marx21 Ausgabe Nummer 35 / 2014

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marx 21 02/2014 | April / MAi / Juni

marx 21.de

4,50 EurO | www.MArx21.dE

Magazin für internationalen SozialiSMuS

Bildungskürzungen Studierende schlagen erfolgreich zurück

catarina Príncipe

erinnert an die portugiesische Revolution von 1974

sudan Der neue Wettlauf um Afrika

Żaklin Nastić & hartmut Obens

erzählen, wie linke Kommunalpolitik funktionieren kann

»Paule Panke« Wie ein Rocktheater Kultstatus in der DDR erlangte

ilya Budraitskis

im Interview über Putin und die russische Linke

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tsächlich geht.

nflikt ta Worum es im Ukraine-Ko

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Gefährlicher Kampf um OsteurOpa

Österreich 4,70 eUrO schWeiZ 7,50 chF

charlie chaplin Beißende Systemkritik auf der Leinwand


© Gali

Die massive Mobilisierung ist ein neuer Höhepunkt im Kampf gegen die Sparpolitik der konservativen Regierung. Unter dem Slogan »Brot, Arbeit und Wohnraum für alle« hatten etwa 300 Gewerkschaften, linke Studierendenverbände, Bürgerinitiativen und andere politische Organisationen zu den Demonstrationen aufgerufen. Auf Plakaten forderten die Kundgebungsteilnehmer: »Für die Krise sollen die Banken zahlen« und »Keine Kürzungen«. Aus dem Meer der Demonstranten ragte ein gewaltiger Mittelfinger: ein Gruß an den Ministerpräsidenten Mariano Rajoy.

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flickr. co -SA / Y-NC

trainfo

/ CC B

Über eine Million Menschen zogen am 22. März durch die spanische Hauptstadt Madrid, um gegen Sozialkürzungen, Massenarbeitslosigkeit und Armut zu protestieren. Der »Marsch der Würde« bestand aus acht Protestzügen, die aus verschiedenen Richtungen zum Bahnhof Atocha strömten. Dort schlossen sie sich zu einem großen Marsch durch die Innenstadt zusammen. Viele der Demonstranten waren bereits wochenlang zu Fuß nach Madrid gezogen.

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Spanien


Liebe Leserinnen und Leser,

I

n den vergangenen Wochen waren die Entwicklungen in der Ukraine das Topthema in der öffentlichen Diskussion. Wir mussten also nicht lange überlegen, worum es im Schwerpunkt dieser Ausgabe gehen sollte. Schnell fiel uns auf: Für die deutschen Konzerne ist Osteuropa von großer Bedeutung, für NATO-Strategen absolut zentral – doch die deutsche Linke hat die westlich an Russland grenzenden Länder wie die Ukraine lange recht stiefmütterlich behandelt. Ein Grund mehr, einmal einen genaueren Blick auf die Region zu werfen.

SAVE THE DATE

Suchen deutsche Journalisten einen Gesprächspartner zum Thema Ukraine, dann ist Vitali Klitschko nicht fern. Aktivistinnen und Aktivisten, die vor Ort für soziale Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen, kommen in den hiesigen Medien hingegen kaum zu Wort. Bei uns schon: Mitte Februar, kurz nach Beginn der Bewegung in Kiew, hat unsere Onlineredaktion ein Interview mit dem russischen Sozialisten Ilya Budraitskis geführt. Ilya war auf dem Maidan dabei und schilderte seine Eindrücke. Die Resonanz war überwältigend. Seit marx21.de vor sieben Jahren online gegangen ist, wurde noch nie ein Artikel so oft angeklickt. Grund nachzulegen: Wir haben uns noch einmal mit Ilya unterhalten – diesmal über die Stimmung in Russland. Was er zu berichten hat, könnt ihr ab Seite 22 lesen. Über zu wenig Arbeit konnten wir uns noch nie beklagen – umso schöner, dass sie nun auf einem Paar Schultern mehr lastet: Seit dieser Ausgabe verstärkt David Maienreis unsere Redaktion. David hat schon in der Vergangenheit regelmäßig für uns geschrieben, nun gab er seinen Einstand mit gleich zwei Artikeln: einen zum OsteuropaSchwerpunkt (auf Seite 13) und einen zur Lage im Sudan (Seite 34). Für dieses Heft hat sich David familiären Beistand geholt. Sein Halbbruder Arno Hoeltzer war in den vergangenen Wochen als Praktikant für uns tätig. Mehr erfahrt ihr über ihn in unserer Rubrik »Betriebsversammlung« auf Seite 7. Ihm möchten wir ebenso herzlich für seine Unterstützung danken wie Anton Thun, dessen Russischkenntnisse uns eine große Hilfe waren. Er führte auch das Interview mit Ilya Budraitskis.

4 Tage, 60 Veranstaltungen, 1 Kongress: MARX IS' MUSS 2014 vom 6. bis 9. Juni in Berlin – Mehr Informationen über Programm, Zeitplan, die Rednerinnen und Redner sowie den Ticketverkauf auf www.marxismuss.de.

Abschließend noch der kurze Hinweis auf unseren jährlichen Kongress »MARX IS‘ MUSS«, der über Pfingsten in Berlin stattfindet. Selbstverständlich wird auch die marx21-Redaktion dort präsent sein. Weitere Infos und das aktuelle Programm unter: www.marxismuss.de. Wir freuen uns auf euch! Eure Redaktion

Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post.

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Fotostory: Anti-Atom in Japan

Preview: Blockupy Unsere Meinung 10 Berufshaftpflicht: Auf der Seite der Hebammen Kommentar von Kirsten Schubert 11 Energiewende: SPD bremst aus Kommentar von Hubertus Zdebel

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76 13 Titelthema: Gefährlicher Kampf um Osteuropa Titelthema: Gefährlicher Kampf um Osteuropa

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Internationales

Zurück zum Großen Spiel Von David Maienreis

18 Ukraine: Weder Klitschko noch Timoschenko Von Stefan Bornost und Yaak Pabst

Bosnien: Frühling auf dem Balkan Von Daniel Kerekeš

34 Sudan: Der neue Wettlauf um Afrika Von David Maienreis KOMMUNALE KÄMPFE

neu auf marx21.de

Ob Maidan oder Blockupy Wir sind stets dabei und berichten.

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Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

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»Der russische Staat ist schwach« Interview mit Ilya Budraitskis

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Der Feind meines Feindes ist nicht mein Freund Kommentar von Volkhard Mosler

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»Wir sind unbequem und nerven« Interview mit Zaklin Nastic und Hartmut Obens

Netzwerk marx21 44

Das Projekt marx21 Von der marx21-Redaktion


56 Filmkritik: Es war einmal in Afghanistan

58 50 Geschichte: Revolution in Portugal 1974

BiLDUNGSPROTEST

Kultur

Rubriken

46 Sachsen-Anhalt: »Wir haben uns nicht gegeneinander ausspielen lassen« Interview mit Anne Geschonneck

56 Filmkritik: Es war einmal in Afghanistan Von Oskar Stolz

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 08 Fotostory 32 Weltweiter Widerstand 42 Was macht das marx21-Netzwerk? 66 Review 75 Quergelesen 76 Preview

GESCHICHTE 50 Portugal 1974: Das freieste Land der Welt Von Catarina Principe

58 Charlie Chaplin: Der Mann mit dem kleinen Bart Von Madlen Mühlpfordt und Phil Butland GESCHICHTE HINTER DEM SONG 62

Pankow: »Paule Panke« Von Yaak Pabst

INHALT

Kultur: 125 Jahre Charlie Chaplin

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 8. Jahrgang, Heft 35 Nr. 2, April/Mai/Juni 2014 ISSN 1865-2557 www.marx21.de Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Carla Assmann, Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller, Arno Hoeltzer (Praktikant), Carolin Hasenpusch, David Jeikowski, David Maienreis, Yaak Pabst Lektorat Carla Assmann, Marcel Bois, Brian Janßen, Rosemarie Nünning, David Paenson, Carsten Schmidt Übersetzungen David Paenson, Win Windisch Layout Michael Eckert, William Eckert, Richard Fährmann (Illustrationen), Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat Christine Buchholz, Michael Ferschke, Stefanie Graf, Ole Gvynant, Werner Halbauer, Rabea Hoffmann, Christoph Hoffmeier, Sven Kühn, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Heinz Willemsen, Irmgard Wurdack Redaktion Online Ole Gvynant (verantw.), Hans Krause, Jan Maas, Paula Rauch, Stefan Ziefle Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 14. Juli 2013 (Redaktionsschluss: 22.06.)

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Arno Hoeltzer, Praktikant

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chon mit 14 Jahren merkt Arno, dass in seinem Berliner Kiez etwas nicht mehr stimmt. Immer mehr Freunde müssen mit ihren Familien wegziehen aus dem Prenzlauer Berg, weil sie die steigenden Mieten nicht mehr bezahlen können. Die Profitgier der Vermieter, welche die Menschen aus ihrer Heimat vertreiben, empört ihn zutiefst. Deshalb gründet er mit Freunden eine Aktionsgruppe, um kreativ gegen ein geplantes Luxusbauprojekt auf einem Parkgelände zu protestieren. Fünfzig verschiedene Plakate, alles handgemalte Unikate, kleben sie in einer Nacht- und Nebelaktion. Seitdem Arno am Vorabend des 1. Mai im Jahr 2006 den brutalen Polizeieinsatz gegen jugendliche Konzertbesucher auf dem Boxhagener Platz miterlebt hat, ist er regelmäßig politisch aktiv. Besonders beeindrucken ihn die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Tausende ganz unterschiedliche Menschen demonstrieren für eine gemeinsame Sache. Heute engagiert sich der Geschichts- und Englischstudent in verschiedenen Projekten, zum Beispiel als Deutschlehrer für Flüchtlinge. Der Widerstand liegt bei Arno in der Familie: Seine Großeltern wurden als Juden und Kommunisten unter dem Naziregime verfolgt, seine Eltern waren Künstler in der DDR. Und als Arno auf der Suche nach einem Praktikum ist, fragt er seinen Halbbruder um Rat. Der ist Redakteur bei marx21. Nach anfänglicher Skepsis hat ihn die Themenbreite des Magazins überzeugt. Besonders gefällt ihm, dass die Artikel nicht nur die schlimmen Zustände beklagen, sondern Alternativen aufzeigen. So stellt auch Arno in diesem Heft eine Bewegung für eine bessere Zukunft dar. Worum es geht, lest ihr auf Seite 33.

Das Nächste Mal: Stefan Bornost 6


Zum Interview mit Ilya Budraitskis: »Die Ukrainer kämpfen für eine bessere Gesellschaft« (marx21.de, 19.02.2014) So lesenswert das Interview mit Budraitski ist, so absurd ist die Überschrift. Keineswegs kämpfen die Ukrainer für eine bessere Gesellschaft. Es gibt in der Ukraine Menschen, die für demokratische Verhältnisse kämpfen. Aber das sind nicht »die« Ukrainer, denn nicht alle Ukrainer unterstützen die Kämpfe. Viele kämpfen nicht, weil sie von Konflikten dieser Art Böses erwarten. Andere kämpfen nicht für »eine bessere Gesellschaft«, sondern für bestimmte Interessen ihrer Schicht, ihres Milieus. Wieder andere kämpfen nicht für, sondern gegen etwas. Was danach kommen soll, ist für sie ungeklärt. Manche kämpfen, weil sie dazu animiert wurden, für die EU. Andere kämpfen, weil sie dafür entlohnt werden. Und nicht wenige kämpfen auch für eine andere Gesellschaft, die aber ganz und gar nicht besser sein würde als die jetzige – und die ist schon übel genug. Weil das so ist, gibt auch der einleitende redaktionelle Satz »In Kiew verteidigen zehntausende Ukrainer den Maidan gegen die Polizei« ein viel zu simples Bild von der Situation dort. Arno Klönne, Paderborn

Zur Rezension von Werner Seppmanns Buch »Ästhetik der Unterwerfung« (Heft 1/2014) Ich habe mich gefreut, dass sich marx21 anhand von Seppmanns Buch mit der Kunstausstellung Documenta auseinandersetzt. Seinen Einwänden gegen die Vermarktung der Documenta stimme ich zu, nicht aber seiner Einschätzung, dass sie »eine Institution zur Entsorgung ernsthafter Kunst« sei. Dazu einige Gegenbeispiele: Auf der Documenta 13 (2012) war eine Videoinstallation des libanesischen Künstlers Rabih Mroué zu sehen. Sie zeigte mit Handykameras aufgenommene Sequenzen von Demonstrationen gegen das Regime Assad in Syrien. Zum Teil war darauf festgehalten, wie Assads Schergen die filmenden Handybesitzer erschossen. Des

Weiteren organisierten im Vorfeld dieser Documenta die New Yorker Künstler Ayreen Anatas und Rene Gabri Solidaritätsaktionen für die Occupy-Wall-Street-Bewegung. Während der Documenta 12 (2007) hing am Kasseler Bahnhof Wilhelmshöhe ein riesiges Plakat von Allan Sekula, das einen mexikanischen Werftarbeiter zeigte. Darauf war der Slogan »Alle Menschen werden Schwestern« zu lesen. Dieses Motiv wurde auch eine Woche zuvor in Heiligendamm verteilt, als Teil einer Künstlerkampagne gegen den G8-Gipfel. Ich denke nicht, dass die durchaus kritikwürdigen Rahmenbedingungen der Documenta im Speziellen und die Eingemeindung der modernen Kunst in die kapitalistische Ideologieproduktion im Allgemeinen sämtliche ausgestellten Kunstwerke korrumpieren können. Aber darüber streitet die Linke schon, seitdem Theodor Adorno sich über den Jazz aufgeregt hat. Es könnte sich lohnen, die Diskussion auch auf den Seiten dieses Magazins zu führen. Jan Maas, Berlin

Zum Nachruf »Stuart Hall: Ein Abschied in die Zukunft« von Janek Niggemann und Benjamin Opratko (marx21.de, 18.02.2014) Ich bin froh, dass marx21.de einen Nachruf auf Stuart Hall veröffentlicht hat. Hall war einer der wichtigsten marxistischen Denker der Nachkriegszeit. Es gibt dementsprechend viele Ansichten von ihm, die man hervorheben könnte. Schade ist, dass Janek und Benjamin ausgerechnet Halls »Unzufriedenheit mit ökonomistisch geprägten Marxismen« ausgesucht haben. Denn diese ließ Hall zu dem Schluss kommen, die Arbeiterklasse sei nicht mehr zentral für grundsätzliche politische Veränderungen. Mit Begriffen wie »Thatcherismus« und »Neue Zeiten« argumentierte er, Klassenkampf sei altmodisch und es bedürfe neuer Allianzen mit unterdrückten Gruppen. Früher stritt er mit der Führung der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) über die sowjetischen Invasionen in Ungarn und der Tschechoslowakei. Diesmal aber stand er auf der falschen Seite der Debatte. Die CPGB schuf sich damals – trotz anderer Fehler – eine beeindruckende industrielle Basis. Sie organisierte nicht nur Gewerkschaftsfunktionäre, sondern auch die besten Aktivisten im Betrieb. Die erfolgreichen Streiks der 1970er Jahre wurden von Kommunisten organisiert. Bei den von Hall kritisierten »Institutionen der ArbeiterInnenbewegung« handelte es sich also nicht nur um die

Gewerkschaftsbürokratie, sondern auch um die Basisaktivisten. Beim Bergarbeiterstreik 1984/85 sympathisierte Hall zwar mit den Streikenden, unterstützte aber letztendlich ihre Gegner. Er und seine Mitdenker distanzierten sich von gewerkschaftlicher Militanz, um Stimmen für Labour zu gewinnen. Hall war stets radikaler als diejenigen, die später Tony Blair berieten, aber er nutzte ihnen als linkes Feigenblatt für ihren Verrat. Wir können viel von Hall lernen – sowohl im Positiven als auch im Negativen. Wir sollten seine lebhaften Beiträge zur Kulturtheorie und zum Antirassismus hochhalten und trotzdem feststellen, dass sein Pessimismus gegenüber Klassenkämpfen ihn in unglückliche Allianzen führte. Phil Butland, Berlin (ungekürzte Zuschrift: marx21.de)

Zum Kommentar »Der Irrweg der Schwarzer« von Rosemarie Nünning (Heft 5/2013) Der Auseinandersetzung von Rosemarie Nünning mit dem gesellschaftlichen Problem Prostitution ist im Wesentlichen zuzustimmen – nicht jedoch ihrem Fazit: »Jeder repressive Eingriff in die Prostitution schafft erst die Möglichkeit der Ausübung direkten Zwangs.« Wie bitte? Nicht einmal die Prostitution – ein völlig deregulierter Markt mit Dumpinglöhnen, Mietwucher und sich ausbreitenden Gesundheitsproblemen wie die gegen Antibiotika inzwischen resistenten Gonokokken (Tripper) – bedarf eines »repressiven Eingriffs«? Da halte ich es eher mit Jean Jaques Rousseau, der gesagt haben soll: »Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es das Gesetz, das befreit und die Freiheit, die unterdrückt.« Illegale Prostitution (Menschenhandel, Prostitution Minderjähriger, Zwang und Gewalt usw.) ist seit der Legalisierung im Jahr 2002 explodiert. Solange es gesellschaftlich akzeptiert ist, Sex zu kaufen, steigt die Nachfrage. 250.000 Frauen kamen allein im Jahr 2013 aus Osteuropa dazu. Polizeiexperten schätzen, dass 50 bis 90 Prozent nicht freiwillig in der Prostitution »arbeiten«. Kein Handlungsbedarf? Wo keine Opfer, da keine Täter? Ohne materielle Mittel, Sprachkenntnisse, Aufenthaltsstatus kann für sie die einzige Überlebensmöglichkeit sein, in der Sexindustrie ausgebeutet zu werden. Wenn »Sexarbeit« ein Job wie jeder andere ist, kann nach dieser Logik von Hartz-IV-Betroffenen erwartet werden, Jobs in der Sexindustrie anzunehmen. Helga Ebel, Aachen

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

LeserbriefE

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© Light Brigading / CC BY-NC / flickr.com

FotoSTORY

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die größtenteils aus Studenten besteht, beginnt ihren Protestzug an der Georgetown University. Auf mehreren Transparenten appelliert sie an den Präsidenten, das Projekt zu stoppen. Mitte: Einige Demonstranten tragen die Nachbildung einer Pipeline durch die Stadt. Rechts: Etliche Protestteilnehmer werden verhaftet.

© Light Brigading / CC BY-NC / flickr.com

gieaufwändigen Verfahren zu Rohöl verarbeitet werden. Bei der Förderung von Ölsanden entstehen dreimal mehr Treibhausgase als auf konventionellem Wege. US-Präsident Barack Obama entscheidet demnächst über den Bau der Pipeline. Vor seinem Amtssitz wälzen sich Aktivisten und Aktivistinnen demonstrativ in schwarzer Farbe. Unten links: Die Menge,

© Chesapeake Climate Action Network (CCAN) / CC BY-SA / flickr.com

© Light Brigading / CC BY-NC / flickr.com

USA | Keine Pipeline für Obama: Anfang März demonstrieren 1200 Menschen vor dem Weißen Haus in Washington gegen die geplante Rohrleitung »Keystone XL« des Unternehmens TransCanada. Die Leitung soll Ölsande 2700 Kilometer weit von Kanada zum Golf von Mexiko transportieren, wo diese dann in einem extrem umweltschädlichen und ener-


© Alle Bilder: Matthias Lambrecht / CC BY-NC / flickr.com

Seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima hat Japan, das immer wieder von Erdbeben erschüttert wird, auf Atomenergie verzichtet. Unten links: Die Menge zieht vom Hibiya Park zum Regierungsviertel, wo sie ihren Unmut lautstark kundtut. Daran beteiligen sich auch Musiker, die mit solarbetriebenem Strom Krach

machen. Mitte: Ob jung oder alt: Die Demonstranten wollen mit ihrem Protest ein Gegengewicht zum offiziellen Gedenktag am 11. März bilden. Rechts: Mit einem Plakat mahnt ein Teilnehmer vor den möglichen desaströsen Konsequenzen, die ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke (japanisch: Genpatsu) für das Land hätte.

FOTOSTORY

JAPAN | Nein zu Atomkraft: Zehntausende protestieren am 8. März auf den Straßen der japanischen Hauptstadt Tokio gegen die Atompolitik der konservativen Regierung von Ministerpräsident Shinzo Abe. Dieser zieht in Erwägung, einige der 48 Reaktoren des Landes wieder in Betrieb zu nehmen.

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UNSERE MEINUNG

Berufshaftpflicht

Auf der Seite der Hebammen Von Kirsten Schubert

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ie freiberuflichen Hebammen sind verunsichert. Die Gruppenversicherung, welche der Hebammenverband mit mehreren Versicherungskonzernen ausgehandelt hat, ist in Gefahr. Eine der drei Versicherungen, die sich noch an den Tarif halten, hat angekündigt, Mitte kommenden Jahres auszusteigen. Zu hoch sind die Folgekosten im Schadensfall. Schon seit Jahren steigen die Haftpflichtprämien der Hebammen drastisch an und sind mit ihrem geringen Einkommen kaum finanzierbar. Ohne Berufshaftpflicht dürfen sie jedoch nicht arbeiten. Keine Partei kann es sich leisten, diese hochangesehene Berufsgruppe zu gefährden. Eine Aufwertung und Absicherung ihrer Arbeit muss – unabhängig von privatwirtschaftlichen Versicherungskonzernen – gewährleistet werden. Medien und Politiker verteidigen die Hebammentätigkeit, kaum einer hat Zweifel an ihrer Notwendigkeit. Auch die Hausgeburt und die Entbindung im Geburtshaus stehen nicht wirklich in Frage, auch wenn sich 98 Prozent der Frauen für eine Klinik entscheiden. Die Wahlfreiheit ist gesetzlich verankert. Dennoch deutet sich seit Jahren eine Verschlechterung der Situation der Geburtshelferinnen an. Sie erreichen gerade knapp den zukünftigen gesetzlichen Mindestlohn. Kliniken beschäftigen Hebammen nur in Teilzeit oder freiberuflich, um Geld zu sparen. Altersarmut ist vorprogrammiert. Den radikalen Umbau in Richtung höherer Wirtschaftlichkeit und Profitabilität im Klinikbetrieb spüren auch die Hebammen. Weniger Personal arbeitet unter immer höherem Druck, um immer höhere Rendite zu erwirtschaften. Diese Entwicklung macht auch vor den Entbindungsstationen nicht halt. Die Personaldecke ist dünn. Hebammen betreuen bis zu vier Geburten gleichzeitig. Die Kaiserschnittrate ist von 25,5 Prozent (2003) auf mittlerweile 31,9 Prozent angestiegen. Deutschland gehört hier weltweit zu den Spitzenreitern. In Frankreich beispielsweise liegt die Rate bei 20,1 Prozent.

Die Weltgesundheitsorganisation geht sogar davon aus, dass bei nur 15 Prozent der Geburten tatsächlich ein Kaiserschnitt notwendig ist. Natürlich wird jede Klinikleitung abstreiten, dass bei der zunehmenden ärztlichen Empfehlung zum Kaiserschnitt ökonomische Erwägungen eine Rolle spielen. Doch Fakt ist, dass dieser Anstieg mit der Einführung der Fallpauschalen korreliert. Seitdem erzielen Kaiserschnitte höhere Erlöse als natürliche Geburten und auch die Rate steigt seitdem. Dass Frauen sich unter diesen Bedingungen für die außerklinische Geburt entscheiden, ist nachvollziehbar. Diese Option muss auch weiterhin garantiert sein. Gesundheitsminister Hermann Gröhe appelliert nun an die »Verantwortung« der Versicherungsindustrie, weiterhin auch die Geburt außerhalb der Kliniken abzusichern. Damit zeigt er, wie sehr die Politik mittlerweile den Ideen des freien Markts verfallen ist. Die Tätigkeit der Hebammen ist ein Teil jener Grundversorgung, die gesellschaftlich abgesichert sein sollte. Das gilt auch für andere risikoreiche Berufsgruppen der Gesundheitsversorgung wie Chirurgen. Eine Möglichkeit zu einer solchen Absicherung wäre die Einführung eines berufsgruppenübergreifenden steuerfinanzierten Haftungsfonds, den auch die Linksfraktion vorschlägt. Zudem bedarf es dringend einer Aufwertung und Absicherung der Hebammentätigkeit in Deutschland. Weder ihre Existenz noch die anderer Gesundheitsberufe darf dem freien Markt und somit Profitstreben der privatwirtschaftlichen Versicherungsindustrie überlassen werden.

Kaiserschnitte sind profitabler als natürliche Geburten

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★ ★★ Kirsten Schubert ist Ärztin, Referentin für Gesundheitspolitik bei medico international und seit Kurzem Mutter eines Sohnes.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Energiewende

SPD bremst aus Von Hubertus Zdebel erneuerbarer Stromerzeugung gefördert hat. Deutschlands Konzerne, allen voran die großen Stromunternehmen, laufen dagegen seit Jahren Sturm: Die dezentrale Erzeugung von Energie entzieht ihnen die Kontrolle über den Strommarkt. Dabei sind die großen Industriekonzerne

Die Verbraucher subventionieren die großen Konzerne von der EEG-Umlage befreit. Die letzte schwarz-gelbe Bundesregierung hat die Befreiungsgrenze von einem jährlichen Verbrauch von 10.000 Megawatt auf 1.000 Megawatt gesenkt. Deshalb will die EUKommission nun wegen Wettbewerbsverzerrung gegen die EEG-Regelungen vorgehen. Und was macht die SPD? Die

nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft warnt vor dem Untergang des Abendlandes, sollten VW, Daimler, Rheinmetall, BASF und 2700 weitere Unternehmen zusammen auf maximal fünf Milliarden Euro jährlich verzichten müssen, weil ihre EEG-Rabatte wegfallen. Dass die kleineren Stromverbraucher diese Konzerne subventionieren, ist für sie offensichtlich kein Problem. Auch Gabriel macht sich für eine Deckelung der Erneuerbaren stark. Dazu steht er, egal wie die Verhandlungen mit der EU-Kommission ausgehen. »Ausbremsen« nennt man das. ★ ★★ Hubertus Zdebel ist Bundestagsabgeordneter der LINKEN und Mitglied im Umweltausschuss.

UNSERE MEINUNG

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s ist Deutschlands »Jahrhundertprojekt«: die vollständige Umstellung der Stromproduktion auf erneuerbare Energieträger bis zum Jahr 2050. Genau das lässt die Bundesregierung unter Federführung von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) gerade absaufen. Heute kommen die erneuerbaren Energien für ein gutes Viertel der Stromerzeugung auf. Ein Riesenfortschritt – aber drei Viertel des Weges liegen noch vor uns. Die Krimkrise hat der Regierung nicht etwa die Notwendigkeit der Energiewende verdeutlicht. Stattdessen mehren sich die Stimmen, jetzt verstärkt auf Gasgewinnung mittels Hydraulic Fracturing (»Fracking«) zu setzen. Das ist für die Umwelt extrem gefährlich. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) war das einzige fortschrittliche Erfolgsprojekt der rot-grünen Bundesregierung. Dutzende Länder haben es mittlerweile kopiert, weil es den Ausbau

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TITELTHEMA GEFÄRHLICHER KAMPF UM OSTEUROPA

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© Carlos Latuff

Maidan-Bewegung Fünf Thesen zur Krise in der Ukraine

Putin und die Linke Interview mit Ilya Budraitskis

Der Feind meines Feindes Weder Brüssel noch Moskau

Bosnien Frühling auf dem Balkan


Zurück zum Großen Spiel Von Oligarchen und Weltpolizisten in die Zange genommen: Wie die Ukraine zum Spielball imperialer Interessen wurde Von David Maienreis hen. Der Name des Landes geht auf das altostslawische Wort »ukraina« zurück, was soviel bedeutet wie Grenzland. Tatsächlich ist die Wirtschaftsstruktur des Landes heute zu fast gleichen Teilen auf Westeuropa wie auf Russland ausgerichtet. Wenn sich das Land für einen dieser beiden Handelspartner und gegen den anderen entscheiden muss, wird es in jedem Fall zu leiden haben. Das aber ist den Strategen in Ost wie West gleichgültig. Die moderne Geschichte des unabhängigen Staats Ukraine beginnt mit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991. Condoleezza Rice, Nationale Sicherheitsberaterin von Präsident George Bush jr., beschrieb es später so: »Indem die Macht der Sowjetunion schwand, konnte sie ihre Interessen nicht länger verteidigen und ergab sich (dankenswerterweise) friedlich dem Westen, ein ungeheurer Sieg für die Macht des Westens und auch für die menschliche Freiheit.« Der ehemalige Machtbereich der Sowjetunion wurde zur Verfügungsmasse. Paul Wolfowitz, einer der bekanntesten Vordenker einer neoimperialistischen Außenpolitik der USA (»Das Neue Amerikanische Jahrhundert«), empfahl seiner Regierung schon im Jahr 1992, sie solle verhindern, dass eine »feindliche Macht« irgendeine Weltregion dominiere, die über genug Ressourcen verfügt, um ihr globale Macht zu verleihen. Zu diesen Regionen zählte er unter anderem das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Um dieses unter ihre Vorherrschaft zu bekommen, setzten die

Den Strategen in Ost und West sind die Menschen egal

Die Auseinandersetzungen um die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU waren der Anlass jener internationalen Krise, die sich in den vergangenen Monaten um die Ukraine entfacht hat. Das liegt nicht zuletzt daran, dass dieses Abkommen eine Klausel enthält, die es der Ukraine verbietet, eine gleichartige wirtschaftspolitische Zusammenarbeit auch mit anderen Ländern einzuge-

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David Maienreis ist Redakteur von marx21.

TITELTHEMA GEFÄRHLICHER KAMPF UM OSTEUROPA

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ie Krise in der Ukraine hat der Welt vor Augen geführt, wie schnell ein politischer Konflikt in einen militärischen umschlagen kann, und das nur einige hundert Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Befürchtungen, dass nun ein dritter Weltkrieg ausbrechen wird, haben sich zum Glück als übertrieben erwiesen. Das Verhältnis zwischen den Staaten Westeuropas und den USA auf der einen und Russland auf der anderen Seite hat sich trotzdem deutlich verschlechtert. Die Berichterstattung westlicher Medien, wonach der russische Präsidenten Wladimir Putin ein imperialistischer Kriegstreiber ist, trifft zwar einen wahren Kern, ist aber äußerst scheinheilig. Denn was Putin vorgeworfen wird, trifft auf die NATO und die Europäische Union (EU) ebenso zu. Hier halten sich die Mainstreammedien allerdings mit Kritik dezent zurück. Die Menschen in der Ukraine und auf der Krim haben ein Recht auf Selbstbestimmung. Das wird ihnen aber weder die NATO noch Russland gewähren.

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USA vor allem auf die NATO, die sich für ehemalige Ostblockstaaten öffnete. Ziel der Amerikaner war es, Russland einzukreisen und es so davon abzuhalten, neue Großmachtansprüche zu erheben. »Die Message, die wir allen potenziellen Gegnern senden sollten«, schrieben Robert Kagan und William Kristol, zwei weitere Neokonservative aus der Bush-jr.-Ära, in der Zeitschrift »The National Interest«, »lautet: Denkt nicht mal daran.« Dafür waren die USA als unbestrittene Führungsmacht der NATO bereit, praktisch alle Zusagen zu brechen, die sie bei den Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung gegenüber dem damaligen sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow gemacht hatten. NATO-Truppen stehen nun direkt an den russischen Grenzen, seitdem Polen, die baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien dem Militärbündnis beigetreten sind. Zudem wurden schon im Jahr 1997 die Staaten Georgien, die Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldawien über das GUUAM-Abkommen (die Abkürzung steht für die Anfangsbuchstaben der Mitgliedsstaaten) in die euro-atlantischen Strukturen integriert. Gorbatschow entrüstete sich vor wenigen Jahren über diese Politik: »Warum braucht die NATO diese Länder? Um gegen den Iran zu kämpfen? Das ist lächerlich.« Putin bezeichnete die NATO-Osterweiterung in seiner Rede bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 als »provozierenden Faktor«. Die USA haben ihre aggressive Politik gegenüber Russland seitdem keineswegs abgemildert. Im Zuge des »Kriegs gegen den Terror« wurde sie sogar noch verschärft. Dass sich ausgesprochene und jahrelange Befürworter dieser Weltmachtpolitik der USA wie der »Zeit«-Herausgeber Josef Joffe nun über den Imperialismus Russlands beschweren, wirkt vor diesem Hintergrund alles andere als überzeugend. Als Ergänzung zur NATO-Osterweiterung verabschiedete der US-Kongress im Jahr 1998, noch während der Präsidentschaft Bill Clintons, das »Neue Seidenstraßengesetz«. Hierbei handelt es sich um eine langfristig angelegte Initiative, durch die Staaten auf einer Achse vom Balkan bis an die Westgrenze Chinas an die USA gebunden werden sollen. Zbigniew Brzezinski, einer der wichtigsten Stichwortgeber und Berater mehrerer US-Präsidenten, schrieb in seinem Buch »Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft«, dass Eurasien, also die aus Europa und Asien bestehende Landmasse, geostrategisch entscheidend für die globale Vorherrschaft der USA sei. Zentralasien, der ölreiche Raum um das Kaspische Meer und die Schwarzmeerregion sind zudem von großer Bedeutung, um die potenziellen Rivalen des amerikanischen Weltpolizisten in Schach zu halten, also Russland, aber auch die EU und China. Hier soll es keine zweite Macht geben, die den USA die Stirn bieten könnte. Was das im Hinblick auf die Ukraine bedeutet, formulierte Brzezinski in deutlichen Worten: »Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt (...) Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.«

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Durch die Öffnung der NATO für osteuropäische Staaten wollten die USA ihren Einfluss auf den ehemaligen »Ostblock« ausweiten. Mit Erfolg: Nachdem Polen, die baltischen Staaten, Rumänien und Bulgarien beigetreten sind, stehen NATO-Truppen direkt an den russischen Grenzen


TITELTHEMA GEFÄRHLICHER KAMPF UM OSTEUROPA

© Karte: free vector maps.com; Infografik: marx21 / Michael Eckert / William Eckert

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© de.statista.com / Frankfurter Allgemeine Zeitung / CC BY-ND © de.statista.com / zeit online / CC BY-ND

Zwischen den Stühlen: Russland und die Europäische Union sind die wichtigsten Handelspartner der Ukraine. Damit ist das Land von beiden Machtblöcken gleichermaßen abhängig (o.) Wohin gehen Russlands Gasexporte? Die Ukraine ist eines der größten Abnehmerländer. Noch mehr Gas liefern die Russen nur nach Deutschland (u., Stand 2012)

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Als Juniorpartner der USA, der bisweilen auch eigenständig agiert, setzte die EU in den 1990er Jahren zu ihrer Osterweiterung an. So konnte nicht nur die politische und militärische Zerstückelung des russischen Einflussbereichs bewerkstelligt werden, sondern auch die wirtschaftliche Einbindung und Ausplünderung der Transformationsländer Osteuropas. Die beiden EU-Führungsmächte Frankreich und Deutschland vereinbarten, deutsche Unternehmen vor allem in den Osten, französische im Gegenzug eher gen Süden Richtung Nordafrika expandieren zu lassen. Der Weg nach Osten wurde westlichen Unternehmen über Assoziierungs- und Freihandelsabkommen geebnet. In der Ukraine sind heute rund 4000 deutsche Firmen tätig, die bei ihren Investitionen politische Unterstützung und Fördergelder aus der EU erhalten. Die Mehrheit der in Osteuropa lebenden Menschen nahm die Aussicht auf eine Mitgliedschaft ihres Heimatlandes in der NATO und der EU anfangs mit Begeisterung auf. Doch ihre Hoffnungen wurden durch Jahre der Privatisierung, der Deindustrialisierung, des wachsenden sozialen Elends und der Korruption der neuen politischen Klasse herb enttäuscht. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen sind die Menschen in der Ukraine in der Frage, ob ihr Land sich der EU oder Russland unterordnen sollte, tief gespalten. Zudem hat das Land sowohl den Einmarsch der deutschen Wehrmacht als auch den Terror des Stalinismus erlebt, dem vor allem die Tartaren zum Opfer fielen.

Das EU-Assoziierungsabkommen, das die neu installierte ukrainische Regierung unterzeichnen soll, sieht neben weiteren Erleichterungen für Unternehmen auch die radikale Streichung von Subventionen für die Bevölkerung vor, durch die die Regierung bisher die Preise vor allem für Mieten und Energie bezuschusst hat. Fallen diese Beihilfen tatsächlich weg, werden die Lebenshaltungskosten um geschätzte 40 Prozent steigen. Das wird jeglicher EU-Euphorie ein jähes Ende bereiten, zumal der Internationale Währungsfond, der dem Land gerade Kredite gewährt hat, zusätzlich »Strukturanpassungsprogramme« verlangen wird. Angesichts der anhaltenden globalen Krise drängen deutsche Unternehmen verstärkt auf politische Interventionen zur Unterstützung neuer Investitionsmöglichkeiten. Die große Abhängigkeit Westeuropas und gerade Deutschlands von russischen Gas- und Öllieferungen sowie die umfangreichen Investitionen deutscher Unternehmen in Russland sorgen im Unternehmerlager für Auseinandersetzungen über die Russlandpolitik der Bundesregierung. Ulrich Grillo, der vom Verantwortlichen des Bundes der Deutschen Industrie für Rohstofffragen zu dessen Präsidenten aufgestiegen ist, befürwortet Sanktionen gegen Russland. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag warnt hingegen vor der Gefahr für die deutsche Wirtschaft, die sich aus einer Verschlechterung der Beziehungen zu Russland ergeben könnte. Siemens-Chef Joe Kaeser traf sich Ende März sogar persönlich mit Putin und erklärte danach, sein Unternehmen lasse sich »von kurzfristigen Turbulenzen in unserer langfristigen Planung nicht übermäßig leiten«. Einzelne Unternehmen und Branchen wollen ihre Einnahmen aus dem Russlandgeschäft nicht durch eine politische Krise geschmälert sehen. Dem steht das Gesamtinteresse des deutschen Kapitals an der EUOsterweiterung gegenüber, um die es beim Kampf um die Ukraine geht. Spiegelbildlich zur westlichen Blockbildung betreibt auch Russland die Anbindung benachbarter Staaten. Über die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) bindet Moskau sie militärisch an sich und über die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) auch ökonomisch. Nach dem politischen Durcheinander der 1990er Jahre haben Putin und sein langjähriger Wegbegleiter Dmitri Medwedew seit Anfang des neuen Jahrtausends eine Konsolidierung ihres Landes erreicht. Seither setzen sie auf das Ziel, Russland mindestens als Regionalmacht, am liebsten aber wieder zu »einem der führenden Staaten« in der Welt aufzubauen. Russland soll nach den Vorstellungen einer »Agenda 2020«, die Putin vor einigen Jahren entworfen hat, zu einem wesentlichen Knotenpunkt in der eurasischen Energiepolitik werden. Die neue nationale Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2008 zielt im Bereich der »strategischen Waffen« auf ein Gleichziehen Russlands mit den USA. Außerdem soll das russische Militär international einsatzfähig werden. Diese Stoßrichtung entspricht der nationalen Sicherheitsstrategie der USA aus dem Jahr 2006 und entspre-


chenden Strategiepapieren aus anderen Ländern. In der Auseinandersetzung um die Ukraine hat die russische Regierung eine offene militärische Konfrontation mit dem Westen abgewendet, indem sie die vorläufige Aufteilung der Ukraine im Eiltempo durchsetzte. Adam Michnik, einer der führenden Aktivisten der polnischen Solidarnosc-Bewegung hat darauf hingewiesen, dass Putins Worte, er werde die Krim nicht ihrem Schicksal überlassen, in Osteuropa Erinnerungen an Leonid Breschnews gleichlautende Erklärung zur russischen Niederschlagung des »Prager Frühlings« im Jahr 1968 wecken. Putins Ankündigung, er wolle, dass die Ukraine ein starkes, souveränes und unabhängiges Land werde, entsprach zudem Stalins scheinheiliger Bekundung zur Vereinnahmung Polens im Jahr 1945. Freiheit oder Souveränität hat den Ukrainern die Anbindung an Russland bisher nicht gebracht. Die Wirtschaft ihres Landes befindet sich heute im Besitz von rund einhundert Superreichen. Diese Struktur ähnelt der Herrschaft der Oligarchen in Russland und schlägt sich in der Unterversorgung der arbeitenden Bevölkerung nieder, deren Einkommen noch ein Drittel unter dem russischen Niveau liegen. Unzählige Ukrainer sind als Wanderarbeiter in der ganzen Welt unterwegs, weil sie in ihrer Heimat ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Dabei ist die Ukraine ein Land mit eigener Industrie und Roh-

stoffen, das lange Zeit als Kornkammer Europas galt. Auch wenn das Vorgehen des Westens in den letzten beiden Jahrzehnten eine offene Provokation gegenüber der russischen Führung darstellte, haben Putin und die Oligarchen kein Naturrecht auf die Länder, die von den russischen Geostrategen als Russlands »nahes Ausland« bezeichnet werden. Nach dem Ende der atomaren Konfrontation des Kalten Krieges, an die sich manche heute fast nostalgisch erinnern, ist das Ringen der Konzerne und ihrer Regierungen um Macht und Märkte in eine Periode übergegangen, die wieder mehr dem »Großen Spiel« ähnelt, das vor 100 Jahren in den Ersten Weltkrieg mündete. Auch dieser brach nicht von einem Tag auf den anderen aus, sondern ihm gingen viele kleinere Scharmützel und Stellvertreterkriege voraus. Wie wirkungslos internationale Verträge und Normen auch heute noch sind, solche Konfrontationen zu verhindern, zeigt das Agieren der großen Militärmächte jedes Mal, wenn es um das geht, was sie unter ihren »nationalen Interessen« verstehen: Zugang zu Märkten, Rohstoffen und billigen Arbeitskräften. Solange der Wohlstand unserer Welt nach dem Prinzip der Konkurrenz und der privaten Aneignung verteilt wird, werden die Kämpfe darum weitergehen. Wie schnell sie eskalieren können, haben wir gerade erlebt. ■

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Herausgegeben von Frieder Otto Wolf (Louis Althusser, Gesammelte Schriften, Band 4,) Juni 2014 - ca. 800 Seiten

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© Alexandra (Nessa) Gnatoush / CC BY / flickr.com

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★ ★★ Hintergrund Bei vorliegendem Text handelt es sich um die gekürzte und leicht überarbeitete Version eines Thesenpapiers, das am 28. Februar 2014 unter dem Titel »Weder Brüssel noch Moskau« auf marx21.de erschienen ist.

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Die Übergangsregierung wird die Krise in der Ukraine nicht entschärfen. Ihr Programm sozialer Angriffe wird sie in Widerspruch zur Bevölkerung bringen.

Nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch hat eine Übergangsregierung die Macht in der Ukraine übernommen. Sie besteht aus Vertretern von Julia Timoschenkos konservativer, neoliberaler Vaterlandspartei (Batkiwschina), der faschistischen Partei Freiheit (Swoboda) und einem Teil der Maidan-Aktivisten, die keiner Partei angehören. Nicht vertreten ist Vitali Klitschkos nationalkonservative Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen (UDAR). Die Vaterlandspartei hat die wichtigsten Ämter übernommen. Sie stellt mit Arsenij Jazenjuk den provisorischen Ministerpräsidenten, zudem den Innenminister, den Justizminister sowie fünf weitere Minister. Die Partei verfügt momentan offenbar über die Unterstützung substanzieller Teile der Eliten, die sich eine Stabilisierung der Situation wünschen, ohne dass dabei ihre Privilegien angegriffen werden. Die Faschisten von Swoboda konnten sich vier Ministerämter sichern (allerdings ist Verteidigungsminister Ihor Tenjuch am 25. März wegen der Krim-Krise zurückgetreten. Er wurde durch den parteilosen Mychajlo Kowal ersetzt). Schon jetzt wird deutlich, dass die neue Regierung vor allem die Interessen des Westens sowie eines Teils der ukrainischen Oligarchen und Eliten schützt.

Weder Klitschko noch Timoschenko Von Stefan Bornost und Yaak Pabst

Die Massenbewegung »Euromaidan« hat innerhalb der deutschen Linken heftige Debatten ausgelöst: Waren die Proteste vom Westen gesteuert? Welche Gefahr stellt die extreme Rechte dar? Und wie sollte die Linke in dieser Situation handeln? Fünf Thesen zur Krise in der Ukraine


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Die Protestbewegung »Euromaidan« begann als Massenbewegung von unten. Der Protest hat tiefe soziale Wurzeln, nämlich die Ausplünderung des Staates durch die Oligarchen bei zugleich weitverbreiteter Armut. Artikuliert wurde dieser Zusammenhang auf dem Maidan allerdings kaum. Die Maidan-Bewegung begann, als Präsident Janukowitsch im November ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union ablehnte. Die Hartnäckigkeit der Demonstranten, welche die Platzbesetzung trotz Kälte und staatlicher Repression über Monate hinweg aufrechterhielten, weist jedoch auf tiefere soziale Wurzeln ihrer Proteste hin. Das kommt auch in einer Umfrage zum Ausdruck: Am 3. Februar nannten zwar 61,3 Prozent der Demonstranten die Repressionen durch die Machthaber als einen Grund, um auf die Straße zu gehen. Doch die Bestrebung, das Leben in der Ukraine zu verändern, war immerhin für jeden zweiten Protestierenden eine Motivation (51,1 Prozent). Dieser Wert hatte im Dezember noch bei 36,2 Prozent gelegen. Dass die soziale Frage immer wichtiger

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Die Wirtschaftskrise soll auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung gelöst werden. Um den Staatsbankrott abzuwenden und Kredite vom Internationalen Währungsfonds (IWF), von der EU und den USA zu erhalten, hat die Regierung »schmerzhafte Einschnitte« und eine »Schocktherapie« angekündigt. Konkret bedeutet diese Mitteilung, dass es Massenentlassungen im öffentlichen Dienst, Kürzungen der staatlichen Subventionen für Gas und Strom und massive Einschnitte bei den Renten und Löhnen geben wird. Die Regierung will 24.000 der insgesamt 249.000 Angestellten des öffentlichen Diensts entlassen. Der Staatskonzern Naftogas wird seinen Gaspreis ab dem 1. Mai um 50 Prozent erhöhen. Das verlangt der IWF als Voraussetzung für einen Kredit. Dennoch wäre es verfrüht, in der Regierungsbildung den Endpunkt der Maidan-Bewegung zu sehen. Denn sie hatte bei aller Widersprüchlichkeit nicht zum Ziel, eine Fraktion der herrschenden Klasse durch eine andere auszutauschen. Im Gegenteil: Die Proteste teilten ein Element der Platzbesetzungen, die wir in den vergangenen Jahren in Spanien, Griechenland und anderswo gesehen haben: ein starkes Misstrauen gegen die Eliten und die institutionalisierte Politik. Dieses Misstrauen gilt, völlig zu Recht, auch der Opposition. Nelia Vakhovska, die Projektkoordinatorin der RosaLuxemburg-Stiftung in Kiew, sagt treffend: »Die Besonderheit der ukrainischen Proteste besteht darin, dass sie sich grundsätzlich von der Parteipolitik ab-

gegrenzt haben. Parteipolitik liegt für viele Protestteilnehmer jenseits der Grenze zum Schmutzigen und Unzuverlässigen. Und sobald ein Sympathieträger von einer Seite auf die andere wechselt, verliert er an Sympathien. Zum Beispiel Klitschko: Er hat erheblich an Sympathien verloren, seitdem er in die große Politik eingestiegen ist. Und über Timoschenko macht man sich sogar lustig: Da kommt sie aus der Krankenhaushaft und versucht, das alte Spiel fortzusetzen, hält eine sehr emotionale Rede und erhebt klare Ansprüche auf die Präsidentschaft oder eine andere Führungsposition. Das ist sehr schlecht angekommen.« Dieser latent vorhandene Widerspruch wird in aller Schärfe hervortreten, wenn die neue Regierung damit beginnt, ihre Sozialkürzungen durchzuführen. Vakhovska schreibt hierzu: »Obwohl die blutigen Auseinandersetzungen zum Glück beendet sind, besteht der eigentliche Konflikt fort – der Konflikt zwischen den Bürgern und den sogenannten politischen Eliten.« Wer auch immer bei den Wahlen am 25. Mai siegen sollte: Man sollte sich keine Illusionen über die neue Regierung machen. Sie wird für den Erhalt des Status quo stehen, also die Macht der Oligarchie nicht angreifen und weiter neoliberale Politik durchführen. In einer Stellungnahme der linken Gruppe Autonome Arbeiter-Union aus der Ukraine heißt es: »Neben den Faschisten werden alte und erfahrene Oppositionelle versuchen, die Macht zu ergreifen. Viele von ihnen haben bereits einige Erfahrung mit der Arbeit in der Regierung. Auch Korruption, Günstlingswirtschaft und die Verwendung von Haushaltsmitteln für persönliche Zwecke sind ihnen nicht fremd«.

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wird, ist kein Wunder: Die Ukraine ist selbst im Vergleich mit anderen osteuropäischen Staaten ein armes Land. Die Arbeitslosenquote ist zwar mit acht Prozent noch vergleichsweise gering, doch die Einkommenssituation ist katastrophal, der Staat hoch verschuldet. Der durchschnittliche Monatslohn beträgt gerade einmal 300 Euro, der Mindestlohn liegt bei 110 Euro. Nur die staatlichen Subventionen für Energie- und Mietkosten schützen Millionen Ukrai-

Die Schlägerkader bekamen sogar ihre Fahrtkosten erstattet

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Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

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Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21.

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ner vor dem völligen sozialen Absturz. Zudem existiert ein enormes Gefälle zwischen der Westukraine (dem Zentrum der gegenwärtigen Aufstandsbewegung) und dem industrialisierten Osten. Das Durchschnittsgehalt im westlichen Bezirk Ternopil ist mit 200 Euro nicht einmal halb so hoch wie im Donezbecken, wo es bei über 400 Euro liegt. Dem steht ein enormer gesellschaftlicher Reichtum, konzentriert in der Hand der Oligarchen gegenüber. Das Vermögen der einhundert reichsten Ukrainer beträgt laut der ukrainischen Ausgabe der Zeitschrift »Forbes« 37,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die verschiedenen Fraktionen der Oligarchen führen zwar seit Jahren Machtkämpfe untereinander. Einig sind sie sich jedoch, wenn es darum geht, ihre Gesamtinteressen gegen die Bevölkerung zu verteidigen. Diese sozialen Widersprüche wurden innerhalb der Maidan-Bewegung allerdings kaum thematisiert. Die Proteste hatten kein erkennbares soziales Programm, sondern nur ein Ziel: Den Sturz der Regierung von Viktor Janukowitsch. Nicht zuletzt wegen dieser Schwäche der Protestbewegung konnten konservative und nationalistische Kräfte eine Führungsrolle übernehmen.

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Trotz der starken Präsenz der extremen Rechten war die Protestbewegung »Euromaidan« keine faschistische Bewegung. Es ist wichtig, zwischen der Bewegung und den an ihr beteiligten Organisationen und den Parteien zu unterscheiden. Leider konnte sich die extreme Rechte innerhalb der Protestbewegung ein markantes Profil erarbeiten. Zu ihren stärksten Vertretern gehört zum einen die faschistische Partei Swoboda. Sie hat nach eigenen Angaben 15.000 Mitglieder. Bei der Parlamentswahl im Jahr 2012 erhielt sie 10,4 Prozent der Stimmen und gewann 37 Mandate. Zum anderen wirkte innerhalb der Bewegung der erst im November 2013

gegründete »Prawyj Sektor« (der »Rechte Sektor«) mit. Diese Organisation ist ein Bündnis von ultranationalistischen und faschistischen Gruppen. Auch die antisemitische Partei UNA-UNSO gehört ihr an. Der Rechte Sektor verfügt über paramilitärische Strukturen. Nach Angaben des Anführers Dmitri Jarosch war die Organisation auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit über 1500 Aktivisten auf dem Maidan vertreten, landesweit schätzt er die mobilisierbaren Unterstützer auf 4000 bis 5000. Rechter Sektor und Swoboda agierten auf dem Maidan gemeinsam. Swobodas Wahlerfolg im Jahr 2012 hatte zur Folge, dass die extreme Rechte über erhebliche Finanzmittel verfügt, die sie zur Mobilisierung ihrer Anhänger einsetzt. Sie konnte alle ihre Schlägerkader bei den Protesten in Kiew versammeln und ihnen sogar Fahrtkosten erstatten und ein Tagesgeld auszahlen. Je militarisierter die Auseinandersetzungen um den Maidan wurden, desto mehr konnten sich die Nazis profilieren, da sie einen paramilitärisch ausgebildeten Kader aufbieten konnten. Mit dem Eintritt von Swoboda in die Übergangsregierung hat sich das Verhältnis der beiden rechten Organisationen verändert. Der Rechte Sektor konstituierte sich im März als Partei und versteht sich nun auch als Konkurrenz zu Swoboda. Der Vorsitzende Jarosch wird bei der Präsidentenwahl im Mai antreten. Umfragen sehen ihn allerdings zurzeit weit abgeschlagen bei 1,8 Prozent. Die Ziele und Aktionen von Swoboda und Rechtem Sektor spalteten und gefährdeten die Protestbewegung. Ihre Mitglieder attackierten während der Proteste linke Aktivisten und Gewerkschafter. Trotz dieser Übergriffe und der starken Präsenz der extremen Rechten ist die Protestbewegung »Euromaidan« keine faschistische Bewegung. Denn hier sind auch andere politische Strömungen vorhanden. Ivo Georgiev, Referatsleiter für Ost-, Mittel- und Südeuropa bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung stellt in einer Analyse vom Februar richtigerweise fest: »Die Protestbewegung, die mit dem Namen, Euromaidan assoziiert wird, ist eine heterogene Massenbewegung, an der sich auch viele linksorientierte Ukrainer beteiligen oder zumindest damit sympathisieren. Darunter sind Sozialisten, Anarchisten, Trotzkisten, FeministInnen, linksliberale Intellektuelle und auch nicht organisierte linke Aktivisten.«

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Das Erstarken der Neonazis hat nicht nur mit der sozialen Krise zu tun, sondern ist auch ein Produkt der nationalistischen Propaganda von Regierung, Medien und verschiedenen Oppositionsparteien. Zudem resultiert es aus der Schwäche der Linken. Seit zwei Jahren ist Swoboda im ukrainischen Parlament vertreten. Der Einfluss der Rechtsextremen hat sich von der Westukraine bis in die zentralen und


südlichen Regionen ausgebreitet. In der Hauptstadt Kiew haben sie bei den Wahlen 17 Prozent der Stimmen gewonnen. Die Partei profitiert von der Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit der sozialen Lage und der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich. Zudem durchzieht die Gesellschaft ein großes Misstrauen gegenüber allen etablierten Parteien. Auch dies bereitete den Boden für nationalistische Ideologien. Hinzu kommt, dass die Regierung des zwischen 2005 und 2010 amtierenden Präsidenten Wiktor Juschtschenko der extremen Rechten immer wieder Steilvorlagen und Anknüpfungspunkte bot, indem sie den rechtskonservativen Diskurs stärkte und nationalistische Mythen legitimierte. Juschtschenko beispielsweise verlieh im Jahr 2007 den ehemaligen Führer der ultranationalistischen Ukrainischen Aufstandsarmee des Zweiten Weltkriegs, Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch, posthum den Orden »Held der Ukraine«. Hierbei handelt es sich um die höchste Auszeichnung, die von der ukrainischen Regierung verliehen werden kann. Über das ganze Land verteilt stehen zwanzig Statuen von Bandera. Viele junge Menschen verehren ihn als Helden. Nicht zuletzt das zeigt, dass der ultrarechte Nationalismus bis weit in den politischen Mainstream der Ukraine hinein reicht, wovon natürlich die organisierte extreme Rechte profitiert. Zugleich sind die Betätigungsmöglichkeiten für die radikale Linke sehr eingeschränkt. Hier wirkt der Stalinismus noch nach und die antikommunistische Propaganda, der vergangenen zwanzig Jahre tut ihr übriges. Dieses Vakuum auf der Linken ermöglichte es Swoboda, die Rolle der radikalen Opposition zu übernehmen.

Die ukrainische Linke hat einen schweren Stand. Sie wird bedroht von der extremen Rechten und ist geschwächt durch die Diskreditierung linker Ideen infolge des Stalinismus. Zudem stehen manche Kräfte noch immer in der stalinistischen Politiktradition. Der Politikwissenschaftler Vitaly Atanasov schreibt: »Eine Besonderheit der ukrainischen Situation besteht darin, dass der linke Flügel der politischen Szene im Lande von der konservativ-chauvinistischen und prorussischen Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) besetzt ist. Die KPU hat den Namen und die Symbolik der ehemaligen sowjetischen Regierungspartei übernommen und sie pragmatisch in Parlamentssitze umgemünzt. In den letzten Jahren gab es keine Re-

Das Symbol der Wolfsangel (o. r.) verwenden Rechtsextremisten und Neonazis in aller Welt – auch die an der ukrainischen Übergangsregierung beteiligte Partei Swoboda. Bis zum Jahr 2004 war es ihr Parteilogo. Obwohl die ukrainische linke sehr schwach ist, gibt es Kräfte, die gegen die Faschisten ankämpfen

gierungskoalition ohne Kommunisten; die Kommunistische Partei wird direkt mit dem herrschenden politischen System zugerechnet – und dem grenzenlosen Zynismus sowie dem Bestreben, Macht in bares Geld zu verwandeln, die diesem System eigen sind.« Ausgerechnet die KPU hat im Parlament Janukowitschs Antidemonstrationsgesetzen zugestimmt. Ohne die Stimmen der Kommunisten hätten sie keine Mehrheit gefunden. Trotz dieses schwierigen Umfeldes versuchten die linken Kräfte auf dem Maidan im Rahmen ihrer Möglichkeiten, den Gang der Ereignisse versuchen zu beeinflussen. Diese Aktivisten verdienen unsere Solidarität. ■

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Die radikale Linke in der Ukraine ist zwar winzig, aber es gibt sie. Wenn sie wachsen will, sollte sie die sozialen Interessen der Bevölkerung ins Zentrum ihrer Aktivitäten stellen und gegen die Oligarchen und deren Frontparteien kämpfen.

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»Der russische Staat ist schwach« Für die westlichen Medien ist Putin der neue Oberschurke. Aber was denkt eigentlich die russische Bevölkerung? Aktivist Ilya Budraitskis analysiert die Widersprüche Interview: Anton Thun Demonstrationen für Putin, Demonstrationen gegen Putin – die Berichte aus Russland sind zurzeit widersprüchlich. Wie ist die Lage? Am 15. März fand eine große Putin-kritische Demo statt. Mindestens 50.000 Menschen nahmen teil. Die Demonstration richtete sich gegen die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung mit der Ukraine. Deshalb hieß sie »Marsch des Friedens«. Außerdem protestierten die Demonstrantinnen und Demonstranten gegen die Einschränkung der Redefreiheit in Russland. Wenige Tage zuvor waren mehrere Redakteure entlassen worden, weil sie aus Sicht der Regierung zu kritisch berichtet hatten. Der »Marsch des Friedens« sollte zeigen, dass die Menschen nicht nur gegen einen Krieg mit der Ukraine sind, sondern auch die Entwicklungen innerhalb Russlands nicht akzeptieren, die mit diesem verschärften Kurs des Kremls zu tun haben. 50.000 ist eine Menge, aber noch kein Beleg für eine gesellschaftliche Stimmung gegen Putin. Nein, das stimmt. Putin ist zurzeit auf dem Gipfel seiner Popularität. Bei allen Umfragen unterstützen mehr als siebzig Prozent der Befragten seine Politik und sechzig Prozent würden bei den nächsten Wahlen für ihn stimmen. Putins Par-

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Ilya Budraitskis

Ilya Budraitskis ist Mitglied der »Sozialistischen Bewegung Russlands« (Rossiyskoye Socialisticheskoye Dvizheniye, RSD). Die Organisation, die in den großen Städten Russlands präsent ist, entstand Anfang des Jahres 2011 aus einer Neustrukturierung der russischen Linken und ist eine Fusion verschiedener Gruppen. Sie versteht sich als antikapitalistische, radikale linke Sammlungsbewegung und tritt für einen neuen, demokratischen Sozialismus ein. Ihre Aktivisten sind in unterschiedlichen sozialen und demokratischen Bewegungen aktiv, so auch in der Massenbewegung gegen Putin 2011/2012.

tei »Einiges Russland« schwimmt zur Zeit auf einer patriotischen Welle und wird bei den nächsten Parlamentswahlen sicher gut abschneiden. Als Reaktion auf den »Marsch des Friedens« gab es auch zahlreiche Pro-Regierungs-Demonstrationen. Aber die Unterstützung für Putin ist passiv und auch widersprüchlich. Auf den Demonstrationen für Putin waren viele Staatsangestellte, die zur Teilnahme gedrängt worden sind. Dazu kommen auch noch viele bezahlte Demonstranten. Die von dir zitierten Umfragen deuten aber nicht darauf hin, dass die Unterstützung für Putin nur inszeniert ist... Die aktive Unterstützung durch Kundgebungen ist es aber. Wir sehen hier keine spontanen Aufwallungen der Liebe des russischen Volkes zu Putin. Auf der Straße sind Aktivisten kremltreuer Organisationen, die entweder ein Gehalt dafür bekommen oder durch ihren staatstreuen politischen Aktivismus Vorteile erhalten – geschäftliche Vorteile, Arbeit oder ähnliches. Dazu kommen Menschen, die für Geld teilnehmen. Es gibt verschiedene kommerzielle Webseiten, die Angebote anzeigen, wo man für Bezahlung an Demonstrationen teilnehmen kann. So zum Beispiel die Website massovki.ru. Hier gibt es verschiedene Angebote: Wie muss


gen wurden, an Aktionen teilzunehmen. Meist sind es Angestellte im öffentlichen Dienst, die natürlich vom Staatsapparat abhängig sind, seien es Lehrer, Bauarbeiter, Hausmeister und so weiter. Sie werden schlicht und ergreifend unter Druck gesetzt zu erscheinen. Sonst drohen Lohnkürzungen oder andere Sanktionen auf der Arbeit.

Putin behauptet, die Besetzung der Krim diene dem Schutz der russischen Bevölkerung dort. Was glaubst du als linker Aktivist? Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass tatsächlich die Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim dafür war, sich Russland anzuschließen. Es gab ein Referendum und die Mehrheit der Einwohner stimmte dafür. Die Frage ist: Wie kam das Referendum zustande? War es das Ergebnis einer Massenbewegung von unten, die als Antwort auf den Erfolg der Maidan-Bewegung in Kiew entstand? Nein. Es geschah genau anders herum. Erst kamen die russischen Soldaten, dann wurde so getan, als gäbe es eine Bewegung zur Unterstützung dieses Referendums, dann wurde das Referendum angenommen. Formell wurde also das Selbstbestimmungsrecht der Völker realisiert. Aber es waren nicht die Leute, die sich dann selbst bestimmen durften, welche die Frage aufgeworfen haben. Die Menschen haben also nicht selbst über ihr Schicksal entschieden. Genauso, wie die Krim in der Vergangenheit ohne ihre Zustimmung zu einem Teil der Ukraine gemacht wurde.

Also doch keine Bürger für Putin? Diese Menschen gibt es sicherlich, aber es sind ziemlich wenige und die Organisatoren dieser Aktionen verlassen sich auch nicht auf sie. Das zeichnet generell die Mobilisierung dieses politischen Re-

Warum ist die Bevölkerung der Krim für einen Anschluss an Russland? Das hat vor allem soziale Gründe. Die Krim ist eine sehr arme Region. Sogar in der Ukraine war sie auf einem der letzten Plätze, was den Lebensstandard angeht.

Moskau, 15. März: Zehntausende protestieren gegen die Einmischung Russlands in den Ukraine-Konflikt. Sie folgen dem Aufruf einer Oppositionsgruppe und tragen Spruchbänder mit Parolen wie »Lasst die Ukraine in Ruhe« und »Nein zum Krieg« man aussehen, wie lange dauert der Einsatz, muss man mit einer Fahne herumwedeln und wie viel Geld bekommt man jeweils dafür. Im Allgemeinen sind diese eingekauften Demonstranten nicht so teuer. Es handelt sich also nicht um riesige Summen. Menschen, die diese Angebote wahrnehmen, sind aus armen Schichten. Diese Art von Teilnehmergewinnung gibt es also auch, allerdings sind diese Demonstranten nicht sehr gut vorbereitet. Wenn ein Journalist zu ihnen kommt und eine Frage stellt, werden sie sich eher wegdrehen und nichts sagen. Und es gibt drittens Demonstranten, die in irgendeiner Form dazu gezwun-

TITELTHEMA ZWEI Jahre Arabischer Frühling

gimes aus. Als Putin zum dritten Mal als Präsident kandidierte, war es genauso und vorher auch nicht anders. Die Aktionen sollen die Unterstützung der Regierung von unten vorgaukeln. Aber die Menschen in Russland wissen, wie das Ganze abläuft, und lassen sich von diesen Bildern nicht so einfach täuschen. Das bedeutet nun nicht, dass nicht viele Menschen die Regierungspolitik passiv unterstützen. Viele meinen, der Anschluss der Krim an Russland sei guter Schritt. Wenn man sich aber mal anschaut, wie viele Menschen tatsächlich aus eigenem Antrieb für oder gegen die Regierung auf die Straße gehen würden, sind die Demonstranten gegen Putin deutlich in der Überzahl. Auf die gesamte Gesellschaft bezogen sind sie zwar in der Minderheit, aber als mobilisierende Akteurinnen und Akteure sind sie stärker.

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War denn nicht die Furcht vor Unterdrückung durch die Ultranationalisten in der neuen Regierung in Kiew auch ein wichtiger Grund? Inwiefern die Rechte der russischsprachigen Bevölkerungsteile unterdrückt wurden, ist schwer zu beantworten. Man kann schwer über die Gefühle der Menschen urteilen. Hier spielt vor allem auch das subjektive Moment eine Rolle. Objektiv war die Krim innerhalb der Ukraine immer eine russischsprachige Region. Das Bildungssystem, die Massenmedien, die Machthaber waren immer komplett russischsprachig. Die Bedrohung durch eingereiste ukrainische Nationalisten, die Menschen verfolgen und sich einmischen wollen, ist ein Propagandamärchen. Die Bevölkerung der Krim hat nie eine Loyalität zur Ukraine entwickelt. Überwiegend herrscht die Meinung, dass die Zugehörigkeit zur Ukraine ein historischer Fehler war. Es sollte allerdings klar sein, dass die Entwicklung auf der Krim nichts mit einer späten historischen Gerechtigkeit zu tun hat. Es war eine russische Militäraktion als Reaktion auf die Ereignisse in der Ukraine und nicht irgendeine Form von Hilfe für die Menschen auf der Krim. Man sollte sich auch daran erinnern, dass es nicht nur in der Ukraine russischsprachige Bevölkerungsteile gibt, sondern auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wie in Kasachstan, in Usbekistan, in Moldawien. In diesen Ländern stehen die russischsprachigen Minderheiten viel mehr im Konflikt zu den nationalistischen Regimes als in der Ukraine. Allerdings hat Putin beispielsweise kein Problem mit den Herrschenden in Kasachstan. Dort ist ein autoritäres Regime an der Macht, mit dem Putin gut umgehen kann und das näher an seinem Politikverständnis liegt. Die sieben Millionen russischsprachigen Menschen in Kasachstan werden also auch in Zukunft von niemandem gefragt, was sie mit ihrem Selbstbestimmungsrecht anfangen wollen. Das, was in der Ukraine passiert, ist ein zynisches Ausnutzen wirklicher nationaler oder sprachlicher Widersprüche.

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© wikimedia

Wenn Russland dort nun soziale Leistungen zahlt, wie in anderen Regionen des Landes, profitieren die Menschen auf der Krim natürlich davon. Die Renten und Löhne werden wahrscheinlich ansteigen.

Zuerst kamen die russischen Soldaten: Präsident Wladimir Putin (3. v. l.) unterzeichnet am 18. März den Vertrag über die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation

Russland ist kein attraktives Land für Investoren Dieses Vorgehen wird mit der Losung der Selbstbestimmung verschleiert, während die Menschen gar nicht die Möglichkeit bekommen, diese Frage selbst zu stellen. Deutsche Medien berichten in letzter Zeit, Russland stehe vor einer großen Rezession. Wie ist die ökonomische Situation und wie wirkt sie sich auf den Klassenkampf aus? Nun, die Anzeichen einer Rezession haben sich schon Ende letzten Jahres gezeigt. Es wurde schon damals of-

fiziell bestätigt, dass in Russland eine wirtschaftliche Stagnation beginnt. Schon vor der Entwicklung auf der Krim waren die Prognosen der Wirtschaftsentwicklung sehr verhalten. Vorausgesagt wurden nur zwei bis drei Prozent Wirtschaftswachstum bis zum Ende des Jahres. Das Wirtschaftswachstum hat sich relativ plötzlich verlangsamt. Jetzt spricht man schon davon, dass das Wachstum vielleicht nur bei einem Prozent liegen wird. Ratingagenturen haben angekündigt, dass die Wirtschaftskraft in Russland bei einer Vertiefung der Auseinandersetzung mit dem Westen weiter sinken könnte. Ist die wirtschaftliche Lage ein Resultat der Krim-Krise? Nein, sie geht dieser Zuspitzung voraus. Russland ist kein attraktives Land für Investitionen. Das Geld, das gerade aus Russland flieht, übersteigt die Sum-


me, die nach Russland importiert und investiert wird. Diese Entwicklung hat sich nun verschärft, auch durch die Krim-Krise. Die größten ökonomischen Probleme entstehen also nicht dadurch, dass irgendwelche Sanktionen über Russland verhängt werden, die die Wirtschaft hier zusammenbrechen lassen, sondern dass immer mehr Kapital aus Russland wegfließt. Das wird auch die russischen Großkonzerne treffen, die mit dem Weltmarkt verflochten sind. Wie sehen die Folgen für die Bevölkerung aus? In vielen Firmen wird es Entlassungen geben und die Arbeitslosigkeit wird wachsen. Im öffentlichen Haushalt wird eingespart werden. Die Löhne im öffentlichen Dienst werden sinken und die Sozialleistungen gekürzt werden. Das hat politische Folgen. Die relativ hohen Löhne

Aber nicht aus jeder Wirtschaftskrise wird eine Regierungskrise... Das stimmt. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass der russische Staat trotz seiner Größe und Ambitionen eigentlich schwach ist. Er ist unglaublich korrupt, unter den Angestellten herrscht auf allen Ebenen eine sehr niedrige Motivation und außerdem kämpft der Staat immer mit einer ökonomisch schwierigen Situation und verstärkter Unzufriedenheit. Es ist überhaupt nicht klar, ob die Herrschenden einem wirklichen Druck von unten lange standhalten können. Diese Wirtschaftskrise, an deren Anfang wir stehen, wird früher oder später in eine soziale und politische Krise übergehen. Entweder wird sich die Elite spalten und Teile von ihr gehen gegen Putin vor, indem sie die Unzufriedenheit nutzen, oder sie wird angesichts der schwierigen Lage zusammenrücken und gemeinsam vom Kreml aus die Bewegung unterdrücken. Letzteres könnte mit einer Erstürmung des Kreml und sogar einer Revolution enden. Kann es Streiks oder andere direkte Formen von Klassenauseinandersetzungen geben? Das ist schwierig vorauszusagen. Mir scheint, die Mehrheit der Menschen ver-

steht noch nicht, was gerade passiert. Die Maßnahmen, die schon jetzt greifen, seien es Lohnkürzungen oder Entlassungen, werden als vorübergehend und vereinzelt begriffen. Die Leute nehmen nicht wahr, dass dieses Wirtschaftssystem in eine Krise steuert. Ich glaube, dass die sozialen Kämpfe erst dann ausgreifen, wenn sich ein Bewusstsein der Krise verbreitet, wenn die Menschen verstehen, dass sie für diese Krise bezahlen sollen und nicht Präsident Putin. Was macht ihr als linke Aktivisten in dieser angespannten Situation? Nach der großen Demonstration in Moskau wird zurzeit viel über die Zukunft dieser Bewegung gesprochen. Dabei geht es auch darum, in welche Richtung sich die Krise in der Ukraine entwickelt. Die letzten Wochen haben deutlich die Spaltungen innerhalb der russischen Linken gezeigt. Ein Teil von ihnen glaubt, dass es möglich ist, den Kurs der russischen Regierung kritisch zu unterstützen. Der andere Teil hält das für den falschen Weg. Diese neuen Spaltungslinien zeigen sich auch im Boykott des »Marsches für den Frieden« durch ein einen Teil der russischen Linken. Kannst Du diesen Teil genauer beschreiben? Aus welcher Tradition kommen die Aktivisten? Es gibt zum Beispiel die Organisation »Linke Front«. Sie hat die Linie der russischen Regierung gegenüber der Ukraine unterstützt. Diese Teile der Bewegung kommen eher aus einer stalinistischen politischen Tradition. Es gibt da verschiedene Motive. Natürlich sagt niemand: »Wir unterstützen den russischen Imperialismus und den Einmarsch der russischen Streitkräfte.« Stattdessen behaupten sie, die Gefahr gehe hauptsächlich von der ukrainischen Regierung aus, der ukrainische Faschismus sei eine Gefahr für die russischsprachigen Minderheiten und deshalb sei auch die Position der russischen Regierung verständlich. Es ist klar, dass Bilder wie der Abriss von Lenin-Statuen in der Ukraine auf viele einen starken Eindruck gemacht haben. Deshalb unterstützen sie nicht die Maidan-Bewegung, sondern deren Gegner. ■

TITELTHEMA ZWEI Jahre Arabischer Frühling

im öffentlichen Sektor sind ein wichtiger Grund für Putins Popularität. Die Regierung hatte noch im Mai des Jahres 2012 verfügt, dass die Löhne für Staatsbedienstete kontinuierlich steigen. So wollte Putin seine Machtbasis sozial absichern. Das lässt die wirtschaftliche Situation in Zukunft nicht zu. Die Regierungspropaganda versucht, die Menschen schon jetzt auf solche negativen Wirtschaftsentwicklungen einzustellen. Putin hat in seiner Krim-Rede einerseits sein Vorgehen gerechtfertigt, andererseits aber auch davor gewarnt, »unsere Feinde könnten die Unzufriedenheit mit der Verschlechterung der ökonomischen Situation in Russland ausnutzen«. Das Äußern dieser Unzufriedenheit hat er dabei mit einem Verrat an den nationalen Interessen gleichgesetzt. In der regierungsnahen Presse wird häufig betont, dass »unser Vermögen als Nation darin besteht, dass wir mit Verständnis auf die Verschlechterung auf die eigene ökonomische Situation reagieren«.

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KOMMENTAR

Der Feind meines Feindes ist nicht mein Freund Von Volkhard Mosler lung, für das Recht auf nationale Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf staatliche Abtrennung. Unter Stalin und seinen Nachfolgern wurde Russland wieder zu genau so einem Völkergefängnis. Stalin ließ ganze Volksgruppen umsiedeln, so zum Beispiel die Krim-Tartaren im Jahre 1944. Es ist zu befürchten, dass die nach 1989 teilweise wieder auf die Krim zurückgekehrten muslimischen Tartaren jetzt erneut unterdrückt und vertrieben werden. Der in der Ukraine wieder auflebende Nationalismus ist keine Erfindung von Angela Merkel oder Manuel Barroso. Angesichts fehlender linker Alternativen stellt er vielmehr eine ungesunde Reaktion auf Jahrzehnte der Unterdrückung der Ukrainer durch das Großrussentum dar. Richtigerweise bezeichnet die Gruppe Sozialistische Bewegung Russlands in einer Erklärung vom 1. März die Besetzung der Ukraine durch russische Truppen als einen »zynischen Akt des russischen Imperialismus«, dessen Ziel es sei, das Land »in ein russisches Protektorat zu verwandeln.« Zugleich findet in Russland Zensur gegen die Opposition statt, Kritiker Putins werden verhaftet. Der Hauptfeind steht im eigenen Staatenbündnis. Das ist in unserem Fall die vermeintlich so friedliche Europäische Union sowie das westliche Militärbündnis NATO. Für den Kurs der EU trägt Deutschland eine große Verantwortung. Deswegen sollten Linke alles tun, um die Bundesregierung unter Druck zu setzen, und für einen Austritt aus der NATO argumentieren. Trotzdem ist der Feind unseres Feindes, Putins Russland, nicht unser Freund oder Verbündeter. Russland ist Teil eines imperialistischen Weltsystems, das wir insgesamt bekämpfen müssen. Die Solidarität der LINKEN sollte der Linken in Russland gelten – und nicht der russischen Regierung. ■

Russland ist Teil eines imperialistischen Weltsystems

★ ★★ Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

★ ★★ marx21.de Auf unserer Website findet sich unter dem Titel »Kein Krieg mit der Ukraine« die Erklärung der Sozialistischen Bewegung Russlands: marx21.de/content/ view/2077/32/

TITELTHEMA GEFÄRHLICHER KAMPF UM OSTEUROPA

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ie deutsche und die europäische Linke trägt eine große Verantwortung. Sie muss gegen die aggressive Expansion von EU und NATO nach Osten kämpfen, ohne dabei den russischen Imperialismus zu verharmlosen. Eine solche Verharmlosung würde sie gerade in den osteuropäischen Staaten nicht besonders glaubwürdig machen, die eine lange Zeit der Unterdrückung und Ausbeutung durch das stalinistische und poststalinistische Russland erlebt haben. Jahrzehnte des Kalten Krieges scheinen auch heute noch, über 20 Jahre nach der historischen Niederlage des »Ostblocks« unter russischer Führung, politisch nachzuwirken. Die große Mehrheit in Deutschland war antikommunistisch eingestellt, eine kleine Minderheit hingegen sah in der Sowjetunion und der DDR eine vermeintlich fortschrittliche, antikapitalistische Alternative. Nur eine ganz kleine Minderheit von Marxisten folgte damals der Losung »Weder Washington noch Moskau — für internationalen Sozialismus«. Nun wird niemand abstreiten, dass in Russland und den anderen ehemaligen Ostblockstaaten mittlerweile eine neue Bourgeoisie ökonomisch und politisch herrscht: die Oligarchen. Anders als die alten, untergegangenen Regimes haben sie nicht einmal mehr den Anspruch »sozialistisch« zu sein. Es handelt sich bei ihnen um ganz normale Kapitalisten, die sich wie ihre westlichen Brüder durch die Ausbeutung von Lohnabhängigen bereichern. Und trotzdem genießt Russland in Teilen der Linken noch immer den Ruf eines antiimperialistischen oder zumindest »nicht-imperialistischen« Staats. Dabei hat die Regierung von Wladimir Putin gerade das Gegenteil bewiesen, indem sie die zur Ukraine gehörige Halbinsel Krim besetzte. Sie begründet ihr Vorgehen damit, die dortige russischsprachige Minderheit schützen zu wollen. Gleichzeitig marschieren russische Truppen an der Grenze zur Ukraine auf. Lenin schrieb über das 1917 gestürzte russische Zarenreich, es sei ein großes »Völkergefängnis«. Seine Partei, die Bolschewiki, kämpfte gegen die Privilegierung der Russen als Staatsvolk, für das Recht der kleinen Nationen auf vollständige Gleichstel-

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Frühling auf dem Balkan Bürgerkrieg und anschließend zwanzig Jahre der Privatisierung, Misswirtschaft und Korruption haben Bosnien und Herzegowina in tiefe Armut gestürzt. Doch nun hat eine Protestwelle das Land erfasst, die sich nicht länger durch den Nationalismus spalten lässt

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VON Daniel Kerekeš

nfang Februar entlud sich in Bosnien und Herzegowina der lang angestaute Frust über Korruption, Privatisierungen und das Krisenmanagement der regionalen und zentralen Regierungen. Seither kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. Auslöser der Proteste war die Privatisierung und damit einhergehende Schließung der größten Chemiebetriebe in Tuzla, einer Industriestadt im Nordosten des Landes. Die Arbeiterinnen und Arbeiter der dort ansässigen Betriebe hatten bereits seit mehreren Monaten jeden Mittwoch vor den Regierungsgebäuden demonstriert. Der Großteil der Beschäftigten war nach der Privatisierung entlassen worden und die, die noch Arbeit hatten, warteten seit fast zwölf Monaten auf ihre Löhne. Am 5. Februar eskalierte schließlich die Situation und es kam zu Straßenschlachten mit der Polizei. Zwei Tage nach den ersten Ausschreitungen hatten sich die Proteste bereits auf mehr als dreißig Städte im ganzen Land ausgeweitet. In Tuzla zogen Zehntausende zu den Regierungsgebäuden und brannten sie nieder.

na mit ratsähnlichen Strukturen gebildet, die täglich zusammenkommen und mittels direkter Demokratie die Rechte der Menschen wahrnehmen. In diesen Strukturen hat jede Bürgerin und jeder Bürger eine Stimme – unabhängig von Herkunft, Vermögen oder der eigenen Lebensgeschichte. Arbeiterinnen und Arbeiter stellen den Kern der Bewegung. Für viele von ihnen ist die Erinnerung an die Arbeiterselbstverwaltung im ehemaligen Jugoslawien auch heute noch lebendig. Zwar übten auch damals nicht die Beschäftigten, sondern eine bürokratische Elite die Kontrolle über die Produktion aus und die einzelnen Betriebe standen in direkter Konkurrenz zueinander. Doch im Gegensatz zu den Arbeiterinnen und Arbeitern hinter dem »Eisernen Vorhang« oder im westlichen Kapitalismus hatten die Beschäftigten selbst immer auch Einfluss auf ihre Tätigkeiten. Dies steht in krasser Diskrepanz zur heutigen Organisation der Arbeit. Die Erinnerung an die früheren Verhältnisse dient den Beschäftigten als Orientierung für ihre Forderungen in den aktuellen Kämpfen. Im Laufe der Proteste schlossen sich den Arbeiterinnen und Arbeitern auch andere gesellschaftliche Gruppen an: Studierende, Erwerbslose, Rentnerinnen, Rentner und Jugendliche. Eine Arbeitslosenrate von 44 Prozent und eine Jugendarbeitslosigkeit von über 60 Prozent tun ihr Übriges, um den Protesten eine große Dynamik zu verleihen. Anders als Spanien und Griechenland rückt Bosnien nur selten in den Fokus der deutschen Linken, obwohl die wirtschaftliche Lage dort schon lange katastrophal ist. Nicht nur ungelernte Kräfte und Facharbeiter haben keine Arbeit, auch Akademikerinnen und Akademiker sind massenhaft arbeitslos. Alleine in Tuzla

Bosnien ist ein neokoloniales Protektorat des Westens

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Daniel Kerekeš ist Landessprecher der Linksjugend [‘solid] in Nordrhein-Westfalen und Redakteur des kritischen Blogs diefreiheitsliebe.de.

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Ihren Ursprung haben die Proteste in der Wut über zwanzig Jahre Misswirtschaft. Die Menschen wollen nicht länger Spielball der Europäischen Union sein, die das Land zu Privatisierungen und Kürzungen bei den Sozialleistungen zwingt. Auch der Nationalismus und die Korruption der herrschenden Elite sind vielen seit langem ein Dorn im Auge. Nun ist der Damm gebrochen. Und auch wenn die Proteste inzwischen wieder abgeflaut sind, gehen nach wie vor in mehreren Orten des Landes täglich hunderte Menschen auf die Straße. In einigen Städten haben sich unmittelbar nach den Aufständen Ple-


In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war es in Jugoslawien zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und einer erheblichen Steigerung des Lebensstandards gekommen. Der Bürgerkrieg Anfang der 1990er Jahre und die anschließende neoliberale Reformphase, in der die ehemaligen Staatsbetriebe privatisiert und ausgeschlachtet wurden, machten diese Errungenschaften jedoch vollständig zunichte. NATO und EU haben Bosnien und Herzegowina de facto in ein neokoloniales Protektorat des Westens verwandelt. Der Regierungsapparat des Landes ist aufgebläht, bürokratisch und ineffizient. Das vielschichtige Regierungssystem resultiert aus dem Dayton-Abkommen nach dem Ende des Krieges 1995 und institutionalisiert die ethnische Spaltung. Neben der Zentralregierung in Sarajevo gibt es die mächtigen Regierungen der beiden Teilrepubliken, nämlich der Republik Srpska (Serbische Republik, nicht zu verwechseln mit der benachbarten Republik Serbien, Anm. d. Red.) und der Föderation Bosnien und Herzegowina. In der Föderation wiederum existieren zehn Kantone mit eigener Regierung und Ver-

waltung. Die Zentralregierung reagierte zunächst überhaupt nicht auf die Proteste. Erst seit kurzem verspricht sie Reformen. Derweil versuchten die Regierungen der Teilrepubliken, die Bewegung auf unterschiedliche Weise zu diskreditieren. Auf serbischer Seite hieß es, die Proteste seien bosnischmuslimisch dominiert, würden die Serbische Republik abschaffen und eine muslimische Herrschaft über ganz Bosnien etablieren wollen. Ähnliche Argumente waren auch aus den kroatisch dominierten Kantonen zu hören. Die Regierung der Föderation hingegen versuchte, die Protestierenden als bezahlte Aufständler, Hooligans und Asoziale hinzustellen. Doch insgesamt ließ sich die Bewegung nicht stigmatisieren. Es gab neben den Hauptprotesten in Tuzla, Sarajevo, Zenica und Bihać auch Demonstrationen in einigen kroatischen und serbischen Städten Bosniens. Das ist umso erstaunlicher, da die ethnischen Spaltungen der Bevölkerung auch nach dem Ende des Bürgerkriegs das Land wesentlich prägten. Nicht nur die Grenzen wurden nach ethnischen Kategorien gezogen, sondern auch Parteien, Firmen und Sportvereine waren strikt nach Ethnien organisiert. Diesen Konflikt haben sich die heimischen Eliten zu Nutze gemacht, um die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen und im Notfall ihre Macht auch mit stumpfem Nationalismus und

Februar 2014: Eine Frau steht lächelnd vor dem ausgebrannten Gebäude der Kantonalregierung in Sarajewo. Nur einen Tag nachdem Protestierende das Feuer legten, versammelten sich erneut tausende Menschen im Stadtzentrum. In ganz Bosnien setzten Demonstrantinnen und Demonstranten als Reaktion auf die Attacken der Polizei Regierungsgebäude in Brand

TITELTHEMA GEFÄRHLICHER KAMPF UM OSTEUROPA

© Stefan Ogiantin / CC BY-NC / flickr.com

sind mehr als 2500 Juristen und Wirtschaftswissenschaftler arbeitssuchend. Bosnien und Herzegowina gehört zu den fünf Ländern der Welt, welche die höchste Emigrationsrate unter Akademikern haben.

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Verschwörungstheorien abzusichern. Die internationale Presse reagierte sehr verhalten auf die Protestwelle in Bosnien und berichtete kaum über die Ereignisse. Die Herrschenden in Westeuropa handelten jedoch umgehend. Der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft Valentin Inzko, der de facto wie ein Statthalter in Bosnien herrscht, hat noch am Tag des Ausbruchs der Proteste erklärt, ein Einsatz von EUFOR/NATO-Truppen sei im Rahmen des Möglichen, sollten die gewaltsamen Proteste weitergehen. Die Frage erübrigte sich jedoch sehr schnell, da bereits am zweiten Tag des Aufstandes nur noch friedliche Proteste stattfanden. Auch die linke Partei »Lijevi« aus Bosnien sieht momentan keine Gefahr, dass es zum Einsatz des Militärs kommt. Die Bewegung hat trotzdem mit vielen Problemen zu kämpfen. Es gibt keine starke linke Kraft, die die Forderungen oder Proteste konkretisieren könnte. »Lijevi« als stärkste linke Partei wurde erst im Jahr 2012 gegründet und ist nur in Tuzla und Sarajevo vertreten. Weitere linke Parteien von ernstzunehmender Größe gibt es nicht. Und so stehen in jeder Stadt auch unterschiedlich weit reichende Forderungen im Raum: Die Studierenden Tuzlas verlangen einen Generalstreik, der solange andauern soll, bis alle Regierungen zurückgetreten sind. Die Arbeiterinnen und Arbeiter der Stadt wiederum fordern mehr Kontrolle über die Wirtschaft, die Rücknahme der Privatisierung von ehemaligen Staatsbetrieben und die Begrenzung der Minister- und Abgeordnetengehälter auf etwas mehr als das Facharbeiterniveau. In Sarajevo steht hingegen auch die Forderung nach einer stärkeren Einbindung Bosniens in die EU im Raum, wovon sich die Menschen einen höheren Lebensstandard erhoffen. Alle eint jedoch – nach über dreißig Jahren Ausbeutung und Deregulierung der Märkte – der Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Kern der Bewegung sind die Plena. Diese haben sich regional und überregional konstituiert und eigene Strukturen geschaffen. In einigen Kantonen wie Zenica-Doboj haben sie eigene Kandidaten für die Wahl im Oktober aufgestellt, nachdem die Bewegung die bisherige Regierung dort zum Rücktritt gezwungen hat. Das Zenica-Plenum fordert unter anderem

einen sofortigen Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst bis das »Amigo«-System der Regierungen durchleuchtet wird. Zudem verlangt es die sofortige Umverteilung der Gelder aus dem Fonds der Veteranen. Zuletzt forderte das Plenum die Rücknahme aller bisherigen Privatisierungen, die Abschaffung der Agentur für Privatisierung sowie die Einführung einer Strafe auf absichtliche Misswirtschaft. In anderen Städten wie Sarajevo kämpft die Bewegung nach wie vor mit dem Widerstand der lokalen, aber auch der Zentralregierung. Zunehmend wächst die Wut auf die Polizei. Schilder wie »Ihr seid nicht unsere Polizei« sind immer häufiger zu sehen. Auf der täglichen Demonstration in Mostar hielten Polizisten am 25. März den Protestzug vor dem Gebäude der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa auf. Dabei gingen sie mit massiver Gewalt gegen die Demonstranten vor. Doch die Aktivistinnen und Aktivisten lassen sich davon nicht einschüchtern und gehen weiter täglich auf die Straße. Der Nationalismus hat einen tiefen Keil zwischen die drei größten Ethnien des Landes getrieben. Bosnier, Serben und Kroaten begegnen sich vielfach mit großem Misstrauen. Die Gegner der Bewegung versuchen, sich dieses Misstrauen zunutze zu machen, um die Protestierenden entlang ethnischer Grenzen zu spalten. So versuchte die Gruppe »Udar«, eine bosnischnationalistische Gruppierung, die Demonstrationen in Sarajevo für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Sie trug Fahnen Bosniens aus dem Bürgerkrieg bei sich und hisste Banner mit dem Konterfei Naser Orics, der während des Krieges Kommandeur der bosnisch-muslimischen Streitkräfte in der Enklave Srebrenica war und Kriegsverbrechen an serbischen Zivilisten bezichtigt wird. Diese Bilder wiederum wurden in den kroatischen und serbischen Landesteilen aufgegriffen, um die Vorwürfe zu bekräftigen, es handele sich um antikroatische und antiserbische Proteste. Doch die Bewegung hat sich größtenteils über diese Grenzen hinweggesetzt. Während der Proteste sind häufig Schilder und Plakate zu sehen, die sich gegen die Spaltungsversuche wenden. Auf dem ausgebrannten Regierungssitz in Tuzla prangt noch heute der Graffittischriftzug: »Tod dem Nationalismus«. ■

Der Repräsentant der UN drohte gar mit einem Militäreinsatz

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„Allein die Theorie wird zur materiellen Gewalt wenn sie die Massen ergreift...“

Karl Marx

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Philosophie und Widerstand in der Krise Griechenland und die Zukunft Europas

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abericht der Uno: Aktuell zum neuen Klim Naturzerstörung Die sozialen Folgen der

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WELTWEITER WIDERSTAND

Brasilien

Ein Straßenreiniger zeigt, auf zwei Mülltonnen stehend, wo es lang geht. In Rio de Janeiro hat die Stadtreinigung ihren Streik nach einer Woche erfolgreich beendet. Während

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der Karnevalszeit Anfang März waren weite Teile der Stadt vom Müll übersät. Nachdem 1500 Streikende gemeinsam mit Tausenden Sympathisierenden in der Innenstadt pro-

testierten, gab die Präfektur nach und erhöhte den Lohn um mehr als ein Drittel. Es soll zu keinen Entlassungen kommen und zudem werden Überstunden in Zukunft bezahlt.


»Es wird nie mehr wie vorher sein« Zehntausende Demonstranten machen Ministerpräsident Erdogan für den Tod eines Jugendlichen verantwortlich. Ihre Wut hat tiefere Ursachen

© Ninja Midia / CC BY-SA / flickr.com

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Von Arno Hoeltzer

icht Gott, Erdogan hat ihn mir genommen«, sagt die Mutter von Berkin Elvan. Der 15-jährige Berkin ist das jüngste Opfer der Polizeigewalt, das die Protestbewegung des vergangenen Sommers zu beklagen hat. Am 11. März ist er seinen Verletzungen erlegen, die ihm damals ein Tränengasgeschoss zugefügt hatte. Er lag 269 Tage im Koma. Schon in den vergangenen Monaten war der junge Türke zum Symbol für den Widerstand gegen Erdogans Regierung und das gewalttätige Vorgehen der Polizei geworden. Als sich nun die Nachricht von seinem Tod ausbreitete, trieb es Zehntausende Menschen in mehreren Städten auf die Straße. Landesweit traten Schülerinnen, Schüler und Studierende in einen spontanen Streik und auch in zahlreichen Betrieben und Stadtverwaltungen kam es zu Arbeitsniederlegungen. In der Hauptstadt Ankara demonstrierten rund tausend Studierende, viele hielten ein Foto des Jungen empor. Der linke Gewerkschaftsverband DISK kündigte für den nächsten Tag einen einstündigen Streik an und mehrere Parteien riefen dazu auf, an Demonstrationen und der Trauerfeier teilzunehmen. In der Küstenstadt Izmir weigerte sich die Gemeinde, der Polizei Wasser für ihre Wasserwerfer zur Verfügung zu stellen. Auch in Deutschland und anderen Ländern kam es zu spontanen Protestaktionen. So demonstrierten am 12. März 1700 Menschen in Berlin-Kreuzberg und tausend Personen bekundeten in Zürich ihre Solidarität mit der Protestbewegung in der Türkei. Derweil geht die Staatsmacht weiterhin mit äußerster Brutalität gegen die Proteste vor. Am 30. März (kurz nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Offenbar versucht Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, jede Opposition im Keim

zu ersticken. Dabei sind die Unruhen direkte Folge seiner Politik. In seinen ersten beiden Amtszeiten sahen ihn viele Türken noch als Reformer an, der das Land modernisierte und wirtschaftlich stärker aufstellte. Doch das hat sich mittlerweile geändert. Erdogan führt das Land zunehmend autoritär. Die Ablehnung dieses Regierungsstils eint die bunt gemischte Protestbewegung. Waren es im vergangenen Sommer vor allem Studierende und Jugendliche, die bei den Gezi-Park-Protesten auf die Straße gingen, nehmen nun auch viele Senioren an den Demonstrationen teil. Denn neben den gewalttätigen Polizeieinsätzen gibt es genug andere Gründe für Widerstand. In Istanbul sollen beispielsweise ganze Stadtgebiete zum Wohle der Oberschicht und der Unternehmen umgebaut werden. Aus diesem Grund wurde das Stadtviertel Sulukule, in dem hauptsächlich Roma lebten, nahezu komplett abgerissen. Hinzu kommen Freiheitsbeschränkungen durch die Regierung, wie die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, die drohende rigorose Kontrolle des Internets und die Verfolgung politischer Gegner. Zudem versucht die Erdogan-Regierung nun auch noch, den Einfluss der Gewerkschaften zu schwächen. Nicht zuletzt hat ein Korruptionsskandal, in den die Regierungspartei AKP verwickelt ist, die Proteste weiter angeheizt. Viele Aktivisten sehen sie schon jetzt als Erfolg. »Es wird nie mehr wie vorher sein«, meint zum Beispiel Hakan Dilmec aus Istanbul. »Selbst wenn die Bewegung untergeht, ist der Erfolg riesig, weil die Massen ihre eigene Kraft gesehen haben.« ★ ★★ Arno Hoeltzer studiert Englisch und Geschichte und lebt in Berlin. Für diese Ausgabe absolvierte er ein Praktikum bei uns.

8NEWS 8Mexiko In zwölf mexikanischen Bundesstaaten streiken die Lehrerinnen und Lehrer. Sie kämpfen gegen eine neue Schulreform und die damit einhergehende Teilprivatisierung des Bildungssystems. Die Reform sieht zudem vor, die Lehrerkräfte stärker zu evaluieren und soziale Absicherungen zu reduzieren.

8China Im März befanden sich landesweit die Mitarbeiterinnern und Mitarbeiter von Pepsi im Ausstand. Sie wehrten sich gegen geplante Kündigungen und Lohnkürzungen. Dabei wurden sie von den Gewerkschaften unterstützt. Mehrere Tausend Arbeiter und Arbeiterinnen legten in fünf Fabriken gleichzeitig die Arbeit nieder und verlangten, dass sich weder ihr Gehalt noch die Arbeitsbedingungen verschlechtern.

8Kambodscha Ein Riesenaufgebot der Polizei verwehrte am internationalen Frauentag Demonstrantinnen den Zugang zur geplanten Gewerkschaftskundgebung in Pnom Penh. Einsatzkräfte versperrten den Weg zum Kundgebungsort durch zwei Meter hohe Barrikaden. Seit Monaten fordern kambodschanische Näherinnen verbesserte Arbeitsbedingungen, kürzere Arbeitszeiten und höhere Löhne (marx21 berichtete).

CHILE

Kampf um Pausenbonus Wochenlang streikten in Chile Hafenarbeiter für die Auszahlung des seit dem Jahr 2005 angehäuften Pausenbonus. Dabei kam es im Januar zu heftigen Übergriffen der Polizei auf die Streikenden. Anders als ihre konservative Vorgängerin möchte nun die neue Ministerin für Arbeit und Soziales, Javiera Blanco, die Hafenunternehmen zu Zahlungen verpflichten.

Weltweiter Widerstand

TÜRKEI

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INTERNATIONALES

Der neue Wettlauf um Afrika Seit im Südsudan Bürgerkrieg herrscht, werden die Rufe nach einem stärkeren internationalen Engagement lauter. Doch wie so häufig geht es dabei keineswegs um die Menschen in der Region Von David Maienreis ★ ★★

David Maienreis ist Redakteur von marx21.

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uf die erneute Krise im Sudan und im Südsudan haben Politiker aller Bundestagsparteien mit dem Ruf nach mehr internationalem Engagement reagiert. Ausländische Truppen sollen die Kämpfe zwischen den Bürgerkriegsparteien befrieden. Vor allem der Südsudan brauche Unterstützung beim Aufbau staatlicher Strukturen. Westliche Berater könnten hierbei helfen. Die Vereinten Nationen haben noch Ende Dezember eine Aufstockung ihrer im Südsudan stationierten Truppen beschlossen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat diese Entscheidung ausdrücklich begrüßt. Aber auch Stefan Liebich, ein Außenpolitiker der Linksfraktion im Bundestag, fände es gut, wenn Deutschland beim Aufbau von Parlament und Regierung des Südsudan »eine stärkere Rolle einnehmen« würde. Das sei auch der Wunsch der US-amerikanischen Regierung, wie ihm kürzlich bei einem Besuch in Washington mitgeteilt wurde, sagte Liebich dem Deutschlandradio. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen arbeitet derweil an einer neuen Afrikastrategie. Damit setzt sie die Initiative der Afrika-Arbeitsgruppe fort, die der damalige Bundespräsident Horst Köhler vor einigen Jahren ins Leben gerufen hatte. Die Regierungsfraktionen der Großen Koalition einigten sich bereits im Jahr 2007 auf eine »stärkere Verzahnung« der Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik, um die deutsche Rohstoffversorgung, gerade aus Afrika, langfristig zu sichern. Das westliche Engagement in den beiden sudanesischen Republiken wird vom Interesse an den Erdöl-

vorkommen der Länder getrieben. Eine Ausweitung der internationalen Präsenz brächte deshalb keinen Frieden, sondern würde die dortigen Konflikte weiter anheizen. Die Einmischung zahlreicher Staaten in die Innenpolitik des Sudan und nun des Südsudan, der erst im Jahr 2011 als eigenständiger Staat entstand, dauert bereits einige Jahre an. In den Ländern sind internationale Truppen unter Führung der Vereinten Nationen (UNMISS und UNAMID), der Europäischen Union (EU-FOR Tschad/ZAR) und der Afrikanischen Union (AMIS, die von der EU finanziert wird) schon seit Jahren im Einsatz. Doch sie haben weder die Zivilbevölkerung beschützt noch die schwelenden und immer wieder aufflackernden bewaffneten Konflikte befriedet. Das liegt daran, dass ihr Einsatz vor allem gegen die sudanesische Regierung in Khartum gerichtet ist. Bei der Auseinandersetzung im und um den Sudan geht es um geostrategische und wirtschaftliche Ziele der intervenierenden Staaten und nicht um das Wohl der Landesbevölkerung. Eine weitere Einmischung durch ausländische Truppen oder politische Berater wird den Konflikten kein Ende bereiten. Sie führt nur zur Stärkung der einen oder anderen Konfliktpartei und zur weiteren Militarisierung der Auseinandersetzungen. Das Nachsehen hat die Zivilbevölkerung, denn wenn die Waffen sprechen, muss sie weichen.

Auch der Westen will sich die Erdölvorkommen sichern

Eine politische Lösung des gegenwärtigen Konflikts ist völlig unmöglich, ohne seine Geschichte und die handfesten Interessen zu kennen, die ihn antreiben. Der Sudan hat seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien 1956 kaum ein Jahr ohne innerstaatliche


bewaffnete Konflikte erlebt. In diesen Bürgerkriegen sind Schätzungen zufolge weit über zwei Millionen Menschen getötet worden. Der Konflikt zwischen der sudanesischen Zentralregierung und den Rebellen der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee (SPLA) ist demnach einer der blutigsten seit dem Zweiten Weltkrieg. Trotzdem haben Politik und Medien in den Industriestaaten davon kaum Kenntnis genommen. Erst in den 2000er Jahren wuchs plötzlich das Interesse sowohl der USA als auch der EUStaaten, allen voran Deutschland und Frankreich. Dies hat nicht zuletzt mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas zu tun, denn im Westen wachsen Befürchtungen, dass damit ein Erstarken des Landes als politischer und militärischer Konkurrent einhergehen könnte. Die chinesische Regierung bemüht sich international um die Versorgung der Wirtschaft ihres Landes mit Rohstoffen, vor allem Erdöl. Dabei verfolgt sie eine Nischenstrategie: Sie hat sich in der Vergangenheit vor allem an solche Länder gewandt, die der Westen gemieden oder mit Sanktionen belegt hatte, wie den Iran, den Irak vor der NATO-Invasion oder eben afrikanische Länder. Ihnen bietet die chinesische Regierung im Gegenzug für Wirtschaftsabkommen Kredite und Unterstützung

zu weit großzügigeren Konditionen an als der Internationale Währungsfond oder die Weltbank. Untersuchungen im Sudan kamen vor einigen Jahren zu dem Ergebnis, dass die im Süden des Landes befindlichen Ölfelder um ein Vielfaches ertragreicher seien als bisher angenommen. Die Regierung vergab den Großteil der Förderkonzessionen an die staatliche chinesische Ölgesellschaft CNPC, die eine Pipeline über Khartum nach Port Sudan am Roten Meer bauen und diese von 4000 chinesischen »zivilen Sicherheitskräften« bewachen ließ. Diese Art staatlich flankierter Wirtschaftspolitik ist den Spitzen des Bundes der Deutschen Industrie (BDI) und ihren Pendants in den USA ein Dorn im Auge – zumindest wenn sie nicht selbst davon profitieren. Der damalige BDI-Präsident Jürgen Thumann forderte deshalb im Jahr 2007 auf einem Rohstoffgipfel seines Verbands eine »Arbeitsteilung zwischen Politik und Wirtschaft, Arbeitsteilung im Dienst der Rohstoffsicherung«. Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach daraufhin, die Instrumente der deutschen Außenpolitik zu bündeln und dem »vitalen« Interesse der deutschen Industrie an Rohstoffimporten nachzukommen. »Konkurrierenden Schwellenländern« gegenüber soll von deutscher

INTERNATIONALES

Die Karte zeigt die Erdölvorkommen im Sudan und die dort ansässigen Konzerne. Untersuchungen kamen vor einigen Jahren zu dem Ergebnis, dass die im Süden befindlichen Ölfelder um ein vielfaches ertragreicher sind als bislang angenommen. Kurze Zeit später erklärte sich dieser Landesteil mit Unterstützung des Westens für unabhängig

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Der gewaltige Reichtum des Landes wirkt wie Sprengstoff

Glossar SPLA/SPLM Die Sudanesische Volksbefreiungsarmee (SPLA) hat seit den 1980er Jahren für die Rechte des Südens des Landes gekämpft. Ihr politischer Arm, die Sudanesische Volksbefreiungsbewegung (SPLM) war zwischen 2005 und 2011 an der sudanesischen Regierung beteiligt. Seit der Unabhängigkeit des Südsudans im Jahr 2011 hat sie sich dort faktisch zur Einheitspartei entwickelt, die SPLA soll zur regulären Armee werden. Im (Nord-)Sudan ist die SPLM als Oppositionspartei aktiv und in manchen Regionen in bewaffnete Auseinandersetzungen mit der sudanesischen Regierung verwickelt. AMIS Ehemalige Militärmission der Afrikanischen Union im Sudan. Sie ging im Jahr 2007 in der UNMIS auf. UNMIS Ehemalige Militärmission der Vereinten Nationen im Süden und Osten des Sudans zur Überwachung des »umfassenden Friedensabkommens« (CPA). An dieser Mission durften laut UN-Mandat bis zu 10.000 Militärangehörige teilnehmen. Auch Bundeswehrsoldaten waren permanent beteiligt. Das Mandat trat im Jahr 2005 in Kraft und erlosch am 9. Juli 2011, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung des Südsudans.

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UNMISS Die UNMIS wurde am 9. Juli 2011 beendet. Nachfolgemission ist die UNMISS, deren Einsatzgebiet der neugeschaffene Südsudan ist (daher das zusätzliche »S« im Namen). Ziel der UNMISS ist die Stärkung des jungen Staates. UNAMID Im Jahr 2007 beschloss der UN-Sicherheitsrat, eine bis zu 26.000 Mann starke Truppe in den Sudan zu entsenden, die die bisherigen AMISKräfte in sich aufnehmen sollte. Der Bundestag hat im November 2007 die deutsche Beteiligung an der Mission beschlossen.

Was steckt hinter den Afrika-Einsätzen der Bundeswehr? Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2014 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de

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EUFOR Mit dem Akronym EUFOR werden zeitlich befristete multinationale Militärverbände der Europäischen Union bezeichnet. AFRICOM Das AFRICOM wurde im Jahr 2008 gegründet, um die Aktivitäten der US-amerikanischen Armee in Afrika zu koordinieren. Eigentlich wurde hierfür ein Standort auf dem afrikanischen Kontinent angestrebt, bislang fand sich dort jedoch kein Staat bereit, das AFRICOM zu beherbergen. Deshalb führt die US Army ihre Einsätze in Afrika von Stuttgart aus.

Seite gerade bei der Rohstoffakquise offensiver aufgetreten werden. Denn, so wusste Jürgen Schrempp, ehemaliger Daimler-Manager und Vorsitzender einer noch von Helmut Kohl ins Leben gerufenen Afrika-Initiative der Deutschen Wirtschaft: »Bis zum Jahr 2030 wird der Energieverbrauch weltweit um über 50 Prozent steigen. Zwei Drittel davon werden allein die explodierenden Volkswirtschaften China und Indien beanspruchen. Kein Wunder, dass der Kampf um die Ressourcen Erdöl und Gas auf dem afrikanischen Kontinent längst in vollem Gange ist.« Das US-Militär hat im neuen Jahrtausend ein neues strategisches Kommandozentrum, AFRICOM, eingerichtet, das sich ausschließlich dem afrikanischen Kontinent widmet. Bei den Verhandlungen zwischen Khartum und den Rebellengruppen spielte lange Zeit Libyen eine zentrale Rolle, dessen damaliger Staatschef Muammar al-Gaddafi eine chinafreundliche Politik verfolgte. Auf Seiten der SPLA verhandelte deren Vorsitzender John Garang, der mit einer stärkeren Beteiligung des Südens an den Öleinnahmen und der nationalen Politik des Sudan zufrieden gewesen wäre. Garang kam im Jahr 2005 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. Libyens Stellung in der Region wurde durch den NATO-Angriff im Jahr 2011 minimiert. Garangs Nachfolger, der jetzige Präsident des Südsudan, Salvar Kiir, verfolgte eine stärker separatistische Linie und konnte sich damit letztlich durchsetzen, nicht zuletzt weil USA und EU keinen Zweifel daran ließen, dass sie eine Abspaltung des ölreichen Südens vom Sudan befürworteten. Der Südsudan ist der jüngste unabhängige Staat der Welt. Nach Jahren der Verhandlungen, bei denen sich die USA, die EU und China einander hinter den Kulissen beharkten, wurde im Januar 2011 eine Volksabstimmung im südlichsten Landesteil des damaligen Sudan über dessen Unabhängigkeit abgehalten. Viele formale Fragen waren dabei ungeklärt: Sollten Südsudanesen, die im Norden des Landes lebten, teilnehmen dürfen? Auf welcher Grundlage sollte überhaupt die Wahlberechtigung in einem Landesteil erteilt werden, in dem es an jeder Form von Infrastruktur, an Straßen, Elektrizität, Telefonen oder gar einer zentralen Einwohnerverwaltung fehlt? Der Südsudan gilt heute als das Land mit der geringsten Alphabetisierungsrate der Welt. Nach UN-Angaben haben weniger als zwei Prozent der Bevölkerung die Grundschule abgeschlossen, knapp drei Viertel können nicht lesen und schreiben, während selbst Experten die politischen Folgen der Unabhängigkeit kaum einschätzen konnten. All diesen Hindernissen und Warnungen vor neuen Konflikten zum Trotz wurde die Abstimmung durchgeführt. Ihr Ergebnis begrüßten die westlichen Staaten, die sich gern als internationale Gemeinschaft bezeichnen lassen, umgehend als Fanal eines demokratischen Zeitalters. Es lautete: 98,83 Prozent Zustimmung zur Teilung des Landes, die ein halbes Jahr später, im Juni 2011, in Kraft trat. Im selben Monat begannen die Kämpfe der SPLA-Nord gegen die sudanesische Regierung in den südlichen Provinzen des Sudan. Auffällig ist, dass die Regionen, in denen heute ge-


kämpft wird (Kordofan, Blauer Nil, Abyei und im gesamten Südsudan), identisch sind mit denen, unter denen sich Öllagerstätten befinden.

© United Nations Photo / CC BY-NC-ND / flickr.com

Der Sudan und der Südsudan liegen am Horn von Afrika, einer krisengeschüttelten Region, vor deren Küste sich die Bundeswehr seit Jahren in einem ihrer Kampfeinsätze befindet. Die zahlreichen Gruppen von Aufständischen in den einzelnen Regionen haben eine organisatorisch und ideologisch kaum ausgeprägte Struktur. Viele stehen in Verbindung mit den Konfliktparteien in Nachbarstaaten wie dem Tschad, der Zentralafrikanischen Republik, Eritrea oder Uganda. Der Sudan, flächenmäßig auch nach der Lostrennung des Südens eines der größten Länder Afrikas, besteht hauptsächlich aus trockenen Steppen und Wüste. Seine Bevölkerung ist in den vergangenen einhundert Jahren sprunghaft angewachsen: Im Jahr 1905 lag ihre Zahl noch unter zwei Millionen, 1993 waren es bereits 26 Millionen und im Jahr 2006 schließlich rund 40 Millio-

Die Großmächte ringen um die Vorherrschaft in Afrika Weder Soldaten noch der zum Scheitern verurteilte Aufbau eines Staatswesens nach westlichem Vorbild werden diese Lunte löschen, solange nicht die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in einer Weise geregelt wird, mit der die Menschen leben können und wollen. Die US-amerikanische Regierung, der die Bundesregierung in der Sudanpolitik folgt, ist einer der denkbar schlechtesten Treuhänder für eine gerechte Verteilung des Ölreichtums. Ihre Vorstellung von verlässlichen demokratischen Regierungen und gerechter Wohlstandverteilung lässt sich an den Ölscheichtümern am Persischen Golf studieren. Die beiden Sudan sind Schauplätze des Ringens der Großmächte um die geostrategische Vorherrschaft in Afrika und seine Rohstoffvorkommen. Das ist Imperialismus im klassischen Sinne. Diesem Ziel und nicht der Demokratisierung oder den Menschenrechten dienen die internationalen Militärinterventionen dort. Diese müssen politisch und zivil begleitet werden, um ihren Zweck zu erfüllen. Das ist ein so integraler Bestandteil dieser Interventionen wie das »friedliche« Betanken von Kampfflugzeugen oder die halbseidene Propaganda, mit der den Menschen weisgemacht werden soll, es ginge um das Selbstbestimmungsrecht der südsudanesischen Bevölkerung. DIE LINKE sollte die Hintergründe dieser Politik aufarbeiten, öffentlich machen und gegen jede Form deutscher Beteiligung an ihr eintreten. ■

Polizei im Südsudan: Zum »zivilen« Teil der westlichen Intervention gehört die Ausbildung der Ordnungskräfte. Sie werden in der Aufstandsbekämpfung und im Umgang mit Maschinengewehren trainiert

INTERNATIONALES

nen. Heute leben in den beiden sudanesischen Staaten rund 48 Millionen Menschen. Der Mangel an Acker- und Weideland, an Wasser und Nahrung ist einer der Hauptgründe für die immer wieder aufbrechenden Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen und zwar unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit. Dass die Regierung des ewigen Präsidenten Umar al-Bashir die Linderung der Armut nie ernsthaft angegangen ist, hat sie mit der SPLA-Regierung des neuen Südsudan gemein. Deren erste Amtshandlung bestand darin, Wettbewerbe für eine neue Nationalhymne und eine Flagge auszurufen. Anfang des Jahres 2013 begann sie, die Konzessionen für die Ausbeutung der Ölfelder neu aufzuteilen. Mittlerweile sind ExxonMobile und die kuwaitische Kufpec beteiligt. Gegen die extreme Armut der Bevölkerung des Südsudan, der im Gegensatz zum Norden von Regenwald bedeckt ist, hat die Regierung jedoch bisher nichts Nachhaltiges unternommen. Der gegenwärtige Konflikt entzündete sich unter anderem daran, dass Präsident Kiir seinen ehemaligen Vize Riek Machar und dessen Gefolgsleute im Sommer 2013 wegen Korruptionsvorwürfen aus dem Kabinett entlassen hat. Das Land beherbergt derweil Ölvorkommen, die im Umfang womöglich an die der größeren OPEC-Produzenten heranreichen. Das Elend des Landes allein würde als Triebkraft für bewaffnete Konflikte ausreichen. Aber der gewaltige Reichtum, der der Bevölkerung vorenthalten wird, wirkt als reiner Sprengstoff.

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KOMMUNALE KÄMPFE

Hartmut Obens Hartmut Obens ist Fraktionsvorsitzender der LINKEN in der Bezirksversammlung Hamburg-Eimsbüttel.

Żaklin Nastić

© DIE LINKE Hamburg-Eimsbüttel

Zaklin Nastic ist sozialpolitische sowie Migrations- und Inklusionsfachsprecherin der Linksfraktion in der Bezirksversammlung Hamburg-Eimsbüttel.

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»Wir sind unbequem und nerven« Wie kann erfolgreiche linke Politik in einer Kommune aussehen? DIE LINKE in HamburgEimsbüttel hat hierzu wichtige Erfahrungen gesammelt. Wie sie aussehen, erklären unsere · Gesprächspartner Zaklin Nastic´ und Hartmut Obens

˙ Zaklin und Hartmut, ihr seid beide Abgeordnete einer Hamburger Bezirksversammlung. Die Kommunen stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand. Welche Spielräume gibt es da eigentlich für linke Politik? Hartmut: Startpunkt unserer Arbeit ist nicht das Hamburger Bezirksverwaltungsgesetz. Wir müssen selber definieren, was gute linke Politik im Bezirk ist. Dazu ist folgender Hintergrund wichtig: Im Stadtstaat Hamburg gibt es sieben Bezirke. Das sind aber nicht im klassischen Sinne Kommunen. Die Hamburger Bezirke haben kein Budgetrecht, die Mittelzuweisungen erfolgen zentral durch den Senat, also die Landesregierung. Die sieben Bezirksversammlungen sind rechtlich gesehen Teil der Verwaltung. Demokratisch gewählte Abgeordnete sind hier also nicht Teil der Legislative, sondern der Exekutive. Das schränkt die Spielräume natürlich stark ein. Doch wir lassen uns als Linke nicht in dieses enge Korsett pressen. Wir politisieren auf Bezirksebene mit den Themen, die wir für wichtig halten. Gäbe es aber einen zustimmungspflichtigen Bezirkshaushalt, würden wir ihn ablehnen, weil er immer Kürzungen und Personalabbau beinhaltet. · Zaklin: Ein Beispiel: Im letzten Haushalt hat der Senat für die Bezirke Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe verfügt. Dagegen haben wir gemeinsam mit den Trägern der Jugendhilfe argumentiert. Im Jugendhilfeausschuss wurden die Kürzungen dann abgelehnt. Diese Entscheidung hat die Bezirksversammlung wiederum einkassiert. Im Gegensatz zum Ausschuss hat hier nun die Mehrheit von SPD und Grünen für die Kürzungen ge-

stimmt. Doch haben wir so unsere politischen Positionen gegen die Kürzungen deutlich gemacht und den Trägern der Jugendarbeit signalisiert, dass wir an ihrer Seite stehen. Hamburg ist in den vergangenen Jahren Schauplatz wiedererstarkter urbaner Bewegungen gewesen – Stichwort: »Recht auf Stadt« und Flüchtlingsbewegung. Hatte das Auswirkungen auf eure Arbeit in der Bezirksfraktion? · Zaklin: Ja sehr, insbesondere die Flüchtlingsbewegung. Eimsbüttel war der Bezirk, der am wenigsten Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge hatte. Dieses Thema haben wir vor Ort vorangebracht. Hartmut und ich haben den Antrag gestellt, die Unterbringung nach dem »Leverkusener Modell« zu organisieren. Anstatt Flüchtlinge in von der Bevölkerung abgeschotteten Übergangsheimen unterzubringen, quartiert die Stadt Leverkusen sie in Wohnungen ein – mit großem Integrationserfolg. Dieses Modell haben wir in die Diskussion eingebracht, SPD und Grüne mussten sich dann daran abarbeiten. Die richtigen Anträge in Ausschüssen und der Bezirksversammlung zu stellen, ist ja schön und gut – aber das bekommt doch kaum jemand mit. Wie sieht es mit Öffentlichkeitsarbeit und Aktionen auf der Straße aus? Hartmut: Anträge und Öffentlichkeit fallen bei uns nicht auseinander. Wir stellen jeden Antrag von Anfang an auf unsere Homepage – damit ist gegenüber der Bevölkerung und der Partei immer klar, was wir wollen und wie wir es begründen. Hinzu kommen Pressemitteilungen

und ähnliches. Es geht genau darum, die Bezirkspolitik aus dem Hinterzimmer zu holen und nachvollziehbar zu machen. Mit Erfolg: Über unsere Solidaritätsarbeit mit den Flüchtlingen haben die Zeitungen sehr häufig berichtet. Das hilft den Flüchtlingen. So konnten wir auf das Schicksal der Familie Maksimovic aufmerksam machen, der die Abschiebung in den Kosovo drohte. Wir haben eine Spendenkampagne für sie begonnen, bei der bisher 1000 Euro zusammengekommen sind. · Zaklin: Aktion ist zentral. Wir haben uns natürlich an den Flüchtlingsdemonstrationen beteiligt, zusammen mit den anderen Bezirksfraktionen und der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft. Hier gilt: »Keine Fraktion ohne Aktion«. Als der SPD-Bürgermeister Scholz im Bezirk auftrat, standen wir da mit einem Transparent »Bleiberecht für alle«. Die Aktion fand direkt gegenüber der Flüchtlingsunterkunft statt, in der ich seit einem halben Jahr tätig bin. Ich habe Patenschaften für zwei Familien übernommen und kämpfe für deren Bleiberecht, ich begleite sie zum Beispiel zu den Terminen in der Ausländerbehörde. Oft gehen Kommunalpolitiker nur dahin, wo Presse ist, wo sie sich darstellen können, um ein paar Stimmen mehr abzugreifen. Aber in einem Flüchtlingsheim werden sie eher nicht gesichtet. Das versuchen wir anders zu machen. Ich war in einem Pflegestützpunkt in Niendorf. Dort waren sie ganz verwundert. Denn über Pflege wird zwar viel diskutiert, aber ein Kommunalpolitiker war noch nie da, um sich die konkrete Lage anzuschauen und zu hören, was die Bedürfnisse der Senioren sind.

KOMMUNALE KÄMPFE

Interview: Stefan Bornost

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© DIE LINKE Hamburg

Insbesondere in Westdeutschland sind viele Aktivisten der Parteiarbeit in Kommunalparlamente eingezogen, was die personell schwach aufgestellten Bezirksverbände oft zusätzlich desorganisiert hat. Wie geht ihr damit um? Hartmut: Das ist in der Tat ein Problem. Wir sind drei Leute in der Bezirksversammlung, die 16 Ausschüsse abdecken müssen. Dort muss man sich dann stark in die jeweilige Thematik reindenken und sich mit Bebauungsplänen und ähnlichem auseinandersetzen. Um das zu schaffen, haben wir versucht, die Arbeit auf breitere Füße zu stellen. In Hamburg ist es möglich, sich als Bezirksfraktion in Ausschüssen durch sogenannte »zubenannte Bürger« vertreten zu lassen. Das sind bei uns Mitglieder der LINKEN, die sich in spezielle Themen reinarbeiten und uns dann unterstützen. Das hat den positiven Nebeneffekt, dass die Arbeit der Bezirksfraktion nicht abgekoppelt von der Parteiarbeit stattfindet. Wir diskutieren als Partei, was wir politisch wollen, und dann wird es auf verschiedenen Ebenen umgesetzt: Beim Infostand und durch Aktionen, auf politischen Veranstaltungen und eben durch die Arbeit der Bezirksfraktion. Aber mehr Genossen in die Arbeit der Bezirksfraktion einzubinden, erhöht doch nicht die Aktivität an der Basis ... Hartmut: Nein, aber wir sind noch einen Schritt weiter gegangen. Innerhalb von drei Monaten haben wir sechs Stadtteilgruppen in Eimsbüttel gegründet. So wollen wir die Basisarbeit vorantreiben und mehr Genossinnen und Genossen einbeziehen. In Hamburg gibt es viele Menschen, die sich in ihrem Wohngebiet engagieren, sich Gedanken machen um eine soziale Stadteilentwicklung im Interesse der Bevölkerung. Hier wollen wir eingreifen. Das geht umso besser, je besser wir lokal verankert sind. · Zaklin: Die Arbeit der lokalen Stadteilgruppen und der Bezirksfraktion greifen deshalb ineinander, weil bei uns die Politik der Partei und der Abgeordneten total zusammengehen. Wir diskutieren ja in der Partei über unsere Anträge und versuchen im Vorfeld, auf eine gemeinsame Linie zu kommen. Meist stellt sich die Aufgabe aber anders. Beispielsweise sind Bundes- und Landespartei gegen

»Keine Fraktion ohne Aktion«: Bürgerschaftsabgeordnete der Hamburger LINKEN demonstrieren gegen verdachtsunabhängige Kontrollen durch die Polizei den Einsatz von Ein-Euro-Jobbern. Diese Beschlusslage brechen wir auf den Bezirk runter. Wo setzt der Senat bei uns Ein-Euro-Jobber ein, was können wir dagegen tun? Wo finden die Kürzungen, gegen die wir alle sind, konkret vor Ort statt? Wie kommen wir mit den Betroffenen ins Gespräch und zu gemeinsamen Aktionen? In den 1920er Jahren hat die KPD »Leitlinien für kommunistische Gemeindevertreter« formuliert, in denen es heißt, die Tätigkeit ihrer Gemeindevertreter unterscheide sich »grundsätzlich von der aller anderen Parteien darin, dass der kommunistische Parlamentarier die Parlamentstribüne auszunutzen hat zu revolutionärer Propaganda. Er muss sich stets bewusst sein, dass er im Parlament sein muss: Revolutionär und kommunistischer Kämpfer!« Findet ihr euch darin wieder? · Zaklin: Der Satz mag vielleicht etwas altbacken klingen, ist mir aber nicht unsympathisch. Die Vertreter anderer Parteien blenden den Alltag und die Lebensrealität der Mehrheit der Menschen im Bezirk einfach aus. Wir holen diesen Alltag und die Probleme in die Debatte. Wenn die Bundeswehr an unseren Schulen auftritt und Kinder aus unserem Bezirk für den Krieg gewinnen will, dann ist das für mich ein Thema für die Bezirksversammlung. Das bringen wir ein. Die anderen Parteien

sagen zwar: »Dürft ihr nicht, das ist Bundespolitik«. Wir tun es trotzdem. Bundesund Landespolitik betreffen schließlich die Menschen in den Kommunen. Das Thema traf einen Nerv, einige der Abgeordneten der anderen Fraktionen haben den Saal verlassen. Wir sind unbequem und nerven, aber wir sind die einzige wirkliche Opposition. Von daher sehe ich die Bezirksversammlung schon als Tribüne, um unsere linken Positionen klar zu machen. Hartmut: Grundsätzlich finde ich richtig, dass wir sozialistisch-kommunistische Traditionen aufarbeiten, auch für die Kommunalpolitik. Aber diese Formulierung ist meiner Ansicht nach überholungsbedürftig. Natürlich müssen wir das Parlament als Tribüne benutzten, um unsere allgemeinen politischen Ziele deutlich und bekannt zu machen. Gleichzeitig wollen wir hier aber auch real was bewegen. Wir propagieren nicht nur, sondern wir kämpfen hier wirklich um die Durchsetzung des »Leverkusener Modells« bei der Flüchtlingsunterbringung, weil es die Situation der Flüchtlinge deutlich verbessern würde. Kämpfen heißt hier, um dieses Anliegen herum Bewegung zu organisieren und zu befördern. Ich habe also einen Anspruch an mich und die Fraktion, der über das Schwingen von Reden hinausgeht. ■


Realistisch & Radikal

Debattenmagazin »Realistisch & Radikal« / Schwerpunkt DIE LINKE und Europa. Download unter:

www.sozialistische-linke.de

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Was macht Marx21?

Eine Frage der Strategie Die jährliche große Unterstützerversammlung des marx21-Netzwerks hat wichtige wichtige Weichenstellungen beschlossen

K

napp achtzig Genossinnen und Genossen nahmen an der diesjährigen marx21-Unterstützerversammlung (UV) teil, die am 1. und 2. März in Frankfurt am Main stattfand. Pünktlich zur UV waren auch reichlich Materialien für die politische Arbeit fertig. Das neue Theoriejournal »Best of KPD: linke Organisierung damals und heute« gab es druckfrisch vor Ort. Viele Unterstützer nahmen gleich einen ganzen Stapel zum Weiterverkauf mit. Mit Spannung erwartet worden war natürlich auch das Material, um für den »MARX IS‘ MUSS«-Kongress 2014 zu mobilisieren: das vollständige Programm zum aufklappen, unterschiedliche Aufkleber und neue Plakate im XXL-Format. So früh war das Programm mit allen Veranstaltungen, Referentinnen und Referenten und Zeiten noch nie fertig. Damit können wir schon drei Monate im Voraus unser Umfeld für den Kongress begeistern. Die Debatten über die politischen Herausforderungen der nächsten Zeit waren geprägt von den Ergebnissen des Europaparteitags der LINKEN und der Strategiediskussion im linken Flügel der Partei. Der Parteitag hatte deutlich gezeigt, dass die bisherige Fokussierung der Parteilinken auf Programm- und Personaldebatten in eine Sackgasse führt. Nicht zuletzt deswegen wollen wir die Partei stärker durch Aufbauarbeit an der Basis prägen. Die innerparteilichen Konflikte um die Positi-

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onierung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr machen zwar deutlich, dass auch inhaltliche Interventionen wichtig sind. Aber die Strategie der Linken in der LINKEN muss darüber hinausgehen, lediglich richtige programmatische Formulierungen durchzusetzen. Das Netzwerk marx21 will DIE LINKE auch in der Praxis zu einer kämpferischen, bewegungsorientierten Partei entwickeln und aufbauen, die in Klassenkämpfe eingreifen kann. Die Solidaritätsarbeit der LINKEN in der Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst ist dafür ein guter Ansatzpunkt. Ebenso gilt es, einen aktivistischen Europawahlkampf zu organisieren, der außerparlamentarische Proteste wie die Blockupy-Aktionstage integriert. Am Samstagabend gab es in lockerer Runde ein zusätzliches Diskussionsangebot zu den Ereignissen in der Ukraine. Etwa 50 Leute beteiligten sich an der engagierten Debatte. Im Anschluss an die Diskussion über Marxismus und Feminismus wurde ein Antrag zur Partizipation von Frauen im marx21-Netzwerk verabschiedet. Der umfasst ein Bündel von Maßnahmen, welche einerseits Frauen bestärken soll, vermehrt Führungsaufgaben zu übernehmen sowie in der Theoriearbeit und in der Praxis zu wirken. Anderseits soll sich das Netzwerk insgesamt stärker mit frauenpolitischen Fragen beschäftigen und durch Theorieangebote und Diskussionen ein schärferes Profil zum Thema Frauenbefreiung entwickeln. ■

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TERMINE Hamburg | 23.04.2014 marx21-Lesekreis »Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse« | Uhrzeit: 19:00 Ort: Parteibüro DIE LINKE. Altona, Am Felde 2 | Infos: 0176-57125464 (Christoph) Frankfurt/M. | 24.04.2014 marx21-Unterstützertreffen Uhrzeit: 18:30 | Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28 Darmstadt und Frankfurt/M. | 02.05.2014 marx21-Forum »Revolutionäre Realpolitik: Die KPD und der Kampf um die Einheitsfrontpolitik« | Uhrzeit: 19:00 Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28, Frankfurt Essen | 06.05.2014 marx21-Forum »Revolutionäre Realpolitik: Die KPD und der Kampf um die Einheitsfrontpolitik« | Uhrzeit: 19:00 Ort: Heinz-Renner-Haus, Severinstr. 1 Frankfurt/M. | 08.05.2014 marx21-Unterstützertreffen Uhrzeit: 18:30 | Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28 Köln | 08.05.2014 marx21-Forum »Revolutionäre Realpolitik: Die KPD und der Kampf um die Einheitsfrontpolitik« | Uhrzeit: 19:00 Ort: Kreisgeschäftsstelle DIE LINKE, Zülpicher Straße 58 Leipzig | 12.05.2014 marx21-Forum »Revolutionäre Realpolitik: Die KPD und der Kampf um die Einheitsfrontpolitik« | Weitere Infos auf marx21.de

Jena | 13.05.2014 marx21-Forum »Revolutionäre Realpolitik: Die KPD und der Kampf um die Einheitsfrontpolitik« | Weitere Infos auf marx21.de Kaiserslautern | 16.05.2014 marx21-Forum »Revolutionäre Realpolitik: Die KPD und der Kampf um die Einheitsfrontpolitik« | Uhrzeit: 19:00 | Ort: Café »The Clearing Barrel«, RichardWagner-Str. 48 Frankfurt/M. | 22.05.14 marx21-Unterstützertreffen Uhrzeit: 18:30 | Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28 Münster | 01.06.2014 marx21-Forum »Revolutionäre Realpolitik: Die KPD und der Kampf um die Einheitsfrontpolitik« | Uhrzeit: 18:00 Ort: Linkes Zentrum, Achtermannstr.19 Frankfurt/M. | 12.06.2014 marx21-Unterstützertreffen Uhrzeit: 18:30 | Ort: Bildungsraum, Schönstr. 28 Hamburg | 18.06.2014 marx21-Forum »Revolutionäre Realpolitik: Die KPD und der Kampf um die Einheitsfrontpolitik« | Uhrzeit: 19:00 | Ort: Parteibüro DIE LINKE.Altona, Am Felde 2


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SAVE THE DATE

DEIN MAGAZIN DEIN FORUM Du möchtest in deiner Stadt eine Veranstaltung zu einem der Themen aus diesem oder einem vergangenen Heft organisieren und brauchst Unterstützung? Wir helfen sehr gerne – mit einem Griff in unser Artikelarchiv oder die Bereitstellung von Literatur. Falls gewünscht stellen wir auch den Kontakt zu möglichen Referentinnen oder Referenten her. Melde dich einfach bei uns unter redaktion@marx21.de oder 030/89562510 und wir schauen, was wir gemeinsam auf die Beine stellen können.

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Insgesamt waren 23.549 Besucher im März (27.422 im Februar) auf marx21.de

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SPEZIAL US-WAHL 2012

TOP TEN

KONGRESS

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Netzwerk marx21

Das Projekt marx21 Wir sind mehr als nur ein Magazin. Hunderte Aktivistinnen und Aktivisten arbeiten zusammen, um als Netzwerk in der LINKEN die Tradition des revolutionären Sozialismus wiederzubeleben. Hier stellen wir uns vor marx21 ist ein Netzwerk von Aktivistinnen und Aktivisten in der Partei DIE LINKE und im Studierendenverband Die Linke.SDS. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, die nach den sozialen und ökologischen Bedürfnissen der Menschen organisiert ist anstatt nach Profitinteressen. Wir meinen: Eine solche Gesellschaft lässt sich nicht durch Parlamentsbeschlüsse herbeiführen, da die Kapitalistenklasse und der Staatsapparat weitgehend unabhängig von demokratischer Kontrolle agieren. Um diese Klassenherrschaft herauszufordern, sind die Kämpfe der Arbeiterbewegung entscheidend. Arbeiterinnen und Arbeiter – darunter verstehen wir die große Mehrheit der lohnabhängig Beschäftigten – können dem Kapitalismus ein Ende bereiten, wenn sie ihre kollektive Stärke zur Geltung bringen. Deshalb wirkt das marx21-Netzwerk darauf hin, den klassenkämpferischen Flügel innerhalb der LINKEN zu stärken. Wir sind in der LINKEN aktiv, weil sie die erste gesellschaftlich relevante sozialistische Partei in der Geschichte der Bundesrepublik ist. Sie verfügt über das Potenzial, die Vorherrschaft der SPD und der von ihr vertretenen sozialpartnerschaftlichen Ideen in der Arbeiterbewegung herauszufordern. Zahlreiche Gewerkschaftsaktivistinnen und -aktivisten und etliche Betriebsräte sind Mitglied der Partei, deren Programm deutlich Stellung gegen die herrschenden Verhältnisse bezieht. Es ist allerdings keine Selbstverständ-

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lichkeit, dass DIE LINKE ihr Potenzial als Motor von Klassenkämpfen tatsächlich ausspielt. Denn auch sie ist vielfältigen Integrationsmechanismen in das kapitalistische Gesellschaftssystem unterworfen. Der Parlamentarismus begünstigt beispielsweise eine Stellvertreterpolitik, in der Abgeordnete und Experten das politische Geschäft fragmentiert und spezialisiert in Arbeitsbereichen und Ausschüssen betreiben. Die Partei erscheint hier als parlamentarischer Repräsentant statt als Akteur gesellschaftlicher Mobilisierung. Auch innerhalb der Anhängerschaft der LINKEN ist die Vorstellung weit verbreitet, dass sich gesellschaftliche Veränderungen wesentlich über die Parlamente vollziehen – anstatt durch außerparlamentarische Auseinandersetzungen. Dem hat DIE LINKE bisher zu wenig entgegengesetzt. Im Vorfeld der Bundestagswahl des Jahres 2007 gegründet, hat sie bis heute keine überzeugende Antwort auf die Frage gefunden, wie sich Parlamentsarbeit mit außerparlamentarischer Bewegung verbinden lässt. Es ist ein Problem, wenn die Partei nur in den Wahlkampfphasen richtig zum Leben erwacht – und nicht denselben Einsatz in Kämpfen gegen Mieterhöhungen, Privatisierungen oder Entlassungen entfaltet wie vor einer Bundestagswahl. Das bedeutet nicht, dass DIE LINKE keinen Wahlkampf führen sollte. Im Gegenteil: Die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit dieser Phasen sollte sie

Die Arbeit der LINKEN muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden

KONTAKT marx21 - Netzwerk für Internationalen Sozialismus Postfach 44 03 46, 12003 Berlin Telefon: 030 / 89 56 25 11 Mail: info@marx21.de www.marx21.de facebook/marx21.de twitter.com/marx21de


Zudem versteht das Netzwerk es als seine Aufgabe, seine Unterstützerinnen und Unterstützer zur Aneignung und eigenständigen Entwicklung antikapitalistischer Theorie zu befähigen. Marxistische

Bayern Carla (München) | carla. assmann@gmail.com Berlin / Mecklenburg-Vorpommern Silke (Berlin) | marx21berlin@ yahoo.de

Das marx21-Netzwerk in Aktion: Mobilisierung für den Kongress »MARX IS’ MUSS 2012« Grundbildung und Debatten um politische Streitfragen wollen wir beispielsweise durch Lesekreise und den jährlich stattfindenden Kongress »MARX IS‘ MUSS« fördern. Auf unserer Homepage, in unserem Magazin, in der Theoriezeitschrift theorie21 und in weiteren Publikationen beziehen wir Position zu wichtigen gesellschaftlichen Debatten. In unserem Netzwerk arbeiten Menschen zusammen, die aus unterschiedlichen marxistischen Traditionen stammen und dementsprechend bisweilen voneinander abweichende Sichtweisen auf die historischen Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung haben. Diese Vielfalt wollen wir nutzen, um gemeinsam wirksame Strategien für die politischen Aufgaben unserer Zeit zu entwickeln. Durch kollektive Diskussion und Intervention wollen wir als marx21 dazu beitragen, den revolutionär-sozialistischen Kern innerhalb der LINKEN weiter aufzubauen. Mach mit! ■

Brandenburg Anne (Zossen) | annekathrinmueller@gmx.net Hamburg Christoph (Hamburg) | christoph. timann@googlemail.com Hessen Christoph (Frankfurt) | choffmeier@hotmail.com Niedersachsen / Bremen Dieter (Hannover) | dieter. hannover@email.de Nordrhein-Westfalen Sven (Duisburg) | marx21nrw@ gmail.com Rheinland-Pfalz / Saarland Martin (Kaiserslautern) | horsch@ bawue.de Sachsen Einde (Chemnitz) | einde@gmx.de Sachsen-Anhalt Anne (Halle) | anne.geschonneck@ooglemail.com Schleswig-Holstein Mona (Lübeck) | mona-isabell@ mittelstein.name Thüringen Marco (Pössneck) | m21@ celticlandy.de

Netzwerk marx21

Das marx21-Netzwerk hat sich die Aufgabe gestellt, sich in der LINKEN für eine solche Herangehensweise einzusetzen. Wir machen uns für eine kampagnenorientierte Arbeitsweise stark: DIE LINKE muss dort handlungsfähig werden, wo sich gesellschaftliche Konflikte zuspitzen, wo Widersprüche aufbrechen, wo Bewegung entsteht. Sie darf sich nicht im parlamentarischen Alltag verzetteln. Konkret argumentieren wir dafür, dass sie zu wichtigen Protestaktionen wie Blockupy mobilisiert. Darüber hinaus wirkt marx21 darauf hin, dass DIE LINKE aktiv Verbindungen zu betrieblichen Kämpfen aufnimmt, in gewerkschaftspolitische Debatten eingreift und kämpferische Kolleginnen und Kollegen zum Parteieintritt bewegt.

Baden-Württemberg Julia (Freiburg) | jt.meier@gmx.de

© marx21

Um ihrer Rolle als sozialistischer Kraft gerecht zu werden, muss DIE LINKE ganz anders sein als die etablierten Parteien. Ihr zentrales Aktionsfeld sollte deshalb nicht das Parlament, sondern die Straßen und Betriebe sein. Selbstverständlich engagieren sich schon jetzt viele Mitglieder und ganze Parteigliederungen in außerparlamentarischen Initiativen. Doch fehlt die Ausrichtung der Gesamtpartei darauf. Inhaltlich sollte die Partei stärkere grundsätzliche Kritik am Kapitalismus äußern und diese auch in die konkreten Reformkämpfen einbringen. Die Arbeit der LINKEN muss vom Kopf auf die Füße gestellt und von Basis, Bewegung und Widerstand her gedacht werden – in der Kommune, im Land und auf Bundesebene.

marx21 vor Ort

dazu nutzen, ihre Mitglieder zu aktivieren und außerparlamentarischen Widerstand aufzubauen. Wahlerfolge und parlamentarische Repräsentanz können den Klassenkampf also durchaus stärken. Doch braucht die Partei eine breite und aktive Basis, um eine kampagnenorientierte Parlamentspolitik machen zu können. Denn sie ist nur mit einem organisierten Unterbau mobilisierungsfähig. Außerdem wird sie so weniger abhängig von der (Nicht-)Berichterstattung durch die Mainstreammedien.

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© Anne Geschonneck

BILDUNGSPROTEST

Die Bewegung ist stärker: Bei einer Demonstration muss die »Landesregierung« Sachsen-Anhalts zum Tauziehen antreten. Schon beim symbolischen Kräftemessen mit den Demonstrierenden ist sie klar unterlegen. Dass sie auch im Ringen um ihre Sparpläne eine herbe Niederlage erleiden wird, weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand 46


»Wir haben uns nicht gegeneinander ausspielen lassen« Wegen der Schuldenbremse drohen vielen Hochschulen massive Kürzungen. In SachsenAnhalt legte die Landesregierung bereits letztes Jahr ihre Sparpläne auf den Tisch. Doch ein breites Bündnis aus Studierenden und Beschäftigten nahm den Kampf auf – und hatte Erfolg. Wir sprachen mit einer der Organisatorinnen der Proteste

Was habt ihr gemacht? Wir hatten das Glück, dass zumindest in Halle schon ein Bündnis mit arbeitsfähiger Struktur bestand, bevor die Kürzungspläne der Regierung bekannt wurden. Für uns war klar, dass wir nicht

interview: Martin Haller

Anne Geschonneck

Anne Geschonneck ist Sprecherin des Aktionsbündnisses gegen Kürzungen an der Uni Halle und dort aktiv beim Studierendenverband Die Linke.SDS

alleine aus Halle gegen diese Pläne vorgehen können, sondern uns landesweit aufstellen müssen. Wir haben daher zu einer Vernetzungskonferenz nach Halle eingeladen, bei der alle hochschulpolitischen Akteure aus Sachsen-Anhalt an einen Tisch gebracht werden sollten. Mit Erfolg: Zur Konferenz kamen über einhundert Menschen und wir konnten das Hochschulbündnis Sachsen-Anhalt gründen, das den Protest im vergangenen Jahr auf Landesebene koordiniert hat. Wie hat die Landesregierung auf die großen Proteste reagiert? Zunächst fiel die Reaktion eher verhalten aus, wahrscheinlich hat sie uns zunächst gar nicht ernst genommen. Einem Dialog hat sie sich anfangs einfach mit dem Argument verweigert, dass wir als Bündnis keine legitimierte Struktur seien. Als dann die erste große Demonstration in Halle mit 7000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern stattfand, änderte sich das plötzlich. Wir wurden zu einem vertraulichen Gespräch mit dem Ministerpräsidenten eingeladen und auch der Wissenschaftsminister wollte mit uns reden. Dabei änderte sich, jedoch die Argumentation nicht: Die Kürzungen seien notwendig, weil einfach kein Geld da sei. Zudem habe man als Landesregierung gar keinen Einfluss auf die Steuerpolitik oder die Schuldenbremse, man sei quasi nur Sachverwalter. Doch irgendwann wurde der Landesregierung wohl bewusst, dass sie nicht am Willen eines Großteils der Bevölkerung vorbei regieren kann. Denn nun ergaben sich doch Spielräume in ih-

BILDUNGSPROTEST

A

nne, im vergangen Jahr haben Studierende gegen die Kürzungen an eurer Universität protestiert. In diesem Rahmen erlebte Halle die größte Demonstration seit der Wiedervereinigung. Woher kam die Bewegung so plötzlich? Zumindest in Halle schwelte der Unmut schon länger. Erst hatte das Rektorat Kürzungen wegen eines angeblichen Defizits im Universitätshaushalt in Höhe von sechs Millionen Euro angekündigt. Dann wurden jedoch auch noch die Kürzungspläne des Ministeriums für Wissenschaft und Wirtschaft bekannt. Diese sahen eine Kürzung des Budgets der Hochschulen um 15 Prozent vor, was in realen Zahlen etwa 77 Millionen Euro gewesen wären. Hinzu sollten massive Einsparungen bei den Investitionen im Bereich Forschung und Technologie kommen, sowie die komplette Streichung der Landesgraduiertenförderung. Insgesamt sollten den Hochschulen also etwa 126 Millionen Euro weggenommen werden. Dabei ist die Universität in Halle, so wie eigentlich alle Hochschulen bundesweit, schon massiv unterfinanziert. Das hat bei vielen Mitgliedern der Hochschule das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen gebracht, und es gab eine Art Aufbruchsstimmung gegen die Kürzungspläne.

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© gynti_46 / CC BY-NC-SA / flickr.com

Unter dem Motto »Halle bleibt« gehen am 30. April vergangenen Jahres etwa 7000 Menschen gegen die Sparpläne der Landesregierung auf die Straße. Es ist eine der größten Demonstrationen in der Geschichte Sachsen-Anhalts rer Handlungsfähigkeit. Von der anfangs genannten Kürzungssumme sind letztendlich 15 Millionen Euro übrig geblieben. Das ist immer noch sehr viel, aber deutlich weniger als die anfänglichen 126 Millionen Euro. Dass wir die Summe so weit drücken konnten, hatte auch damit zu tun, dass es in der Regierungskoalition aus SPD und CDU im Laufe der Haushaltsdiskussion zu kriseln begann. Gerade innerhalb der SPD-Fraktion kam es zu Unstimmigkeiten. Durch die positive mediale Begleitung unserer Proteste gerieten Sozialdemokratie und Union nahezu täglich in die öffentliche Kritik. Kurz sah es sogar so aus, als würde die Landesregierung am Thema Kürzungen zerbrechen. Die ursprünglichen Pläne waren also auch im Regierungsblock nicht mehr haltbar, wollte man einen Haushalt vorlegen, der im Parlament eine Mehrheit bekommt. Der Druck wurde einfach zu groß. Das ist ja wirklich ein Erfolg. Hättet ihr euch das anfangs träumen lassen? Anfangs hatte sicher niemand erwartet, dass die Proteste so eine Dynamik entwickeln und wir die Kürzungen tatsächlich größtenteils verhindern können. Wir haben uns ja nicht irgendeinen Gegner ausgesucht, sondern die Landesregierung herausgefordert. Doch vor allem das po48

sitive Feedback, das uns an der Universität, aber auch von außerhalb erreichte, hat uns bestärkt und auch gezeigt, dass eine Menge Leute hinter unseren Zielen stehen. Das konnte natürlich auch die Landesregierung nicht ignorieren. Wie konnte das Bündnis so stark werden und eine solche Dynamik entwickeln? Die Hauptstärke lag in der politischen Breite des Bündnisses. Zum einen waren es nicht nur studentische Hochschulgruppen, die sich engagiert haben. Wir haben es geschafft, ein starkes Band zwischen Studierenden und Beschäftigten der Universität zu knüpfen, weil die Gewerkschaften und damit auch der Personalrat der Hochschule in die Proteste eingebunden waren. Zum anderen haben wir uns im Bündnis nicht allein für die Hochschulen engagiert. Auch andere Bereiche, wie die Kultur oder die Kinder- und Jugendarbeit waren von den Kürzungsplänen der Regierung betroffen. Besondere Wirkmacht entfaltete der Protest, als sich auch andere Initiativen unserem Bündnis anschlossen. Zu einem Laternen-umzug im November riefen beispielsweise neben dem Hochschulbündnis die Initiative der Kulturschaffenden und der Stadtelternund SchülerInnenrat auf. Im Vorfeld bastelten Studierende zusammen mit Eltern

und Kindern Laternen für den Protestumzug. Zudem fand die Aktion zeitgleich an mehreren Hochschulstandorten statt. Der Protest war also zu jeder Zeit in der Bevölkerung verankert. Hat die Landesregierung nicht versucht, die Bewegung zu spalten und die verschiedenen von Kürzungen betroffenen Bereiche gegeneinander auszuspielen? Natürlich gab es diese Versuche. Nicht nur unter den verschiedenen Bereichen, sondern auch die einzelnen Hochschulen sollten gegeneinander ausgespielt werden. Es gab Versprechungen, den einen Hochschulstandort auf Kosten eines anderen zu erhalten. Und natürlich kam auch das Argument, dass unsere Forderungen nur erfüllt werden können, wenn dafür die Kulturfinanzierung geopfert wird. Wie seid ihr damit umgegangen? Wir haben von Anfang an betont, dass wir diese Taktik der Regierung kennen und nicht in diese Falle tappen werden. Denn selbst wenn die Hochschulen in dieser Kürzungsrunde auf Kosten der Theater und Museen geschont geworden wären, hätte es uns wohl bei den nächsten Haushaltsverhandlungen getroffen. Und dann wären die Kulturschaffenden vielleicht nicht mehr bereit gewesen, uns bei den


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Protesten zu unterstützen. Uns war also klar, dass wir nur in gemeinsamer Aktion eine Chance hatten, den Kürzungsmaßnahmen etwas entgegenzusetzen. Welche Rolle hat der Studierendenverband Die Linke.SDS in den Protesten gespielt? Als SDS haben wir uns vor allem dafür eingesetzt, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive in die Bündnisarbeit einzubringen, uns also nicht auf das Aktionsfeld Hochschule zu beschränken. Zudem war uns wichtig, unsere Forderungen nicht allein ökonomistisch zu formulieren. Denn starke Hochschulen sind nicht allein ein Wirtschaftsfaktor für eine strukturschwache Region wie Sachsen-Anhalt. Sondern Bildung ist an sich ein erhaltenswertes Gut. Und natürlich war uns eine bewegungsorientierte Politik des Bündnisses wichtig. Dabei konnten wir die Erfahrungen nutzen, die wir als SDS schon in den letzten Bildungsstreikwellen gesammelt haben. Bündnisarbeit ist ja nicht immer einfach, gerade wenn man mit politisch so unterschiedlichen Akteuren wie in unserem Aktionsbündnis zusammenarbeitet. Dabei Kompromisse einzugehen, ohne dass man seine Positionen aufgibt, will gelernt sein. Zudem konnten wir Aktionsformen wie Teach-Ins oder Flashmobs einbringen, die im SDS zur alltäglichen Praxis gehören Was ist von der Bewegung übrig geblieben und was ist nun eure Perspektive? Die Bewegung existiert nach wie vor und es gibt im Moment genug zu tun. Denn die Kürzungen, die trotz allem durchgekommen sind, müssen ja nun an die Hochschulen weitergereicht werden. Wie sich das auf die Hochschullandschaft auswirkt, wird in sogenannten Hochschulstrukturplänen festgeschrieben. Die ersten Auswirkungen bekommen wir bereits zu spüren. Im März sollte an unserer Universität der Studiengang der Medien- und Kommunikationswissenschaften geschlossen werden, was wir durch verschiedene Aktionen im Vorfeld der entscheidenden Senatssitzung verhindern konnten. So haben wir eine Petition initiiert, die innerhalb kurzer Zeit über 4000 Unterschriften erhielt. Hinzu kamen Flashmobs auf dem zentralen Marktplatz, Vollversammlungen und die lautstarke Begleitung der Senatssitzung. Wir sind allerdings sicher, dass solche Angriffe seitens der Hochschulleitung in nächster

Zeit häufiger vorkommen werden, weshalb wir weiter aktiv bleiben müssen. Was ist die wichtigste Lehre, die du Aktivistinnen und Aktivisten in anderen Bundesländern, in denen Kürzungen anstehen, mitgeben würdest? Das Wichtigste, was wir gelernt haben, ist: Es geht nicht ohne Solidarität. Das fängt in der Hochschule an, wenn sich die verschiedenen Statusgruppen füreinander einsetzen, also der Student für die wissenschaftliche Mitarbeiterin auf die Straße geht und umgekehrt. Es bedeutet, dass sich einzelne Fachbereiche und Institute nicht gegeneinander ausspielen lassen. Dazu kommt die Zusammenarbeit verschiedener gesellschaftlicher Bereiche, die füreinander einstehen. Nur so konnten wir solch einen breiten Widerstand gegen die Kürzungen aufbauen. Ein Problem für den Widerstand gegen die mit der Schuldenbremse verbundenen Kürzungen ist ja, dass sie sehr ungleichzeitig stattfinden. In der Regel bleiben Proteste lokal begrenzt. Was denkst du? Wie können sie zusammengebracht werden? Wir müssen bedenken, dass hinter vielen Maßnahmen einzelner Landesregierungen die Bundespolitik steckt. Denn dass die Länder gezwungen sind, jegliche Neuverschuldung zu vermeiden, hat mit der Schuldenbremse zu tun, die ja ein Instrument der Bundesregierung ist. Zudem lassen sich in den verschiedenen Kürzungsrunden, die stattfinden, viele Gemeinsamkeiten erkennen, beispielsweise in den Strategien der einzelnen Landesregierungen. Daher können die verschiedenen Protestbündnisse auch voneinander lernen. Außerdem lassen sich manche unserer Forderungen nicht auf Landesebene umsetzen, etwa die nach Steuergerechtigkeit oder Abschaffung des Kooperationsverbots. Dafür brauchen wir eine gemeinsame bundesweite Bewegung, die es jetzt aufzubauen gilt. Einen ersten Schritt haben wir mit der Organisation einer bundesweiten Konferenz zum Thema Hochschulkürzungen in Halle Anfang April gemacht. Generell ist die Vernetzung und Verbindung der verschiedenen Proteste wichtig, denn nur so können wir voneinander lernen und auch eine gemeinsame Strategie entwickeln. Dazu sollten gemeinsam koordinierte Aktionstage kommen. So lässt sich auch auf die Bundespolitik Druck ausüben. ■

BILDUNGSPROTEST

Es war wichtig, sich nicht auf das Aktionsfeld Hochschule zu beschränken

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GESCHICHTE

h eine reldaten mit einem Putsc So n ste lö en hr Ja zig er Vor vi lt die gal aus. Noch heute spie rtu Po in g un eg w Be re volutionä wichtige Rolle Erinnerung daran eine VON CATARINA PRíNCI

© Alfredo Cunha

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m 25. April 1974 begann die portugiesische Revolution. Ihr war fast ein halbes Jahrhundert faschistischer Diktatur vorausgegangen. Portugal war zu dieser Zeit das am wenigsten entwickelte Land Europas mit extrem hoher Arbeitslosigkeit, großer Armut und weit verbreitetem Analphabetismus. In den Jahren 1933 bis 1974 hatten fast zwei Millionen Menschen das Land verlassen. Die Wirtschaft war stark auf das Geld angewiesen, das portugiesische Arbeiter in Frankreich, Deutschland und anderen Ländern nach Hause schick-

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ten. In den 1970er Jahren machten diese Überweisungen acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Aber auch von den Kolonien Angola, Mosambik und Guinea-Bissau war die Wirtschaft abhängig. Denn daher importierten portugiesische Unternehmen Rohstoffe und exportierten fertige Produkte dorthin. Deshalb führte die Regierung seit dem Jahr 1961 einen immer grausameren und teureren Krieg gegen die dortigen Befreiungsbewegungen. Aus einer Gesamtbevölkerung von neun Millionen Menschen waren 209.000 Soldaten, von denen 140.000 in den Kolonien stationiert wa-

ren. Der Wehrdienst war zuletzt auf vier Jahre ausgedehnt worden, was ein zusätzlicher Ansporn für junge Männer war, eine Zukunft im Ausland zu suchen. Das Regime befand sich zu Beginn des Jahres 1974 in einer Sackgasse. Im Schatten der europaweiten Rezession und infolge der Kriegsausgaben, die über die Hälfte des Staatshaushalts verschlangen, brach die Wirtschaft nahezu zusammen. Kulturkooperativen und Universitäten wurden geschlossen. Das prägte den Alltag der Menschen ebenso wie die wachsende politische


Morgenstunden des 25. April besetzten einige von ihnen die Zentrale des katholischen Rundfunksenders Rádio Renascença und spielten das Lied »Grandola, Vila Morena« des Liedermachers Zeca Afonso, das schnell zur Hymne der Revolution wurde. Das war das vereinbarte Signal an weitere bewaffnete Einheiten, ihre Kasernen zu verlassen und strategisch wichtige Punkte unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Coup wurde abends offiziell im staatlichen Fernsehen verkündet, die Bevölkerung zugleich aufgefordert, Ruhe zu bewahren und daheim zu bleiben. Diese Aufforde-

rung missachteten die Portugiesen allerdings: Zu Tausenden strömten sie auf die Straßen, um den Putsch zu unterstützen. So begann die Revolution der Jahre 1974 /75. Der Putsch war der ungewollte Auslöser. Er wurzelte in der Kriegsmüdigkeit der Soldaten. Die jahrelangen Kolonialkriege konnten nur so lange geführt werden, wie Portugal von einer Diktatur beherrscht wurde. Da diese jedes offene Zeichen von Opposition verfolgte, verlagerte sich der Widerstand in die Reihen der Armee, hier vor allem die mittlere Ebene, während die höheren Ränge dem Regime die

GESCHICHTE

und soziale Gärung, die Streiks von über einhunderttausend Beschäftigten in der Industrie und im Dienstleistungssektor von Oktober 1973 bis April 1974, die Dutzenden Verhaftungen von Studierenden und die brutalen Polizeieinsätze gegen die Opposition. Das Regime hielt jedoch stand. Erst ein Militärputsch am 25. April öffnete die Tür für einen gesellschaftlichen Wandel. In der Armee operierte eine geheime, fortschrittliche Kraft, die Bewegung der Streitkräfte (Movimento das Forças Armadas, MFA). Ihr hatten sich in der Mehrzahl Soldaten der mittleren Ränge angeschlossen. In den frühen

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Treue hielten. So gesehen war das zentrale Motiv des Putsches die Forderung nach Demokratie, denn die Abschaffung der Diktatur war die Voraussetzung für die Beendigung des Krieges.

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Catarina Príncipe ist aktiv bei Die Linke. SDS an der HumboldtUniversität in Berlin.

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Drei wichtige Faktoren machten aus dem Militärputsch einen revolutionären Prozess: Das war erstens die Tatsache, dass der Coup von den mittleren Rängen der Armee getragen wurde und unter den einfachen Soldaten große Unterstützung fand. Somit war die hierarchische Befehlskette durchbrochen und der wichtigste bewaffnete Teil des Staatsapparats lahmgelegt. Zweitens verwandelte sich ein beträchtlicher Teil der Streitkräfte selbst in eine politisch-militärische Bewegung. Und drittens schuf die daraus entstehende Schwächung der Staatsmacht den Raum für die Explosion sozialer und politischer Spannungen, die sich in den Jahren zuvor aufgestaut hatten. Die Anweisung des Militärs an die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben, verhallte ungehört. Der Durst nach Freiheit war stärker als alle Ängste. Tausende gingen auf die Straße, um dem Militär beizustehen, als es das Polizeihauptquartier besetzte, um die Abdankung des Diktators Marcelo Caetano zu erzwingen, der sich dort versteckt hielt. Die Menschen kauften rote Nelken und verteilten sie an die Soldaten, indem sie diese in die Gewehrläufe steckten. Die Blume wurde so zum Symbol der Revolution. Die MFA trat für die Öffnung der portugiesischen Wirtschaft nach westeuropäischem Modell ein, und nur wenige ihrer Soldatenmitglieder waren Sozialisten. Aber sie wurde zum Wegbereiter anderer gesellschaftlicher Kräfte. Der revolutionäre Dichter Ary dos Santos schrieb: »Niemand wird die Tore, die der April aufgestoßen hat, wieder schließen können.« Die Revolution von 1974/75 war eine der lebendigsten Erfahrungen in der gesamten Geschichte Portugals. Innerhalb von nur 19 Monaten missglückten zwei Putschversuche – diesmal um die Uhr wieder zurückzudrehen. Sechs provisorische Regierungen lösten sich ab, die Kolonien erlangten ihre Unabhängigkeit, es gab unzählige Demonstrationen, Tausende Hausbesetzungen und mehrere große Streikwellen. Eine tiefgreifende Landreform fand statt, Großgrundbesitz wurde besetzt, Arbeiterkooperativen gegründet, es entstanden Fabrikkomitees, Gewerkschaften und Stadtteilkommissionen. Arbeiter übernahmen ihre Fabriken und führten die Produktion in Selbstverwaltung fort. Dasselbe geschah auch in Geschäften, Büros, Zeitungsredaktionen und bei Rundfunksendern. Arbeiter und Soldaten gingen aufs Land, um den Bauern zu helfen. Kinder brachten Erwachsenen das Lesen bei, Volkskliniken und Kulturzentren blühten auf. Es entstanden sogar Volkstribunale, also von der Bevölkerung organisierte Gerichte. Es war die einschneidenste Transformation wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse in der modernen Geschichte des Landes. Die Menschen machten Erfahrung mit echter Demokratie, in der Tausende aufgefordert waren, sich in allen gesellschaftlichen Bereichen an den Entscheidungs-

prozessen zu beteiligen. Das Erbe der Revolution prägt bis heute auf vielerlei Weise den Staat sowie die gesellschaftliche und politische Landschaft. Portugal erlebte damals eine revolutionäre Bewegung für die Demokratisierung des Staats, in der vor allem die Massen die Initiative ergriffen. Sie waren es, die den repressiven Staatsapparat stürzten, die Hauptquartiere der politischen Polizei stürmten, die Freilassung der politischen Gefangenen erzwangen, die Zensurbehörde zerstörten. Es waren die Menschen in den Fabriken, Schulen, Betrieben und Verwaltungen, die die Handlanger des faschistischen Regimes vor die Tür setzten. Die Volksbewegung war es, welche die Meinungs- und Versammlungsfreiheit durchsetzte, lange bevor eine Regierung diese Grundfreiheiten gesetzlich festschrieb. Den Menschen wurde nichts geschenkt. Über Jahre hinaus verschob die revolutionäre Bewegung für soziale Gerechtigkeit das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital zugunsten der Arbeiterinnen und Arbeiter. Dies gelang, indem die Bewegung das Recht erkämpfte, zu streiken und Gewerkschaften zu gründen. Sie setzte den Mindestlohn, Arbeitszeitkürzungen, bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Subventionen für Lebensmittel durch.


© Alfredo Cunha

Portugal 1974: Soldaten diskutieren die nächsten Schritte. Sie haben gerade wichtige Kontrollpunkte im Land besetzt

ge gestellt, sexuelle Freiheiten, das Scheidungsrecht und das Recht auf Abtreibung erkämpft. Es entstanden neue Fernseh- und Rundfunksender, das Filmschaffen und das Theater erlebten eine große Blüte, große Wandmalereien zierten die Städte. Es war eine Zeit, in der die Kreativität nur so explodierte. Alles schien möglich und es wurden neue Weisen des Zusammenlebens und zwischenmenschlicher Beziehungen ausprobiert. Portugal war zu dieser Zeit zweifelsohne das freieste Land der Welt. Doch am 25. November 1975 stoppte diese Entwicklung, als die moderaten und rechten Teile wieder die Kontrolle über die Armee erlangen konnten. Sie riefen die Soldaten zurück in die Kasernen – und zogen sie damit ab von der Straße, dem besetzten Land und auch von der »Bewegung für kulturelle Dynamisierung«. In deren Rahmen waren zuvor Tausende Armeeangehörige durch das Land gezogen, um Menschen bei der Arbeit zu helfen oder ihnen beizubringen, wie man liest und politisch diskutiert. Dass die revolutionäre Entwicklung schließlich im Herbst 1975 ein Ende fand, hatte verschiedene Gründe, die hier nur angerissen werden können. Einige sind struktureller Art. Zu nennen ist hier die Abhängigkeit wichtiger Sektoren der revolutionären Linken vom Militär. Auch maßen viele Aktivisten dem

GESCHICHTE

Diese soziale Demokratie war das direkte Ergebnis des Kampfs der Bevölkerung. Die revolutionäre Bewegung stieß die Tür auf für eine umfassende Demokratisierung verschiedener Bereiche des öffentlichen Lebens, etwa der Bildung und der Kultur. Die Zahl direkt gewählter Gremien in öffentlichen Verwaltungen, Schulen, Universitäten und Gewerkschaften nahm massiv zu. Die revolutionäre Bewegung hatte sich das Ziel gesetzt, die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des Landes grundsätzlich umzuwälzen. Sie wollte das Finanzkapital und große Wirtschaftsunternehmen verstaatlichen, große Landgüter enteignen, Arbeiterkontrolle in einer Reihe von Betrieben einführen, Häuser besetzen und Sozialwohnungen bauen. Die revolutionäre Bewegung schuf auf lokaler Ebene in Stadtteilen und Betrieben spontan neue Formen der Macht, der politischen Vertretung und der Selbstverwaltung. Diese Arbeiter- und Stadtteilkommissionen wurden später in der Verfassung verankert und erhielten Gesetzeskraft, manche existieren noch heute. Die revolutionäre Bewegung schuf zudem die Grundlage für frei zugängliche und kostenlose Dienstleistungen in Gesundheit, Bildung und sozialer Fürsorge. Auch das Alltagsleben erfuhr eine tiefgreifende Umgestaltung bis in die Privatsphäre hinein. Alte Moralvorstellungen und Gewohnheiten wurden infra-

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betrieblichen Klassenkampf weniger Bedeutung zu als Fragen der militärischen Organisation. Darüber hinaus existierte eine weitverbreitete Skepsis gegenüber allen politischen Parteien. Viele von ihnen waren erst in der Hitze der Revolution gegründet worden und daher gesellschaftlich kaum verankert. Die Kommunistische Partei Portugals hatte als einzige während der ganzen Jahre der Diktatur eine funktionierende Organisation im Untergrund aufrechterhalten und besaß die breiteste Basis in der Arbeiterklasse. Während der weiteren Entwicklung der Nelkenrevolution spielte sie jedoch eine widersprüchliche Rolle. Viele ihrer Basisaktivisten vertraten radikale Positionen. Doch die Parteiführung selbst verfolgte eine »Stufentheorie«: Sie meinte, die Linke müsse zunächst Kompromisse mit dem portugiesischen Bürgertum eingehen, um die industrielle Entwicklung des Landes zu sichern. Erst später sollten die Arbeiter die Kontrolle über die Produktionsmittel ergreifen. Die Partei beteiligte sich an den verschiedenen Übergangsregierungen und stimmte hier sogar der Einschränkung des Streikrechts zu. Als am 25. November 1975 einige Soldaten gegen ihre Führung rebellierten und eine Kaserne besetzten, entschied die KP-Führung, sie nicht zu unterstützen. Damit ließ sie die Bewegung in einem entscheidenden Moment im Stich und beschleunigte so das Ende des revolutionären Prozesses. Bedeutsam war auch der Einfluss der neu gegründeten Sozialistischen Partei – ein Pendant zur deutschen SPD. Ihre Rhetorik war für viele neu politisierte Menschen attraktiv, die erschöpft von den Kämpfen waren und sich eine »Rückkehr zur Normalität« wünschten, vor allem nach dem »Heißen Sommer von ‘75«, als rechtsextreme Gruppierungen Bombenanschläge auf Gebäude linker Organisationen verübten und sogar einzelne linke Aktivisten ermordeten. Das verbal-radikale Auftreten der Sozialdemokraten verschleierte zudem ihre tatsächlichen Ziele. Hierzu gehörte beispielsweise die Öffnung der portugiesischen Wirtschaft gegenüber dem westlichen Kapitalismus. Das war ein entscheidender Faktor bei der Ruhigstellung der revolutionären Kräfte. Darüber hinaus sollte man auch die ideologische Rolle der katholischen Kirche nicht unterschätzen. Gegenüber diesen bremsenden oder sogar konterrevolutionären Kräften gab es keine starke, in der Arbeiterbewegung verankerte revolutionäre Organisa-

tion, die einen anderen Weg hätte vorschlagen und umsetzen können. Dennoch muss festgehalten werden: Wenn die parlamentarische Demokratie auch das Mittel der Wahl war, um den revolutionären Prozess zum Erliegen zu bringen, so hinterließ die Revolution ein Erbe, das der portugiesischen Demokratie seinen Stempel aufdrückte. Auch heute noch spielt die Erinnerung an die Revolution eine wichtige Rolle – vor allem in der Bewegung gegen die brutalen neoliberalen Angriffe der Troika von außen und einer rechten Regierung im Inneren. Derzeit sollen viele der damals erkämpften Rechte wieder abgeschafft werden. Beispielsweise schlägt die Regierung eine tiefgreifende Reform der portugiesischen Verfassung von 1975 vor. Der Meinungskampf über die Bedeutung der Revolution zu ihrem 40. Jahrestag ist noch in vollem Gange. Die Rechte vertritt die Meinung, dass sich das faschistische Regime damals ohnehin bereits öffnete und auf dem Weg zur Demokratie befand. Dementsprechend sei die Revolution überflüssig gewesen und habe lediglich ein gefährliches Spiel mit dem Kommunismus dargestellt. Anlässlich des Jahrestags vor einigen Jahren rief die damalige Regierung von José Manuel Durão Barroso (dem heutigen Präsidenten der EUKommission) eine Kampagne mit dem Namen »Evolution« ins Leben, unter bewusster Streichung des »R«. Die Interpretation der Revolution in der Bevölkerung ist allerdings eine ganz andere. Am 2. März 2013 gingen anderthalb Millionen Menschen gegen die Politik der Troika auf die Straße. Gemeinsam sangen sie das Lied »Grandola, Vila Morena«. Es wurde ein neues Verb erfunden: grandolar. Es beschreibt das Erstürmen von Parlamenten, Verwaltungen oder Versammlungen, um Reden von Ministern und anderen Prominenten durch das Singen des Lieds zu stören. Ein »Bündnis für den 25. April« hat anlässlich des 40. Jahrestags der Nelkenrevolution ein Plakat erstellt. Es zeigt ein großes Fragezeichen vor rotem Hintergrund als Symbol für die Ungewissheit, welchen Weg Portugal einschlagen wird. Zugleich ist es eine Aufforderung an uns, die Grundprinzipien der Revolution vom April 1974 zu verwirklichen. »Wir sind viele, viele Tausende, die den April fortsetzen wollen«, sangen die Menschen im vergangenen Jahr. Wir müssen noch entschlossener kämpfen und vor allem noch mehr werden. ■

Der Meinungskampf über die Bedeutung der Revolution ist in vollem Gange

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40 Jahre Portugiesische Revolution Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2014 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de

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KULTUR

Es war einmal in Afghanistan Führende Politiker propagieren die neue Rolle Deutschlands in der Welt. Ein neuer Spielfilm liefert die ideologische Begleitmusik

Von Oskar Stolz

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ine Küstenlandschaft in Deutschland: Der Bundeswehrsoldat Jesper (Ronald Zehrfeld) läuft barfuß am Strand entlang. Der Himmel ist stahlblau und die Sonne steht tief. Er schwitzt und sein Gesicht ist gezeichnet vom zurückliegenden Kriegseinsatz. Er ist nachdenklich. Sein zweiter Einsatz in Afghanistan für die ISAF-Truppen steht bevor. Sein Bruder ist in Afghanistan gestorben, Jesper hätte den Einsatz ablehnen können, er steht dennoch bereit: »Ich wurde angefordert«. So beginnt der Film »Zwischen Welten« von Regisseurin Feo Aladag. In Afghanistan angekommen, wird dem Hauptmann Jesper die Aufgabe anvertraut, einen afghanischen Stützpunkt vor den Taliban zu schützen. Aus diesem Grund führt eine Bundeswehreinheit von sechs Soldaten in ein kleines Dorf am Rande des Hindukuschs. Die Geschichte nimmt ihren Lauf. Um es vorweg zu nehmen: Der Film dient der Legitimation des Kriegs in Afghanistan. Hierzu bedienen sich die Macher der Geschichte des afghanischen Geschwisterpaars Tarik (Mohsin Ahmady) und Nala (Saida Barmaki). Die beiden haben keine Eltern mehr und müssen sich ohne die Hilfe anderer im Alltag durchschlagen. Tarik arbeitet für die Deutschen als Übersetzer. Er ist ein guter Mensch und unterrichtet heimlich Jungen und Mädchen im Lesen und Schreiben. Nala geht tagsüber an die Universität und muss abends in einer kleinen Manufaktur arbeiten. Auf ihren Wegen durch Kabul muss sie eine Burka tragen, so verlangt es die Stimmung auf der Straße. Beide ecken mit ihren Vorstellungen an. Deshalb werden sie von Taliban-

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Tarik (Mohsin Ahmady, r.) verhandelt im Auftrag der Deutschen mit Haroon, dem Anführer der afghanischen Milizen (Salam Yosofzai) © Majestic


Der Film passt in unsere Zeit. Frank-Walter Steinmeier, Ursula von der Leyen und Joachim Gauck propagieren die neue Rolle Deutschlands in der Welt. Die Bundeswehr wird umgebaut, um möglichst schnell für Intervention rund um den Globus zur Verfügung zu stehen. Mittlerweile sind deutsche Soldaten in zehn Ländern eingesetzt. Demnächst entscheidet der Bundestag über zwei weitere Einsätze, nämlich über die Beteiligung an der Mission EUFOR RCA (European Forces Republic of Central Africa) in der Zentralafrikanischen Republik und EUTM SOM (European Union Training Mission Somalia) in Somalia. So ist es kein Wunder, dass es den Produzenten dieses Films gelungen ist, Gelder für die Dreharbeiten in Afghanistan zu organisieren. Für die ideologische Standfestigkeit des Films garantierte dann die Bundeswehr selbst. In einem »Bild«-Interview berichtete Regisseurin Feo Aladag, dass Oberst a. D. Ralph Thiele der wichtigste Recherchepartner war. Herr Thiele ist nicht irgendwer. Er gehörte in der Vergangenheit dem Planungsstab des Verteidigungsministers an, war im Private Office des NATO-Oberbefehlshabers eingesetzt sowie als Chef des Stabs am NATO Defense College. Des Weiteren war er Kommandeur des Zentrums für Transformation der Bundeswehr und Direktor Lehre an der Führungsakademie der Bundeswehr. Mit einem solchen Mann kann man nur Filme machen, die der Bundeswehr gefallen. Ein Beleg hierfür liefert die Schlüsselsequenz von »Zwischen Welten«: Am Lagerfeuer sitzend erzählt Jesper Tarik, welche Frage ihn schon seit langem beschäf-

tigt: »Manchmal frage ich mich, ob wir jemals einen Unterschied machen? Oder ist das alles eine einzige Verschwendung?« Die Aussage des Films ist hier eindeutig: Es war richtig, diesen Krieg zu führen, für die guten Afghanen – oder wie es Jesper sagt: »Wir sind hier, um die afghanische Bevölkerung zu schützen.« Wie falsch diese Behauptung ist, belegen die bloßen Zahlen. Seit dem Beginn des NATO-Einsatzes sind zehntausende Zivilisten gestorben, weit höher noch ist die Zahl der Verletzten. Doch Grausamkeiten und Schrecken des Krieges spielen in »Zwischen Welten« keine Rolle. Unerwähnt bleibt beispielsweise der von Oberst Georg Klein im September 2009 befohlene Luftangriff auf zwei Tankwagen, die entführt und im Fluss Kundus steckengeblieben waren. Zahlreiche Einwohner benachbarter Dörfer wollten damals Treibstoff vom Tankwagen abzapfen. Bei der Bombardierung kamen mehr als hundert von ihnen ums Leben, darunter viele Kinder. Sie wurden Opfer eines Kriegsverbrechens. Kleinere »Zwischenfälle« dieser Art passieren jede Woche – nicht jedoch in diesem Film.

Es gibt zwei Kategorien von Antikriegsfilmen. Die einen positionieren sich explizit gegen Kriege. Ihre Handlung dreht sich um die Grausamkeiten und die Gewalttaten. Sie benennen die Profiteure der Kriege. Diese Filme sind die Ausnahme. Dann gibt es noch jene Antikriegsfilme, die ihre Botschaft implizit, unterschwellig transportieren. Selten äußert sich hier jemand offen gegen den Krieg, aber beim Verlassen des Kinos hat man ein Gefühl davon, wie schrecklich er sein muss und dass man alles tun sollte, damit niemals Bomben abgeworfen und Maschinengewehrsalven abgefeuert werden. So funktionieren die meisten Antikriegsfilme. »Zwischen Welten« passt in keine der beiden Kategorien. Im Gegenteil: Am Ende bleibt das Gefühl, man bräuchte mehr ehrenhafte deutsche Soldaten in Afghanistan. Nicht zuletzt deshalb muss man das Werk in die Kategorie »Propagandafilm für den Krieg« einordnen. Definitiv. ■

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Film Zwischen Welten Regie: Feo Aladag Deutschland 2014 Seit 27. März im Kino

★ ★★ Oskar Stolz ist Mitglied von Die Linke.SDS an der Humboldt Universität Berlin. Er ist Kurzfilm-Fan und spaziert gerne über den roten Teppich der Berlinale, zumindest als kritischer Zuschauer.

KULTUR

Schlägern immer wieder bedroht. Sie werden beleidigt, geschlagen und das Fenster ihres Hauses wird eingeschmissen. Mit Tariks und Nalas Geschichte bedient der Film die drei zentralen Argumente, die Befürworter des Einsatzes in Afghanistan nennen: Er diene dazu, den Afghanen Bildung zu bringen, die unterdrückten Frauen zu befreien und die Taliban zurückzuschlagen. Nicht mit einer Sekunde wird erwähnt, zu was der Krieg der NATO-Armeen tatsächlich führt: Armut und Tod. Als sei das nicht schon schlimm genug, bleibt der Film hier keineswegs stehen. Es gelingt den Machern, im Zwanzigminutentakt Klischees über »die Afghanen« zu reproduzieren. So sind beispielsweise die afghanischen Kämpfer nicht nur disziplinlos, sondern – man kann es sich kaum vorstellen – sie kiffen sogar! Damit nicht genug: Der Befehlsführer ihrer kleinen Einheit greift zu Disziplinarmaßnahmen, die in Europa irgendwann vor der Aufklärung Praxis waren. Er schreit und schlägt auf einzelne Soldaten ein, bis der Deutsche kommt und ihm sagt, dass man so nicht mit Kameraden umgeht und diese Methoden überholt seien. Im einzigen Feuergefecht, das der Film zeigt, ist es dann ebenfalls der Deutsche, der unter Einsatz seines Lebens ein kleines Kind vor den Schüssen der Taliban rettet – und natürlich nicht die afghanischen Bündnispartner. Prinzipiell gilt: Afghanen, die nicht mit den Deutschen zusammenarbeiten, werden negativ dargestellt.

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KULTUR

Der Mann mit dem kleinen Bart Vor 125 Jahren, am 16. April 1889, erblickte Charles Spencer Chaplin das Licht der Welt. Genau hundert Jahre alt ist seine bekannteste Filmrolle, mit der er beißende Systemkritik auf die Leinwand brachte Von Madlen Mühlpfordt und Phil Butland

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Mehr Film? Hollywood und Sklaverei Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2014 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de

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er Tramp, in dessen Gewand Charlie Chaplin das erste Mal im Jahr 1914 schlüpfte, ist bis heute unverwechselbar. Im Gesicht trägt er einen winzigen Schnurrbart, seine Kleidung passt ihm nicht. Der Gehrock ist zu klein, die Melone sitzt zu eng auf dem Kopf und die Hose rutscht permanent Richtung Boden. In seinen übergroßen Schuhen und ausgerüstet mit einem nachgiebigen Spazierstock stolpert er mit viel Mut und ernster Miene durch ein abenteuerliches Leben. Er hat kein Woher und auch kein Wohin, er hat nur das jetzt. Er umarmt Bäume, wenn er sich einsam fühlt und stiehlt einem Kind das Brot, wenn er Hunger hat. Der Tramp kennt alle Aushilfsjobs und wenn die Situation es von ihm verlangt, kann er auch formvollendet in die Rolle einer Frau oder eines Priesters schlüpfen.

Man kann über Chaplins Filme noch immer Tränen lachen und weinen. Sie werden weltweit verstanden, weil die stumme Sprache des alltäglichen Überlebenskampfs und der Arbeit universell ist. Chaplin ist ein meisterhafter Pantomime, ein großartiger Tänzer und Akrobat und niemand verschwindet so elegant und klappmesserartig in einem Holzfass wie er. Mit diesen Mitteln entsteht eine besondere Komik, die sich nur schwer in Worte fassen lässt. In »Arbeit« sieht man ihn als Malergehilfen. Wie ein Esel vor einen Karren gespannt zieht er seinen Boss über einen steilen Hang zum nächsten Arbeitseinsatz. Als der Boss unterwegs einen Freund trifft, wird der auch noch mit aufgeladen. Am Einsatzort angekommen hält man die Maler für potenzielle Diebe und alle verstecken ihr Geld voreinander. Zum Schluss versinkt das ganze Haus in Chaos – und in weißer Farbe. Chaplin arbeitete auf unkonventionelle Weise. Am Anfang stand die Idee für einen Gag, ohne Drehbuch improvisierte er die weitere Entwicklung des Films vor laufender Kamera. Aus dieser Spontaneität entsteht eine einzigartige Dynamik.

Niemand verschwindet so elegant in einem Holzfass wie er

Trotz seines späteren Reichtums hat Chaplin seine Kindheit im Armenhaus nie vergessen. Seine Filme richten sich immer an die große Mehrheit, an die Menschen, die nichts besitzen. Für sie hat er großartige Szenen des Überlebens auf Zelluloid gebannt.


KULTUR

Š wikimedia

Kleiner Mann, ganz groĂ&#x;: Chaplin kreierte die Figur des Tramp

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© marx21 / Richard Fährmann

besten Freund hält. In nüchternem Zustand kann er sich allerdings überhaupt nicht an ihn erinnern. Dan James, ein Kommunist und Freund und Drehbuchberater Chaplins bemerkte dazu: »Wahrscheinlich hat er nie Marx gelesen, aber seine Konzeption des Millionärs in ›City Lights‹ ist ein exaktes Bild für Marx‘ Konzeption des Konjunkturzyklus. Marx schrieb vom Wahnsinn des Konjunkturzyklus, wenn er erst einmal in Gang gesetzt war, das Schwanken von einem Extrem zum andern. Chaplin präsentierte eine großartige Metapher. Ob er sich der gesellschaftlichen Relevanz bewusst war, weiß ich nicht, aber er hat‘s getroffen.«

Während der McCarthy-Ära wird Chaplin als Jude und Kommunist beschimpft. Im Jahr 1952 verweigern ihm die USA nach einem Auslandsaufenthalt die Wiedereinreise

Doch hinter dem Slapstick in seinen Komödien stehen immer sozialkritische Gedanken. Ehrwürdige Berufe werden entweiht, wenn in »Polizei« ein Priester zum Taschendieb wird, der dem Ex-Häftling Chaplin das letzte Geld abnimmt. Auch die himmelschreienden Zustände in einem Obdachlosenheim werden hier in Bilder gefasst. Nach drei Jahren Filmerfahrung drehte Chaplin den vierzigminütigen Streifen »Ein Hundeleben«. Darin vergleicht er die Situation eines Arbeitslosen mit der eines Straßenköters. Wie die Hunde nach dem Knochen jagen die Menschen nach einem Job, den am Ende nur einer bekommen kann. Im Jahr 1921 entstand »Der Vagabund und das Kind«. Jackie Coogan spielt darin ein Findelkind, das der Tramp aufzieht. Als herauskommt, dass der Tramp nicht der leibliche Vater ist, soll ihm der fünfjährige Junge weggenommen werden. Er sei zu arm, um sich um das Kind zu kümmern. Der Film hat autobiografische Elemente, denn Chaplin wuchs selbst zum Teil im Waisen- und Armenhaus auf. Seine Mutter war mittellos, wurde aufgrund der Lebensumstände psychisch krank und kam deshalb in die Psychiatrie. Im Alter von 14 Jahren bekam Chaplin eine Rolle in einem erfolgreichen Theaterstück und verdiente fortan sein Geld als Schauspieler. Im Laufe seines Lebens drehte Charlie Chaplin mehr als achtzig Filme. Mit seinen Schauspielkollegen Mary Pickford und Douglas Fairbanks gründete Chaplin im Jahr 1919 eine unabhängige Filmgesellschaft. Nun konnte er sich mehr Zeit für seine Filme nehmen. »Die Lichter der Großstadt« zeigt den Tramp beim Versuch, Geld für die Augenoperation eines blinden Blumenmädchens zusammenzubekommen. Er erhält es von einem Millionär, der den Tramp immer, wenn er betrunken ist, für seinen

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Drei Jahre dauerte die Produktion von »Moderne Zeiten«, von 1933 bis 1936. Seitdem übte Chaplin immer offenere Kritik an gesellschaftlichen Missständen. Ursprünglich wollte er den Film »Die Massen« nennen, nach einer sozialistischen Zeitung. Bereits in der Eröffnungssequenz – eine Montage aus einer tickenden Uhr, einer Schafherde und Arbeitern, die in die Fabrik strömen – wird deutlich, dass in diesem Film mehr zu erwarten ist als in Chaplins früheren Komödien. Chaplin hatte von jungen Bauern gehört, die ans Fließband gestellt wurden und nach vier bis fünf Jahren geistig und körperlich zusammenbrachen. Zu einer Zeit, als es in den USA fünf Millionen Arbeitslose gab, sagte er: »Maschinen sollen den Menschen nützen und sie nicht ihrer Arbeit berauben.« Er sprach sich auch für kürzere Arbeitszeiten und einen Mindestlohn aus. »Modern Times« prangert die Abstumpfung durch Fließbandarbeit an und trifft durch das Stilmittel der Übertreibung den Kern der Sache. Den unentwegten Drang nach Steigerung der Arbeitseffizienz karikiert Chaplin treffend durch den Einsatz einer Fütterungsmaschine. Die Arbeiter sind nur ein Störfaktor der Produktion – leider können die Fabrikbesitzer nicht ganz auf sie verzichten. Der Tramp verfällt in der Fabrik dem Wahnsinn und kommt ins Gefängnis. Auf dem Weg dahin wird er unabsichtlich Anführer einer Arbeiterdemonstration, weil er eine rote Fahne schwenkt, die von einem Auto gefallen ist. Diese Szene ist sehr wichtig, weil Chaplin nicht nur zeigt, wie es den Arbeitern geht, sondern auch darstellt, wie sie auf der Straße selbstbewusst für ihre Interessen eintreten. In einigen Ländern wurde dieser Teil des Films herausgeschnitten. In »Moderne Zeiten« steht dem Tramp zudem zum ersten Mal eine gleichberechtigte Frauenfigur zur Seite. Chaplin wechselte erst relativ spät in das neue Genre des Tonfilms. In seinem ersten Film dieser Art setzte er die Sprache dann aber besonders effektvoll ein. »Der große Diktator« wurde 1940 uraufgeführt. Der Schauspieler und Regisseur hatte sich schon länger


© marx21 / Richard Fährmann

darüber geärgert, dass Hitler wie eine schlechte Kopie von ihm aussah. Viele Freunde und Politiker rieten ihm von dieser Filmidee ab, doch Chaplin scherte sich nicht um mögliche finanzielle Verluste. Ihm ging es darum, Hitler politisch zu demaskieren. Im Film spielt er eine Doppelrolle als Hitler alias Anton Hynkel und als jüdischer Friseur, der im Ghetto lebt und vom Naziregime verfolgt wird.

Chaplin übte immer offenere Kritik an gesellschaftlichen Missständen

In »Monsieur Verdoux – Der Frauenmörder von Paris« aus dem Jahr 1946 spielt Chaplin einen mordenden Heiratsschwindler. Es geht ihm in dieser düsteren Satire darum, Militär und Waffenindustrie anzuprangern, die Menschen massenweise und ungestraft umbringen, während ein einzelner Mörder als moralisch verdorben gilt und gerichtet wird. Die US-amerikanische Regierung verdächtigte Chaplin, Kommunist zu sein. Drei Mal sollte er vor Präsident McCarthys berüchtigtem Komitee für unamerikanische Umtriebe angeklagt werden. Er drohte jedoch damit, zum Prozess in der Verkleidung des Tramps zu erscheinen. Da der gebürtige Brite nie die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, versuchte man daraufhin, ihm die Aufenthaltserlaubnis zu entziehen. Als Chaplin im Jahr 1952 zur Premiere seines Films »Rampenlicht« nach London reiste, verweigerten die USA ihm anschließend die Rückkehr. Er ließ sich mit seiner Familie in der Schweiz nieder und drehte den Film »Ein König in New York« als Abrechnung mit den USA. Darin kritisiert er nicht nur die Politik Mc-

Chaplin in Siegerpose. Dreimal soll er vor dem berüchtigten »Komitee für unamerikanische Umtriebe« angeklagt werden. Er droht jedoch damit, zum Prozess in der Verkleidung des Tramps zu erscheinen Carthys, sondern auch die atomare Aufrüstung. An einer Stelle lässt er einen zehnjährigen Jungen rhetorisch gewandt das herrschende System anklagen: »In einer freien Welt vergewaltigen Sie die Naturrechte eines jeden Bürgers! (…) Es ist inkongruent, dass wir wahrscheinlich demnächst zum Mond reisen, und wir werden ein- und ausgesperrt von Reisepässen!« In seiner Autobiografie schreibt Chaplin, ihm seien »die Themen bei Shakespeare unsympathisch, die sich mit Königen und Königinnen, hochgeborenen Personen und ihren Ehrenangelegenheiten beschäftigen. Vielleicht hat das bei mir einen psychologischen Grund, meinen Solipsismus. In meinem Lebenskampf ums tägliche Brot hat die Ehre selten eine entscheidende Rolle gespielt. Ich kann mich in die Seele eines Prinzen nicht hineinversetzen.« Chaplins künstlerisches Werk ist stark geprägt von seiner eigenen Kindheit und dem politischen Zeitgeschehen. Reichtum bedeutete für Chaplin ein sorgloses Leben, Freiheit und Unabhängigkeit. Vor allem aber ermöglichte ihm sein Geld, die Themen seiner Filme ohne Einschränkung auswählen zu können Chaplin war nie Mitglied einer politischen Partei und stand den Kommunisten eher skeptisch gegenüber, besonders seit dem Hitler-Stalin-Pakt. Doch viele seiner Freundinnen und Freunde waren Kommunisten oder Sozialisten und er sagte sogar selbst: »Sehr viel am Kommunismus ist gut. Wir können das Schlechte weglassen und das Gute verwenden.« Die treffendste Beschreibung des Künstlers Charlie Chaplin stammt aus seiner eigenen Feder: »Ich bin und bleibe eines, und nur das: ein Clown. Das stellt mich auf eine viel höhere Ebene als jeden Politiker«. ■

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Madlen Mühlpfordt ist Mitglied der Hamburger LINKEN. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema politischer Film und organisiert Filmvorführungen.

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Phil Butland ist aktiv in der LINKEN in Berlin-Gesundbrunnen und schreibt regelmäßig über Kultur und Politik.

KULTUR

Mit der Zeit wurde sich Chaplin der politischen Relevanz des Films immer stärker bewusst. Er wollte mit ihm eine eigene Botschaft transportieren. So hielt er am Ende des Films eine Rede für Frieden und Menschlichkeit. Sie wurde oft so verstanden, als nehme sie nur Hitler aufs Korn. Tatsächlich ist sie ein antikapitalistisches Plädoyer für eine neue Gesellschaft – auch in den USA: »Gier hat die Seele des Menschen vergiftet; hat die Welt mit Hass verbarrikadiert; hat uns im Stechschritt ins Elend und Blutvergießen geführt (…) Lasst uns für eine neue Welt kämpfen, eine respektable Welt, die den Menschen die Möglichkeit gibt zu arbeiten, die der Jugend eine Zukunft und dem Alter eine Sicherheit gibt.« Daraufhin wurde Chaplin ins Weiße Haus zitiert, wo der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt ihm vorwarf, sein Film hätte den Handel mit Argentinien gefährdet.

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GESCHICHTE HINTER DEM SONG

Anfang der achtziger Jahre schreibt die DDR-Band Pankow mit 14 Songs Musikgeschichte. In ihrem Rocktheater »Paule Panke« schildern sie eigentlich nur einen Tag aus dem Leben eines Schlosserlehrlings. Weil die Band aber ohne Rücksicht auf Zensur über die Bevormundung, Langeweile und Gleichförmigkeit im DDR-Alltag redet, erreicht das Bühnenstück schnell Kultstatus unter Jugendlichen und treibt damit nicht nur den Kulturfunktionären den kalten Schweiß auf die Stirn Von Yaak Pabst

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© Georg Kresse

Die DDR-Band Pankow heizt die Menge bei einem ihrer Konzerte ein. Mit ihrer Musik über den grauen, eintönigen Arbeitsalltag im Osten stößt sie auf große Resonanz beim Publikum

Doch die Regierenden brauchen die junge Generation dringend für den politischen und wirtschaftlichen Aufbau der DDR. Anfang der 1980er Jahre machen

junge Menschen zwischen 14 und 25 Jahren fast ein Fünftel der DDR-Bevölkerung aus. Sie stellen zwischen einem Viertel und einem Drittel der Belegschaften in den Betrieben. Deswegen versucht die Staatsführung mit Macht, die Kontrolle über die Jugend zu behalten. In nahezu allen Bereichen, mit denen Jugendliche in der DDR in Berührung kommen, will der lange Arm der Bürokratie das Geschehen dominieren. Über die einzige staatlich anerkannte und geförderte Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) soll die Freizeitgestaltung der Jugendlichen gestaltet werden. Sie leitet Club- und Kulturhäuser, führt das Reisebüro »Jugendtourist«, organisiert Kultur-, Sport- und Freizeitveranstaltungen und strahlt in Hörfunk und Fernsehen ein eigenes Jugendprogramm aus. Mitglied in der FDJ zu werden, ist zwar eine freiwillige Entscheidung, doch für diejenigen, die sich dagegen entscheiden, ist eine normale schulische oder berufliche Laufbahn kaum denkbar. Im Jahr 1981 hat die FDJ 2,3 Millionen Mitglieder, das sind fast 75 Prozent der Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 25 Jahren. Das Gefühl einer verplanten Zukunft stellt sich bei vielen aber vor allem wegen der eingeschränkten sozialen Perspektive ein. Jeder, der vor dem Abitur von der

»Wir wollten die DDR verbessern. Das hat die Funktionäre zur Wut gebracht« André Herzberg, Sänger von Pankow

GESCHICHTE HINTER DEM SONG

I

m Jahre 1982 wird die DDR von einer Clique alter Männer regiert. Das Durchschnittsalter der Politbüromitglieder liegt bei 60 Jahren. Erich Honecker, der mächtigste Politiker des Staates, ist bereits 70 Jahre alt. Alle bis auf sieben sind seit mindestens acht Jahren im Amt. Trotzdem versteht sich die DDR als »Staat der Jugend« und offiziell gelten Jugendliche als die »Hausherren von morgen«. Doch im wirklichen Leben hat die junge Generation nichts zu sagen. Ihr Wunsch nach Selbstbestimmung und persönlichen Freiräumen stößt auf Ignoranz bei den Parteifunktionären. Die Begeisterung für englische Musik, die Vorliebe für westliche Mode oder das Tragen von langen Haaren sehen sie als »dekadent« an. Nicht zuletzt führt die DDRElite solche Phänomene auf die »psychologische Kriegsführung« des Westens zurück. Mehr als andere Gesellschaftsgruppen gilt ihr die Jugend als »widerspenstig«, »politisch unsicher« oder »ungeduldig«.

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★ ★★

Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.

Schule abgehen will, muss sofort eine Lehre beginnen oder als »Ungelernter« in einem Betrieb anfangen. Nach dem Schulabschluss erst einmal ein Jahr auszusetzen, zu jobben oder ein Praktikum zu absolvieren, ist nicht möglich. So gehen bis zu 80 Prozent eines Jahrgangs nach der 10. Klasse direkt in die Berufsausbildung. Eine freie Berufswahl und damit die Möglichkeit zur persönlichen Lebensplanung existiert für die Mehrheit der Jugendlichen in der DDR nicht. Viele sind gezwungen, einen Beruf zu ergreifen, der sie gar nicht interessiert. Anfang der 1980er Jahre verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage in der DDR. Schon im November 1979 notiert der Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski in sein Tagebuch: »Auf keinem Gebiet haben wir eine Konzeption. Wir leben von der verwelkten Hand in den zahnlosen Mund«. Die junge Generation in den Betrieben macht zu dieser Zeit die Erfahrung mit Mangel und wirtschaftlicher Desorganisation. Das lässt sie in Widerspruch geraten zu dem in der Schule, den Medien und bei FDJ-Versammlungen vermittelten Bild der »erfolgreichen« DDR. Der permanenten Disziplinierung und sozialen Kontrolle durch Lehrer, Polizei und Vorgesetzte ausgesetzt, wächst Anfang der 1980er Jahre unter den Jugendlichen zunehmend der Zorn über die herrschenden Verhältnisse.

Danach folgt der »Werkstattsong«. Ein gehetzter Rhythmus mit Originalgeräuschen aus der Maschinenhalle treibt die Band an. Frontmann Herzberg singt: »Wann kommt denn mal ‚ne Pause, / Hab Durst auf so ‚ne gelbe Brause, / Doch feil ich immer weiter wie ‚ne Eule, / Auf dieser hyperdicken Eisenbeule / Nun schon wochenlang herum, / Das macht mich ganz heiß und krumm.« Diese ungeschminkte neue Wahrheit kommt an: Die Band entwickelt sich zum Geheimtipp unter Jugendlichen. Mehrere hundert Mal wurde das Stück aufgeführt. »Paule Panke« tourt durch den »Arbeiter- und Bauernstaat« und erreicht in den Kulturhäusern und auf den Freilichtbühnen der DDR bis zu Hunderttausend Zuhörer, die teilweise am Ende zwanzig Minuten lang applaudieren. Nach dem Konzert fragen die Besucher: »Dürft ihr das? Ham‘se euch das erlaubt?« Ham‘se. Aber der Erfolg des Stückes macht nicht nur den Kulturfunktionären Angst. Eine Plattenveröffentlichung wird daher abgelehnt. Für Amiga, die Schallplattenfirma für »zeitgenössische Unterhaltungsmusik«, sind die Geschichten um den Lehrling Paule, der sich durch den DDR-Alltag kämpft, »nicht realistisch«. Die Hauptfigur sei ein »chronischer Miesmacher, Nörgler und Muffel«. Außerdem habe das Stück »weltanschauliche Schwächen«. Gerade mal zwei Lieder des »Paule Panke«-Spektakels darf die Band auf ihre Debüt-LP »Kille Kille« packen. Pankow-Frontmann Herzberg erinnert sich: »Die Selbstverständlichkeit, mit der es abgelehnt wurde, war auch klar. Das findet nicht statt. Das Verbot ist eine tiefe DDR-Erfahrung, da kannst du nichts machen, das ist wie Beton!« Die gleichnamige Singleauskopplung ist dennoch schnell vergriffen, das Album geht 120.000 Mal über den Ladentisch. Ein außergewöhnlicher Start für eine DDR-Rockband. Erst im Wendejahr 1989 erscheint »Paule Panke« bei Amiga – wie so oft in der DDR das Ergebnis zäher Zickzack-Kurse in der Kulturpolitik.

Die Konzert-Besucher fragten: »Dürft ihr das? Ham‘se euch das erlaubt?«

In ihrem Rocktheater »Paule Panke« thematisiert die Band Pankow diese Erfahrung. Wie kaum eine andere Band spricht sie ohne Rücksicht auf die Zensur aus, was eine ganze Generation erlebt. Der Alltag des Schlosserlehrlings Paule Panke steht für viele andere: Von den Schwierigkeiten, morgens aufzustehen, über die Monotonie bei der Arbeit bis zur Tristesse in der Freizeit. Hauptdarsteller ist der Sänger der Band, André Herzberg. Die Bühne verwandelte sich mit wenigen Requisiten zum Schlafzimmer, zur Werkstatt oder zur Disco. Das Stück beginnt mit einem Paukenschlag: André Herzberg mimt einen Kulturfunktionär und kündigt in geschwollener Sprache die Band Pankow an. Als er bekannt gibt, vor dem Konzert noch »einen dreistündigen Einführungsvortrag über die Geschichte der Beatmusik« halten zu wollen, wird er von der Bühne verjagt und das Rocktheater beginnt mit dem ersten Song »Frühstückswalzer«. Im Morgenrock gekleidet liegt André Herzberg in einem armseligen, klapprigen Eisenbett. Dann singt er: »Ich komm nicht hoch, / Ich komm nicht hoch, / Noch einmal umdrehen, / Die Gedanken sind grau, / der Magen ist flau, / die Spucke schmeckt bitter, / im Arsch ist Gewitter, / ich fühl mich so leer, / die Brust ist aus Teer.

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Los, jetzt aufstehen, / nicht mehr umdrehen, / Zähne putzen, Seife benutzen, / Kohlen holen, Schuhe besohlen, / Ofen heizen, nicht Muttern reizen. Das ist kaum zu schaffen, / ich fühl mich so schwach, / das gibt Krach, / das gibt Krach.«

Mit Pankow beginnt ein neuer Abschnitt der DDRPopmusik. Die Gruppe, die sich vordergründig nur nach einem Berliner Stadtbezirk benennt, in dem die Villen vieler Regierungsmitglieder stehen, wird für Teile der DDR-Jugend zum Inbegriff für Protest gegen die herrschenden Verhältnisse. Der Name ist eine Anspielung auf den Begriff des »Pankow-Regimes«, wie die DDR-Führung unter Wilhelm Pieck in den 1950er-Jahren abschätzig im Westen ge-


© Georg Kresse

Der Gitarrist Jürgen Ehle in Aktion. Im Lauf der Zeit wird die Band zum Sprachrohr der jungen Generation

Die Ehrlichkeit und Brisanz, mit der die Band arbeitet, bleibt bis zum Fall der Mauer ihr Markenzeichen. Auch wenn Pankow nie ein Teil der sich Anfang der

1980er Jahre entwickelden Underground-Szene der DDR sind, sondern zu den etablierten Größen im DDR-Kulturbetrieb zählen, arrangieren sie sich nicht mit dem System. Im Gegenteil: Pankow entwickeln sich zu einem Sprachrohr der jungen Arbeitergeneration und nutzen ihre Popularität für Attacken gegen das Establishment. Rückblickend meint André Herzberg: »Um die Band verstehen zu können, muss man wissen, sowohl Ehle als auch ich, wir sind im Grunde genommen … also, eigentlich sind wir Kommunisten! Richtig Linke von der Erziehung her. Also er hat ja in einer Singegruppe gespielt, um Gottes Willen! Und ich komme aus einem kommunistischen Elternhaus. Wir hatten Illusionen, wir hatten etwas vor mit unserer Kunst: Wir wollten die DDR verbessern, die Menschen, alles. Wir wollten das Gute. Das hat die Funktionäre zur Wut gebracht«. Im Jahr 1988 erscheint »Aufruhr in den Augen«, das letzte Vorwendealbum der Band. Im Song »Langeweile« heißt es: »Dasselbe Land zu lange geseh‘n, dieselbe Sprache zu lange gehört, zu lange gewartet, zu lange gehofft, zu lange die alten Männer verehrt. Ich bin rumgerannt, ich bin rumgerannt, zuviel rumgerannt, ist doch nichts passiert.« Nur ein Jahr später passiert dann doch etwas: Vor allem die jungen Arbeiterinnen und Arbeiter sind es, die in einer Abstimmung mit den Füßen ihren Überdruss gegenüber dem SED-Saat zum Ausdruck bringen. Es ist der Beginn einer Massenbewegung, die das SED-Regime zum Sturz bringen wird. Die Clique alter Männer hat den Kampf um die Köpfe der jungen Generation verloren. Die Songs von Pankow lieferten den Soundtrack dazu. ■

★ ★★ WEITERLESEN Michael Rauhut: Rock in der DDR 1964 bis 1989 (Bonn 2002).

★ ★★ Ausstellung Wer mehr über rebellische Jugendkulturen in der DDR erfahren möchte, sollte das Jugendwiderstandsmuseum in Berlin-Friedrichshain besuchen. Die Ausstellung dort haben Jugendliche gemeinsam mit Veteranen von damals konzipiert. Der Besuch ist kostenlos und die kleine Broschüre des Museums sehr zu empfehlen. Infos: http:// widerstandsmuseum. de/ GESCHICHTE HINTER DEM SONG

nannt wurde. Aber auch das ähnlich klingende Wort »Punk« steht bei der Namensfindung Pate. Das »Pankow«-Quintett mit Jürgen Ehle (Gitarre; siehe Foto), Hans-Jürgen Reznicek (Bass), Frank Hille (Schlagzeug), Rainer Kirchmann (Keyboards) und Leadsänger André Herzberg punktet mit einer Musikmischung von Punk, Rock und dem, was im Westen einige Jahre später »Neue Deutsche Welle« genannt wird. In ihren Texten ist die Band nah dran an den realen Erfahrungen, Ängsten und Hoffnungen der »kleinen Leute«. Sie spricht eine verständliche Sprache. Es ist die ihres Publikums. Der ältere Bruder des Sängers, Wolfgang Herzberg, alias Frauke Klauke, ist bis Mitte der Achtziger für die meisten Texte verantwortlich. Von Beginn an lotet die Band mit provokanten Texten und leidenschaftlichen Livekonzerten die Grenzen des Kulturbetriebes in der DDR aus. Immer wieder gibt es Verrisse im »Neuen Deutschland«, Eingriffe der Zensurbehörden und sogar Auftrittsverbote. So wirbeln die fünf Musiker die DDRMusik-Szene ordentlich auf und werden bald die »Stones des Ostens« genannt. Dabei ist Frontman Herzberg eher ein Anti-Macho: Auf der Bühne spielt er mal den Ahnungslosen, Kindlichen, Sentimentalen, der die Perversionen seiner Umwelt durch seine Ehrlichkeit entlarvt. Mal ist er wütend, rotzig und laut und singt, als wäre er auf einer Barrikade im Kampf für Gerechtigkeit.

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Š Katalog Esprit Montmartre/Hirmer Verlag, Mßnchen

Review


AUSTELLUNG

Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900 | Schirn Kunsthalle Frankfurt

Kunstwerke im Kontext Um die Kirche Sacré Coeur in Paris liegt heute eine typische Touristenmeile. Worauf sich der Mythos des Viertels Montmartre gründet, zeigt sehr anschaulich eine Ausstellung Von David Paenson kräftigen Aktbild der Malerin Suzanne Valadon. Letztere symbolisiert vielleicht am prägnantesten die gegenseitige Bereicherung dieser Malergeneration. Valadon stand nicht nur berühmten Malern Modell, als Autodidaktin entwickelte sie ihren eigenen kräftigen und mutigen Stil. Aktbilder ihres Geliebten gehören zu ihrem Werk. Und es gelang ihr, ihren Sohn Utrillo vor der Trinksucht zu retten, indem sie ihn mit Pinseln und Farben vor eine Leinwand stellte und zum Malen bewegte. Beeindruckend ist die Experimentierfreudigkeit der Künstler. Keineswegs haben sie irgendwann alle ihren »Stil gefunden« und fortan immer das Gleiche produziert. Ein wichtiger Teil der Ausstellung sind die vielen Werbeplakate für Kabaretts, die sich zu einem eigenen Genre entwickelten, in dem sich Ironie, Lust und Tragik verbinden. Die Ausstellung zeigt auch viele Fotografien aus der Zeit. So entwickelt man als Besucher beinahe das Gefühl, man würde durch das Stadtviertel selbst spazieren gehen. Die wechselnden Wohn- und Arbeitsorte der Künstler sind auf einem großen Stadtplan markiert, man sieht ganz plastisch, wer mit wem eine Weile zusammengelebt oder Ateliers geteilt hat, um Mietkosten zu sparen. Auch wird einem die zentrale Rolle von Kunsthändlern und Ausstellungen bewusst.

Aber Montmartre sollte nicht ewig währen. Bereits 1873 hatte die Nationalversammlung Gelder für den Bau einer überdimensionierten Kirche, dem Sacré Coeur, auf dem höchsten Punkt des Hügels als Symbol der »Abbüßung der Verbrechen der Kommunarden« bewilligt. Wie wichtig die Herrschenden das Projekt nahmen, zeigt sich schon am Ausmaß der Fundamente, die 33 Meter tief in den lehmigen Boden reichen, und in der Höhe des Bauwerks mit seinen 83 Metern. Fertiggestellt wurde es bezeichnenderweise im Kriegsjahr 1914. Da waren die Künstler allerdings bereits in den Stadtteil Montparnasse umgezogen. Der Besuch dieser Ausstellung ist mehr als lohnenswert. Es wird einem bewusst, dass schöpferische Betätigung kein Ergebnis eines einsamen Kampfs sein kann, sondern der vielfältigen Inspiration durch andere Künstler und das Straßenleben bedarf. Ah ja, ich entschied mich schließlich für Picassos »Famille de Saltimbanques« (Gauklerfamilie, 1905) wegen seines mitfühlenden und familiären Blicks auf soziale Verhältnisse. ■

★ ★★ AUSSTELLUNG | Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900 | Schirn Kunsthalle Frankfurt | Noch bis 1. Juni 2014 | Öffnungszeiten: Dienstag, Freitag bis Sonntag: 10 bis 19 Uhr, Mittwoch und Donnerstag: 10 bis 22 Uhr | www. schirn.de

REVIEW

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as Schwierigste an dieser Besprechung war die Auswahl eines Bilds. Mehr als 200 Werke von 26 Künstlern, erschaffen im 18. Pariser Arrondissement von der Mitte der 1880er Jahre bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg, zeigt die Kunsthalle Schirn in Frankfurt. Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune im Jahr 1871 hatte der Präfekt Georges-Eugène Baron Haussmann mit einer Kahlschlagsanierung gewaltigen Ausmaßes »das Geschwür der Armut an die Pariser Ränder« verbannt. Im Zentrum ließ er Boulevards mit Mietshäusern für die Bourgeoisie bauen. Der Hügel Montmartre wurde von dieser Gentrifizierungswelle zunächst verschont. Das Viertel blieb somit weitere vier Jahrzehnte ein Ort der bitteren Armut, der Prostitution, des Gaunertums, der Gewalt auf offener Straße, aber auch der kulturellen und künstlerischen Gärung. Diese enorme Vielfalt spiegelt sich in den Ausstellungsstücken wider – ob in den Bildern von Tänzerinnen der Maler Degas und Toulouse Lautrec, von Bettlern und Wäscherinnen des Malers Kees van Dongen, von dörflichen Ecken gemalt von Utrillo, Rusiñol und van Gogh, den wunderbar bunten und lebendigen Bildern von Cafés, Kabaretts und Tanzlokalen von Ibels, Boldini, Forain und Casas oder im so offenherzigen und

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ller Anfang ist schwer...«. Mit diesen Worten beginnt das neue Album der Berliner Band The Incredible Herrengedeck. Und richtig, den ersten Song »Prokrastination« muss man erst mal aushalten als Hörerin, die jede einzelne der besungenen Methoden des Ablenkens und Aufschiebens aus der eigenen Praxis nur allzu gut wiedererkennt. Dafür wird man im Folgenden aber auch belohnt mit einer Wundertüte voller Alltagsbeobachtungen, Agitation und Unsinn. Der Chanson-Punk des Trios besticht dabei durch musikalische Experimentierfreude und gekonnte technische Umsetzung ebenso wie durch die treffenden Texte. Viele der Songs haben eine konkrete politische Botschaft. Als lokal verankerter Band liegt Incredible Herrengedeck der Widerstand gegen die kapitalistische Verwertung der Stadt besonders am Herzen («Das Monster« auf dem neuen Album, »Kiezkiller« oder das legendäre Lied zum Bürgerentscheid gegen Mediaspree). Klassenbewusstsein ist ein wiederkehrendes Motiv, das in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck kommt. Andere Songs thematisieren eher ein allgemeines Unbehagen mit den gesellschaftlichen Zuständen und Strategien, sich ihnen zu verweigern. So ist es nicht verwunderlich, dass die Band ihre Bekanntheit nicht nur unzähligen Konzerten, sondern auch Auftritten auf Demonstrationen und politischen Veranstaltungen verdankt. The Incredible Herrengedeck ist vor allem eine Liveband. Doch das Fehlen ihrer charmanten Bühnenshow wird beim neuen Album dadurch ausgeglichen, dass jeder CD eine komplette universitäre Abschlussarbeit beiliegt. Hier werden alle Facetten der »Audioaufnahme als Medium der Selbstreflektion des Individuums in der spätkapitalistischen Gesellschaft« beleuchtet und in schönstem Wissenschaftsjargon – belabert. Das ist sehr unterhaltsam, aber eigentlich nicht notwendig, denn die Songs sprechen für sich. »Dö-

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The Incredible Herrengedeck | Alles nur Gelaber?

ALBUM DES MONATS Für einen guten Song versetzen sie sich in die Rolle der FDP oder werden zu »GangstaKommunisten«. Auch das dritte Album von The Incredible Herrengedeck hält wieder viele Überraschungen bereit Von Carla Assmann

★ ★★ ALBUM | The Incredible Herrengedeck | Alles nur Gelaber? Die Audioaufnahme als Medium der Selbstreflektion des Individuums in der spätkapitalistischen Gesellschaft | Als CD inklusive gleichnamiger Bachelorarbeit oder als mp3-Download über Bandcamp | 2014

ner« führt die skandalösen Ermittlungen über die NSU-Morde vor, ohne offen moralisch anklagend zu werden. Unterlegt mit einem flotten Rhythmus wird das ungeheuerliche Vorgehen der Behörden nur umso auffälliger. Incredible Herrengedeck haben sich auch früher schon thematisch passend verschiedener musikalischer Genres bedient. Mit Gitarre, Kontrabass und Keyboard beherrschen sie das ganze Spektrum von Deathme-

tal bis Reggae. Auf »Alles nur Gelaber?« führt die Band die Symbiose von Inhalt und Ausdruck so weit, dass neue Musikstile entstehen. »Leisepunk« (»für meine Kumpels vom Ordnungsamt«) ist als Kommentar zu den in Berlin zunehmend kontrovers geführten öffentlichen Debatten über Ruhestörung zu verstehen. Doch statt nur zu beklagen, dass für laute Musik kein Platz mehr ist in der Stadt, entwickeln Incredible Herrengedeck eine diesen Um-

ständen angemessene Alternative, eben den »Leisepunk«. Kulturkritisch wird es in »Arte vs. Sat1«, dem ersten »Kabarap« der Welt. Die mit HipHop sozialisierte Generation komme langsam in ein Alter, in dem »die Bereitschaft zur Revolution vorzugsweise im Sitzen durch pointierte Meinungsäußerungen (…) oder durch Applaus bei einer kulturellen Veranstaltung geäußert wird« (BA-Arbeit »Alles nur Gelaber«, Kap. 5.7). Daher müsse auch das politische Kabarett neue Stilformen finden, um dieser Zielgruppe gerecht zu werden. Der erste Kabarett-Rap widmet sich dem für politische Comedy klassischen Topos der Kritik an medialer Meinungsmache. Zweifellos sehr innovativ, allerdings nicht unbedingt etwas, das man sich andauernd anhören will. Andere Lieder des neuen Albums haben aber durchaus Ohrwurmcharakter. Besonders beschwingt klingt es immer dann, wenn Incredible Herrengedeck ihre Vision eines besseren Lebens gegen die Zumutungen des herrschenden Alltags ins Feld führen. Auch wenn sich zuweilen kleine Anzeichen von Verbürgerlichung eingeschlichen haben (»lecker kochen, langsam essen – YOLO!«), halten die Songs insgesamt noch immer die Werte des Punkrock hoch: Verweigerung der kapitalistischen Verwertung von Humankapital, Leben im Hier und Jetzt und unbeschwerter Konsum von Rauschmitteln. Passend dazu lässt sich die Band auch nicht von der Musikindustrie vereinnahmen. Die Produktion des Albums wurde durch eine Crowdfunding-Aktion finanziert und veröffentlicht wird es unter einer CreativeCommons-Lizenz. Das Album ist eine schöne Begleitmusik für einen aktionistischen Frühling. Incredible Herrengedeck werden auf Tour gehen und ein Blick auf die Konzerttermine unter www. herrengedeck.org lohnt sich unbedingt. Ansonsten ist natürlich zu hoffen, die Band bald wieder auf einer Demonstration hören und sehen zu können. ■


BUCH

Srecko Horvat, Slavoj Žižek | Was will Europa? Rettet uns vor den Rettern

Europa, das unbekannte Wesen Ob es um die Krise geht, um Beitritte oder aktuell die Wahlen: Europa ist ein Dauerthema. Doch über was wird da eigentlich gesprochen? Auf unterhaltsame Art sucht ein neues Buch nach Antworten auf diese Frage Von Theodor Sperlea auch, dort, wo es möglich ist, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Horvat und Žižek schreiben dabei hochaktuell und hochspannend. Wer Žižeks Vortragsstil kennt, weiß, dass hier Witze gebogen und popkulturelle Referenzen genutzt werden, bis ein Punkt ausreichend erläutert ist – und Horvat steht ihm in nichts nach. Auch der Titel »Was will Europa?« ist so ein Witz, dessen Pointe durch doppelte Übersetzung leider verloren gegangen ist. Es handelt sich um ein abgewandeltes Zitat Sigmund Freuds: »Die große Frage, die ich trotz meines dreißigjährigen Studiums der weiblichen Seele nicht zu beantworten vermag, lautet: ›Was will eine Frau eigentlich?‹« Diese Frage formulieren die Autoren aus der Sicht des Balkans an Europa in allen möglichen Facetten: Wohin will Europa, was wollen wir von Europa und was will Europa von uns? Mit einem Augenzwinkern zeigen die Kapitelüberschriften die Stoßrichtung der Texte an. Von »Warum die EU Kroatien mehr braucht als Kroatien die EU« bis zu »Shoplifters of the World unite« stehen die Zeichen auf Konfrontation. Daneben finden sich tiefergehende Analysen von Kunst und Alltagskultur, die auch als kleine Einleitung ins Denken der Autoren dienen können und Lust machen, mehr über die poli-

tische und kulturelle Lage der Welt aus Sicht dieser Philosophen zu lesen. Das Buch behandelt eine, gerade angesichts der bevorstehenden Europawahl, zentrale Frage. Kroatien ist nun im Alltag Europas angekommen. Seit seinem Beitritt ist zwar kein halbes Jahr vergangen, doch gilt das Land bereits als Sorgenkind. Die Wirtschaft ist zusammengebrochen, Sozialleistungen werden gekürzt, sogar ein Defizitverfahren wird eingeleitet. So wird Kroatien zu einem neuen Griechenland. Was können wir als Linke tun, um die neoliberale Abwärtsschraube und das kapitalistische Denken Europas zu durchbrechen? Hier liegt die Hoffnung der Autoren ganz auf Syriza. »Was will Europa?« ist eine kurzweilige, interessante Analyse der Situation in der EU aus der Sicht von Horvat, Žižek und Tsipras. Wiederholungen, die sich aus dem Format der Zusammenstellung von Beiträgen aus verschiedenen Magazinen ergeben, machen die Thesen dabei eher eindringlicher als dass sie schaden. Man muss nicht allen Lösungsvorschlägen der Autoren zustimmen, um das Buch mit Gewinn zu lesen -neue Denkanstöße gibt es allemal. ■

★ ★★ BUCH | Srecko Horvat, Slavoj Žižek | Was will Europa? Rettet uns vor den Rettern | Laika Verlag | Hamburg 2013 | 140 Seiten | 14,90 Euro

REVIEW

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icht nur DIE LINKE diskutiert vor den Europawahlen kontrovers über den Charakter und die Vision Europas, auch die Philosophen Srećko Horvat und Slavoj Žižek beschäftigt die Frage »Was will Europa?«. Ihr so betiteltes Buch ist eine Sammlung europakritischer Kolumnen, die anlässlich des EU-Beitritts von Kroatien im vorigen Jahr entstanden sind. Eingerahmt werden sie durch Beiträge des Vorsitzenden der griechischen Partei Syriza, Alexis Tsipras. Es geht um Europas Gegenwart und Zukunft, besonders um den Kampf der Länder der Peripherie; es geht um den Beitritt Kroatiens, um Griechenland und letztlich immer um Syriza. Die Analyse der Situation ist kurz und einleuchtend: Europas Retter retten nicht, sondern zerstören den Kontinent. Die Sparmaßnahmen, die bleibende Krise und die wachsende Ungerechtigkeit stärken rechte Parteien in allen Ländern. Eine nationalistische Anti-Euro-Bewegung erfreut sich wachsender Unterstützung in der Bevölkerung. Žižek und Horvat erinnern uns an den Satz Walter Benjamins, dass jeder Aufstieg des Faschismus von einer gescheiterten Revolution zeugt – deswegen sei jetzt der Zeitpunkt gekommen, zu handeln. Die Autoren rufen dazu auf, sich ergebende Chancen zu nutzen und meinen damit

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Buch

Frank Bsirske, Ellen Paschke, Berno Schuckart-Witsch (Hrsg.) | Streiks in Gottes Häusern. Protest, Bewegung, Alternativen in kirchlichen Betrieben

Christliche Zustände Eine Million Menschen arbeiten in Deutschland für die Wohlfahrtsverbände der beiden großen Kirchen. Volle Arbeitnehmerrechte haben sie jedoch nicht. Warum das so ist und wie man das ändern kann, thematisiert ein neuer Sammelband Von Christoph Timann

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★ ★★ BUCH | Frank Bsirske, Ellen Paschke, Berno Schuckart-Witsch (Hrsg.) | Streiks in Gottes Häusern. Protest, Bewegung, Alternativen in kirchlichen Betrieben | VSA | Hamburg 2013 | 216 Seiten | 14,80 Euro

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ine grundgesetzlich festgelegte Sonderstellung ist die Grundlage des speziellen Arbeitsrechts der Kirchen. Sie wird in mehreren Beiträgen des Buches »Streik in Gottes Häusern« erörtert. Die Kirchen dürfen die Arbeitsbedingungen in ihren Betrieben statt durch Tarifverträge durch sogenannte »Arbeitsvertragsrichtlinien« festlegen. Diese haben zwar etwa die gleiche Funktion, unterscheiden sich aber von einem Tarifvertrag in zwei wichtigen Punkten: Gewerkschaften haben kein Mitspracherecht und zur Durchsetzung ihres Inhalts sind keine Streiks erlaubt. Dass das nicht so bleiben darf, dafür argumentiert Berno Schuckart-Witsch unter dem Titel »Warum in Gottes Häusern gestreikt wird«. Solange die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes inhaltlich übernommen wurden, war diese Sonderstellung unproblematischer, beschreibt Ellen Pasche in ihrem Beitrag »Sich regen bringt Segen – Warum kirchliche Betriebe faire Tarifverträge brauchen«. Mit der Entwicklung zu »christlichen Wohlfahrtskonzernen«, so Norbert Wohlfahrt in seinem gleichbetitelten Aufsatz, ließen die Verbände diese De-FactoTarifbindung jedoch vielerorts fallen. Schlecht bezahlte Arbeit ist die Folge. Diese Tendenz beschreibt auch Erhard Schleitzer in einem Beitrag über den Arbeitgeberverband der Diakonie. Die prinzipielle Frage, ob man

ein Streikverbot überhaupt hinnehmen muss, thematisieren Jens M. Schubert in »Streikrecht als Grundrechtsverwirklichung« und Franz Segbers in dem Beitrag »Kein Streikrecht in den Kirchen?« In diesem Kontext spricht sich auch Bernhard Baumann-Czichon für ein »Grundrecht auf Mitbestimmung« aus. Im Zentrum des Bandes steht der Kampf für Tarifverträge, beschrieben im Beitrag »Druck auf Kirche und Diakonie – eine besondere Kampagne« von Peter Renneberg. Das Ergebnis erläutert Friedhelm Hengsbach, Jesuit und attac-Mitglied: Ein Streikrecht, um Tarifverträge überhaupt erstmal zu erzwingen, gibt es nun. Um den Inhalt bestehender Tarifverträge durchzusetzen, bleiben Streiks jedoch verboten. Ein generelles Streikrecht ist weiterhin das Ziel, aber zumindest sind Tarifverträge in Aussicht. Den ersten landesweiten Tarifvertrag wird es wohl 2014 in der niedersächsischen Diakonie geben. Auf anderen Feldern sind Kirchen und Gewerkschaften enge politische Partner. Dieses Verhältnis analysieren Norbert Feulner, Monika Neht und Klaus-Peter Spohn-Logé in dem Artikel »Dialog statt Konfrontation«. Anders als der Titel suggeriert, sprechen sich diese Autoren nicht grundsätzlich gegen Auseinandersetzungen aus. Sie warnen jedoch vor dem »Kirchenkampf« und argumentieren – an dieser Stelle schwingt

ein sozialpartnerschaftlicher Ansatz mit –, dass ein Tarifvertrag doch für beide Seiten letztlich vorteilhaft wäre. Wichtige Hintergründe liefern die Artikel zur Entstehungsgeschichte des »Dritten Wegs« und der sogenannten »Dienstgemeinschaft« in Beiträgen von Herrmann Lührs und Georg Güttner-Mayer sowie ein Artikel über die Frage von Grundrechten. Ein »christlich-loyaler Lebenswandel als Dienstpflicht« wirkt, so argumentiert Corinna Gekeler, letztlich diskriminierend, wenn beispielsweise ein religionskonformer Lebensweg selbst bei »verkündungsfernen« Berufen zum Anstellungskriterium wird. Das Buch mit insgesamt 16 Beiträgen hilft, arbeitsrechtliche Fallstricke auf diesem ungewohnten Feld zu verstehen oder sich von der Kampagne für Tarifverträge inspirieren zu lassen. Und er gibt Einblicke in einen Bereich mit ganz anderen Anforderungen an Gewerkschaften, als sie sich in den klassischen gewerkschaftlichen Tätigkeitsfeldern wie zum Beispiel in der Metallindustrie stellen. ■


Sebastian Budgen, Slavoj Žižek (Hrsg.) | Lenin Reloaded. Für eine Politik der Wahrheit

BUCH DES MONATS Anders als Marx ist Lenin kein Bezugspunkt für die heutige Linke. Dass es sich durchaus lohnen kann, den russischen Revolutionär neu zu lesen, zeigt ein gerade erschienener Sammelband Von Marcel Bois

★ ★★ BUCH | Sebastian Budgen, Stathis Kouvelakis, Slavoj Žižek (Hrsg.) | Lenin Reloaded. Für eine Politik der Wahrheit | Laika Verlag | Hamburg 2014 | 370 Seiten | 28 Euro

drei für die heutige Linke relevante Felder aus. Zunächst könne man von Lenin lernen, wie wichtig eine strategisch ausgerichtete Analyse des Kapitalismus sei. Die Linke müsse daher über die berechtigte Kritik an den »apologetischen Theorien der Globalisierung« hinausgehen. Des Weiteren betont Callinicos die Zentralität der Politik. Das Lenin-Zitat, Politik sei konzentrierte Ökonomie,

gelte noch immer und politische Agitation und Propaganda seien für die Linke unerlässlich. Außerdem betont er – auf Lenins Konzept der revolutionären Partei zurückgreifend – die Notwendigkeit der politischen Organisierung. Ohne sie sei es schwierig, der zentralisierten Macht des Kapitals effektiv entgegenzuwirken: Die Frage der Partei, »einer sozialistischen politischen Organisation, die gene-

ralisiert und auf die unzähligen Missstände fokussiert ist, die das kapitalistische System hervorbringt«, sei ein unabdingbarer Bestandteil von Lenins Erbe für die gegenwärtige Linke. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Daniel Bensaid: »Eine Politik ohne Parteien (wie immer diese genannt werden, ob Bewegung, Organisation, Liga oder Partei) endet in den meisten Fällen mit einer Politik ohne Politik.« »Lenin Reloaded« deckt eine enorme inhaltliche Breite ab. Die Themen der Texte reichen vom Einfluss Hegels auf den russischen Sozialisten über Lenin im postmodernen Zeitalter bis hin zu »Lenin und Herrenvolk-Demokratie«. Schade ist jedoch, dass sich abgesehen von Callinicos, der gelegentlich Bezug auf Žižek nimmt, keiner der Wissenschaftler um eine wirkliche Debatte mit seinen Kollegen bemüht. Zudem setzten einige der Beiträge einiges Vorwissen voraus. Dementsprechend ist das Buch nur bedingt für Einsteiger geeignet. Bei dem Sammelband handelt es sich um die Übersetzung eines Buches, das im Jahr 2007 auf Englisch erschienen ist. Ein Teil der Beiträge geht sogar auf eine bereits im Februar 2001 abgehaltene Konferenz zurück. Insofern wäre ein spezielles Vorwort zur deutschen Ausgabe mehr als angebracht gewesen. Hier hätten Budgen, Kouvelakis und Žižek beispielsweise erklären können, warum sich einige Autoren sehr ausführlich auf die ehemals einflussreiche, mittlerweile aber eher marginale globalisierungskritische Bewegung beziehen – und zugleich wichtige Neuformierungsprozesse der Linken aus den vergangenen Jahren ignorieren.Trotz dieser Kritik ist die Lektüre dieses Bandes unbedingt zu empfehlen. Etliche Autoren zeigen, dass es sich lohnt, Lenin neu zu lesen. Es bleibt zu hoffen, dass sie damit eine Diskussion in der deutschen Linken anstoßen werden. ■

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ood Bye, Lenin!« – der Titel des großen Kinoerfolgs scheint Programm im Wissenschaftsbetrieb zu sein, der den Theoretiker Lenin nahezu ignoriert. Aber auch die Linke tut sich schwer mit ihm. Insofern ist die Tatsache an sich schon bemerkenswert, dass nun eine neue Publikationen zum Werk des russischen Revolutionärs erschienen ist. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek, der Londoner Politologe Stathis Kouvelakis und Sebastian Budgen, Redakteur der englischsprachigen Zeitschrift »Historical Materialism«, haben diesen Sammelband gemeinsam herausgebracht. Sie nähern sich Lenin nicht nur aus historischer Perspektive, sondern suchen auch nach dem praktischen Nutzwert seiner Theorien für die Gegenwart: »Für uns steht ›Lenin‹ nicht für eine alte dogmatische Gewissheit.« Der Lenin, »den wir rekonstruieren wollen«, sei jener, der in seiner Zeit den Marxismus neu erfunden habe. Lenin wiederzuholen oder ihn zu »reloaden« bedeute, seine Ansichten auf die heutige Situation zu übertragen. Den Herausgebern ist es gelungen, eine ganze Schar prominenter marxistischer Intellektueller für ihr Vorhaben zu gewinnen. So finden sich in dem Band unter anderem Beiträge von Kevin Anderson, Alain Badiou, Alex Callinicos, Terry Eagleton, Domenico Losurdo, Antonio Negri und dem inzwischen verstorbenen Daniel Bensaid. Die Frage, was Lenin für sie heute bedeute, beantworten die verschiedenen Autoren sehr unterschiedlich. Negri sieht etwa die Notwendigkeit, politische Strategien zu entwickeln, die sich zwar an Lenin orientieren, aber über ihn hinausgehen. Ein weiter gefasster Analyserahmen sei notwendig für das Verständnis der Welt, die sich seit Lenins Zeiten grundsätzlich verändert habe. Sehr nahe am russischen Revolutionär bewegt sich dagegen Callinicos. Er macht

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Der Norweger Tomas Espedal, 1961 in Bergen geboren, ist einer der bedeutendsten Autoren seines Landes und eine singuläre Erscheinung seiner Zunft. Hierzulande sind seine Bücher noch immer ein Geheimtipp. Wach und unvoreingenommen, schonungslos und unsentimental konfrontiert er sich und den Leser mit den Abgründen des eigenen Ich. Sein erstes auf Deutsch erschienenes Buch ist mittlerweile zu einem meiner Lieblingsbücher geworden und wer sich auf Autor und Gegenstand einlässt, wird womöglich als »ein Anderer« aus der Lektüre hervorgehen. Das Gehen ist die elementarste Art, sich fortzubewegen, aber auch und nicht zuletzt die Suche nach einem Ziel, eine mögliche Bewegung hin zum eigenen Ich. Was auf den ersten Blick als ein weiteres jener berühmt-berüchtigten »Ich-binmal-weg-Bücher« daherzukommen scheint, entfaltet bei der Lektüre eine geradezu atemberaubende Intensität. Espedals autobiografisch grundierter Text ist Roman, Tagebuch, Essay und Reisebericht gleichermaßen. Ausgangspunkt seines Erzählens ist eine Schreibkrise des Ich-Erzählers, eines Schriftstellers, der von seiner Geliebten verlassen wurde und angefangen hat zu trinken. Espedal will dem Leser nichts erklären oder gar deuten, sein Stilmittel ist die kühle (aber nicht kalte) Aufzählung und Benennung. Diese Beschränkung auf das Wesentliche, ja Körperhafte, trägt bedeutend zur Faszination des Romans bei. Der Norweger legt mit »Gehen« auch einen wunderbaren Text über die Selbstversicherung eines Künstlers vor, der unter allen Umständen eine wie auch immer entstandene Unproduktivität hinter sich lassen möchte. Das Gehen und Wandern hat hier so gar nichts Liebliches und Tümelndes. Es ist vielmehr eine eindringliche Metapher für den Weg zu einem Ich, das es sich erst zu er-

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Mein Lieblingsbuch Von marx21-Leser Manfred Schäfer

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Gehen oder Die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen« von Tomas Espedal

★ ★★ Tomas Espedal | Gehen oder Die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen | Matthes & Seitz | Berlin 2011 | 240 Seiten | 19,90 Euro

arbeiten, zu er-gehen gilt. »Es gelang mir weder, verheiratet zu sein, noch auf dem Land zu leben, es gelang mir nicht, das Schreiben aufzugeben. Es gelang mir nicht, mich selbst loszuwerden. Es gelang mir nicht, ein Anderer zu werden.« Es sind oft Bilder des Verlorenseins, melancholische Blicke auf die eigene Begrenztheit und die Brüche in der Biografie, die dieses Buch gleichermaßen zu einem Sinnen- wie Denkerlebnis machen. Espedals erzählerische Miniaturen sprechen von der eigenen Unbehaustheit, von Trauer und Vergeblichkeit und schaffen erkenntnishafte Momentaufnahmen. »Wie begegnet man dem Nichts? Man wartet. Man denkt. Man raucht, trinkt, tut alltägliche Dinge, als wäre alles völlig normal. Tatsächlich ist man jedoch dabei zu verschwinden. Vielleicht für immer fort zu sein, benimmt sich trotzdem, als lebte man weiter, als könnte man nicht sterben. Man raucht und trinkt, man sitzt und wartet, und weiß nicht, worauf man wartet.« Es sei an dieser Stelle jedem geneigten Leser empfohlen, sich mit dem Norweger Tomas Espedal auf diese ganz besondere Expedition ins eigene Ich zu begeben. Diese Art der inneren wie äußeren Fortbewegung mag eine Ahnung davon vermitteln, was es bedeutet, ein »wildes und poetisches Leben zu führen«. Und ganz nebenbei gehen wir mit dem Autor noch durch Norwegen, Deutschland, die Türkei bis nach Griechenland. Um sich am Ende im heimischen Wohnzimmer wiederzufinden und sich über die Lektüre eines erzählerischen Meisterwerks zu freuen. Selten ist der Traum von Verwandlung und Neuanfang eindrücklicher, verführerischer und wahrhaftiger literarisch geformt worden wie hier. ■


BUCH

Andreas Kemper | Rechte Euro-Rebellion. Alternative für Deutschland und Zivile Koalition e.V.

Lauter kleine Sarrazins? Die Europawahl könnte für die AfD ein Erfolg werden. Ein neues Buch erklärt die Strategie der Anti-Euro-Partei und zeigt, wen sie damit anspricht Von Phil Butland

den. Diese versucht die AfD mit ihrer Hetze gegen »Multikulti-Umerziehung« und dem Feindbild vom »Hartz IV Milieu männlichen Geschlechts, türkischer Herkunft und muslimischen Glaubens mit Migrationshintergrund« anzusprechen. Doch es geht um mehr als nur Rassismus. Die Partei vertritt »die Interessen einer bestimmten Kapitalfraktion« und bildet ein »Sammelbecken für die Christkonservativen«. Zu erwarten ist, dass die AfD sich an anstehenden sozialen Kämpfen etwa gegen Arbeitslose und das Abtreibungsrecht beteiligen wird. Kemper zählt neun verschiedene Interessengruppen auf, die in der AfD zusammenkommen, von »NPD-Eisbrechern« und Islamhassern bis zu rechten CDU-Anhängern. Er sieht die AfD als die Sarrazin-Partei, in die Sarrazin selbst nicht eingetreten ist. Aber wie können wir die AfD aufhalten? Hier sind Kempers Schlussfolgerungen leider schwach. Seiner Argumentation zufolge müsste die CDU wieder konservativer werden, dann »hätte die AfD kaum eine Zukunft, sie würde, wie andere rechte Parteien zuvor, als rechtspopulistisches Sammelbecken erfolglos unter einem Prozent bleiben«. Aber die Krise, die Parteien wie der AfD in Europa erst Auftrieb verschafft, ist nicht mit einer

rechten CDU zu lösen. Stattdessen muss sie offensiv im Sinne der notleidenden Mehrheit bekämpft werden, mit linken Hoffnungsträgern, die aktiv in sozialen Bewegungen eingreifen. Obwohl Kemper selbst links denkt, scheint er ratlos und stellt keine Alternative vor. Das Buch hat weitere Schwachstellen. Auf den ersten neunzig Seiten wiederholen sich Fakten und Zitate. Insgesamt mangelt es an Analysen und Erklärungen. Zum Beispiel schreibt Kemper: »Auch wenn das politische Schlagwort ›Political Correctness‹ nicht mehr im Wahlprogramm erscheint, verfolgt die AfD weiterhin die Anti-PCStrategie«. Die Kluft zwischen dem, was die AfD sagt und dem, was sie tut, wäre sehr interessant, wird jedoch im Buch nicht diskutiert. Auch erwähnt der Autor ständig »AfD-nahe« oder »AfD-ähnliche« Organisationen, ohne deren konkrete Beziehung zur Partei zu erläutern. Im Kampf gegen die AfD brauchen wir ein klares Verständnis, warum sie plötzlich so erfolgreich ist. Eine solche tiefere Analyse, wie sie für die kommende Zeit notwendig ist, muss allerdings noch geschrieben werden. ■

★ ★★ BUCH | Andreas Kemper | Rechte EuroRebellion. Alternative für Deutschland und Zivile Koalition e.V. |Edition Assemblage | Münster 2013 | 120 Seiten | 12,80 Euro

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ei dem Versuch, in den Bundestag zu kommen, ist die Alternative für Deutschland (AfD) zwar gescheitert. Doch ohne die Fünfprozenthürde und mit Europa als Kernthema müssen wir davon ausgehen, dass sie bei der Wahl im Mai mehr Glück haben wird. Höchste Zeit also, danach zu fragen, woher die Unterstützung für diese Partei kommt und wie wir die Rechtspopulisten stoppen können. In seinem – kurz vor der Bundestagswahl veröffentlichten – Buch »Rechte Euro-Rebellion« versucht Andreas Kemper, Antworten hierauf zu finden. In den ersten Kapiteln und am Schluss liefert er viele nützliche Informationen über den sozialen Charakter der AfD. Die Teilnehmer von AfD- und Sarrazin-Veranstaltungen »scheinen sich nicht großartig zu unterscheiden«. Überdurchschnittlich stark vertreten sind Männer aus der Mittelschicht. Kemper berichtet, »die AfD werde vor allem von Mittelständlern und Familienunternehmen unterstützt. Größere Unternehmen zögerten noch, heißt es. Sie wollten abwarten, wie sich die Partei weiter entwickle«. Auf den ersten Blick gibt es große Überschneidungen mit der Zielgruppe von traditionellen Faschisten: verängstigte Kleinbürger, die weder Kapital noch Gewerkschaften auf ihrer Seite haben, um vor der Wirtschaftskrise geschützt zu wer-

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BUCH

Cornelia Heintze | Die Straße des Erfolgs: Rahmenbedingungen, Umfang und Finanzierung kommunaler Dienste im deutsch-skandinavischen Vergleich

Mehr Staat, weniger Krise Die Schuldenbremse setzt den Kommunen zu. Auch vor den notwendigsten Dienstleistungen macht sie nicht halt. Ein neues Buch liefert empirisch begründete Argumente, warum eine sichere öffentliche Daseinsvorsorge trotzdem kein utopischer Traum ist Von Olaf Gerlach

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★ ★★ BUCH | Cornelia Heintze | Die Straße des Erfolgs: Rahmenbedingungen, Umfang und Finanzierung kommunaler Dienste im deutsch-skandinavischen Vergleich | Metropolis-Verlag | Marburg 2013 | 594 Seiten | 38 Euro

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arx freute sich im ersten Band des Kapitals darüber, dass in anderen Ländern von den erfolgreichen Kämpfen der englischen Arbeiterinnen und Arbeiter zur Verkürzung des Arbeitstages gelernt wurde. 150 Jahre später plädiert Cornelia Heintze dafür, das Sozialstaatsmodell der nordischen Länder als Argument zu verwenden, um sich gegen die Zunahme von Ungleichverteilung und Armut im restlichen Europa zu wehren. Ein Vorschlag mit gewichtigem Vorteil. Denn der Verweis auf ein seit vielen Jahren erfolgreicheres Modell kann mit den üblichen Totschlagargumenten (nicht finanzierbar, treibt die Unternehmen aus dem Land) nicht so leicht vom Tisch gewischt werden. Mit einer höheren Staatsquote werden in skandinavischen Ländern umfangreiche kommunale Dienstleistungen finanziert: Der Anteil des kommunalen Sektors am Bruttoinlandsprodukt liegt dort bei etwa zwanzig Prozent, in Deutschland bei fünf Prozent. Das Geld fließt in die Kultur, die Kinder- und Jugendhilfe, vor allem aber in die Unterstützung älterer Menschen und in die frühkindliche Bildung. Dadurch werden vor allem Frauen von diesen vormals familiär erbrachten Sorgeleistungen entlastet. Aber nicht allein der Umfang dieser Dienstleistungen macht

den Unterschied. Während in Deutschland achtzig bis neunzig Prozent dieser Dienstleistungen von freien, gemeinnützigen oder gewinnorientierten Einrichtungen erbracht werden und sich nur zehn bis zwanzig Prozent in direkter kommunaler Trägerschaft befinden, ist es in Skandinavien genau umgekehrt. Das ermöglicht dem Staat in Form der Kommunen, für eine hohe Qualität sowohl bei den Dienstleistungen als auch bei Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zu sorgen. Ähnliches gilt für Energie, Verkehr, Bankwesen, Kommunikation und Post, den Immobilienbereich und die Gesundheitsversorgung. Zwar sind deren Dienstleistungen nicht kostenlos, aber in diesen Schlüsselbereichen wurde in Skandinavien nicht oder nur wenig privatisiert. Und auch hier wird der dadurch geöffnete Spielraum genutzt zur Gestaltung guter Arbeitsbedingungen (etwa Ausschluss prekärer Arbeitsbedingungen, Zugang zu Weiterbildung, Integration Benachteiligter) sowie für wirksame Frauenförderung – etwa durch Frauenquoten und familienfreundliche Arbeitszeiten. Insgesamt fungiert der öffentliche Bereich aufgrund seiner Dimension sowie seiner qualitativen Ausgestaltung bei Arbeitsbedingungen und der Bezahlung auch für die private Wirtschaft als Vorbild. Reicht das nicht aus, wird juristisch

nachgeholfen. So verordnete das norwegische Parlament im Jahr 2003 denjenigen der 500 größten Aktiengesellschaften den Entzug der Börsennotierung, die bis 2008 in den »Boards of Directors« (so etwas wie der Aufsichts- oder Verwaltungsrat) keine Frauenquote von vierzig Prozent einführten. »Das nordische Modell mag Schrammen haben, aber es funktioniert«, resümiert Heintze. Während mit der »doppelten Umverteilung von unten nach oben und vom Staats- in den Privatsektor« in vielen anderen Ländern die Krisendynamik verschärft wurde, blieben die nordischen Länder auf ihrer »Straße des Erfolgs« und damit (Ausnahme: Island) von der Krise weitgehend verschont. Gewiss ist die skandinavische Mischwirtschaft nicht der antikapitalistisch-revolutionäre große Wurf. In einer Konstellation jedoch, in der der deutsche Sozialabbau der letzten fünfzehn Jahre in breiten Bevölkerungsschichten als alternativloses Vorbild für ganz Europa akzeptiert wird, ist der Nachweis auf eine machbare Alternative, mit der die konkreten Lebensumstände der gesamten Bevölkerung verbessert werden können, ein wichtiger Baustein im Kampf gegen die neoliberale Hegemonie. ■


V

Auch die Kolleginnen und Kollegen anderer linker Publikationen haben sich den Debatten rund um den Ersten Weltkrieg ausführlich gewidmet. In der »SoZ – Sozialistische Zeitung« (April 2014) erklärt Arno Klönne den »Verrat« der deutschen Sozialdemokratie, die im Reichstag für die Kriegskredite stimmte. Dieter Braeg beschreibt, wie damalige Schriftsteller den Krieg verarbeitet haben. Den Schwerpunkt rundet ein zeitgenössischer Beitrag des Kriegsgegners Anton Pannekoek ab.

»Rosalux – Journal der Rosa-Luxemburg-Stiftung« (Nr. 1/2014) widmet dem »Nachhall der Geschichte« ebenfalls einen Schwerpunkt. In verschiedenen Artikeln zeichnet die Redaktion nach, wie in der Öffentlichkeit um die Deutung des Weltkrieges gerungen wird. Anders als Christopher Clark meint der Historiker Salvador Oberhaus weiterhin, dass Deutschland und Österreich-Ungarn die Hauptschuld am Krieg trugen. Ob Kampf für bezahlbaren Wohnraum oder Widerstand gegen neoliberalen Umbau des Lebensraums, soziale Konflikte nehmen zunehmend spezifisch städtische Formen an. Unter dem Titel »Vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution« versammelt »Emanzipation. Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis« (3. Jg., Nr. 2, Winter 2013) theoretische Hintergrundartikel ebenso wie Analysen aktueller urbaner Kämpfe. Sichtbar werden so die Chancen, aber auch die Grenzen raumbezogener Forderungen und Bewegungen.

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★ ★★ WEBLINKS Sozialismus: www.sozialismus.de SoZ: www.sozonline.de Rosalux: www.rosalux.de Emanzipation: www.emanzipation.org Labournet: http://de.labournet.tv Z.: www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de

Im Januar haben italienische Arbeiterinnen und Arbeiter des Logistikbereichs erfolgreich für einen Tarifvertrag und kürzere Arbeitszeiten gestreikt. Sie blockierten die Warenlager und konnten alle ihre Forderungen durchsetzen. Der kurze Dokumentarfilm »Eine Woche der Leidenschaft« (Italienisch mit deutschen Untertiteln) auf der Website labournet.tv dokumentiert ihren Kampf. »Komponisten aller Länder, vereinigt euch« lautet der Titel eines Beitrags in der neuen »Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung« (Nr. 97, März 2014). Er gehört zum Schwerpunkt »Musik und Gesellschaft«, mit dem die Kolleginnen und Kollegen aufzeigen wollen, worin sich der »gesellschaftliche Charakter von Musik zeigt und wie er gefasst werden kann«. ■

REVIEW

or einhundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Kaum ein anderes historisches Ereignis hat in der letzten Zeit eine derartige mediale Beachtung gefunden. Obwohl sich der Kriegsbeginn erst im Sommer jährt, sind schon jetzt zahlreiche Filme, Bücher und andere Publikationen erschienen. Christopher Clarks »Die Schlafwandler« befindet sich seit Monaten auf den Bestsellerlisten. Der australische Historiker stellt in seinem Buch die bislang weit verbreitete Einschätzung infrage, dass Deutschland die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Kriegs trug. Warum ein Werk mit dieser Botschaft gut in die gegenwärtige politische Landschaft passt, erklärt Gerhard Stuby in der Zeitschrift »Sozialismus« (Nr. 3/2014): »Will man (auch militärische) Verantwortung in der Welt übernehmen, wie Bundespräsident Gauck vorschlägt, kommt Entlastung von Verantwortung für den Ersten Weltkrieg im richtigen Moment.« Ähnlich bewertet Klaus Wernecke in »Sozialismus« (Nr. 4/2014) den zweiten Bestseller zum Thema, Herfried Münklers Buch »Der Große Krieg«. Hier diene die Neubewertung der deutschen Rolle während des Kriegs ebenfalls dem Ziel, die Basis für eine im Gauckschen Sinne »verantwortungsvollere«, also noch militaristischere Politik Deutschlands zu legen.

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Preview © DIE LINKE


PROTEST

Blockupy | lokale Aktionstage 15. bis 25 Mai

Eine neue Bewegung wächst heran Zum dritten Mal wollen Aktivistinnen und Aktivisten aus ganz Europa in Frankfurt gegen die Macht der Banken protestieren. Damit Blockupy auch 2014 ein Erfolg wird, startet die Mobilisierung bereits mit Aktionstagen im Mai Von Tim Herudek lisierung und eine Verknüpfung mit lokalen Kämpfen und Themen. Die internationale Ausrichtung ist eine Antwort auf nationalistische und wohlstandschauvinistische Krisenstrategien. Die Aufstände in Griechenland, die Massenbewegungen in Portugal und Spanien, die Selbstorganisierung von Flüchtlingen sowie die Generalstreiks im Baskenland sind Teil einer linken Bewegung gegen die Verarmungspolitik der Troika. Zwischen den Jahren 2000 und 2007 war die globalisierungskritische Bewegung in Europa dadurch gekennzeichnet, dass hunderttausende Menschen aus verschiedenen Ländern zu Gipfelprotesten zusammenkamen. Seit Beginn der Krise im Jahr 2008 finden vor allem große Abwehrkämpfe auf nationaler Ebene statt. Trotz vieler Versuche, eine gemeinsame Abwehrstrategie zu entwickeln, sind hunderte Initiativen, Gruppen und Strömungen vor allem mit solidarischen Selbsthilfeprojekten auf lokaler Ebene beschäftigt. Selbst Generalstreiks und Massendemonstrationen konnten die Sparmaßnahmen in nur wenigen Fällen verhindern oder abmildern. Die nunmehr dreijährige Vernetzungsarbeit durch das Blockupy-Bündnis ermöglicht eine gemeinsame europäische Antikrisenbewegung. Die Blockupy-Aktionstage im Jahr 2013 haben gezeigt, dass es ein großes Bedürfnis innerhalb des aktivistischen Milieus gibt, wieder verstärkt Klassenkämpfe auf lokaler Ebene zu organisieren. In Bewegungen wie der für das Recht auf Stadt, dem Refugee-Strike, der Care-Revolution und auf Streikkonferenzen rückt die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt. Vor allem die Verbindung mit laufenden Arbeitskämpfen spielt eine immer größere Rolle. Aktivistinnen und Aktivisten aus der LINKEN spielen hierbei oft eine aktive Rolle und müssen es auch weiterhin tun. ■

★★★

PROTEST | BlockupyAktionen finden dieses Jahr am 17. Mai in Berlin, Düsseldorf, Hamburg und Stuttgart statt. Eine zentrale Demonstration in Frankfurt am Main folgt im Herbst, am Tag der Eröffnung des neuen EZB-Gebäudes Weitere Infos unter: https://blockupy.org

PREVIEW

A

uch im Jahr 2014 will das Bündnis Blockupy massive Proteste des zivilen Ungehorsams gegen die Europäische Zentralbank organisieren. Dieser Widerstand könnte in der Tradition der globalisierungskritischen Bewegung zum gemeinsamen Rahmen für unterschiedliche soziale Kämpfe werden. Gleichzeitig manifestiert sich mit den vielen lokalen Bündnissen eine neue Verankerung sozialer Proteste vor Ort. Es gibt viel zu tun. Den Anfang machen die Aktionstage in der Zeit vom 15. bis 25. Mai 2014. Lokale Bündnisse planen Demonstrationen und Aktionen für den 17. Mai in Berlin, Hamburg, Düsseldorf und Stuttgart. Am 15. Mai wird es in Brüssel Proteste anlässlich eines Treffens europäischer Wirtschaftseliten geben. Aus Nordrhein-Westfalen ist bereist ein Bus dorthin organisiert. Am 25. Mai finden außerdem die Europawahlen statt. Für DIE LINKE ist das eine gute Gelegenheit, um Bankenmacht, Verarmungs- und Krisenpolitik miteinander zu verknüpfen. Vom 15. bis 18. Mai sind alle Kreisverbände aufgerufen, im Rahmen ihres Europawahlkampfes einen Blockupy-Aktionstag mit einzubauen. Hierzu wird ihnen im April ein Infound Arbeitspaket geschickt. Trotz der umfangreichen Mobilisierung ist jedoch die Aktionswoche im Mai nur der Vorlauf für das große Protestereignis im Herbst. Dann soll nämlich der neue Turm der Europäischen Zentralbank, an dem derzeit noch gebaut wird, eröffnet werden. Europaweit gibt es eine Gegenmobilisierung mit dem Ziel, die Eröffnung durch massenhafte Blockaden zu verhindern. Dazu plant das Bündnis ein politisches Gegenevent mit Camp, Kulturveranstaltungen und vielem mehr. Besonders zwei Aspekte kennzeichnen Blockupy: eine internationalistische Ausrichtung in der Mobi-

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RATSCHLAG DER LINKSFRAKTION | Pflege am Boden? Politische und gewerkschaftliche Strategien gegen den Pflegenotstand in Krankenhäusern

»Gewerkschaftliche und politische Kämpfe zusammenführen« In deutschen Krankenhäusern fehlen 162.000 Stellen, allein 70.000 in der Pflege. Die Große Koalition wird den Kostendruck im Gesundheitsbereich noch verschärfen. Strategien gegen diese kranken Zustände entwickelt ein Ratschlag der Linksfraktion Interview: Carla Assmann Am 27. Juni veranstaltet die Linksfraktion in Kassel einen bundesweiten Krankenhausratschlag. Worum geht es dort? Seit zwanzig Jahren werden Krankenhäuser unter massiven Sparzwang gesetzt. Besonders betroffen ist die Pflege. Es gibt keine Obergrenze dafür, wie viele Patientinnen und Patienten eine Pflegekraft betreuen darf. Dementsprechend muss immer weniger Personal immer mehr Patienten versorgen. Zwischen 1995 und 2012 wurden in allgemeinen Krankenhäusern 37.000 Pflegestellen abgebaut – im gleichen Zeitraum stieg aber die Zahl der jährlichen Krankenhausaufenthalte um 2,4 Millionen. Im BWL-Sprech heißt das dann: »In Deutschland wird ein Krankenhausfall mit relativ geringem personellen Input produziert«. So formulierte es ein Professor für »Management im Gesundheitswesen«. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich ein Pflegenotstand, der die Gesundheit von Patienten und Beschäftigten gefährdet. Kann man denn nichts dagegen tun? Doch, an der Berliner Charité, dem größten Universitätsklinikum in Europa, findet gerade eine einzigartige Tarifbewegung statt: Die Kolleginnen und Kollegen fordern nicht mehr Geld, sondern mehr Pflegekräfte für die Patientinnen und Patienten. Ihr Motto lautet: »Mehr von uns ist besser für alle!« Diese Auseinandersetzung macht Mut: Gesundheitsarbeiterinnen können etwas gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen tun, wenn sie sich organisieren und kollektiv zur Wehr setzen. Zahlreiche gewerkschaftliche Betriebsgruppen in anderen Krankenhäusern wollen ähnliche Wege gehen. Genau so lassen sich die stetigen Verschlechterungen umkehren. Die Beschäftigten 78

Harald Weinberg

Harald Weinberg ist gesundheitspolitischer Sprecher der LINKEN im Bundestag. ★ ★★ DER Ratschlag Freitag | 27. Juni 2014 | 11 bis 17 Uhr Philipp-Scheidemann-Haus | Holländische Str. 72–74 | Kassel Informationen und Anmeldung unter: www.linksfraktion.de/krankenhausratschlag Unter anderem mit: Bernd Riexinger (Vorsitzender DIE LINKE) Sylvia Bühler (ver.di, Leiterin des Bundesfachbereichs Gesundheit und Soziales) Harald Weinberg (MdB, gesundheitspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE)

müssen für ihre Interessen streiten – und streiken. Das neoliberale Gesundheitssystem wird nur durch breit geführte Auseinandersetzungen angreifbar. Was ist das Ziel der Konferenz? Ver.di fordert – ebenso wie DIE LINKE – eine gesetzliche Personalbemessung für alle Krankenhäuser. Ohne massiven Druck von unten, ohne eine Ausweitung der Tarifbewegungen für mehr Personal, wird es eine solche Regelung aber nicht geben. Durch den Krankenhausratschlag

wollen wir unterschiedliche gewerkschaftliche und politische Strategien zusammenführen und gemeinsam nächste Schritte entwickeln. Dabei geht es nicht nur um die Beschäftigten, denn gute Arbeitsbedingungen in der Pflege sind auch im Interesse der Patienten. Arbeitskämpfe im Krankenhaus sind immer auch Kämpfe um die öffentliche Meinung, deswegen ist Bündnis- und Öffentlichkeitsarbeit hier besonders wichtig. Und wer kann teilnehmen? Wir wollen die Auseinandersetzungen für eine bundesweite Personalbemessung mit den Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen gemeinsam führen. Neben Betriebs- und Personalräten, Gewerkschaftssekretären und Beschäftigten in Krankenhäusern sind alle herzlich eingeladen, die sich als (potenzielle) Patienten, Unterstützerinnen und Unterstützer in die Auseinandersetzungen einmischen wollen. Auch diejenigen, die sich in der gerade entstehenden Bewegung »Pflege am Boden« engagieren, möchten wir ansprechen. Für betriebliche Interessenvertretungen wurden Anträge auf Anerkennung als Bildungsveranstaltung gestellt. Was wird auf der Konferenz besonders interessant? Ich bin sehr gespannt, wie in den Workshops der Austausch über die unterschiedlichen Ansätze und Strategien verläuft. Ich hoffe, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer viele Anregungen und neue Motivation für die bevorstehenden Kämpfe gewinnen. Auch auf die Grundsatzreferate von unserem Parteivorsitzenden Bernd Riexinger und meinem ehemaligen Hochschullehrer Frank Deppe freue ich mich. ■


Politischer Islam – eine marxistische Analyse | von Chris Harman | 84 Seiten, 3,50 Euro | ISBN 978-3-934536-23-4 | 2012

Wie frei ist die Frau? | mit Beiträgen von Judith Orr, Katrin Schierbach, Maya Cohen-Mosler | 53 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 9783-934536-33-3 | 2009

Ché Guevara und die kubanische Revolution | von Mike Gonzales | 112 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-32-6 | 2009

Islam, Rassismus und die Linke | mit Beiträgen von Marwa alRadwany, Stefan Ziefle, Volkhard Mosler, David Crouch | 37 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-93453634-0 | 2009

Wieviel Demokratie verträgt der Kapitalismus? – der Staat, das Kapital und die Linke | mit Beiträgen von Colin Barker, Chris Harman, Yaak Pabst, Win Windisch | 46 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-38-8 | 2010

Wer war Lenin? | von Ian Birchall | 48 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-34-0 | 2009

NIE WIEDER – ein Anti-Nazi Reader | mit Beiträgen von Christine Buchholz, Leo Trotzki, Alex Callinicos und Stefan Bornost | 60 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-41-8 | 2010

Die ägyptische Revolution | von Sameh Naguib | 43 Seiten, 2 Euro | ISBN 978-3-934536-20-3 | 2011

Der Markt versagt – eine marxistische Antwort auf die Krise | mit Beiträgen von Chris Harman, Tobias ten Brink | 46 Seiten, 2 Euro | ISBN 978-3934536-14-2 | 2009

BESETZT! – eine kurze Geschichte der Betriebsbesetzungen | von Dave Sherry | 56 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3934536-22-7 | 2012

Marxismus und Anarchismus | von John Molyneux | 58 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3-934536-42-5 | 2013

Rassismus – Meinungsmacher, Ideologien, Gegenkräfte | theorie21 Nr. 2/2012 | mit Beiträgen von Alex Callinicos, Deepa Kumar, Kate Davison, Volkhard Mosler, u.a. | 186 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-60-9

Arabellion – zur Aktualität der Revolution | theorie21 Nr. 1/2012 | mit Beiträgen von Christine Buchholz, Anne Alexander, Volkhard Mosler, u.a. | 212 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-49-4

Marxismus & Gewerkschaften | theorie21 Nr. 1/2013 | mit Beiträgen von Bill Dunn, Luigi Wolf, Olaf Klenke, Heiner Dribbusch, Frank Renken, Jürgen Ehlers, u.a. | 338 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-48-7

Die revolutionären Ideen von Karl Marx | von Alex Callinicos | 277 Seiten, 16,80 Euro | ISBN 978-3-89965-476-9 | 2011

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