marx21 Ausgabe Nummer 34 / 2014

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marx 21 01/2014 | Februar / März

marx 21.de

4,50 eurO | www.Marx21.de

Achim Bühl

Magazin für internationalen SozialiSMuS

Krankenhäuser Der Kampf um die Arbeitszeit

entlarvt rassistische Mythen über Sinti und Roma

Ayodele Jabbaar

bespricht den Mandela-Film »Der lange Weg zur Freiheit«

schuldenbremse Vom Sterben der Kommunen

Boris Kargalitzki

stellt die russische Linke vor

Frauentag Gleiche Löhne oder Blumen? einzelhandel Eine Streikbewegung, die Mut macht Gefahrengebiete Hamburg bleibt widerborstig 450 Jahre Galilei Und sie bewegt sich doch Ausstellung »global activism«

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Einwanderer sind keine Gefahr für die Menschen in Deutschland. Vier Thesen über Migration im Kapitalismus.

Österreich 4,70 eUrO schWeiZ 7,50 chF

GreNZeN AUF FÜr ALLe.



Seitdem die rechtskonservative Regierung im November einen Gesetzentwurf »zum Schutz der Sicherheit der Bürger« vorgelegt hat, demonstrieren Bürgerinnen und Bürger in ganz Spanien. Denn hinter dem vermeintlichen Schutz erstecken sich Repressionsmaßnahmen gegen die Bevölkerung. Nach dem neuen Gesetz sollen spontane Versammlungen vor dem Parlament, dem Senat und dem Obersten Gerichtshof als schwere Vergehen gelten und mit Geldstrafen bis zu 600.000 Euro geahndet werden. Blockaden gegen Zwangsräumungen werden ebenfalls untersagt. Verstöße werden in Zukunft nicht mehr als Straftaten, sondern als Ordnungswidrigkeiten gewertet. Damit bedürfte es keiner richterlichen Verurteilung mehr. Aufgrund der Höhe der Bußgelder würden die meisten Betroffenen trotzdem im Gefängnis landen. Wie auf dem Foto versuchten am 14. Dezember Demonstranten in Madrid mehrmals, das Parlamentsgebäude zu umzingeln.

Liebe Leserinnen und Leser,

G

roß war die Betroffenheit und Empörung, als im Oktober über 500 Menschen aus Afrika mit ihrem Boot vor der Küste von Lampedusa kenterten und die meisten von ihnen starben. Italiens Präsident Giorgio Napolitano sprach von einem »Massaker«, EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso von einem »europäischen Notstand«. Doch geändert hat sich seitdem nichts. Kein Wunder, wird doch die Asyl- und Flüchtlingspolitik seit knapp zwanzig Jahren kontinuierlich verschärft und die »Festung Europa« mehr und mehr abgeschottet. Deutschland ist einer der großen Antreiber dieser Politik. Durch die Drittstaatenregelung verlagert es scheinheilig die Verantwortung für die »Flüchtlings«- und »Asylthematik« auf die krisengeschüttelten Länder an der Peripherie Europas. Dementsprechend werden, im Verhältnis zur Größe des Landes, nur wenige Asylanträge in Deutschland gestellt. Die Geflüchteten, die es unter schwersten und gefährlichsten Umständen dennoch hierher schaffen, erhalten keinen ausreichenden Schutz. Zudem werden sie kriminalisiert und stigmatisiert. Dies gilt auch für Einwanderer aus Südosteuropa, gegen die die CSU nun hetzt. In der Debatte um vermeintliche »Armutszuwanderung« werfen die Konservativen rumänischen und bulgarischen Einwanderern vor, sie wollten in Deutschland nur Sozialleistungen abgreifen. Dabei wird eins immer übersehen: Die Europäische Union und eben auch Deutschland sind mitverantwortlich für das Elend von Geflüchteten in ihren Heimatländern und damit auch für die Toten vor Lampedusa. Niemand flieht »einfach so«, ohne triftigen Grund. Jede und jeder muss die Möglichkeit erhalten, nach Europa einreisen und sich auch hier frei bewegen zu können. Wir fordern daher auf unserer Titelseite: »Grenzen auf für alle. Armut bekämpfen und nicht die Flüchtlinge«. Mehr dazu ab Seite 14. Noch etwas in eigener Sache: In der letzten Ausgabe hatten wir geschrieben, dass wir uns über Hilfe im Redaktionsalltag freuen würden – mit Erfolg: Bei der Erstellung dieses Heftes haben uns erstmals Michael Eckert als Layouter und Theodor Sperlea als Übersetzer unterstützt. Neu an Bord ist auch Richard Fährmann, dem wir die Galileo-Galilei-Illustration auf Seite 61 verdanken. Vielen Dank dafür und herzlich willkommen im Team! Solltet ihr Interesse bekommen haben: Selbstverständlich nehmen wir auch weiterhin gerne Hilfsangebote an. Auch bei unserem Kongress »MARX IS‘ MUSS«, der an Pfingsten stattfinden wird, sind wir immer auf viele freiwillig Helfende und Unterstützende angewiesen. Was ihr tun könnt? Zum Beispiel ganz einfach auf Facebook Werbung machen. Bei unserem Kongress wollen wir Menschen vernetzen, die die Welt verändern wollen. Dabei können wir aber nicht auf reiche Sponsoren oder große Medien zählen. Daher brauchen wir eure Hilfe, um »MARX IS‘ MUSS« bekannt zu machen. Wie das geht, erfahrt ihr auf unserem Kongress-Blog: http://mim14.de/facebookhilfe. Dort könnt ihr dann auch gleich unser frisch veröffentlichtes Programm einsehen. Kleiner Tipp: Es gibt noch Early-Bird-Tickets, also mit Frühbucherrabatt. Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

© imagenenaccion.org / CC BY-NC-ND / flickr.com

SPANIEN

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Fotostory: Spanien

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Interview: Boris Kagarlitzki

34 28 Sinti und Roma: Die verlorenen Kinder

Aktuelle Analyse

Titelthema: Grenzen auf für alle

Internationales

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15 Grenzen auf für alle Thesen der marx21-Redaktion

34 Russland: Die gelenkte Demokratie Interview mit Boris Kagarlitzki

20 Ein Armutszeugnis Von Carolin Hasenpusch

38 Groningen: Die Provinz bebt Von Frederik Blauwhof

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Ein anderes Klima Von der Gruppe Avanti

Kommunalpolitik

28

Sinti und Roma: Die verlorenen Kinder Von Achim Bühl

Hamburg bleibt widerborstig Von Christoph Timann

Unsere Meinung 12 EU-Debatte: Ein Kartell der Räuber Kommentar von Volkhard Mosler 13

DFB: Teil des Problems Kommentar von Daniel Anton

neu auf marx21.de

Es trifft die Armen Warum den westlichen Regierungen das Wohl ihrer Konzerne wichtiger ist als die Bekämpfung des Klimawandels. 4

Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

40 Kommunen: Totgespart Von David Maienreis Internationaler Frauentag 44

Heraus zum 8. März! Von Max Manzey und Catarina Príncipe


66 Kultur: Die Hymne von Solidarność

Geschichte: 450 Jahre Galilei

60 64 Ausstellung: Welt des Widerstands Rubriken

Betrieb & Gewerkschaft

Kultur

48 Krankenhäuser: »Bei uns sterben die Reichen und Schönen« Interview mit Tobias Michel

64

66 Einzelhandel: Eine Streikbewegung, die Mut macht Von Olaf Klenke

Geschichte hinter dem Song

Netzwerk marx21 »MARX IS‘ MUSS 2014«

Geschichte 60

Jacek Kaczmarski: »Mury« Von Yaak Pabst

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 10 Fotostory 32 Weltweiter Widerstand 56 Was macht das marx21-Netzwerk? 70 Review 79 Quergelesen 80 Preview

450 Jahre Galilei: Und sie bewegt sich doch Von Stefan Bornost INHALT

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Ausstellung: Die bunte Welt des Widerstands Von Petra Schuster

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 8. Jahrgang, Heft 34 Nr. 1, Februar / März 2014 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Carla Assmann, Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller, Carolin Hasenpusch, David Jeikowski, Yaak Pabst Lektorat Carla Assmann, Marcel Bois, Brian Janßen, David Paenson, Marijam Sariaslani Übersetzungen David Paenson , Theodor Sperlea, Xenia Wenzel Layout Michael Eckert, Richard Neumann (Illustrationen), Georg Frankl, Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat Michael Bruns, Christine Buchholz, Nicole Gohlke, Stefanie Graf, Ole Gvynant, Werner Halbauer, Tim Herudek, Lisa Hofmann, Sven Kühn, Volkhard Mosler, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Azad Tarhan, Janine Wissler, Luigi Wolf, Hubertus Zdebel Redaktion Online Ole Gvynant (verantw.), Hans Krause, Jan Maas, Paula Rauch, Stefan Ziefle Aboservice-Team Phil Butland, Stefan Hanczuch, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

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Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 14. April 2014 (Redaktionsschluss: 21.03.)

Yaak Pabst, Redakteur

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st das Opa?« »Ist das Opa?« Interessiert schaut sich der kleine Yaak Anfang der 1980er Jahre das Bild im Wohnzimmer seiner Eltern an. »Nee, das ist Karl Marx, Jun-

ge«. Aufgewachsen in einer Vorstadt von Frankfurt am Main kommt Yaak früh mit Politik in Kontakt. Die Eltern sind 68er und im Sozialistischen Büro organisiert, der Cousin ist Anarchist und in der Hamburger Hafenstraße aktiv. Kaum verwunderlich also, dass Yaak mit 13 Jahren selbst beginnt, auf Demos zu gehen – gegen den ersten Golfkrieg, gegen Nazis und ihre rassistischen Anschläge. Zuerst findet die Rebellion aber vor allem über die Musik statt. Mit 14 bekommt er eine Gitarre und gründet mit Schulfreunden eine Band, die später »Kehraus« heißen wird und sich mit linksradikalen Texten und Crossover à la Rage Against the Machine versucht. Das Pflichtprogramm Anfang der Neunziger besteht aus Abhängen im Proberaum, Konzerten, Skaten und Graffiti. Im Jahr 1994 lernt Yaak bei den Jusos das Linksruck-Netzwerk kennen. »Das war für mich der Beginn von 20 Jahren organisierter revolutionärer Politik«, erzählt er. In der Schule musste er eine Ehrenrunde drehen, da Politik wichtiger wurde als die Schulbank zu drücken. Später folgte das Studium der Politikwissenschaft und immer wieder Aktionen mit Linksruck: Studi-Streik 1997, CastorProteste, Sozialproteste gegen die Agenda 2010, Engagement in der globalisierungskritischen Bewegung und bei Attac. Nach Linksruck folgte die Gründung der LINKEN und des Netzwerks marx21. In unserer Redaktion kann er seitdem seine Musikleidenschaft ebenso ausleben wie sein Interesse an Grafik und Design. So schreibt Yaak die Rubrik »Geschichte hinter dem Song« (S. 66) und ist neben der redaktionellen Arbeit auch für das Layout zuständig. Die Redaktion ist sein zweites Zuhause geworden. Wäre mal an der Zeit, über ein neues Marx-Bild in unserem Büro nachzudenken.

Das Nächste Mal: Stefan Bornost


leisten. Das wird aber eine zentrale Diskussion im einhundertsten Jahr des Weltkriegsbeginns sein. Daher halte ich einen Hinweis darauf für sinnvoll, dass marx21 diese Positionen nach wie vor richtig findet und es Marxisten gibt, die innerhalb des Rahmens dieser Positionen die Frage der Veränderungen des Imperialismus ausführlich analysiert haben. Auch Literaturhinweise wären hier möglich. Stefanie Haenisch, Frankfurt am Main

Zum Titelthema »Alptraum Europa« (Heft 5/2013) Spannendes Titelthema. Ich frage mich regelmäßig, woher diese fast schon religiöse Überhöhung der EU als Projekt der Völkerfreundschaft und Zusammenarbeit kommt, wo doch die EU lediglich zu höheren Profitraten, zum Abbau von Demokratie und zu militaristischer Außenpolitik führt. Als ob man kein »europäisch« denkender Mensch wäre, wenn man diese EU ablehnt und auch nicht an die linke Mehrheit im Europaparlament glaubt, die diese Missstände theoretisch, aber auch nur eingeschränkt, beheben könnte. Michael Chan auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Von Lampedusa nach Hamburg« von Florian Wilde (Heft 5/2013) Florian Wilde schreibt, dass sich unter dem Druck der Hamburger Recht-aufStadt-Bewegung alle Parteien gezwungen sähen, »die Mietenfrage in das Zentrum des Wahlkampfes zu rücken und massive Wohnungsbauprogramme zu versprechen«. Tatsächlich ist die Wohnungsfrage ein zentrales politisches Thema, jährlich werden in Hamburg 6000 neue Wohnungen gebaut. Für die meisten muss man jedoch unerschwingliche Quadratmeterpreise von zwölf bis 15 Euro bezahlen. So steigen die Mieten für alle, auch in bestehenden Mietverhältnissen. Das sollten wir nicht als einen Erfolg unserer Bewegung bezeichnen. Christoph Timann, Hamburg

Im Artikel von »Vorwärts und doch vergessen…« entwickelt Stefan Bornost die zentralen Argumente des revolutionär marxistischen Flügels der sozialistischen Arbeiterbewegung vor 100 Jahren. Das sind die Überlegungen, auf denen die Position »Die EU ist nicht zu retten« gründet. Doch weder im Editorial noch im Anreißtext des Artikels noch sonst irgendwo wird darauf deutlich hingewiesen. Ich fände das wichtig. Ich wünsche mir, dass die Leser das Magazin nicht nur wie eine Zeitschrift unter vielen konsumieren, sondern dass sie die dort argumentierten Positionen auch in Diskussionen zur Europawahl und bei Blockupy einbringen. Der Artikel »Für eine linke Europakritik« von Werner Halbauer und der Artikel von Bornost stehen nicht beliebig nebeneinander: Die grundlegende Position, von der Halbauer ausgeht, sind die »Theorien« von damals. Darauf hinzuweisen hielte ich für sinnvoll. Die alte Debatte ist zwar überraschend aktuell, aber es gibt natürlich viele Gegenargumente, die sich darauf beziehen, dass 2014 nicht mehr 1914 ist und dass sich die Welt gewandelt hat. Natürlich kann das ein Artikel über die »alten Debatten« nicht

Zum Kommentar »Der Irrweg der Alice Schwarzer« von Rosemarie Nünning (Heft 5/2013) Nicht die Zuhälter schaffen den Markt, sondern die Sexkäufer. Auch Mitglieder der LINKEN haben den Appell »Frauen sind keine Ware! Sexkaufverbot jetzt!« unterschrieben, darunter auch ich. Das kann mensch auch tun, wenn mal die ganze Schwarzer-Ablehnung beiseite gelegt wird: Der Appell fordert nämlich genau das, was die europäischen Linksparteien fordern (nur die deutsche nicht). Wir sollten dringend diese Isolation aufgeben. Manuela Schon auf unserer Facebook-Seite

Zunächst einmal vielen Dank für diesen Beitrag zur Prostitutionsdebatte. Er unterscheidet sich von anderen linken Reflexen auf Frau Schwarzer immerhin dadurch, dass er die Prostitution kritisch sieht und das Leiden dort wahrzunehmen scheint. Unabhängig von den bei uns Linken offenbar üblichen Reflexen auf Frau Schwarzer (»Bild«-Autorin, Überholen des bürgerlichen Lagers von rechts und so weiter)

möchte ich für sie eine Lanze brechen: Ich denke, nur mit der radikalen Position, dass Prostitution abgeschafft werden muss, lässt sich wirklich etwas bewegen. Wir fordern ja bisher auch den Ausstieg aus der NATO oder die Abschaffung der Bundeswehr. Nicht im Traum würden wir darauf kommen, Generäle und Konzernvorstände von Krauss-Maffei danach zu befragen, ob sie das gut finden. Anders bei der Prostitution. Da schwiemeln wir herum und befragen die sogenannten »freiwilligen Prostituierten«, was sie denn von einer Verschärfung halten und wie sie sich so im Puff fühlen. Eine gute Bekannte von mir ist aus dem »Job« ausgestiegen. Die psychischen Verheerungen bei den Frauen, aber auch die bei den Männern sind enorm. Die Psyche vom Körper abzuspalten, bleibt eben selbst bei denen nicht ohne Folgen, die in den Edelbordellen arbeiten und vergleichsweise zivilisierte Verhältnisse vorfinden. Öffentlich befragt wäre es ja auch quasi Nestbeschmutzung und machte die »Geschäftsgrundlage« kaputt, wenn Prostituierte die Prostitution als das darstellten, was sie ist: Eine über das im Kapitalismus ohnehin übliche Maß hinausgehende Entfremdung und Erniedrigung von Menschen durch Menschen. Übrigens: Die Prostitution, wie wir sie heute kennen, ist sicherlich erst mit dem Kapitalismus entstanden. Ansonsten ist es aber schon so, dass es Huren und damit die Bezahlung sexueller Dienste seit vielen tausend Jahren gibt. Schon die Evangelien des Neuen Testaments berichten von Huren, denen sich Jesus vorurteilsfrei zuwandte, und Jahrhunderte davor waren Frauen in religiösen Zusammenhängen bei Weiheakten und Zeremonien als Huren tätig. Manfred Guder, Berlin

Zum Interview mit Florian Wilde: »Geschichte sollte in der Linken eine größere Rolle spielen« (Heft 5/2013) Es ist meines Erachtens bedeutsam, zu klären, ob es tatsächlich »kriegsbegeisterte Massen« gegeben hat. Eines dürfte klar sein: Den damals Herrschenden passte dieses Bild sehr gut in ihre Propaganda. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass die damalige Friedensbewegung jahrelang zehntausende Menschen mobilisieren konnte. Hubert Königer auf unserer Facebook-Seite Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

LeserbriefE

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AKTUELLE ANALYSE

Hamburg bleibt widerborstig Der Senat der Hansestadt hat in den vergangenen Wochen versucht, die stärker werdende linke Bewegung zu schwächen – ohne Erfolg, wie die Demonstration am 18. Januar gezeigt hat Von Christoph Timann ★ ★★

Christoph Timann ist Mitglied der LINKEN in Hamburg und Sprecher der Stadtteilgruppe Winterhude-Süd/Jarrestadt.

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A

m 13. Januar hatte der Spuk ein Ende: Die Hamburger Polizei hob die sogenannten Gefahrengebiete auf. Knapp zwei Wochen lang hatte ein großflächiges Gebiet im Innenstadtbereich unter verschärfter Kontrolle gestanden. Hier durfte sie Personen ohne Begründung kontrollieren, deren Identität überprüfen und deren Taschen durchsuchen. Trotz der Aufhebung des Gefahrengebiets demonstrierten am 18. Januar mindestens 5000 Menschen friedlich gegen Gefahrengebiete, für ein Bleiberecht für alle Flüchtlinge und für den Erhalt der »Roten Flora«, dem besetzten Kulturzentrum im Schanzenviertel. Das ist insofern besonders bemerkenswert, als das die Hamburger Polizei und der Senat im Vorfeld versucht hatten, die linke Bewegung in der Hansestadt zu schwächen. Im Verlauf des vergangenen Jahres hatten drei Bewegungen zueinander gefunden: der Kampf für den Erhalt der »Roten Flora«, die Solidaritätsbewegung mit Flüchtlingen und die Kampagne »Recht auf Stadt«, die sich für bezahlbaren Wohnraum und eine soziale Stadt einsetzt. Bisheriger Höhepunkt dieser gemeinsamen Bewegung

war eine Demonstration am 21. Dezember 2013 mit 10.000 Teilnehmern. Es war die größte dieser Art seit den »Bambule«-Protesten im Jahr 2003 gegen den damaligen rechtspopulistischen Innensenator Ronald Schill. Mit dem offensichtlichen Ziel, die Bewegung zu spalten, haben Hamburger Polizei und Senat daraufhin gehandelt. Bei der Großdemonstration gab es massive Auseinandersetzungen. Wie sich inzwischen abzeichnet, ging die Gewalt von der Polizei aus, die offensichtlich die Vorgabe hatte, zu eskalieren. Das gelang zunächst: Viele Demonstranten waren darüber wütend, dass ihr genehmigter Aufmarsch schon am Startpunkt gestoppt wurde. Es flogen Böller, Steine und Flaschen auf die Polizisten. Allerdings hatte es bereits am Vorabend der Demonstration einen Angriff auf die Davidwache, eine Polizeiwache in St. Pauli, gegeben, der ebenfalls als Begründung für die Polizeigewalt diente. Befeuert durch die Hamburger Medien versuchte der Senat, eine Debatte über linke Gewalt auszulösen. Stellvertretend für die Haltung der regierenden


SPD steht der Satz von Innensenator Michael Neumann, in Hamburg gebe es »kein konkretes politisches Problem«, das einzige Problem sei linke Gewalt. Legitimiert durch einen angeblichen weiteren Angriff auf die Davidwache am 28. Dezember richtete die Polizei Anfang Januar ein sogenanntes Gefahrengebiet ein. In einem vier Stadtteile umfassenden Gebiet galt de facto der Ausnahmezustand, Anwohner standen unter Generalverdacht, durften jederzeit »verdachtsunabhängig« von der Polizei angehalten und durchsucht werden.

ckeln, vereinzelt flogen Böller durch die Luft) blieb diesmal alles ruhig«, schreibt selbst die »Hamburger Morgenpost«, die sich in den Wochen zuvor vor allem dadurch ausgezeichnet hatte, Polizeiberichte kritiklos abzudrucken. Das zeigt zum einen, dass der Senat mit seiner Politik, die Bewegung über die Gewalt-Frage zu spalten, auf ganzer Linie gescheitert ist. Zum anderen weist es aber auch die Perspektive der Bewegung auf. Unser Ziel sollte eine breite gesellschaftliche Bewegung sein. Das ist zwar ein großes Ziel, aber es ist realistisch, denn vor allem bezahlbarer Wohnraum und eine soziale Stadt sind Forderungen, die für die große Mehrheit der Hamburger wünschenswert sind. Auch die Solidarität mit Flüchtlingen geht weit über den Teilnehmerkreis der letzten Demonstrationen hinaus. Für dieses Ziel einer breiten Bewegung müssen wir uns klarmachen, dass Protestformen kein Zweck an sich sind, sondern vor allem dem Zweck dienen sollten, viele Menschen zum Mitmachen zu motivieren. Das schließt kreativen Protest nicht aus, im Gegenteil. Aber es gibt keine Abkürzung über die möglichst radikale Konfrontation mit der Staatsmacht. Zugleich haben sich die Hamburger Aktivisten, beispielsweise in der Pressekonferenz der »Roten Flora«, äußerst souverän verhalten und sind nicht über das hingehaltene Stöckchen gesprungen, sich von jeder denkbaren Gewalt zu distanzieren. Denn so viel ist klar: Den Versuch, Bewegungen über diese Frage zu spalten, wird es immer wieder geben. Und da nicht selten Polizisten in Zivil als Provokateure die ersten Steinewerfer sind – legendär ist eine Szene von den »Bambule«-Protesten, als provozierende Zivilpolizisten von aggressiven Uniformierten mit Schlagstöcken verprügelt wurden –, ließe sich ansonsten theoretisch jede Bewegung problemlos ausbremsen. DIE LINKE spielt bereits eine gute Rolle in der Bewegung. Vor allem die Bürgerschaftsfraktion und der Bezirksverband Altona begleiten die Proteste mit einer sehr guten Öffentlichkeitsarbeit. Der Lohn ist eine stetig wachsende Zustimmung in der Bevölkerung: Für die Bürgerschaftswahl im Frühjahr 2015 wird zurzeit ein Ergebnis von neun Prozent – eine deutliche Steigerung zu den 6,4 Prozent der letzten Wahl – vorhergesagt. Bei der notwendigen Ausweitung der Bewegung in andere Milieus und Stadtteile – bisher ist sie vor allem auf die eher linken Stadtteile St. Pauli, Altona und Schanze begrenzt – könnte die Partei eine wichtige Rolle spielen. ■

AKTUELLE ANALYSE

In vier Stadtteilen galt de facto der Ausnahmezustand

Die versuchte Einschüchterung schlug fehl. Von der Einrichtung des Gefahrengebiets am 4. Januar bis zu seiner Aufhebung am 13. Januar fanden täglich mehrere Demonstrationen dagegen statt. In sozialen Netzwerken verhöhnten Aktivisten diese Politik, wobei vor allem Klobürsten einen großen symbolischen Wert bekamen, nachdem einem von der Polizei durchsuchten Aktivisten eine solche als vermeintliche Waffe abgenommen worden war – live vor einer Kamera der Tagesschau. Als dann auch noch herauskam, dass die Polizei-Darstellung des zweiten Vorfalls an der Davidwache wenig mit der Wahrheit zu tun hatte, kippte die Stimmung in der Stadt. Unsensible Aussagen von Bürgermeister Olaf Scholz, Innensenator Neumann und den Medien trugen ebenfalls dazu bei. Der Senat schwenkte nun überraschend schnell auf einen defensiven Kurs ein, hob das Gefahrengebiet auf und versprach den Erhalt der »Roten Flora«. Eine große Rolle spielte mit Sicherheit auch die Mobilisierung zu der Demonstration am 18. Januar. Die Bewegung richtet sich nämlich gegen reale Missstände. Die oben zitierte Behauptung des SPD-Innensenators, es gäbe keine politischen Probleme in Hamburg, ist mehr als absurd. Schließlich handelt es sich um eine Stadt, die Flüchtlingen kein Bleiberecht erteilt und ihnen das Winternotprogramm versperrt, in der in vielen Stadtteilen die Hälfte der Kinder in Armut lebt und in der kaum noch Wohnungen für weniger als 12 Euro pro Quadratmeter zu mieten sind. Auch das Thema Gefahrengebiete trug zur Mobilisierung bei. Grundlage war ein im Jahr 2005 von der damaligen CDU-Alleinregierung beschlossenes Gesetz, das es der Polizei erlaubt, ohne politischen oder juristischen Beschluss für eingegrenzte Gebiete grundlegende Bürgerrechte außer Kraft zu setzen. DIE LINKE fordert zu Recht die Streichung dieses Gesetzes. Die Demonstration am 18. Januar kam ohne Gewalt aus: »Mit einzelnen Ausnahmen (auf dem Dach der Roten Flora zündeten Vermummte bengalische Fa-

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FotoSTORY

© Alle Bilder: Fotomovimiento / CC BY-NC-ND / flickr.com

Nein zu Kürzungen | Mit eindrucksvollen Aktionen hat die Feuerwehr von Barcelona Mitte Januar gezeigt, wie man kreativ gegen die Kürzungspolitik protestieren kann. Die sechs- bis neunhundert Demonstrantinnen und Demonstranten hatten nicht nur Transparente und sogar eine selbst gebastelte Guillotine dabei, einige bildeten auch auf der zentralen

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Plaça de Catalunya einen Menschenturm (unten Mitte), andere zündeten später ein Holz-Feuerwehrauto an (unten links). Gründe für den Protest gibt es genug: So versucht die katalanische Regierung die eklatanten Personalprobleme durch Arbeitszeitverlängerungen und den Einsatz von Zeitarbeitskräften zu regeln. Gleichzeitig sollen bis zum Jahr

2020 keine weiteren Feuerwehrleute mehr eingestellt werden. Unten rechts: »Feuerwehrmänner im Kampf – Rettet Menschen, nicht die Banken«, forderten die Protestierenden und stellten sich mit ihrem Transparent vor das Rathaus. Auf einem anderen Banner war zu lesen: »Wie viele Tote braucht ihr, um zu merken, dass wir Recht haben?«


Botschaften der WTO-Mitgliedstaaten und blockierten davor den Straßenverkehr. Unten Mitte: Manche der teilnehmenden Gewerkschaften sind eindeutig marxistisch geprägt. Unten rechts: »Stoppt das Land Grabbing – verschrottet die WTO«. Gemeint ist die Aneignung von Land durch finanzstarke Investoren, denen die WTO den Weg ebnet.

FOTOSTORY

weltweiten Abbau von Handelsgrenzen. Viele der Demonstranten, vor allem die Bauern, müssen um ihre Existenz fürchten, wenn das Paket in Kraft tritt. Nach dem Wegfall der Beschränkungen müssen sie nämlich mit internationalen Konzernen konkurrieren. Unten links: Um Druck auf die Konferenzteilnehmer auszuüben, zogen Demonstranten zu den

© Alle Bilder: Ying-Dah Wong / CC BY-NC-ND / flickr.com

Gegen die WTO | Auf der indonesischen Insel Bali demonstrierten Anfang Dezember fünfhundert Aktivistinnen und Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften gegen die Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO). Sie kritisieren vor allem das sogenannte »Bali-Paket«, ein von der WTO entworfenes Maßnahmenbündel zum

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UNSERE MEINUNG EU-DEBATTE in der LINKEN

Ein Kartell der Räuber Von Volkhard Mosler

Ü

ber den Entwurf für das Europawahlprogramm der LINKEN ist ein heftiger Streit entbrannt. In der Präambel heißt es, die Europäische Union sei eine »neoliberale, militaristische und weithin undemokratische Macht«. Kritiker dieser Formulierung, allen voran der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi, verdächtigen die Autoren, in nationale Denkmuster zurückzufallen. An die Adresse linker EU-Kritiker wie Oskar Lafontaine gerichtet, mahnt Gysi: »Für uns linke Internationalisten gibt es kein Zurück zum früheren Nationalstaat. Wir müssen Befürworter der europäischen Integration sein.« Ähnlich argumentieren auch führende linke Intellektuelle wie Antonio Negri. Im Januar hat er gemeinsam mit dem Italiener Sandro Mezzadra einen Aufsatz über das »Kampffeld Europa« veröffentlicht. Darin schreiben die beiden, dass der europäische Integrationsprozess »unumkehrbar« sei. Schon jetzt könne man »nur auf europäischer Ebene die Fragen von Lohn und Einkommen, (...) des Sozialstaats, (...) der Verfassungsänderungen aufwerfen.« Heute gebe es »außerhalb dieses Feldes keinen politischen Realismus.« Genau wie Gysi scheinen sie davon auszugehen, dass die europäische Integration, egal unter welchen Vorzeichen, Fortschritt bedeutet. Der Umkehrschluss: Opposition gegen diese Integration ist ein Rückfall in den Nationalismus. Offensichtlich herrscht hier Verwirrung über die Begriffe »Internationalismus« und »Nationalismus«. Internationalismus ist die grenzüberschreitende Solidarität von Arbeitern und sozialen Bewegungen – und nicht das internationale Agieren der globalen Eliten. Die Gründung des europäischen Luftfahrtund Rüstungskonzerns EADS ist keineswegs ein Akt der Völkerfreundschaft gewesen. Vielmehr wurde hier eine große Kapitaleinheit zur besseren grenzüberschreitenden Ausbeutung und besseren Organisation des internationalen Waffenhandels geschaffen. Solche Strukturen abzulehnen, die zentral für die europäische Integration sind, ist keineswegs nationalistisch. Die EU ist ein Kartell mittlerer und kleiner imperialistischer Staaten. Sie ist entstanden

aus der Schwächung der alten europäischen Imperien durch den Zerfall ihrer Kolonialreiche und die Neuverteilung von Macht und Reichtum nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Kartell bezeichnet ein Bündnis unabhängiger Konzerne oder Nationalstaaten, es ist kein Zusammenschluss. Es dämpft zwar vorübergehend die Gegensätze zwischen den beteiligten Einheiten, aber bloß, um gegen Dritte umso durchsetzungsfähiger zu werden. Die Sozialistin Rosa Luxemburg brachte diese Tatsache bereits vor hundert Jahren auf den Punkt. Im Mai 1914, zwei Monate vor Beginn des Ersten Weltkriegs, schrieb sie: »Alle Bündnisse haben nur den Zweck, irgendeinen Außenstehenden desto besser abmurksen zu können (...) keine Bündnisse kapitalistischer Staaten sind imstande oder haben auch nur den Zweck, den Frieden zu sichern. Das einzige Bündnis, das den Weltfrieden sichern kann, ist die Weltverbrüderung des internationalen Proletariats.« Noch ein weiterer Aspekt in Negris Argumentation ist nicht richtig. So sagt er, dass soziale oder politische Emanzipation nur noch auf europäischem Terrain »realistisch« sei. Doch vor allem in den letzten Jahren herrscht in der EU ein enormes wirtschaftliches und soziales Gefälle. Mit dieser ökonomischen Ungleichheit geht auch eine Ungleichzeitigkeit der Klassenkämpfe einher. Die Zahl der Streiks befindet sich in Deutschland auf dem niedrigsten Niveau seit Jahrzehnten. In Griechenland hingegen hat es in fünf Jahren über dreißig Generalstreiks gegeben. Der Anspruch, dass der Widerstand »europäisch« sein müsse, ist gegenwärtig äußerst unrealistisch. Er wird auf absehbare Zeit in der Form »national« sein. Doch erfolgreiche Kämpfe können international in dem Sinne werden, dass sie auf andere Länder ausstrahlen. Voraussetzung dafür ist aber, dass die europäische Linke Lehren aus solchen Erfolgen zieht und sie verallgemeinert.

Europäischer Widerstand ist gegenwärtig unrealistisch

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★ ★★ Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21 und Mitglied der LINKEN in Frankfurt.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Deutscher FuSSballbund

Teil des Problems Spieler vor unkalkulierbaren Reaktionen der Zuschauer bei möglichen ComingOuts gewarnt. Hinter solchen Aussagen steckt die selbsterfüllende Prophezeiung, dass vor allem Fans den Fußballern das Leben schwer machen würden. Der

Der DFB schürt Ängste bei homosexuellen Spielern Verband nimmt damit homosexuellen Spielern nicht die Angst, sondern schürt sie noch und legitimiert zudem eine homophobe Atmosphäre in der Fußballwelt. In der Kurve ist dabei nicht selten das Gegenteil zu beobachten. So arbeitet die vereinsübergreifende Initiative »Fußballfans gegen Homophobie« seit Jahren

mit aktiver Aufklärungsarbeit und bunten Choreographien in den Stadien für mehr Toleranz. Einzelne Fangruppierungen sind dem DFB in ihrem Bestreben, das Problem zu bekämpfen, um Jahre voraus. Der Fall Hitzlsperger dient dem DFB als willkommenes Feigenblatt, der die Verantwortung für den Kampf gegen Homophobie auf eine individuelle Ebene verschiebt. Spieler und Fans werden weiterhin den Kampf für sexuelle Vielfalt führen und gemeinsam viel Druck auf die Funktionärsebene ausüben müssen, um letztendlich Coming-Outs überflüssig zu machen. ★ ★★ Daniel Anton ist Kreissprecher der LINKEN in Freiburg. Bei Heimspielen des SC Freiburg steht er gerne auf der Nord-Tribüne, obwohl er eigentlich BayernFan ist.

UNSERE MEINUNG

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homas Hitzlspergers ComingOut war mutig und richtig. Und das ist gleichzeitig das Problem. Warum erfordert es im Profisport nach wie vor Mut, sich zu seiner Sexualität zu äußern? Der Deutsche Fußballbund (DFB) sieht sich im Kampf gegen Homophobie in einer Vorreiter-Rolle und frohlockte ob der unverhofften Offenbarung. In der realen Auseinandersetzung ist er jedoch kein Teil der Lösung, sondern faktisch Teil des Problems der Tabuisierung von Homosexualität im Fußball. Noch im Jahr 2011 ätzte Nationalelf-Manager Oliver Bierhoff gegen eine TatortFolge, in der es hieß: »Die halbe Nationalmannschaft ist angeblich schwul«. Solche Behauptungen seien ein »Angriff auf die Familie der Nationalelf«. Bierhoff zeichnete damit das Bild der »klassischen« Familie nach, die im Gegensatz zur Homosexualität stehe. In Broschüren des DFB zum Thema werden Vereine und

Von Daniel Anton

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TITELTHEMA GRENZEN AUF FÜR ALLE Ein Armutszeugnis Europäische Flüchtlingspolitik

Antifa in der Krise Debattenbeitrag der Gruppe Avanti

Hetze gegen Sinti und Roma Jahrhunderte alte Klischees

© ekvidi / CC BY-NC / flickr.com

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Grenzen auf für alle Einwanderer sind keine Gefahr für die Menschen in Deutschland. Vier Thesen über Migration im Kapitalismus Von der marx21-Redaktion

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SU-Chef Horst Seehofer hat seine Position in der Zuwanderungsdebatte klargemacht: »Deutschland ist nicht das Sozialamt der Welt«. Die grassierende Armut in Süd- und Osteuropa sowie die Kriege und Krisen in Afrika und Ländern wie Syrien seien zwar schlimm, aber die Bundesrepublik verfüge nicht über die Ressourcen, mehr Zuwanderer aus Krisenregionen aufzunehmen. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in ihrer Regierungserklärung: »Wir müssen die Möglichkeiten nutzen, die uns die Freizügigkeit in Europa bietet. Wir dürfen aber die Augen vor Missbrauch nicht verschließen. Es bedarf der Klärung: Wer hat unter welchen Bedingungen Anspruch auf Sozialleistungen? Es darf nicht zu faktischer Einwanderung in Sozialsysteme kommen.« Mit dieser Meinung stehen Merkel und Seehofer nicht allein: Nach einer Emnid-Umfrage plädierten zwei Drittel der Befragten für eine Begrenzung der Zuwanderung innerhalb der EU. Grund dafür sind soziale Ängste, aber auch gezielte Desinformation durch rechte Politikern und Medien. Angesichts dieser aufgeladenen Debatte haben wir einen Faktencheck gemacht und liefern Argumente gegen die konservative Hetze.

Abwanderern bei einem Plus von 400.000. Gründe für die hohen Zuwanderungszahlen sind vor allem die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Zuge der EU-Osterweiterung sowie die schwere Wirtschaftskrise in Südeuropa. Genaue Daten zu den Herkunftsländern der Zuwanderer existieren bislang nur für das erste Halbjahr 2013. Daraus ergibt sich, dass die größte Gruppe der Zuwanderer aus Polen stammte, danach folgen Rumänien, Italien, Ungarn und Spanien. Zudem wurden im vergangenen Jahr über 120.000 Asylanträge in der Bundesrepublik gestellt. Das ist eine deutliche Steigerung, im internationalen Vergleich sind es aber verschwindend wenig. Beispielsweise haben allein der Libanon, Jordanien und die Türkei zusammen über zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland hingegen hat sich lediglich dazu bereit erklärt, 10.000 Syrerinnen und Syrer ins Land zu lassen. Was in der Zuwanderungsdebatte – gerade in Bezug auf Osteuropa – meist fehlt, ist der Hinweis darauf, warum so viele Menschen so verzweifelt sind, dass sie in Deutschland nach Arbeit suchen. Auch wenn die CSU einen anderen Eindruck vermitteln möchte: Es ist keineswegs so, dass alle Menschen lieber hier leben würden als dort, wo sie aufgewachsen sind und sich ihr soziales Umfeld befindet. Es ist die Politik der EU, die sie von dort wegtreibt. Die Union verfolgt in den Beitrittsstaaten eine gezielte Verarmungspolitik und raubt so den Menschen jegliche Perspektive. Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle. Das zeigt sich zum Beispiel sehr deutlich in Bulgarien, dem ärmsten Land der EU. Im vergangenen Jahr

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Erhöhte Zuwanderung ist die direkte Folge einer Verarmungspolitik, die maßgeblich von der Bundesregierung vorangetrieben wird. Seit Beginn der Euro-Krise vor vier Jahren strömen immer mehr Menschen aus dem Ausland in die Bundesrepublik. Im Jahr 2013 lag der Saldo von Zu- und

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Die EU verfolgt eine gezielte Verarmungspolitik

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Nicht Zuwanderer plündern die Sozialkassen, sondern Reiche und Konzerne. Dass die Bevölkerung in Deutschland Zuwanderung mehrheitlich ablehnt, hat zum einen mit rassistischen Vorurteilen zu tun. Einen weit größeren Anteil daran hat aber die weitverbreitete Furcht, dass Sozialsysteme und öffentliche Daseins-

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© Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

ist die Arbeitslosigkeit offiziell auf 12,4 Prozent, unter Jugendlichen sogar auf 28,3 Prozent gestiegen. Laut Caritas haben vierzig Prozent der Kinder nicht genug zu essen. Diese Situation ist das direkte Resultat der Sparpolitik der Regierung, die dem Land erst vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und später von der EU vorgeschrieben wurde. Obwohl Bulgarien mit 16,3 Prozent des BIP einen extrem niedrigen Schuldenstand hat, fordert die EU immer weitere Reformen und Deregulierungen. Erst 2005 wurden die Elektrizitätsunternehmen privatisiert. Kurz nach dem Beitritt zur EU im Jahr 2008 führte das Land dann eine sogenannte »Flat Tax« mit einem einheitlichen Steuersatz von zehn Prozent ein. Das sollte Investoren locken und Reiche zum Steuerzahlen motivieren. Doch für die ohnehin schon dürftigen sozialstaatlichen Leistungen fehlt jetzt das Geld. In Rumänien ist die Lage ähnlich. Im Jahr 2009 hatten Präsident Traian Basescu und Ministerpräsident Emil Boc dem verarmten osteuropäischen Land ein drakonisches Kürzungsprogramm verordnet. Die Regierung senkte die Gehälter im öffentlichen Dienst um ein Viertel, erhöhte die Mehrwertsteuer von 19 auf 24 Prozent, kürzte das Arbeitslosengeld und die Sozialleistungen und entließ hunderttausende staatliche Angestellte. Außerdem wurden Privatisierungen in großem Umfang vorbereitet, auch im Bildungs- und Gesundheitswesen. All dies geschah auf Druck des Internationalen Währungsfonds und der EU. Hierbei waren es vor allem deutsche Konzerne, die sowohl von den Privatisierungen als auch von den niedrigen Löhnen vor Ort profitierten. Die Politik der reichen EU-Länder führt also zu Armut in den ärmeren EU-Ländern und damit auch zu verstärkter Migrationsbewegung. Gleiches gilt für die außereuropäischen Herkunftsländer von Flüchtlingen. So hat die EU in den 1990er Jahren zusammen mit dem IWF und der Weltbank die Liberalisierungsund Privatisierungspolitik in den nordafrikanischen Ländern Ägypten und Tunesien vorangetrieben. Die neoliberalen Umstrukturierungen der Wirtschaft in beiden Ländern haben entscheidend zu wachsender Armut, hoher Arbeitslosigkeit und steigenden Preisen beigetragen. Dazu hat die EU in den letzten Jahren massiv Rüstungsgüter nach Nordafrika exportiert. Damit trägt sie eine Verantwortung für Flucht und Vertreibung.

vorsorge an ihre Grenzen gelangen und zusätzliche Belastungen nicht stemmen können. Doch ist die Furcht vor der »Einwanderung in die Sozialsysteme« ein Schreckgespenst, das nichts mit der Realität zu tun hat. Das gilt insbesondere für die zuletzt in den Fokus genommenen Einwanderer aus Osteuropa. Bei den in Deutschland lebenden Menschen aus Bulgarien und Rumänien liegt die Arbeitslosenquote mit 9,3 Prozent zwar über dem Niveau der Gesamtbevölkerung (7,4 Prozent), aber deutlich unter dem Niveau aller Ausländer (15,9 Prozent). Zudem gibt es extreme Unterschiede zwischen armen und reichen Städten. In Berlin liegt die Arbeitslosenquote unter Zuwanderern aus Bulgarien bei 20,9 Prozent, in Stuttgart bei 5,4 Prozent. Die letzte verlässliche Erhebung zu der Frage, was Zuwanderung den deutschen Staat kostet, stammt aus dem Jahr 2009. Damals erhielten in Deutschland 32 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund steuerfinanzierte Transferleistungen – also zum Beispiel Arbeitslosengeld II, Wohngeld oder Kindergeld. Unter den Einheimischen lag der Anteil bei 20 Prozent, also deutlich niedriger. Ein Grund hierfür ist, dass die Arbeitslosenquote von Menschen mit Migrationshintergrund doppelt so hoch ist wie bei den in Deutschland geborenen. Denn nach wie vor werden viele Migrantinnen und


Migranten in Schule, Hochschule und auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Weil sie stärker von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind, muss auch ein größerer Anteil der ausländischen Einwohnerinnen und Einwohner Sozialleistungen beantragen. Allerdings haben weit weniger Menschen Anspruch auf Sozialtransfers, als oft behauptet wird. EU-Bürger bekommen etwa nur dann Arbeitslosengeld, wenn sie bereits drei Monate Vollzeit in Deutschland gearbeitet haben. Dennoch besteht ein erhöhter Bedarf an öffentlicher Daseinsvorsorge für Zuwanderer, etwa in Form von Sozialleistungen, Kitaplätzen, Bildungsangeboten oder Sprachkursen. Darauf wies Anfang des vergangenen Jahres der Deutsche Städtetag in einem Positionspapier zur Zuwanderung hin. Es beschreibt aus kommunaler Sicht den Handlungsbedarf, der sich aus der Einwanderung von bulgarischen und rumänischen Staatsbürgern ohne Sprachkenntnisse, soziale Absicherung und berufliche Perspektive ergibt: Es gebe Obdachlosigkeit, Bettelei und Verwahrlosung. Das kommunale Bildungs-, Sozialund Gesundheitssystem sei überfordert. Die Städte plädieren jedoch nicht für Abschottung, sondern fordern in erster Linie die Unterstützung von Land und Bund bei der Bewältigung der Integration. Damit bringen die Autoren des Papiers einen zentralen

Punkt in die Diskussion ein, der von der CSU vollständig unterschlagen wird: die willentlich herbeigeführte Krise der öffentlichen Hand, die bedrohliche Ausmaße angenommen hat und Deutsche wie Zuwanderer gleichermaßen betrifft. Besonnene Kommentatoren weisen in der Zuwanderungsdebatte zwar oft darauf hin, dass Deutschland ein reiches Land ist, das über die Ressourcen verfügt, auch steigende Ansprüche in Folge von Zuwanderung zu finanzieren. Doch diese Ressourcen sind nicht da, wo sie gebraucht werden. Erhebliche Steuererleichterungen für Reiche, Kapitaleigner und Konzerne und zugleich ein strikter Sparkurs für Bund, Länder und Kommunen haben zu einer starken Konzentration von privatem Reichtum bei gleichzeitig steigender öffentlicher Armut geführt. Die ärmsten fünfzig Prozent der Haushalte verfügen nur über gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens in Deutschland. Die reichsten zehn Prozent der Haushalte nennen mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens ihr Eigen. Dieser Anteil ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen, von 45 Prozent im Jahr 1998 auf 55 Prozent im vergangenen Jahr. Umgekehrt hat die öffentliche Hand seit dem Jahr 1999 durch Steuersenkungen fast 236 Milliarden Euro verloren – wobei 81,4 Milliarden Euro auf den Bund, 137,1 Milliarden auf die Län-

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Solidarität mit dem Kampf der Flüchtlinge: Politiker der LINKEN im Gespräch mit Refugees vor deren Protestcamp am Brandenburger Tor. Die etwa dreißig Asylbewerber waren vergangenen Oktober elf Tage lang im Hungerstreik. Sie fordern die Abschaffung der Residenzpflicht und eine Arbeitserlaubnis

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der und 17,1 Milliarden auf die Gemeinden entfallen. Die Zukunft der öffentlichen Daseinsvorsorge ist also tatsächlich bedroht – allerdings nicht durch Zuwanderer, sondern durch Reiche, Konzerne und

Den Arbeitern blieb am Ende 1,09 Euro pro Stunde ihre Regierungen. Die derzeitige Debatte über den vermeintlichen dreisten Griff der Zuwanderer in die Sozialkassen soll von der tatsächlich seit Jahren stattfinden Ausplünderung der öffentlichen Haushalte durch die Eliten ablenken.

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Die Wirtschaft ist zwar für Zuwanderung, aber nur, wenn sie ihr nützt. Auffällig war der Gegenwind, den die CSU für ihre Forderung nach Begrenzung der Zuwanderung aus den Reihen der Wirtschaft erntete. So ließ der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Hans Peter Wollseifer, verlauten: »Wir stellen gerne Lehrlinge aus Rumänien und Bulgarien ein«, und »wir suchen arbeitswillige Facharbeiter aus Osteuropa«. Hier zeigt das Bürgertum sein Menschenbild: Kommen kann, wer nützlich ist. Nützlich für die Kapitalakkumulation, versteht sich. Und richtig, aus Sicht der Unternehmen ist es günstiger, wenn die Kosten für die Ausbildung ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter in der Ukraine bezahlt werden. Und natürlich sind billige Arbeitskräfte auch gerne gesehen. Denn sie sind ein brauchbares Instrument, um Belegschaften zu spalten und zu erpressen. Diese Haltung hat mit Menschenfreundlichkeit nichts, mit Ausbeutung hingegen sehr viel zu tun. Am 19. August 2013 strahlte die ARD die Reportage »Deutschlands neue Slums – das Geschäft mit den Armutseinwanderern« von Isabel Schayani und Esat Mogul aus. Diese enthüllte die katastrophalen Arbeits- und Existenzbedingungen, unter denen Wanderarbeiterinnen und -arbeiter leben. Gezeigt wurden Menschen, die versuchen, Arbeitslosigkeit, Hunger, Krankheit und Kriminalität in den Slums ihrer Heimatländer zu entkommen. Entweder schlagen sie sich auf eigene Faust nach Deutschland durch oder vertrauen sich skrupellosen »Vermittlern« an. Diese versprechen tariflich abgesicherte Arbeitsverträge und die Bereitstellung von Wohnraum. Stattdessen zwingen sie die Menschen in die Sklaverei. Eine Bulgarin schuftete mit Werkvertrag beim Tönnies Fleischwerk an sechs Tagen in der Woche jeweils zwölf Stunden als Fleischzerlegerin, bis sie körperlich zusammenbrach. Sie war über ein Subunternehmen beschäftigt und eine Krankmeldung

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hätte die sofortige Kündigung bedeutet. Tönnies nahm im Jahr 2011 in Deutschland mit der Schlachtung von 16 Millionen Schweinen und einem Jahresumsatz von 4,5 Milliarden Euro den Spitzenplatz der Branche ein. Die Firma erhielt im Jahr 2008 aus dem Europäischen Garantiefonds für Landwirtschaft Agrarsubventionen in Höhe von 2,67 Millionen Euro. Der Unterstützung durch die EU tun die seit Jahren veröffentlichten Berichte über die skandalösen Arbeitsbedingungen offenbar keinen Abbruch. Ende des Jahres 2012 gelangte der Fall von dreizehn rumänischen Arbeitern an die Öffentlichkeit, die beim Bau des exklusiven Europaviertels im Frankfurter Stadtteil Gallus durch den Generalunternehmer Dreßler Bau einen wahren Albtraum erlebt hatten. Das Subunternehmen, bei dem sie einen Vertrag unterschrieben hatten, führte sie ohne ihr Wissen als Selbständige. Anwerber in Rumänien hatten einen Arbeitsvertrag mit 1200 Euro Monatslohn, freier Unterkunft, Transport und Verpflegung versprochen. Tatsächlich aber wurden ihnen alle möglichen Posten vom Lohn abgezogen. Den Arbeitern blieb am Ende 1,09 Euro pro Stunde. Zuerst hausten sie in einer leeren Fabrikhalle, in der sich fünfzig Arbeiter eine Toilette teilten, anschließend wohnten sie zu dreizehnt in einer Dreizimmerwohnung. Im März 2013 kamen katastrophale Zustände beim Bau der Ferienanlage Bostalsee, einem Projekt der saarländischen Koalitionsregierung aus CDU und SPD, an die Öffentlichkeit: Fünfzig rumänische Bauarbeiter hatten seit Dezember des Vorjahres keine Löhne mehr bekommen. In ihren Unterkünften gab es nicht einmal Matratzen. Die Generalunternehmerin, die niedersächsische Firma IETC, schob in einem Brief an den Saarländischen Rundfunk die Verantwortung auf ihren Subunternehmer. Kein Wunder, dass der Chef vom Handwerksverband Wollseifer sagt: »Ich halte nichts von einem Mindestlohn von 8,50 Euro.« Ein allgemeiner Mindestlohn, der auch Leiharbeitsfirmen und Subunternehmerkonstruktionen umfasst, würde solchen Ausbeutungspraktiken einen Riegel vorschieben und so die Profite der Wirtschaft bedrohen.

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Linke sollten gegen eine Begrenzung der Zuwanderung und für gemeinsamen Widerstand von Deutschen und Migranten auftreten. Angesichts dieser Zustände müssen wir als Linke in der Zuwanderungsdebatte zunächst einmal benennen, worum es wirklich geht: um Spaltung. Die CSU treibt hier keineswegs die Sorge um die sozialen Sicherungssysteme um. Vielmehr befürchtet sie, dass sich zunehmende soziale Ängste gegen die Verantwortlichen in Regierung und Konzernetagen richten könnten. Deshalb versucht sie im Verbund mit einem Teil der Medien, diese Ängste gegen Zuwan-


York Berlin / CC BY-ND / flickr.com ©

Obdachloser auf einer Bank am Berliner Spreeufer: In viele deutschen Städten lässt sich die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich im Alltag beobachten. Laut dem Sozialbericht von 2013 sind Migrantinnen und Migranten fast doppelt so häufig von Armut betroffen

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derer umzulenken. Wir hingegen sollten uns gegen eine Begrenzung der Zuwanderung und für offene Grenzen einsetzen. Nur gemeinsamer Widerstand kann eine Umverteilung erzwingen. Der Reichtum in Deutschland ist groß genug für alle Menschen, die hier leben, egal woher sie ursprünglich stammen. Er muss nur gerecht verteilt werden. Dass ein solcher gemeinsamer Widerstand durchaus möglich ist, hat sich im Jahr 2009 beim »Aufstand der Unsichtbaren« gezeigt. Damals streikten unter der Federführung der Gewerkschaft IG BAU Gebäudereiniger gegen Lohndumping. Es war der erste bundesweite Arbeitskampf von Putzfrauen und Fassadenreinigern in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Gewerkschaft zählte zu Streikbeginn 57.000 Mitglieder aus diesen Branchen. Sie stammten aus 55 verschiedenen Nationen. Während des zweiwöchigen Streiks lösten sich die vorher beschworenen Unterschiede zwischen Einheimischen und Migranten in Luft auf, denn das gemeinsame Interesse am Kampf gegen Billiglöhne stand im Vordergrund. Ähnliches geschah im Einzelhandelsstreik des vergangenen Jahres und im Rahmen der Solidaritätsbewegung mit Flüchtlingen in Hamburg. Der Aufbau solcher Kämpfe und die Solidarität mit ihnen sollte ein wesentliches Standbein linker Strategie sein. Denn wenn es nicht zu gemeinsamem Widerstand kommt, dann ist es völlig gleichgültig, wie viele Menschen in Deutschland leben: Die Minderheit wird unfassbar reich bleiben, während ein wachsender Anteil in immer größere Armut gedrückt wird – unabhängig von Staatsangehörigkeit und Herkunft. ■

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Ein Armutszeugnis Massengrab Mittelmeer: In der Nacht zum 3. Oktober starben vor der italienischen Küste bei Lampedusa fast 400 Menschen bei einem Bootsunglück. Verantwortlich für ihren Tod: die Europäische Union, die sich seit Jahrzehnten gegen Flüchtlinge abschottet

© UN Photo / OCHA / David Ohana / CC BY-NC-ND

Von Carolin Hasenpusch

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m 4. Dezember 2013 trat die EU-Kommisarin für Innenpolitik, Cecilia Malmström, vor die Presse, um einen Bericht der »Arbeitsgruppe für das Mittelmeer« vorzustellen. Groß war in den Wochen zuvor die allgemeine Empörung und die Betroffenheit über das Bootsunglück von Lampedusa. Die Arbeitsgruppe sollte Maßnahmen formulieren, wie sich zukünftig solche Tragödien vermeiden lassen. Doch das Er-

gebnis mutet zynisch an und macht deutlich, dass es der EU auch weiterhin um vor allem um eins geht: Den Schutz der europäischen Außengrenzen – und nicht um den der Flüchtlinge. So schlug die Arbeitsgruppe vor, die Zusammenarbeit mit Drittstaaten auszubauen, Fingerabdrücke von Flüchtlingen zu speichern und die Grenzsicherungsagentur Frontex auszubauen. Passend hierzu startete Anfang Dezember das europäische Grenzüberwachungssystem »Eurosur« (European Border Surveillance System), bei dem unter anderem Drohnen und Satelliten eingesetzt werden, um schneller »verdächtige Bewegungen« an der europäischen Außengrenze erkennen zu können. Anstatt ihre Asyl- und Migrationspolitik zu ändern, geht es der EU darum, wie sich ihre Strategien und Instrumente verbessern lassen. Doch eine rigorose Veränderung ist notwendig. Denn Lampedusa war kein Unglück, sondern die Folge jener Abschottungspolitik und Militarisierung, die die EU konsequent seit mehr als zwanzig Jahren betreibt. Die Zahl der Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr über das Mittelmeer nach Europa kamen, hat


laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) einen neuen Höchststand erreicht. Fast 45.000 Menschen nahmen die lebensgefährliche Reise auf sich. Diejenigen, die Europa erreichen, werden meist unter katastrophalen Bedingungen in Auffanglagern untergebracht. Doch keineswegs alle kommen an. Viele werden unterwegs abgefangen oder sterben während der Überfahrt. Verschiedene Schätzungen gehen von 17.000 bis 20.000 Toten in den vergangenen 25 Jahren aus. Die Zahlen derjenigen, die über das Mittelmeer kommen, sind nicht zuletzt deswegen so hoch, weil der Weg von Nordafrika mittlerweile fast die einzige Möglichkeit darstellt, nach Europa zu gelangen. Die Grenzanlagen zwischen Griechenland und der Türkei sind massiv ausgebaut worden und die Ägais wird immer stärker überwacht. Auch Osteuropa hat seine Grenzen zu den benachbarten Nicht-EU-Staaten mehr und mehr verriegelt. Laut IOM kamen die meisten Mittelmeer-Flüchtlinge auf Lampedusa an. Ihre Herkunftsländer waren vor allem Syrien, Somalia, Eritrea sowie die nordafrikanischen Staaten. Überall dort herrscht Krieg,

Die EU-Staaten diskutieren viel darüber, wie sie sich vor diesen Flüchtlingsströmen »schützen« können. Dass sie Mitschuld am Elend dieser Menschen tragen, versuchen sie hingegen zu verschleiern. Besonders deutlich wird diese Mitschuld in (Nord-)Afrika und im arabischen Raum. Vor allem auf drei Sektoren beeinflusst hier die Europäische Union die strukturellen Gegebenheiten. So hat sie zum einen in den 1990er Jahren zusammen mit dem IWF und der Weltbank die Liberalisierungsund Privatisierungspolitik in Ägypten und Tunesien vorangetrieben. Die neoliberalen Umstrukturierungen des Wirtschaftssektors in beiden Ländern haben entscheidend zu steigenden Preisen, wachsender Armut und hoher Arbeitslosigkeit beigetragen. Zum Zweiten hat die EU, allen voran Deutschland, in den vergangenen Jahren massiv Rüstungsgüter nach Nordafrika exportiert. Laut Amnesty International genehmigte die Bundesregierung allein zwischen 2005 und 2009 Waffenexporte im Wert von 77 Millionen Euro in die Region, darunter für Militärfahrzeuge, Munition und Kleinwaffen. Doch auch andere EU-Staaten wie Belgien, Bulgarien, Frankreich, Italien, Österreich und Tschechien haben regelmäßig Waffen in die nordafrikanischen Staaten geliefert, obgleich »schon damals ein erhebliches Risiko bestand, dass mit diesen Waffen Menschenrechtsverletzungen begangen werden«, wie ein Sprecher der Menschenrechtsorganisation betont. Der dritte Bereich, in dem die EU auf Nordafrika einwirkt, ist der der Nahrungsmittelpreise. Laut Weltbank haben sich seit 2005 die Preise für Lebensmittel um 80 Prozent erhöht, betroffen sind vor allem die Grundnahrungsmittel Reis und Weizen. Von den weltweit 36 Ländern, die gegenwärtig eine unmittelbare Nahrungsmittelkrise erleben, befinden sich 21 in Afrika. Neben klimatischen Gegebenheiten und wachsenden Bevölkerungszahlen hat gerade die Zu-

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Armut und Verfolgung. Allein neun Millionen Syrer sind im Moment auf der Flucht, so viele, dass die UNO von der »größten Flüchtlingskrise seit dem Völkermord in Ruanda« spricht. Und was macht die Europäische Union? Sie ignoriert diese Tatsache weitestgehend und hat bisher insgesamt gerade einmal 50.000 Syrer aufgenommen. Zum Vergleich: 840.000 syrische Flüchtlinge befinden sich allein im Libanon, 560.000 in Jordanien und bis zu 700.000 in der Türkei. Deutschland ist zwar eines der wenigen europäischen Länder, das einem Aufnahmeprogramm von syrischen Flüchtlingen zustimmte, doch die Zahl ist hier im internationalen Vergleich noch sehr gering. So hat die Bundesregierung zunächst die Aufnahme von 5.000 Flüchtlingen zugesichert und diese Zahl Ende vergangenen Jahres auf 10.000 aufgestockt. Angekommen sind hiervon bislang aber nur 1.780 Personen.

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den 1980er Jahren die Lebensmittelimporte in die Entwicklungsländer um sechzig Prozent gestiegen. Mittlerweile sind 75 Prozent der afrikanischen Staaten von der Einfuhr von Nahrungsmitteln abhängig. Diese Entwicklung bedroht die Existenzgrundlage lokaler Landwirte und verhindert das Wachstum afrikanischer Volkswirtschaften, da 37 der 52 Staaten Afrikas reine Agrarnationen sind. Angesichts dieser Misere ist es wenig verwunderlich, dass hunderttausende Afrikanerinnen und Afrikaner jährlich ihre Heimatländer verlassen.

© Noborder Network / flickr.com / CC BY-SA

nahme von Nahrungsmittelspekulationen und Wasserprivatisierungen erheblich dazu beigetragen. Die EU schadet Afrika und seiner Landwirtschaft vor allem durch ihre Agrarsubventionen. Sie ist der bedeutendste Handelspartner der afrikanischen Staaten: Einerseits stellt sie dem Kontinent die größte Summe an Entwicklungshilfe bereit, andererseits ist sie sein größter Exportmarkt. Jährlich führt Afrika mehr als 80 Prozent seiner Gemüse-, Obst- und Baumwollprodukte in europäisches Gebiet aus. Gleichzeitig wirkt die EU durch die Subventionierung der eigenen Landwirtschaft direkt auf die Weltmarktpreise ein. Als Konsequenz entsteht eine direkte, aber ungleiche Konkurrenz zwischen den afrikanischen und den europäischen Produkten. Dadurch werden einheimische Produkte in den Erzeugerländern oftmals viel teurer als die aus Europa importierten. Dies wiederum steigert die afrikanische Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten. Laut der UN-Welternährungsorganisation FAO sind seit

© Noborder Network / flickr.com / CC BY-SA

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Carolin Hasenpusch ist Soziologin und Redakteurin von marx21.

Rechts geht’s nach Italien (o.): Nur wenige Kilometer trennen Nordafrika von Europa. Trotzdem gelingt es den Wenigsten, diese kurze Strecke zu überwinden. Für viele ist die Flucht der einzige Ausweg – trotz staatlicher Grenzen (u.)

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Anstatt dafür Verantwortung zu übernehmen, forcieren die EU und speziell Deutschland das Gegenteil: Seit Mitte der 1990er Jahre verschärfen sie kontinuierlich ihre Asyl- und Flüchtlingspolitik. Der innereuropäischen Grenzöffnung durch das erste Schengen-Abkommen von 1986 folgten in den 1990er Jahren diverse Regelungen, um die europäischen Außengrenzen dichtzumachen. Statt den Schutz von Flüchtlingen sicherzustellen, wurde vielmehr der Schutz vor Flüchtlingen vorangetrieben. Vor allem nach dem 11. September 2001 rückte der Faktor »innere Sicherheit« zunehmend ins Zentrum der europäischen Asylpolitik. Zugleich verschärfte die EU Maßnahmen gegen sogenannte »illegale« Einwanderer. Wegweisend waren hier die Dublin IIVerordnung von 2003 sowie die Gründung der EUGrenzagentur Frontex im Jahr 2004. Hauptaufgabe von Frontex ist die Koordination der EU-Außengrenzen und die Ausbildung von Grenzschützern. Ihr Aktionsgebiet ist vor allem das Mittelmeer. Frontex versucht, Flüchtlinge bereits auf dem Meer abzufangen und zurück aufs afrikanische Festland zu schicken. Auf diese Weise verlagert sich die Grenze Europas auf das Mittelmeer. Die Europäische Kommission hatte sogar erwogen, die europäische Außengrenze direkt bis an die Küstengebiete Afrikas zu verschieben. Der Vorschlag wurde zwar noch nicht durchgesetzt, es wäre aber nur eine logische Konsequenz jener Politik, die Frontex seit Jahren verfolgt. Seit ihrer Gründung hat die Grenzagentur die Sicherung der Grenzen erheblich verschärft. Letztlich zielt sie darauf ab, Migration quasi unmöglich zu machen. Das »Abfangen« von Flüchtlingen durch Polizei oder Militär stellt diesbezüglich nur einen Aspekt dar. Auch bei Sammelabschiebungen tritt Frontex zunehmend in Erscheinung. Ihre Präsenz und ihre Kontrollen auf Flughäfen nehmen ebenfalls zu. Unter der Prämisse, ein »gemeinsames integriertes Risikoanalysemodell« zu erstellen, wächst außerdem der Datentransfer zwischen Frontex, Europol und einzelnen Regierungen. Dieser Austausch soll die EU-Mitgliedstaaten mit ausreichenden Informationen ausstatten, um Einwanderung möglichst zu unterbinden. Letztlich nimmt Frontex eine hybride Rolle zwischen Grenzpolizei und Geheimdienst ein.


Die traurige Bilanz ihrer achtjährigen Existenz: Zigtausende Tote (allein im Jahr 2011 starben laut UNHCR 1500 Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer zu fliehen) sowie unzählige Vermisste. Spitzenreiter in Sachen Abschottung ist Deutschland. Im vergangen Jahr wurden hierzulande laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 127.023 Asylanträge gestellt, was den höchsten Stand seit zwölf Jahren bedeutet. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg um 63,3 Prozent. Bei den Herkunfts-

de ärmere Gebiete und Länder von grenzüberschreitender Migration betroffen sind und nur ein geringer Teil der Flüchtlinge überhaupt in die westlichen Industrieländer kommt. Der UNHCR schätzt die Gesamtzahl der Flüchtlinge weltweit auf 45,2 Millionen. Davon sind 27 Millionen sogenannte »displaced persons«, also Menschen die innerhalb ihres Heimatlandes vertrieben wurden. Dies ist der höchste Stand seit Beginn der 1990er Jahre. Gründe hierfür sind zur einen Hälfte Verfolgung und gewaltsame Konflikte und zur anderen Umweltkatastro-

Anstatt Verantwortung zu übernehmen, verschärft die EU ihre Asylpolitik

In 44 Industriestaaten wurden laut UNHCR im ersten Halbjahr des vergangenen Jahres etwa 450.000 Asylanträge eingereicht. Das sind so viele wie im gesamten Jahr 2012. Noch höher sind aber die Zahlen in den sogenannten »Entwicklungsländern«. Denn transnationale Migrationen nehmen zwar tendenziell zu, aber der Großteil der Flüchtlinge bleibt noch immer in ihren Heimatregionen. Fakt ist, dass gera-

phen. Wirtschaftsflüchtlinge finden in diesen Zahlen noch keine Beachtung. Sorge bezüglich der Flüchtlingsströme ist demnach mehr als angebracht – allerdings nicht um den europäischen Wohlstand, sondern um das Leben von Millionen von Menschen, die keine andere Lösung sehen, als eine gefährliche Reise ins Ungewisse auf sich zu nehmen. Es ist davon auszugehen, dass die Flüchtlingsströme in den nächsten Jahren noch zunehmen werden. Auch die repressive Politik der EU wird daran nichts ändern. Für die vielen Tausend Menschen, die ihren Weg nach Europa antreten, bedeuten Abschottung und Kriminalisierung nur eins: mehr Gefahr. So stellen laut dem UN Population Fund Menschenhandel und Schlepperbanden weltweit bereits die drittgrößte Branche des organisierten Verbrechens dar. Durch eine weitere Aufrüstung der EU-Grenzen wird dieser Sektor nur noch wachsen. Das ist besonders für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Frauen extrem gefährlich. Für »illegale« Flüchtlinge, die in Deutschland arbeiten, wird dies zudem mit stärkerem Lohndumping sowie einer allgemeinen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen einhergehen. In den ärmsten Nationen der Welt führen die Flüchtlingsströme zu weiterer Verarmung. Dies kann wiederum fatale Folgen haben, etwa die Stärkung autoritärer Kräfte. Auch die Zunahme von ethnischen Konflikten und von Verteilungskämpfen innerhalb der armen Staaten, aber auch zwischen ihnen, ist wahrscheinlich. All das wird weitere Flüchtlingsströme zur Folge haben. Angesichts dessen ist das Mindeste, das wir von den EU-Staaten und insbesondere von der Bundesregierung fordern können: Die Grenzen zu öffnen und endlich Verantwortung zu übernehmen für die Opfer ihrer imperialistischen Politik. ■

★ ★★ ZUM TEXT Bei diesem Artikel handelt es sich um die stark überarbeitete Version eines Textes, der erstmals im Sommer 2012 in marx21 erschienen ist.

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regionen der Asylsuchenden liegt Russland an erster Stelle mit einem Anteil von 13,6 Prozent. Den zweiten Platz nimmt Syrien mit einem Anteil von 10,8 Prozent ein. Darauf folgt Serbien mit 10,5 Prozent. Mögen diese Zahlen auch hoch scheinen, so werden sie schnell relativiert: Sie liegen nicht nur unter dem weltweiten Durchschnitt, sondern sind auch im europäischen Vergleich sehr niedrig. Das lässt sich darauf zurückführen, dass die Bundesrepublik einer der Hauptprofiteure der Drittstaatenregelung ist. Diese Regelung sieht vor, dass Personen, die über einen »sicheren Drittstaat« einreisen, nicht das Recht auf Asyl wegen politischer Verfolgung geltend machen dürfen. Vereinfacht gesagt bedeutet das: Wenn man nicht mit einem Flugzeug nach Deutschland kommt oder über die Nord- und Ostsee, dann darf man hier keinen politischen Asylantrag stellen. Auf Basis dieser Regelung wurden bis Ende Juni vergangenen Jahres 2300 Menschen in andere EU-Staaten zurückgeschickt, ohne dass ihr Asylantrag auch nur überprüft wurde. So gibt die Bundesrepublik die Verantwortung für die »Flüchtlingsproblematik« an die krisengepeinigten Staaten an der europäischen Peripherie ab. Die reichen EU-Länder profitieren massiv davon. Zum Vergleich: In Griechenland befinden sich bei einer Bevölkerung von elf Millionen derzeit etwa eine Million Flüchtlinge.

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Ein anderes Klima Proteste gegen Flüchtlingsunterkünfte nehmen derzeit zu. Müssen wir Pogrome wie in den frühen 1990er Jahren befürchten? Ein Diskussionsbeitrag Von Avanti – Projekt undogmatische Linke, Berlin

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ie aktuelle rassistische Protestwelle gegen die Unterkünfte von Geflüchteten wird oft mit der Situation in den frühen 1990er Jahren verglichen. Bis November 2013 wurden mit 21 Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte doppelt so viele Angriffe gemeldet wie im Vorjahr und laut dem TV-Magazin Report Mainz mischte die NPD bundesweit bei 47 Aufmärschen mit. Der »braune Dienstag« in Berlin-Hellersdorf am 9. Juni 2013, als sich eine Versammlung unter tatkräftiger Mithilfe von Neonazis in einen rassistischen Mob verwandelte, die Angriffe auf eine Unterkunft von Roma in Duisburg oder die Fackelmärsche in der sächsischen Kleinstadt Schneeberg, an denen sich über 1.500 Menschen beteiligten, deuten auf eine neue Konjunktur rassistischer Mobilisierung hin. Wir wollen uns im Folgenden mit den aktuellen politischen Bedingungen beschäftigen und die politischen Unterschiede zur Situation Anfang der 1990er Jahre herausarbeiten. Wir wissen, dass wir zum Teil nur Schlaglichter werfen und Eindrücke schildern, aber wir hoffen, damit eine notwendige strategische Debatte in der Antifa anzuregen. Die Zahl der Menschen, die in der BRD Schutz suchen, steigt seit einiger Zeit wieder. Im vergangenen Jahr (2012, Anm. d. Red.) wurden rund 65.000 Asylanträ-

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ge in der BRD gestellt – im internationalen Vergleich eine Steigerung auf marginalem Niveau: Allein der Libanon hat 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Bund, Länder und Kommunen haben auf den erwartbaren Anstieg der Flüchtlingszahlen lange Zeit kaum reagiert und setzen nun auf eine Ausweitung von Massenunterkünften. Gleichzeitig haben Bundesinnenminister Friedrich (CSU) und andere schon frühzeitig die »Grenzen der Belastbarkeit« herbeihalluziniert und mit markigen Worten ein Bild gezeichnet, das mit der Realität nichts zu tun hat und nur dazu führt, irrationale Ängste zu bedienen. Auf diesen Zug sind NPD und andere extrem rechte Akteure aufgesprungen. Ihre Vorgehensweise ähnelt sich dabei. Statt unter eigener Flagge zu agieren, werden wie etwa bei der »Bür­gerinitiative Marzahn-Hellersdorf« (BMH) unverdächtig klingende Namen gewählt und per Facebook eine Plattform geschaffen, um niedrigschwellig ein interessiertes rechtes Klientel anzusprechen. Offene Gewaltandrohungen finden auf deren FB-Seite nicht statt, vielmehr sind die Neonazis bemüht, mit einem zurückhaltenden Auf­treten an rassistische Ressentiments anzuknüpfen (dies ist in Duisburg anders). Indem kritische Kommentare ausgeblendet werden, soll das Gefühl einer unbestrittenen Hegemonie innerhalb der sozialen Netzwerke erzeugt werden. Das Ziel: Ermutigung und

Selbstbestätigung der »Facebook-Freunde«. Dabei wird mit Parolen wie »Nein zum Heim« an ein »not in my backyard«Gefühl appelliert und über die Formulierung angeblich berechtigter Bürgerinteressen Sozialneid geschürt. Dies funktioniert nicht nur in Regionen mit einer hohen Armutsquote, sondern ebenso gut in bürgerlichen Quartieren. In Berlin-Reinickendorf umzäunten beispielsweise AnwohnerInnen einen Spielplatz, überzogen die Flüchtlingsunterkunft mit absurden Klagen und erhoben den Vorwurf, das Heim sei ein Epizentrum für Krankheiten und Kriminalität. Auch wird versucht, andere Vorschläge, wie die eigentlich sinnvolle Forderung nach Unterbringung in Wohnungen, aufzugreifen, wenn es darum geht, eine Unterkunft zu verhindern. NPD und Freie Kameradschaften halten sich dabei bei Aktionen auffällig zurück, zum Beispiel wurden in Schneeberg NPD-Logos auf Transparenten überklebt. Durch diese Mimikry-Strategie soll verhindert werden, dass der Distanzierungsdruck auf die HeimgegnerInnen zu stark wird. Nichtsdestotrotz stellt die NPD Argumentationshilfen zur Verfügung und versucht, die Anwohner_innenproteste ideologisch zu rahmen. So hat der Rostocker NPD-Landtagsabgeordnete Michael Andrejewski einen »Leitfaden zum


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Mob und Elite finden momentan noch nicht zusammen Umgang mit Asylanten in der Nachbarschaft« verfasst. Bereits 1992 hatte er die Stimmung im Vorfeld des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen mit einem Flugblatt in 100.000er Auflage angeheizt. Holger Apfel rief dazu auf, vor »Schaltzentren der Überfremdung Zeichen zu setzen: Also vor Moscheen und Asylantenheimen« (Deutsche Stimme, 09/2013), und auch praktisch wurde im Rahmen ihrer »Deutschlandtour« Hetze betrieben. Die NPD bemüht sich, im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die laufenden Auseinandersetzungen einzugreifen. Und das

partiell mit Erfolg: Bei den Wahlen gelang es ihr, in einigen Wahllokalen rund um die Flüchtlingsunterkunft in BerlinHellersdorf mit zehn Prozent ihre besten Wahlergebnisse in Berlin einzufahren. Gleichzeitig stößt die NPD aber auch an ihre Grenzen. Durch eigenständige NPDKundgebungen wollte sie in Berlin-Hellersdorf und darüber hinaus bundesweit wahrnehmbar als »Speerspitze« der Proteste erscheinen. Diese Profilierung ging allerdings auf Kosten der »Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf«. Deren Aktivitäten stagnierten parallel eher. Hier macht sich der Mangel an erfahrenen NPD-Kadern bemerkbar. Es hat aber auch mit den linken Gegenaktivitäten zu tun, durch die der Einfluss der »Bürgerinitative« eingedämmt werden konnte, wenn auch die BMH weiterhin aktiv ist. Zu beachten ist allerdings, dass die innere Zusammensetzung der rassistischen Mobilisierung in Schneeberg oder anderen Regionen mit einer relativ starken und stabilen Neo-

naziszene sich von der Situation in Berlin deutlich unterscheidet. Trotz der von Antifas befürchteten und von den Neonazis beschworenen Parallelität zu der Pogromstimmung zu Beginn der 1990er Jahre unterscheidet sich die aktuelle Situation deutlich: Das politische Establishment der BRD hat aktuell kein Interesse an einer gewaltförmigen rassistischen Mobilisierung. Zwar beklagt Innenminister Friedrich den Anstieg der Flüchtlingszahlen und fordert den Aufenthalt derer, »die nur aus missbräuchlichen oder asylfremden Gründen zu uns kommen«, schnell zu beenden. Allerdings suchen die Konservativen momentan nicht das »Bündnis von Mob und Elite« (Arendt), sondern bedienen sich der kalten Instrumentarien bürgerlicher Rechtsnovellen und Verwaltungshandelns. »Gewalt, Hass und Rassismus haben keinen Platz in diesem Land«, verkündete Angela Merkel. Eine neuerliche Debatte um »No-go Areas« und Alltagsterror durch Neonazis

TITELTHEMA Grenzen auf für alle

NPD-Aktion gegen Asylbewerber. In Berlin erzielten die Nazis ihre besten Wahlergebnisse in Wahllokalen rund um die Flüchtlingsunterkunft Hellersdorf

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Die rechte Stimmungsmache gegen Flüchtlingsunterkünfte sollte ein Warnsignal sein. Auch wenn momentan Mob und Elite (noch) nicht zusammenfinden, bleibt unter den Bedingungen der Krise die Gefahr einer rechten Formierung bestehen. In vielen Ländern Europas ist ein Ansteigen von Nationalismus und rassistischer Gewalt zu verzeichnen und faschistische Parteien bekommen Zulauf. Vor diesem Hintergrund hat der europäische Erfahrungsaustausch unter Antifaschist_innen über Gegenstrategien eine große Bedeutung. Unsere Aufmerksamkeit sollte deshalb nicht nur den Neonazis gelten, sondern

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soll vermieden werden, ohne an den Rahmenbedingungen von Dublin II und der alltäglichen Ausbeutung illegalisierter Arbeitskräfte zu rütteln. Während der Bundesinnenminister mit markigen Worten eine Abwanderung des rechtskonservativen Milieus zu verhindern versucht, bemüht sich die Kanzlerin, das Image des investitionsfreundlichen und weltoffenen Wirtschaftsstandorts zu wahren. In diesem aktuellen Staatskompromiss drückt sich der Versuch aus, die widersprüchlichen Fraktionen auszutarieren, um den »Erfolg« des deutschen Exportmodells zu sichern. Dieser Kompromiss drückt sich auch in den Medien aus. Das Berliner Boulevardblatt »BZ« machte mit einem Porträtfoto eines Geflüchteten auf: »Was habt ihr bloß gegen mich« (20.08.2013) und »Bild« erschien mit der Schlagzeile »Nazi-Schande von Hellersdorf« (20.08.2013). In den Mainstreammedien sind kritische Berichte über die rassistische Stimmungsmache an der Tagesordnung. Auch wenn viele Medien im Alltag zur (Re-)Produktion von rassistischen Bildern beitragen, verstärken sie an diesem Punkt nicht die rassistische Stimmung. Auch das ist ein wesentlicher Unterschied zur Situation in den frühen 1990er Jahren. Ebenso wie die innerhalb der Zivilgesellschaft in den letzten 20 Jahren entstandenen Initiativen und aufgelegten staatlichen Programme, die nun an vielen Orten eine wirksame Gegenöffentlichkeit herstellen. Wie etwa das bürgerliche »Hellersdorf hilft«, das neben dem antifaschistischen Bündnis durch Spendensammlungen das gesellschaftliche Klima vor Ort beeinflusst hat.

AfD-Chef Bernd Lucke rechnet fest mit einem Einzug seiner Rechtspopulisten in das Europaparlament

Die AfD stellt die Linke vor große Herausforderungen auch rechtspopulistischen Bestrebungen. Vor allem die Themen Migration, Islam und Europa zeichnen sich durch eine diskursive Verbindungslinie zwischen konservativen und faschistischen Argumentationsmustern aus. Die sogenannte Sarrazin-Debatte und das gute Abschneiden der Alternative für Deutschland (AfD) sind ein Ausdruck davon. Die AfD bündelt momentan noch eine diffuse Melange aus ordoliberalen, europaskeptisch-nationalistischen, elitären und rechtskonservativen Kräften. In ihr sammeln sich mittelständische Angstbürger und proletarische Deklassierte, die von der gemeinsamen Angst zusammengehalten werden, in der Krise rea-

le oder vermeintliche Privilegien zu verlieren. Die AfD versucht, sich momentan deutlich von offenen »rechtsextremistischen« Übernahmeversuchen abzugrenzen. Denn nur so kann sie gewährleisten, weiterhin als wählbare Alternative zu erscheinen. Zwar mag es uns in Einzelfällen gelingen aufzuzeigen, welche Verbindungen einzelne AfD-Mitglieder in die organisierte rechte Szene haben und hatten, aber dennoch stellt die AfD uns mitsamt dem »klassischen« Arsenal der Antifapolitik vor große Herausforderungen. Uns erscheint eine intensive Beschäftigung mit dem Parteiaufbau der AfD notwendig: Deren Parteichef Bernd Lucke hat noch in der Nacht der Bundestagswahl klar gemacht, dass man fest mit einem Einzug in das Europaparlament bei den Wahlen im Mai 2014 rechnet. Zudem stehen (…) Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen an, wo die AfD bei den Bun­des­tagswahlen überproportional gut abgeschnitten hat. Dass die AfD nicht davor zurückschreckt, rechts außen auf WählerInnenfang zu ge-


Die antifaschistische Bewegung steht vor zentralen Herausforderungen. Momentan sind wir mit einer Krise organisierter Antifagruppen konfrontiert. Die Koordinatensysteme antifaschistischer Arbeit haben sich seit dem »Antifasommer 2000« nachhaltig verschoben, die Antifabewegung hat darauf noch keine schlüssige Antwort geben können. Einerseits haben sich die politischen Rahmenbedingungen antifaschistischer und antirassistischer Arbeit verbessert, weil seitdem die »Bekämpfung des Rechtsextremismus« zur offiziellen Staatsdoktrin wurde. Dies wurde an vielen Orten von zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Initiativen genutzt, um den offenen Straßenterror der Neonazis zurückzudrängen. Durch die öffentliche Förderung von »Mobilen Beratungsteams« wurden diese Rahmenbedingungen verstetigt und politische Aufklärungsarbeit professionalisiert. Andererseits sind durch diese Entwicklung wichtige Aufgabenfelder der Antifaszene abhandengekommen und auf diese »zivilgesellschaftlichen« Einrichtungen übergegangen. Fundierte Einblicke in die Neonaziszene, ihr Umfeld und ihre politi-

schen Strategien ist seitdem kein Alleinstellungsmerkmal der autonomen Antifa, sondern auch über öffentlich geförderte Stellen beziehbar. Gleichzeitig versuchte die CDU-FDP-Regierung mit der »Extremismusklausel« die Legitimität antifaschistischer Politik anzugreifen und die Trennung zwischen »Linksextremisten« und »demokratischen Initiativen« zu forcieren. Als subkulturell präsente Szene und punktuell mobilisierungsfähige Bewegung funktioniert Antifa immer noch. In den Mühen der Ebenen der Alltagsarbeit zeigen sich jedoch deutlich Verschleißerscheinungen. Überregional relevante Demos und Blockaden werden von relativ wenigen Aktivist_innen organisiert, politisch handlungsfähig sind wenige Gruppen. Das auffällige Schweigen vieler Linker zu den NSU-Morden und die weitgehende Abstinenz der »Antifa« in der Debatte illustrieren diesen Zustand. Nichtsdestotrotz hat die Antifabewegung viel erreicht. Mit den Erfolgen von Dresden 2010ff. und zahlreichen verhinderten Neonaziaufmärschen quer durch die Republik haben wir die Neonaziszene geschwächt. Durch die Zusammenarbeit von bürgerlichen und autonomen Kräften und Aktionsformen wurde in vielen Regionen alltäglicher Neonaziterror zurückgedrängt. Auch gegen die rassistische Kampagne gegen die Flüchtlingsunterkünfte blieben Interventionen nicht ohne Erfolge, wie zum Beispiel in Hellersdorf. Aufgeschreckt durch die rassistische Stimmung beim »braunen Dienstag« engagierten sich einige wenige Berliner Gruppen zusammen mit einer aktiven und strategisch agierenden lokalen Antifagruppe intensiv bei der Vorbereitung des Bezugs der Unterkunft. Zentrale Kader der BMH wurden in diesem Rahmen geoutet, die Facebookseite der »Bürgerinitiative« durch kontinuierliche Beschwerden mehrfach abgeschaltet und mehrere niedrigschwellige Mitmachaktionen durchgeführt. Die Verbindungen zur NPD und militanten Kameradschafter­ Innen wurde aufgezeigt und von den Medien später aufgegriffen, eine gute Medienarbeit und FB-Seite flankierten dies. Insbesondere der »Hitlergruß« eines Anwohners wurde zum medialen GAU für die »Heimgegner« und verstärkte eine deutlich negative Stimmung gegenüber der Gruppe, deren offene Unterstüt-

zung in der Nachbarschaft danach deutlich schrumpfte. Durch die Schlagzeilen von »BZ« und »Bild« (siehe oben) wurde das »Anti-Nazi-Klima« verstärkt und die Zahl der SympathisantInnen für die BMH sank. Der Raum des öffentlich Sagbaren wurde deutlich eingeengt. Letztendlich führte der Druck gegen führende Aktivisten der BMH zu internen Spannungen und einer Vereinsgründung, mit der das Neonaziimage abgestreift werden sollte. Was als »Antifa-Feuerwehreinsatz« begann, entwickelte sich im Bündnis und durch Arbeitsteilung zwischen bürgerlichen Unterstützer_innen und Antifa zu einem Modell, das inzwischen nicht nur angewandt wird, wenn die Neonazis schon aktiv sind. So organisierte in Berlin-Britz die Initiative »Hufeisern gegen rechts« eine Versammlung, als bekannt wurde, dass vor Ort eine Flüchtlingsunterkunft eingerichtet werden soll. Durch eine gute Vorbereitung standen dann nicht die Flüchtlinge, sondern der Bezirk für seine Politik der Absonderung in der Kritik. Mittlerweile existiert ein berlinweites Treffen zur Vernetzung verschiedener lokaler Antifa- und Antiragruppen, in dem Aktivitäten koordiniert werden sollen. An vielen Orten gibt es breite Solidarisierungen mit den Geflüchteten und ihren Kämpfen. In dem neuen Bewegungszyklus von Kämpfen von Refugees steckt ein großes Potenzial, das es zu nutzen gilt. In der gegenseitigen und solidarischen Bezugnahme von Kämpfen um Migration und Antifaschismus liegen Verbindungslinien, die unbedingt aufgenommen werden sollten. Diese müssen aber auch eine Perspektive beinhalten, die die Menschen einbezieht, in deren Familiengeschichte Migrationserfahrung eingeschrieben ist. Wir wollen bei unserem Kongress »Antifa in der Krise?!« vom 11. bis 13. April 2014 in Berlin viele der in diesem Text aufgeworfenen Fragen diskutieren, Einschätzungen abgleichen und Strategien entwickeln. Wir freuen uns auf eine produktive Debatte mit euch. ■ ★ ★★ ZUM TEXT Wir dokumentieren hier einen Artikel, den die Gruppe Avanti für das »Antifaschistische Infoblatt« (Nr. 101, 4/2013) verfasst hat. Der Gastbeitrag trug den Titel »Antifa in der Krise?!«. Mehr zu Avanti unter: www.avanti-projekt.de.

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hen, hat selbst der elitär-blasierte Lucke deutlich gemacht. Das letzte Drittel seiner Reden handelte meist von den Themen Flüchtlingsheime und Zuwanderung. Insofern könnte die AfD durchaus zu einem wichtigen Resonanzboden für rassistische Stimmungen werden. Noch halten Galionsfiguren des »nationalliberalen« Lagers wie Thilo Sarrazin oder Arnulf Baring zur AfD Distanz, dennoch kann sie durchaus zum parteipolitischen Katalysator der mit diesen Namen verbundenen Themen werden. Sollte die parlamentarische Etablierung einer solchen »nationalliberalen« Partei gelingen, würden nationalistische und rassistische Themen einen parteiförmigen Ausdruck erhalten und die politische Tektonik der Bundesrepublik deutlich nach rechts verschieben. Diese Entwicklung würde auch den rechtskonservativen Kräften in der Union und FDP Aufwind geben. Entweder, weil sich durch die AfD perspektivisch eine Machtoption rechts der Union eröffnet, oder schon alleine deshalb, weil sich die Union in Konkurrenz zur AfD zu einer Kurskorrektur gezwungen sieht, um nicht weiter am rechten Rand an Zustimmung zu verlieren.

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Die verlorenen Kinder Blondes hellhäutiges Mädchen von dunkelhäutigen Roma entführt: In der Berichterstattung über den »Fall Maria« wurde kein rassistisches Klischee ausgelassen. Diese Hetze hat eine jahrhundertelange Tradition Von Achim Bühl ★ ★★

Achim Bühl ist Professor für Soziologie an der Beuth Hochschule für Technik in Berlin.

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M

itte Oktober 2013 in einer Romasiedlung im griechischen Farsala: Bei einer Hausdurchsuchung entdecken Polizisten ein etwa fünfjähriges Mädchen namens Maria, das im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern hellblondes Haar und grüne Augen hat. Die Polizisten nehmen das Mädchen mit. Ihre Begründung lautet: Das Kind sei ein Entführungsopfer, weil es aufgrund seines Aussehens nicht zu den Eltern gehören könne. Europaweit berichtet die Presse. Die Eltern, ein Roma-Paar, geben zunächst widersprüchliche Erklärungen ab, die griechische Polizei verhaftet sie. Ein DNA-Test belegt: Das Mädchen ist nicht das leibliche Kind von Eleftheria Dimopoulou und ihrem Partner Christos Salis. Die Zieheltern erklären, eine Roma aus Bulgarien habe ihnen das Kind als Säugling überlassen, weil diese nicht für das Mädchen sorgen konnte. Niemand glaubt ihren Aussagen. Etwa eine Woche nach der Verhaftung des griechischen Paars stürmen Polizisten in Irland die Häuser zweier Roma-Familien und entziehen ihnen ihre »blonden Kinder«. In beiden Fällen beweisen DNATests, dass es sich um die leiblichen Kinder handelt. In Italien verlangen Politiker der rechtspopulistischen Lega Nord von der Regierung, italienische Roma-Lager nach »blonden Kindern« zu durchsuchen. Nach mehrwöchiger Hysterie machen die Behörden Marias leibliche Mutter in Bulgarien ausfindig, wel-

che die Geschichte der Zieheltern bestätigt. Obwohl der Entführungsvorwurf in sich zusammenfällt, kommt Maria in ein Heim. Ergebnis der Kampagne: Eine getrennte Familie und eine zutiefst erschütterte und verunsicherte Roma-Gemeinde, die sich binnen Tagen einer europaweiten staatlichen Verfolgung sowie mobilisierter Ressentiments gegenübersah. Für Roma und Sinti wiederholt sich die Geschichte: Unter der österreichischen Kaiserin Maria Theresia (1717-1780) wurden Roma nicht nur zwangsweise angesiedelt, es wurden ihnen auch ihre Kinder weggenommen, sie sollten »christlichen Bürgern« übergeben und für den Bauernstand erzogen werden. Erschütternde Szenen spielten sich ab, Roma flehten die Behörden an, drohten mit Selbstmord und brachten sich nach Augenzeugenberichten um, weil sie am Verlust ihrer Kinder zerbrachen. Den Roma wurde es verboten, untereinander zu heiraten und unter Kaiser Joseph II. (1741-1790) gar, ihre Sprache zu sprechen. Auch indigene Völker waren auf dem ganzen Globus mit der aufgeklärten Zwangsassimilation des weißen Mannes konfrontiert. Noch in den Jahren von 1900 bis 1972 wurden den Aborigines in Australien ihre Kinder gestohlen. Regierungsbehörden betrachteten diese rassistische Maßnahme als ein geeignetes Mittel, um sie in die Gesellschaft des weißen Mannes zu integrieren, sie teilhaben zu lassen an Wohl-


© Giusi Barbiani / CC BY-NC / flickr.com

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Handelt es sich bei diesen Vorgängen um die Realität weißer Fürsorge, so ist der an die Roma gerichtete Vorwurf des Kinderdiebstahls hingegen nichts als ein rassistisches Märchen. Er stützt sich auch nicht auf die vereinzelten Fälle, in denen Roma in absolutistischer Zeit Widerstand übten, indem sie ihre eigenen geraubten Kinder befreiten, sondern auf die antisemitische Ritualmordlegende. Als antisemitisches Stereotyp war der Topos des Kinderdiebstahls nämlich bereits seit dem 12. Jahrhundert in Europa verbreitet. Man warf Juden vor, Christusmörder zu sein und christliche Kinder zum Pessachfest zu entführen und qualvoll zu töten. Roma bezichtigte man, Gehilfen der Juden beim Gottesmord gewesen zu sein,

die Nägel für das Kreuz Christi geschmiedet zu haben und ebenfalls christliche Kinder zu entführen. Wie die Juden wurden auch die Roma für den Ausbruch von Seuchen wie etwa der Pest verantwortlich gemacht, obwohl sie zum Zeitpunkt der ersten Pestwellen noch gar nicht in Europa waren. Diffamierte die christliche Gesellschaft des Mittelalters die Juden als verworfenes Volk, so diskreditierte man die Roma als vom Brudermörder Kain abstammend und folglich mit Fluch behaftet. Dem Bild des »ewigen Juden« entsprach das Bild vom ruhelos »umherziehenden Zigeuner«. Dieser sei zur Rastlosigkeit verurteilt, da er angeblich Maria und Joseph bei ihrer Flucht in Ägypten keine Unterkunft gewährt habe. Selbst der Historiker Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, der Ende des 18. Jahrhunderts Ressentiments gegen Roma salonfähig machte, begegnete dem Vorwurf des Kinderdiebstahls in der zweiten Auflage seines Werks »Die Zigeuner. Ein historischer Versuch« aus dem Jahre 1787 mit Misstrauen. Auch ihm war aufgefallen, dass das diskriminierende Motiv bereits gegen die Juden zu einer Zeit ins Feld gebracht worden war, als die Roma europäischen Boden noch gar nicht betreten hatten. Der Göttinger Professor hegte bereits den Verdacht, es handele sich beim Vorwurf des Kinderdiebstahls um einen Transfer aus dem Arsenal des Antisemitismus. Im sogenannten »Judenspiegel«, einem Machwerk des Frühantisemitismus aus dem Jahre 1817, heißt

Kinder im rumänischen Medgidia. Die Roma leben am Rande der Stadt in Barackensiedlungen. Schon seit mehr als 500 Jahren wird diese Minderheit in Europa diskriminiert und verfolgt

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stand, Bildung und Erziehung. Die Wirklichkeit war eine »gestohlene Generation« traumatisierter Menschen, die häufig in Institutionen der »Wohlfahrtspflege« oder Privatfamilien ausgebeutet, geschlagen oder sexuell missbraucht wurden. In der Schweiz wurden den Jenischen sowie dem fahrenden Volk ebenfalls noch bis Anfang der 1970er Jahre die Kinder gestohlen. Wolle man das Umherziehen erfolgreich bekämpfen, so lautete das Credo des schweizerischen »Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse«, müsse man versuchen, »den Verband des fahrenden Volkes« durch das Auseinanderreißen der Familiengemeinschaft »zu sprengen«.

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es: »Bekannt ist überdies, daß die Juden theils aus Sucht zur Proselytenmacherey, theils aus anderen Gründen häufig Christenkinder stehlen, sie als die ihrigen erziehen, und sie nachher als ihre Knechte gebrauchen.« Der Autor Hartwig von Hundt-Radowsky, ein eliminatorischer Antisemit, fährt fort: »So wie die Juden und Zigeuner in Sprache, Sitten

Griechische Polizisten agieren wie NS-Rassegutachter und äußere Bildung auffallende Aehnlichkeiten haben, und daher auf gleiche Abstammung schließen lassen, so ist auch unter beiden das Verbrechen des Kinderdiebstahls gemein. Manche werden zu gutem Preise verkauft (…), manche werden von ihren angeblichen Eltern zu Taschenspielerkünsten und Diebereien gebraucht, und eine Menge dieser gestohlenen Christuskinder wird sogar von den Juden geschlachtet, die mit dem Blute der bedauerungswürdigen Opfer alberne und abergläubische Gebräuche vornehmen.« Der Frevel der »Zigeuner«, so der Autor weiter, bestünde in kleineren Diebstählen, Wahrsagereien und Kinderraub. Insofern sein Hass auf die Juden ungleich stärker ist, schreibt er, dass im Unterschied zu den Juden Kindermord bei den »Zigeunern« selten sei. Illustrationen oder Gemälde, die einen fiktiven Kinderdiebstahl durch Roma darstellen, zeichnen sich bis in das 19. Jahrhundert durch ihren Hautfarbenrassismus aus. In der konzentrischen Mitte der Bilder befindet sich das kleine hellhäutige Kindlein, umgeben von den »dunklen Fremden«, die ihr Diebesgut inspizieren. Nicht zuletzt durch seine weite literarische Verbreitung (Miguel de Cervantes, Clemens Brentano, Achim von Arnim und andere) ist das Ressentiment des Kinderdiebstahls ein tief in das europäische Kollektivbewusstsein eingegrabenes Stereotyp, das offensichtlich stets aufs Neue aktivierbar ist, wie der »Fall Maria« belegt. Die Revitalisierung lässt sich als psychoanalytische Projektion interpretieren: Es ist ein »Haltet den Dieb«-Ruf einer weißen Gesellschaft, die sich im Unterbewusstsein verantwortlich weiß für den Diebstahl von Kindern weltweit, der anhält und keineswegs nur ein historisches Kapitel von gestern ist. So besteht der Skandal nicht nur in der rassistischen Berichterstattung über den »Fall Maria«, sondern eben auch in dem Faktum, dass man den sozialen Eltern im griechischen Farsala nach der Klärung des Sachverhalts keineswegs das Kind zurückgibt, sondern es zur Adoption freigibt. Damit setzt sich der Kinderdiebstahl seit Maria Theresias Zeiten fort. Mir ist kein einziger Presseartikel bekannt, der dagegen

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protestiert und diesen Sachverhalt als das benannt hätte, was er ist: ein skandalöser Rassismus. Was wirft man den sozialen Eltern in Bezug auf das Mädchen Maria vor, nachdem sich keine einzige der Anschuldigungen als haltbar erwies, die sich in Presseartikeln von Formulierungen wie »(bandenmäßiger) Kindesentführung«, »geplanter Zwangs­ verheiratung«, »zum Betteln geschickt«, »den Tanzbär machen«, »für den Organhandel gestohlen« bis zu weiteren hetzerischen Stereotypen erstreckten? Man wirft ihnen vor, dass sie »Zigeuner« sind und diese Diskriminierung wird im aufgeklärten Europa durch den Satz kaschiert, die sozialen Roma-Eltern hätten das Kind nicht ordnungsgemäß zur Adoption angemeldet. Das soll wohl ein schlechter Witz sein. Roma machen tagtäglich Erfahrungen mit Behördenvertretern wie der Polizei (und dies nicht nur in Griechenland und Irland), die sie ganz offensichtlich im Geiste eines Racial Profiling überprüft und sie der bandenmäßig organisierten Entführung bezichtigt, wenn die Hautfarbe der Kinder heller ist als die der Eltern und ihnen ihre Kinder entzieht. Angesichts dessen sollten die sozialen Eltern von Maria zum Amt gehen und eine Adoption für ein nichtleibliches Kind beantragen? Es spricht durchaus für ihren Realitätssinn, wenn sie davon ausgegangen sind, dass die griechischen Beamten nur ein müdes Lächeln übrig gehabt und den »blonden Engel« einem griechisch-orthodoxen wohlhabenden »blonden Paar« zwecks Adoption übergeben hätten. Der »Fall Maria« ist ein Lehrstück in Sachen Rassismus, bei dem sich institutioneller Rassismus, Sozialrassismus, Hautfarbenrassismus, biologistischer Rassismus, Antiziganismus und medialer Rassismus die Hand reichen. In meiner Zeit als Hochschullehrer in Heidelberg hatte ich eine Universitätskollegin mit einem aus Vietnam adoptierten Kind. Habe ich diese Kollegin jemals gefragt, wie oft sie auf der Hauptstraße von der Polizei angehalten und nach ihren Adoptionspapieren gefragt worden sei? »Natürlich« nicht, denn sie wird all die Jahre nicht ein einziges Mal im öffentlichen Raum danach gefragt oder gar »vorsorglich« verhaftet und mit auf die Wache genommen worden sein. Institutioneller Rassismus wird in ganz Europa daran deutlich, dass sich eben Sinti und Roma oder Schwarze im Fokus der Polizei befinden und mitnichten eine weiße, wohlhabende Frau mit einem Kind vietnamesischer Herkunft. Institutioneller Rassismus liegt dann vor, wenn man sozialen Eltern wie im Fall Maria das Sorgerecht entzieht, weil sie Roma sind, und dies wie Maria Theresia gedanklich damit legitimiert, das Kind werde es bei einer »situierteren Familie« besser haben. In zehn Jahren, so rechtfertigt ein griechischer »Kinderschützer« den Kinderdiebstahl, werde Maria »wahrscheinlich nur noch wenig von ihrer Herkunft


Gerd Fesser: Deutschland und der Erste Weltkrieg

Gerd Fesser analysiert die Rivalität der imperialistischen Großmächte, die im August 1914 in den Großen Krieg mündete. Er behandelt den Kriegsverlauf und die innenpolitischen Entwicklungen sowie die Revolutionen in Russland und Deutschland. Urte Sperling: Die Nelkenrevolution in Portugal

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April 1974: Revolutionäre Militärs stürzen eine faschistische Diktatur und scheinen entschlossen, im Bündnis mit einer kämpferischen ArbeiterInnenbewegung eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Wer waren die Akteure, was haben sie erreicht und was ist geblieben? Hartmut Tölle / Patrick Schreiner (Hg.): Migration und Arbeit in Europa 229 Seiten | € 14,90

Zu den ganz unterschiedlichen Gründen für die verstärkte Migration aus Süd- und Osteuropa und über die inakzeptablen Arbeitsund Lebensbedingungen der MigrantInnen, die Funktion von Migration für den EU-Binnenmarkt und ihre Auswirkungen. Andreas Wehr: Der europäische Traum und die Wirklichkeit | Habermas, Rifkin, Beck und die anderen | 141 S. | € 12,90

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wissen«. Die Öffentlichkeit werde keine Kenntnis davon erhalten, wo sie ist und wer ihre neuen Pflegeeltern seien. Im Netz kommentiert ein Blogger: »Das ist definitiv die beste Lösung für das Mädchen. Die Regierungen Europas sollten kein Kind in derartigen Verhältnissen und ohne Chancen auf Bildung aufwachsen lassen.« Statt Verbesserung der sozialen Lage für Sinti und Roma, statt Hilfe und einem entschiedenen Nein zu Ressentiments liest man hier ein unverhohlenes Ja zu einem erneuten Kinderdiebstahl à la Maria Theresia sowie des preußischen Staates im 18. und 19. Jahrhundert. Die Lösung eines sozialen Problems besteht für den Blogger in der Zwangswegnahme aller Kinder durch »aufgeklärte Anstalten« der Mehrheitsgesellschaft. Roma haben eben keine Rechte. Mit einem derartigen Rassismus steht der Blogger keineswegs allein, sonst hätte schließlich irgendjemand der europäischen Mehrheitsgesellschaft den griechischen »Kinderschützer« einen Rassisten genannt. Lediglich das Agieren der Polizei in Irland, welches traumatisierte Roma-Familien hinterließ, wurde seitens der Öffentlichkeit verhalten problematisiert. Wie alltäglich der Rassismus in Deutschland und ganz Europa ist, legt der »Fall Maria« in aller Klarheit offen. Ein Roma-Mädchen wird medial zum entführten arischen Christuskind stilisiert, umgeben von dunklen, finsteren Gestalten. »Blonder Engel« contra »schwarze Teufel« – so die bildliche wie textliche Suggestion. Griechische Polizisten geben sich als NS-Rassegutachter zu erkennen und urteilen, dass Kind müsse angesichts seiner Gesichtszüge aus »Ost- oder Nordeuropa stammen«. Auch im 21. Jahrhundert gelten »Rassen« noch immer nicht als reine Fiktion des Rassisten, sondern stellen in den Köpfen der Menschen existente Größen dar, so dass ein blondes Kind ein »Arier« sein muss. Selbst wenn sich dies nicht halten lässt, soll ein hellhäutiges Roma-Mädchen zwangsweise in die Gemeinschaft des weißen Mannes integriert werden, um »Rasseschranken« zu wahren und wertvolles »Rasseblut« nicht zu verschütten. Blond und hellhäutig war auch das Vermessungskriterium von NSRassefanatikern, die im besetzten Polen Tausende Jungen und Mädchen ihren Eltern entrissen, um sie »arischen Ersatzeltern« zu übergeben, damit »rassisch wertvolles Material« der »deutschen Volksgemeinschaft« nicht verloren gehe. Polnische Kinder und Eltern zerbrachen an diesem faschistischen Kinderraub. Es ist an der Zeit, gegen die unerträgliche Diskriminierung von Sinti und Roma aktiv zu werden, und dazu zählt auch, dass das Wort »Rasse« endlich aus dem Grundgesetz (Artikel 3) und aus dem Antidiskriminierungsgesetz (Paragraph 1) verschwindet. Rassismus fängt dann an, wenn man von »Rasse« als empirischer Größe spricht. ■

★ ★★ Weiterlesen Udo Engbring-Romang, Wilhelm Solms (Hrsg.): »Diebstahl im Blick«? Zur Kriminalisierung der »Zigeuner« (Seeheim 2005). Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe (Zürich 1987). Wilhelm Solms: Zigeunerbilder. Ein dunkles Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Von der frühen Neuzeit bis zur Romantik (Würzburg 2008). Wolfgang Wippermann: Rassenwahn und Teufelsglaube (Berlin 2013). Wolfgang Wippermann: Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich (Berlin 1997).

TITELTHEMA Grenzen auf für alle

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WELTWEITER WIDERSTAND

USA »Hat jemals irgendwo ein Checkpoint aus dieser Welt eine bessere gemacht?« Mit solchen Slogans auf Plakaten bewaffnet haben Ende Dezember Demonstranten einen Kontroll32

punkt an der mexikanischen Grenze in Arivaca, Arizona, lahmgelegt. Die etwa hundert Protestierenden aus der Umgebung fühlen sich von den martialischen Grenzpatrouillen

bedroht. Sie berichten, dass lateinamerikanisch aussehende Einwohnern des Dorfes immer wieder Opfer rassistischer Kontrollen werden.


Vorwärts in die Vergangenheit Schuften bis zum Umfallen und brutale staatliche Unterdrückung. Arbeiterinnen und Arbeiter in Kambodscha leben unter frühkapitalistischen Bedingungen. Die sind ein Produkt des technischen Fortschritts Von Tomasz Konicz

© leah peachtree / flickr.com / CC BY-NC-SA

A

nfang Januar hat die kambodschanische Militärpolizei das Feuer auf streikende Textilarbeiterinnen und -arbeiter eröffnet, um den seit Wochen andauernden Streiks und Protesten das Genick zu brechen. Nicht nur das mörderische Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Streikenden in Kambodscha weckt Erinnerungen an die staatlichen »Befriedungsaktionen« im Europa und den USA des 18. und 19. Jahrhunderts. Auch die Arbeits- und Lebensbedingungen der kambodschanischen Textilarbeiterinnen ähneln jenen dieser Zeit: unmenschlich lange Arbeitszeiten, Hungerlöhne und Kinderarbeit. Seit dem Jahreswechsel befinden sich rund 400.000 Arbeiterinnen im Ausstand – rund zwei Drittel aller Beschäftigten in der Textilindustrie des verarmten südostasiatischen Landes. Mit der massiven Streikwelle wollten die Gewerkschaften eine Verdoppelung des Mindestlohns in Kambodscha erreichen, der derzeit bei umgerechnet 80 US-Dollar pro Monat liegt. Der Textilsektor hat sich inzwischen zu der wichtigsten Exportbranche Kambodschas entwickelt. Sein Aufstieg – wie auch der der gegenwärtigen Streikbewegung – verdankt sich den frühkapitalistisch anmutenden Zuständen in diesem Wirtschaftszweig. Mitunter werden mörderische Wochenarbeitszeiten von achtzig Stunden gemeldet, bei denen die Arbeiterinnen binnen weniger Monate buchstäblich verheizt werden. Mädchen von 13 oder 14 Jahren müssen oftmals an Wochentagen Schichten von 13 Stunden durchstehen, um dann noch am Samstag für acht Stunden in die Fabrik getrieben zu werden. Die toten Streikteilnehmerinnen in Kambodscha wecken Erinnerungen an eine

Tragödie, die den Textilsektor in Bangladesch im vergangenen Jahr erschütterte. Mehr als 1100 Arbeiterinnen sind Ende April 2013 beim Einsturz eines illegal erweiterten Fabrikgebäudes ums Leben gekommen. Neben einer heuchlerischen öffentlichkeitswirksamen Kampagne reagierten die westlichen Modemarken vor allem mit der Ausschau nach alternativen Produktionsstandorten. Bangladesch bescherte den Modeketten nun ein »schlechtes Image«, weswegen diese sich auf die Suche nach Alternativen in Südvietnam, Indonesien und Kambodscha aufmachen würden, so ein Mitarbeiter der Unternehmensberatung McKinsey. Diese Flucht der Branche in die Vergangenheit des Kapitalismus ist gerade Ausdruck des beschleunigten technischen Fortschritts. Die kapitalistische Gesellschaft kann nur auf Grundlage der alltäglichen Verwertung von Lohnarbeit funktionieren, doch zugleich verdrängen voranschreitende Rationalisierungs- und Automatisierungstendenzen die Lohnarbeit aus dem Arbeitsprozess. Die Lohnabhängigen werden so in einen »Wettlauf mit den Maschinen« gedrängt, bei dem die Kosten von Automatisierungsmaßnahmen durch Lohnsenkungen unterboten werden müssen. Darin besteht die Absurdität: Gerade weil das Potenzial zur Produktion materiellen Reichtums ins Unermessliche ansteigt, vegetieren immer mehr Lohnabhängige in brutaler Ausbeutung und Armut – nicht nur in Bangladesch und Kambodscha, sondern zunehmend auch in den Kernländern des kapitalistischen Weltsystems. ★ ★★ Tomasz Konicz ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Krisenanalyse. Er veröffentlicht regelmäßig unter anderem im »Neuen Deutschland« und in »Lunapark21«.

8NEWS 8Südkorea In Seoul demonstrierten Ende Dezember 100.000 Menschen, um ihre Solidarität mit einem dreiwöchigen Massenstreik in der Eisenbahnindustrie auszudrücken. Die Streikenden befürchten die Privatisierung des staatseigenen Bahnbetriebs Korail.

8Chile Nach gescheiterten Lohnverhandlungen mit dem Hafenbetreiber haben Anfang Januar Arbeiter im nordchilenischen Angamos einen Streikposten vor den Toren des Hafens eröffnet. Innerhalb von zwei Wochen weitete sich der Protest auf zwölf weitere Häfen des Landes aus. Ursprünglicher Streitpunkt war die Forderung der Gewerkschaft, Leiharbeiter in die Tarifverhandlungen einzuschließen.

8Frankreich In Amiens haben Beschäftigte des Reifenherstellers Goodyear zwei Führungskräfte für 30 Stunden auf dem Fabrikgelände festgehalten. Den etwa 1200 Angestellten des Werkes droht eine Massenentlassung. Mit der »Bossnapping« genannten Aktion haben sie eine Wiederaufnahme der Verhandlungen über Abfindungszahlungen erreicht. Die Gewerkschaft CGT fordert 80.000 bis 180.000 Euro pro Kopf, Goodyear bietet bisher nur ein Viertel davon.

Israel

In die Wüste geschickt Zehntausende afrikanische Flüchtlinge sind Anfang Januar in Tel Aviv vor ausländische Botschaften gezogen. Mit dieser dreitägigen Protestaktion demonstrierten sie gegen Israels Asylgesetzgebung. Auslöser ist ein im Dezember erlassenes Gesetz, wonach illegal eingereiste Flüchtlinge bis zu ein Jahr inhaftiert werden können. Selbst Afrikaner, die sich schon mehrere Jahre im Land aufhalten, erwartet nun eine Internierung in einem Flüchtlingslager in der Negev-Wüste sowie die Abschiebung in ihr Heimatland.

Weltweiter Widerstand

Kambodscha

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INTERNATIONALES

Die gelenkte Demokratie Anlässlich der Olympischen Winterspiele in Sotschi erntet die russische Regierung viel Kritik in westlichen Medien. Doch über Protest in Russland erfährt man wenig. Der Politikwissenschaftler Boris Kagarlitzki erklärt, warum die Linke so schwach ist und wie sich dennoch Solidarität aufbauen ließe Interview: Ulrich Heyden

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Boris Kagarlitzki

Boris Kagarlitzki leitet das Moskauer Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen und ist Chefredakteur der Onlinezeitung »rabkor.ru«. Während seines Studiums gründete er eine sozialistische Gruppe und kam dafür 1982 für ein Jahr ins Gefängnis. Als Mitbegründer der Arbeitspartei geriet er nach dem Ende der Sowjetunion auch mit dem neuen Regime in Konflikt. Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschien von ihm auf Deutsch »Die Revolte der Mittelklasse« (Laika 2013).


Welche Organisationen gibt es in der außerparlamentarischen Linken? Es gibt ein großes Spektrum von linken, außerparlamentarischen Organisationen, das sich in vier Strömungen aufteilen lässt. Eine Strömung versucht das, was die KPRF nur proklamiert, in die Tat umzusetzen. Dazu gehören die Interregionale Organisation der Kommunisten (MOK), die Ver-

einigte Partei der Kommunisten Russlands und in der Provinz verschiedene Abspaltungen von der KPRF. Es gibt außerdem linke Radikale ohne klare ideologische Plattform. Dazu gehören die Linke Front und andere Gruppen wie die Organisation »Befreiung der Arbeit« in Lipezk. Die Linke Front hat zwar radikale, antikapitalistische Positionen, ist aber in zwei Teile gespalten. Der eine kämpft nur gegen Putin, der andere stellt vor allem soziale Forderungen auf. Die Linke Front ist im Gegensatz zu den Abspaltungen der KPRF, die sehr bürokratisch aufgebaut sind, eine aktionistische Organisation ohne besondere Verbindungen zur Arbeiterklasse. Sie machen grelle Aktionen, die oft mit Verhaftungen enden, aber keine kontinuierliche Arbeit. Das attraktive an der Linken Front ist, dass sie locker aufgebaut ist. Es gibt dort Anarchisten, Marxisten und linke Liberale wie Sergej Udalzow und Ilja Ponomarjow.

Bildmontage mit Mitgliedern der russischen Punkband Pussy Riot auf der Berliner Mauer. Im Hintergrund die Moskauer Basilius-Kathedrale

INTERNATIONALES

Und was tut sich außerparlamentarisch? In der außerparlamentarischen Politik ist das gesamte politische Spektrum vertreten. Von Ultralinken bis hin zu den Ultrarech-

ten, die vor kurzem bei dem Pogrom in Birjuljowo, einem Stadtteil am Südrand von Moskau, von sich reden machten. Sie waren übrigens nicht die Organisatoren des Pogroms, aber sie haben an den ausländerfeindlichen Unruhen teilgenommen und sich später mit ihnen gebrüstet.

© Cactusbones / CC BY-NC-SA / flickr.com

D

ie Linke in Russland scheint marginal, linkes Denken und Internationalismus werden von großrussischen Anschauungen überlagert. Herr Kagarlitzki, was ist heute in Russland links? Darauf eine eindeutige Antwort zu geben, ist schwierig. Ein echtes politisches Leben hat in Russland noch nicht begonnen. Wir haben zwei Parteien in der Duma, die dem Anspruch nach links sind: die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) und »Gerechtes Russland«. Aber das sind eigentlich mehr zwei kommerzielle Organisationen, die von der Macht die Aufgabe bekommen haben, politisches Leben zu simulieren. Die Programme von KPRF und Gerechtes Russland sind nicht mehr als Papier mit Buchstaben in schlechter Farbe. Es sind keine Programme, für deren Realisierung man kämpft.

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Und die vierte Strömung sind die ... ... Trotzkisten. Dazu gehört die Russische Sozialistische Bewegung (RSD). Sie existieren aber nur virtuell. Sie gehen auf Demonstration, aber sie machen sonst nichts. Es handelt sich um junge Intellektuelle, die ihre Aufgabe im Wesentlichen darin sehen, den Diskurs der europäischen Linken in Russland zu verbreiten. Sie haben das politische Spektrum der linken, kommunistischen Organisationen in Russland beschrieben. Was tut sich bei den sozialen Bewegungen? Die sozialen Bewegungen sind keine ideologischen Bewegungen. Aber sie sind heute eine reale politische Alternative. Die Menschen in den sozialen Bewegungen kämpfen gegen die Sozialpolitik der Regierung, die Kürzung der staatlichen Ausgaben. Sie unterstützen die Akademie der Wissenschaften, die man zerstören will, und sie setzen sich für den Erhalt der Gesundheitsversorgung ein. Es gibt freie Gewerkschaften, die für höhere Löhne kämpfen und Erfolge haben. Diese Bewegungen entwickeln sich unabhängig von den Linken. Nicht, weil sie keine Linken in ihren Reihen haben wollen, sondern weil sich die aktivsten linken Gruppen nicht für Fragen wie den Erhalt von Kindergartenplätzen oder der Akademie der Wissenschaften interessieren. Die Aufgabe unseres Instituts besteht darin, die Verbindung zwischen den sozialen Bewegungen und den Linken herzustellen. Viele russische Jugendliche sind heute auf dem Konsumtrip. Aber es gibt auch eine wachsende Zahl von linken Blog-

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gern und Künstlern, welche die herrschenden Verhältnisse kritisieren. Ist das der Beginn einer neuen linken Kultur? Nein, das ist nur eine Form der Anpassung an den Kapitalismus. Es gibt eine bestimmte städtisch-privilegierte Mittelschicht, die sich gut eingerichtet hat. Als linker Blogger kann man im Kapitalismus gut überleben. Denn Blogger zu sein hat Prestige und man kann gutes Geld verdienen. Je nachdem wie bekannt man ist, kann man als Blogger in Moskau zwischen 200 bis 1000 Dollar für einen Beitrag verdienen. Wenn sie einen Post gegen Alexei Navalny schreiben, zahlt die Partei Einiges Russland. Wenn sie umgekehrt einen Post gegen Putin schreiben, zahlt Navalny. Es gibt auch Leute, die verdienen Geld, indem sie massenhaft Kommentare auf bestimmten Websites schreiben. Viele dieser Leute sind Journalisten und frühere linke Aktivisten. Viele Menschen im Westen und auch Linke sind der Meinung, dass die Freilassung von russischen Oppositionellen wie dem ehemaligen Öl-Magnaten Michail Chodorkowski oder den inhaftierten Frauen von Pussy Riot für Russland eine Schlüsselfrage ist. Was meinen Sie? Wie kann man Pussy Riot und Chodorkowski in einem Atemzug nennen? Das ist unmöglich! Fehlt nur noch, dahinter als Drittes den Fall des inhaftierten Antifaschisten Alexej Gaskarow einzureihen. Das sind drei ganz unterschiedliche Fälle: Chodorkowski ist kein Gefangener des Gewissens. Er wollte mehr Macht und Putin wollte nicht mit ihm teilen. Alle Umfragen zeigen, dass neunzig Prozent der Russen dafür sind, dass Chodorkowski möglichst lange im Gefängnis bleibt. Bei Pussy Riot liegt die Sache anders. Für ein Musikstück von fünfzehn Sekunden in einer Kirche hätte man ihnen doch höchsten fünfzehn Tage Arrest geben dürfen, und nicht drei Jahre Gefängnis. Und was ist mit dem bekannten Antifaschisten Alexej Gaskarow? Der sitzt schon ein halbes Jahr im Gefängnis, obwohl er absolut nichts verbrochen hat. Er hat am 6. Mai 2012 an einer erlaubten Demonstration gegen Putin teilgenommen. Aber die Macht mag Gaskarow nicht, wie sie

© Alex Naanou / CC BY-NC-ND / flickr.com

Sie sprachen von insgesamt vier Strömungen in der außerparlamentarischen Linken. Ja, es gibt drittens noch Überbleibsel der in den 1990er Jahren gegründeten stalinistischen Organisationen wie die Russische Kommunistische Arbeiterpartei (RKPR), »Arbeitendes Russland« und »Rot Front«. Das Ideal dieser Organisationen ist die Sowjetunion in den 1920er Jahren und der ersten Hälfte der 1930er Jahre. Aber diese Gruppen machen jetzt eine Evolution durch. Dort ist jetzt eine neue Generation präsent, für die Stalin nur noch Vergangenheit ist. Sie sind jetzt weniger ideologisch, wodurch eine Zusammenarbeit möglich wird.

die linken Aktivisten insgesamt nicht mag. Das Problem ist, dass Gaskarow und die vielen Linken, die jetzt im Gefängnis sitzen, im Gegensatz zu Pussy Riot keine PR-Lobby im Westen haben. Wegen des Pogroms gegen die Migranten in Birjuljowo ist übrigens niemand ins Gefängnis gekommen. Wäre es zum Schutz der Migranten nicht nötig, dass die Linken zusammen mit den Liberalen etwas tun? Unter den Liberalen gibt es selbst genug Ausländerfeinde. Ich erinnere nur an die Journalistin Julia Latynina, die sich in der »Nowaja Gaseta« darüber ausgelassen hat, wie die Araber Europa und die Türken Deutschland verunstaltet haben. Das wichtigste Mittel gegen Ausländerfeindlichkeit ist, dass die Menschen sich an Aktionen zum Schutz ihrer sozialen Rechte beteiligen. Es führt zu nichts, wenn man den Menschen sagt, dass sie nicht ausländerfeindlich sein dürfen. Im schlimmsten Fall bekommt der Intellektuelle, der das sagt, eins aufs Maul. Man muss die


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Mit Beiträgen von Elmar Altvater, Joachim Bischoff, Klaus Dörre, Reinhart Kößler, Birgit Mahnkopf, Raul Zelik. Mai 2012: Protest in Moskau gegen Putins Wiedereinführung ins Präsidentenamt. Teilnehmer der Demonstration müssen sich derzeit vor Gericht verantworten Menschen zu sinnvollen, positiven Aktionen motivieren. Dann haben sie keine Zeit mehr für Ausländerfeindlichkeit. Im Kampf gegen die Schließung von einem Krankenhaus können Russen und Tadschiken sich gegenseitig unterstützen. Übrigens: Als die Nationalisten kamen, um sich an der Moskauer Kundgebung zur Verteidigung der Russischen Akademie der Wissenschaften zu beteiligen, wurden sie mit Schlägen vertrieben. In Hamburg und Berlin hat sich eine breite Solidaritätswelle mit den Flüchtlingen aus Lampedusa entwickelt. Gibt es in Russland denn gar keinen Humanismus? Humanismus gibt es in Russland nicht. Aber das Problem in Russland ist vor allem, dass es keine Solidarität gibt. Die Menschen gehen nicht – wie in Frankreich – für das Mädchen auf die Straße, das man aus der Klasse geschmissen hat. Die Menschen bei uns schützen sich noch nicht mal selber und verteidigen ihre eigene Schule oder ihr Kranken-

haus, das geschlossen werden soll. Zum Ende der Sowjetunion, Ende der 1980er Jahre, Anfang der 1990er Jahre, haben die Menschen noch ihre sozialen Interessen verteidigt. Solange die Menschen in Russland nicht lernen, ihre eigenen Interessen zu verteidigen, werden sie auch nicht für andere auf die Straße gehen. Es gehört zur Verantwortung der Linken, eine Kultur der Solidarität aufzubauen. Wohin bewegt sich Russland? Russland zeigt dem Westen das Bild seiner Zukunft: die gelenkte Demokratie. Der Westen nähert sich uns immer mehr an. Wir haben Demokratie. Aber sie ist fiktiv. Wir haben Wahlen, Gerichte und privates Eigentum. Aber das Volk hat keinen Einfluss auf die Entscheidungen. ■

★ ★★ Eine ausführlichere Version dieses Interviews erschien am 14. Dezember 2013 in der Tageszeitung »Neues Deutschland«. Wir danken Interviewer und Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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INTERNATIONALES

Die Provinz bebt Die Provinz Groningen gilt als das »Detroit der Niederlande«. Strukturelle Arbeitslosigkeit und wachsende Umweltschäden durch Erdgasförderung prägen das Leben der Einwohnerinnen und Einwohner. Doch die lassen sich das nicht länger bieten Von Frederik Blauwhof

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m Samstag, den 18. Januar, gehen 4000 Menschen in der niederländischen Provinz Groningen auf die Straße. Sie demonstrieren gegen Stellenabbau und die umweltschädliche Förderung von Erdgas, die in der Region immer wieder zu Erdbeben führt. In einem mehrere Kilometer langen Autokorso fahren sie von den Gasfeldern zu einem Ort, an dem der niederländische Gewerkschaftsbund FNV eine öffentliche Debatte organisiert hat. Am Tag zuvor haben Demonstrierende bereits eine Pressekonferenz des Umweltministers Henk Kamp von der liberalen Partei VVD

umzingelt und gestört. Anschließend versperrten Bäuerinnen und Bauern mit hundert Traktoren Kamps‘ Rückweg nach Den Haag. Die Bevölkerung von Groningen hat auf diese Weise sehr deutlich gemacht, dass sie kein Vertrauen in die Politik der Regierung hat. Von der jahrzehntelangen Gasförderung haben die Einwohnerinnen und Einwohner der Region kaum profitiert. Dafür hat der Abbau seit den 1990er Jahren zunehmend Erdbeben ausgelöst. So hatte es in den Jahren von 1988 bis 1991 nur ein Erd-

Anzahl der Erdbeben in der Provinz Groningen von 1990 bis 2013 | Quelle: SodM

© Grafik: William Eckert

Erdgasförderung in den Niederlanden von 1970 bis heute (Prognose für 2014) in Milliarden Kubikmeter | Quelle: BP

beben in der Region gegeben, seit Oktober 2013 waren es aber bereits 24 Erschütterungen mit Werten zwischen eins und drei auf der Richterskala. Im August 2012 ist in dem Dorf Huinzinge ein Erdbeben der Stärke 3,6 gemessen worden. Auch solche schwächeren Beben richten viel Schaden an und haben zu einem deutlichen Wertverlust der Häuser und Grundstücke geführt. Vor allem ist in Zukunft mit viel schwereren Erschütterungen zu rechen. Ende vergangenen Jahres veröffentlichte eine niederländische Rundfunkanstalt interne Dokumente der Bergbauaufsicht, des Wirt-

Seit dem Jahr 2012 sinkt die Erdgasförderung in den Niederlanden. Trotz der Risiken sollen die verbleibenden Vorräte planmäßig abgebaut werden 38


schaftsministeriums und der niederländischen Erdölgesellschaft NAM, die zu Shell und Exxon Mobil gehört und das Gas in Groningen fördert. Aus ihnen geht hervor, dass dauerhaft mit schweren Beben der Stärke 4,5 bis sechs zu rechnen ist. Als Ursache wird die Gasförderung benannt. Die Behörden und der Konzern sind sich bewusst, dass eine Fortsetzung der Förderung die Region stark gefährdet. Trotzdem sollen die Gasvorräte weiterhin planmäßig abgebaut werden. Die Proteststimmung in Groningen wird durch die strukturell schwache wirtschaftliche Situation weiter angeheizt. Vor allem der Norden der Region und die Stadt Delfzijl haben schon seit Jahrzehnten mit Stellenabbau und Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen. Die Lage verschärft sich durch die Kürzungspolitik der Regierung und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Liegt die offizielle Arbeitslosenquote schon jetzt bei 9,8 Prozent, so sagt eine Studie der Bank ING für dieses Jahr eine weitere Steigerung auf 11,4 Prozent voraus. Angesichts der riesigen Einnahmen des Staats und der Konzerne Shell und Exxon Mobil aus der Gasförderung fühlen sich viele Groningerinnen und Groninger verständlicherweise betrogen. So profitiert der niederländische Staat mit zehn bis zwölf Milliarden Euro im Jahr vom Gasabbau.

Konzerne und Regierung setzen Menschenleben aufs Spiel

Auch Shell und Exxon Mobil verdienen jedes Jahr Milliarden durch die Förderung. Weltweit brechen die beiden Konzerne Profitrekorde: Im Jahr 2012 hat Exxon Mobil zwanzig Milliarden Euro und Shell sogar mehr als 33 Milliarden Euro reinen Profit erwirtschaftet. Die Einwohnerinnen und Einwohner Groningens lässt man hingegen mit der schwachen regionalen Wirtschaft und einer immer gefährlicher werdenden Lebensumwelt allein. Unter dem Einfluss der Krise spitzen sich diese Widersprüche weiter zu. Im Dezember 2013 gab das Direktorium des Aluminiumwerks Aldel in Delfzijl bekannt, die Firma aufgrund der niedrigen Aluminiumpreise und hohen Stromkosten schließen

★ ★★ Frederik Blauwhof hat in Amsterdam studiert und war dort Mitglied bei der Socialistische Partij und den Internationale Socialisten. Heute ist er aktiv bei der LINKEN in Berlin-Neukölln.

INTERNATIONALES

© fnvbondgenoten / CC BY

Groningen: Gewerkschafter drehen symbolisch den Gashahn zu

zu wollen. Die Stilllegung des Werks würde direkt und indirekt 800 Arbeitsplätze vernichten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter protestierten am 2. Januar zusammen mit Unterstützern für den Erhalt der Arbeitsplätze. Inzwischen haben sie sich der allgemeinen Protestbewegung in der Region angeschlossen und spielen eine symbolisch wichtige und führende Rolle. Als Reaktion auf die Massenproteste hat Umweltminister Kamp 1,2 Milliarden Euro für strukturelle Investitionen in die Region angekündigt. Bei genauer Betrachtung des Regierungsplans wird aber deutlich, dass das Geld überwiegend an Shell und Exxon Mobil fließt: 750 Millionen Euro für Gebäudesanierung und Reparaturen und 85 Millionen als Investitionen in erneuerbare Energien. Zudem hat die Regierung versprochen, die jährliche Gasförderung in der Region Groningen von 54 Milliarden Kubikmetern (2013) auf 42,5 Milliarden (2014) zu drosseln, angeblich eine Reduktion der Förderung um 22 Prozent. Doch diese Darstellung ist eine bewusste Täuschung. Denn die Förderung von 2013 erreichte einen einmalig hohen Wert und war um vier Milliarden Kubikmeter höher als geplant. Die reduzierte Förderung läge immer noch über den Mengen der Jahre 1985 bis 2005. Faktisch halten die Regierung und NAM also den ursprünglichen Förderplan ein, mit Ausnahme eines kleinen Gasfeldes in Loppersum, wo die Förderung tatsächlich um achtzig Prozent gesenkt wird. Sie setzen das Leben der Menschen vor Ort aufs Spiel, um möglichst wenig Profit einzubüßen. Aber die Bewegung lässt sich von den Zugeständnissen der Regierung nicht einwickeln. Auf der Veranstaltung der Gewerkschaft am 18. Januar forderten die Menschen aus Groningen hohe öffentliche Investitionen in die Region, vollständige Entschädigung für die Erdbebenschäden, einen kompletten Förderungsstopp für Erdgas und ein Ende der Betriebsschließungen. Das Gefühl der kollektiven Stärke hat die Bereitschaft gefestigt, den Kampf fortzusetzen. Der Geist des Widerstands ist ein für alle Mal aus der Flasche. ■

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KOMMUNALPOLITIK

Von David Maien

Schließungen, Privatisierungen, Notbetrieb: Die Kommunen haben kaum noch Geld für ihre grundlegendsten Aufgaben. Jahrelange Steuersenkungen haben die Kassen ausgehöhlt. Mit der drohenden Schuldenbremse wird sich die Situation weiter verschärfen

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reis


einnahmen von 45 Milliarden Euro verzeichnet, wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung errechnet hat. Die Gesamtverschuldung der über 12.000 deutschen Kommunen beläuft sich demgegenüber auf 133 Milliarden Euro. Das sind nur sechs Prozent aller öffentlichen Schulden. Die rot-grüne Bundesregierung hat zwischen 1998 und 2005 eine in der deutschen Geschichte beispiellose Steuersenkungspolitik begonnen, von der Unternehmen, Bezieher hoher Einkommen und Vermögende profitierten. Diese Politik haben alle folgenden Regierungen übernommen und weiter fortgesetzt, um jetzt über zu geringe Einnahmen zu klagen. Die Zahl der Millionäre und Milliardäre hat derweil neue Rekorde erreicht. Die Schuldenbremse, die in den kommenden Jahren auf allen Ebenen greifen soll, wird den Kürzungszwang weiter erhöhen. Tatsächlich weiß aber niemand auf Landes- oder kommunaler Ebene, wie sich die Reduzierung der Neuverschuldung auf nahe Null umsetzen lassen soll. Sie ist einfach nicht einzuhalten angesichts der Aufgaben, die der Staat erfüllen muss, um die Kapitalakkumulation in Deutschland weiter zu ermöglichen. Mittlerweile klagen zum Beispiel schon Richter und Staatsanwälte, dass sie aufgrund des Personalmangels nicht mehr ordentlich arbeiten können. Die Stromtrassen sind seit ihrer Privatisierung nicht instand gehalten worden. Kanalisation, Straßen, Schienen, öffentliche Gebäude – alles wird »auf Verschleiß« betrieben und die Substanz aufgebraucht, die in den Nachkriegsjahrzehnten aufgebaut wurde.

Gemeinden stehen unter Zwangsverwaltung

Anders als die Landeshauptstadt Wiesbaden haben viele Kommunen schon kein Tafelsilber mehr, das sie noch verscherbeln könnten. Und die öffentlichen Dienstleistungen, die über die gesetzlich vorgeschriebene Verwaltung hinausgehen, sind bereits weitgehend abgeschafft. Weil viele Gemeinden faktisch pleite sind, mussten sie unter »Schutzschirme« schlüpfen: Rettungsprogramme, bei denen die Bundesländer einen Teil der kommunalen Schulden übernehmen. Doch daran sind harte Bedingungen geknüpft. De facto stehen die betroffenen Gemeinden unter Zwangsverwaltung. Die steuerpolitischen Ankündigungen der Bundesregierung lassen erwarten, dass sich die dramatische Lage der Gemeinden in den kommenden Jahren noch verschärfen wird. Das Deutsche Institut für Urbanistik geht in einer konservativen Schätzung davon aus, dass der bundesweite Investitionsbedarf der kommunalen Infrastruktur bei 700 Milliarden Euro liegt. Dabei geht es zum größeren Teil nicht um Ausweitungsinvestitionen, sondern um den Erhalt, zum Beispiel von Schulgebäuden. Der Verfall des Verkehrsnetzes hat bereits zu gemeinsamen Appellen von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und kommunalen Spitzenverbänden geführt. Trotzdem schließt die große Koalition Einnahmeerhöhungen der öffentlichen Hand durch höhere Steuern aus. Diese Absage entwertet alles Gerede von klammen Kassen und vom Leben über unseren Verhältnissen: Würden heute noch die Steuersätze von 1998 gelten, hätten die öffentlichen Kassen im Jahr 2013 Mehr-

Die Schuldenbremse ist die Folge und Zuspitzung einer Umverteilungspolitik, die nach dem Ende des »Wirtschaftswunders« in den 1970er Jahren einsetzte. Sie soll den Fall der Profitraten und das daraus folgende Erlahmen der wirtschaftlichen Dynamik ausgleichen. Diese neoliberale Wende erfuhr ihre deutlichsten Verschärfungen unter den Bundeskanzlern Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Schröder fasste seine Linie in den Worten zusammen, es müsse erst erwirtschaftet werden, was dann verteilt werden könne. Damit meinte er: Die Profite müssen stimmen, alles andere ist zweitrangig. Konsequent wurde dann bei dem, was in Unternehmerkreisen gern als »Sozialklimbim« bezeichnet wird, gekürzt – Bildung, Wohnen, Gesundheit, staatliche Unterstützung auch für Menschen, die keiner Lohnarbeit nachgehen und keine unmittelbare Gegenleistung erbringen – und gleichzeitig die

★ ★★

David Maienreis ist wirtschaftspolitischer Referent der Linksfraktion im hessischen Landtag.

KOMMUNALPOLITIK

T

om und Maria haben ihre Koffer gepackt und ihre Wohnung in Wiesbaden aufgegeben. Zwei Jahre lang haben sie sich vergeblich um einen Kitaplatz für ihre kleine Tochter bemüht. Maria konnte in dieser Zeit keiner Arbeit nachgehen und Toms Verdienst reichte bei den Wiesbadener Mietpreisen nicht aus, um die kleine Familie zu ernähren. Zum Abschied nahmen sie noch an einer Demo von Eltern teil, die vor dem Rathaus gegen die Pläne der Stadtregierung protestierten, die Gebühren in den überfüllten städtischen Kitas auf bis zu 400 Euro im Monat zu erhöhen. Wiesbaden hat von allen deutschen Städten den höchsten Millionärsanteil an der Bevölkerung. Trotzdem kämpft die Stadt wie fast alle Gemeinden bundesweit um einen ausgeglichenen Haushalt. Gebührenerhöhungen, Privatisierungen und die Streichung von Zuschüssen an kulturelle und soziale Einrichtungen und den öffentlichen Personenverkehr sollen das Defizit schließen. Aber das funktioniert nicht.

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© Fraktion DIE LINKE. im Bundestag / CC BY / flickr.com

Demonstration mit Caren Lay (halb verdeckt), Katja Kipping, Matthias W. Birkwald und Cornelia Möhring (v. l.). Die Mitglieder der LINKEN-Bundestagsfraktion zeigen dem Sozialkahlschlag die rote Karte

Aufgabe der LINKEN ist es, die Haushaltspolitik zu kritisieren Besteuerung der Unternehmensgewinne gesenkt. Die staatliche Unterstützung für Unternehmen in Form (verdeckter) Subventionen und Investitionsförderungen wurde derweil kaum angerührt. Zu den versteckten Subventionen gehören auch Leistungen wie die Erschließung von Gewerbegebieten, die Überlassung von Flächen zu Schleuderpreisen oder sogenannte öffentlich-private Partnerschaften, die den öffentlichen Haushalt meist extrem teuer zu stehen kommen. Diesem Muster wird die Haushaltspolitik auch in den kommenden Jahren folgen: Unter dem ideologischen Mantel der Schuldenbremse wird jede öffentliche Ausgabe auf ihre absolute Notwendigkeit geprüft werden. Kürzungen werden mit der vermeintlichen Generationengerechtigkeit begründet. Andererseits wird die Regierung argumentieren, dass öffentliche Ausgaben, die investiv wirken sollen, also der Profitakkumulation von Unternehmen dienen, getätigt werden müssen, um den Wirtschaftsstandort und damit Arbeitsplätze und Steuereinnahmen zu erhalten. Es sind gerade diese Ausgaben, die sich am besten für die Ausgliederung in Schattenhaushalte und Privatunternehmen in öffentlichem Besitz anbieten. So werden zum Beispiel bundeseigene Holdings, GmbHs oder Bad Banks gegründet, denen die Verantwortung für bestimmte Infrastrukturbereiche übertragen wird. Deren Schulden können nach den

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(grund-)gesetzlichen Vorgaben zur Schuldenbremse außerhalb der öffentlichen Haushalte abgerechnet werden. Diese Möglichkeit haben Kommunen allerdings nicht. Sie sind vor allem für die »konsumtiven« Aufgaben wie Soziales, Bildung, Kinderbetreuung und Nahverkehr verantwortlich. Außerdem werden ihnen durch die Gemeindeordnungen und die Landesaufsicht über ihre bankrotten Haushalte derlei Experimente verboten. Trotz aller Loblieder auf die kommunale Selbstverwaltung sind Kommunen keine autonomen politischen Einheiten. Ihnen fehlt das »Königsrecht des Parlaments«, denn sie können kaum eigene Steuern erheben und so über ihren Haushalt bestimmen. Sie sind deshalb weitgehend auf die Rolle ausführender Organe beschränkt. Gleichzeitig werden ihnen von Bundes- und Landesebene Aufgaben zugewiesen, die sie erfüllen müssen – aber nicht können. Linke Kommunalpolitik muss angesichts dieser Beschränkungen auf der Einsicht gründen, dass sich die Probleme langfristig nicht vor Ort lösen lassen. Wir brauchen eine andere Steuerpolitik. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister vergießen bei Gelegenheit gern Krokodilstränen und klagen, dass ihnen die Hände gebunden sind. Die sollten wir mit der Steuerpolitik ihrer Parteien konfrontieren, gegen die sie nie opponieren. Aufgabe von Kommunalfraktionen der LINKEN ist es, die Haushaltspolitik zu kritisieren und die internen Diskussionen und Verhandlungen, zum Beispiel über öffentlich-private Partnerschaften, öffentlich zu machen. Dazu gehört, Betroffene zu Debatten über Privatisierungen und Schließungen einzuladen. So kann DIE LINKE dazu beitragen, den politischen Preis für die Kürzungspolitik hoch zu treiben. In Kombination damit haben Kampagnen gegen bestimmte Projekte reale Chancen, Erfolge zu erzielen. Denn keine etablierte Partei möchte den Eindruck in der Welt stehen lassen, sie arbeite im Dienste von Unternehmen und Lobbyisten und nicht im Interesse der Bevölkerung. Diese Erfolge – die Verhinderung einer Privatisierung, Gebührenerhöhung oder Schließung – werden Teilerfolge bleiben, solange sie vereinzelt bleiben. Aber die Chancen für eine bundesweite Protestbewegung gegen die kommunale Austrocknung stehen nicht schlecht. In jedem Fall brauchen wir die Perspektive über die einzelne Kommune hinaus, denn sich auf den Rahmen des Möglichen vor Ort zu beschränken, führt leicht in die Sackgasse des kleineren Übels. Und DIE LINKE sollte nie einer Notlösung zustimmen, bei der öffentliche Arbeitsplätze und Dienste aufgrund von Kürzungsvorgaben abgebaut werden. ■


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FRAUENTAG

Heraus zum 8. März! Vor 103 Jahren wurde der internationale Frauentag das erste Mal begangen. Damals bedeutete es, für das Frauenwahlrecht und gleiche Löhne auf die Straße zu gehen – heute schenken die Männer Blumen. Ist Frauenunterdrückung nicht mehr aktuell? Von Catarina Príncipe und Max Manzey ★ ★★

Catarina Príncipe ist aktiv bei Die Linke.SDS an der Humboldt-Universität in Berlin.

★ ★★

MAX MANZEY ist Mitglied im Bundesvorstand von Die Linke.SDS.

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I

m Jahr 1910 existierte in Europa nur ein Land, in dem Frauen das Wahlrecht hatten: Finnland. In großen Industrienationen wie Deutschland, England, Frankreich oder Italien hieß es hingegen für die Frauen, am Wahltag zu Hause zu bleiben. Dieser Zustand brachte die Sozialistin Clara Zetkin beim Sozialistenkongress jenes Jahres in Kopenhagen dazu, angelehnt an eine Idee der Frauenbewegung in den USA, einen internationalen Frauentag auszurufen. Er fand erstmalig im März 1911 statt. An diesem Tag sollten die Forderungen der Frauenbewegung auf die Straße und in die Öffentlichkeit getragen werden: Einführung des Wahlrechts, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und freier Zugang zu den Universitäten für Frauen. Dabei war diese frühe Frauenbewegung eng verknüpft mit der Arbeiterbewegung und dem Kampf für den Sozialismus. So sagte Clara Zetkin in ihrem berühmt gewordenen Referat, das den Titel »Für die Befreiung der Frau!« trägt: »Die Emanzipation der Frau sowie des gesamten Menschengeschlechtes wird ausschließlich das Werk der Emanzipation der Arbeit vom Kapital sein. Nur in der sozialistischen Gesellschaft werden die Frauen wie die Arbeiter in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen.« Das bedeutete jedoch nicht, dass nicht auch im Kapitalismus, im Hier und Jetzt, Reformen wie die Einführung des Frauenwahlrechts erkämpft werden könnten. Ganz im Gegenteil: Die starke Frauenbewegung, deren Aktivistinnen an den

Frauentagen zu Zehntausenden auf die Straße gingen und an Diskussionen teilnahmen, erreichte die Einführung des Wahlrechts in verschiedenen Ländern. In Deutschland gelang es im Rahmen der Novemberrevolution von 1918. Auch in Russland war die Einführung des Frauenwahlrechts im Jahr 1917 die Errungenschaft einer Revolution. In Frankreich und Italien hingegen konnte es erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt werden. Wer am Frauentag auf eine Großdemonstration mit mehreren tausend Menschen gehen möchte, wurde in den vergangenen Jahren bitter enttäuscht. Der traditionelle Kampftag der Frauenbewegung, der inzwischen auch offiziell von den Vereinten Nationen anerkannt ist, gerät immer mehr in Vergessenheit. Statt für Gleichberechtigung und Frieden zu demonstrieren, werden heute Blumen verschenkt. Heißt das, dass es nichts mehr zu erkämpfen gibt? Auch wenn Frauen heute wählen dürfen und beispielsweise mehr als die Hälfte der Studierenden weiblich ist, ist die Gleichstellung von Mann und Frau noch lange nicht erreicht. Denn wenn man die reale Arbeitssituation betrachtet, muss man feststellen, dass Frauen deutlich häufiger von Prekarität betroffen sind als Männer: Mehr als 80 Prozent der Teilzeitbeschäftigten und zwei Drittel der Minijobber sind Frauen. Dies spiegelt sich im Bruttolohn wieder: Frauen verdienen laut einer Studie aus dem Jahr 2012 durchschnittlich 22 Prozent weniger als Männer, was sich allerdings nicht nur auf eine


© Bárbara Boyero / CC BY-NC-ND / flickr.com

Plakat zum Frauentag 1928: Damals gingen die Frauen für eine Reform des Eherechts ebenso auf die Straße wie für Frieden und internationale Solidarität

höhere Prekarisierung zurückführen lässt. Auch bei vergleichbarer Qualifikation und Tätigkeit liegt der Verdienst von Frauen durchschnittlich sieben Prozent unter dem der Männer. Der letzte große Angriff der Arbeitgeber betraf den Manteltarifvertrag im Einzelhandel und damit einen Arbeitsbereich, in dem überwiegend Frauen arbeiten. Mit dem Ziel, die Flexibilisierung und somit Verschlechterung der Arbeitsbedingungen abzuwehren, rief die Gewerkschaft ver.di über mehrere Monate ihre Mitglieder zum Streik auf. Auch wenn einige wesentliche Verschlechterungen dadurch abgewehrt werden konnten, hat sich die sowieso schon prekäre Arbeitssituation dadurch nicht verbessert. Ein großes Problem stellt der geringe gewerkschaftliche Organisationsgrad dar. Das ist in anderen, eher von Männern dominierten Branchen, wie der Metallindustrie, völlig anders. Viele Frauen sind darum auf die öffentliche Daseinsfürsorge ganz besonders angewiesen. Und auch da stehen viele Errungenschaften der letzten Jahrzehnte auf der Kippe: Überall wird gespart. Die Verteuerung des Gesundheitswesens und Rentenkürzungen treffen Frauen in besonderem Maße. Dies gilt auch bei Kindertagesstätten, Frauenhäusern und Gleichstellungsbüros – die Schuldenbremse wird diese Entwicklung drastisch beschleunigen. Dies wird auch dazu beitragen, dass Frauen noch mehr unbezahlte Arbeit machen müssen als ohnehin schon, zum Beispiel bei der Kindererziehung, bei der Hausarbeit oder im

Die spanische Regierung will das Abtreibungsgesetz verschärfen. Seit Bekanntwerden der Pläne gingen wie hier in Madrid überall im Land Tausende auf die Straße. Kommt die Regierung mit ihrem Vorhaben durch, ist es in Zukunft nahezu unmöglich, legal abzutreiben

FRAUENTAG

CC BY-SA © SPÖ Presse und Kommunikation /

Mehr als 80 Prozent der Teilzeitbeschäftigten sind Frauen

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© Bárbara Boyero / CC BY-NC-ND / flickr.com

»Nehmt eure Rosenkränze aus unseren Eierstöcken« steht auf dem Plakat, das eine junge Demonstrantin hochhält. Das geplante Abtreibungsgesetz in Spanien trägt die Handschrift der katholischen Kirche

Pflegebereich. Es ist ein wesentliches Standbein der kapitalistischen Wirtschaft, die Reproduktionskosten zu Lasten der Frauen gering zu halten. Die Frauenunterdrückung hat jedoch nicht nur eine ökonomische Dimension: Der alltägliche Sexismus wurde in jüngster Zeit von der »#aufschrei«-Kampagne thematisiert. Auslöser war der Vorwurf der jungen Journalistin Laura Himmelreich gegenüber dem FDP-Politiker Rainer Brüderle, sie durch sexistische Sprüche und Übergriffe belästigt zu haben. Dies führte zu einer regen Debatte über Altherrenwitze und die täglichen Diskriminierungen von Frauen bei der Arbeit und in der Freizeit. Und noch schlimmer: Im Jahr 2012 registrierte die Polizei 8.031 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Die Frauenunterdrückung ist heute also hochaktuell. Doch von einer starken Bewegung, wie es sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der ersten Welle des Feminismus gab, sind wir heute offensichtlich weit entfernt. Woran liegt das? Auf der Suche nach einer großen Frauenbewegung muss man gar nicht so weit in der Geschichte zurückgehen. In den 1960er Jahren existierte eine zweite feministische Welle, die sich ebenfalls auf den

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marxistischen Ansatz stütze, Frauenunterdrückung als ein Resultat der Klassenausbeutung im Kapitalismus zu betrachten. Die ersten Feministinnen der 68er-Bewegung waren davon überzeugt, dass der Kampf gegen die Frauenunterdrückung nur Hand in Hand mit dem Kampf gegen den Kapitalismus und für eine sozialistische Gesellschaft möglich sei. Und sie hatten Erfolg: Frauen und Männer kämpften gemeinsam für die Abschaffung einer Niedriglohngruppe für Frauen und verknüpften dies mit Forderungen nach dem Ausbau von Kindergartenplätzen und für das Recht auf Abtreibung. Auch die Auseinandersetzung mit alltäglichem Sexismus und Unterdrückungsmechanismen, eingeleitet durch einen Konflikt innerhalb des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), spielten dabei eine wichtige Rolle. Das veränderte sich mit dem Abflauen der Arbeiterbewegung in den 1970er Jahren und der damit einhergehenden nachlassenden Orientierung der Frauenbewegung auf die Arbeiterbewegung. Andere Theorieansätze gewannen bei den Feministinnen an Einfluss, etwa jene, die den zentralen Konflikt nicht länger zwischen den Klassen, sondern zwischen Mann und Frau verorteten. Männliches Verhalten


wurde per se als gewalttätig und egoistisch identifiziert und die Lösung der Frauenunterdrückung nun als ein individueller Weg in die Führungsetagen der Unternehmen verstanden. Aus dieser Tradition stammt Alice Schwarzer, die Gründerin und Herausgeberin der Zeitschrift »Emma«. Im Jahr 2005 machte die bekannteste Vertreterin der neueren Frauenbewegung Wahlkampf für Angela Merkel – für jene Frau also, die heute durch die Austeritätspolitik für die Verelendung weiter Teile Südeuropas mitverantwortlich ist, unter der Frauen durch den Abbau des Sozialstaats und den steigenden Sexismus in der Krise ganz besonders leiden. Offensichtlich haben also Frauen, je nach ihrer sozialen Stellung, unterschiedliche Interessen. Und nicht nur das: Im Kampf für höhere Löhne und ein Ende der Ausbeutung im Kapitalismus haben Frauen sogar ein gemeinsames Interesse mit ihren männlichen Kollegen. Der bürgerliche Feminismus von Schwarzer und Co. setzt sich hingegen für eine weibliche Elite und nicht für die Mehrheit der Frauen ein. In den vergangenen Jahren gab es neuere Formen einer Frauenbewegung, die sich insbesondere ge-

gen (sexuelle) Gewalt und für körperliche Selbstbestimmung einsetzte. Slutwalks und Kampagnen wie »One Billion Rising« brachten weltweit Menschen auf die Straße und setzten direkt an den alltäglichen Unterdrückungserlebnissen von Frauen an. Angesichts der nach wie vor ausgeprägten Unterdrückung von Frauen durch ökonomische Diskriminierung und Sexismus ist eine neue Welle des Feminismus, die wieder einen klassenkämpferischen Standpunkt einnimmt, absolut notwendig. Einen Schritt dorthin will das Bündnis »Frauen*kampftag 2014« machen. Dieses Bündnis, an dem unter anderem der Studierendenverband Die Linke.SDS und die Partei DIE LINKE beteiligt sind, ruft für den 8. März zu einer Großdemonstration in Berlin für einen »politischen und sichtbaren Frauen*kampftag« auf. Dabei wäre es wichtig, die neueren Proteste gegen Sexismus und Gewalt mit den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen im Einzelhandel, an der Charité und im öffentlichen Dienst in Verbindung zu setzen. Im aktuellen Aufruf erinnert das Bündnis an den ersten Frauenkampftag des Jahres 1911 und stellt sich damit in eine Tradition, die auf dem Weg zur Frauenbefreiung schon wichtige Schritte gegangen ist, aber auch noch viel vor sich hat. ■

FRAUENTAG

Neue globale Bewegungen setzen an den alltäglichen Unterdrückungserlebnissen von Frauen an

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BETRIEB & GEwerkschaft

© Martin Lässig

Tobias Michel

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Tobias Michel ist Betriebsrat im Alfried Krupp Krankenhaus in Essen und Mitglied der Redaktion der ver.di-Fachbereichszeitung »drei«.


»Bei

uns

sterben

die Reichen und Schönen«

Kannst du ein Beispiel geben? Wenn ich krank bin, muss ich meine Stunden nicht nacharbeiten. Ich bekomme für die Zeit nicht nur meinen Lohn bezahlt, sondern meine Arbeit ist damit auch erledigt. Kaum jemand weiß, wo das gesetzlich geregelt ist. Aber alle Beschäftigten in der Klinik kennen die Küchenregel: »Krank ist wie gearbeitet.« Eine

Ein Krankenhaus ist auch nichts anderes als eine weiße Fabrik, findet Tobias Michel, Betriebsrat in der wohl privatesten Klinik Deutschlands. Ein Gespräch über Rufbereitschaften, Minusstunden und Arbeitszeitkonflikte Interview: Martin Haller

solche Vereinfachung ist notwendig, damit Menschen sich wehren können. Niemand will erst studieren müssen, bevor er kämpfen kann. Warum ist dir das Thema Arbeitszeit so wichtig? Wir haben bei uns im Betrieb eine Teilzeitquote von knapp fünfzig Prozent. Es gibt Altenheime fast ohne Vollzeitkräfte. Die Gesundheitsbranche ist ein Bereich, in dem die Lohnarbeit für viele Beschäftigte nicht im Lebensmittelpunkt steht. Sie müssen ihre Arbeit mit ihrer wirklichen Lebensmitte, der Familie und der Sorgearbeit, die sie zu Hause leisten, in Einklang bringen. Dabei werden alle Beschäftigten auf einmal zu Arbeitszeitmanagern. Aber ist es nicht auch von Vorteil, dass es Teilzeitregelungen gibt? Wenn die Beschäftigten ihre Arbeit so einteilen können, wie sie das am besten mit ihrer familiären Situation in Einklang bringen? Auf jeden Fall ist es ein großer Vorteil, wenn Menschen das können. Leider klappt das häufig nicht. Oft ist es so, dass Arbeitgeber keinerlei Rücksicht auf die Bedürfnisse der Beschäftigten nehmen. Oder sie halten die Absprachen und Versprechungen, die sie zum Vertragsantritt gemacht haben, nicht ein. Nicht aus bösem Willen, sondern weil sie zu we-

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

T

obias, du betreibst die Internetseite www.schichtplanfibel.de, auf der man sich über Fragen zum Thema Arbeitszeiten informieren kann. Die Seite verspricht, »Arbeitszeitkonflikte einfach zu systematisieren, um die Konflikte systematisch zu vereinfachen«. Was bedeutet das? Es gibt beim Thema Arbeitszeiten in Krankenhäusern ein Problem – es scheint die Sache von Fachleuten zu bleiben. Die Fragen von Rufbereitschaften, Bereitschaftsdiensten, Minusstunden, Ausgleichszeiträumen, regelmäßiger Arbeitszeit und so weiter erscheinen so kompliziert, dass man dafür zwei, drei Experten bräuchte. Ich glaube aber nicht, dass Spezialisten unsere Arbeitszeiten verbessern können. Dafür braucht es die Beschäftigten. Und für die Beschäftigten muss eine Sache so einfach und so klar werden, dass sie direkt sagen können, wofür und wogegen sie sind.

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nig Personal einstellen. Wenn dann ihr Schichtplan reißt, suchen sie nach Menschen, die sie schnell in diese Lücken hineinwerfen können. Die Teilzeitbeschäftigten haben ja angeblich besonders viel freie Zeit. Darum klagen gerade sie darüber, dass sie dauernd an ihren freien Tagen zur Arbeit herangezogen werden oder auf einmal sechs oder acht Stunden arbeiten müssen, obwohl sie nur eine vier-Stunden-Schicht haben. Das Grundproblem im Krankenhaus ist also der Personalmangel. So würde ich das nicht sagen. Die Menge an Leistungen in den Krankenhäusern steigt. Aber nicht alle diese Angebote sind gesellschaftlich notwendig. In meinem Krankenhaus leisten wir nicht nur notwendige Arbeit, damit Menschen gesund werden. Wir bieten auch »Körperkonturierungen« an. Das sind Schönheitsoperationen, bei denen Fett abgesaugt wird. Oder »Anti-Aging«, sinnlose Untersuchungen, bei denen Patienten ihr angebliches biologisches Alter erfahren. Wir haben Premiumstationen, auf denen Reiche eine Sonderbehandlung bekommen. Mehr Service, das geht nur mit mehr Händen. Die zusätzliche Nachfrage wird angeheizt und beworben. Solange die Arbeitgeber Gesundheit als Ware begreifen, müssen sie natürlich auch ausreichend Personal dafür bereitstellen. Aber das bedeutet nicht, dass ich der Meinung bin, immer mehr Menschen müssten in Krankenhäusern arbeiten. Nicht alles, was dort gemacht wird, ist sinnvoll. Das sind weiße Fabriken. Ist das eine Besonderheit eurer Privatklinik? Nein. Das Alfried Krupp Krankenhaus ist sicher ein Vorreiter: Wir sind das privateste Krankenhaus Deutschlands. Bei uns hoffen und sterben die Reichen und Schönen. Aber das Grundproblem besteht in allen Kliniken. Zu wenig Personal bei steigenden Fallzahlen gibt es auch in öffentlichen Häusern. In NordrheinWestfalen hat die damalige CDU-Regierung zudem den Paragraphen aufgehoben, der es öffentlichen Krankenhäusern verboten hat, Privatstationen zu betreiben. Seitdem werden in allen Kliniken Privatstationen eingerichtet. Zusätzlich gibt es Premiumstationen, in denen sich

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Menschen noch mehr zusätzliche Leistungen kaufen können – und die brummen. Die aktuelle Landesregierung aus SPD und Grünen hat das bis heute nicht korrigiert. In allen Krankenhäusern wird versucht, mit Sonderleistungen Extraprofite zu machen – natürlich nur für den guten Zweck, dann durch Querfinanzierung andere Löcher zu stopfen. Das ist so, als hätten wir auf den Autobahnen besondere Überholspuren für Mercedes, und wer dort exklusiv fahren möchte, zahlt mit einer Maut für die Behebung der Schlaglöcher auf allen Spuren. Wir brauchen aber Straßen, auf denen alle mit der gleichen Geschwindigkeit fahren können. Genauso brauchen wir Krankenhäuser, in denen jeder, der krank ist, unabhängig vom Geldbeutel eine vernünftige Behandlung bekommt. Also ist das Problem nicht der Personalmangel, sondern die vielen unnötigen Leistungen? Ich halte die Losung unseres ver.di-Fachbereiches für richtig: Es geht um die Personalbemessung. Für die Menge an Arbeit, die von uns gefordert wird, haben wir heute zu wenig Personal. Es muss das richtige Verhältnis geschaffen werden. Das wird vielleicht durch Gesetze erreicht, vielleicht durch Tarifverträge, vielleicht durch Betriebsräte, die in ihren Häusern den Gesundheitsschutz ebenso wie die Regelungen zur Arbeitszeit tatsächlich als eine Verteidigungswaffe gegen die Übergriffe der Arbeitgeber benutzen. Was kann ein Betriebsrat denn machen? Das wichtigste ist die Mitbestimmung bei der Dienstplanung. Nur so können ständige Übergriffe des Arbeitgebers oder Vorgesetzten auf die Lebensplanung der Beschäftigten erschwert werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit. In nur etwa zwanzig bis dreißig Prozent der Krankenhäuser wird der Plan mitbestimmt. Ich glaube, Dienstpläne, also die Einteilung der Schichten, müssen unter unmittelbarer Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung durchgeführt werden. Ein Betriebsrat muss da aktiv eingreifen. Es handelt sich hierbei immer um Auseinandersetzungen zwischen Stärkeren und Schwächeren. Es sind Vorgesetzte, die einen Plan anordnen, und Untergeordnete, die dem zustimmen, weil sie

nicht anders können, obwohl sie damit todunglücklich sind. Genauso verhält es sich bei den Übergriffen auf die Freizeit. Wie seid ihr bei euch im Betrieb dagegen vorgegangen? Im Jahr 2003 haben wir als Aktion die sogenannten »Wechslerbriefe« geschrieben. Wir wollten die Praxis des Arbeitgebers skandalisieren, die Kolleginnen und Kollegen an ihren freien Tagen zur Arbeit zu rufen, ohne sie für diese Frechheit wenigstens angemessen zu entschädigen. Wo wir auf dem Plan gesehen haben, dass Kolleginnen und Kollegen an ihrem freien Tag gearbeitet haben, haben wir ihnen einen Brief geschrieben. Wir haben sie gebeten, anzukreuzen, ob sie auf eigenen Wunsch eine zusätzliche Schicht übernommen haben oder ob sie auf Wunsch des Arbeitgebers eingesprungen sind. Für diesen Fall sollten sie eintragen, wie viel Geld man ihnen als Ausgleich dafür gezahlt hätte. Wir wussten natürlich, dass es in unserem Betrieb für das Einspringen in der Freizeit noch keine Ausgleichszahlungen gab. Von vielen kam die Rückmeldung, dass sie auf eigenen Wunsch gearbeitet oder dass sie die Schicht getauscht hätten und alles in Ordnung sei. Aber niemand hat geschrieben, dass sie oder er auf Wunsch des Arbeitgebers an einem freien Tag gekommen sei und dafür Geld bekommen habe. Stattdessen standen diese Kolleginnen und Kollegen mit dem Zettel und rotem Gesicht bei uns im Betriebsratbüro und sagten: »Ich werde hier gerade gefragt, wie viel ich dafür bekommen habe. Ich habe dafür gar nichts bekommen. Wie das?« Sie alle konnten sich sehr gut vorstellen, dass überall für diese ungeheure Zumutung Geld gezahlt wird, nur in der eigenen Abteilung offenbar nicht. Wie haben sie reagiert? Sie sind zurück auf ihre Stationen gegangen und haben berichtet, dass es offenbar im übrigen Haus Prämien für das Einspringen gibt, nur bei ihnen nicht. Damit war das Thema gesetzt. Der Betriebsrat hat also nicht bloß gewartet, bis Kolleginnen und Kollegen kommen und um Hilfe bitten. Wir haben das Problem erkannt und es mit einem kleinen Trick zum Thema im Betrieb gemacht. Die Manager haben versucht, unsere Aktion zu verhindern. Sie nannten uns Arbeitszeitpolizei


© ver.ci / Tobias Michel

© ver.ci / Tobias Michel

und behaupteten, wir würden versuchen, uns persönliche Daten zu erschleichen, und uns damit strafbar machen. Sie haben erkannt, dass diese kleinen Briefe gefährlich wurden.

Oben: Erleichterung vor dem Arbeitsgericht Essen: Am 17. Juli erklärte ein Richter, dass die Anträge des Alfried-Krupp-Krankenhauses auf außerordentliche Kündigung und Amtsenthebung unseres Interviewpartners Tobias Michel »auf dünnem Eis« stünden. Kurz vor Redaktionsschluss erhielten wir die Nachricht, dass das Gericht die Rechtsbeschwerde des Arbeitgebers endgültig abgewiesen hat. Ob die Klinik nun ihre Versuche aufgeben wird, sich des lästigen Gewerkschafters zu entledigen, ist jedoch fraglich Unten: Eine Belegschaft übt Solidarität: Als die Klinikleitung im Jahr 2012 in einer überfallartigen Aktion das Küchenpersonal freistellte und die Tätigkeit an einen Caterer auslagerte, versammelten sich die Beschäftigten zu einer spontanen Demo in der Kantine

Und wie ging es dann weiter? Das Thema war vielleicht gesetzt und die Beschäftigten haben sich geärgert. Das ist aber noch keine Lösung. Genau, das ist noch keine Lösung. Es genügt nicht, einen Skandal anzuprangern, sondern die Frage ist ja, was man dagegen tun kann. Damals, in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends, gab es von ver.di die Aktion »Mein Frei gehört mir«. Dazu gab es Plakate, auf denen Kinder abgebildet waren, die alleine zu Hause waren und den Abwasch machten. Auf den Plakaten stand: »Für ihre Kollegen springt sie ein und uns lässt sie allein.« Die haben wir ausgehängt und der Geschäftsführer hat sich entrüstet, dass hier Kinder für gewerkschaftliche Propaganda missbraucht würden. Auch das zeigt, dass hier ein Nerv getroffen war. So konnten wir klar machen, dass die Kollegen ein Recht auf eine ungestörte, verlässliche Freizeit haben, für die sie sich nicht rechtfertigen müssen. Nicht wir lassen die Patienten im Stich, sondern der Arbeitgeber lässt uns im Stich und lässt uns nicht vernünftig mit unserer Familie leben. Und daraufhin haben die Kolleginnen und Kollegen dem Arbeitgeber abgesagt, wenn er sie gefragt hat, ob sie außerplanmäßig einspringen? Ach, das habe ich mir damals erträumt, aber so einfach ist das nicht. Die Kolleginnen und Kollegen haben schon zugegeben, dass wir Recht haben, aber sie wussten nicht, was sie tun sollen. Sie hatten Angst. Wenn mir mein Vorgesetzter in der nächsten Woche nicht wohlgesonnen ist, wenn ich schlechtere Arbeit bekomme, wenn auf meine Wünsche bei der Gestaltung des nächsten Schichtplans keine Rücksicht genommen wird, dann habe ich vielleicht einmal zu oft nein gesagt. Also haben wir als Betriebsrat beschlossen, vor Gericht zu gehen. Und hattet ihr Erfolg? Wir konnten durchsetzen, dass eine Einigungsstelle eingesetzt wird, um das Verfahren für das Einspringen an freien Tagen in unserem Haus zu regeln. He-

rausgekommen ist schließlich eine Betriebsvereinbarung, die zusagte, dass niemand gegen seinen Willen einspringen muss. Wenn die Beschäftigten es doch tun, erhalten sie einen zusätzlichen pauschalen Freizeitausgleich in Höhe von 35 Prozent. Das gilt ebenso für befristet Beschäftigte. Bei denen bewirkt das Einspringen im letzten halben Jahr ihrer Befristung zusätzlich die automatische Entfristung ihres Arbeitsverhältnisses. Das klingt nach einer guten Regelung. Aber kann so eine Betriebsvereinbarung nicht auch jederzeit wieder gekündigt werden? Das stimmt. Wir haben in den letzten Jahren hier öfter neue Geschäftsführer und neue Pflegedienstleiter bekommen, die stießen als erstes immer auf diese Betriebsvereinbarung und haben sie immer wieder nach kurzer Zeit gekündigt. Jedes Mal kam dann aber nach zwei oder drei Wochen das Rundschreiben, dass sie vorläufig fortwirkt. Denn sobald die Beschäftigten von der Kündigung erfuhren, erklärten sie gemeinsam, dass sie an ihren freien Tagen nicht mehr kommen werden. Es ist eine der wenigen Betriebsvereinbarungen, die tief in der Belegschaft verankert ist, als eine Mindesterrungenschaft. Billiger machen wir es nicht. Also war die betriebliche Mobilisierung am Ende wichtiger als der Erfolg vor Gericht? Die Realität ist nun mal, dass man vor Gerichten keinen Klassenkampf gewinnt. Ab einem bestimmten Punkt ist es nicht mehr entscheidend, ob wir vor dem Arbeitsgericht Recht bekommen, sondern was die Beschäftigten sich gefallen lassen. Es gibt verschiedene Wirklichkeiten in einem Betrieb, dem wird jeder Betriebsrat sofort zustimmen. Das eine ist, was in den Gesetzbüchern steht, und das andere ist, was dort gelebt wird. In vielen Betrieben werden die Tarifverträge und die Gesetze einfach unterlaufen. Es gibt aber auch Betriebe, in denen die Beschäftigten ihre Arbeitsbedingungen weit über den Tarifvertrag und die Mindestbedingungen des Gesetzes heraufgeschraubt haben. Beides ist möglich. Das hängt immer davon ab, ob eine Belegschaft oder zumindest wesentliche Teile sich bewegen. ■

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Es genügt nicht, einen Skandal anzuprangern

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BETRIEB & GEwerkschaft

Eine Streikbewegung, die Mut macht Nach acht Monaten erbitterter Auseinandersetzung liegt im Einzelhandel endlich ein Tarifabschluss vor. Allerdings verspricht der lediglich eine Atempause Von Olaf Klenke

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D

ie Arbeitgeber im Einzelhandel sind mit ihrem zu Beginn des Jahres 2013 gestarteten Generalangriff auf die Tarifverträge vorerst gescheitert. Das ist vor allem dem streikfreudigen und kampffähigsten ver.di-Bezirk Baden-Württemberg zu verdanken. Hier kamen Gewerkschaft und Arbeitgeber am 5. Dezember 2013 überein, den Manteltarifvertrag wieder in Kraft zu setzen. Dieser Abschluss wurde in allen anderen Bundesländern übernommen. Der Streik im Einzelhandel stimmt zuversichtlich. Die Beschäftigten haben gezeigt, dass sie sich trotz der widrigen Bedingungen organisieren und erfolgreich kämpfen können. Mit neuen Streikformen legten sie Mut und Kreativität an den Tag. Allerdings fehlt der Gewerkschaft ver.di eine einheitliche Streik- und Arbeitskampfstrategie. Möglichkeiten, positive Erfahrungen zu verallgemeinern, die Streikbewegung auszuweiten und zu politisieren, blieben ungenutzt.

ändert wird, ohne das Mittel des Streiks zu nutzen. Mindestens ebenso wichtig wie die Bewertung des Abschlusses ist der Blick auf die ermutigenden Entwicklungen während des Arbeitskampfs. Im Laufe der Auseinandersetzung traten über 25.000 Beschäftigte in die Gewerkschaft ein. Bis Ende Oktober 2013 hatte ver.di nach eigenen Angaben mehr als 130.000 Beschäftigte in neunhundert Betrieben zum Streik aufgerufen. Im Vergleich zu früheren Auseinandersetzungen im Einzelhandel hat sich die Zusammensetzung der Streikenden etwas geändert. Die Beschäftigten von Kaufhäusern waren in einigen Regionen weniger bis gar nicht präsent. Stattdessen prägten die Belegschaften von Selbstbedienungswarenhäusern wie Kaufland, Real und Ikea, sowie von Modeketten, Bauund Supermärkten das Geschehen. Im Einzelhandel mit seinen drei Millionen Beschäftigten ist ein Arbeitskampf wegen des kleinteiligen Filialbetriebs und eines gewerkschaftlichen Organisationsgrads von unter zehn Prozent nicht leicht zu organisieren. In der Regel wurde nur an einzelnen Tagen gestreikt. In Baden-Württemberg streikten Beschäftigte von H&M oder Kaufhof aber durchaus zwei bis drei Wochen am Stück. Mehr als ein Dutzend Betriebe hatten sogar über achtzig Streiktage. In einigen Landkreisen, vor allem im Osten und Norden Deutschlands, gab es hingegen überhaupt keine Streiks. Meist ist es schwierig, den Geschäftsablauf in bestreikten Betrieben tatsächlich zu stören, weil die Arbeitgeber innerhalb kurzer Zeit Streikbrecher rekrutieren. Als Antwort darauf setzten die Beschäftigten neue Aktionsformen ein, mit denen man schon in vergangenen Einzelhandelsstreiks experimentiert hatte. Ein Beispiel dafür ist die Raus-Rein-Strategie, bei der ohne Vorankündigung aus dem laufenden Geschäft gestreikt wird. Der streikende Teil der Belegschaft verlässt das Geschäft. Sobald der Arbeitgeber Streikbrecher organisiert hat, nehmen die Streikenden die Arbeit wieder auf. Öffentlichkeitswirksam war auch der kollektive Besuch von Kaufhäusern und Einkaufszentren durch Streikende aus verschiedenen Betrieben. Es gab eine Vielzahl unterschiedlicher Aktionen, oft mit Unterstützung aus dem linken und gewerkschaftlichen Spektrum. So gelang es trotz der schwachen gewerkschaftlichen Organisation, bei Schlüsselunternehmen Unruhe zu stiften, die Geschäftsabläufe zu stören und öffentlich Druck aufzubauen. Nur aufgrund der Handlungsfähigkeit in einzelnen Streikbetrieben konnte ver.di in Baden-Württemberg glaubhaft damit drohen, das Weihnachtsgeschäft lahmzulegen.

Der Abschluss von Baden-Württemberg sieht über einen Zeitraum von zwei Jahren eine Lohnerhöhung von insgesamt 5,1 Prozent vor. Dieses Ergebnis bewerten viele Beschäftigte positiv, da es Reallohnsteigerungen gewährleistet. Das war bei vergangenen Abschlüssen oft nicht der Fall. Entscheidender als die Entgeltrunde war jedoch der Konflikt um den Manteltarifvertrag. Dieser regelt wesentliche Arbeitsbedingungen, etwa Arbeits- und Urlaubszeiten oder Zuschläge für Spät-, Nacht- und Feiertagsarbeit. In allen Bundesländern außer Hamburg hatten die Arbeitgeber diesen Vertrag aufgekündigt. Angesichts einer schwindenden Tarifbindung im Einzelhandel nahmen sie die Manteltarifverträge als Faustpfand, um eine Absenkung der Standards durchzusetzen. Sie forderten eine »Modernisierung« der Tarifverträge, um die Löhne zu senken. Mit der Einigung wird nun der Manteltarifvertrag rückwirkend wieder in Kraft gesetzt. Eine Abgruppierung der Kassiererinnen und Kassierer wurde verhindert und die Durchlässigkeit für Angelernte in die Fachangestelltengruppe erhalten. Die Arbeitszeit wird nicht weiter flexibilisiert. Das ist ein großer Erfolg. Allerdings enthält die Einigung auch Zugeständnisse an die Arbeitgeber. Es gibt eine neue Entgeltgruppe für die »Warenverräumung« und die Verpflichtung, bis zum Jahr 2015 über »neue Entgeltstrukturen« zu verhandeln. Zudem ist festgeschrieben, diese Verhandlungen ohne Arbeitskampf zu führen. Jetzt muss innerhalb von ver.di durchgesetzt werden, dass nicht in geschlossenen Verhandlungen die Entgeltstruktur ge-

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

© ver.di Stuttgart

Oft standen junge Migrantinnen in der vordersten Reihe

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★ ★★

Olaf Klenke ist Mitglied von ver.di und der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft in der Partei DIE LINKE. Er war aktiver Unterstützer des Einzelhandelsstreiks in Berlin.

Die wohl wichtigste Lehre aus dem Einzelhandelsstreik betrifft jedoch das enorme Potenzial und die Kreativität der Beschäftigten im Arbeitskampf. Nicht selten waren erfahrene Kolleginnen und Kollegen von dem Engagement der Belegschaften genauso überrascht wie diese selbst. Ein Streik erfordert gemeinsame Diskussionen und mutige Entscheidungen. Jede erfolgreiche Aktion stärkt das Selbstbewusstsein. Vor allem Frauen trugen die Streikbewegung, oft standen junge Migrantinnen in der vordersten Reihe. Doch die positiven Streikerfahrungen fielen nicht vom Himmel. Den Ausgangspunkt bildeten kämpferische Kerne, die sich in einzelnen Belegschaften in den vergangenen Jahren gebildet haben. Sie sind häufig durch betriebliche Auseinandersetzungen entstanden, etwa weil sich neu gegründete oder gewählte Betriebsräte gegen eine aggressive Geschäftsleitung behaupten mussten. Ihre Aktionen strahlten auf Gewerkschaftsmitglieder anderer Einzelhandelsunternehmen aus und halfen, innerhalb von ver.di Druck für eine mutigere Streikstrategie zu machen. Ob es zu einem Streik kam und in welchem Ausmaß, hing entscheidend davon ab, welche Vorarbeit ver.di und betriebliche Aktivisten geleistet hatten.

Die ver.di-Spitze wollte den Streik nie wirklich führen

Eine Schwäche der Streikbewegung war die fehlende Vernetzung der kämpferischen Gewerkschaftsaktiven, um eine alternative Führung zur ver.di-Spitze anbieten zu können. Diese wollte den Streik nie wirklich führen und konnte es wohl auch nicht. Das ist eine Aufgabe, die für die nächste Auseinandersetzung noch aussteht. Ende Oktober 2013 organisierten die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE in Kassel einen Ratschlag zum Einzelhandelskonflikt mit 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Hier zeigte sich ansatzweise, wie sehr man sich durch bessere Vernetzung gegenseitig bestärken und die Mobilisierung verbreitern könnte. Betriebliche Streikaktivisten forderten mehr zentrale Aktionen und eine Blockade der Logistik. Viele waren froh, sich endlich mit streikenden Kolleginnen und Kollegen aus anderen Unternehmen und Bundesländern austauschen zu können. Auch für die Streikvorreiter aus Baden-Württemberg war dieser Ratschlag wichtig. Sie sahen, dass sie nicht allein kämpften. Ver.di hätte im Streik hunderte, wenn nicht tausende Beschäftigte zusammenbringen können. Statt aber das Entstehen einer bundesweiten Streikbewegung zu fördern und den Konflikt zu politisieren, setzte die Gewerkschaftsführung hinter den Kulissen auf eine Einigung mit den Arbeitgebern. 54

Ein Konflikt entstand zwischen dem sozialpartnerschaftlichen Flügel, der auf »konstruktive« Verhandlungen mit dem »vernünftigen« Teil der Arbeitgeber setzte, und einem sich neu bildenden kämpferischen Flügel. Teilweise musste ver.di anfangs beinahe erpresst werden, streikwillige Belegschaften den Arbeitskampf führen zu lassen, statt auf andere zu warten. Bernd Riexinger betonte hingegen auf der Konferenz »Erneuerung durch Streik« der RosaLuxemburg-Stiftung im März 2013: »Wer besser streiken kann, muss vorangehen und ein positives Beispiel setzen.« Auch DIE LINKE machte wichtige neue Erfahrungen. Zum ersten Mal begleitete sie einen Tarifkonflikt von Anfang an. Bereits im Vorfeld wurde Informationsmaterial an die Kreisverbände verschickt. Die Bundestagsfraktion stellte Anfragen im Parlament, produzierte eine Solidaritätspostkarte in hoher Auflage und führte mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung den bundesweiten Ratschlag durch. In Berlin baute die Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft einen Verteiler mit mehreren Dutzend Streikunterstützern auf, die kurzfristig per SMS oder Email informiert wurden. Die Solidaritätsarbeit reichte von symbolischer Unterstützung in Einkaufsstraßen über die Teilnahme an Streikaktionen bis zu Blockaden und Flashmobs. DIE LINKE und der Studierendenverband Die Linke.SDS hatten dabei eine Scharnierfunktion zum antikapitalistischen Spektrum. In Berlin entwickelte sich eine Kooperation zwischen einer kämpferischen H&MFiliale und dem Blockupy-Bündnis. Streikende besuchten mit Unterstützerinnen und Unterstützern in einer sogenannten »Blitzaktion« H&M-Filialen, die sich bisher kaum oder gar nicht am Streik beteiligt hatten. Im Sommer blockierten Unterstützerinnen und Unterstützer die Frankfurter Haupteinkaufsstraße und in der Vorweihnachtszeit eine H&M-Filiale in der Berliner Friedrichstraße. DIE LINKE sollte nicht versuchen, die Rolle von Gewerkschaften einzunehmen. Aber sie kann einen Unterschied machen, indem sie streikbereite Kolleginnen und Kollegen unterstützt und so eine Entwicklung innerhalb der Gewerkschaften befördert. Nun gilt es, die kommenden Monate zu nutzen, um die kämpferischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter besser zu vernetzten. Neben regionalen Treffen wird die Streikkonferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Oktober 2014 in Hannover ein zentraler Termin sein, um die Erfahrungen des Einzelhandelsstreiks zu diskutieren und nächste Schritte zu beratschlagen. Zudem steht mit einem möglichen Streik im öffentlichen Dienst die nächste Bewährungsprobe bevor. Auch hier sollte sich DIE LINKE unbedingt einbringen. ■


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Was macht Marx21?

Lebendig und kontrovers

SAVE THE DATE ★ ★★

Das marx21-Netzwerk begann das neue Jahr mit einer Debatte über Perspektiven und Herausforderungen. Doch auch theoretische Reflexion kam nicht zu kurz

A

Von Oskar Stolz

nfang Januar fand eine Sitzung des erweiterten Koordinierungskreises von marx21 statt. Aus vielen Regionen Deutschlands kamen Genossinnen und Genossen, um über die Bewertung der Großen Koalition und die Frage »Ist das Private politisch?« zu diskutieren. Bei der Beurteilung des Koalitionsvertrags war man sich schnell einig. Von den Wahlversprechen der SPD bleibt nicht viel übrig, einen Politikwechsel wird es in Deutschland nicht geben. Spannender war die damit verbundene Diskussion über den Ausblick auf das kommende Jahr. Die Anwesenden trafen die Einschätzung, dass es im Kontext der Europawahl harte Auseinandersetzungen geben wird über die Themen Rassismus und Migration. DIE LINKE muss offensiv gegen Rassismus auftreten und sollte aktiver Bestandteil der Solidaritätsarbeit für Flüchtlinge sein. Außerdem stehen im Jahr 2014 die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst an. Auch hier ist DIE LINKE gefordert, auf der Straße Solidarität mit den Beschäftigten zu zeigen. marx21 sollte dabei die Tarifauseinandersetzung frühzeitig in die Gliederungen der LINKEN einbringen, 56

um sich langfristig auf die Warnstreiks vorzubereiten. In der übernächsten Ausgabe unserer Theoriezeitschrift theorie21 wird es um das Thema Frauenbefreiung gehen. Aus diesem Grund haben wir auf der Sitzung eine Diskussion über die Frage »Ist das Private politisch?« geführt. Die Debatte war lebendig und kontrovers, die Verständigung über die Frage kann die Redaktion jetzt für ihre weitere Arbeit nutzen. Grundsätzlich wollen wir bei der Erstellung von theorie21 immer wieder Gelegenheiten schaffen, an denen das gesamte Netzwerk über strittige Punkte diskutieren kann – so wie dieses Mal auf der erweiterten Sitzung der Koordinierung oder auf der Unterstützerversammlung. Unser Ziel dabei ist es, eine kollektive Debatte über die Verbindung von Theorie und Praxis zu unterhalten. Natürlich wird die jeweilige Ausgabe von theorie21 nach Erscheinen auch beim jährlichen »MARX IS‘ MUSS«Kongress diskutiert. Auf diese Weise ist theorie21 nicht nur Sache der Redaktion. Das Journal spielt zudem im Vorfeld für die Verständigung innerhalb des Netzwerks und nach Erscheinen für unsere Außendarstellung eine zentrale Rolle. ■

KONGRESS

MARX IS MUSS

Berlin | 06. - 09.06.2014 ★ ★★

marx21-Netzwerk

Bundesweite Unterstützerversammlung Frankfurt | 01. - 02.03.2014


Berlin | marx21-Forum zu Prostitution

TERMINE

Mit den Betroffenen reden

Berlin | 19.02.2014 marx21-Forum »Grenzen auf für alle: Armut bekämpfen, nicht die Flüchtlinge« | Uhrzeit: 19:00-21:00 | Ort: Vierte Welt, Adalbertstr. 4 (U-Kottbusser Tor)

ckelte sich eine produktive und solidarische Debatte. Dabei ging es zunächst um die grundsätzliche Frage, ob Prostitution im Kapitalismus eine Arbeit wie jede andere sei oder auf eine qualitativ besondere Art gegen die menschliche Würde verstoße. Auch die gesellschaftliche Ächtung von Sexarbeit war ein Thema. Die hohe Teilnehmerzahl und die lebhafte Diskussion haben bestätigt, dass es ein starkes Interesse gibt, sich über diese Themen auch jenseits der aufgeregten medialen Berichterstattung auszutauschen. Häufig wird ja leider über, aber nicht mit Sexarbeiterinnen gesprochen. Von daher war neben der zentralen Frage, wie sich ein marxistischer Standpunkt zu Prostitution entwickeln lässt, besonders der Beitrag von Johanna Weber sehr wertvoll. ■

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Frankfurt/M. | 06.03.2014 marx21-Unterstützertreffen | Uhrzeit 18:30 | Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28 Berlin | 19.03.2013 marx21-Forum | Uhrzeit: 19:00-21:00 | Ort: Vierte Welt, Adalbertstr. 4 (U-Kottbusser Tor)

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Dezember/Januar Diese EU-Politik spaltet die Ukraine

Frankfurt/M. | 01./02.03.14 Bundesweite marx21-Unterstützerversammlung | Uhrzeit: 10:00 | Ort: Saalbau, Bürgerhaus Gutleut, Rottweiler Str. 32

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TOP TEN

1.

Frankfurt/M. | 20.02.2014 marx21-Unterstützertreffen | Uhrzeit 18:30 | Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28

Frankfurt/M. | 20.03.2014 marx21-Unterstützertreffen | Uhrzeit 18:30 | Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28

(576) (563) (510) (479) (472) (411) (394) (393) (387) (373)

Insgesamt waren 13.545 Besucher im Januar 2014 (Stand: 24.01. / 15.756 im Dezember 2013) auf marx21.de

marx21.de bei Facebook: ★  plus 134 Fans in den letzten zwei Monaten (2610 Fans insgesamt) ★  245 Pinnwandeinträge, Kommentare und Verwendungen von »Gefällt mir« in den letzten vier Wochen ★  Gesamtreichweite in einem Monat: 23.171 (davon 2946 Besucher, die mit marx21 auf Facebook interagiert haben)

ABO STAND Zahl der Abonnenten (Stand 02.02. ): 925 (-5)

SPEZIAL US-WAHL 2012

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rostitution war im Januar das Thema des monatlichen marx21-Forums in Berlin. Als Rednerinnen hatten wir eingeladen: Margarita Tsomou, Herausgeberin der feministischen Zeitschrift »Missy Magazine«, Johanna Weber, politische Sprecherin des Berufsverbands erotische und sexuelle Dienstleistungen, und Katja Kaba vom Netzwerk marx21. Etwa hundert Besucherinnen und Besucher waren gekommen, um über das Thema zu diskutieren. Zu Beginn stellten die drei Referentinnen ihre Sicht auf die Prostitution dar. Die Frage, wie sich die gesellschaftliche und sozialrechtliche Lage von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern verbessern könne, war ein zentraler Punkt in allen drei Vorträgen. Anschließend an die Referate entwi-

Hamburg | 19.03.2013 marx21-Lesekreis »Gewerkschaften« | Uhrzeit: 19:0021:00 | Ort: Parteibüro DIE LINKE.Altona, Am Felde 2

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Liebe Leserinnen und Leser,

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ir möchten Euch herzlich zu unserem Kongress »MARX IS‘ MUSS 2014« einladen, der vom 6. bis 9. Juni in Berlin stattfindet. Es ist einer der wenigen Kongresse, wo hunderte Menschen zusammenkommen, um gemeinsam politische Theorie, Praxis und Strategie zu debattieren. Vier große Themenachsen prägen »MARX IS‘ MUSS« in diesem Jahr. Zunächst ist das der Kampf um Europa: Der Aufstieg von rechtsextremen Parteien wie dem Front National in Frankreich und der Goldenen Morgenröte in Griechenland stellt die Linke vor große Herausforderungen. Mit der Europawahl Ende Mai steht hier eine wichtige politische Auseinandersetzung an. Wie sieht eine linke, nicht nationalistische Antwort auf die EU-Politik aus? Das und vieles mehr wollen wir gemeinsam mit Gästen aus ganz Europa diskutieren. Deutschland erscheint in der Krise als das ruhige Auge im Zentrum des Sturms. Doch auch hier stellen sich wichtige Fragen: Wie führen wir die Blockupy-Proteste zum Erfolg? Kann DIE LINKE unter den Bedingungen der Großen Koalition wieder zu ihrem Erfolgskurs zurückfinden? Diese und andere Diskussionen finden in der Themenachse Strategien für die Linke statt. Ein besonderes Augenmerk wollen wir auf die Wege zur Neuformierung der Gewerkschaften richten. Im vergangenen Jahr wurde im Einzelhandel eine erbitterte Auseinandersetzung geführt, 2014 steht die Tarifrunde im öffentlichen Dienst ins Haus. Im Rahmen dieser Konflikte probierten Aktivistinnen und Aktivisten in den Betrieben neue demokratische Wege

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der Organisation und Streikführung aus. Wir wollen diese Erfahrungen zusammenbringen und verallgemeinern. Deshalb beginnen wir den Kongress mit einem extra Seminartag für gewerkschaftlich Interessierte. Schließlich ist natürlich der Name des Kongresses auch Programm: Wir möchten gemeinsam mit euch Marx neu entdecken. Karl Marx wollte, was wir wollen: Den Kapitalismus überwinden. Doch um die Welt zu verändern, müssen wir sie auch verstehen. Daher bieten wir einen Seminartag zu den Grundlagen marxistischer Theorie an, der sich besonders, aber nicht nur, an Studierende richtet. Dazu kommen zahlreiche Veranstaltungen, in denen wir fragen: Was hat Marx eigentlich gesagt, wie wurden seine Ideen weiterentwickelt und was ist davon heute noch relevant? Das komplette Programm findet ihr ab Anfang März unter www.marxismuss.de. Der Kongress beginnt am Freitag, den 6. Juni, um 10:00 Uhr und endet am Montag, den 9. Juni, um 13:30 Uhr. Auf der Kongress-Homepage könnt ihr gleich online euer Ticket kaufen – Frühbucher erhalten einen Rabatt.

www.marxismuss.de Preise

Frühbucherrabatt nutzen Berufstätige: 40,00 Euro Ermäßigt: 20,00 Euro Soli Ticket: 60,00 + X Euro * *Spendenquittungen möglich Alle Informationen zu neuen Veranstaltungen, Zusagen von Referentinnen und Referenten und Interviews gibt es auf facebook.com/marxismuss


Programm

Der Kongress ist entlang von vier Themenachsen organisiert – hier die ersten Highlights. Änderungen vorbehalten. Alle Aktualisierungen und einen Zeitplan findest du auf www.marxismuss.de.

Rednerinnen und Redner

Anne Alexander

[Aktivistin, MENA Solidarity Network; Kommunikationswissenschaftlerin, University of Cambridge]

Dario Azzellini [Autor von »›Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute«]

Colin Barker

[Professor für Soziologie, Manchester Metropolitan University; Herausgeber »Marxism and Social Movements«]

Christine Buchholz [MdB, DIE LINKE]

Dietmar DatH

[Autor von »Der Implex« und »Pulsarnacht«]

Frank Deppe [Autor von »Autoritärer Kapitalismus: Demokratie auf dem Prüfstand«]

Christian Fuchs

[Autor von »Social Media: a critical introduction«]

Claudia Haydt [Informationsstelle Militarisierung]

Christina Kaindl [Leiterin des Bereiches Strategie und Grundsatzfragen bei der Partei DIE LINKE]

Kerstin Köditz [MdL Sachsen, DIE LINKE]

Stathis Kouvelakis

[Politikwissenschaftler, King’s College London; Mitglied des Parteivorstandes von Syriza]

Bernd Riexinger [Parteivorsitzender, DIE LINKE]

Thomas Sablowski [Redaktion »Prokla«; Institut für Gesellschaftsanalyse bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung]

Kampf um Europa Eine Woche nach der Europawahl wird es reichlich Stoff für Debatten geben. Zum Beispiel: »Raus aus dem Euro – ein Slogan für die Linke?« Als Gäste begrüßen wir hierzu den linken Wirtschaftswissenschaftler Costas Lapavitsas und den Aktivisten Stathis Kouflakis aus dem krisengeschüttelten Griechenland. Ein weiteres heißes Eisen ist die Debatte darüber, ob Kritik an der Europäischen Union nationalistisch ist – wir diskutieren darüber in der Veranstaltung »Ist die EU eine fortschrittliche Alternative zum Nationalstaat?«

Lefteris Arabatzis wird über den Aufstieg der »Goldenen Morgenröte« in Griechenland und die Gegenmaßnahmen der dortigen Linken sprechen. Mit dem »Mythos Europa« setzt sich Andrej Hunko von der Linksfraktion im Bundestag auseinander. Außerdem fragen wir: »Wie rechts ist Osteuropa?« und »Ist die Euro-Krise vorbei?« Höhepunkt dieser Themenachse: Ein großes Podium zu »Widerstand in Europa« mit Panagiotis Sotiris aus Griechenland, Mireia Gargallo aus Spanien und der hessischen Landtagsabgeordneten Janine Wissler von der LINKEN.

Wege zur gewerkschaftlichen Neuformierung Gewerkschaftspolitisch Interessierten bieten wir auf den Kongress ein vielfältiges Angebot an Veranstaltungen zu aktuellen Konflikten und historischen Erfahrungen. So wollen wir gemeinsam mit der ver.di-Sekretärin Undine Zachlot aus Erfurt und Fanny Stolz von der Studentischen Aktion Berliner Arbeitskampf den Einzelhandelsstreik auswerten. Der Politologe Frank Deppe und Volkhard Mosler von der theorie21-Redaktion stellen eine »Kritische Geschichte der Betriebsräte« zur Diskussion. Wir reden über das aktuelle Thema »Schlachtfeld Betrieb in der Burnoutgesellschaft« ebenso wie über die Erfahrungen beim Aufbau von Gewerkschaften in den USA der 1930er-Jahre. Der Kongress beginnt gleich mit einem besonderen Highlight: einem Gewerkschafter-Seminartag mit dem Schwerpunkt »Wie arbeiten Linke in Gewerkschaften heute?«

Strategien für die Linke Die Große Koalition ist da, die unsoziale Politik bleibt. Daraus ergeben sich Fragen – zum Beispiel: »Wem gehört die Stadt?«. Darüber wollen wir mit dem Stadtsoziologen Andrej Holm und der SDS- Geschäftsführerin Kerstin Wolter diskutieren. »Ist Rot-Rot-Grün eine Perspektive für einen Politikwechsel?« Hierzu wird es ein Streitgespräch zwischen Christine Buchholz (MdB, DIE LINKE) und Benjamin-Immanuel Hoff (Bundessprecher, Forum Demokratischer Sozialismus) geben. Auch zu Gast: Bernd Riexinger, Parteivorsitzender der LINKEN und Autor eines vielbeachteten Strategiepapiers, das er

in der Veranstaltung »Verankern, verbreiten, verbinden – eine strategische Orientierung für DIE LINKE« vorstellen möchte. Auch der internationale Aspekt kommt bei dieser Themenachse nicht zu kurz: Die Nahostexpertin Anne Alexander und Jo Daher von SyriaFreedomForever ziehen auf einem großen Abendpodium Bilanz aus »Drei Jahren Arabellion«. Harald Neuber vom Portal amerika21 liefert eine Einschätzung der linken Regierungen in Lateinamerika und der Autor Dario Azzelini präsentiert eine kleine Weltgeschichte der Selbstverwaltung von Arbeiterinnen und Arbeitern.

Marx neu entdecken

Auch dieses Jahr wird es ihn wieder geben: den beliebten Seminartag zu den Grundlagen marxistischer Theorie. In längeren Workshops stellen wir anhand von Klassikern und neuen Texten von Staatstheorie über Frauenbefreiung bis zu Revolution die ganze Bandbreite marxistischer Theorie vor und wollen darüber diskutieren. Dazu thematisieren wir in verschiedenen Veranstaltungen, was Marx uns heute noch zu sagen hat. Colin Barker, Bewegungsforscher aus Großbritannien, wird anhand von aktuellen Beispielen veranschaulichen, was in einer Revolution passiert. Weitere Themen sind unter anderem: »Zwischen Leiharbeit und Sonderzahlung – die moderne Arbeiterklasse in Deutschland«, sowie »Marx und die globalisierte Arbeitswelt«.

Janine Wissler [MdL Hessen, DIE LINKE, Fraktionsvorsitzende]

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GESCHICHTE

Und sie bewegt sich doch Lang ist es her, da attackierte das Bürgertum mit revolutionärem Schwung die überkommene Gesellschaftsordnung. Es war die Zeit der bahnbrechenden Entdeckungen eines Galileo Galilei Von Stefan Bornost ★ ★★

Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

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lbert Einstein nannte ihn »den Vater der modernen Physik, ja, der modernen Wissenschaft überhaupt.« Stephen Hawking meinte, er habe »vielleicht mehr als jeder andere zur Geburt der modernen Wissenschaft beigetragen«. Doch Galileo Galilei ist mehr als einer der großen Wissenschaftler seiner Zeit. Er ist eine Symbolfigur für den Konflikt in der feudalen Ordnung, der schließlich in die Etablierung des modernen Kapitalismus mündete. Friedrich Engels charakterisierte diese Epoche folgendermaßen: »Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. Die Männer, die die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten, waren alles, nur nicht bürgerlich beschränkt. Im Gegenteil, der abenteuernde Charakter der Zeit hat sie mehr oder weniger angehaucht. Fast kein bedeutender Mann lebte damals, der nicht weite Reisen gemacht, der nicht vier oder fünf Sprachen sprach, der nicht in mehreren Fächern glänzte.« Galileo wurde vor 450 Jahren, am 15. Februar 1564, im italienischen Pisa geboren.Im Jahr 1574 zog seine Familie nach Florenz. Die Stadt in der Toskana, wo 1378 mit dem sogenannten Ciompi-Aufstand der Wollkämmer eine der frühesten Arbeitererhebun-

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gen der Geschichte stattfand, war für die damalige Zeit bemerkenswert groß. Handel und Produktion spielten eine bedeutende Rolle in der Metropole. Wirtschaftlich und politisch herrschte die mächtige Familie der Medici, deren Angehörige wichtige Fürsprecher von Kunst und Wissenschaft waren und auch die Arbeit Galileis unterstützten. Es war dies die Periode zwischen Renaissance und Aufklärung, als die katholische Kirche die protestantische Reformation mit einer Gegenreformation beantwortete. Die Konflikte mit dem aufsteigenden Bürgertum über das Macht- und Reichtumsmonopol des Vatikans fanden ihren ideologischen Widerhall auch im Klerus. Vielfältige Reformbewegungen entstanden, die im Wesentlichen regionale Gestalt annahmen: Luther im heutigen Deutschland, Calvin in Frankreich, Zwingli in der Schweiz sowie die aus der Spaltung hervorgegangene anglikanische Kirche in England. Im Zuge der Reformation enteigneten anti-katholische Herrscher örtliches Kircheneigentum. Die Kirche verlor auf diese Weise große Teile ihres Reichtums, ihrer Ländereien, aber auch Schulen und vor allem: Einfluss. Der Vatikan reagierte mit einem Gegenangriff auf jeden, der die katholische Lehre anzugreifen schien. Ein Ziel kirchlicher Verfolgung waren Wissenschaftler, die sich auf die Lehren des Astronomen Nikolaus Kopernikus bezogen. Kopernikus hatte, im Gegensatz zur bisherigen Lehre, im Jahr 1509 erklärt,


© Richard Faehrmann

die Sonne und nicht die Erde sei der Mittelpunkt eines endlichen Universums, wobei die Planeten die Sonne auf kreisförmigen Bahnen umlaufen und die Sterne in einer starren kugelförmigen Sphäre in beträchtlicher Entfernung darüber fixiert seien. Das Kopernikanische System stellte nicht nur die kosmologischen Ansichten der Kirche, sondern auch die strenge gesellschaftliche Hierarchie des Feudalismus in Frage. Die gefährliche Schlussfolgerung aus der Kopernikanischen Theorie war: Wenn der Glaube an die Unfehlbarkeit der Kirche auf dem Gebiet der Kosmologie in Frage gestellt werden konnte, dann war ihre gesellschaftliche Stellung ebenfalls in Zweifel gezogen. Zu Kopernikus’ Zeit galt seine Lehre allerdings noch als harmlose Spinnerei.

Dass Galileo ernster als Kopernikus genommen wurde, lag an seinen methodischen Durchbrüchen: Sein wichtigster Beitrag zur Wissenschaft war, dass er dem Experiment als Mittel zum Beweis und zur Widerlegung von Hypothesen zum Durchbruch verhalf. Bereits im Jahr 1589 schrieb er in dem unveröffentlichten Manuskript »Über die Bewegung« von der Notwendigkeit, die Erfahrung zu berücksichtigen, um die Richtigkeit einer These zu beweisen. Er war nicht der erste, der dies vorschlug, Kopernikus hatte sich ähnlich geäußert. Doch war Galilei der erste, der seine theoretische Arbeit mit praktischen Experimenten zu untermauern suchte. Im Jahr 1609 installierte der holländische Optiker Hans Lipperhey zwei Linsen in einer Röhre und konnte so entfernte Objekte vergrößert erkennen. Galileo verstand das physikalische Prinzip und konstruierte sein eigenes Fernrohr. Zunächst benutzte er gekaufte Linsen, später schliff er sie selbst. Er steigerte den Vergrößerungsfaktor rasch von 3 auf 30. Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine berühmteste Idee: Er richtete sein Fernrohr in den Nachthimmel und plötzlich war die Milchstraße kein Nebel und Planeten waren keine Punkte mehr. Zudem erkann-

Ein Jahrhundert später, zu Galileos Wirkungszeit, hatte aber die Toleranz des Vatikans gegenüber abweichenden Weltbildern stark nachgelassen. Der Konflikt um die Veröffentlichungen des Florentiner Astronomen markiert die Wende hin zur unnachgiebigen Unterdrückung der heliozentrischen Lehre durch die katholische Kirche.

GESCHICHTE

Plötzlich war die Milchstraße kein Nebel mehr

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te er die zerklüftete Oberfläche des Mondes. Hiervon fertigte Galilei eine präzise Federzeichnung an und veröffentlichte sie im Jahr 1610 in seinem Buch »Sidereus Nuncius« (»Sternenbote«), das ihn über Nacht berühmt machte. Am folgenreichsten war die Entdeckung der Jupitermonde – denn hierum handelte es sich bei drei »Sternen«, die Galilei in der Nacht vom 7. auf den 8. Januar 1610 beobachtete. Eine Nacht später hatten sie ihre Positionen gewechselt. Galilei glaubte zunächst, dass Jupiter vor den »Sternen« vorbeiziehe. Doch dann hätte sich der Planet in die falsche Richtung bewegt. Am 10. Januar sah er nur noch zwei »Sterne«, am 13. Januar erschien hingegen ein vierter. Galilei begriff, dass alle vier den Jupiter umkreisen. Damit war klar: Nicht alles dreht sich um die Erde. Schon lange hatten Mathematiker und Astronomen versucht, Phänomene zu erklären, die nicht mit dem geozentrischen Weltbild zusammenpassten. In seinem »Sidereus Nuncius« ergriff Galilei nun Partei für Kopernikus und anderen Astronomen wie Johannes Keppler, die ähnliche Auffassungen vertraten.

sche) mit dem kopernikanischen (heliozentrischen) System vergleichen sollte. Dabei riet der Papst Galilei aber, den Heliozentrismus nur als mathematische Hypothese zu behandeln. Im Jahr 1630 vollendete er das Werk »Dialog von Galileo Galilei über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische«. Die Veröffentlichung zwei Jahre später brachte ihn in eine ernsthafte Konfrontation mit der kirchlichen Hierarchie. Der Zensurauflage, das Werk mit einer Schlussrede zugunsten des ptolemäischen Systems zu beschließen, meinte Galilei nachzukommen, indem er diese Rede in den Mund des offensichtlichen Dummkopfs Simplicio legte. Nicht zu Unrecht erkannte sich der Papst im Simplicio und ging gegen Galileo vor. Die Kirche beschuldigte den Florentiner nun der Ketzerei, weil er durch die Verteidigung des Heliozentrismus dem Edikt von 1616 zuwider gehandelt habe. Beim Anblick der Folterinstrumente der Inquisitoren und angesichts der Aufforderung zu widerrufen, gestand Galilei, das Edikt übertreten zu haben. Der »Dialog« wurde daraufhin auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Zudem verbot die Inquisition auch alle zuvor von Galilei veröffentlichten Bücher und auch alle künftig von ihm verfassten. Seine Gefängnisstrafe wurde später in Hausarrest umgewandelt, unter dem er bis zu seinem Tod im Jahr 1642 lebte.

Beim Anblick der Folterinstrumente gestand Galilei die Ketzerei

Die Kirche reagierte auf diese neuen Entdeckungen zögerlich. Der päpstliche Inquisitor Robert Kardinal Bellarmin, auch »Hammer der Irrgläubigen« genannt, verurteilte erst im Jahr 1616 das kopernikanische Modell als »philosophisch absurd und formal häretisch«. Wenige Tage später schrieb er an Galilei einen Brief mit der Versicherung, dieser müsse keiner Lehre abschwören. Gleichzeitig jedoch enthielt dieses Schreiben die nachdrückliche Ermahnung, das kopernikanische System in keiner Weise als Tatsache zu verteidigen, sondern allenfalls als Hypothese zu diskutieren. Galilei, über fünfzig Jahre alt und gesundheitlich angeschlagen, trat daraufhin öffentlich nicht mehr für die kopernikanische Weltsicht ein, setzte aber seine astronomischen Beobachtungen fort. Als im Jahr 1623 sein Freund und Unterstützer Maffeo Barberini als Urban VIII. zum Papst gewählt wurde, glaubte Galilei, der neue Pontifex würde das Sprachverbot aufheben. Urban lehnte dies zwar ab, ermutigte Galilei jedoch zu einem neuen Projekt: ein Buch, in dem er das alte ptolemäische (geozentri-

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Die neuen Erkenntnisse über die Beschaffenheit des Universums verdankte Galileo Galilei seiner Beobachtungsgabe, seinem technischem Einfallsreichtum, seiner mathematischen Brillanz und seinem Wissensdurst. Dass sein Name aber heute noch so bekannt ist, verdankt sich vor allem dem Zusammentreffen dieser Eigenschaften mit der Dynamik einer aufsteigenden, neuen Gesellschaftsordnung, die sich eine größtenteils unbekannte Welt unterwerfen wollte. Als Isaac Newton ein Jahrhundert später die Schwerkraft entdeckte, kommentierte er das mit dem berühmten Ausspruch: »Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.« Gemeint waren Menschen wie Galileo. ■


Realistisch & Radikal

Debattenmagazin »Realistisch & Radikal« / Schwerpunkt DIE LINKE und Europa. Download unter:

www.sozialistische-linke.de

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KULTUR

Die bunte Welt des Widerstands Eine Ausstellung über globalen Aktivismus bringt die Occupy-Zelte ins Museum. Doch so anschaulich die Darstellung des Protests gelingt, so fragwürdig ist die politische Aussage Von Petra Schuster

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as ZKM – Museum für neue Kunst in Karlsruhe widmet sich in der bis Ende März 2014 laufenden Ausstellung »global activism« dem »neuen weltweiten Aktivismus der BürgerInnen«. Als politische Aktivistin fühle ich mich davon instinktiv erstmal angezogen. Ich freue mich, wenn Demonstrationen oder Kampagnen, an denen ich selbst teilgenommen oder die ich über das Internet oder andere Medien mitverfolgt habe, in einer Ausstellung zusammengetragen werden. Ich freue mich über die Weltkarte der Aufstände und Widerstandsbewegungen, über die Dokumentation der Entwicklung dieser Bewegungen, deren Chronologien – insgesamt darüber, dass dem globalen Widerstand ein Forum geschaffen wird. Wenn ich mich und meine eigene Praxis als Mitglied der LINKEN sowie einer Gewerkschaft – und in diesem Zusammenhang Aktivistin, Demogängerin und Unterstützerin vieler der gezeigten Kampagnen – dann aber in der Ausstellung gar nicht wiederfinden kann, hinterlässt das bei mir einen fahlen Nachgeschmack. Es drängt sich die Frage auf, welche Botschaft die Ausstellung den Besucherinnen und Besuchern vermitteln soll. Welche Strategie für eine Veränderung der Gesellschaft wird hier vorgeschlagen?

»Alles ist in Ordnung«: Kreativer Protest zum G20-Gipfel im Juni 2010 in Toronto

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Mitten in der Ausstellungshalle ist das Occupy-Zeltlager nachgebaut, daneben hängt ein Riesentransparent von Greenpeace, nebenan befindet sich ein echtes Stück Zaun von der Stuttgart-21-Baustelle. Im angrenzenden Raum werden mit Hilfe verschiedenster Medien die Aufstände im arabischen Raum ebenso dargestellt wie die Antikriegsproteste in den USA oder künstlerische und individualistische Protestformen, etwa die von Femen oder Pussy Riot. Zur theoretischen Unterstützung gibt es Schriften von Stefan Hessel und Noam Chomsky, denen auf prominenten Stellwänden großzügig Platz eingeräumt wird. Dem Begleitmaterial der Ausstellung zufolge ist der


»neue weltweite Aktivismus der BürgerInnen« eine Folge der Globalisierung und der technischen Entwicklung. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) hätten in den vergangenen Jahrzehnten eine vorbereitende und bahnbrechende Rolle für den globalen Aktivismus gespielt. Die Bedeutung dieser Organisationen zeige sich in den aufsehenerregenden, weltweit medial wahrgenommenen Aktionen von Amnesty International, attac, Greenpeace, Transparancy International und anderen. NGOs seien die neuen Organisationsformen der BürgerInnen zum Schutz der Bürgerrechte. Damit beschreiben die Kuratorinnen und Kuratoren recht präzise die Möglichkeiten, aber auch die Beschränkungen von NGOs. Diese inszenieren medienwirksame punktuelle Skandalisierungen von herrschenden Missständen. Das geschieht zum Teil mit einer deutlichen Orientierung auf einen »grünen Kapitalismus« oder die wirklich soziale Marktwirtschaft. Doch nur allzu häufig fehlt eine Vorstellung davon, wie die angeprangerten Missstände nachhaltig aus dem Weg geräumt werden können, denn das hieße ja: wie die herrschenden Verhältnisse überwunden werden können. Eine analytische und strategische Verklärung findet auch im Bezug auf das Potential der neuen Medien statt: Die neuen Formen spontaner Massenproteste von Individuen hätten gerade im Arabischen Frühling gezeigt, wie etablierte Machtsysteme – zumindest für einen kurzen Moment der Geschichte – außer Kraft gesetzt werden können. Es ist zum Verständnis jedoch nicht hilfreich, wenn die Ausstellung suggeriert, die tunesische oder ägyptische Revolution und die dortigen Massenbewegungen wären Twitter und Facebook zu verdanken. Hier werden die vorausgegangenen jahrelangen gewerkschaftlichen Kämpfe in den Industriezentren ebenso ausgeblendet wie der daraus resultierende Organisationsgrad von Teilen der Bevölkerung, die die Massenproteste maßgeblich aufgebaut und getragen haben. Die Präsentation der US-amerikanischen Occupy-Bewegung zeigt sich in der Analyse schwach und pessimistisch in den Folgerungen: Occupy kam und ging. Es war eine wunderbare Zeit. Wir waren traurig, als es vorbei war. Die in der Ausstellung dokumentierten Proteste und Kampagnen richten sich gegen soziale Ungleichheit, Umweltzerstörung, Kriege oder die Abschottung gegenüber Flüchtlingen. Sehr häufig spielen gerade bei solchen Protesten mindestens Teilgliederungen von Parteien und Gewerkschaften eine tragende Rolle. Hier klafft in der Dokumentation des globalen Aktivismus eine ziemlich große Lücke. Denn als gesellschaftspoli-

tisch relevante Akteure nehmen die Kuratorinnen und Kuratoren neben Individuen hauptsächlich NGOs und Künstlergruppen wahr. Parteien oder Gewerkschaften gewähren sie keinen Raum in der Ausstellung, sie erwähnen sie noch nicht einmal. Ich vermute, dass diese Lücke gewollt ist. Wahrscheinlich gibt es erhebliche Differenzen zwischen meiner Vorstellung darüber, wie gesellschaftliche Veränderung herbeigeführt werden kann, und der der Kuratorinnen und Kuratoren. Ein wenig habe ich den Eindruck, als solle mit der Ausstellung zugleich ihr Strategievorschlag präsentiert werden. Trotz der analytischen und strategischen Schwächen würde ich einen Besuch der Ausstellung dennoch empfehlen. Es ist gelungen, unterschiedliche globale Proteste anschaulich und erlebbar in den zwei Fabrikhallen zu bündeln. Besucherinnen und Besucher, die noch nie an Demonstrationen oder anderen Protesten teilgenommen haben, können dank der Schau die Stimmung nachempfinden und die politischen Hintergründe nachvollziehen. Der Widerstand wird in seiner ganzen Breite mit Aktivistinnen und Aktivisten jeden Alters und jeglicher Herkunft vorgestellt, was bei einigen sicherlich die Hemmschwelle sinken lässt, beim nächsten Anlass selbst mitzudemonstrieren. Dabei werden sie dann hoffentlich feststellen, dass es noch mehr Formen gibt, Widerstand zu organisieren, als die Ausstellung zeigt. Für Aktivistinnen und Aktivisten ist die Ausstellung spannend, weil sie weltweite Widerstandsherde der letzten Jahre anschaulich dokumentiert und Erinnerungen an die eine oder andere Demonstration weckt. Interaktive Karten und die plastische Darstellung von Aktionen verdeutlichen, dass die einzelnen Kampagnen und das Aufbegehren gegen Missstände alle Teil einer zwar unkoordinierten, aber globalen Bewegung für die Rettung des Planeten und für ein solidarisches Zusammenleben der Menschen sind. »Die Ausstellung versucht, eine erste Kartografie des globalen Aktivismus zu entwerfen. Der aus der Verbindung von Aktivismus und Kunst (engl.: art) entstehende ›Artivismus‹ ist vielleicht die erste neue Kunstform des 21. Jahrhunderts«. Mit diesem Fazit der Kuratorinnen und Kuratoren kann ich gut leben. Für die politische Analyse und Diskussion ist die Ausstellung sicherlich kein zukunftsweisendes Instrument. Sie hat eher veranschaulichenden Charakter. Die Debatte über Möglichkeiten und Hebel zur Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse muss wohl woanders stattfinden. ■

★ ★★ Petra Schuster ist Mitglied der LINKEN in Berlin.

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DIE AUSSTELLUNG global aCTIVISm ZKM – Museum für neue Kunst Karlsruhe Bis 30. März 2014 global-activism.de

KULTUR

© Oren Ziv / Activestills | Protest gegen den G20-Gipfel | Toronto 2010

Allzu häufig fehlt eine Vorstellung davon, wie etablierte Machtsysteme außer Kraft gesetzt werden können

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GESCHICHTE HINTER DEM SONG

Am 7. Dezember 1970 kommt der damalig e Bundeskanzler Willy Brandt in die polnische Hauptstadt und ged enkt am Mahnmal den Opfern des Aufstandes im Warschauer Ghett o. Das Bild des »Kniefalls von Warschau« geh t um die Welt. Was die wenigsten heute wissen: Nur sieben Tage später bricht in Polen erneut ein Aufstand los. Der Musik er Jacek Kaczmarski schreibt den Soundtrack dazu Von Yaak Pabst

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GESCHICHTE HINTER DEM SONG

©wikimedia

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olen ist zu dieser Zeit für viele kein lebenswerter Ort. In dem angeblichen Arbeiter- und Bauernstaat haben weder die Arbeiter noch die Bauern das Sagen. Eine Clique von Funktionären der »kommunistischen« Partei regiert das Land nach ihren Interessen. Die Bürokratie der Staatspartei kontrolliert die Medien, Gerichte, Polizei und die Armee. Freie Gewerkschaften sind verboten, das Streikrecht existiert nicht mal auf dem Papier. Tausende politische Gefangene sitzen in den Knästen, weil sie gegen das Regime kämpften. Ein Zentrum des Widerstandes gegen die Diktatur ist die Lenin-Werft in Danzig.

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Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.

Als kurz vor Weihnachten 1970 die Staatsbürokratie die Preise für Lebensmittel um 38 Prozent erhöht, treten die Arbeiter der Werft in einen wilden Streik. Wie ein Lauffeuer breitet sich der Protest auf andere Städte aus: Zehntausende sind in ganz Polen auf den Straßen. Die Streiks, Massenkundgebungen und Demonstrationen in Gdingen, Danzig und Stettin machen die Herrschenden nervös. Um den Protest zurückzudrängen, schlägt der Staat zurück. Die Polizei knüppelt Arbeiter nieder, Soldaten schießen in die protestierende Menge. Nach der Niederschlagung des Aufstandes gibt die Regierung zu, mindestens 49 Menschen ermordet zu haben. Tatsächlich ist die Zahl der Opfer doppelt so hoch, mehrere Hundert werden durch die Staatsgewalt verletzt. Zwar muss danach der Parteichef Gomułka zurücktreten. Aber die Diktatur existiert weiter – eine Niederlage für die Opposition. Sechs Jahre später kommt es erneut zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und dem Staatsapparat. Wieder sterben Menschen, wieder kann die Staatsmacht sich behaupten. Der Liedermacher Jacek Kaczmarski ist zu der Zeit 19 Jahre alt. Seine Eindrücke vom Widerstand und der Repression verarbeitet er 1978 in seinem Lied »Mury«. Der Text handelt von einem Sänger, dessen Lied zum Startschuss des Widerstandes einer Massenbewegung wird. Doch am Ende steht der Sänger wieder alleine da, ohne das die Bewegung erfolgreich war: On natchniony i młody był ich nie policzyłby nikt / On im dodawał pieśnią sil śpiewał że blisko już świt / Świec tysiące palili mu znad głów unosił się dym / Śpiewał że czas by runął mur oni śpiewali wraz z nim (Er war jung und voller Ideen, die anderen waren unzählig viele / Er gab ihnen Kraft mit seinem Lied, er sang: »Die Morgendämmerung kommt bald« / Tausende Kerzen entzündeten sie für ihn, über den Köpfen erhob sich der Rauch / Er sang: »Die Zeit ist reif, die Mauern müssen fallen«, sie sangen mit ihm) Wyrwij murom zęby krat / Zerwij kajdany połam bat / A mury runą runą runą / I pogrzebią stary świat!

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(Reiß die Gitterstäbe aus den Mauern / Spreng die Fesseln, zerbrich die Peitsche / Und die Mauern werden fallen, fallen, fallen / Und die alte Welt wird begraben!) Wkrótce na pamięć znali pieśń i sama melodia bez słów / Niosła ze sobą starą treść dreszcze na wskroś serc i dusz / Śpiewali wiec klaskali w rytm jak wystrzał poklask ich brzmiał / I ciążył łańcuch zwlekał świt on wciąż śpiewał i grał (Schon bald kannten sie das Lied auswendig und summten nur die Melodie / Auch ohne Worte wusste jeder, was gemeint war, es bewegte die Herzen und durchdrang die Köpfe / Sie sangen also, klatschten im Rhythmus, wie ein Schuss erklang ihr Applaus / Doch die Kette war schwer und die Morgendämmerung ließ auf sich warten, aber er sang und spielte noch immer)

Die Poesie war ein Vehikel für Angriffe auf das System Aż zobaczyli ilu ich poczuli siłę i czas / I z pieśnią że już blisko świt szli ulicami miast / Zwalali pomniki i rwali bruk – Ten z nami! Ten przeciw nam! / Kto sam ten nasz największy wróg! A śpiewak także był sam (Und sie erkannten, sie waren viele und fühlten ihre Macht / Und mit dem Lied von der nahenden Morgendämmerung marschierten sie durch die Straßen der Städte / Sie brachten Denkmäler zu Fall und rissen Pflastersteine heraus – Dieser ist mit uns! Dieser gegen uns! / Wer allein ist, ist unser größter Feind! Auch der Sänger war allein) Patrzył na równy tłumów marsz / Milczał wsłuchany w kroków huk / A mury rosły rosły rosły Łańcuch kołysał się u nóg... (Er beobachtete den Gleichschritt der Massen, / schwieg vertieft im Donner ihrer Schritte / und die Mauern sie wuchsen, wuchsen, wuchsen / die Kette, sie schaukelte am Bein) Patrzy na równy tłumów marsz / Milczy wsłuchany w kroków huk / A mury rosną rosną rosną / Łańcuch kołysze się u nóg... (Er beobachtet den Gleichschritt der Massen, / schweigt vertieft ins Dröhnen der Schritte / und die Mauern sie wachsen, wachsen, wachsen / die Kette, sie schaukelt am Bein)


Im August 1980 passiert genau das. Als die staatliche Leitung der Lenin-Werft die Streikführerin Anna Walentynowicz feuert, treten alle 16.000 Arbeiter in den Streik und besetzen das Gelände. Auf der Streikversammlung stimmen die Kolleginnen und Kollegen für den unbefristeten Streik. Am Ende des Massenmeetings in den Docks singen Streikende nur ein Lied: »Mury«. Mit ihm begann, was später als SolidarnośćBewegung in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Die Protestbewegung entfaltet sich im ganzen Land. Mehrere Hunderttausend streikten in verschiede-

Vor fast 34 Jahren erkämpften die Arbeiter der Danziger Lenin-Werft die erste freie Gewerkschaft im Ostblock. Jacek Kaczmarskis Lied »Mury« wurde zur Erkennungsmelodie der Solidarność-Bewegung

nen Städten und unterstützen die 21 Forderungen der Danziger Arbeiterinnen und Arbeiter unter anderem nach Abschaffung der Privilegien für Funktionäre der Staatspartei, Freilassung der politischen Gefangenen, Pressefreiheit, Streikrecht und Recht auf freie Gewerkschaften. Am 31. August 1980 zwingen die Massenstreiks die Regierung zum Nachgeben. Einen Tag später gründen die Streikaktivisten die Gewerkschaft Solidarność. Der Name bedeutet auf Deutsch »Solidarität«. Schnell bilden Arbeiter in ganz Polen Gewerkschaftsgruppen. Ende September sind zehn Millionen Menschen Solidarność beigetreten. Es ist die erste freie Gewerkschaft im Ostblock und das Lied »Mury« wird die Hymne der Bewegung. ■

GESCHICHTE HINTER DEM SONG

Trotzdem entwickelt es sich zum Hit der Untergrundszene Polens und Jacek Kaczmarski wird der Barde der Opposition. Seine Lieder werden tausendfach vervielfältigt, von Kassette zu Kassette kopiert und gesungen. Die Liedermacherkultur ist nicht nur in Polen, sondern im gesamten Ostblock sehr beliebt. Gitarre und Stimme reichen aus, um diese Musik zu machen. Die lyrischen Texte bieten die Möglichkeit, trotz der Zensur, Klartext zu reden. Der Gegner wurde zwar nicht beim Namen genannt, aber die Poesie war ein Vehikel für Angriffe auf das System. So auch bei »Mury«. Es beginnt mit akustischer Gitarre: gezupft, leise, minimalistisch. Der Sänger setzt mit tiefer Stimme ein und singt die erste Strophe. Der Refrain ist anders. Die Gitarre wird laut geschlagen und ein Klavier unterstützt den eindringlichen Wunsch nach dem Sturz der Mauern. Das Duo holt alles heraus, was es mit zwei Instrumenten zu erreichen gibt. Sie arbeiten mit Pausen und Tempowechseln. Es wird erst laut und dann herrscht Stille. Damit es jeder versteht, wird nach der zweiten Strophe der Refrain in das Nichts hinein gesungen: Zum Nachsingen empfohlen!

©wikimedia

Den Text des Liedes hat Kaczmarski verfasst. Die Melodie stammt von dem katalanischen Liedermacher Lluis Llach. Er schrieb sie 1968 für den Song »L'Estaca« (»Der Pfahl«) – das Symbollied für den Kampf gegen politische Unterdrückung in Spanien. Der neue Text von Kaczmarski spielt auf Llachs Geschichte selbst an. Llach sang das Lied nicht öffentlich, er spielte die Begleitakkorde an und summte die Melodie dazu, worauf die Zuhörer zunächst in tosenden Beifall ausbrachen. Dann wurden, während das Lied vorsichtig mitgesummt wurde, tausende Kerzen angezündet und die Menschen bewegten sich im Rhythmus der Musik. Denn das Lied war bis zum Sturz Francos 1975 verboten. Während sich das Original betont kämpferisch gibt, endet der polnische Song »Mury« ohne aktuellen Bezug und pessimistisch.

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Review


BUCH

Werner Seppmann (Hrsg.) | Ästhetik der Unterwerfung. Das Beispiel Documenta

Ein bemaltes Hundebein als Problem der Ökologie Kunst gibt sich seit einiger Zeit wieder politisch. Inwieweit diese Haltung eingelöst wird, untersucht ein neuer Sammelband. Er widmet sich der Beziehung zwischen Gegenwartskunst und Kapitalismus anhand der »Documenta«, der bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst Von Alex Schröder andere profitorientierte Unternehmen. Neuerungen wie die interaktive Möglichkeit, bunte Würfel zu verschieben, weiße Wände zu bestaunen oder sich durch einen kostspieligen Luftstrom begeistern zu lassen, sind ebenso innovativ und bedeutsam wie der tausendste aufwendig beworbene Joghurtgeschmack. Welchen Inhalt sollen auch Holzkonstruktionen transportieren, »die auch als Klettergerüste auf einem Abenteuerspielplatz hätten durchgehen können« (Seppmann)? Allerdings ist die ästhetische Inszenierung der Documenta trotz ihrer Inhaltsleere nicht frei von ideologischer Wirkung. Sie wirkt ganz im Sinne der bürgerlichen Ideologie des heutigen Kapitalismus. Wenn das Kunst ist, dann ist es eine Kunst der Unterwerfung. Die Betrachter der Inszenierung von Alltagsgegenständen zahlen Eintritt und erhalten dafür den Eindruck, dass ihnen (große) Kunst dargeboten wird. Damit verwechseln sie Kunst mit bloßem Show-Business. Zudem bestätigt sich so, dass Kunst wie alles andere im Kapitalismus mit Geld bewertet werden kann. Die spektakuläre Bewerbung der Documenta durch das Event-Management, die KunstDarsteller und Medien zeigt: Es kommt viel mehr auf die Reklame an als auf das eigentliche Produkt. Denn bei all der Aufge-

regtheit um die Ausstellung findet sich wenig Neues. »Ein paar Bienchen, ein paar Schmetterlinge, ein Straßenhund mit pink angestrichenem Bein und schon haben wir die Frage der globalen Ökologie behandelt«, kritisiert Friauf. Größe und Bedeutung werden so durch Kleinkariertheit und Banalität ersetzt. Die Kunst passt sich einer Gesellschaft an, in der Ski-Unfälle und Skandale von Promis mehr zählen als Weltveränderung. Apropos: Die Documenta beansprucht, kritisch und wachrüttelnd zu sein. Es geht um die großen Probleme der Gegenwart: Umweltzerstörung, Kriege, Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Aber die »Nicht-Kunst« führt nicht über den Status Quo hinaus, weil sie nur die Oberfläche und das ohnehin Bekannte darstellt. Elend und Zerstörung sind nichts Neues. Die künstlerische Darstellung dieser Motive muss aber starke Ideen oder Emotionen provozieren, sonst ist sie bedeutungslos. Der Band ist sehr lesenswert. Die Empörung über die infantile »Nicht-Kunst« wechselt sich ab und an mit etwas Schadenfreude ab. Dazu gibt es bemerkenswerte Ausführungen über Kultur, Ökologie oder Feminismus im Spätkapitalismus. Darüber hinaus liefern die Beiträge wertvolle Hinweise zur Aktualisierung marxistischer Kunsttheorie. ■

★ ★★ Buch | Werner Seppmann (Hrsg.) | Ästhetik der Unterwerfung. Das Beispiel Documenta | Laika Verlag | Hamburg 2013 | 248 Seiten | 21 Euro

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© Hammonia / CC BY-NC 2.0 / flickr.com

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erausgeber des Buches ist Werner Seppmann, Schüler und Mitarbeiter des verstorbenen Ideologiekritikers Leo Kofler. In dieser Tradition analysieren die Beiträge von Seppmann, Thomas Metscher, Heike Friauf und Thomas Richter die Inszenierung (post) moderner Kunst. Ihrer Kritik, soviel vorweg, schließe ich mich vorbehaltlos an. Die Documenta sei »eine Institution zur Entsorgung ernsthafter Kunst und eine Flucht vor einer verständigen Auseinandersetzung mit den Gegenwartsproblemen«. Zur Begründung dieses Urteils entwickeln die Autorinnen und Autoren einen ästhetischen Maßstab zur Bewertung von Kunst. Sie postulieren eine Hierarchie von Kunstwerken von »Meisterwerken« am einen und zu »misslungener« und »falscher Kunst« am anderen Ende. Einen Großteil der Werke auf der Documenta halten sie sogar für »Nicht-Kunst«. Dabei verdammen die Beiträge nicht moderne Kunst überhaupt. Sie kritisieren einfalls- und bedeutungslose, oberflächliche Inszenierungen, die an Kunst erinnern. Die Documenta inszeniert, propagiert und verkauft. Vor allem verkauft sie die Welt für dumm. Die spektakuläre und skandalträchtige Darstellung der Documenta ist demselben Innovations- und Werbezwang unterworfen wie

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ie 1980er Jahre waren eine deprimierende Zeit für Jugendliche in Großbritannien. Im Jahr 1979 wurde Margaret Thatcher Premierministerin und regierte das ganze kommende Jahrzehnt. Unter ihrer Regierung stiegen die Arbeitslosenzahlen, zu den ersten Opfern zählten die 16- bis 18-Jährigen, denen Thatcher das Arbeitslosengeld strich. Kaum besser sah es in der Musikszene aus. Aus heiterem Himmel war im Jahr 1976 Punk entstanden, mit einem Manifest gegen Sozialabbau, wachsenden Faschismus und langweilige Schlagzeugsolos. Doch binnen 18 Monaten war die Bewegung bereits ausgebrannt und wurde abgelöst vom harmloseren New Wave. In den Charts dominierten die »New Romantics«, deren konsumistische Botschaft Thatchers politische Linie widerspiegelte. Selbst sozial progressive Lieder wie der »Wham Rap!« (George Michaels Aufschrei gegen Jugendarbeitslosigkeit) beschwören den Schein gegenüber dem Sein. Kein Wunder, dass viele der Meinung sind, zwischen der Auflösung der Sex Pistols im Jahr 1978 und dem Erscheinen von Nirvanas Album »Nevermind« habe es nicht viel Interessantes gegeben. Doch die CD-Box »Scared to Get Happy« eröffnet eine andere musikalische Perspektive auf diese Jahre. Genauso wie der New Romanticism ist auch der Indiepop ein Produkt der Thatcherjahre. Aber während jener den Thatcherismus umarmte, wendeten die Musikerinnen und Musiker des Indiepop Thatchers neue Gesetze gegen sie. Zu arm, um das Interesse großer Plattenfirmen zu wecken, beantragten zahllose junge Arbeitslose und Studierende Staatsgelder, um ihre eigenen Plattenlabels zu gründen. Dabei übernahmen sie die Idee gegenseitiger Unterstützung aus der »Do It Yourself«-Ethik des Punk. Ich würde wetten, dass fast alle der 134 Künstlerinnen und Künstler der Zusammenstel-

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Diverse Interpreten | Scared to get Happy – A Story of Indie Pop 1980-1989

ALBUM DES MONATS Für viele waren die achtziger Jahre musikalisch eine verlorene Zeit. Doch eine neue Anthologie über Indiepop erzählt eine andere Geschichte dieses Jahrzehnts Von Phil Butland

★ ★★ CD-Box (5CDs) | Diverse Interpreten | Scared to get Happy – A Story of Indie Pop 1980-1989 | Cherry Red Records 2013

lung eine sozial progressive Haltung vertreten. Allerdings erscheint die Mehrheit der Lieder nicht besonders politisch, eher geht es um die Nonkonformität der Bohème. Widerstand erschöpft sich zum Beispiel für Lloyd Cole in »Norman Mailer lesen und einen neuen Schneider finden«, oder für Roddy Frame von Aztec Camera in der Erkenntnis: »Sie nennen uns einsam, obwohl wir nur allein sind.«

Aber es wäre falsch, diese Musik nur als weichere Interpretation von Thatchers Individualismus zu sehen. Denn zum einen geht es hier um eine Szene, in der junge Musikerinnen und Musiker sich gegenseitig geholfen haben, Konzerte zu organisieren, Musik zu produzieren und – mit wenig Geld – gemeinsam Spaß zu haben. Zum anderen hatte diese musikalische Szene auch immer politische Untertöne. Ob bei

Benefizkonzerten für streikende Bergarbeiter oder dem weniger gelungenen Versuch der Labour Party, mit dem »Red Wedge«-Kollektiv Musiker in den Wahlkampf zu bringen – die Indie-Künstlerinnen und Künstler waren immer aktiv dabei. Für jemanden wie mich, der in dieser Zeit erwachsen geworden ist, hat Indiepop eine wichtige Rolle in meiner – musikalischen und auch politischen – Entwicklung gespielt. Hin und wieder trifft ein Lied auch politisch ins Schwarze. Die Mitglieder der Band Monochrome Set waren früher echte Punks (in der Band Adam and the Ants, bevor Adam den kommerziellen Erfolg für sich entdeckte). Ihre Wut haben sie sich bewahrt und Anzüge waren für sie – anders als für Cole – keine neue Modeoption, sondern die Uniform des Klassenfeindes. In dem Lied »The Jet Set Junta« ziehen sie die Verbindung von überteuerten englischen »Savile Row«-Maßanzügen zu den Messingelektroden in lateinamerikanischen Folterlagern. Selten hat ein dreiminütiger Popsong eine so scharfe politische Aussage so schön vertont. In der Presseankündigung für diese CDs heißt es optimistisch: »Viele der Gruppen hatten später im Mainstream Erfolg.« Das gilt für ein paar Ausnahmen tatsächlich, aber die Mehrheit war selbst in den Achtzigern kaum bekannt. Manchmal aus gutem Grund, aber insgesamt ist die Durchschnittsqualität der Musik überraschend hoch. Vielleicht bin ich zu befangen, um zu entscheiden, ob diese fünf CDs mehr darstellen als ein historisches Artefakt. Aber für einen Veteranen des Indie-Zeitalters weckt es Erinnerungen an eine Zeit, als sich Musik noch authentisch anfühlte. Schon die liebevolle Aufmachung ist offensichtlich die Arbeit von jemandem, dessen Herz an der Musik hängt. Noch nicht überzeugt? Auf Youtube sind unter »Scared to Get Happy« 61 Lieder der Sammlung zusammengestellt. Für die restlichen 73 muss man dann die CD-Box kaufen. ■


BUCH

Moshe Machover | Israelis und Palästinenser – Konflikt und Lösung

»Das Verstehen sollte vor dem Urteil kommen« Moshe Machover beschäftigt sich seit fünf Jahrzehnten mit der Auseinandersetzung zwischen Israel und Palästinensern. Seine wichtigsten Texte sind nun in einem Sammelband erschienen und ermöglichen einen ganz neuen Blick auf den Konflikt Von Mona Mittelstein die Vorbedingung für das Verständnis des Wesens des israelisch-arabischen Konflikts«, betont Machover. Zentral seien hier vier Punkte, die er als Zusammenfassung der Analysen von Matzpen versteht: 1. Der Zionismus ist ein kolonialistisches Projekt und Israel ein Siedlerstaat. Diese Formulierung sei wertfrei und entspreche den historischen Fakten: Der Zionismus bediente sich selbst des Begriffs »Kolonisation« und tauschte ihn erst, als er in der öffentlichen Weltmeinung in Ungnade fiel, gegen das hebräische Wort »hitjaschwut« aus. 2. Der zionistische Kolonialismus ist anders beschaffen als zum Beispiel der südafrikanische: Das Wirtschaftssystem baut nicht auf der Ausbeutung der indigenen Bevölkerung auf, sondern auf deren Verdrängung. Daher könne man die Situation in Israel auch nicht als Apartheid bezeichnen. 3. Entscheidend sei es, den regionalen Kontext ebenso zu berücksichtigen wie die spezielle Form der Kolonisation und des Kapitalismus in Israel sowie das daraus resultierende Kräfteverhältnis. Anstatt Position zur Ein- oder Zweistaatenlösung zu beziehen, »wäre es besser, der Öffentlichkeit zu erklären, dass die Frage der Grenzen nicht der Schlüssel zur Existenz Israels und zur Lösung des Konflikts mit der arabischen Welt ist« – gerade weil Palästina erst durch eine künstliche Teilung Arabi-

ens zum Zweck der Zionisierung entstanden sei. 4. Eine Lösung könne es nur innerhalb einer regionalen sozialistischen Föderation des arabischen Ostens geben, in der Palästinenser und Hebräer mit gleichen individuellen und kollektiven Rechten zusammenleben. Leider bedient sich Machover manchmal einer sehr herablassenden, belehrenden Sprache. Gerade in den Essays zum palästinensischen Widerstand wirken einige Artikel wie eine persönliche Abrechnung mit dem Friedensaktivisten Uri Avnery. Nicht unerwähnt darf auch bleiben, dass er im Umgang mit Statistiken eine teils krude Argumentation an den Tag legt und auf kreative Weise Zahlen miteinander vergleicht. Aber davon abgesehen handelt es sich bei »Israelis und Palästinenser« um einen empfehlenswerten Band, der die Besonderheiten der israelischen Gesellschaft erklärt. Er verdeutlicht die Nabelschnur, die »den Zionismus und Israel mit dem Imperialismus verbindet« ebenso wie den Umstand, dass die palästinensische Kultur mit der Unterdrückung nicht unterging, sondern sich erst richtig ausprägte. Einen der Aufsätze beendet Machover mit den Worten: »Wer sich aufrichtig um die Zukunft von Israelis und Arabern im Nahen Osten bemüht, sollte sich darüber ernsthafte Gedanken machen.« Das gilt durchaus auch für den Inhalt des ganzen Buches. ■

★ ★★ BUCH | Moshe Machover | Israelis und Palästinenser – Konflikt und Lösung | Laika Verlag | Hamburg 2013 | 480 Seiten | 29 Euro

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oshe Machover war lange Zeit eine Schlüsselfigur der israelischen Linken. Im Jahr 1962 gehörte er zu den Gründern der sozialistischen Organisation Matzpen. Nachdem deren Mitglieder zunehmend politischer Verfolgung ausgesetzt waren, verließ er das Land. Seit 1968 lebt er in Großbritannien. Nun ist ein Buch erschienen, das Essays von ihm aus insgesamt 45 Jahren versammelt. Hier widmet er sich unterschiedlichen Aspekten des Nahostkonflikts, der dahinterstehenden Geschichte und Politik, und setzt die Entwicklungen in Bezug zur umliegenden Region. Da es sich nicht um einen zusammenhängenden und als solchen choreographierten Text handelt, kommt es zwangsläufig zu Wiederholungen. Die Themen einzelner Essays überschneiden sich, teilweise revidiert Machover Aussagen, mildert sie ab oder stellt sie anders dar, wenn sich die erste Analyse später als falsch oder ungenau erwies. Als Leser schauen wir mit dem Wissen unserer Gegenwart auf diese Texte, daher mögen uns einige Einschätzungen naiv erscheinen. Doch insgesamt bietet das Buch die schöne Möglichkeit, einen sehr direkten, nicht aus der heutigen Sicht eingefärbten Einblick in die Geschichte des Nahostkonflikts zu gewinnen. Das »Verstehen sollte vor dem Urteil kommen« und »den Charakter Israels zu verstehen, ist

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BÜCHER

Zum 100. Geburtstag Willy Brandts

Ideologie, Nostalgie und Subversion Es menschelte sehr zum 100. Geburtstag des einstigen SPD-ReformKanzlers Willy Brandt. Nicht ganz zu Unrecht, meint unser Autor und stellt drei Neuerscheinungen vor BUCH | Bernd Faulenbach | Willy Brandt | C.H. Beck | München 2013 |129 Seiten | 8,95 Euro

BUCH | Albrecht Müller | Brandt Aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger | Westend | Frankfurt am Main 2013 | 158 Seiten | 12,99 Euro

BUCH | Peter Brandt | Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt | Dietz | Bonn 2013 | 279 Seiten | 24,90 Euro 74

Von Christoph Jünke

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s hatte etwas von einem »Medien-Tsunami« (so einer der Beobachter), als im letzten Viertel des gerade zu Ende gegangenen Jahres ausgiebigst des hundertsten Geburtstags des einstigen Reform-Kanzlers Willy Brandt gedacht wurde. Gleich mehrere TV-Dokumentationen liefen in Dauerschleife und auch keine der einschlägigen Talkshows wollte sich lumpen lassen. Keine Zeitung oder Zeitschrift, in der nicht ein ausführliches Dossier, eine mehrteilige Serie oder gar ein Sonderheft erschienen ist. Auch Theaterstücke und Lesungen, Audio-CDs und Ausstellungen, Vorträge und Zeitzeugengespräche gehörten zum Begleitprogramm und wurden unterfüttert von mindestens einem Dutzend dicker wie dünner Buchveröffentlichungen – darunter sogar zwei Comic-Biografien. Ohne Zweifel wurde hier eine Staatsideologie (»Versöhnen statt spalten«) medienindustriell abgefeiert. Und doch wurde dieser Hype ebenso sichtbar begleitet von dem halb nostalgischen, halb subversiven Publikumsinteresse an einem Politikertypus, den es heute so wohl nicht mehr gibt. Nicht ganz zu Unrecht wird er nun eine sozialdemokratische Jahrhundertgestalt genannt, da sich in seinem Leben und Werk der Schicksalsweg der deutschen Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts spiegelt. Und doch ist es ein alles andere als

gerader, widerspruchsfreier und unproblematischer Weg, wie die meisten der nun vorliegenden biografischen Werke verdeutlichen. Die berühmt-berüchtigte Melancholie Brandts hatte vor diesem Hintergrund etwas Objektives, geradezu Geschichtsphilosophisches, und die in ihr aufscheinende Dialektik von Mensch und Politiker ist eine offensichtlich schwierige. In der neuen (hier nur ansatzweise besprochenen) Literatur wird diese immanente Spannung vor allem als »die Frage nach dem Menschen Willy Brandt« (Bernd Faulenbach) abgehandelt. Manche lösen diese Spannung zugunsten des Staatsmannes auf, indem sie den arbeiterbewegten Brandt zum Auslaufmodell und die von ihm repräsentierte Arbeiterbewegungstradition zum bloßen Vorläufer unserer liberalen Demokratie verklären – so beispielsweise das grausliche Buch Faulenbachs (dem konservativen Frontmann der sozialdemokratischen Historikerzunft), der abschätzig von den sozialistischen »Wirrnissen« des jungen Brandt und der »Fundamentalpolitisierung« der 68er schreibt und davon, dass streikende Gewerkschaften in den 1970er Jahren die Gesellschaft »in Geiselhaft« nahmen. Andere wiederum vergessen über das Lob des Menschen Brandt allzu schnell die problematischen Seiten des Politikers und/oder sehen in ihm gar ein »brandt aktuelles« Modell ge-

gen den Neoliberalismus – wie der zornige Publizist und einstige Brandt-Berater Albrecht Müller –, obwohl sie gleichzeitig aufzeigen, dass und wie selbst ein solch pragmatischer Reformer mit den vereinten Kräften vom medialen, politischen und ökonomischen Establishment aus seinem Kanzleramt gemobbt wurde. Peter Brandts Buch dagegen ist erfrischend nüchtern und unideologisch, in lässig-elegantem Stil und mit viel politischem und historischem Einfühlungsvermögen geschrieben. Er hält die Balance zwischen dem Politiker und dem Privatmann gekonnt in der Schwebe. Wer aufmerksam liest, wird die kritischen Zwischen- und Untertöne nicht überlesen, mit denen sich der linkssozialdemokratische Historiker seinem Vater nähert. Auch wenn er sich eigener Urteile explizit enthält, ist er dem jungen Radikalen und dem sich für die Probleme weltweiter Armut einsetzenden Elder Statesman offensichtlich näher als dem Parteipolitiker. Willy Brandt »behandelte Menschen wie Menschen und war sicherlich ein Menschenfreund. Dass er Mitarbeiter aus Lust oder nur aus schlechter Laune getriezt oder geduckt hätte, kann man sich schlechterdings nicht vorstellen.« Das kann zwar dessen politische Widersprüche nicht glätten, beschreibt aber sehr gut, warum ihm gerade heute so viele nachtrauern. ■


Leonardo Padura | Der Mann, der Hunde liebte

BUCH DES MONATS Am Strand von Havanna trifft ein junger Autor auf einen rätselhaften Mann. Eine Begegnung, an deren Ende ein monumentaler Roman über das Scheitern des »real existierenden« Sozialismus steht Von DAVID MAIENREIS

★ ★★ BUCH | Leonardo Padura | Der Mann, der Hunde liebte | Unionsverlag | Zürich 2012 | 730 Seiten | 14,95 Euro

rem Akzent, der dort seine russischen Windhunde ausführt. Dieser geheimnisvolle, aber charmante Fremde beeindruckt ihn mit seiner Weltläufigkeit. Schließlich setzt er ihn auf eine Fährte, die zu den Anfängen der Stalinisierung der sozialistischen Bewegung reicht. Iván recherchiert jahrelang, während er und seine Frau sich mit Nebenjobs gerade so über Wasser halten können. Trotz

Schreibverbots setzt er schließlich an, das Vermächtnis des Mannes, der Hunde liebte, zu einem Buch zu verarbeiten. Seine Geschichte führt uns zurück in die Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und der Moskauer Schauprozesse. Später geht es ins Moskau der Nachwendezeit, ins Kuba der 1970er und 1980er Jahre und nach Frankreich, das kurz vor der deutschen Invasion steht. Dabei begleiten wir stets lei-

denschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten, die an Freiheit und Gerechtigkeit glauben. Für diese Ziele sind sie bereit, ihr Leben einzusetzen, selbst wenn das bedeutet, in blindem Vertrauen in ihre politische Führung zuzulassen, dass ihre revolutionäre Massenbewegung in einen autoritären Geheimbund verwandelt wird. Denn genau das geschieht mit der internationalen kommunistischen Bewegung. Nach der Machtübernahme Stalins in der russischen Kommunistischen Partei geben dort Geheimniskrämerei und geheimdienstliche Methoden immer mehr den Ton an. Die Revolution wird nur noch als bewaffneter Kampf verstanden, in dem Gewalt und Gehorsam die wichtigsten Mittel sind. Zeugnis dieser Entwicklung ist die gehetzte Odyssee des wichtigsten unter Lenins Wegbegleitern und Stalins Gegnern: Leo Trotzki, der Russland verlassen muss und heimatlos von einem Asyl ins andere gejagt wird, bis er in Mexiko auf den Mann trifft, der Hunde liebte. Die ganze Absurdität und Verlogenheit des Stalinismus macht Padura an Stalins Besessenheit deutlich, diesen Kronzeugen der Revolution ermorden zu lassen. Leider stellt er Trotzkis Kritik am Kurs der Sowjetregierung nur skizzenhaft dar – eine Anregung, weiterzulesen und sich mit den Schriften eines Mannes vertraut zu machen, dessen Name im ehemaligen Ostblock aus den Geschichtsbüchern getilgt war und es in Kuba noch immer ist. Paduras Buch ist exzellent recherchiert. Eigentlich handelt es sich um ein als Roman verpacktes Geschichtsbuch voller interessanter Informationen über die politischen Entwicklungen, die im 20. Jahrhundert zum Scheitern des Sozialismus in Russland, in Spanien, in Kuba und in der restlichen Welt führten. Gleichzeitig ist es eingängig geschrieben, spannend und einfühlsam erzählt. Eines der ganz wenigen Bücher, bei dem ich schon beim Lesen traurig war, dass es irgendwann zu Ende sein würde. ■

REVIEW

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m November jährt sich zum 25. Mal der Fall der Berliner Mauer und damit der Zusammenbruch des »real existierenden« Sozialismus. Seither sind die Erfahrungen, die die einfachen Menschen dort machten, literarisch erstaunlich wenig aufgearbeitet worden. Die meisten Veröffentlichungen sind entweder wohlfeile, moralisierende Abrechnungen mit den Schrecken der Regime, vorgetragen von ehemaligen »Bürgerrechtlern«, die sich seither in konservativen Kreisen feiern lassen. Oder es handelt sich um die Mythen und Selbstbestätigungen jener »Ostalgiker«, die angesichts des offensichtlichen Elends des globalen Kapitalismus den Untergang der stalinistischen Diktaturen samt ihrer sozialen Sicherungssysteme beweinen. Aus Kuba, dessen Gesellschaftsordnung das Jahr 1989 intakt überstanden hat, stammt ein Buch, das die Lücke zwischen diesen beiden Extremen füllt. Dessen Autor Leonardo Padura durfte wie viele seiner Kollegen jahrelang nicht in seinem Heimatland veröffentlichen. Seine Literatur entsprach nicht dem Anspruch, »sinfliktive« Geschichten zu erzählen. Mit dieser Wortschöpfung meinte die kubanische Kulturadministration seichte, unkritisch erbauliche Schriften, eben solche, die ohne Konflikte auskamen. Nun hat sich Padura an die Aufarbeitung seiner eigenen jugendlichen Hoffnungen in den »Sozialismus« seines Landes gemacht. Er erzählt dabei von den Enttäuschungen, die seinen Enthusiasmus dämpften, ebenso wie von der sozialen Verbannung, mit der jene bestraft wurden, die die offiziellen Parolen von Fortschritt, Freiheit und Revolution allzu ernst nahmen. Der Erzähler seiner Geschichte ist Iván – ein junger, ins Abseits gedrängter Autor, dessen Geschichte wir von den 1970er Jahren bis zum Anfang des neuen Jahrtausends folgen. Er trifft am Strand von Havanna auf einen rätselhaften Mann mit undefinierba-

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Mein Lieblingsbuch

as Buch des australischen Autors Richard Flanagan ist eine Parodie auf rechtsgerichtete Ideologen, die versuchen, einer konservativen Version der australischen Geschichte wieder Geltung zu verschaffen. Der Roman schildert das abenteuerliche Schicksal des fiktiven Künstlers William Buelow Gould, der von 1828 bis 1831 in der Strafkolonie »Macquarie Harbour« gefangen gehalten wird. Das Lager auf der Gefängnisinsel Sarah Island vor der tasmanischen Küste gab es wirklich. In Betrieb zwischen 1822 und 1833, galt die Strafkolonie als eine der brutalsten im britischen Weltreich. Die Rahmenhandlung des Buches spielt in der Gegenwart und erzählt vom Auftauchen und mysteriösen Verschwinden eines Buchs. Dieses enthält Zeichnungen von Fischen, an seine Seitenränder ist die Lebensgeschichte eines Strafgefangenen gekritzelt. Es handelt sich um Goulds Aufzeichnungen aus Sarah Island. Er wurde vom Gefängnisarzt beauftragt, die dort vorkommenden Fische zu zeichnen. Zufällig entdeckt er das Geheimarchiv der Strafkolonie. Beim Lesen stellt er jedoch schnell fest, dass es nur aus Lügen und Phantasie besteht. Die Lügenmärchen des Archivs parodieren die rechte Ideologie von der »gütigen Kolonisierung« Australiens, die den Ureinwohnern westlichen Fortschritt gebracht habe. Fasziniert liest Gould die Schilderung über ein Gefängnis, »so großartig, dass man mit Freuden dafür bezahlen würde, England zu verlassen, um hier zu leben«. Zusammen mit Sally Twopenny, Aborigine und Geliebte des Gefängniskommandanten, beginnt Gould eine Rebellion und will das Konvolut aus ungeheuerlichen Lügen verbrennen. Flanagans Darstellung der Schrecken des globalen Strafsystems Großbritanniens ist gekennzeichnet von beinahe verstörendem Galgenhumor. Das gilt auch für die Beschreibung des entmensch-

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Von marx21-aUTORIN Kate Davison

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Goulds Buch der Fische« von Richard Flanagan

★ ★★ Richard Flanagan | Goulds Buch der Fische | Berlin Verlag | Berlin 2002 | 19,90 Euro

lichenden Terrors gegen die australischen Aborigines – in die Handlungszeit des Romans fällt der historische sogenannte »Black War«, in dem die kolonialen Herrscher die Ureinwohner Tasmaniens auslöschen wollten. »Goulds Buch der Fische« ist eine literarische Kritik daran, wie die offizielle Geschichte Australiens aus einer selektiven »Geschichte des Vergessens« entstanden ist. Aus den kolonialen Aufzeichnungen allein, so die Kernbotschaft, kann niemals eine wahre Beschreibung der historischen Tatsachen werden. Flanagan bedient sich des literarischen Stils des magischen Realismus. Der Einfluss von Schriftstellern wie Gabriel García Márquez und Jorge Luis Borges ist dem Buch deutlich anzumerken. So verfolgen Geister von Ermordeten die Täter. Dem Gefängnisarzt erscheinen die Köpfe getöteter Aborigines, die er gesammelt hat, um sie zu rassenkundlichen Studien nach England zu verschiffen. (Zu guter Letzt wird versehentlich sein eigener Schädel verschickt und endet als Prototyp des AborigineUntermenschen.) In Flanagans Darstellung wird die Gewalt des britischen Imperiums zu einem Gespenst, welches das »weiße Australien« heimsucht – so etwa, wie es Karl Marx in »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« beschrieb: Die unbewältigte Vergangenheit »lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.« Anders als der australische Gründungsmythos es will, verleugnet Flanagan nicht den Widerstand von Aborigines gegen die Kolonialherrschaft. Sein Roman warnt davor, die historische Wahrheit über koloniale Gewalt zu verdrängen. Diese Tendenz zeigte sich noch im Jahr 2007 offenkundig, als die australische Regierung eine Entschuldigung für frühere Verbrechen verweigerte. Der Autor will die Menschen, die ihre eigene Gegenwart, Zukunft und Geschichte machen, ins Zentrum stellen. Ein sehr lesenswertes Buch für alle, die sich für Widerstand gegen den Imperialismus interessieren und Satire mögen. ■


BUCH

Sebastian Friedrich / Patrick Schreiner (Hrsg.) | Nation – Ausgrenzung – Krise

Begleitmusik zur Kürzungspolitik Fast überall in Europa setzen bürgerliche Parteien vermehrt auf rassistische Ressentiments. Analysen und Hintergründe dieser Entwicklung in verschiedenen Ländern liefert ein neuer Sammelband Von Phil Butland weil die in vielen europäischen Staaten regierenden sozialdemokratischen Parteien sich darauf konzentrierten, den Kapitalismus zu verwalten. Dieses Versagen der »alten« Linken betont Ingo Schmidt in seinem Beitrag: »Die sozialistischen Projekte (…) sind entweder diskreditiert und gescheitert – dies gilt für den Sowjetkommunismus – oder erschöpft und im neoliberalen Kapitalismus aufgegangen – wie die Sozialdemokratie und der chinesische Kommunismus«. Die Beiträge des Sammelbandes stellen die Probleme schlüssig dar und werfen viele wichtige Fragen auf. Jedoch folgt aus der richtigen Analyse nur selten eine weiterführende Perspektive. Viele Autoren arbeiten mit dem umstrittenen Begriff des »PostFordismus«. Moritz Altenried und Mariana Schütt beschreiben eine »temporäre Lösung der Krise am Ende des Fordismus« in den späten 1970er Jahren und argumentieren, dass der »Fordismus und seine Errungenschaften (...) nur für die männlichen, weißen Lohnarbeiter in den USA und Westeuropa« galt. Darüber könnte man ausführlich diskutieren, mein Hauptkritikpunkt aber ist, dass Altenried und Schütt die Stärke der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit sowie ihre Bereitschaft zum gemeinsamen Kampf

unterschätzen. Arbeiterinnen und Arbeiter haben nie vom Kapitalismus profitiert. Ebenso wenig teile ich die Einschätzung der Theorien des Post-Fordismus, die Arbeiterklasse sei nicht mehr kampffähig. Nichtsdestotrotz war die alte (stalinistische) Linke tatsächlich nicht in der Lage, eine Alternative zum Neoliberalismus anzubieten. Rechte Kräfte haben davon profitiert – aber nicht überall. Im Arabischen Frühling spielten Gewerkschaften eine wichtige Rolle. Occupy Wall Street in den USA ist ebenfalls eine linke Bewegung. In vielen europäischen Ländern wächst eine neue parlamentarische und außerparlamentarische Linke. Diese neue Linke taucht aber in vielen Beiträgen des Buchs nicht auf, was mitunter zu zweifelhaften Schlussfolgerungen führt. So wird die Entpolitisierung und der Aufstieg des Populisten Beppe Grillo in Italien von Umberto Bettarini, Alessandro Capelli und Davide Schmid als zwangsläufig dargestellt. Es bleibt dennoch Hoffnung. Herausgeber Friedrich schließt: »Es wird vor allem auf die sozialen Kämpfe ankommen, die eingeschlagene Richtung der Transformation zu verändern.« Notwendig ist aber eine weitere Diskussion darüber, welche Organisationen wir gemeinsam aufbauen sollten, um diese Kämpfe erfolgreich zu führen. ■

★ ★★ Sebastian Friedrich / Patrick Schreiner (Hrsg.) | Nation – Ausgrenzung – Krise. Kritische Perspektiven auf Europa | Edition Assemblage | Münster 2013 | 240 Seiten | 18 Euro

REVIEW

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en Ausgangspunkt für die 19 Beiträge des Buches bildet der wachsende Nationalismus während der »wohl schärfsten Krise des Kapitalismus seit Jahrzehnten«, wie die Herausgeber schreiben. Der Sammelband stellt eine gute Ergänzung zum Buch »Die neuen Rechten in Europa« (besprochen in marx21, Nr. 02/2013) dar, das sich mit Rechtspopulismus und Naziparteien auseinandersetzt. Hier liegt der Schwerpunkt hingegen auf dem sogenannten Rassismus der Mitte und den Ausgrenzungsmechanismen des Nationalismus. Allerdings steht die Strategie der bürgerlichen Parteien in einem Zusammenhang mit der der Rechtspopulisten, wie Christoph Butterwegge in seinem Beitrag herausarbeitet: »Während der 1980er-Jahre lehnte sich der Rechtspopulismus fast überall in Europa an den Neoliberalismus an, überbot dessen Marktradikalismus teilweise sogar und fungierte damit als Türöffner für den Standortnationalismus.« Damals unterstützten Rechtspopulisten und Nazis kritisch die konservativen Regierungen von Kohl, Reagan und Thatcher. Erst in den 1990er Jahren entwickelten sie dann vermeintlich antikapitalistische sowie Antikriegsparolen. Gehör konnten sie damit nicht zuletzt deshalb finden,

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BUCH

Ilan Pappe, Jamil Hilal (Hrsg.) | Zu beiden Seiten der Mauer

Brücken bauen statt Mauern Palästinensische und israelische Akademiker liefern in einem neuen Sammelband alternative Perspektiven auf den Nahostkonflikt, aber keine Ansätze zu dessen Lösung Von David Paenson

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★ ★★ Ilan Pappe, Jamil Hilal (Hrsg.) | Zu beiden Seiten der Mauer | Laika Verlag | Hamburg 2013 | 443 Seiten | 29 Euro

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u beiden Seiten der Mauer« ist ein Sammelband mit Beiträgen von 13 palästinensischen und israelischen Akademikern. Diese gründeten im Jahr 1997 das Projekt Palisad: Palästinensische und israelische Akademiker im Dialog. »Wir alle teilten den Glauben, dass eine alternative historische Perspektive des Konflikts benötigt wurde, die die beiden nationalen Darstellungen mit ihrer ethnozentrischen und segregationistischen Ausrichtung überbrücken könnte«, schreiben die Herausgeber Jamil Hilal und Ilan Pappe. Das Ergebnis des Dialogs, ein 440-seitiger Sammelband, ist jetzt auf Deutsch erschienen und für kundige Leser durchaus mit Gewinn zu lesen. Es fehlt allerdings eine Gesamtorientierung. In einem spannenden Beitrag Musa Budeiris über die Geschichte der palästinensischen Befreiungsbewegung und ihrer Organisation PLO wird deutlich, wie wenig diese auf Befreiung »von unten« ausgerichtet war. Hier fehlt allerdings eine Alternativerzählung: Musste es so sein? Sehr lesenswert ist auch Rema Hammanis Beitrag, in dem sie das »Fehlen der palästinensischen Frauen in der Darstellung der Erinnerungen an 1948« beschreibt. Gute Argumente gegen das zionistische Narrativ, das die Existenz einer palästinensischen Identität leugnet und damit die Palästinenser einfach zu »Ara-

bern« abstempelt, die genauso gut woanders leben könnten, liefert der Beitrag von Issam Nasser. Er weist nach, dass es schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter osmanischer Herrschaft ein zusammenhängendes Palästina gab. Ehud Adiv zeichnet in seinem Beitrag über die »Nation« die Geschichte des Zionismus nach. Dessen Begründer Theodor Herzl wandte sich an den Sultan des Osmanischen Reiches mit den Worten: »Für Europa werden wir dann ein Bestandteil des Walls gegen Asien sein. Wir werden Pioniere der Zivilisation gegen die Barbarei sein.« Hier wird der imperialistische Kontext der zionistischen Bewegung sichtbar. Im Gegensatz zu der im Westen üblichen Darstellung des Konfliktes als eines zwischen gleichberechtigten Nationen über ein Stück Land stellen ihn die Autoren des Bandes als einen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten dar. Den kolonialen Charakter Israels benennen sie sehr klar – nicht jedoch die Tatsache, dass die Privilegien der Israelis weitgehend auf der materiellen Unterstützung durch die USA und die EU basieren. Insgesamt fehlt die internationale Einordnung des Konfliktes, zum Beispiel die Tatsache, dass Israel die Mittel zur Unterdrückung der Palästinenser nur durch Hilfe von außen erhält. Oder die geopolitische Rolle, die Israel im Gegenzug dafür ausfüllt: Rivalen westlicher Vorherrschaft in der

Region, seien es arabische Nationalbewegungen oder Staaten wie den Iran, zu bekämpfen. Beschränkt auf die Binnensicht des Konfliktes bleibt den Autoren nur eine Perspektive: Es müsse zu einer »Versöhnung« zwischen den Konfliktparteien kommen. Angesichts der enormen Machtdifferenz zwischen den Parteien bleibt das jedoch ein frommer Wunsch. Pappe spricht sich für einen gemeinsamen Staat aller Bewohner aus, aber in einem dermaßen pessimistischen Ton (»Auch hier sind die Aussichten auf den ersten Blick nicht sehr ermutigend (...)«), dass er es gleich lassen könnte, während Uri Davis sich unsicher ist, ob es ein einheitlicher oder ein föderaler binationaler Staat sein sollte. Beide weisen keinen Weg dahin. Die Zusammenkünfte im Rahmen von Palisad blieben bald aus, nachdem die israelische Mauer den Weg versperrte. Zwischen den Zeilen wird aber noch eine anderen Mauer spürbar: Die Uneinigkeit der Autorinnen und Autoren über die BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestition, Sanktionen). Ohne eine internationale Kampagne wird es jedoch für einen derart von internationalen Faktoren beeinflussten Konflikt keine Lösung geben können. Doch für eine internationalistische, panarabische Lösung argumentiert niemand in diesem Band, die arabische Revolution spielt dementsprechend leider keine Rolle. ■


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Weiter auf Papier gibt es hingegen die Theoriezeitschrift »Luxemburg« der RosaLuxemburg-Stiftung. Ab der Ausgabe 1/2014 wird sie zwar nur noch drei- statt viermal jährlich und in geringerem Seitenumfang erscheinen – dafür aber kostenlos, sogar im Abo. Gerade ist die letzte kostenpflichtige (Doppel-) Ausgabe (3,4/2013) erschienen. Sie fragt nach Möglichkeiten transnationaler Organisierung: Wie lassen sich lokale Initiativen mit grenzüberschreitenden Perspektiven verschränken? Wie Kämpfe um Arbeitsverhältnisse mit den Anliegen der neuen Bewegungen verbinden? Und wo bitte geht’s zum Winterpalast? Streiks im Einzelhandel bieten nicht nur heutzutage tolle Geschichten. Die USamerikanische Zeitschrift »Labor Notes« erinnert auf ihrer Website an einen besonderen Arbeitskampf im Detroit des Jahres 1937: Bei General Motors ist gerade der erste Besetzungsstreik einer Fabrik mit hochmodernen Fließbändern erfolgreich zu Ende gegangen. Da machen es

108 Frauen bei Woolworth, der mächtigsten Kaufhauskette der USA, den Fabrikarbeitern nach. Während der Arbeitszeit kommt ein Gewerkschafter in den Laden gelaufen und ruft zum Streik auf. Daraufhin besetzen die Frauen das Geschäft mitsamt Kundenrestaurant und drei Telefonanschlüssen. Auch andere Restaurants und eine weitere Woolworth-Filiale werden von ihren Angestellten besetzt. In den Kinos berichten die Nachrichten über die Ereignisse und die Gewerkschaftsführung droht mit Boykott und landesweitem Streik. Nach einer Woche haben die Beschäftigten gewonnen. Ein bemerkenswerter Erfolg. Doch nach einem halben Jahr folgt die Niederlage. Der Tarifvertrag geht verloren, weil keine kontinuierliche Selbstorganisierung gelingt. Auch das sind Lehren für die streikenden Wal-Mart- und McDonald’s-Beschäftigten von heute.

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★ ★★ WEBLINKS Prager Frühling: www.prager-fruehling-magazin.de Luxemburg: www.zeitschrift-luxemburg.de Labor Notes: http://labornotes.org Analyse und Kritik: www.akweb.de The Guardian: www.theguardian.com

Warum stimmen Linke für den Krieg? Das fragt sich der Historiker Ralf Hoffrogge in seinem Artikel über den Beginn des Ersten Weltkriegs in der »Analyse und Kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis« (Nr. 589 / 17.12.2013). Damals, im August 1914, galt die SPD noch als marxistische und antimilitaristische Partei. Trotzdem stimmte ihre Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zur Finanzierung des Weltkrieges zu. Eine Entscheidung, die, so Hoffrogge, »mehr war als ein Verrat von Prinzipien«. Herauszufinden, »wie es wirklich ist, als Flüchtling in der Festung Europa Schutz zu suchen«, ermöglicht ein interaktives Onlineangebot der britischen Zeitung »The Guardian«. In der Rolle einer jungen syrischen Witwe mit zwei Kindern trifft man Schritt für Schritt Entscheidungen, die die Familie aus dem Krieg herausbringen – oder zurückwerfen. Innovativer Journalismus, der zeigt, wie pervers die Hetze gegen »Sozialtourismus« ist. ■

REVIEW

er Umbruch der Medienbranche erfasst nun auch linke Publikationen. Zum Jahreswechsel gehen gleich zwei Redaktionen neue Wege. Die Kolleginnen und Kollegen vom »Prager Frühling« haben sich dazu entschieden, ihr Magazin nicht mehr auf Papier, sondern nur noch digital zu veröffentlichen. »Wir glaubten an die Kraft des gedruckten Wortes, deswegen haben wir vor einem halben Jahrzehnt den Prager Frühling gegründet. Nach vielen lebhaften Diskussionen und 16 Ausgaben später, glauben wir nur noch ans Wort, genauer: an das geschriebene«, heißt es dazu im Editorial der aktuellen Ausgabe. Titelthema ist passenderweise: »Digitaler Protest und elektronische Demokratie«.

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Preview


Film

Mandela: Der lange Weg zur Freiheit

Kein Heiliger Ein neuer Film zeigt ungeschönt Nelson Mandelas Einsatz im bewaffneten Kampf gegen die Apartheid. Die radikalen Hoffnungen der Bewegung stellt er aber leider nur verzerrt dar Von AYodele Jabbaar – und wird dafür auf brutale Weise verfolgt. Während ihr Mann im Gefängnis auf Robben Island Erniedrigung und Zwangsarbeit erduldet, wird auch sie wiederholt eingesperrt, geschlagen und sogar zu längeren Gefängnisstrafen in Einzelhaft verurteilt. Ergreifende Szenen zeigen die Auswirkungen dieses Schicksals auf die beiden, ihre Ehe und ihre Familie. Der Moment, als Mandela seine – inzwischen zum Teenager herangewachsene – Tochter zum ersten Mal wiedersieht, seit sie ein Kleinkind war, vergegenwärtigt beispielhaft das Opfer, das der Widerstand forderte. Jedoch stellt der Film die Spannungen innerhalb des ANC im Laufe seiner weiteren Entwicklung verzerrt dar. Während der ANC als Regierungspartei seit dem Ende der Apartheid eine stark neoliberale Linie verfolgte, hatten viele seiner Anhänger auf einen radikaleren Bruch mit dem Kapitalismus gehofft. Die Filmmacher betonen jedoch die vermeintliche Entscheidung zwischen Hass und Rache auf der einen und Versöhnung auf der anderen Seite. Winnie, die für den radikalen Flügel der Bewegung eintritt, erscheint hier als durch ihre Verfolgung verbittert. Mandelas wiederholte Weigerungen, seine Verbindungen zur kommunistischen Partei abzubrechen, werden gar nicht erst erwähnt. Es ist schon sehr ärgerlich, dass dieser wichtige Teil der Geschichte komplett unter den Teppich fällt. Auch die Entscheidung, viele afrikanische Rollen mit schwarzen britischen statt südafrikanischen Schauspielerinnen und Schauspielern zu besetzen, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Immerhin ist der Film aber trotzdem ein gutes Gegenmittel gegen all die heuchlerischen Politiker, die den Freiheitskämpfer Mandela als Heiligen neu erfinden wollen, der immer nur die andere Wange hingehalten hat. ■

★ ★★ FILM | Mandela: Der lange Weg zur Freiheit | Regie: Justin Chadwick | Großbritannien, USA, Südafrika 2013 | Kinostart: 30. Januar 2014

PREVIEW

© MastaBaba / CC BY-SA 2.0 / flickr.com

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ie Geschichte von Nelson Mandelas Leben und seinem Kampf gegen die Apartheid ist mitreißend. Deswegen ist die Verfilmung seiner Autobiografie sehenswert, auch wenn sie einige Schwachstellen hat. Der Film beginnt in jener Zeit, als Mandela (gespielt von Idris Elba) noch ein junger Rechtsanwalt ist. Obwohl er sich mit einigen führenden Aktivisten anfreundet, zeigt er anfangs wenig Interesse daran, sich in die Politik einzumischen. Erst nach einem Busboykott 1948, dem Jahr, in dem die Apartheid gesetzlich festgeschrieben wird, engagiert er sich dann doch in der Antiapartheidbewegung des African National Congress (ANC). Schon bald übernimmt er dort eine Führungsrolle. Entsetzt vom Massaker von Sharpeville im Jahr 1960, bei dem die Polizei ihre Maschinenpistolen gegen die friedlich demonstrierende Menge richtete und dabei dutzende Demonstranten tötete, wendet sich der ANC dem bewaffneten Widerstand zu. Der Film scheut sich nicht, zu zeigen, wie Mandela die Entscheidung zum Kampf fällt, wie er untertaucht, sich an terroristischen Angriffen gegen Kraftwerke beteiligt und sich in Nordafrika ausbilden lässt. Die revolutionäre Gewalt der Unterdrückten ist nicht zu vergleichen mit der Gewalt des Staats, der sie unterdrückt. Etwas ganz Ähnliches sagt auch Mandela Jahre später, als das Apartheidregime ihn darum bittet, der Gewalt Einhalt zu gebieten. Er gibt der südafrikanischen Regierung die Schuld an der Gewalt. Naomi Harris spielt Mandelas zweite Ehefrau Winnie Mandela. Anders als seine erste Frau oder seine Mutter, die versuchten, Mandela von Politik fernzuhalten, erscheint Winnie als Repräsentantin der südafrikanischen Jugend, die keine Angst davor hatte, zu kämpfen: Winnie schließt sich dem Aufstand an

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PROTEST | Solidarität mit Tim

»Wir lassen uns nicht einschüchtern« Ein junger Familienvater demonstriert in Dresden gegen Nazis. Später heißt es, er habe dazu aufgerufen, eine Polizeikette zu durchbrechen. Deshalb verurteilt ihn ein Gericht zu zwei Jahren Haft. Ohne Bewährung. Obwohl er nicht vorbestraft ist – und es keine Beweise gegen ihn gibt. Ein Gespräch mit Paula Hermann vom Berliner Solidaritätskreis für Tim Interview: Carla Assmann

Im Januar 2013 verurteilte das Amtsgericht Dresden den Demonstranten Tim H. zu einer Gefängnisstrafe von knapp zwei Jahren. Was war passiert? Die Nazis wollten am 19. Februar 2011 wieder mal in Dresden aufmarschieren, angeblich um der Opfer des Bombenangriffs im Zweiten Weltkrieg zu gedenken. Nachdem ein breites antifaschistisches Bündnis schon im Jahr zuvor die Demonstration verhindern konnte, waren wieder tausende Menschen unterwegs, um die Nazis zu blockieren. Die Polizei versuchte hingegen, den Rechten die Demonstration zu ermöglichen. An einer Sperrstelle wollten Gegendemonstrantinnen und -demonstranten auf die Route der Nazis gelangen. Dabei durchbrachen sie die Polizeikette. Tim wird vorgeworfen, diese Aktion mit einem Megafon in der Hand als »Rädelsführer« angeführt und einen der Polizisten beleidigt zu haben. Dafür eine solch lange Gefängnisstrafe, noch dazu ohne Bewährung? Das ist aber ganz schön viel. Ja, zumal es keine wirklichen Beweise gegen ihn gibt. Keiner der Zeugen konnte Tim identifizieren. Ein Anwohner, der die Szene beobachtet hatte, sagte sogar, er hätte jemand anderes am Megafon gesehen. Ein verwackeltes Video, auf dem eine Person mit ähnlicher Statur zu erkennen ist, reichte dem Gericht aus, um Tim zu verurteilen. Und wie ist der Stand der Dinge jetzt? Gegen das Urteil des Amtsgerichts hat sowohl Tims Verteidigung Berufung eingelegt als auch die Staatsanwaltschaft. Letztere fordert nämlich eine noch höhere 82

Paula Hermann

Paula Hermann ist Mitglied des Berliner Solidaritätskreises für Tim.

★ ★★ Jetzt SPENDEN! Mehr Informationen zu dessen Aktivitäten gibt es auf Facebook: fb.com/WirBlockierenWeiter. Für die Betroffenen der sächsischen Justizwillkür gibt es ein Spendenkonto: Netzwerk Selbsthilfe e.V. Kontonr.: 7403887018 BLZ: 100 900 00 Berliner Volksbank Stichwort: »FREISTAAT«

Strafe. Der Prozess geht in den nächsten Monaten in die nächste Instanz, also vor das Landesgericht. Der genaue Termin steht aber noch nicht fest. Lothar König, der Jugendpfarrer aus Jena, war ja ebenfalls angeklagt, zur Gewalt gegen Polizisten aufgerufen zu haben. Doch der Prozess musste wegen zweifelhafter Beweise ausgesetzt werden. Verhält sich die sächsische Staats-

anwaltschaft nach diesem Rückschlag besonnener? Nein – die sieht ihre Niederlage gegen Lothar König nicht einmal ein. Der Prozess gegen ihn wurde auch nicht eingestellt, wie von allen gefordert. Er wurde nur ausgesetzt, bis das neu aufgetauchte und teilweise entlastende Material gesichtet worden ist. Die glauben wohl tatsächlich noch an eine Verurteilung. Tims Fall hat gezeigt, dass die sächsische Justiz dazu in der Lage ist, jemanden ohne wirkliche Beweise, ohne Vorstrafen, mit Familie, einfach so in den Knast zu bringen. Das scheint sich leider sogar noch auszuweiten: Auch in Stuttgart wird jetzt ein Antifaschist wegen versuchten Totschlags im Rahmen der Dresdner Antinazi-Proteste von 2011 angeklagt. Wenigstens die Nazis scheinen in Dresden aber besiegt. Für den 13. Februar dieses Jahr haben sie keinen Aufmarsch mehr angemeldet. Aber eine Kundgebung – und eine NaziKundgebung ist eine zu viel. Außerdem können sie auch, wie in den letzten Jahren nach ihren gescheiterten Aufmärschen, wieder versuchen, spontane Aktionen durchzuführen. Um dem ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, sorgt das Bündnis »Dresden Nazifrei« natürlich auch dieses Jahr wieder mit Gegenprotesten vor. Aus Berlin, Thüringen und ein paar anderen Regionen wird es auch wieder Busse geben. Lothar König und Tim rufen gemeinsam dazu auf, sich nicht von der Repression einschüchtern zu lassen und auch in diesem Jahr bei den Blockaden mitzumachen. Für die beiden und alle anderen Betroffenen wäre es ein schönes Zeichen, wenn wieder viele dabei sind. ■


Politischer Islam – eine marxistische Analyse | von Chris Harman | 84 Seiten, 3,50 Euro | ISBN 978-3-934536-23-4 | 2012

Wie frei ist die Frau? | mit Beiträgen von Judith Orr, Katrin Schierbach, Maya Cohen-Mosler | 53 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 9783-934536-33-3 | 2009

Ché Guevara und die kubanische Revolution | von Mike Gonzales | 112 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-32-6 | 2009

Islam, Rassismus und die Linke | mit Beiträgen von Marwa alRadwany, Stefan Ziefle, Volkhard Mosler, David Crouch | 37 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-93453634-0 | 2009

Wieviel Demokratie verträgt der Kapitalismus? – der Staat, das Kapital und die Linke | mit Beiträgen von Colin Barker, Chris Harman, Yaak Pabst, Win Windisch | 46 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-38-8 | 2010

Wer war Lenin? | von Ian Birchall | 48 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-34-0 | 2009

NIE WIEDER – ein Anti-Nazi Reader | mit Beiträgen von Christine Buchholz, Leo Trotzki, Alex Callinicos und Stefan Bornost | 60 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-41-8 | 2010

Die ägyptische Revolution | von Sameh Naguib | 43 Seiten, 2 Euro | ISBN 978-3-934536-20-3 | 2011

Der Markt versagt – eine marxistische Antwort auf die Krise | mit Beiträgen von Chris Harman, Tobias ten Brink | 46 Seiten, 2 Euro | ISBN 978-3934536-14-2 | 2009

BESETZT! – eine kurze Geschichte der Betriebsbesetzungen | von Dave Sherry | 56 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3934536-22-7 | 2012

Marxismus und Anarchismus | von John Molyneux | 58 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3-934536-42-5 | 2013

Rassismus – Meinungsmacher, Ideologien, Gegenkräfte | theorie21 Nr. 2/2012 | mit Beiträgen von Alex Callinicos, Deepa Kumar, Kate Davison, Volkhard Mosler, u.a. | 186 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-60-9

Arabellion – zur Aktualität der Revolution | theorie21 Nr. 1/2012 | mit Beiträgen von Christine Buchholz, Anne Alexander, Volkhard Mosler, u.a. | 212 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-49-4

Marxismus & Gewerkschaften | theorie21 Nr. 1/2013 | mit Beiträgen von Bill Dunn, Luigi Wolf, Olaf Klenke, Heiner Dribbusch, Frank Renken, Jürgen Ehlers, u.a. | 338 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-48-7

Die revolutionären Ideen von Karl Marx | von Alex Callinicos | 277 Seiten, 16,80 Euro | ISBN 978-3-89965-476-9 | 2011

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