. Programmatisch stand die Sozialdemokratie mit ihrem Erfurter Parteiprogramm weit links und hatte Kriegsbeteiligungen immer entschieden abgelehnt. Allerdings war es ihr nicht gelungen, eine mit ihrer radikalen Program98

Florian Wilde

Florian Wilde ist Mitglied im Parteivorstand der LINKEN und arbeitet in ihrer Historischen Kommission mit. Er promovierte über den vergessenen Spartakusbund-Gründer und KPD-Vorsitzenden Ernst Meyer.

matik korrespondierende Praxis zu entwickeln. Im Fokus standen stattdessen Wahlkämpfe und die parlamentarische Tätigkeit. Dieser Fokus führte zu einer allmählichen Anpassung der Partei und ihrer Integration in das System. Im Jahr 1914 wurde sie schließlich vor die Wahl gestellt: Entweder sie stimmt dem Krieg zu und erhält dafür die Anerkennung der Eliten und das Versprechen auf mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten, oder sie bleibt ihren Überzeugungen treu und wird ausgegrenzt und isoliert. Sie entschied sich leider gegen ihr Programm. Auch DIE LINKE könnte in der Zukunft vor ähnliche Entscheidungen stehen.

Du bist Mitglied der Historischen Kommission der LINKEN. Was wird die Partei anlässlich des Jahrestages machen? Das Thema wird im kommenden Jahr immer wieder eine Rolle spielen, beginnend am 12. Januar beim politischen Jahresauftakt der LINKEN zusammen mit der Europäischen Linkspartei (EL) in der Volksbühne in Berlin. Auch im Europawahlkampf soll der Weltkrieg thematisiert werden. Die EL wird im Juni in Sarajewo und im August in Straßburg internationale Antikriegskonferenzen veranstalten. Auch die parteinahe Rosa-LuxemburgStiftung plant einiges, etwa eine große Konferenz zum Zusammenhang von Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus. Leider fehlt der Partei noch ein Leuchtturmprojekt, mit dem sie die SPD auch geschichtspolitisch öffentlichkeitswirksam angreifen könnte. Gleichzeitig sehe ich viel Potenzial für Veranstaltungen in den Basisgliederungen der LINKEN. Und letztendlich ist das nur ein Anfang. Es stehen ja noch weitere 100. Jubiläen an… In der Tat! Aus der Erfahrung mit dem Horror des Weltkrieges resultierten die Russische Revolution im Jahr 1917 und die Novemberrevolution 1918. Diese wiederum war der Auftakt zu einer bis 1923 andauernden revolutionären Krise in Deutschland, in die auch die Gründung der KPD und die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts fielen. Diese Jahrestage bieten nicht nur das Potenzial zu linker Identitätsbildung, sondern auch zur Diskussion grundsätzlicher Fragen. Geschichtspolitik sollte in den nächsten Jahren in der Linken eine größere Rolle spielen.■


Politischer Islam – eine marxistische Analyse | von Chris Harman | 84 Seiten, 3,50 Euro | ISBN 978-3-934536-23-4 | 2012

Wie frei ist die Frau? | mit Beiträgen von Judith Orr, Katrin Schierbach, Maya Cohen-Mosler | 53 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 9783-934536-33-3 | 2009

Ché Guevara und die kubanische Revolution | von Mike Gonzales | 112 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-32-6 | 2009

Islam, Rassismus und die Linke | mit Beiträgen von Marwa alRadwany, Stefan Ziefle, Volkhard Mosler, David Crouch | 37 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-93453634-0 | 2009

Wieviel Demokratie verträgt der Kapitalismus? – der Staat, das Kapital und die Linke | mit Beiträgen von Colin Barker, Chris Harman, Yaak Pabst, Win Windisch | 46 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-38-8 | 2010

Wer war Lenin? | von Ian Birchall | 48 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-34-0 | 2009

NIE WIEDER – ein Anti-Nazi Reader | mit Beiträgen von Christine Buchholz, Leo Trotzki, Alex Callinicos und Stefan Bornost | 60 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-41-8 | 2010

Die ägyptische Revolution | von Sameh Naguib | 43 Seiten, 2 Euro | ISBN 978-3-934536-20-3 | 2011

Der Markt versagt – eine marxistische Antwort auf die Krise | mit Beiträgen von Chris Harman, Tobias ten Brink | 46 Seiten, 2 Euro | ISBN 978-3934536-14-2 | 2009

BESETZT! – eine kurze Geschichte der Betriebsbesetzungen | von Dave Sherry | 56 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3934536-22-7 | 2012

Marxismus und Anarchismus | von John Molyneux | 58 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3-934536-42-5 | 2013

Rassismus – Meinungsmacher, Ideologien, Gegenkräfte | theorie21 Nr. 2/2012 | mit Beiträgen von Alex Callinicos, Deepa Kumar, Kate Davison, Volkhard Mosler, u.a. | 186 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-60-9

Arabellion – zur Aktualität der Revolution | theorie21 Nr. 1/2012 | mit Beiträgen von Christine Buchholz, Anne Alexander, Volkhard Mosler, u.a. | 212 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-49-4

Marxismus & Gewerkschaften | theorie21 Nr. 1/2013 | mit Beiträgen von Bill Dunn, Luigi Wolf, Olaf Klenke, Heiner Dribbusch, Frank Renken, Jürgen Ehlers, u.a. | 338 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-48-7

Die revolutionären Ideen von Karl Marx | von Alex Callinicos | 277 Seiten, 16,80 Euro | ISBN 978-3-89965-476-9 | 2011

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