marx21 Ausgabe Nummer 36 / 2014

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marx21 03/2014 | Juli / August / September | 4,50 EURO | marx21.dE MAGAZIN FÜR INTERNATIONALEN SOZIALISMUS

Brasilien Weltmeister im Widerstand Ukraine Die Macht der Oligarchen Brandenburg Bilanz einer Regierungsbeteiligung

Bernd Riexinger

über DIE LINKE in Deutschland und die Polarisierung in Europa

Fanny Zeise

stellt die Konferenz »Erneuerung durch Streik II« vor

Panagiotis Sotiris meint, die Linke sollte euroskeptischer werden

Erich Kästner Leben und schreiben in düsteren Zeiten Marvel Comics Jenseits der Mehrheitsgesellschaft

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Warum sich die deutsche Außenpolitik in den vergangenen hundert Jahren weniger verändert hat, als Gauck und Merkel behaupten.

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Österreich 4,70 EURO SCHWEIZ 7,50 CHF

Irak Der gescheiterte Staat


Liebe Leserinnen und Leser,

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or hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Lange haben wir uns gefragt: Können wir unser Heft mit einem historischen Thema aufmachen? Interessiert das überhaupt Politischer Islam – eine marWie frei ist die Frau? | mit Ché Guevara und die kubanijemanden? Frage hat von selbst be-| von Mike xistische Analyse | von Chris DieseBeiträgen von sich Judithmittlerweile Orr, Katrin sche Revolution antwortet. Nicht der Kriegsbeginn schon seit Monaten meHarman | 84 Seiten, 3,50nur, Euro dass | Schierbach, Maya Cohen-Mosler Gonzales | 112 Seiten, 6,50 Euro ISBN | 53Jahrestag Seiten, 2,50 zuvor. Euro | ISBN 978| ISBNbekommt 978-3-934536-32-6 | 2009 dial978-3-934536-23-4 präsent ist wie| 2012 kaum ein Mittlerweile 3-934536-33-3 | 2009 das Ganze auch noch eine aktuelle Komponente: Zum einen drängt Bundespräsident Joachim Gauck – ganz in der Tradition des Kaisers – vehement wie nie zuvor auf deutsche Militäreinsätze. Zum anderen zeigen die großen Krisen in der Ukraine und im Irak, wie instabil unsere Weltordnung ist. Ähnlich war es vor hundert Jahren: Die Jahrzehnte vor 1914 waren von Instabilität, vom rasanten Auf- und Abstieg großer Mächte und von weitreichenden diplomatischen und militärischen Konflikten geprägt. Grund genug, in diesem Heft einen Bogen von 1914 bis 2014 zu schlagen. Los geht es auf Seite 16. Wie schon bei vergangenen Ausgaben hatten wir auch dieses Mal tatkräftige Unterstützung von einer Praktikantin: Ronda Kipka hat Texte geschrieben, Fotos recherchiert – und vor allem: Interviews geführt. Gleich zwei haben den Weg in diese Ausgabe geschafft. Während der Rest der Redaktion die Fußballweltmeisterschaft vor dem Fernseher verfolgte, sprach sie mit dem Aktivisten Sean Purdy aus São Paulo. Er Wer war Lenin?ihr | von NIE WIEDER ein Anti-Nazi Die ägyptische Revolution | berichtete vonIanden Protesten, der –Parteienlandschaft und den GeBirchall | 48 Seiten, 2,50 Euro Reader | mit Beiträgen von von Sameh Naguib | 43 Seiten, werkschaften in Brasilien. Nachzulesen auf Seite 48. | ISBN 978-3-934536-34-0 | 2009 Christine Buchholz, Leo Trotzki, 2 Euro | ISBN 978-3-934536-20-3 Alex Callinicos und Stefan Born-

| 2011

Einige Wochen zuvor trafenost sich und Redaktionskollege Da| 60Ronda Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-41-8 | 2010 vid Maienreis mit Bernd Riexinger, dem Parteivorsitzenden der LINKEN. Bernd hatte gerade bei unserem Kongress »MARX IS' MUSS« gesprochen, da nutzten die beiden die Gelegenheit, ihn zu aktuellen Ereignissen ebenso zu befragen wie zu seiner politischen Vergangenheit. Wer wissen will, wovon ihm seine Eltern einst abrieten, sollte einen Blick auf Seite 62 werfen. Apropos »MARX IS' MUSS«: Unser diesjähriger Kongress war der größte, den wir je veranstaltet haben. Einen kurzen Bericht gibt es auf Seite 57. Und auch der Termin fürs kommende Jahr steht bereits: »MARX IS' MUSS 2015« findet vom 14. bis 17. Mai statt. Unbedingt vormerken!

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Die Demonstrierenden fordern die Abschaffung der Quoten und ein Bleiberecht für alle. Zudem kritisieren sie die miserable Situation in den Notunterkünften und verlangen den Zugang zu angemessenem Wohnraum für alle Asylsuchenden. Am Rande der Demonstration besetzen Aktivistinnen und Aktivisten das kantonale Amt für Migration und hissen dort ein Banner mit der Aufschrift: »Ort der willkürlichen Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten«.

© Galiza Contrainfo / CC BY-NC-SA / flickr.com

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Eure Redaktion

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»Wir leben hier, wir bleiben hier«, skandieren etwa fünfhundert Menschen, die am 11. Juni in Lausanne für die Rechte von Migrantinnen und Migranten und gegen die fremdenfeindliche Einwanderungspolitik der Schweizer Behörden auf die Straße gehen. Nach dem Erfolg der Initiative »gegen Masseneinwanderung« der Schweizerischen Volkspartei im Februar ist nun die Zuwanderung durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt.

Marxismus und Anarchismus | von John Molyneux | 58 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3-934536-42-5 | 2013

Rassismus – Meinungsmacher, Ideologien, Gegenkräfte | theorie21 Nr. 2/2012 | mit Beiträgen von Alex Callinicos, Deepa Kumar, Kate Davison, Volkhard Mosler, u.a. | 186 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-60-9

UFT AUSVERKA

Arabellion – zur Aktualität der Revolution | theorie21 Nr. 1/2012 | mit Beiträgen von Christine Buchholz, Anne Alexander, Volkhard Mosler, u.a. | 212 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-49-4

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post.

der Kapitalismus? – der Staat, das Kapital und die Linke | mit Beiträgen von Colin Barker, Chris Harman, Yaak Pabst, Win Windisch | 46 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-38-8 | 2010

Der Markt versagt – eine BESETZT! – eine kurze marxistische Antwort auf die Geschichte der BetriebsbesetKrise | mit Beiträgen von Chris zungen | von Dave Sherry | Harman, Tobias ten Brink | 46 und 56 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3Weiterverkaufen gewinnen Seiten, 2 Euro 978-3934536-22-7 | 2012 dass Dir| ISBN gefällt marx21 und du bist der Meinung, 934536-14-2mehr | 2009 Menschen das Magazin lesen sollten? Dann kannst du uns helfen, indem du selbst marx21Verkäufer oder -Verkäuferin wirst. Dafür bieten wir die Weiterverkaufsabos an: Das »Weiterverkaufsabo Basic« (3 Exemplare einer Ausgabe für 10 Euro) und das »Weiterkaufsabos Plus« (10 Hefte für 25 Euro). Für Schnellentschlossene gibt es ein Schmankerl: Den ersten 15 Weiterverkäufern schenken wir »Die Herren der Welt«, das neue Buch von Noam Chomsky (Promedia Verlag 2014).

Marxismus & Gewerkschaften | theorie21 Nr. 1/2013 | mit Beiträgen von Bill Dunn, Luigi Wolf, Olaf Klenke, Heiner Dribbusch, Frank Renken, Jürgen Ehlers, u.a. | 338 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-48-7

Die revolutionären Ideen von Karl Marx | von Alex Callinicos | 277 Seiten, 16,80 Euro | ISBN 978-3-89965-476-9 | 2011

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EDITORIAL

SCHWEIZ

ABOKAMPAGNE Wieviel Demokratie verträgt

Islam, Rassismus und die Linke | mit Beiträgen von Marwa alRadwany, Stefan Ziefle, Volkhard Mosler, David Crouch | 37 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-93453634-0 | 2009

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28 Titelthema: Deutscher Imperialismus 1914-2014 08

Fotostory: Proteste in Australien

Ausstellung: Das rote Wien

70 30 Schwerpunkt: Krise in der Ukraine

Kultur: Vor 40 Jahren starb Erich Kästner

Aktuelle Analyse

Schwerpunkt: 100 Jahre Erster Weltkrieg

Schwerpunkt: Ukraine

Internationales

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31 »Gegen die Regierung, gegen die Separatisten« Interview mit Oleksandra Bienert

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Irak: Brennendes Babylon Von Alex Callinicos

Der Griff nach der Weltmacht Von Stefan Ziefle

21 Kriegsbegeisterung: »Eine Legende« Interview mit Arno Klönne

Unsere Meinung 14 LINKE-Reformer: Aufs falsche Pferd gesetzt Kommentar von Lucia Schnell

24 Kriegsgegner: Die Netzwerker Von Stefan Bornost

15 Salafismus: Vorsicht vor der Terrorpanik Kommentar von David Maienreis

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Immer wieder: Zu den Waffen Kommentar von Stefan Bornost

36 Vermittlungsversuche und Militärmanöver Von Christine Buchholz und David Maienreis 40 Oligarchen: Die Wurzel des Übels Von Sean Larsson

Brasilien: »So viele Streiks wie seit Jahrzehnten nicht mehr« Interview mit Sean Purdy

66 48 Brasilien: Proteste gegen Fifa und Regierung 62

»Ich hab immer davon geträumt, eine sozialistische Partei auf die Beine zu stellen« Interview mit Bernd Riexinger

Kultur 52 Europa: Ausbruch nach vorn Von Panagiotis Sotiris Neues aus der LINKEN 58

Brandenburg: Der SPD in die Falle gegangen Von Georg Frankl

66 Erich Kästner: »Die Zeit ist kaputt!« Von Christian Baron

Rubriken 03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 08 Fotostory 46 Weltweiter Widerstand marx21 Online 56 57 Was macht das marx21-Netzwerk 70 Review 79 Quergelesen 80 Preview

neu auf marx21.de

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Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

INHALT

Arbeitskampf an der Charité Ein Gespräch mit Carsten Becker, Vorsitzender der ver.di-Betriebsgruppe.

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8. Jahrgang, Heft 36 Nr. 3, Juli/August/September 2014 ISSN 1865-2557 www.marx21.de Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Carla Assmann, Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller, Carolin Hasenpusch, David Jeikowski, Ronda Kipka (Praktikantin), David Maienreis, Yaak Pabst Lektorat Carla Assmann, Marcel Bois, Brian Janßen, Rosemarie Nünning, David Paenson, Christoph Timann Übersetzungen David Paenson, Rosemarie Nünning Layout Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat Christine Buchholz, Michael Ferschke, Stefanie Graf, Ole Gvynant, Werner Halbauer, Rabea Hoffmann, Christoph Hoffmeier, Sven Kühn, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Heinz Willemsen, Irmgard Wurdack Redaktion Online Ole Gvynant (verantw.), Hans Krause, Jan Maas, Paula Rauch, Stefan Ziefle Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 6. Oktober 2014 (Redaktionsschluss: 15.09.)

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Stefan Bornost, leitender Redakteur

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it 18 wird Stefan beinahe Mitglied der Grünen. Aber sein Freund Jan Maas warnt: »Da sind doch nur Lehrer. Lass uns in die Partei gehen, wo die Arbeiter sind!« Gemeinsam treten sie in die SPD ein – und treffen auch dort nur auf Lehrer. Davon lassen sie sich jedoch nicht entmutigen. Stefan hatte sich im Jahr 1992 politisiert, nachdem Neonazis einen Brandanschlag in seiner Heimatstadt Mölln verübten. Als Schülersprecher organisierte er Aktionen gegen rechts. Dabei störte ihn besonders die scheinheilige Haltung jener Möllner, die sich nur um den guten Ruf ihrer Stadt sorgten. Er wollte grundsätzlich etwas verändern und gründete in seiner Schule eine »Sozialismus-AG«. Nun stürzt er sich in den Aufbau eines Juso-Kreisverbandes. Mit dem Kernthema Bildung nimmt dieser bald Gestalt an. Nächtelang erarbeiten die Mitglieder ein radikal demokratisches Bildungsprogramm. Doch auf dem SPD-Parteitag rennen sie gegen eine Wand, das Programm wird abgebügelt. Auf einem Bundeskongress der Jusos lernt Stefan die Genossinnen und Genossen von Linksruck kennen. Endlich eine Gruppe, die seine und Jans Überzeugungen teilt: klare Klassenorientierung und Selbstaktivität statt salonsozialistische Reden. Bald erscheint Stefans erster Artikel in der LinksruckZeitung, eine Rezension von Karl Marx' »Lohn, Preis, Profit«. Stefan zieht nach Hamburg und arbeitet in der Redaktion von Linksruck. Eigentlich will er so nur die Wartezeit auf einen Studienplatz in Jura überbrücken. Aus sechs Monaten werden elf Jahre, bis 2007 ist er Chefredakteur. Nach der Auflösung von Linksruck ist Stefan Mitbegründer des marx21-Netzwerkes. Als leitender Redakteur unseres Magazins gilt sein besonderes Interesse der Geschichte. Wie wichtig das Verstehen der Vergangenheit für die aktuelle politische Perspektive ist, zeigt er zum Beispiel in seinem Artikel über die Linke während des Ersten Weltkriegs. Ihr findet ihn auf Seite 24.

Das Nächste Mal: Ronda Kipka 6

LeserbriefE

Zum Heft 2/2014 Wenn ich nicht schon Abonnentin wäre, würde ich marx21 nicht am Kiosk kaufen. Ich kann nicht erkennen, ob mich das interessiert. Die Ausgabe 2/2014 hätte ich auf den ersten Blick als Theaterzeitung gewertet und keinen zweiten Blick verschwendet. Aus Zeitmangel lese ich nur Politikzeitschriften. Auch die vorherige Ausgabe hätte ich nicht mit der Flüchtlingsproblematik, Frontex und Massensterben verbunden. Menschen, die mit einem Koffer in der Hand in einer Schlange stehen, finde ich erst mal nicht problematisch. Soll heißen: Ich vermisse eine klare verständliche Bildsprache. Aus meiner Sicht gibt es zwei Probleme: 1. Das Layout von marx21 ist so professionell, dass ich es nicht mehr als unabhängig links, sondern als kommerziell wahrnehme. 2. Die Sprache (inklusive Bildsprache) erfordert immer mehr Vorwissen, das ich – und vielleicht auch andere – nicht immer habe. Katja Kaba, Berlin

Zum Kommentar »Der Feind meines Feindes ist nicht mein Freund« von Volkhard Mosler (Heft 2/2014) Danke für diesen Beitrag. Eine klare und wahrhaftige Aussage – nur so kann man meines Erachtens das Problem in der Ukraine richtig beurteilen. Ähnliches habe ich bisher in linken Medien leider nicht gelesen. Fred Lex, per E-Mail

Zum Artikel »Frühling auf dem Balkan« von Daniel Kerekes (Heft 2/2014) Die Schilderung und Analyse der Proteste in Bosnien von Daniel Kerekes enthält in meinen Augen zwei Punkte, die einer Diskussion bedürfen: Zum einen behauptet Daniel, dass es mit Jugoslawien erst dann wirtschaftlich bergab ging, als der Bürgerkrieg ausbrach. Doch die Wirtschaft Jugoslawiens lag am Ende des Kalten Krieges am Boden – und zwar schon lange bevor der Bürgerkrieg begann. Nur in den 1960er und Teilen

der 1970er Jahren gab es eine Phase wirtschaftlichen Aufschwungs, die von einer langen Phase der Stagnation und schließlich des Niedergangs abgelöst wurde. Das Schüren des Nationalismus war die Antwort vor allem der kroatischen und serbischen Bürokratie auf die Demonstrationen und Streiks in Jugoslawien als Folge des wirtschaftlichen Niedergangs, die am Ende der 1980 der Jahre immer zahlreicher und radikaler wurden. Die Bürokratie nahm den blutigen Bürgerkrieg und den Zerfall des Landes in Kauf, um die eigene Macht zu sichern, in dem sie damit erfolgreich zu verhindern suchte, dass die anwachsenden sozialen Proteste in einen politischen Aufstand umschlugen. Der Plan der herrschenden Klasse im ehemaligen Jugoslawien ist aufgegangen, weil es im Land keine politische Kraft gab, die in der Lage gewesen wäre, den protestierenden Menschen einen anderen Weg aufzuzeigen, um die Einheit der Arbeiterbewegung zu bewahren und am Ende vielleicht sogar die Bürokratie zu entmachten. Zum anderen versucht Daniel, das politische System und die sozialen Verhältnisse in Jugoslawien vor dem Bürgerkrieg als dritten Weg zwischen Kapitalismus und Stalinismus anzupreisen: »Die Erinnerung an die früheren Verhältnisse dient den Beschäftigten als Orientierung für ihre Forderungen in den aktuellen Kämpfen.« Wenn das stimmt, dann wird es höchste Zeit, eine schonungslose Debatte über diese Vergangenheit anzuzetteln, anstatt sie weiter zu verklären. Das ist zweifellos kein sehr einfaches Unterfangen, geschieht das aber nicht, dann wird sich die alte herrschende Klasse reinwaschen, während gleichzeitig die Erfahrungen aus den Kämpfen in den 1980er Jahren, dass eine Massenbewegung von unten die herrschende Klasse unter Druck setzen kann, in Vergessenheit gerät. Die Suche nach einer politischen Perspektive in Bosnien, Kroatien und den anderen nationalen Zerfallsprodukten des Bürgerkriegs ist ohne eine ehrliche Vergangenheitsbewältigung aussichtslos. Jürgen Ehlers, Frankfurt am Main

Zum Interview »Demokratieabbau für mehr Sozialabbau« mit Andreas Kemper (marx21. de, 30.05.2014) DIE LINKE verhält sich »neutral« zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und zum Euro oder verteidigt diese Institutionen sogar teilweise. Meiner Meinung nach sollte sie jedoch darauf hinweisen, dass es hier um die »geräuschlose Finanzierung« (Hjalmar Schacht) der Verluste von Banken und Konzernen

geht. Wenn bei der Rentenversicherung schon wieder neue Finanzkatastrophen an die Wand gemalt werden, sollten diese Milliardenprogramme für Banken nicht verschwiegen werden. Thomas Weiß, auf unserer Facebookseite

Zum Artikel »Der Völkermord und das Erbe des Kolonialismus« von Christine Buchholz und Frank Renken (marx21.de, 04.04.2014) Sehr interessanter Artikel, der die Hintergründe der Ereignisse und die Problematik von westlichen Militäreinsätzen gut beleuchtet. Danke an Christine und Frank. Martina Meyer, auf unserer Facebookseite

Zu unserem Kongress »MARX IS' MUSS«, der vom 6. bis 9. Juni in Berlin stattfand Es war total schön, unter so vielen Linken zu sein, da nehme ich auch eine schreckliche Kartoffelsuppe in Kauf. Trotz alledem ist ein gutes veganes Essen wichtig und auch Pausen innerhalb der Seminare sind wichtig, nicht nur um sich auszuruhen, sondern um miteinander ins Gespräch zu kommen. Das ist etwas zu kurz gekommen, finde ich. Bei der Party am Sonntag und beim Tanzen ist mir aufgefallen, dass viele nicht wissen, dass wir die linke Faust erheben, die eben, die vom Herzen kommt. Hier scheint es eine Bildungslücke zu geben! Außerdem wünsche ich mir für den nächsten Kongress ein »Open Space«. Gabriele Schmalz, Freiburg Der Seminartag war etwas chaotisch. Vielleicht sollte besser beschrieben werden, ob es sich um grundlegendes oder »fortgeschrittenes« Wissen handelt. Außerdem sollte besser vorbereitet werden, was die Ziele des Seminars sind, um auf etwas hinarbeiten zu können. Bei uns waren zudem einige Menschen in der Diskussion, die sich gerne reden hören. Es sollten also Möglichkeiten gefunden werden, wie alle zu Redebeiträgen kommen und eine gewisse Struktur vorbereitet werden. Onlinefeedback eines Kongressteilnehmers Es war ganz super und ich habe viele, interessante neue Eindrücke bekommen. Anna R. Ryzek, auf der »Marx is' muss«-Facebookseite Ich freue mich schon auf Marx is' muss 2015. Nele Niemann, auf der »Marx is' muss«-Facebookseite

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus

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© Louisa Billeter / flickr.com

© Jose Mesa / CC BY / flickr.com

FotoSTORY

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FOTOSTORY

Urlaubskulisse versammeln sie sich an Stränden. Ein Ölunglück könnte das Urlaubsparadies für Jahre zerstören. Unten rechts: Der Protestmarsch führt direkt an der Küste entlang. Angesichts einer Gesamtbevölkerung der Kanaren, die nur halb so groß ist wie die von Berlin, wird deutlich, wie breit der Protest von der Bevölkerung getragen wird.

© Jose Mesa / CC BY / flickr.com

Urlaubsinseln wittert. Die am Protest Beteiligten stammen aus linken Parteien, Umweltorganisationen und Bürgerinitiativen, aber auch Vertreter der örtlichen Regierung und Tourismusbranche sind dabei. Unten links: »Unser Meer ist keine Toilette«: Auf allen acht Inseln demonstrieren zeitgleich über 200.000 Menschen. Mitte: Vor der malerischen

© Jose Mesa / CC BY / flickr.com

Spanien | Stoppt das Erdöl: Hunderttausende gehen am 7. Juni auf die Straße, um den von der spanischen Regierung genehmigten Probebohrungen auf den Kanarischen Inseln die Stirn zu bieten. Hauptantragsteller für die Bohrungen ist der spanische Erdölkonzern Repsol, der ein großes Geschäft vor den Küsten der bekannten

© Jose Mesa / CC BY / flickr.com

rufend ziehen in Melbourne rund 2000 Menschen zum Parlament. Mitte: Auf großen Transparenten und Schildern sprechen sie sich gegen Studiengebühren, Kürzungen in der Bildung und Abbotts Politik aus. Unten rechts: Die Polizei marschiert groß auf und versperrt ihnen den Weg zum Parlament.

© Corey Oakley / CC BY-NC-SA / flickr.com

Melbourne: Die Sitzblockade vor dem Parlament löst die Polizei gewaltsam auf, 13 Studierende und Schüler werden festgenommen. Oben: Eine 15-jährige Schülerin wird als Letzte von den Polizisten weggetragen. Die Szene schmückt am nächsten Morgen die Titelseiten der örtlichen Tageszeitungen. Unten links: Parolen

© Corey Oakley / CC BY-NC-SA / flickr.com

© Corey Oakley / CC BY-NC-SA / flickr.com

Australien | Am 21. Mai gehen Studierende und andere Aktivisten in mehreren Städten Australiens auf die Straße. Sie protestieren gegen die konservative Regierung von Premierminister Tony Abbott, die kürzlich die Deckelung der Studiengebühren aufgehoben hat. Vielerorts geht die Polizei mit Gewalt gegen die Studierenden vor. So auch in

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AKTUELLE ANALYSE Luftangriff auf Falludscha im Februar 2006: Die Stadt gilt seit dem Beginn des Irakkriegs im Jahr 2003 als Zentrum des Widerstands und ist oft Schauplatz erbitterter Kämpfe gewesen. Im Januar eroberten nun IsisKämpfer die Stadt

Seitdem die USA Saddam Hussein gestürzt haben, toben blutige Kämpfe im Irak. Auch am gegenwärtigen Aufmarsch der dschihadistischen Isis-Milizen ist die Besatzungspolitik schuld

© James Gordon / CC BY-NC / flickr.com

Brennendes Babylon Von Alex Callinicos

Alex Callinicos ist Politikwissenschaftler, Professor am King's College in London und Autor zahlreicher Bücher, unter anderem »Die revolutionären Ideen von Karl Marx« (ISP-Verlag 2005).

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vorrückenden Isis-Truppen ist ein deutlicher Beweis dafür, wie irrig diese Annahme schon immer war. Die Kräfte von Isis werden auf 1000 bis 15.000 Kämpfer geschätzt. Mossul hat zwei Millionen Einwohner. Die irakische Regierung behauptet, eine 930.000 Soldaten starke, mit modernster Ausrüstung aus den USA ausgestattete Armee zu befehligen. Wie konnte solch eine kleine Miliz eine so große Stadt einnehmen und eine angeblich so mächtige Armee in die Flucht schlagen?

Die USA haben den Irakkrieg nie »gewonnen«

Zwei Faktoren sind für diese verblüffende Niederlage verantwortlich: Der erste ist das Scheitern der Besetzung des Lands. Wie der Nahostwissenschaftler Toby Dodge schreibt, wollten die USA »nach der Absetzung Saddam Husseins einen neoliberalen Staat mit nur geringer Präsenz in der Gesellschaft und der Wirtschaft errichten«. Aufgrund schlechter Planung, unzureichender Truppenzahl und insbesondere eines sehr schnell aufkommenden bewaffneten Widerstands gegen die Besetzung scheiterte dieser Versuch.

Die USA waren darauf angewiesen, sich auf eine Clique handverlesener irakischer Politiker zu stützen, mit denen sie die im Jahr 2004 gebildete Marionettenregierung besetzten. Die von den USA beherrschte Übergangsverwaltung der Koalition machte von Anfang an die politische Repräsentation von ethno-religiöser Zugehörigkeit abhängig und verteilte die Ressourcen entsprechend. Auf diese Weise legte sie den Grundstein für die bis heute vorherrschende Spaltung. Kollaborateure von der unter Saddam Hussein unterdrückten schiitisch-muslimischen Mehrheit wendeten sich gegen die sunnitisch-arabische Minderheit. Umgekehrt gingen die sunnitischen Dschihadisten der »El Kaida in Mesopotamien« gegen die Schiiten vor. In der Folge kam es zu einem Blutrausch konfessionell motivierter Morde, dem auf dem Höhepunkt im Jahr 2006 nach einer Schätzung der Vereinten Nationen fast 35.000 Zivilisten zum Opfer fielen. Die Sunniten wurden aus großen Teilen Bagdads vertrieben. Das Ausmaß des Widerstands zwang die Regierung Bush, ihre Fantasien von einer neoliberalen Neugestaltung des Irak fallenzulassen. Mit der berühmten Aufstockung der US-Truppen im Jahr 2007 unter General David Petraeus kehrte sie zu einer konventionellen Aufstandsbekämpfung zurück. Diese führte dank der Hilfe der »Sunnitischen Erweckungsbewegung« schließlich zur Stabilisierung von Gebieten, in

denen der Aufstand besonders heftig gewesen war, doch die Taktiken der El Kaida einen Umschwung hervorriefen. Hauptnutznießer war Nuri al-Maliki, der im April 2006 als Ministerpräsident eingesetzt wurde. Er war stellvertretender Führer der schiitisch-islamischen Dawa-Partei und galt seinerzeit als »blasser Bürokrat«, der ein harmloser Statthalter sein würde. Stattdessen baute Maliki seine Macht sehr schnell aus, indem er persönlich Kontrolle über die Armee übernahm, seinen Sohn Ahmed zum stellvertretenden Armeestabschef beförderte und ein Netz aus Verwandten und Vertrauten auf wichtige Posten hievte. Zwar verdankte Malikis Regierung ihre Existenz der militärischen Macht und finanziellen Hilfestellung der USA, dennoch vereitelte er den Versuch Obamas, ein Truppenstationierungsabkommen abzuschließen. Dem zufolge hätten die USA auch nach dem offiziellen Truppenabzug im Dezember 2011 10.000 bis 20.000 Soldaten im Land belassen können. »Faktisch«, kommentiert Dodge, wurden »die amerikanischen Truppen aus dem Irak gedrängt«. Es ist nicht das erste Mal, dass eine imperiale Marionette ihrem Herrn und Meister eine gewisse Autonomie abringt. Maliki manövrierte zwischen den USA und dem Iran, also jenem Nachbarstaat, der seit dem Jahr 2003 eine immer aktivere Rolle im Irak

AKTUELLE ANALYSE

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A

ls Rechtfertigung für ihren militärischen Einmarsch in den Irak im März 2003 behaupteten USPräsident George W. Bush und der britische Ministerpräsident Tony Blair, das Land gehöre unter Saddam Hussein zu einer »Achse des Bösen«: Es sei ein »gescheiterter Staat« (wie der Iran und Nordkorea), der eine Gefahr für sich selbst und andere Länder darstelle. Sollte es jedoch je einen gescheiterten Staat gegeben haben, dann ist es vielmehr der heutige Irak. Das zeigt sich an der unerwarteten und schnellen Einnahme der Stadt Mossul Mitte Juni durch ein Bündnis von Milizen unter Führung der Dschihadisten von der Organisation Isis (Islamischer Staat von Irak und Syrien). Die Vereinigten Staaten unter Barack Obama sehen sich jetzt zu einem Bündnis mit der Islamischen Republik Iran genötigt. Seit Jahren haben sich Teile der Linken eingeredet, die USA hätten »gewonnen«, obwohl es nicht den geringsten Beleg dafür gab. Spätestens die Flucht der irakischen Armee vor den auf Mossul und Tikrit

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Das Regime, das aus der Intervention der USA hervorging, schuf also die Bedingungen für neue Aufstände. Die Form, die das Desaster im Irak angenommen hat, ist jedoch noch durch einen zweiten Faktor bestimmt worden: die veränderte Lage in der Region aufgrund des Bürgerkriegs in Syrien. Baschar al-Assad reagierte auf die syrische Revolution im Jahr 2011 mit der Entfesselung eines Konfessionskriegs. Das syrische Baath-Regime, das sich auf die schiitischen Alawiten stützt, versuchte, SyriBesuch in Bagdad: Der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki begrüßt im Frühjahr 2009 Barack Obama im »Camp Victory«. Die USA hatten Maliki drei Jahre zuvor an die Macht gebracht, seither kommt es immer wieder zu Spannungen

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Isis hat großen Zulauf von Dschihadisten. Die Miliz entstand aus der »El Kaida in Mesopotamien«, als diese nach ihrer Niederlage im Irak nach Syrien wechselte. Dort konzentrierte sie sich darauf, der FSA und dem offiziellen El Kaida-Ableger Dschabhat al-Nusra Gebiete abzunehmen. Sie konnte sich einen Stützpunkt in Raqqah in Ostsyrien aufbauen, von wo aus sie ihre Operationen im Irak wieder aufnahm. Die Unterdrückung des »irakischen Frühlings« durch Maliki nutzte sie, um im Januar die Kontrolle über Falludscha zu übernehmen. Die Stadt in der Nordwestprovinz Anbar war einst Zentrum des Widerstands gegen die Besetzung und in der brutalen amerikanischen Offensive im Herbst 2004 zurückerobert worden. Isis scheint sehr gut organisiert zu sein – beispielsweise konnte sie über die Kontrolle der Ölfelder in Ostsyrien und den Schmuggel wertvoller Fundstücke von syrischen Ausgrabungsstätten 875 Millionen Dollar Kapital aufbringen. Bankraub und Plünderungen in Mossul brachten ihr schätzungsweise weitere 1,5 Milliarden Dollar ein. Wie komplex und wandelbar die Politik im Nahen Osten heute ist, zeigt

konfessionellen Spaltungspolitik der USA und Malikis mit dem Sunnitenaufstand die Karten im Irak neu gemischt werden. Es gibt jedoch die reale Möglichkeit, dass der Irak in einen sunnitischen Nordwesten, einen kurdischen Nordosten und ein schiitisches Zentrum im Süden aufgeteilt wird. Die kurdische Regionalregierung hat seit dem Jahr 2003 versucht, ihre Autonomie auszuweiten. Nach dem Fall Mossuls eroberte sie unverzüglich Kirkuk, das sie schon lange für sich beansprucht hatte. Mit dem inneren Zusammenbruch wird der Irak noch mehr als zuvor zum Spielfeld für ausländische Akteure. Das Ziel, Isis und ihre Verbündeten abzuwehren, zwingt Malikis wichtigste Stützen, die USA und den Iran, in eine Kooperation im Irak, obwohl sie in Syrien verschiedene Seiten unterstützen. Washington und Teheran nähern sich jedenfalls an und haben ernsthafte Verhandlungen über das iranische Atomprogramm aufgenommen. Die gegenwärtige Krise im Irak hat ihren Ursprung in der militärischen Intervention von 2003. Der baathistische Staat im Irak war ein säkularer und panarabischer. Der Sturz Saddam Husseins war für die Dschihadisten der größte Anreiz seit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Der syrische Bürgerkrieg hat sie gestärkt, aber auch der Militärputsch in Ägypten, der den Islamisten die Möglichkeit zur friedlichen Machtübernahme durch verfassungsmäßige Mittel genommen hat.

Isis ist Teil eines breiten Bündnisses

Zahlreiche Kommentatoren haben vor einem Wiederaufflammen des Konfessionskriegs gewarnt, wenn Isis weiter auf Bagdad vorrückt. Das ist jedoch nicht unvermeidlich. Die Vereinigung Muslimischer Gelehrter, die den Sunnitenaufstand nach 2003 unterstützte, wie auch der Großajatollah der Schiiten, Ali al-Sistani, haben zur Mäßigung aufgerufen. Die Demütigung und der partielle Zerfall des Regimes Maliki könnten Raum schaffen für eine Verhandlungslösung zwischen den verschiedenen politischen Kräften des Irak. Im modernen Irak hatte es komplexe ethnische, religiöse und Klassenspaltungen gegeben. Die gegenwärtige Konfessionsspaltung ist jedoch ein Ergebnis der Besetzung und verläuft quer durch die einst starken politischen Bewegungen des Irak (einschließlich der Kommunistischen Partei und der Baath), die über konfessionelle und ethnische Differenzen hinweg organisierten. Das Abstoßende an der spaltenden Dschihadpolitik der Isis sollte uns nicht blind machen für die Tatsache, dass nach der lähmenden

Der westliche Imperialismus trägt die Hauptverantwortung für die irakische Katastrophe. Das Vordringen der Isis trägt weiter zur Krise der Imperialmacht USA bei. Die erfolgreiche Destabilisierung der Ukraine durch Russland hat bereits Obamas »Hinwendung nach Asien« als Antwort auf Chinas Aufstieg gebremst. Nun könnten die USA auch im Irak erneut in die Klemme geraten. Obama will vermeiden, eine große Anzahl Soldaten in den Irak zurückzuschicken. Stattdessen will er sich auf seine Luft- und Marinestreitkräfte stützen. Die 300 »Berater« der Spezialeinsatzkräfte, die er in den Irak schickt, werden vermutlich als Spione fungieren und Informationen für Luftangriffe liefern. Die Rechnung für den imperialen Hochmut wird jedoch immer höher. ■ ★ ★★ Dieser Artikel ist erstmalig unter dem Titel »Nemesis in Iraq« in »International Socialism« (Nr. 143) erschienen. Wir veröffentlichen eine leicht gekürzte Übersetzung.

AKTUELLE ANALYSE

Derweil bleibt zehn Jahre nach dem Einmarsch die materielle Lage der einfachen Iraker düster. Die staatliche Korruption ist allgegenwärtig, die Versorgung mit Grundgütern wie Wasser und Strom hingegen höchst unsicher, die Kanalisation funktioniert kaum. Die Weltbank schätzt die Arbeitslosenrate auf vierzig Prozent, hinzu kommen dreißig Prozent Unterbeschäftigte. Dank Malikis erfolgreicher Zerschlagung der Opposition erhielt seine Liste bei den Wahlen Ende April 2014 die meisten Stimmen.

sich daran, dass es immer wieder Berichte über die Verbindung von Isis mit den großen Feinden SaudiArabien und dem syrischen Regime gibt. Diese Konstellation steht im Widerspruch zu der vereinfachenden Aufteilung des Nahen Ostens in »progressive« und »reaktionäre« Staaten. Isis hätte so weit aber nicht kommen können ohne die Spaltungspolitik, Korruption und Inkompetenz des Regimes von Maliki. Und sie konnte sich auf weitere Kräfte in der sunnitischen Bevölkerung stützen. Nach dem Fall Mossuls und Tikrits berichtete die »New York Times«, mehrere militante Gruppierungen hätten sich zusammengeschlossen, darunter auch baathistische Militärbefehlshaber aus der Zeit Saddam Husseins. Die Zeitung »The Independent« geht noch weiter: »Isis mag den Angriff begonnen haben, aber viele andere Gruppierungen haben sich angeschlossen. Jetzt stehen wir vor einem allgemeinen Aufstand der irakischen Sunniten. Diejenigen, die Saddam Husseins Heimatstadt Tikrit eingenommen haben, gehören nicht zu Isis, sondern sind seine alten Anhänger (…) Isis war der Stoßtrupp einer viel breiteren militanten Sunnitenfront wie der Nakschbandi-Armee und verschiedenen Baathistengruppen. Die Angriffe waren gut geplant und koordiniert, und vermutlich leisteten sunnitische Armeeoffiziere innerhalb der staatlichen irakischen Armee Beistand, indem sie die Verteidigung sabotierten.«

ens andere religiösen Minderheiten zu mobilisieren, indem es die Gefahr einer Beherrschung durch die sunnitische Mehrheit an die Wand malte. Obwohl die Freie Syrische Armee (FSA) und örtliche revolutionäre Komitees für die Vision eines säkularen und demokratischen Syrien gekämpft haben, konnten bewaffnete sunnitische Dschihadisten, die teils auch von Golfscheichtümern finanziert werden, militärisch an Boden gewinnen. Gleichzeitig wurden das iranische Regime und die libanesische Schiitenbewegung Hisbollah aufgrund geopolitischer Interessen und konfessioneller Loyalitäten zu den wichtigsten ausländischen Unterstützern des syrischen Staatspräsidenten Assad.

© United States Forces Iraq / CC BY-NC / flickr.com

spielt, indem er die schiitischen politischen Kräfte dirigiert und aufbaut. Im Inland betrieb Maliki die Marginalisierung der sunnitischen Minderheit systematisch weiter. Er zerschlug die Irakische Nationalbewegung (Irakija), die bei den Wahlen im Jahr 2010 die meisten Stimmen erhielt, weil sie mit einem säkularen nationalistischen Programm antrat. Das brachte ihr achtzig Prozent der sunnitischen Stimmen, aber auch Unterstützung in schiitischen Gegenden ein. Gegner wurden als Baathisten denunziert, ausgewiesen, ins Gefängnis geworfen, gefoltert und getötet. Als Aktivistinnen und Aktivisten im Jahr 2013, angeregt durch die Ereignisse in Tunesien und Ägypten, Protestcamps errichteten, ließ Maliki diese mit militärischer Gewalt zerstören.

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KARIKATUR

UNSERE MEINUNG

Forum Demokratischer Sozialismus

Aufs falsche Pferd gesetzt Von Lucia Schnell ten ihrer selbst. Gerade in außenpolitischen Fragen – relevant für eine mögliche Koalition mit der LINKEN – hört man gar nichts von ihr. Die Parteispitze hingegen steht, wie sich im Fall Libyen zeigte, Militäreinsätzen sogar noch deutlich positiver gegenüber als die Westerwelle-FDP. Angesichts der mangelnden Perspektive auf Bundesebene hängen die Hoffnungen des fds jetzt an Bündnissen in den Ländern und den Kommunen. Aber auch hier sieht es düster aus: In Brandenburg hat die Sozialdemokratie DIE LINKE gerade zur programmwidrigen Zustimmung zum Ausbau der Braunkohleförderung genötigt. Reformpolitik sieht anders aus. Insgesamt sind die Rahmenbedingungen für linke Regierungskonstellationen denkbar schlecht. Denn durch den Verzicht der Großen Koalition auf Steuererhöhungen für Reiche und Konzerne werden Länder und Kommunen keine höheren Mittel zur Verfügung haben. Dementsprechend steht dort Mangelverwaltung statt sozialer Reformen auf der Agenda. Das fds hat mit der SPD aufs falsche Pferd gesetzt. Darauf zu warten, dass sich diese Partei nach links wendet, gleicht dem Warten auf Godot. Und selbst wenn es passieren würde: Eine linke Koalition stände dann immer noch dem Machtblock aus Wirtschaft, Medien und einem auf Neoliberalismus und Militarismus geeichten Staatsapparat gegenüber, der noch jede Regierung zur Räson gebracht hat. Diesen Tatsachen sollte sich das fds stellen. Aufgabe der LINKEN ist es, Oppositionsarbeit zu leisten, die Partei an der Basis weiter aufzubauen und in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu verankern.

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★ ★★ Lucia Schnell ist Sprecherin der LINKEN in BerlinNeukölln.

© Klaus Stuttmann

Die Rahmenbedingungen für linke Regierungen sind denkbar schlecht

Salafismus

Vorsicht vor der Terrorpanik Von David Maienreis

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undesinnenminister Thomas de Maizière warnt vor der wachsenden Gefahr durch Leute, die sich in Syrien oder anderen Konfliktherden an Kämpfen beteiligt haben und »radikalisiert« nach Deutschland zurückkommen. Der Bombenanschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel scheint seinen erneuten Alarm zu rechtfertigen – aber in keinem Fall das drastische Vorgehen von Justiz und Ermittlungsbehörden. Im März wurden unter dem Einsatz von 100 Kräften des Überfallkommandos GSG 9 sowie anderer Polizeisondereinheiten 13 Menschen festgenommen. Einer der Hauptbeschuldigten wurde vorgeworfen, sie habe 4800 Euro an verdächtige Gruppen überwiesen. Den anderen Verhafteten hielt man vor, sie wollten in Deutschland Rekruten für islamistische Gruppen werben. Zu der Vorbereitung »schwerer staatsgefährdender Straftaten«, derer jetzt der

Salafist Sven Lau beschuldigt wird, zählt ebenfalls die Überweisung von 6000 Euro an die Organisation »Helfen in Not«. Laus Anwalt hält die Anklage aufgrund der dünnen Beweislage »für eine Farce«. Der Terrorimus- und Salafistenexperte Ulrich Kraetzer meint, »wenn sich die Anschul-

Ein ums andere Mal: Anklagen ohne Beweise digungen in Luft auflösen, wäre es auch nicht das erste Mal, dass die Justiz bei Ermittlungen gegen Salafisten eine Bauchlandung hinlegt.« In der Vergangenheit mussten sich Polizei und Staatsanwaltschaften immer wieder Rügen von Richtern anhören, weil sie nichts präsentieren konnten, das ihre

schwerwiegenden Verdächtigungen bestätigt hätte Dass wenige Wochen nach einem aufsehenerregenden Anschlag ein Vertreter der dämonisierten Salafisten inhaftiert wird, hilft den deutschen Innenministern, entschlossenes Handeln zu demonstrieren. Nur, wozu sind sie eigentlich entschlossen? Leider bestätigt sich heute: Wer den so genannten »Krieg gegen den Terror« führt, wird zur Zielscheibe von Terrorismus. Wenn die Bundesregierung das beenden will, sollte sie Bundeswehr und BND aus den Krisenherden abziehen, statt den Rechtsstaat zu demontieren. ★ ★★ David Maienreis ist Redakteur von marx21.

UNSERE MEINUNG

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as Forum Demokratischer Sozialismus (fds), ein Zusammenschluss der »Reformer« innerhalb der LINKEN, lud Ende Juni zu einem außerordentlichen Bundestreffen. Der Ton des Einladungsschreibens war düster, von einer »bitteren und deutlichen Niederlage (…) sowohl auf personeller als auch auf inhaltlicher Ebene« war dort die Rede, sogar der Fortbestand des Zusammenschlusses wurde zwischenzeitlich in Frage gestellt. Der Hintergrund hierfür ist, dass sich die Genossinnen und Genossen beim Bundesparteitag im Mai in etlichen Personal- und Sachfragen nicht durchsetzen konnten. Sofort wurden Stimmen aus dem Reformerflügel laut, welche die bislang unumstrittene Parteiführung um Katja Kipping und Bernd Riexinger für diese Niederlage verantwortlich machen. Doch geht das am eigentlichen Problem vorbei, nämlich der Tatsache, dass sich die politischen Perspektiven des Forums nicht realisieren. Das fds hatte auf eine mögliche Linkswende der SPD nach der Bundestagswahl gesetzt. Die Genossinnen und Genossen hofften, dass sich bald die Perspektive einer rot-rot-grünen Bundesregierung eröffnen würde. Gregor Gysi erklärte beispielsweise kurz vor der Bundestagswahl: »Das Problem der SPD besteht darin, dass sie lieber zur Union und zur FDP geht. Das hält sie nicht durch. Dann rappelt’s im Karton der SPD.« Fast ein Jahr später ist festzustellen, dass gar nichts rappelt und die SPD die Koalition mit der Union bislang sehr gut durchhält. Dank der vergleichsweise guten wirtschaftlichen Lage führt die Große Koalition momentan keine mit der Agenda 2010 vergleichbaren Angriffe durch, die stark desintegrierend auf die SPD wirken würden. Im Gegenteil: Die Sozialdemokratie konnte sich durch die Einführung des Mindestlohns als sozial darstellen, der innerparteiliche Aufschrei über die zahllosen Einschränkungen war überschaubar. Das verweist auf eine wichtige Tatsache: In der SPD fehlt für einen Aufbruch nach links schlicht das Personal. Die SPD-Linke ist ein Schat-

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Der Griff nach der Weltmacht Schwerpunkt 100 jahre erster weltkrieg Mythos Kriegsbegeisterung Arno Klönne über Arbeiter und Patriotismus Von Stefan Ziefle

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Die Netzwerker Der Kampf der SPD-Linken gegen den Krieg

Der lange Weg nach Osten Eine kurze Geschichte des deutschen Imperialismus

n England und Frankreich wird er einfach der »Große Krieg« genannt. Rund fünfzig Millionen Soldaten waren an den Kampfhandlungen beteiligt. Allein das Deutsche Reich schickte mehr als 13 Millionen Männer an die Front und damit beinahe die Hälfte der männlichen Bevölkerung. Weltweit starben etwa zehn Millionen Soldaten und weitere sieben Millionen Zivilisten. In den zehn Monate andauernden Gefechten bei Verdun wurden 800.000 Soldaten getötet. Dieses »Völkerschlachten«, wie Rosa Luxemburg es genannt hat, war der Erste Weltkrieg. Er tobte zwischen 1914 und 1918 in Europa, Afrika, Asien und auf den Weltmeeren. Möglich geworden war dieser globale Krieg durch die Entwicklung der europäischen kapitalistischen Staaten in den vorhergehenden hundert Jahren. Industrielle Massenproduktion war die Voraussetzung für die Ausstattung von Millionen Soldaten mit Uniformen, Waffen und Munition, der Bau der Eisenbahnen ermöglichte den strategischen Transport von Soldaten in bisher ungeahnter Zahl, sowie der zu ihrer Verpflegung notwendigen Nachschubgüter. Und das Wichtigste: Ohne die Industrialisierung der Landwirtschaft hätten niemals so viele Menschen, die nicht selbst in der Landwirtschaft arbeiteten, mit Nahrung versorgt werden können. Insofern war der Erste Weltkrieg ein industrieller Massenkrieg, ein Krieg, dem die gesamte Wirtschaft der beteiligten Nationen untergeordnet wurde, ein totaler Krieg – der erste seiner Art. In demselben Maße, wie die gesellschaftlichen Veränderungen den Krieg ermöglichten, wirkte dieser auf die Gesellschaft zurück. Geschätzte 25 Millionen Menschen starben nach Ende des Krieges an dessen Folgen, an Unterernährung und Epidemien. Beispielsweise raffte allein eine Grippewelle im Jahr 1920 weitere Millionen dahin. Angesichts dieser Ka-

tastrophe ist es verständlich, dass es hinterher keiner gewesen sein wollte. Gerade in Deutschland ist die sogenannte »Schuldfrage« ein Politikum. Im Vertrag von Versailles, der den Krieg offiziell beendete, wiesen die siegreichen Staaten dem Deutschen Reich die alleinige Schuld zu. Damit rechtfertigten sie eine Reihe von Maßnahmen, die sicherstellen sollten, dass Deutschland keine Bedrohung mehr für sie darstellen würde. Dazu zählten Reparationszahlungen in Milliardenhöhe, Demilitarisierung und die französische Besatzung des Rheinlands. Die Ablehnung des Vertrages von Versailles und damit der deutschen Alleinschuld, war eine Position, hinter der sich das deutsche Bürgertum und vor allem die Nazis sammeln konnten. Wer die Kriegsschuldfrage im Sinne des Vertrages beantwortete, galt als »Vaterlandsverräter«. Über die Urheber des Zweiten Weltkriegs hingegen gibt es keinerlei Zweifel. Daher versucht das deutsche Bürgertum bis heute, ihn als »Unfall« oder einmaligen Ausrutscher abzutun. Umso wichtiger war es daher nach 1945, die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg von sich zu weisen. Historiker wie Fritz Fischer, die durch akribische Quellenauswertung die Schuld der deutschen Reichsregierung nachwiesen, wurden ausgegrenzt und angefeindet. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass unter den zahlreichen Publikationen, die nun anlässlich von hundert Jahren Kriegsbeginn erschienen sind, vor allem zwei Werke besondere mediale Aufmerksamkeit erhalten. Es handelt sich um die Bücher »Der Große Krieg« von Herfried Münkler und »Die Schlafwandler« von Christopher Clark. Der deutsche Historiker Münkler argumentiert genau wie sein australischer Kollege Clark, die deutsche Regierung sei in den Krieg hineingeschlittert – ungewollt, entge-

© Carlos Latuff

Der Erste Weltkrieg war kein »Unfall«

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Stefan Ziefle ist Historiker und Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und Internationale Politik der LINKEN.

SCHWERPUNKT 100 Jahre erster weltkrieg

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Siebzehn Millionen Tote – und keiner will es gewesen sein. Noch heute streiten Historiker über die Schuld am Ersten Weltkrieg. Bei ihren Kontroversen geht es keineswegs nur um Geschichte

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gen besten Absichten. Die begeisterte Aufnahme dieser beiden Bücher ist auch vor dem Hintergrund der Forderung von Bundespräsident Joachim Gauck zu verstehen, Deutschland müsse auch militärisch »mehr Verantwortung« in der Welt übernehmen. Anders als uns Clark und Münkler weismachen wollen, ist der Erste Weltkrieg nicht einfach vom Himmel gefallen. Ihm war eine fundamentale Veränderung der europäischen Staaten durch die Industrielle Revolution vorausgegangen. Hier waren Unternehmen entstanden, die aufgrund ihrer Größe in der Lage waren, in Monopolen oder Trusts mit wenigen anderen Unternehmen nationale Märkte zu dominieren. Die gesamte Schwerindustrie in Deutschland war mit drei Namen verbunden: Krupp, Thyssen und Kirdorf (der heute wenig bekannte Emil Kirdorf war Generaldirektor der GBAG, des größten Kohlebergbauunternehmens Europas). Auch die chemische Industrie bestand nur aus einer Handvoll Unternehmen, die sich später zur IG Farben zusammenschlossen. Siemens und AEG dominierten die Elektroindustrie. All diese Unternehmen waren über eine kleine Zahl gigantischer deutscher Banken miteinander verflochten. Wegen der schieren Größe dieser Kapitalien und der von ihnen organisierten Wertschöpfung war ihr politischer Einfluss enorm. Insofern erschien es nur natürlich, dass Vertreter der Konzerne auch in Regierungspositionen saßen, wie Walter Rathenau von AEG, der im Jahr 1914 Rohstoffminister wurde. Hinzu kamen die Lobbyverbände der Branchen, die in Zusammenarbeit mit den Medien versuchten, die Stimmung in der Öffentlichkeit zu manipulieren und in Hinterzimmern durch ihre »Experten« die Regierung zu beeinflussen.

Ende der 1880er Jahre war die Welt in Kolonien und Einflusssphären aufgeteilt, die einen privilegierten Zugang des jeweiligen Kapitals ermöglichten. Diese Einflusssphären repräsentierten in etwa das wirtschaftliche, politische und militärische Kräfteverhältnis der Kolonialstaaten untereinander. Aber der Kapitalismus ist ein dynamisches System. Parallel zur kolonialen Aufteilung der Welt stieg das im Jahr 1871 gegründete Deutsche Reich zur stärksten Volkswirtschaft Europas auf. Wirtschaftlich überholte es die bisherige Weltmacht Großbritannien. Die Strategen des Deutschen Reichs kamen zu dem Ergebnis, dass die weitere wirtschaftliche Expansion vom gesicherten Zugang zu Ressourcen in aller Welt abhinge. Für die einen beutete das den Erwerb von mehr Kolonien, was nur auf Kosten der Rivalen

Das Ziel war eine Wirtschaftsunion unter deutscher Führung Krieg gegen die alte Kolonialmacht Spanien um Kuba und die Philippinen. Japan kämpfte 1904/05 gegen Russland um die Mandschurei. Aber es war das Deutsche Reich, das sich mit den Großmächten Großbritannien und Frankreich anlegte. Häufig wird argumentiert, das Deutsche Reich habe ab 1914 keinen Aggressionskrieg geführt, weil es nicht geplant habe, andere Länder zu annektieren. Aber in modernen imperialistischen Kriegen geht es nicht um die Einverleibung von Territorien – auch wenn diese nicht prinzipiell abgelehnt wurde. Es gab durchaus eine Fraktion des deutschen Kapitals, die weitgehende Annexionen in Frankreich, Belgien und Russland, von den Kolonien ganz abgesehen, forderte. Der Lobbyverband dieser Gruppe, der Alldeutsche Verband, war in der deutschen Öffentlichkeit deutlich zu vernehmen. Doch die Reichsregierung und wichtige Sektionen des deutschen Kapitals lehnten Annexionen, zumindest im großen Stil, ab. Sie wollten in erster Linie Russland und Frankreich schwächen und damit Deutschland zu einer kontinentalen Hegemonialmacht machen. Zu diesem Ziel sollte nach dem Krieg eine »Mitteleuropäische Wirtschaftsunion« unter deutscher Führung errichtet werden, der mindestens Frankreich, Skandinavien und die zu schaffenden Staaten Polen und Ungarn angehören sollten. Polen musste dafür aus dem russischen Territorium gelöst werden, was nur durch Waffengewalt zu erringen war. Frankreich sollte zudem seinen Markt im Rahmen einer Handelsunion für deutsche Exporte und Investitionen öffnen. Umgekehrt sollten natürlich Zöl-

le auf französische Waren in Deutschland bestehen bleiben. Belgien sollte zu einer Halbkolonie werden, die wirtschaftlich und finanziell vom Reich abhängig wäre. Um Frankreich weiter zu schwächen, und eine Bedrohung Britanniens im Ärmelkanal zu schaffen, sollten eventuell Teile Nordfrankreichs an Belgien abgegeben werden. Die russische Grenze sollte möglichst weit nach Osten verschoben werden. Dazu wollte die Reichsregierung die »nichtrussischen« Gebiete zu unabhängigen Staaten, einer Kette von »Pufferstaaten«, machen: Ukraine, Polen, Baltikum und Finnland. Diese wären für ihren Schutz vor Rückeroberung vom Deutschen Reich abhängig. Die Strategie der deutschen Regierung war es also, das Bündnis aus Britannien, Frankreich und Russland zu spalten, um diese Staaten dann einzeln entweder in Abhängigkeit bringen oder militärisch schlagen zu können. Diesem Ziel dienten einige diplomatische Manöver ab 1904, die bereits das Risiko eines Krieges in Kauf nahmen. Die bekanntesten sind wohl die Marokkokrisen von 1905 und 1911, als das Reich ein Kriegsschiff nach der französischen Kolonie entsandte, und die Versuche, den österreich-ungarischen Einfluss auf dem Balkan zu stärken, die zu mehreren Krisen und schließlich zu zwei Kriegen in den Jahren 1912 und 1913 führten.

Auch die Offensive in der Nähe der belgischen Stadt Ypern in der zweiten Jahreshälfte 1917 kostet auf beiden Seiten hunderttausende Soldaten das Leben. Wie an der Westfront üblich, sind die Geländegewinne hingegen nur minimal. Das von den Westalliierten gewonnene Gebiet erobert Deutschland im Frühjahr 1918 bereits zurück

SCHWERPUNKT 100 Jahre erster weltkrieg

Gräberfeld bei Verdun: Die deutsche Armee versucht hier die französische durch einen Angriff zu binden, um so andere Frontabschnitte zu entlasten. In der berühmten Schlacht fallen insgesamt 170.000 französische und 150.000 deutsche Soldaten. Sie ist heute ein Sinnbild für die Schrecken dieses Krieges

Die »Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen und Absatzmärkten«, wie es in der Sprache heutiger deutscher Politik heißt, bedeutete im 19. Jahrhundert die Eroberung von Kolonien, also die Errichtung formaler Herrschaft europäischer Staaten über beinahe die ganze Welt. Auch damals schon musste die Notwendigkeit, den Menschen dort die Errungenschaften der westlichen Zivilisation zu bringen, als Rechtfertigung herhalten. Zwischen 1871 und dem Beginn des 20. Jahrhunderts erzeugte die Rivalität europäischer Mächte einen Wettlauf um Afrika und China. Die Erfindung des Maschinengewehrs machte es den Kolonialstaaten möglich, den Widerstand der Einheimischen zu brechen. Die Folge waren Massaker, die heute von den Politikern gern vergessen werden: Von den Opiumkriegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in China über die Niederschlagung von Aufständen afrikanischer Volksgruppen wie der Herero und Zulu bis zum Burenkrieg am Anfang des 20. Jahrhunderts metzelten die Kolonialarmeen hunderttausende Menschen nieder. Aber in Europa herrschte Frieden.

geschehen konnte, weil nahezu jeder Landstrich der Welt bereits verteilt war. Für die anderen bedeutete es lediglich, Zugang zu den Kolonien der anderen zu erhalten. In beiden Fällen hing die Durchsetzbarkeit vom militärischen Potenzial ab. Deshalb begann die Reichsregierung, von der Notwendigkeit eines »Präventivkrieges« zu sprechen, um in Zukunft nicht von den Kontinentalmächten Russland und Frankreich und der Weltmacht Großbritannien »erpressbar« zu sein. Deutschland war nicht die einzige aufstrebende Wirtschaftsnation. Es gab auch noch die USA und Japan. Die Amerikaner führten im Jahr 1898 einen

© Frank Hurley

Der Staatsapparat wiederum war von diesen Konzernen abhängig. Ihm ging es nicht nur um Arbeitsplätze und Steuereinnahmen, sondern auch um die wirtschaftlichen Ressourcen, die er brauchte, um sich gegen konkurrierende Staaten durchsetzen zu können. Der russische Zar hatte die Industrialisierung gerade deswegen gegen den Widerstand des Adels durchgesetzt, weil die Niederlage im Krimkrieg 1856 gegen Großbritannien ihn gelehrt hatte, dass moderne Kriege eine moderne Wirtschaft erforderten. So verschmolzen die Interessen von Konzernen und Staat, der Konkurrenzkampf zwischen Kapitalien wurde zunehmend nicht mehr im Binnenmarkt ausgetragen, der durch Trusts beherrscht war, sondern auf den »Weltmärkten« – die Konkurrenz zwischen Kapitalisten wurde zu einer Konkurrenz zwischen imperialistischen Staaten.

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Erst die Revolution von 1918 beendete das Gemetzel des Weltkriegs

★ ★★ Weiterlesen Fritz Fischer: Juli 1914: Wir sind nicht hineingeschlittert. Das Staatsgeheimnis um die Riezler-Tagebücher (Rowohlt 1987).

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Balkan ausweiten, auch durch Krieg. Aber als Gegner hatten sie Bulgarien, Griechenland und Serbien im Sinn, nicht Russland und Frankreich. Das Bündnis mit dem Deutschen Reich sollte in ihrem Sinn lediglich eine Einmischung Russlands abschrecken. Der deutschen Reichsregierung kam daher die Ermordung des österreich-ungarischen Thronfolgers am 28. Juni 1914 durch einen serbischen Nationalisten in Sarajewo gerade recht. Kurt Riezler, ein enger Vertrauter Bethmann-Hollwegs, schrieb: »Wenn man mit dem Zweibund eine diplomatische Machtprobe wagen wollte, konnte dafür nur eine südöstliche Frage in Betracht kommen, das heißt, eine, bei der Österreich als erste beteiligt war und Deutschland hinter ihm stand«, da Österreich nicht bereit gewesen sei, für deutsche Interessen in den Krieg zu ziehen, »jetzt aber in der serbischen Frage ein Lebensinteresse Österreichs unmittelbar auf dem Spiele stand.« Die Haltung des Reichskanzlers fasst Riezler folgendermaßen zusammen: »Kommt der Krieg aus dem Osten, so dass wir also für Österreich-Ungarn und nicht Österreich-Ungarn für uns zu Felde zieht, so haben wir Aussicht ihn zu gewinnen. Kommt der Krieg nicht, will der Zar nicht oder rät das bestürzte Frankreich zum Frieden, so haben wir doch noch die Aussicht, die Entente über diese Aktion auseinander zu manövrieren.« In diesem Sinne vergingen die dem Attentat folgenden Wochen mit diplomatischen Initiativen, die alle dem Zweck dienten, Russland die Schuld am Krieg zuzuspielen, um Britannien neutral zu halten und die deutsche Sozialdemokratie für den Krieg zu ge-

winnen. Außerdem sollten die Verhandlungen der österreich-ungarischen Regierung den Eindruck vermitteln, man könne den Krieg lokal begrenzen. Nachdem dann Österreich-Ungarn Serbien am 28. Juli den Krieg erklärte, begann Russland mit der Mobilmachung der Armee und bot der Reichsregierung den erwünschten Vorwand für eine Kriegserklärung an das Zarenreich am 1. August. Ein hoher deutscher Militär schrieb an dem Tag in sein Tagebuch: »Stimmung in Berlin glänzend. Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen.« Auch die SPD fiel auf das Manöver herein und unterstützte die deutsche Kriegsführung vom ersten Tag an. Die Freude trübte sich, als Belgien sich nach der Kriegserklärung an Frankreich weigerte, die deutsche Armee durchmarschieren zu lassen. Das Deutsche Reich musste nun also das neutrale Belgien besetzen, was wiederum der britischen Regierung den erforderlichen Vorwand lieferte, um ihre Kriegsbeteiligung innenpolitisch durchzusetzen. Richtig trübe wurde die Stimmung in Berlin aber, als der Schlieffen-Plan scheiterte und es französischen und britischen Armeen gelang, den deutschen Vormarsch an der Marne zu stoppen. Der preußische Kriegsminister und Chef des deutschen Generalstabs Erich von Falkenhayn sah den Krieg bereits im November 1914 als verloren an, weil ein Kampf gegen alle drei Staaten gleichzeitig und an zwei Fronten nicht zu gewinnen sei. Die Verbündeten erwiesen sich als noch schwächer als erwartet. Außerdem konnten weitere Länder, etwa Italien und Rumänien, entgegen den Erwartungen nicht als Verbündete gewonnen werden. Trotzdem presste die Reichsleitung alles aus der deutschen Bevölkerung heraus und setzte auf verzweifelte Maßnahmen. Im Jahr 1915 setzte sie eben erst entwickelte chemische Kampfstoffe erstmalig ein. Sie beherrschten von da an das Bild an der Westfront. Zudem unterstützte die Regierung ab 1916 Sozialrevolutionäre und Nationalisten in der russischen Ukraine, in Finnland und Polen. Schließlich, nach der Februarrevolution 1917, genehmigte der Kaiser den Transport russischer Revolutionäre durch deutsches Gebiet, um die Revolution im Zarenreich voranzutreiben – aus der Geschichte wissend, was das für seinen Mitmonarch in Petrograd bedeuten konnte. Zuletzt, als Ende 1918 die Niederlage nicht mehr zu verschleiern war, gaben sich die Eliten des Kaiserreichs alle Mühe, die Schuld für die Niederlage den revoltierenden Soldaten und Matrosen in die Schuhe zu schieben. Sie hatten nur insofern recht damit, dass die Oberste Heeresleitung ohne den Aufstand auch noch den letzten Mann in diesem imperialistischen Krieg verheizt hätte. Doch die Revolution beendete den Krieg und stürzte den Kaiser. ■

»Allgemeine Kriegsbegeisterung? Das ist eine Legende!« Im August 1914 zog ganz Deutschland begeistert in den Krieg. So steht es in den Geschichtsbüchern. Unser Gesprächspartner Arno Klönne empfiehlt: Genauer hinsehen!

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ie SPD schreibt auf ihrer Homepage über den August 1914: »In der Stunde des Krieges regiert der Nationalismus überall in Europa. Sozialdemokraten stehen dem Taumel machtlos gegenüber«. Hatte die Kriegsbegeisterung tatsächlich die gesamte Bevölkerung erfasst? Das ist eine Legende. Es gab in der Landbevölkerung und der Arbeiterschaft erhebliche Vorbehalte und Widerstände gegen den Krieg. Die Leute dachten realistisch: Einberufung bedeutete, dass die vorher durch Arbeit gesicherte Existenz der Familie prekär würde – im Falle des Todes an der Front sogar höchst gefährdet. Trotz Lohnerhöhungen und sozialen Reformen kämpften die meisten Familien der unteren Klassen ums Überleben. Deshalb war hier die Sorge bei Kriegsausbruch groß. Aber die Bilder von jubelnden Massen sind doch nicht alle gestellt... Natürlich gab es Kriegsbegeisterung, aber die war eben nicht allgemein. Das deutschnational gesinnte Bildungsbürgertum war euphorisiert, ebenso die Eliten. Für die breite Masse galt das aber

Interview: Stefan Bornost

Arno Klönne

Arno Klönne war Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und ist Autor zahlreicher Bücher zu unterschiedlichen Themen, darunter zur Geschichte der Sozialdemokratie.

nicht. Noch im Juli 1914 gab es Massenkundgebungen gegen die Kriegsgefahr, organisiert von der damaligen Sozialdemokratie. Die sind nicht durch das Kommando eines Parteiapparats auf die Beine gebracht worden, sondern weil große Teile der Bevölkerung den Krieg fürchteten. Und das aus gutem Grund. Schon vor dem Jahr 1914 war klar, dass der nächste Krieg anders und grausamer sein würde als die vorherigen – weil die Modernisierung der Industrie natürlich auch moderne Waffen mit größerer Zerstörungsgewalt hervorbracht hatte. Der Reformpädagoge Wilhelm Lamszus brachte im Jahr 1912 die Schrift »Das Menschenschlachthaus – Bilder vom kommenden Kriege« heraus. Das Buch war ein Bestseller und wurde in viele Sprachen übersetzt. Es gab sogar eine Sonderausgabe für die Arbeiterjugendverbände. Die Warnung vor dem Krieg war also durchaus präsent und damit auch die Angst. Aber wir alle kennen doch die Bilder von Eisenbahnwaggons, auf denen steht: »Wir sehen uns in Paris«. Solche Parolen hat doch nicht die Obrigkeit geschrieben, sondern die Soldaten selbst. Das ist schon richtig. Die Parolen wa-

SCHWERPUNKT 100 Jahre erster weltkrieg

Kurz vor Beginn des Weltkrieges rechnete Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg fest damit, dass ein gleichzeitiger Krieg gegen Frankreich und Russland unvermeidbar wäre, hoffte aber, die Briten zur Neutralität bewegen zu können. Ein kontinentaler Zweifrontenkrieg wäre, so die Führung der Reichswehr, gewinnbar, wenn ein verbündetes Österreich-Ungarn die russische Armee einige Wochen im Osten aufhalten könnte. In dieser Zeit könnte die Reichswehr im Westen gemäß des schon lange zuvor ausgearbeiteten »Schlieffen-Plans« die französischen Befestigungen umgehen und Frankreich schlagen. Voraussetzung dafür war also eine Durchmarschgenehmigung Belgiens und die Kriegsbeteiligung Österreich-Ungarns. Dessen Herrscher hatten aber kein Interesse an einem kontinentalen Krieg, der deutlich über ihre Kräfte gehen würde. Sie wollten ihren Einfluss auf dem

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Die schlossen 1914 mit den Unternehmern einen »Burgfrieden«, verzichteten also auch auf Arbeitskämpfe... Ja, aber ich meine schon die Zeit davor. Wie hätte die Arbeiterbewegung vor 1914 effektiv gegen Militarismus kämpfen können? Das entscheidende Mittel wäre der politische Streik gewesen. Mit diesem Machtinstrument hätte sie wirklich etwas gegen die Aufrüstung tun können. Doch die gewerkschaftlichen Führungen hatten den politischen Streik nach einer längeren Debatte als Mittel des politischen Kampfs explizit abgelehnt. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass die Bereitschaft zum offenen Konflikt mit dem wilhelminischen Establishment wenig ausgeprägt war.

Die Sozialdemokratie agitierte jahrzehntelang gegen den Militarismus, mobilisierte noch im Juli Demonstrationen gegen den Krieg und im August stimmte dann ihre Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zu. Woher der jähe Sinneswandel? Da muss man genau hinsehen, ob das wirklich so plötzlich kam. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten war keine reine Vorstandsentscheidung, sondern wurde von einer breiteren Strömung in der Partei mitgetragen. Die hat sich schon vor 1914 herausgebildet. Längst vor dem Ersten Weltkrieg kämpfte die SPD keinesfalls geschlossen gegen Nationalismus und Imperialismus – es gab über diese Fragen erhebliche Konflikte in der Partei.

Karl Liebknecht wollte im Jahr 1906 einen Antrag an den SPD-Parteitag auf Gründung eines »Ausschusses für antimilitaristische Propaganda« stellen. Dafür fand er aber in der Führung keine Mehrheit. War da auch übergroße Vorsicht der Grund? Das war das wesentliche Motiv. Die Sozialdemokratie wollte sich vor dem Vorwurf schützen, sie sei antipatriotisch. Dahinter steckte auch die traumatische Erfahrung des Verbots der Sozialdemokratie durch Bismarcks Sozialistengesetz. Die SPD-

Zum Beispiel? Die herrschenden Schichten warfen den Sozialdemokraten vor, sie seien vaterlandslose Gesellen – damit wurde ihnen der Zugriff zur »Beteiligung« im Staat verwehrt. Eine Reaktion darauf war sozialdemokratischer Patriotismus. Führende Sozialdemokraten bekannten sich schon vor Kriegsbeginn zur Vaterlandsverteidigung und stellten in Aussicht, bei einem Verteidigungskrieg, insbesondere gegen das reaktionäre russische Zarenreich, mitzumachen. Man erhoffte sich dadurch eine höhere Akzeptanz im Kaiserreich und ein offenes Ohr für sozialdemokratische Anliegen. Eine wichtige und problematische Rolle spielten dabei die Führungen der Freien Gewerkschaften.

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Die SPDFührung hoffte auf einen »progressiven Krieg«

Führung befürchtete, dass eine zu radikale Oppositionshaltung die eigenen Organisationsstrukturen gefährden würde. Dazu kamen aber auch ideologische Entwicklungen. Viele Sozialdemokraten sind schlicht in die Falle nationalistischer und imperialistischer Agitation gegangen. Zwei Beispiele: Ludwig Frank, ein tüch-

tiger Organisator der sozialdemokratischen Arbeiterjugendverbände, war nicht in der Lage, die aggressiven deutschen Interessen bei diesem Krieg zu durchschauen. Er meldete sich freiwillig als Soldat und starb in den ersten Kriegswochen. Der Arbeiterdichter Karl Bröger brachte bei Kriegsbeginn die vielzitierten Zeilen hervor, wonach sich nun zeige, »dass der ärmste Sohn des Landes auch der Getreueste ist« – eine Werbung für den Kriegsdienst. Da zeigt sich, dass der Glaube an die »Volksgemeinschaft« schon lange in die SPD eingedrungen war. Im Krieg wurden die Fortschritte, welche die Arbeiterbewegung bei den Löhnen, der Arbeitszeit und den Arbeitsbedingungen erkämpft hatte, massiv zurückgedreht. Trotzdem hielt die Gewerkschaftsführung am »Burgfrieden«, dem Bündnis mit Staat, Militär und Unternehmern, fest. August Bebel sagte im Jahr 1907, er sei »als alter Knabe noch bereit, die Flinte auf den Buckel zu nehmen und in den Krieg gegen Russland zu ziehen«. Welche Rolle spielte die Haltung der Sozialdemokratie zur russischen Despotie in der Auseinandersetzung über die Kriegskredite? Eine bedeutende: Dahinter stand die Theorie vom »progressiven Krieg«. Den hatte man als Sozialdemokrat zu unterstützen, auch wenn die Partei eigentlich gegen Militarismus war. Zweifellos war Russland im Vergleich zu westeuropäischen Ländern eine besonders reaktionäre Gesellschaft mit feudalen Zügen. Doch dies war nicht der Grund, weshalb es Konflikte zwischen den deutschen und russischen Eliten gab. Die Herrschenden in Berlin hatten kein Problem mit der Armut der Bauern oder mit der Unterdrückung progressiver Bestrebungen durch das Zarenreich. Sie sahen in Russland einen imperialen Konkurrenten, den es auszuschalten galt. Deutsche Planungsstäbe hatten schon entwickelt, wie das imperiale Projekt nach einem Sieg gegen Russland umzusetzen sei: Die Ukraine sollte unterworfen werden und dem deutschen Reich als Kornkammer dienen. Russland selbst sollte zerteilt werden. Das waren geopolitische Machtziele, keine progressiven Motive. Und deshalb war es falsch, einen solchen Krieg zu unterstützen und den

Herrschenden fortschrittliche Beweggründe zu unterstellen, die sie nie hatten. Die SPD hatte in den Vorkriegsjahren intensiv über die Haltung zur Kolonialpolitik debattiert. Welche Positionen gab es innerhalb der Partei? Hatten sie Einfluss auf die Entscheidung bezüglich der Kriegskredite? In dieser Debatte gab es zwei fatale Argumentationslinien. Theoretiker des rechten Parteiflügels behaupteten, dass es dem deutschen Proletariat nütze, wenn deutsche Unternehmer auf dem Weltmarkt weiter expandieren würden. Aber ein Aufschließen der späten Großmacht Deutschland zu ihren Konkurrenten war nur durch militärische Auseinandersetzungen realisierbar. Deshalb führte das Argument direkt in die Kriegsbefürwortung. Seit 1914 hieß es eben auch innerhalb der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften : »Wir müssen siegen, sonst leidet das deutsche Proletariat«. Aus dem Spruch »Was gut ist für Krupp, ist nicht gut für Krause (gemeint ist der einfache Arbeiter, Anm. d. Red.)«,

wurde nunmehr: »Was gut ist für Krupp, ist auch gut für Krause«. Die zweite Fehleinschätzung betraf die Frage der Kolonien. Hier argumentierten auch Sozialdemokraten wie der spätere Parteivorsitzende Friedrich Ebert, der Erwerb von Kolonien sei eine »zivilisatorische Mission«. Damit lieferten sie eine moralische Legitimation für gewaltsame Geopolitik. Verknüpft war dies mit rassistischen Vorstellungen: »Die Primitiven müssen mit Gewalt zur Zivilisation gebracht werden«. Ähnliche Begründungen finden sich heute auch, wenn von »Failed States« geredet wird, die durch westliche Heere demokratisiert werden müssten. Solche Positionierungen wirkten nach: So war Gustav Noske erst ein heftiger Verfechter der Kolonialpolitik, dann ein glühender Vertreter der Kriegsbejahung der Sozialdemokratie. Nach 1918 war er ein führender Akteur beim Abwürgen der revolutionären Entwicklung. Das alles ist Teil der Geschichte der SPD. Es wurde nie kritisch aufgearbeitet und wirkt bis heute weiter. ■

Was den Konzernen nutzt, nutzt auch den Arbeitern. Daran glaubt die Sozialdemokratie bis heute

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SCHWERPUNKT 100 Jahre erster weltkrieg

ren aber auch Ausdruck von Hoffnung: Nämlich dass der Krieg, ähnlich wie der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, in kurzer Zeit und ohne größere Verluste siegreich beendet werden könnte. Das versprach ja auch die Propaganda der Herrschenden. Von einem langen Krieg mit enormen Opfern an der Front und Verelendung der Bevölkerung sprachen die Eliten selbstverständlich nicht. Zur psychologischen Massenmobilisierung war die Illusion eines schnellen Siegs sehr wichtig – deshalb wurden die Bilder, die du gerade erwähnt hast, auch über die nationale Propagandamaschine verbreitet. Das macht sie aber nicht zu einem repräsentativen Abbild der allgemeinen Stimmung in der Armee.

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Schwerpunkt

VON Stefan Bornost

© Deutsches Bundesarchiv

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Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

A

m Abend des 4. August 1914: Eine handvoll Vertreter der SPD-Linken versammelt sich in Rosa Luxemburgs Wohnung in Berlin-Südende. Die Stimmung ist gedrückt, denn das Unfassbare ist geschehen: Wenige Stunden zuvor hat die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den kaiserlichen Kriegskrediten zugestimmt. Damit unterstützt die Partei genau den Krieg, vor dem sie seit Jahren gewarnt hatte. Bisher vertrat die Sozialdemokratie einen klar antimilitaristischen Standpunkt. Noch im Jahr 1912 hieß es in einer Resolution der Sozialistischen Internationale, dass es im Falle eines Krieges »die Pflicht der Sozialdemokratie« sei, »für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.« Doch jetzt, wo den Worten Taten folgen sollten, knickt die SPDFührung ein.

Schon bald rumorte es in der SPD

Die Linken um Rosa Luxemburg hatten sich getroffen, um zu diskutieren, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Sie waren wenige – lediglich Hermann Duncker, Hugo Eberlein, Julian Marchlewski, Franz Mehring, Ernst Meyer und Wilhelm Pieck saßen in 24

ihrer Wohnung. Luxemburg hatte trotz oftmals großer Differenzen mit der SPD-Führung nie eine feste Gruppe von Gleichgesinnten um sich geschart. Sie hatte befürchtet, sich so in der Partei zu isolieren. Allen Anwesenden war klar, dass die gesamte Arbeit jetzt auf den Aufbau einer Antikriegsbewegung zu richten sei. Umstritten war jedoch, welche organisatorische Konsequenz die Linken aus dem Verrat der SPD-Führung ziehen sollten. Die Idee eines gemeinsamen, öffentlichkeitswirksamen Parteiaustritts kam auf – und wurde nach kurzer Diskussion verworfen. Luxemburgs meinte dazu später: »Aus kleinen Sekten und Konventikeln kann man ›austreten‹, wenn sie einem nicht mehr passen, um neue Sekten und Konventikel zu gründen. Es ist nichts als unreife Phantasie, die gesamte Masse der Proletarier aus diesem schwersten und gefährlichsten Joch der Bourgeoisie durch einfachen ›Austritt‹ befreien zu wollen und ihr auf diesem Wege mit tapferem Beispiel voranzugehen.« Zugleich benannten die SPD-Linken klare Kriterien für ihr weiteres Verbleiben in der SPD. Leo Jogiches, der sich der Gruppe bald anschloss, fasste sie zusammen: »Die Zugehörigkeit zur gegenwärtigen SPD darf von der Opposition nur solange aufrechterhalten werden, als diese ihre selbständige politische Aktion nicht hemmt noch beeinträchtigt. Die Opposition verbleibt in der Partei, nur um die Po-

litik der Mehrheit auf Schritt und Tritt zu bekämpfen und zu durchkreuzen, die Massen von der unter dem Deckmantel der Sozialdemokratie betriebenen imperialistischen Politik zu schützen und die Partei als Rekrutierungsfeld für den proletarischen antiimperialistischen Klassenkampf zu benutzen.« Luxemburg und ihre Genossen gingen davon aus, dass an der SPD-Basis große Verwirrung, aber auch Unmut über den Kurswechsel der Führung herrsche. Deshalb beschlossen sie eine Art Doppelstrategie. Zum einen wollten sie sich über Flugblätter direkt an die Arbeiterschaft wenden, um so eine außerparlamentarische Opposition gegen den Krieg aufzubauen. Zum anderen sollte auf allen Ebenen der Kampf um die Sozialdemokratie geführt werden. Sehr schnell zeigte sich, dass es tatsächlich in der SPD rumorte. Aus vielen Ortsvereinen wurde Kritik an der Haltung des Vorstands laut, verschiedene lokale Parteizeitungen veröffentlichten Proteststimmen gegen die Zustimmung zu den Kriegskrediten. Dieser Unmut erreichte bald auch die Reichstagsfraktion. Am 4. August hatten noch alle Abgeordneten für die Kriegskredite gestimmt, auch die Linken um Karl Liebknecht hatten sich der Fraktionsdisziplin untergeordnet. Doch nachdem Liebknecht bei Parteiversammlungen dafür kritisiert wurde, begann er, in der Fraktion gegen den Krieg zu arbeiten. Bei einer erneuten Abstimmung über die Kriegskredite am 2. Dezember 1914 stimmte er als einziger Abgeordneter mit »Nein« – und wurde so schlagartig zu einer Ikone des Widerstands. Im Lauf der Zeit konn-

Zu dieser Zeit war die SPD in drei innerparteiliche Strömungen zerfallen. Ganz links standen die revolutionären Internationalisten. Dazu gehörten die Spartakusgruppe, wie sie sich die Linken um Luxemburg jetzt nannten, oder auch die Bremer Linksradikalen. Die Internationalisten hielten an den politischen Grundlagen fest, welche die Vorkriegssozialdemokratie formuliert hatte: keine Zusammenarbeit mit der eigenen herrschenden Klasse, sondern internationale Solidarität aller Arbeiter, um den Krieg zu beenden. Ihr Ziel war es, die Herrschaft der Kapitalisten zu brechen. Als Mittel hierzu sahen sie Proteste und Massenstreiks von Arbeitern und Soldaten. Auf der »rechten« Seite befanden sich die »Sozialpatrioten« um den Parteivorsitzenden Friedrich Ebert – jene Sozialdemokraten, die den Krieg unterstützten. Sie kontrollierten die gewerkschaftlichen Führungen und versuchten, kampfbereite Arbeiter in den Betrieben zurückzuhalten, um den »Burgfrieden« mit der Regierung nicht zu gefährden. Den aufkeimenden innerparteilichen Protest versuchten die »Sozialpatrioten« autoritär zu unterdrücken, indem sie Kriegsgegner aus Gremien ausschlossen. Zwischen diesen beiden Flügeln stand das »Zentrum«. Dessen Vertreter verfolgten eine Politik des »Sowohl-als-auch«. Anfänglich hatten sie mehrheitlich den Krieg unterstützt. Durch die zunehmenden Horrormeldungen von der Front und unter dem Einfluss der revolutionären Internationalisten bewegten sie sich später in Richtung Kriegsgegnerschaft. Doch

SCHWERPUNKT 100 Jahre erster weltkrieg

Die SPD unterstützt den Ersten Weltkrieg. Trotzdem bleiben die Linken um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in der Partei – zumindest fürs Erste

te er immer mehr Abgeordnete auf seine Seite ziehen. So lehnten am 19. August 1915, knapp ein Jahr nach Kriegsbeginn, bereits 36 Parlamentarier der SPD die Kredite ab. Um ihre Positionen bekannter zu machen, entschlossen sich Luxemburg und Genossen, eine Zeitschrift mit dem Namen »Die Internationale« herauszubringen. Diese sollte die namhaftesten Persönlichkeiten der Opposition zusammenbringen, um möglichst breit in die Partei hineinzuwirken. Außerdem sollte sie dabei helfen, das Netzwerk der Kriegsgegner auf ein ideologisches Fundament zu stellen. Die erste Ausgabe erschien im April 1915 und war ein Riesenerfolg: Von 9.000 gedruckten Exemplaren gingen allein am ersten Abend 5.000 weg. Der Bedarf nach klaren Worten und Ideen gegen den Krieg war an der SPD-Basis enorm. Weil »Die Internationale« so erfolgreich war, kam nie eine zweite Ausgabe heraus – die kaiserlichen Behörden zensierten gnadenlos. Doch das half nichts: Infolge der einsetzenden Kriegsmüdigkeit erhielt die Antikriegsbewegung weiter Zulauf. Parallel dazu verschoben sich auch die Kräfteverhältnisse in der SPD. Im Jahr 1916 hatte die Opposition bereits Verbindungen zu Parteigliederungen in 300 Städten. Die Führung geriet immer mehr unter Druck.

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Weiterlesen Bei diesem Text handelt es sich um leicht überarbeitete Auszüge aus Stefan Bornosts Artikel »Der Weg zur KPD«. Dieser ist erschienen in der aktuellen Ausgabe unserer Theoriezeitschrift theorie21 (»Best of KPD. Linke Organisierung damals und heute«).

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Im Herbst 1916 bewegte sich die SPD unaufhaltsam auf die Spaltung zu. Etliche Ortsvereine entschieden sich, dem Parteivorstand keine Mitgliedsbeiträge mehr zu überweisen. Am 7. Januar 1917 organisierte die Opposition schließlich eine erste Reichskonferenz. Daraufhin beschloss die SPD-Führung den Parteiausschluss sowohl der Revolutionäre als auch großer Teile des Zentrums. Das Schisma der Sozialdemokratie war vollzogen. Hatte die Partei zu Beginn des Weltkrieges noch eine Million Mitglieder, so waren es nun nur noch 200.000. Die Ausgeschlossenen gründeten im Frühjahr 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) – eine Partei mit einer sehr heterogenen Mitgliederschaft: Unter den prominenten Gründern waren Kriegsgegner der ersten Stunde wie Hugo Haase oder Kurt Eisner, marxistische Theoretiker wie Karl Kautsky, aber auch theoretische Wegbereiter der Rechten wie der »Revisionist« Eduard Bernstein. Mit der Entstehung der USPD stellte sich auch für die Revolutionäre die Organisationsfrage neu: War es besser, unabhängig zu agieren oder Fraktionsarbeit innerhalb der neuen Partei zu betreiben? An dieser Frage spaltete sich die Linke. Die Bremer Linksradi-

Anfang November 1918 passierte schließlich das, worauf die Spartakusgruppe jahrelang hingearbeitet hatte: Eine Massenbewegung stürzte den Kaiser und beendete den Krieg. Die Spartakusgruppe hatte bis zu diesem Zeitpunkt ihr Organisationsnetz weiter ausgebaut. Sie brachte acht verschiedene Publikationen heraus, deren Auflage zwischen 25.000 und 100.000 lag – und das, obwohl nahezu die gesamte Leitung im Gefängnis saß. Dennoch war die Gruppe im Verhältnis zu der gigantischen Bewegung, die nun begann, winzig klein: Sie hatte gerade einmal 3.000 Mitglieder. In den Wochen vor Beginn der Revolution waren Vertreter der SPD vom angeschlagenen Kaiser in die Reichsregierung berufen worden. Luxemburg befürchtete nun, dass sich die Sozialdemokratie an die Spitze der revolutionären Bewegung setzen würde, um sie abzuwürgen. Deshalb kämpfe sie dafür, dass sich die USPD bedingungslos auf die Seite der revoltierenden Arbeiter und Soldaten stelle. Ihr Argument lautete: Wenn die Revolution nicht weitergetrieben wird, wenn die Arbeiter den Fabrikherren nicht die Macht entreißen, dann wird die alte Ordnung zurückkehren und fürchterlich Rache nehmen. Doch im revolutionären Überschwang des November 1918 vertrat sie eine Minderheitenposition. Als die SPD verkündete, sie wolle eine gemeinsame Regierung mit der USPD bilden, willigte deren Führung ein. Luxemburg schrieb ernüchtert, die USPD diene nur noch »als Feigenblatt für Ebert-Scheidemann«. Der Spartakusbund, wie sich ihre Gruppe nun nannte, beschloss daraufhin, die USPD zu verlassen. Luxemburg verkündete, dass es »für eine Partei der Halbheit und Zweideutigkeit in der Revolution keinen Platz mehr« gebe.

© Deutsches Bundesarchiv

kalen traten der USPD nicht bei, weil sie den Zentrumsleuten ihre schwankende und halbherzige Haltung vorwarfen. Auch Luxemburg nahm nichts von ihrer Kritik am Zentrum zurück. Trotzdem argumentierte sie für einen Eintritt der Spartakusgruppe in die USPD. Ihre Überlegung war folgende: Die deutsche Arbeiterbewegung brauche eine revolutionäre Massenpartei, die nicht nur gegen den Krieg, sondern auch gegen das kapitalistische System als Ganzes den Kampf aufnimmt. Eine solche Partei entstehe nicht von einem Tag auf den anderen, sondern sei das Ergebnis eines Gärungsprozesses, dessen erste Phase mit der organisatorischen Spaltung der SPD und der Gründung der USPD abgeschlossen sei. Die neue Partei stelle einen bedeutenden Schritt nach links von substanziellen Teilen der Sozialdemokratie dar. Gleichzeitig sei sie so uneinheitlich und die Spannbreite ihrer Flügel so groß, dass bei einer großen gesellschaftlichen Krise, wie zum Beispiel einer revolutionären Massenbewegung, eine Krise der USPD unausweichlich werden würde.

Gemeinsam mit den Bremer Linksradikalen gründete die Spartakisten um die Jahreswende 1918/19 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Die Delegierten erwarteten das baldige Auseinanderbrechen der USPD. Doch zunächst passierte das Gegenteil. Die USPD wuchs rasant – vor allem weil sie Ende Dezember 1918 die gemeinsame Regierung mit der SPD wieder verlassen hatte. Seitdem hatte sich ihre Mitgliederzahl verdreifacht: auf 300.000 im Januar 1919. Eine große Streikbewegung im Ruhrgebiet, die Bayerische Räterepublik und der Kapp-Putsch im März 1920 führten zu einem weiteren Wachstum der USPD. Im Oktober 1920 hatte sie fast 900.000 Mitglieder, bei der vorausgegangenen Reichstagswahl hatte sie 17,9 Prozent der Stimmen erhalten. Nicht nur, dass viele durch die Revolution neu radikalisierte Arbeiter bei der USPD landeten – auch die Partei radikalisierte sich und bewegte sich nach links. Die KPD hingegen griff nicht in die Arbeiterschaft aus. Sie wurde Anfang 1919 verboten, kurz darauf wurden Luxemburg, Liebknecht und Jogiches von rechtsextremen Soldaten ermordet. Ihrer erfahrensten Führungspersönlichkeiten beraubt und durch interne Streitigkeiten gelähmt, kam die Kommunistische Partei bei der Wahl 1920 gerade einmal auf 2,1 Prozent der Stimmen. Neues Leben wurde der KPD ausgerechnet durch die Spaltung der Partei eingehaucht, die viele ihrer Mitglieder zwei Jahre zuvor verlassen hatten. Rosa Luxemburg hatte Recht behalten: Die USPD zerbrach im Oktober 1920 an ihren inneren Widersprüchen. Viele Mitglieder hatten sich weit nach links entwickelt. 300.000 von ihnen entschieden sich für einen Zusammenschluss mit der KPD, die so über Nacht zu einer Massenpartei wurde. Die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands (VKPD) sollte die Weimarer Republik maßgeblich prägen. Rosa Luxemburg erlebte das nicht mehr. ■

Der Krieg ist vorbei: Karl Liebknecht spricht bei einer Revolutionskundgebung im Dezember 1918 im Berliner Tiergarten

SCHWERPUNKT 100 Jahre erster weltkrieg

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die Zentrumsleute wollten keinen offenen Kampf gegen die »Sozialpatrioten« führen, um die Einheit der Partei nicht zu gefährden. Um den Krieg zu beenden, appellierten sie an Kaiser und Militärführung, in Friedensverhandlungen einzutreten. Den Aufbau einer außerparlamentarischen Antikriegsbewegung und deren Ausweitung in eine revolutionäre Bewegung unterstützten sie nur halbherzig. An der Spitze dieser Strömung stand der bekannte marxistische Theoretiker Karl Kautsky. Wie mit dieser Strömung umgehen? Das war eine Frage, vor der die Spartakusgruppe stand. Ein Vorschlag war, eine gemeinsame Organisation innerhalb der SPD zu bilden. Luxemburg war dagegen. Als eine Konferenz der Kriegsgegner im Winter 1916 einberufen werden sollte, schrieb sie: »Unsere Taktik auf dieser Konferenz müsste dahin gehen, nicht etwa die ganze Opposition unter einen Hut zu bringen, sondern umgekehrt aus diesem Brei den kleinen, festen und aktionsfähigen Kern herauszuschälen, den wir um unsere Plattform gruppieren können. Mit organisatorischer Zusammenfassung hingegen ist große Vorsicht geboten. Denn alle Zusammenschlüsse der ›Linken‹ führen nach meiner bitteren langjährigen Parteierfahrung nur dazu, den paar aktionsfähigen Leuten die Hände zu binden.« Luxemburg war nicht gegen die praktische Zusammenarbeit aller Kriegsgegner. Sie glaubte allerdings, dass die inhaltlichen Gegensätze so groß waren, dass ein organisatorischer Zusammenschluss mit dem Zentrum die Handlungsfähigkeit der Revolutionäre beeinträchtigen würde.

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Der deutsche Imperialismus ist so alt wie das Deutsche Reich – und wieder quicklebendig. Ein Kommentar VON Stefan Bornost

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er neue deutsche Militarismus hat in Joachim Gauck einen begeisterten Fürsprecher. »Als letztes Mittel« der deutschen Außenpolitik dürfe man auch »den Einsatz militärischer Mittel nicht von vornherein verwerfen«, sagte der Bundespräsident dem Deutschlandfunk. Er habe »das Gefühl, dass unser Land eine Zurückhaltung, die in vergangenen Jahrzehnten geboten war, vielleicht ablegen sollte zugunsten einer größeren Wahrnehmung von Verantwortung«. Und Verantwortung wahrnehmen heißt für Gauck: international politische Führung übernehmen, wenn nötig mit Waffengewalt. Zu deutschem Militarismus und Expansionsstreben in zwei Weltkriegen sieht er keine Kontinuität, weil heutzutage »Deutschland eine solide und verlässliche Demokratie und ein Rechtsstaat« sei. So stellen es die Herrschenden gerne dar: Der deutsche Imperialismus sei ein Projekt des Kaiserreiches und des NS-Regimes gewesen. Da beide nicht mehr existieren, bestehe auch der deutsche Imperialismus nicht mehr. Die heutige deutsche Außenpolitik verfolgt aber dasselbe imperiale Projekt wie vor hundert Jahren: Europa führen, um die Welt zu führen. Schon in der Entstehungszeit des Deutschen Zollvereins von 1834 wurden erste Pläne für eine »europäische Großraumwirtschaft« unter deutscher Führung entwickelt – zum Beispiel in den Schriften von Friedrich List, dem »Vater der Nationalökonomie«. Preußen und Österreich sollten die Vorherrschaft über

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ein Gebiet von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer erlangen. Den Ländern Ost- und Südosteuropas schrieb List den Status von Agrar- und Rohstoffproduzenten zu. Gleichzeitig sollten sie als Absatzmärkte für deutsche Produkte und als Handelsbrücke in den Nahen Osten dienen. Außerdem waren Gebiete Afrikas und Lateinamerikas als »Ergänzungszonen« vorgesehen. Eben eine solche »mitteleuropäische Großraumwirtschaft« gegen England, Frankreich, Russland und die USA durchzusetzen, war schließlich die Hauptmotivation des Kaiserreichs, als es den Ersten Weltkrieg anzettelte. Der »Griff nach der Weltmacht« endete 1918 in der Niederlage. An imperiale Expansion war in der ökonomisch und außenpolitisch geschwächten Weimarer Republik – vorerst – nicht zu denken. Mit der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise verschärfte sich die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Industriestaaten enorm. Diese Situation ließ den Versuch Deutschlands scheitern, die Bedingungen des Versailler Vertrags – die eine Schwächung des deutschen Kapitalismus auf dem Weltmarkt darstellten – auf dem Verhandlungswege aufzuheben. In dieser Situation rückte das Projekt »mitteleuropäische Großraumwirtschaft« wieder ins Zentrum des Denkens der deutschen Unternehmer. »Erst ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Odessa wird Europa das wirtschaftliche Rückgrat geben, dessen es zu seiner Behauptung seiner Bedeutung in der Welt bedarf«, erklärte im März 1931 Carl Duisberg, Aufsichtsratsvorsitzender der IG Farben, vor der Industrie- und Handelskammer München.

Gemeint war ein Europa unter deutscher Vorherrschaft. Mit Hitlers Machtergreifung wurden die Weichen für die praktische Umsetzung dieser Pläne gestellt. So begann sich der deutsche Kapitalismus mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 und einem massiven Aufrüstungsprogramm 1936 auf die militärische Entscheidung des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfs vorzubereiten. Wie sich dieses Großmachtprojekt propagandistisch am besten verkaufen ließe, beschrieb NSDAPReichsleitungsmitglied Werner Daitz im Jahr 1940: »Wenn wir den europäischen Kontinent wirtschaftlich führen wollen, wie dies aus Gründen der wirtschaftlichen Stärke des europäischen Kontinents als Kernraum der weißen Rasse unbedingt erforderlich ist und eintreten wird, so dürfen wir aus verständlichen Gründen diese nicht als eine deutsche Großraumwirtschaft öffentlich deklarieren. Wir müssen grundsätzlich immer von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst und aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, technischen Schwergewicht Deutschlands und seiner geographischen Lage.«

Bonner Regierungen das enge Bündnis mit Frankreich innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Nach dem Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks wandelte sich die Situation in den 1990er Jahren stark. Die USA verloren plötzlich die unangefochtene politische Vorherrschaft in Europa. Der wichtigste Beweis hierfür war die Art und Weise, wie die Kohl-Regierung die Wiedervereinigung Deutschlands betrieb: nämlich vorbei an den USA, Frankreich und Großbritannien in direkten, bilateralen Verhandlungen mit der Sowjetführung unter Michail Gorbatschow. Nicht umsonst wurden Stimmen laut, die eine politische Vormachtstellung des wiedervereinigten Deutschlands in Mittel- und Osteuropa befürchteten. Die Regierung Kohl gab sich betont zivil, von neuen, weltweiten Aufgaben der Bundeswehr war zunächst nicht die Rede. Doch 25 Jahre später ist von solcher Zurückhaltung nichts mehr zu spüren. Wenn die deutschen Eliten unter sich sind, reden sie Klartext. Ein schönes Beispiel dafür ist das Papier »Neue Macht – Neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik. Gleich zu Beginn stellen die Autoren klar, dass Deutschland »künftig öfter und entschiedener führen« müsse, um seine geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen weltweit zu verfolgen. Sie benennen deutsche Einflusszonen, die auch militärisch gesichert werden müssten: »Eine pragmatische deutsche Sicherheitspolitik« müsse sich »in erster Linie auf das zunehmend instabil werdende europäische Umfeld von Nordafrika über den Mittleren Osten bis Zentralasien konzentrieren«.

Europa führen, um die Welt zu führen – das ist das Projekt der deutschen Eliten

Der verlorene Zweite Weltkrieg stellte einen schweren Rückschlag für den deutschen Imperialismus dar – doch bedeutete er keineswegs dessen Ende. In den ersten Nachkriegsjahren ging es zunächst ums nackte ökonomische Überleben. Doch mit dem beginnenden Kalten Krieg bot sich für den deutschen Imperialismus die Chance einer schrittweisen Rückeroberung seines Einflusses. Bedenklich aus der Sicht der herrschenden Klasse war nach 1945 vor allem das Auseinanderklaffen von ökonomischer und politischer Macht. Solange der Ost-WestKonflikt die Welt dominierte, konnte das westdeutsche Kapital zwar damit rechnen, dass die USA als Weltpolizist die deutschen Interessen mitvertraten. Aber diese Art von Stellvertreter-Imperialismus barg aus deutscher Sicht stets die Gefahr der Abhängigkeit und der Unterordnung unter US-amerikanische Interessen. Diese Situation war von Seiten des westdeutschen Kapitalismus niemals erwünscht, wurde aber als unausweichlich akzeptiert. Dennoch ist die Geschichte der sechziger und siebziger Jahre voller Konflikte und Spannungen zwischen den USA und der BRD. Um zu verhindern, dass sich neben der besonderen militärischen auch noch eine wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA entwickelte, suchten

Das sind die Konturen des deutschen Imperialismus im Jahr 2014: Ausgehend von der wirtschaftlichen und politischen Dominanz in Europa werden weitere Regionen in den Fokus genommen. Das Personal wechselt, die Taktiken und Begründungen ändern sich – die Ziele bleiben dieselben. Heute gilt es zurückzukehren zu Rosa Luxemburgs Erkenntnis aus dem Jahre 1911, nämlich »dass der Militarismus in seinen beiden Formen – als Krieg wie als bewaffneter Friede – ein legitimes Kind, ein logisches Ergebnis des Kapitalismus ist, das nur mit dem Kapitalismus zusammen überwunden werden kann, dass also, wer aufrichtig den Weltfrieden und die Befreiung von der furchtbaren Last der Rüstungen wolle, auch den Sozialismus wollen müsse.« ■

SCHWERPUNKT 100 Jahre erster weltkrieg

Immer wieder: Zu den Waffen

© Medien Bundeswehr / CC BY-ND / flickr.com

Schwerpunkt

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Schwerpunkt ukraine

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Im Zwiespalt Die Rolle Deutschlands im Ukraine-Konflikt

Verfeindete Brüder Eine Anatomie der ukrainischen Oligarchen

»Gegen die Regierung, gegen die Separatisten« In der Berichterstattung zur Ukraine liest man viel von Faschisten und prorussischen Kräften. Aber was macht eigentlich die Linke? Oleksandra Bienert bringt Licht ins Dunkel

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Haben Hoffnungen in die neue Regierung die Bewegung demobilisiert? Das spielt sicher eine Rolle. Viele sind nach Monaten des Protestes einfach auch

Interview: Martin Haller

Oleksandra Bienert

Oleksandra Bienert ist eine ukrainische Historikerin und Menschenrechtsaktivistin. Sie lebt in Berlin.

müde. Das beobachte ich auch in meinem Freundeskreis. Außerdem gibt es durch die Entwicklung auf der Krim und in der Ostukraine nun andere Probleme. Tausende Menschen sind von dort geflohen. Aktivistinnen und Aktivisten des Maidan unterstützen nun diese Flüchtlinge. Viele der Demonstranten haben große Hoffnungen in die EU gesetzt. Die neue Regierung hat nun ein Assoziierungsabkommen mit ihr unterzeichnet, das massive Sozialkürzungen nach sich ziehen wird. Verändert dies die Stimmung gegenüber der Europäischen Union? Bislang nicht. Die Menschen in der Ukraine wissen zum Großteil nicht, worum es in dem Abkommen konkret geht. Europa bedeutet für viele Ukrainer zuerst einmal, dass es einen Rechtsstaat gibt, weniger Willkür, weniger Korruption. Dass es sich bei dem Abkommen um ein neoliberales Strukturanpassungsprogramm handelt, davon hört man in der Ukraine wenig. Vor allem die Tatsache, dass mit dem

SCHWERPUNKT ukraine

© Ivan Bandura / CC BY / flickr.com

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er Ausgangspunkt für die Krise in der Ukraine war die Massenbewegung auf dem Maidan. Wie sieht es dort heute aus? Gibt es die Bewegung noch oder ist sie längst vom Bürgerkrieg verdrängt worden? Ich war zuletzt Ende Mai auf dem Maidan. Die Zelte standen da immer noch. Die Zusammensetzung der Bewegung hatte sich aber sehr verändert. Viele Aktivistinnen und Aktivisten stammen von der Krim oder aus der Ostukraine. Sie waren auf den Maidan gekommen, um mitzudemonstrieren. Jetzt bleiben sie dort, weil sie Angst vor den Kämpfen in ihren Heimatorten haben. Als Massenbewegung existiert der Maidan nicht mehr. Etliche seiner Aktivistinnen und Aktivisten sind jetzt aber in zivilgesellschaftlichen Initiativen aktiv.

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Paramilitärische Kämpfer des Rechten Sektors im März 2014. Nach eigenen Angaben wuchs die faschistische Gruppierung in Folge der Revolution von etwa dreihundert auf mehrere tausend Mitglieder an

Abkommen zahlreiche Subventionen für die einfache Bevölkerung eingeschränkt werden, ist kaum jemandem bekannt.

Wie sind linke Ideen in der Bewegung angekommen? Eigentlich gut, vor allem die sozialen Fragen interessieren die Menschen. Aber die

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Linke hat natürlich ein Riesenproblem: Wir haben siebzig Jahre Sowjetunion hinter uns. Der Begriff »links« wird bei uns mit der sowjetischen Diktatur gleichgesetzt und mit den Millionen Toten in Verbindung gebracht. In jeder Familie gibt es Menschen, die in den Gulag verschleppt wurden und in den Lagern starben. Auch in meiner Familie ist das passiert. Das bedeutet aber nicht, dass man als Linke oder Linker in der Ukraine nichts ausrichten kann. Aktivisten der studentischen Gewerkschaft Prjama Dija (Direkte Aktion) haben beispielsweise auf dem Maidan ein Flugblatt mit einer leicht veränderten Version von Lenins Aprilthesen (aus der Russischen Revolution von 1917, Anm. d. Red.) verteilt – ohne darauf

zu schreiben von wem diese Thesen ursprünglich stammen. Viele Leute reagierten darauf total positiv und meinten: »Ja, das ist genau das, was wir wollen«. Ihnen ging es um Umverteilung, um die Verbesserung ihrer sozialen Lage. Viele Linke in Deutschland beziehen sich positiv auf die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU). Haben sie Recht damit? Nein, leider nicht. Zwar hat sich die Kommunistische Partei der Ukraine etwas von der sowjetischen Kommunistischen Partei distanziert. Dafür arbeitet sie jetzt sehr eng mit der Partei der Regionen zusammen. Die Partei der Regionen ist ein absoluter Oligarchenverein – ein Zusam-

menschluss von Geschäftsleuten aus der Ostukraine. Der Vorsitzende der KPU Petro Simonenko gehört zu den reichsten Politikern der Ukraine und ist als Linker vollkommen unglaubwürdig. Er ist vielfacher Millionär, weil er mit den Oligarchen nicht nur zusammenarbeitet, sondern sich auch von ihnen kaufen lässt. Die KPU ist also definitiv keine Partei, auf die man als Linker Bezug nehmen kann. Welche linken Kräfte gibt es denn? Es existieren in der Ukraine mehrere kleine linke Gruppierungen und Parteien. Eine von ihnen ist die Partei Sozialistische Ukraine. Im Zuge der Maidan-Proteste sind nun auch andere progressive

Linke zu dieser Partei gestoßen. Mit »progressiv« meine ich die nicht-autoritären Linken. Darunter waren Gruppen wie die Liva Oppositsia (Linke Opposition) und andere zivilgesellschaftliche Gruppierungen, die auf dem Maidan aktiv waren. Statt eine weitere Kleinstpartei zu gründen, haben sie entschieden, sich einer bereits bestehenden Partei anzuschließen. Im Gespräch waren die Sozialistische Partei der Ukraine, die wie die KPU aus der ehemaligen KPdSU hervorgegangen ist, die Union der ukrainischen Anarchisten und die Partei Sozialistische Ukraine. Ich war dabei, als die Entscheidung gefallen ist, und es war sehr spannend zuzusehen. Am Ende haben sie sich der kleinen und noch unbekannten Partei

SCHWERPUNKT ukraine

Wie hat sich die ukrainische Linke zum Maidan verhalten? Das ist sehr unterschiedlich. Viele Linke sind zunächst gar nicht auf den Maidan gekommen und haben die Bewegung kritisiert. Das änderte sich, als die Regierung die Proteste für illegal erklärte. Daraufhin kam es zu den ersten massiven Auseinandersetzungen. Leute haben angefangen Autoreifen anzuzünden und Barrikaden zu errichten, die ersten Schüsse fielen. Da sind auch viele Linke auf die Straße gegangen und haben mitgeholfen.

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In der Regierung sitzen mit der Partei Swoboda nun auch Faschisten. Wie geht die ukrainische Linke damit um? Wir waren alle schon zu Beginn der Proteste sehr beunruhigt und haben gegen die Übergriffe auf Homosexuelle und Migranten durch Anhänger von Swoboda demonstriert. Das gab und gibt es natürlich. Aber ich warne davor, die Gefahr des Faschismus zu übertreiben. Im Jahr 2007 bekam Swoboda weniger als ein Prozent der Stimmen, 2012 waren es bereits mehr als zehn Prozent. Ihre Wählerinnen und Wähler sind allerdings nicht alle überzeugte Nazis. Hauptmotiv, die Swoboda zu wählen, war der Protest gegen Janukowitsch. Wir werden sehen, wie stark Swoboda bei den nächsten Parlamentswahlen wird. Bei den Präsidentschaftswahlen erhielt ihr Kandidat, Oleh Tjahnybok, nur ein Prozent der Stimmen, Dmytro Jarosch, der Kandidat des Rechten Sektors, noch weniger. Die Gruppen, die den Rechten Sektor bilden, waren vor der Revolution total marginal. Nur wir Aktivisten, die sich mit ihnen auseinandergesetzt haben, kannten die überhaupt. Jetzt haben sie einen großen Bekanntheitsgrad erreicht. Meine Einschätzung ist, dass es für ihre faschistische Ideologie nach wie vor keine große Unterstützung gibt. Damit dies so bleibt, setzen wir unsere antifaschistische, antirassistische und antihomophobe Arbeit fort.

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Putin-Kurs. Das führt zu allerlei Widersprüchen in ihrer Politik. Borotba hatte den Maidan nicht unterstützt, sondern in der Gesamtheit als »faschistisch« verurteilt. Gleichzeitig kämpfen ihre Mitglieder in der Ostukraine Seite an Seite mit russi-

Der Begriff »links« wird bei uns mit der sowjetischen Diktatur gleichgesetzt ohnehin alles sehr schnell. Ich bin zuversichtlich. Meines Erachtens hat die Partei Sozialistische Ukraine das Potenzial, zu wachsen. Wen meinst du, wenn du von »autoritären Linken« sprichst? Damit meine ich vor allem Borotba. Das ist eine Gruppe, die sich im Jahr 2011 gegründet hat. Sie ist also als Organisation noch relativ jung. Im Gegensatz zu Organisationen wie Liva Oppositsia steht sie für einen starken prorussischen und Pro-

schen Nazis. Sie behaupten, die »Volksrepubliken« von Donezk und Lugansk stünden für sozialen Fortschritt. Tatsächlich haben die aber nichts Soziales an sich. Die Separatisten kümmern sich nicht um die Probleme der Menschen, sondern nur um ihre eigenen politischen Interessen. Mit dem Kampf für eine Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung hat das nichts zu tun. Interessanterweise wurde gerade einige Veranstaltungen in Deutschland mit Vertretern von Borotba abgesagt. Außer-

dem distanzieren sich mittlerweile einige regionale Vertreter der LINKEN, etwa in Hamburg, von der Gruppe. Wie gehen die progressiven linken Kräfte mit der drohenden Spaltung des Landes um? Die progressiven Linken, wie die Liva Oppositsia, sind gegen die Regierung in Kiew aber auch gegen die Separatisten. Sie distanzieren sich eindeutig von allen nationalistischen Kräften und kritisieren sowohl die ukrainische Bourgeoisie als auch Russland und die EU, die letztlich alle ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen. Aus meiner Menschenrechtsperspektive ist die Frage der Grenzziehung nicht die entscheidende. Ich bin nicht so eine glühende Patriotin, dass ich sagen würde, die Ukraine müsse unbedingt in ihren heutigen Grenzen bestehen bleiben. Für mich ist wichtig, wie es den Menschen geht, die dort leben – auch auf der Krim und in der Ostukraine. Allein aus dieser Perspektive betrachte ich, was dort gerade passiert.

Aber was wollen die Menschen in der Ostukraine? Mitte April gab es eine sehr interessante Umfrage, die nicht von der Regierung, sondern von der größten Zeitung des Landes in Auftrag gegeben wurde. Sie wurde von mehreren soziologischen Instituten durchgeführt. Demnach sind etwa achtzig Prozent der Befragten in der Ostukraine gegen eine Abspaltung von der Ukraine. Am wichtigsten ist den Menschen, dass ihre Renten ausbezahlt werden, dass sich ihre soziale Situation verbessert und dass sie einfach ein ruhiges, normales Leben führen können. Genau das zeigt diese Umfrage. Auch die protestierenden Bergarbeiter in der Ostukraine hatten ganz andere Forderungen als die Separatisten. Sie forderten eine deutliche Lohnerhöhung und eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

© Rutenien Ruthenia / CC BY / flickr.com

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Du hast die Proteste der Bergarbeiter erwähnt. In den deutschen Medien liest man nur von Streiks, wenn der prorussische Oligarch Rinat Achmetow dazu aufruft, um seine eigenen politischen Ziele durchzusetzen. Gibt es auch eine unabhängige Arbeiterbewegung und unabhängige Gewerkschaften? Es gibt bei uns sehr gute unabhängige Gewerkschaften, die sich im Verband der Unabhängigen Gewerkschaften der Ukraine zusammengeschlossen haben. Die stehen der jetzigen Regierung sehr kritisch gegenüber. Und es gibt auch Streiks, die nicht von Politikern oder Oligarchen instrumentalisiert werden, sondern in denen Arbeiterinnen und Arbeiter für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und für höhere Löhne kämpfen. Im Osten des Landes hat die Unabhängige Gewerkschaft der Bergarbeiter immer wieder Arbeitskämpfe durchgeführt. In Kriwoj Rog (in der Industrieregion von Dnepropetrowsk, Anm. d. Red.) sind die Bergleute mit der Forderung nach einer hundertprozentigen Lohnerhöhung auf die Straße gegangen. Sie wurden dabei auch von Gruppen wie Liva Oppositsia unterstützt. Auch in der Zentralukraine ist es zu Streiks gekommen. Allerdings sind die Gewerkschaften in der Ukraine insgesamt sehr schwach aufgestellt. Die Gewerkschaftslandschaft ist bei uns ziemlich eingeschlafen. Ich habe aber die Hoffnung, dass sie nun wieder etwas belebt wird. Momentan finden immer wieder unabhängige Streiks statt. Noch sind sie leider in der Regel nicht sehr groß, aber es sind positive Zeichen. ■

Es finden immer wieder unabhängige Streiks statt

Wo stehst du? Abspaltung von Kiew oder nicht? Wenn für die Menschen in der Ostukraine eine Loslösung von der Ukraine besser wäre, würde ich sie sofort befürworten. Das Problem ist, dass die »Volksrepubliken« von Donezk und Lugansk eine extrem autoritäre Entwicklung nehmen. Die Verfassungen, die sie sich gegeben haben, sind sehr konservativ. Sie schreiben beispielsweise vor, dass es nur eine Kirche geben darf – die russisch-orthodoxe – und dass Abtreibungen verboten werden sollen.

Im Dezember 2013 erreichen die Proteste ihren Höhepunkt, als über 500.000 Menschen an der Demonstration auf dem Maidan in Kiew teilnehmen. Manche Medienvertreter sprechen sogar von über einer Million Demonstranten

ken« tatsächlich von der Ukraine abspalten, woran ich nicht glaube – Putin hat ja schon gesagt, dass er sie nicht will –, würden sie zu einer Zone, in der absolute Willkür herrscht. Mir geht es darum, wie es dort für die Menschen aussehen wird. Und das wird mit den Separatisten sicher nichts Gutes.

Aber die ukrainische Armee greift doch nicht an, weil in Donezk eine konservative Verfassung verabschiedet wurde … Natürlich bin ich gegen den Einsatz von Militär. Wir sind alle gegen Krieg. Aber das Problem ist, dass die Separatisten in Donezk und Lugansk Leute kidnappen, foltern und dass sie auch Gewerkschaftsmitglieder angreifen und Personen, die für soziale Forderungen auf die Straße gehen. Sollten sich diese »Volksrepubli-

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SCHWERPUNKT ukraine

Sozialistische Ukraine angeschlossen, die sich noch nicht durch eine Zusammenarbeit mit den Oligarchen diskreditiert hatte. Es gibt also auch andere Kräfte als die KPU. Die sind zwar bisher nicht sonderlich stark, aber momentan verändert sich

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Schwerpunkt

Vermittlungsversuche und Militärmanöver © OECD / CC BY-NC-ND / flickr.com

Im Ukraine-Konflikt scheint die deutsche Bundesregierung hin- und hergerissen zwischen der Logik militärischer Eskalation und wirtschaftlichen Interessen. Welche Forderungen sollte DIE LINKE in dieser Situation aufstellen? VON Christine Buchholz und David Maienreis

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Christine Buchholz ist friedenspolitische Sprecherin der Fraktion der LINKEN und Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestags.

★ ★★

David Maienreis ist Redakteur von marx21.

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schen Haushalt einen enormen Schuldenberg hinterlassen, ohne dass die amerikanische herrschende Klasse wirtschaftlich aus ihnen gewonnen hätte. Die Armee kann mit ihrer Luftwaffe in Ländern wie Jemen, Pakistan und Afghanistan nach wie vor großen Schaden anrichten. Aber die Fähigkeit der Regierung der USA, den Ländern in dieser Region ihren Willen aufzuzwingen, scheint geringer denn je seit Ende des Zweiten Weltkriegs. In Russland konnte Putin eine Klasse mafiöser Oligarchen, die das Land in den 1990er Jahren auseinandertrieben, unter seiner autoritären Führung einigen. Dank sprudelnder Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft wurde der völlige wirtschaftliche Zusammenbruch verhindert. Die russische Armee konnte aufgerüstet werden. Im Jahr 2008 hat sie mit Georgien das erste Mal einen Verbündeten der NATO in einem begrenzten Krieg besiegt. Bereits damals ging es um die Angliederung eines Gebietes, Süd-Ossetiens, an Russland. Sie wurde militärisch durchgesetzt, ohne dass der Westen ernsthaft eingegriffen hätte. Mit China ist eine weitere Großmacht erwachsen, die die amerikanische Globaldominanz in Frage stellt und sich als Alternative für Russland anbietet. Unter dem Eindruck der Zuspitzung des Ukraine-Konflikts unterzeichneten die Regierungen in Moskau und Peking im Mai 2014 nach jahrelangen Verhandlungen einen Vertrag, der russische Gaslieferungen nach China im Umfang von 400 Milliarden US-Dollar vorsieht.

Putin hat das Gas, Obama die NATO – Merkel will beides

Das Arrangement, das die einzig verbliebene Weltmacht USA nach 1991 mit Russland aushandelte, war Ausdruck des damaligen Kräfteverhältnisses. Doch seitdem hat sich viel verändert: Die Kriege der USA in Afghanistan und im Irak sind de facto gescheitert. Sie haben im US-amerikani-

Ursula von der Leyen auf einer Konferenz der OECD 2011 in Paris. Seitdem sie im Dezember 2013 das Amt der Verteidigungsministerin übernommen hat, tritt sie vehement mit der Forderung nach einem stärkeren »internationalen Engagement« der Bundeswehr auf

In dieser neuen Konstellation versuchen die USA, ihre globale Vormachtstellung zu behaupten. Sie wird vor allem dadurch definiert, dass keine wesentlichen Entscheidungen gegen den Willen der USA oder an ihnen vorbei getroffen werden dürfen. Wirtschaftlich ist das Land weiterhin für das Funktionieren des globalen Kapitalismus unerlässlich. Ohne den US-amerikanischen Markt wäre das chinesische Wirtschaftswunder alsbald Geschichte. Die Wirtschaftsräume der USA und Europas sind aufs Engste miteinander verwoben. Deshalb werden die USA als wirtschaftliche und politische Führungsmacht nicht nur erduldet, sondern auch gebraucht. Das deutsche Unternehmerlager hat sich im Wesentlichen mit Hilfe von drei Strategien auf diese Situation eingestellt und versucht, aus ihr möglichst viel Kapital zu schlagen: 1. Deutschland verfolgt eine möglichst eigenständige Außenpolitik sowohl innerhalb Europas als auch darüber hinaus. Die Europäische Union wird dabei eingesetzt, um die Expansion des deutschen Kapitals unter anderem nach Osteuropa zu ermöglichen. 2. Engere Beziehungen zu Russland: Angefangen mit der Ostpolitik von Bundeskanzler Willi Brandt und verstärkt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion arbeitet die Bundesrepublik wirtschaftlich in einer Intensität mit Russland

zusammen, die den Hardlinern der US-Außenpolitik ein Dorn im Auge ist. 3. Enge Zusammenarbeit mit den USA und der NATO, um militärisch abgesichert zu sein und mit der militärischen Schlagkraft der aggressivsten Streitkräfte der Welt im Rücken agieren zu können. In der gegenwärtigen Situation drohen diese Strategien, miteinander in Konflikt zu geraten. Die USA sehen Russland als besiegten Gegner des Kalten Krieges an. Ihr Hauptinteresse besteht darin, das Land von internationalem Einfluss abzuschneiden, um Europa und Asien strategisch allein beherrschen zu können. Deshalb gehen die USA mit Russland viel rigoroser um als Deutschland. Die Regierung der USA weiß, dass ihre globale Vormacht mehr und mehr an ihrer militärischen Stärke hängt. Deshalb sind sie darauf aus, Konflikte zuzuspitzen, um ihren Verbündeten – vor allem in Europa – deutlich zu machen, wie sehr sie auf Uncle Sam angewiesen sind. In einer militärischen Konfrontation können die USA viel leichter auf ihrer Führungsrolle gegenüber Deutschland, Frankreich und Großbritannien bestehen, als wenn es rein um Wirtschaftsbeziehungen geht. Deutschland dagegen ist bei der Energieversorgung stark von Russland abhängig. Darüber hinaus haben zahlreiche deutsche Unternehmen in Russland in-

SCHWERPUNKT ukraine

D

er Bürgerkrieg in der Ostukraine zwischen pro-russischen Separatisten und der Zentralregierung in Kiew bedeutet für die internationalen Beziehungen einen historischen Einschnitt. Denn von Anfang an hatten die militärischen Auseinandersetzungen den Charakter eines Territorialkonflikts zwischen den Regierungen in Moskau und Kiew. Dabei handelt es sich zugleich um einen Stellvertreterkonflikt zwischen Russland und dem Westen. Als solcher stellt er das geopolitische Gleichgewicht in Frage, welches nach dem Zusammenbruch des russisch dominierten Ostblocks und dem Ende der Sowjetunion 1991 entstanden ist. »Der Westen« ist heute jedoch weit weniger eine einheitliche politische Größe als noch vor zwanzig Jahren. Inwieweit es künftig noch sinnvoll sein wird, von der »westlichen Welt« als gemeinsamem Akteur zu sprechen, wird sich unter anderem am Verlauf und Ausgang des Konflikts um die Ukraine entscheiden. Deshalb geht es bei dieser Auseinandersetzung um so viel. Deshalb ist sie so riskant. Und deshalb ist das Vorgehen der deutschen Bundesregierung so ambivalent und schwer vorauszusagen.

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Wie hier in Berlin gehen am 30. und 31. Mai bundesweit insgesamt mehrere tausend Menschen in etwa dreißig Städten auf die Straße. Sie protestieren gegen eine weitere Eskalation der Ukrainekrise durch NATO, EU und Bundesregierung

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vestiert, während zum Beispiel der russische Konzern Gazprom Deutschland zum Knotenpunkt seiner Gaslieferungen auf den gesamten europäischen Markt ausbauen will. An den beiden Pipeline-Projekten zwischen Russland und Westeuropa sind mit Wintershall und Eon deutsche Firmen beteiligt. Auch politisch ist Deutschland auf ein gutes Verhältnis zu Russland viel stärker angewiesen, weil die EU sich weiter nach Osten vergrößern will und dort direkt – wie jetzt im Fall der Ukraine – in russisches Einflussgebiet vorstößt. Doch die führenden Strategen der deutschen Außenpolitik wissen, dass in den internationalen Beziehungen der Konzerne, in deren Interesse sie arbeiten, nicht nur wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zählt. Am Ende muss diese auch durch militärische Stärke untersetzt sein, die den eigenen Positionen Nachdruck verleiht. Andernfalls sind sie im Zweifelsfall dem Gutdünken fremder Regierungen ausgeliefert. Deshalb möchte Deutschland gegenüber Russland niemals auf die Sicherheit verzichten, die die Mitgliedschaft in der NATO bietet. Oder wie Verteidigungsministerin von der Leyen kürzlich im »Spiegel« sagte: »Die ausgestreckte Hand zu Russland muss aus der Position der Stärke kommen.« Diese »Stärke«, also die Fähigkeit, Wirtschaftsinte-

ressen militärisch abzusichern und im Konfliktfall auch durchzusetzen, muss erarbeitet werden und überzeugend sein. Deshalb sind die NATO-Strategen so besorgt um die »Glaubwürdigkeit« des Bündnisses. Aus diesem Grunde beteiligt sich die Bundeswehr an Aktivitäten der NATO, die deutlich gegen Russland gerichtet sind. So hat die deutsche Marine die Führung eines Flottenverbandes des Bündnisses »zur Minenbekämpfung« in der Ostsee vor Riga übernommen. Die deutsche Luftwaffe hat sechs Kampfflugzeuge ins Baltikum verlegt. Das Bundeswehrkontingent am Standort des Multinationalen Korps Nordost im polnischen Stettin wurde aufgestockt. Militärübungen fanden und finden reichlich statt – in Litauen, Polen, Norwegen, aber auch in Deutschland. »Gut 18 Tage lang tobte ein Luftkrieg über Deutschland«, schrieb der Bundeswehr-nahe »Newsletter Verteidigung« über das Großmanöver JAWTEX, an dem sich im Mai neben der Bundeswehr Einheiten aus elf weiteren Staaten beteiligten. Insgesamt 4500 Soldaten und 105 militärische Luftfahrzeuge nahmen daran teil, in einem Gebiet von Ostfriesland über Schleswig-Holstein bis nach Brandenburg und SachsenAnhalt. »Harte Kampfhandlungen gab es aber auch in der Deutschen Bucht und am Boden«, denn im

Andererseits bremst die Bundesregierung international eher im Konflikt mit Russland, während ihn andere anheizen. Treibend in der Eskalation auf Seiten des Westens ist das Militärbündnis selbst. So erklärte NATO-Generalsekretär Fogh Rasmussen, es sei »deutlich, dass Russland uns als seinen Feind ansieht. Wir müssen uns darauf einstellen.« Rasmussen trommelt seit Monaten für mehr Rüstungsausgaben der europäischen Mitgliedstaaten, für mehr NATO-Manöver und mehr Truppenpräsenz in Osteuropa. Er stellte sogar den NATO-Beitritt von Georgien und Moldawien in den Raum – ein Vorschlag, der aufgrund der bestehenden Konflikte dieser Staaten mit abtrünnigen, prorussischen Gebieten den Schatten eines großen Kriegs in Europa an die Wand wirft. An einer solchen Eskalation haben die deutschen Banken und Konzerne kein Interesse. Das heißt aber nicht, dass sie sich der inneren Logik eines in der Ostukraine mit Waffen ausgetragenen Stellvertreterkonflikts entziehen können. Die Sprecher der Unternehmerverbände schwanken daher zwischen Aufforderungen, dass die deutsche Außenpolitik Russland entschlossen gegenübertreten solle, und Warnungen vor einer Verschlechterung des Investitionsklimas. So rief kürzlich der Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken, Jürgen Fitschen, zum Dialog mit Russland auf. Eigentlich wolle man »nur Geschäfte machen«, und dabei stören diplomatische Verstimmungen und staatliche Sanktionen. Andererseits will man bei den Verhandlungen zu diesen Geschäften »aus einer Position der Stärke« auftreten können, und dafür ist die militärische Schlagkraft letztlich entscheidend. Ein damals noch berühmter marxistischer Theoretiker, Karl Kautsky, erklärte während des Ersten Weltkriegs, dass weitere große Kriege nicht mehr im Interesse des Kapitals seien und daher nicht mehr stattfinden würden. Denn, so rechnete er vor, die internationale Verflechtung und Abhängigkeit der Unternehmen würde eine friedliche Konfliktlösung immer als die bei Weitem billigere erscheinen lassen. Seine Theorie geriet in den Wirren des Zweiten Weltkriegs und des anschließenden Kalten Kriegs in Vergessenheit, bevor sie von den Empire-Theoretikern Hardt und Negri wiederentdeckt wurde. Was Kautsky übersah, war die Tatsache, dass es jenseits von unmittelbaren und nach Geschäftsquartalen berechneten Interessen der einzelnen Konzerne ein

Gesamtinteresse des national organisierten Kapitals gibt. Dies ist langfristig und muss von anderen als den Managern einzelner Unternehmen formuliert und umgesetzt werden – das ist die Aufgabe des bürgerlichen Staats. In der Konkurrenz mit anderen Staaten kann es dazu kommen, dass schlechte Geschäfte einzelner Teile der herrschenden Klasse in Kauf genommen werden müssen, um das Gesamtinteresse in dem internationalen Konflikt behaupten zu können. Im Kräftemessen zwischen NATO und Russland kommt für die deutschen Unternehmer erschwe-

Die NATO übt wieder für große Kriege rend hinzu, dass die militärische Führungsmacht in dieser Auseinandersetzung, die USA, das Gesamtinteresse ihrer Unternehmen verfolgt, nicht in erster Linie das des deutschen Kapitals. Wenn es wirklich hart auf hart kommen sollte, wird der deutschen herrschenden Klasse gar nichts anderes übrig bleiben, als sich den USA unterzuordnen. Vor allem aber übersah Kautsky, dass Konflikte, gerade wenn sie einmal von der wirtschaftlichen und politischen Ebene auf die militärische umgeschlagen sind, eine Eigendynamik entwickeln, die keiner der Handelnden mehr unter Kontrolle hat. Der Stand der Auseinandersetzungen in der Ukraine hat diesen gefährlichen Umschlagpunkt bereits überschritten. Es ist deshalb höchste Zeit, jeder weiteren möglichen Eskalation entschieden entgegenzutreten. Folgende unmittelbare Forderungen können die Friedensbewegung und die Linke in Deutschland im Kampf für den Frieden in der Ukraine vereinen: –– Abzug der Kampfflugzeuge der Bundeswehr aus den osteuropäischen Frontstaaten –– Austritt aus dem in die Ostsee entsandten Marineverband –– keine Entsendung zusätzlicher Soldaten nach Osteuropa –– sofortige Aussetzung aller militärischen Manöver –– keine deutsche Einmischung in den UkraineKonflikt durch die Bundeswehr, auch nicht verdeckt unter dem Logo der OSZE. Eine Linke und eine Friedensbewegung, die sich klar gegen die Beteiligung der Bundeswehr an jeglicher militärischer Eskalation ausspricht, kann unser Beitrag sein, um Bewegungen in der Ukraine und Russland gegen den Nationalismus und den Bürgerkrieg zu ermutigen. ■

SCHWERPUNKT ukraine

© OECD / CC BY-NC-ND / flickr.com

Rahmen von JAWTEX wurden Szenarien für Seekriegsoperationen und »hochintensive, landzentrierte Kampfhandlungen« ausprobiert. Ein beteiligter deutscher Unteroffizier erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, das Manöver sei schon länger geplant, aber »das Szenario ähnele zufällig ein wenig der Krise in der Ukraine«.

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Schwerpunkt

Die Situation in der Ukraine war und ist widersprüchlich. Das liegt nicht zuletzt an Verwerfungen innerhalb der herrschenden Oligarchie. Den Kampf der Mächtigen untereinander um die Herrschaft über Wirtschaft und Staat zu verstehen, ist die Grundlage, um neue Perspektiven entwickeln zu könnnen

D

ie Bevölkerung der Ukraine leidet unter extremer Armut. Schon zur Jahrtausendwende lebten 35 Prozent der Ukrainer unterhalb der Armutsgrenze. Durch den weiteren Niedergang der Industrie und die damit einhergehenden steigende Arbeitslosigkeit hat sich ihre Lage weiter verschlechtert. Das heißt ganz konkret, dass Studenten ihr Studium abbrechen müssen, weil sich ihre Eltern wegen Schulden von nicht mal 40 Euro erhängt haben. Solche Szenen sind Alltag in der Ukraine. Währenddessen wird der politische Überbau von einigen der reichsten Menschen

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übersetzung: DAVID Paenson

auf der Welt dominiert. Zwanzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts gehören gerade einmal zwanzig Menschen. Im Jahr 2012 bestand ein Fünftel des 450-köpfigen Parlaments aus Gefolgsleuten von nur zwei Oligarchen. Um die politischen und sozialen Hintergründe der aktuellen Entwicklungen in der Ukraine zu begreifen, ist es daher notwendig sich ausführlicher mit der Rolle der Oligarchie, ihren Interessen und Bruchstellen auseinanderzusetzen. In der Analyse der verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse sind wirtschaftliche und nicht politische oder

ideologische Faktoren entscheidend. Kategorien wie Nationalismus oder eine Liebe zur Demokratie erklären ihr Handeln nicht. Vielmehr ist dieses in Bezug auf Klasseninteressen, wirtschaftlicher Konkurrenz und den sich daraus formierenden Machtblöcken zu deuten. Die meisten Oligarchen erlangten die Kontrolle über weite Teile der ukrainischen Wirtschaft im Zuge der umfassenden Privatisierungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Sie besitzen vor allem die Industrie: Metallverarbeitung, Chemie, Erdgas, Maschinenbau, Automobilindustrie, Schiffsbau. Diese Sektoren werden von einigen wenigen In-

dividuen politisch und wirtschaftlich beherrscht. Von dort aus haben die Mächtigsten unter ihnen weitere Bereiche erobert: Dienstleistungen, Einzelhandel, die Medien und die Banken. Die ukrainische Oligarchie stellt somit eine einzigartige Zusammenballung multipler Kapitalformen dar – industrieller, finanzieller und kommerzieller – mit direkter staatlicher Kontrolle durch die Beteiligung der Oligarchen an Regierungen. Die Ukraine kennt deshalb keinen freien Markt. Ganz im Gegenteil, das Land rangiert stets am unteren Ende der Skala für »wirtschaftliche Freiheit«. Dieser Zustand stellte für andere Teile der postsowjeti-

schen ukrainischen Elite ein Ärgernis dar. Während vor allem die Industrieoligarchen gemeinsam den Staatsapparat dominierten, versuchten andere Teile der herrschen Klasse an die Hebel der Macht zu kommen, wie in der »Orangenen Revolution« im Jahr 2004. Damals gingen zwar hunderttausende Menschen auf die Straße, dennoch wurde die Bewegung als »Revolte der Millionäre gegen die Milliardäre« bezeichnet. Die in ihrem Kielwasser an die Macht gespülte Regierungskoalition verfolgte das Ziel, den wirtschaftlichen Wettbewerb zu regulieren und per Gesetzgebung mehr Chancengleichheit gegenüber den

mächtigeren Oligarchen zu schaffen. Die »orangene« Ideologie betrachtet nach wie vor die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter nur unter dem Gesichtspunkt, dass alle Kapitalisten gleichermaßen davon profitieren sollen. Die Schwäche des orangenen Blocks gegenüber den größeren Oligarchen ist sein geringeres wirtschaftliches Gewicht und die Brüchigkeit seines Zusammenschlusses. Um den Angriff gegen seinen mächtigen Gegner wagen zu können, brauchte er eine Mobilisierung auf den Straßen. Nicht einmal zwei Jahre nach den Wahlen führte eine Spaltung in den Reihen des orangenen Blocks zu einer Lähmung des

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Von Sean Larson

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Staates. Daraufhin geriet die Exekutive zunehmend unter den Einfluss führender Oligarchen, während der Mittelstand und Teile des Finanzkapitals sich mit dem radikaleren Pol der orangenen Koalition verbündeten.

Die Wirtschaftskrise der Jahre 2007 und 2008 traf die ukrainische Wirtschaft besonders hart. Im Jahr 2009 sank die Wirtschaftsleistung um 15 Prozent. Die Krise untergrub die ökonomische Unabhängigkeit des Landes, dessen Bruttosozialprodukt zu sechzig Prozent durch Exporte erwirtschaftet wird. Zusammen mit dem steigenden Handelsdefizit gegenüber Russland ließen die Krisenauswirkungen eine Entscheidung entweder für den Westen oder Russland immer notwendiger werden. Ihren Gipfel erreichte die Wirtschaftskrise im Sommer 2013, als Präsident Janukowitsch das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union ablehnte. Ein letzter verzweifelter Versuch der Oligarchie, den

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imperialistischen Widerspruch weiter in der Schwebe zu halten, der jedoch angesichts des anstehenden gesellschaftlichen Aufstands zum Scheitern verurteilt war. Die Umwälzungen der Maidan-Bewegung hat eine neue Fraktion der Eliten für sich genutzt, um an die Regierung zu kommen. Seitdem bemüht sie sich, die Hegemonie über Staat und Gesellschaft zu konsolidieren. Der neue Machtblock umfasst im Wesentlichen drei wirtschaftliche Gruppen: einige Oligarchen, die zunehmend von westlichen Märkten abhängig sind, einheimisches und ausländisches Finanzkapital sowie kleine Geschäftsleute. Die erste Gruppe hat ihre Wurzeln in der alten industriellen Oligarchie. Zu den führenden Mitgliedern zählen Oligarchen wie Wiktor Pintschuk und Pet-

ro Poroschenko. Zwei wesentliche Faktoren haben Teile der Oligarchen zu einer Assoziierung mit dem Westen gedrängt: Einerseits fehlt ihnen nach dem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft, der eine hohe Inflation, Stagnation und Kapitalflucht nach sich zieht, nunmehr ein stabiler Markt. Andererseits haben frustrierende Erfahrungen mit der Regierung von Präsident Janukowitsch den Wunsch nach staatlicher Stabilität geweckt. Zum neuen Machtblock gehört zweitens das unabhängige Finanzkapital, das heute in der Ukraine relativ schwach ist. Der Bankensektor, der von internationalen Finanzorganisationen durchweg als einer der schwächsten in der gesamten Region angesehen wird, wurde im Jahr 2012 zu 39 Prozent von ausländischen Investoren und nur zu einem geringen Teil

von den Oligarchen kontrolliert: Nur zwei der zehn größten Banken, die zusammengenommen 54 Prozent des Bankvermögens umfassen, waren im Besitz von Oligarchen. Der mächtigste Finanzoligarch, Ihor Kolomojskyj, dessen PrivatBank die größte der Ukraine ist, stand schon lange Zeit in Opposition zu den industriellen Oligarchen. Bereits 2004 unterstützte er tatkräftig das orangene Lager. Anfang März dieses Jahres wurde er von der provisorischen Regierung in Kiew zum Gouverneur für die Region Dnipropetrowsk im Osten ernannt. Der dritte Teil dieses aufsteigenden Machtblocks umfasst die Schicht der »Unternehmer«, der kleinen Geschäftsleute, mit anderen Worten: das Kleinbürgertum. In der Ukraine gibt es eine Tradition kleinbürgerlichen Massenwiderstands gegen alles,

SCHWERPUNKT ukraine

Sean Larson ist aktiv bei Die Linke.SDS in Berlin und promoviert in New York über die Novemberevolution.

© Poland MFA / CC BY-NC / Flickr.com

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Die Oligarchen waren in der Frage einer Zollunion mit Russland in der Zwickmühle. Die ukrainische Industrie, vor allem der Chemiesektor, ist von Gaslieferungen aus Russland abhängig. Die willkürlichen Gaspreiserhöhungen haben das Leistungsbilanzdefizit – also die Geldmenge, die mehr für Importe ausgegeben wird als durch Exportgewinne hereinkommt – der Ukraine erheblich vergrößert. Mit diesem Druckmittel drängte Russland die Ukraine, entweder der Zollunion beizutreten oder ihr eigenes Gasnetzunternehmen Naftogas mit dem russischen staatseigenen Unternehmen Gazprom zu verschmelzen. In beiden Fällen würde die Souveränität der Ukraine durch den wirtschaftlichen Imperialismus Russlands spürbar eingeschränkt. Die Alternative einer stärkeren Anbindung an den Westen wiederum bedroht nicht nur den Lebensstandard der einfachen Bevölkerung. Sie bedeutet auch eine Gefährdung der wirtschaftlichen Interessen für viele der mächtigen Oligarchen. Trotz ihrer Differenzen haben sie doch letztlich ein gemeinsames Ziel: die Verhinderung eines kontrollierten freien Markts. Eine engere Bindung an den Westen durch Kredite des Internationalen Währungsfonds und ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union würde ihre direkte Herrschaft über den Staatsapparat in Frage stellen, da westliche imperialistische Interessen zunehmend an Einfluss gewännen. Eine solche Entwicklung zeigte sich bereits in der Rückkehr zur geänderten Verfassung von 2004, die das Parlament im Februar dieses Jahres beschloss. Durch die Verfassungsänderung werden die Rechte des Präsidenten eingeschränkt. Leitlinie der Oligarchenriege in der Innen- und Außenpolitik war es also immer, eine Balance zwischen dem Einfluss der imperialistischen Mächte zu halten.

Der Oligarch Petro Poroschenko (l.) bei einer Preisverleihung der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc am 3. Juni in Warschau. Wenige Tage zuvor wurde er zum neuen Präsidenten der Ukraine gewählt. Mit einem geschätzten Vermögen von 1,6 Milliarden US-Dollar belegt er Platz sieben der reichsten Oligarchen seines Landes. Schon früher als Außen- und Wirtschaftsminister forcierte er die Annäherung an die EU und galt als Verfechter einer weitgehenden Liberalisierung der Wirtschaft

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„Allein die Theorie wird zur materiellen Gewalt wenn sie die Massen ergreift...“

Karl Marx

der durch die Massenbewegung des Maidan ausgelösten Krise unterstützt trotzdem eine Mehrheit der Oligarchen zumindest passiv die neue Kiewer Regierung. Um ihre Profite zu sichern, nehmen die Oligarchen das sich abzeichnende soziale Desaster einer strikten Kürzungspolitik bereitwillig in Kauf. Ein Assoziierungsabkommen mit der EU bedeutet strengere Produktionsstandards, den Niedergang des Kohlebergbaus und der Stahlindustrie und den Verlust von Arbeitsplätzen in der Ostukraine. Die im oligarchischen kapitalistischen System bereits bestehende extreme soziale Ungleichheit wird so in diesen Regionen noch weiter vertieft. Der Protest dagegen hatte große Schwierigkeiten, einen unabhängigen politischen Ausdruck zu finden. In den letzten Jahren wurden viele Gewerkschaften verboten oder deren führenden Aktivisten in den Betrieben gekündigt. Dies geschah vor allem in Firmen im Besitz multinationaler Konzerne, in denen sich eine gewerkschaftliche Organisierung insgesamt schwieriger gestaltet. Das neue Handelsabkommen mit der EU wird die Ukraine für die Multis weiter öffnen und damit die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Arbeiterklasse zusätzlich schwächen. Die Aussichten auf eine sozial gerechte Krisenlösung sind düster. Aber der Funke des Widerstands glüht weiter. Die Menschen, die für Demokratie und gegen die Verschlechterung ihres Lebensstandards aus allen Landesteilen auf den Maidan zogen, werden mit der Austeritätspolitik des Internationalen Währungsfonds bald genauso unzufrieden sein, wie sie es zuvor mit Janukowitsch waren. Aber diesmal haben sie bereits erlebt, welche entscheidende Rolle ein Massenaufstand in der Politik spielen kann – auch wenn sich aufgrund fehlender effektiver linker Organisationen die berechtigte Klassenwut nicht gegen den ukrainischen Kapitalismus selbst gerichtet hat. Heute, während von zwei Seiten mörderischer Imperialismus und die Angriffe des ukrainischen Kapitalismus wüten, ist zumindest eines klar: Es sind die Oligarchen, die die Misere der ukrainischen Bevölkerung zu verantworten haben. Sie sind es, gegen die sich betriebliche Aktionen und politische Proteste richten müssen, wenn die Menschen in der Ukraine beginnen wollen, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. ■

Gewerkschaften werden verboten und deren Aktivisten in den Betrieben gekündigt

Doch die Schwierigkeiten dieses Zusammenschlusses, sich an der Macht zu halten, liegen nicht nur in seinen internen Widersprüchen begründet. Auch die Ausprägung des Staatsapparats selbst stellt ein Hindernis dar. Während die ökonomischen Interessen der Oligarchie, vor allem der industriellen, nach gesellschaftlicher Stabilität verlangten, brauchte sie auf der politischen Ebene einen formbaren und dienerischen Staat. Dieser musste zudem nach außen hin genügend Stärke besitzen, die wirtschaftliche Souveränität der Ukraine gegen die omnipräsenten imperialen Ansprüche von West und Ost zu verteidigen. Unter Janukowitsch hatte die Regierung die staatlichen Strukturen zentralisiert und die Exekutive gestärkt. Diese Form des Staatsapparats diente der Stabilisierung und der Eindämmung der vielfältigen gesellschaftlichen Widersprüche im Dienst des bestehenden oligarchischen Blocks. Sie ist jedoch nicht geschaffen für die Interessen der Kiewer Regierung der Post-Maidan-Zeit. Beim Versuch, seine Hegemonie über eine vereinte Ukraine zu sichern, stützt sich der neue Machtblock auf die politische und wirtschaftliche Schützenhilfe des westlichen Imperialismus. Um das Investitionsklima attraktiver zu gestalten, sollen die Wirtschaft und das Rechtssystem neoliberal umgestaltet werden. Dies schließt auch die Bekämpfung der willkürlichen Praktiken der Oligarchen zur Sicherung und Vergrößerung ihres Reichtums ein. Doch angesichts

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SCHWERPUNKT ukraine

was ihnen nach oligarchischem Machtmissbrauch schmeckt. Passend zur wirtschaftlichen Heterogenität dieser jungen Herrschaftsformation ist auch ihre Ideologie ein buntes Gemisch aus pro-europäischer Orientierung (wozu Forderungen nach zuverlässiger wirtschaftlicher Gesetzgebung und politischer Demokratie zählen), Nationalismus (die Stärkung »unserer« Oligarchen gegen die historische Kolonialmacht Russland) und Neofaschismus (die faschistische Swoboda-Bewegung brüstete sich damit, ausschließlich von Geschäftsleuten finanziert zu werden). Durch Militarisierung, Ausländerhass und die spektakuläre Zurschaustellung ohnmächtiger Gewalt spielt der faschistische Flügel eine wichtige und zunehmend gefährliche Rolle darin, die Wut der Arbeiterklasse von den Kapitalisten der Koalition abzulenken.

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WELTWEITER WIDERSTAND

Seattle verdient mehr Eine linke Basisbewegung erkämpft in der NordwestMetropole den US-weit höchsten Mindestlohn Von Michael Bonvalot

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Ende Mai finden in der Nähe von Chicago Proteste für Lohnerhöhungen bei McDonald's statt. Zudem verlangen die Demonstrantinnen und Demonstranten, Betriebsräte bei der FastFood-Kette bilden zu dürfen. Ein Anlass ist die anstehende Aktionärsverhand-

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lung, auf der über Bonuszahlungen für Firmenchef Donald Thompson verhandelt werden soll. Als die 2000 Demonstrantinnen und Demonstranten –unter ihnen viele in Firmenuniform– vor die Unternehmenszentrale ziehen, wartet dort bereits die Polizei.

Über 140 Personen werden festgenommen. Der darauf folgende Skandal trägt dann dazu bei, dass die mit den Fast-Food-Protesten verbundene »15-now«-Kampagne in Seattle Erfolg hat.Dort wird der Mindestlohn bald auf 15 Dollar steigen (siehe Artikel rechts).

© Bob Simpson / CC BY-NC-SA / flickr.com

USA

er 2. Juni 2014 könnte die USA verändern. Auf Druck der »15-Now«-Kampagne werden die Mindestlöhne von Seattle, der größten Stadt im Nordwesten des Landes, auf 15 Dollar pro Stunde angehoben. Das bedeutet mehr als das Doppelte des nationalen Standards von 7,25 Dollar und liegt auch weit über dem Vorschlag von Präsident Obama (10,10 Dollar). Diese Entscheidung betrifft rund 120.000 Arbeiter in Seattle, mehrheitlich Frauen und Angehörige von Minderheiten. Ein großer Teil von ihnen arbeitet im Gastgewerbe, im Handel oder in Pflegeberufen. Ausgangspunkt der Entscheidung im traditionell von der Demokratischen Partei dominierten Stadtrat war die Wahl der Sozialistin KshamaSawant, die im November vergangenen Jahres in das neunköpfige Gremium einzog. Die Kandidatin der »Socialist Alternative« bekam über 90.000 Stimmen und konnte sich in einem knappen Rennen mit 50,67 Prozent gegen ihren demokratischen Konkurrenten durchsetzen. Sawant hatte sich in ihrer Wahlkampagne auf die Forderung nach 15 Dollar Mindestlohn konzentriert. Offiziell hatten die Demokraten in Seattle sich bald hinter die Forderung gestellt, gleichzeitig aber nach Kräften versucht, Schlupflöcher einzubauen und Beschlüsse zu verzögern. Tatsächlich haben sie einige zentrale Verwässerungen erreicht. Sawant und die von ihr initiierte »15-Now«-Kampagne hatten eine sofortige Mindestlohnerhöhung für große Betriebe und eine dreijährige Übergangszeit für kleine und mittlere Unternehmen gefordert. Nun werden Betriebe mit über 500 Beschäftigten die 15-DollarMarke stufenweise bis 2017 erreichen, Betriebe mit Gesundheitsversicherung bis 2018. Kleinere Betriebe erhöhen stufenweise bis 2019, im Fall von Trinkgeldern bis 2021. Ursprünglich waren noch weit mehr Schlupflöcher im Gespräch, vor allem der Restaurant-Dachverband drängte auf immer neue Ausnahmeregelungen. Erreicht werden konnte der Be-

schluss nun, weil Sawant und die Kampagne mit einer Volksabstimmung drohten. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit in Seattle für »starke« 15 Dollar eintritt, wie die sofortige Einführung genannt wird. Diese Situation bestimmte auch das Verhalten der Demokraten und der mit ihnen verbündeten Gewerkschaften: Sie mussten einen Beschluss finden, der gut genug war, um dem Druck von »15-Now« und der Bevölkerung standzuhalten. Die Kampagne favorisierte zunächst ein Referendum, sah allerdings die Gefahr, dass die Stimmung kippen könnte, wenn McDonald’s, Starbucks, Walmart und andere Konzerne finanzstarke Horrorkampagnen gegen eine Mindestlohninitiative entwerfen würden. Im Stadtrat versuchte Sawant noch, die Schlupflöcher zu stopfen, wurde aber von der demokratischen Mehrheit niedergestimmt. Dennoch stellt dieser Beschluss einen enormen Fortschritt gegenüber dem Status quo und der Situation im Rest der USA dar. Die Wahl der Sozialistin und der nun erfolgte Mindestlohnbeschluss haben in den USA für große Aufmerksamkeit gesorgt. Zahlreiche Medien haben über Sawant berichtet, die es als offene Marxistin geschafft hat, in einer Mehrheitswahl einen Demokraten in einer der größten Städte der USA zu schlagen. Auf dem traditionellen »Left Forum«, das Ende Mai in New York stattfand, trat Sawant neben Harry Belafonte und Angela Davis auf, beides Ikonen der US-Linken. Von vielen wird ihre Wahl als Bruch im Zwei-Parteien-System verstanden, auch die Mindestlohnkampagne weitet sich aktuell auf viele weitere Städte aus. Die Debatte um eine Reorganisierung der US-Linken könnte damit einen neuen Schub bekommen. ★ ★★ Michael Bonvalot kommt aus Wien und schreibt unter anderem für das Jugendmagazin »Vice« und die Tageszeitung »junge Welt«, wo dieser Artikel zuerst am 7. Juni 2014 erschienen ist. Wir danken der Redaktion für die freundliche Abdruckgenehmigung.

8NEWS 8Südafrika Ein Sieg für die seit mehr als vier Monaten streikenden Arbeiter der Platinminen in Rustenburg zeichnet sich ab. Der Forderung der jungen Gewerkschaft der Minenarbeiter AMCU nach einer Verdopplung des Einstiegsgehalts auf umgerechnet 900 Euro mussten die Minenbesitzer bereits nachgeben. Der Export von Bodenschätzen ist die Haupteinnahmequelle Südafrikas. Seit dem »Massaker von Marikana« im August 2012 (marx21 berichtete) kam es in diesem Sektor immer wieder zu erheblichen Streiks und Protesten.

8Türkei Nach dem Grubenunglück in der westtürkischen Stadt Soma Mitte Mai kam es im ganzen Land immer wieder zu Streiks und Demonstrationen gegen die Regierung und den Minenbetreiber Soma-Holding. Die Teilnehmer werfen ihnen vor, Sicherheitsmängel und Hinweise auf ein mögliches Unglück aus Profitgier verdrängt zu haben. Im Jahr 2009 wurde die Mine privatisiert. Der Besitzer rühmte sich, seitdem die Kosten massiv gesenkt zu haben.

Frankreich

Autonome Tea-Time Nach 1336 Tagen Besetzung haben die Arbeiter einer Teefabrik nahe Marseille ihrem Mutterkonzern Unilever 20 Millionen Euro für den Aufbau einer selbstverwalteten Produktion abgerungen. Unilever hatte angekündigt, das Werk nach Polen zu verlegen. Die Beschäftigten besetzten es darauf hin im September 2011 und verhinderten durch 24-Stunden-Wachen den Abtransport der Maschinen. Nach langen juristischen Auseinandersetzungen gab der Konzern nun nach und unterzeichnete ein Abkommen, wonach er neben Abfindungen auch für die Wiederaufnahme der Produktion bezahlen muss. Die Arbeiter verwalten zukünftig das Werk alleine und erarbeiten mit ausländischen Teezulieferern ein Fair-Trade-Konzept.

Weltweiter Widerstand

USA

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INTERNATIONALES

»Die Zahl der Streiks ist so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr« So hatte sich die Fifa das nicht vorgestellt: Vor allem im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft prägten Massenproteste, Polizeihubschrauber und Tränengas die Berichterstattung. Unser Gesprächspartner Sean Purdy erklärt, woher der große Unmut in Brasilien kommt

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Interview: Ronda Kipka

Sean Purdy

Sean Purdy ist Professor an der Fakultät für Philosophie, Literatur und Humanwissenschaften der Universität São Paulo. Er ist Mitglied der Partido Socialismo e Liberdade (P-Sol, Partei für Sozialismus und Freiheit).

silianische Konzerne waren noch nie so reich wie in den vergangenen zehn Jahren unter der angeblichen »Arbeiterregierung«. Die Weltmeisterschaft scheint also eher ein Beschleuniger dieser Entwicklung als ihr Ursprung zu sein. Über achtzig Prozent der brasilianischen Bevölkerung leben in Städten. Wie beeinflussen die Auflagen der Fifa die Stadtpolitik? Die Fifa-Agenda hat schlecht bezahlte und meist befristete Arbeitsplätze gebracht. Die städtische Infrastruktur wurde jedoch kaum verbessert. Im Gegenteil: In vielen Städten wurden arme Menschen wegen der WM aus ihren Häusern und Nachbarschaften verscheucht und zwangsumgesiedelt. Eine Stadtentwicklung im Interesse der einfachen Menschen hat es nicht gegeben. Lediglich der Zugang zu den Stadien hat sich verbessert, was allerdings wenig Einfluss auf den Alltag der Menschen hat. Von solchen infrastrukturellen Entwicklungen profitieren nur die großen Bauunternehmen und Banken – und zwar mit Rekordgewinnen. Darüber hinaus schränkten die Fifa-Auflagen während der WM sowohl das Kleingewerbe ein als auch das Recht der Menschen, in diesem Zeitraum Veranstaltungen und Partys zu organisieren. Also hat der wirtschaftliche Aufschwung den meisten Menschen nichts gebracht? Nur bedingt, die Ungleichheit ist immer noch sehr groß. Der Lebensstandard der Armen und der Arbeiterklasse ist gestiegen, aber die Mittel- und Oberschicht ha-

INTERNATIONALES

Fifa go home! Wenige Tage vor dem Eröffnungsspiel protestieren tausende Brasilianer gegen die Machenschaften des Weltfußballverbandes vor dem Station Itequerão in São Paulo. Die Polizei setzt Tränengas und Gummigeschosse gegen die Demonstranten ein

© Julio Gima / CC BY-NC-SA / flickr.com

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ean, den deutschen Medien war es während der Fußballweltmeisterschaft unmöglich, nicht auch über die Proteste in Brasilien zu berichten. Aber nur wenige Pressevertreter haben über die Ursachen und Ursprünge der Bewegung gesprochen. Was sind die Wurzeln des Protests? Die Proteste sind das Resultat einer wachsenden Unzufriedenheit der brasilianischen Bevölkerung angesichts der mangelnden Qualität der öffentlichen Dienstleistungen und einer Regierung, die auf allen Ebenen zugunsten des Großkapitals und der Banken handelt. Während sich der Lebensstandard in den vergangenen zehn Jahren zwar generell verbessert hat und auch einige wichtige Reformen verabschiedet wurden, hat es nur wenig Fortschritt in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau und öffentliche Verkehrsmittel gegeben. Die Erwartungen waren hoch, da die sozialdemokratische Regierung versprach, Brasilien in ein Erste-Welt-Land zu verwandeln. Wenn jedoch gewöhnliche Brasilianer stundenlang (oder auch tagelang) in der Schlange stehen und auf einen Termin beim Arzt warten oder ihre Kinder auf öffentliche und ganz offensichtlich unterfinanzierte Schulen schicken müssen, dann verstehen sie sehr gut, dass der »Fortschritt« nicht auf allen Ebenen stattfindet. Sie haben erkannt, dass es zwar einige Verbesserungen des Lebensstandards der Armen und der Arbeiterklasse gab, die Reichen jedoch überproportional profitiert haben. Banken und große bra-

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Ein großer Teil der ärmeren Bevölkerung lebt in Favelas. Was genau muss man sich darunter vorstellen? Favelas sind informelle Gemeinden auf öffentlichen oder privaten Grundstücken, besetzt von armen Menschen, die sich weder ein Haus leisten können noch die Miete auf dem Wohnungsmarkt. In den Favelas fehlt es oft an grundlegender Infrastruktur wie Sanitäranlagen und gepflasterten Straßen. Bei Fave-

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las oder Slums handelt es sich natürlich um ein globales Phänomen, aber in Brasilien sind sie schon seit mehr als einem Jahrhundert besonders ausgeprägt: Etwa sechs bis zehn Prozent der Bevölkerung leben hier, das sind elf bis sechzehn Millionen Menschen. Die bekanntesten Favelas befinden sich in großen Städten wie Rio de Janeiro, São Paulo und Belo Horizonte. Einige Favelas wie Rocinha in Rio de Janeiro sind sehr alt und daher schon mit mehr öffentlicher Infrastruktur ausgestattet, anderen fehlt es an der Grundversorgung mit Strom und fließendem Wasser.

Fast die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in der Schattenwirtschaft Wie geht die Politik mit den Favelas um? Oft versuchen Politiker, Stimmen von Favela-Bewohnern zu kaufen. Aber noch öfter vernachlässigen sie schlichtweg ihre Pflicht, sich um die Belange der dort lebenden Menschen zu kümmern. Proteste

lassen sie von der Polizei unterdrücken. Die generelle Abwesenheit des Staats in den Favelas hat Räume für Drogenhändler eröffnet, die häufig informell die Politik in den Favelas steuern. Viele FavelaBewohner hassen sie, jedoch hassen sie die Regierung, die Politiker und die Polizei noch viel mehr. Dennoch war bisher nur eine Minderheit der Favela-Bewohner an den Protesten beteiligt. Wie haben denn die Gewerkschaften auf die schlechten Arbeitsbedingungen und Ungerechtigkeiten reagiert? Die wichtigsten Gewerkschaften stehen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) nahe, welche die Bundesregierung stellt. Viele prominente Politiker sind ehemalige Gewerkschaftsführer. Dementsprechend haben sie wenig getan, um Ungleichheit und Sparmaßnahmen zu bekämpfen. Da, wo es Veränderungen gegeben hat, wurden diese von unabhängig organisierten Beschäftigten angestoßen und durch Aktionen und wilde Streiks erkämpft – beispielsweise im Mai von den Busfahrern in São Paulo oder im März von den Straßenkehrern von Rio. Doch in den vergangenen anderthalb Jahren hatten wir die höchste Zahl von Streiks seit den 1980er Jahren. Selbst die regierungsnahen Ge-

Fünf Millionen Menschen gelten in Brasilien als landlos, während die kleine Minderheit von Großgrundbesitzern mehr als die Hälfte der Böden besitzt. Hat die PT etwas getan, um diese Ungerechtigkeit zu bekämpfen? Sehr wenig. Eigentlich hat die Wiedereingliederung von landlosen Familien unter der PT-Regierung seit 2002 sogar noch stärker abgenommen als zur Zeit der Mitte-rechts-Regierung von Fernando Henrique Cardoso in den 1990er Jahren. Warum wählen dann so viele Menschen die PT immer wieder? Trotz ihrer Kritik sehen viele Menschen leider keine Alternative zur PT. Die Partei

Du hast gesagt, es gäbe keine richtigen Alternativen zur PT. Wie sieht es denn in deiner Partei aus? Unabhängige Sozialisten in der Partei wie ich stehen vor der Herausforderung, dass wir ständig dafür kämpfen müssen, dass die P-Sol eine basisorientierte Partei wird – mit einem klaren, sozialistischen Profil. Wir wollen nicht einfach nur eine »bessere« PT. Wir möchten uns an allen Arbeitskämpfen beteiligen und setzen die Parteiführung unter Druck, auf die Straßen und Betriebe zu orientieren, anstatt nur auf das Parlament. Wir müssen uns an den Kämpfen beteiligen und klare sozialistische Alternativen bieten. Bei den Protesten der vergangenen Monate ist uns das an manchen Orten gelungen. Was ist die Perspektive der Bewegung nach der WM? Wie stehen die Chancen auf Veränderung in den nächsten Monaten? Gut. Das Klima ist reif für die Mobilisierung verschiedener Bereiche. Das erste Halbjahr hat schon wichtige Streiks, eine große Bewegung der Obdachlosen und die Anti-WM-Bewegung gebracht. Die Zahl der Streiks ist höher als in den letzten zwei Jahrzehnten. Das müssen wir fortsetzen, um die Regierung unter Druck zu setzen, Korruption zu beenden, die öffentliche Daseinsversorgung zu verbessern und einer Politik, die nur im Interesse der Reichen und Mächtigen agiert, ein Ende zu bereiten.■

Gerhard Dilger / Thomas Fatheuer / Christian Russau / Stefan Thimmel (Hrsg.)

Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie

Von Mythen und Helden, von Massenkultur und Protest

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ben im Verhältnis viel mehr gewonnen. Programme zur Einkommensumverteilung haben den Ärmsten kurzfristig geholfen, aber es gab kein Programm, um dauerhaft menschenwürdige Arbeitsplätze zu schaffen. Die Wirtschaft ist ins Stocken geraten und die meisten neuen Arbeitsplätze entstehen im schlecht bezahlten Dienstleistungsbereich oder in der Landwirtschaft. Das bedeutet also: Selbst wer Arbeit findet, bekommt einen schlecht bezahlten, unsicheren und meist befristeten Job. Trotz einer gewissen wirtschaftlichen Entwicklung steht Brasilien auf der Rangliste der lateinamerikanischen Länder mit der größten sozialen Ungleichheit auf Platz vier – direkt hinter Guatemala, Honduras und Kolumbien. Fast die Hälfte der Beschäftigten in Brasilien arbeitet in der Schattenwirtschaft.

Stimmt es, dass viele Brasilianer – und besonders die Protestierenden – Parteien generell misstrauen? Ja, es gibt ein allgemeines Misstrauen gegenüber Parteien – weil die Parteien, die an der Macht sind, überwiegend Politik im Interesse der Eliten, der Reichen und Mächtigen, machen. Viele der Protestierenden sind in linken Parteien aktiv. Das Antiparteiengefühl ist ursprünglich von rechten Kräften und kleinen, faschistischen Gruppen ausgegangen. Aber mittlerweile hat sich das geändert. Meine Partei, die P-Sol, ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen, weil so viele Menschen von der Politik der PT angewidert sind.

240 Seiten | mit Farbfotos | EUR 16.80 ISBN 978-3-89965-595-7 Die Herausgeber tragen gemeinsam mit vielen anderen Autor_innen Facetten des brasilianischen Fußballs und des Fußballs weltweit zusammen. Mit der Zuspitzung auf Widerstand und Utopie werden andere Blickwinkel auf die WM 2014 eröffnet. www.vsa-verlag.de

INTERNATIONALES

Bewohner von Jacarezinho, einem Slum in Rio de Janeiro, simulieren während eines Anti-WM-Protests im Mai den schlechten Service in einem öffentlichen Krankenhaus. Sie fordern Fifa-Standards auch bei der öffentlichen Daseinsvorsorge

Es sieht bislang so aus, als würde Präsidentin Dilma Rousseff dieses Jahr wiedergewählt werden. Damit würde die PT zum vierten Mal in Folge die Wahl gewinnen. PT steht für Arbeiterpartei. Du hast schon angedeutet, dass es nur angeblich eine Arbeiterpartei ist. Wie steht es um die Regierungspartei? Die PT wird nicht mehr von Arbeitern kontrolliert, sondern von ehemaligen Gewerkschaftsfunktionären, Technokraten und Geschäftsleuten. Die Partei ist zudem wenig auf Basisbeteiligung ausgerichtet. Im Prinzip hat sie einen Pakt mit dem Kapitalismus geschlossen: Um einige Reformen zu ermöglichen, lässt die Regierung die herrschende Klasse so ziemlich alles machen, was sie will. Man könnte das sozialen Neoliberalismus nennen: Geld, Industrie- und Beschäftigungspolitik werden weitgehend nach den neoliberalen Geboten der Wirtschaft geregelt, aber es bleiben einige kleine Räume für soziale Reformen. Dieser Pakt hat die PT so weit gebracht, dass sie mittlerweile Bündnisse mit den denkbar rechtesten Parteien und Politikern eingeht. Um ihren Verbündeten zu gefallen, muss sie ständig Zugeständnisse machen. Zum Beispiel bezüglich der Rechte von Lesben und Schwulen: Da hat die Bundesregierung es durchgehen lassen, dass der rechte, rassistische und homophobe evangelikale Pastor Marco Feliciano Vorsitzender des »Parlamentsausschusses für Menschenrechtsfragen und Minderheiten« wurde.

ist immer noch in der Lage, sich als Arbeiterpartei zu verkaufen. Die anderen Parteien haben nicht dieses Image und bieten auch keine Alternative von unten.

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© coolloud / CC BY-NC-ND / flickr.com

werkschaften sind also genötigt, für gewisse Verbesserungen zu kämpfen.

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INTERNATIONALES

Von Panagiotis Sotiris

Ü ★ ★★

Panagiotis Sotiris ist Professor an der Universität der Ägäis in Griechenland.

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ber den neoliberalen und imperialistischen Charakter der Europäischen Union wurde bereits viel debattiert. Doch viele Linke sind der Meinung, die sogenannte »europäische Integration« sei ein unumkehrbarer historischer Prozess. Er ließe uns keine andere Wahl, als ihn durch eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten progressiver Politik »von innen heraus zu prägen«. Das ist die Hauptausrichtung der europäischen Linken und der mit ihr verbundenen Parteien. Man könnte diese Haltung mit derjenigen vieler Sozialisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleichen: Sie pochten auf den irreversiblen, gar progressiven Charakter des kolonialen Imperialismus. Was heute fehlt, ist eine ernsthafte Debatte über die wirtschaftliche, politische und institutionelle Verfassung der EU im Allgemeinen und über die monetäre und wirtschaftliche Architektur der Eurozone im Besonderen. Vor allem aber müssen wir über die Alternativen nachdenken, die sich der Linken bieten. Die Unfähigkeit der europäischen Linken, mit der Krise der Eurozone zurechtzukommen, hat bereits gewichtige Verschiebungen in der politischen Landschaft nach sich gezogen. Breite Schichten der Gesellschaft sind zunehmend desillusioniert von der autoritären, antidemokratischen und neoliberalen Politik der EU. Keineswegs hat dies nur der Linken mehr Stimmen zugeführt, sondern einer ganzen Palette rechter und rechtsextremer »euroskeptischer« Parteien. Den Kern der EU bildet das Versprechen an die Kapitalkräfte in ganz Europa, alle Errungenschaften der Arbeiterbewegung abzuschaffen und ihre Politik den Interessen der Konzerne unterzuordnen. Als Zwitterwesen aus zwischenstaatlicher Koordinierung und Konföderation basiert die EU auf einem »Konstitutionalismus« ohne demokratische Legitimation. Abgesehen von belanglosen »Beratungen« schottet die institutionelle Architektur der EU alle Entscheidungsprozesse von der Intervention durch soziale Bewegungen und den Forderungen der unteren Klassen ab.

übersetzung: DAVID Paenson Der Euro hat weder Wohlstand noch Stabilität gebracht. Seine Einführung als Einheitswährung schuf vielmehr, wie Max Weber es ausdrückte, einen »eisernen Käfig« kapitalistischer Modernisierung. Sogar die Regierungen von weniger wettbewerbsfähigen Wirtschaften entschieden sich dafür, ihre monetäre Souveränität aufzugeben – zugunsten der Aussicht, den ständigen Wettbewerbsdruck zur Durchsetzung neoliberaler Reformen zu nutzen. Auf der anderen Seite ermöglichte der Euro eine neue Form imperialistischer Hegemonie innerhalb Europas. Die Einheitswährung bot den führenden Wirtschaften des Kontinents, allen voran Deutschland, Währungsstabilität und einen großen Raum für Exporte und Investitionen. Zugleich ermöglichte sie ihnen eine ständige, klammheimliche Abwertung gegenüber den weniger wettbewerbsfähigen Wirtschaften an der Peripherie. Die Ungleichgewichte der Einheitswährung sind also struktureller Natur und haben dem Projekt von Anfang an innegewohnt. In Zeiten relativer Stabilität waren diese Ungleichgewichte noch tolerierbar, vor allem, da die Eliten der peripheren Länder von billigeren Krediten und Importen profitieren konnten, aus denen sich private Schulden und Spekulationsblasen in der Bauindustrie speisten. In Zeiten der Krise und der Rezession jedoch wirkten sich diese Ungleichgewichte destabilisierend aus – nicht zuletzt, weil weniger wettbewerbsfähigen Wirtschaften durch die strengen Vorgaben der europäischen Verträge Möglichkeiten zur Gegensteuerung vorenthalten blieben. Insofern ist die Krise in Griechenland und anderen Ländern Südeuropas weder bloßer Ausdruck der globalen Wirtschaftskrise noch Ausdruck nationaler Besonderheiten – wie sie durch die rassistischen Vorurteile über »faule« Griechen oder Spanier kolportiert werden – sondern eine unmittelbare Folge der Krise der Eurozone. Es ist offensichtlich, dass wir aus dem Teufelskreis aus Austerität, Rezession und Arbeitslosigkeit ausbrechen müssen. Wir brauchen dringend ein radikales Programm gegen die soziale Verwüstung

Ein solcher Prozess kann zugleich das Fenster zu neuen sozialistischen Perspektiven aufreißen und die Tür zu einem alternativen »sozialen Paradigma« öffnen, das in einem scharfe Gegensatz zur Logik von Markt und Kapital steht. Wir müssen diese Gelegenheit nutzen, um mit Formen von Arbeiterkontrolle und Selbstverwaltung, mit nichtkommerziellen Verteilungsnetzwerken und demokratischer Planung auf der Basis von Erfahrungen des gemeinsamen Schöpfergeists von kämpfenden Menschen zu experimentieren. Der Ausbruch aus der Eurozone und die Wiedererlangung der monetären Souveränität sind notwendige Voraussetzungen, aber eine sozialistische Strategie umfasst viel mehr als nur makroökonomische Maßnahmen. Es geht darum, neue Formen sozialer Organisation auszuprobieren. Um der von der Krise verursachten humanitären Katastrophe Herr zu werden, bedarf es sofortiger Notmaßnahmen, zum Beispiel die Gründung von Solidaritätsnetzwerken und die Schaffung neuer Organisationsformen in zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie Gesundheit oder Bildung. Aus diesen Mitteln zur Problemlösung kann ein Lernprozess entstehen, in dem Menschen sich erschließen, wie Dinge anders organisiert werden können. Die Suche nach Wegen, eine Grundversorgung im Gesundheitsbereich unter Bedingun-

Die EU ist ein neoliberales Projekt, das von den Herrschenden mit allen Mitteln verteidigt wird – wie hier mit Hilfe der Polizei gegen die Blockupy-Proteste im Jahr 2012

Die europäische Linke kommt mit der Eurokrise nicht zurecht

INTERNATIONALES

Der Kampf gegen die Europäische Union kann zu einem Lernprozess für andere Gesellschaftsmodelle werden. Deshalb sollte man vor radikalen Schritten nicht zurückschrecken. Ein Gastbeitrag

© Juan C. García Lorenzo / CC BY-NC-ND / flickr.com

Ausbruch nach vorn

Griechenlands. Ein solches Programm muss neben Notmaßnahmen eine Exit-Strategie aus der Eurozone und sogar eine Abtrennung von der EU umfassen. Denn erstens ist eine sofortige Schuldenannullierung zwingend notwendig. Das bedeutet den Bruch mit der EU, die mittlerweile einer der Hauptkreditgeber Griechenlands ist. Dasselbe gilt für die gesamte neoliberale Gesetzgebung, die die Kreditbedingungen enthält Zweitens können ohne sofortigen Austritt aus der Eurozone keine staatlichen Mehrausgaben getätigt werden. Dieser Schritt ist die Bedingung für sozialen Schutz gegen die systematische Gewalt internationaler Kapitalflüsse. Drittens setzen notwendige Sofortmaßnahmen wie die Verstaatlichung unter demokratischer Kontrolle von Banken und strategischen Unternehmen eine Missachtung europäischer Verträge und Bestimmungen voraus. Im Rahmen der ökonomischen und politischen Beschränkungen der EU kann es keine radikale, progressive oder sozialistische Alternative geben. Daher ist ein Bruch der Eurozone und überhaupt mit dem institutionellen Rahmen der Europäischen Union ein notwendiger demokratischer Schritt. Es ist die einzige Möglichkeit für ein breites Bündnis von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie anderen benachteiligten Schichten, die kollektive Selbstbestimmung wiederzuerlangen.

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Es hat in der europäischen Linken eine breite Debatte über eine solche Austrittsstrategie aus der Eurozone und möglicherweise sogar aus der Europäischen Union stattgefunden. Viele werfen ihren Vertretern »Nationalismus« und »Chauvinismus« vor, oder dass sie »den wirtschaftlichen Wettbewerb ankurbeln wollen«. Um beim Beispiel Griechenland zu bleiben: Eine solche Strategie zielt nicht auf eine erhöhte Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft durch Abwertung und mehr Exporte. Maßnahmen wie die Korrektur des Wechselkurses dienen dazu, die griechische Gesellschaft vor der systemischen Gewalt des internationalen Kapitals zu schützen. Es hat nichts mit einem Kreislauf konkurrierender Abwertungen gegen andere Länder des europäischen Südens zu tun. Die Erfahrung mit dem Euro und anderen festen Wechselkursen, zum Beispiel der Anbindung an den Dollar, lehrt uns, dass eine Einheits-

währung stets mit Reallohnverlusten, Kürzungen und dem ständigen Zwang zu neoliberalen Reformen einhergeht. Der Ausbruch aus solchen monetären Zusammenhängen ist keine Strategie der Isolation, sondern notwendiger Schutz gegen aggressive kapitalistische Politik. Es wäre ein Fehler, im Namen des »Internationalismus« die gegenwärtige kapitalistische Internationalisierung der Produktion zu akzeptieren, in der ein Produkt quer durch die Welt über Gebiete des So-

Die europäische Integration ist eine Klassenstrategie der Eliten zialdumpings und »Sonderwirtschaftszonen« transportiert werden muss, bevor es ein Regal hier erreicht. Sind lokale Versorgung, Umweltschutz und relative Autonomie nicht zentrale Aspekte jeder potenziellen antikapitalistischen Alternative? Auf solche Einwände antworten große Teile der »reformistischen« wie auch der »antikapitalistischen« Linken, es sei leichter, Kämpfe auf europäischer Ebene erfolgreich zu koordinieren. Die naheliegende Gegenfrage lautet: Wieso sollte die Koordinierung über 28 Staaten hinweg, mit ihren unterschiedlichen Traditionen linker und radikaler Politik, unterschiedlichen Organisationsgraden und unterschiedlichen volkswirtschaftlichen und sozialen Konjunkturen leichter fallen als auf nationaler Ebene in Ländern, in denen die Zusammenballung von Widersprüchen und die Dynamik der sozialen Proteste so zugespitzt sind, dass diese Länder zu potenziellen »schwächsten Gliedern« in der langen Kette werden? Es wäre falsch, Internationalismus mit der Zustimmung zu einem aggressiven neoliberalen und imperialistischen Projekt gleichzusetzen. Außerdem dürfen wir niemals vergessen, dass die europäische Integration eine Klassenstrategie der herrschenden kapitalistischen Eliten ist. Fatalistische und deterministische Hinweise auf ihre Unumkehrbarkeit sind einfach falsch. Vor allem kann das Festhalten an die Unvermeidlichkeit der europäischen Integration zu entscheidenden politischen Richtungsänderungen führen, weg von einem radikalen Eintreten für die Auflösung der EU im Rahmen eines europaweiten antikapitalistischen Kampfs und hin zur einer »realistischeren« Befürwortung eines »anderen Europas«: einer »anderen EU« ohne Neoliberalismus und Demokratiedefizite, mit einer Europäischen Zentralbank der Solidarität und ähnlichen Fantasiegespinsten. Wir müssen daher in der europäischen Linken die Debatte über das Potenzial einer radikalen Anti-Euround Anti-EU-Alternative eröffnen. ■

INTERNATIONALES

»Und die Gesundheit ist kaputt«, steht auf einem der Bilder, mit denen »Bleeps.gr« auf das Spardiktat und die Folgen für das griechische Sozialsystem hinweist. Fast jedes der beschlossenen Sparpakete beinhaltete bisher Ausgabenkürzungen im Gesundheitssystem, so dass vielerorts die Notaufnahmen nur noch selten offen haben

© aesthetics of crisis / CC BY-NC-SA / flickr.com

gen verringerten Zugangs zu medizinischen Gütern auf den internationalen Märkten zu gewährleisten, ist nicht nur dringend notwendig. Sie ist auch ein Lernprozess in der Organisierung eines Gesundheitswesens, das auf Prävention und öffentliche Gesundheitsfürsorge setzt statt auf teure Formen der medizinischen Intervention. Auch Experimente mit alternativen Distributionsnetzwerken und der direkten Versorgung der Konsumenten durch die Produzenten sind mehr als nur unmittelbare Notmaßnahmen. Es sind Versuche alternativer Verteilungspraktiken, die erforderlich sein werden, um auch in einer anderen Gesellschaft Lösungen für das Problem der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln zu finden. Wenn Selbstverwaltung der einzige Ausweg ist, um die Schließung von Betrieben und die Entlassung von Arbeiterinnen und Arbeitern zu verhindern, dann stellt sie mehr als nur ein Mittel gegen Arbeitslosigkeit dar. Sie ist ein praktischer Lernprozess und zugleich der lebendige Beweis, dass Arbeiterselbstverwaltung möglich und machbar ist. Wir können die gleiche Dialektik zwischen unmittelbaren Forderungen und strategischer Umwandlung auf einem der wichtigsten Gebiete der ideologischen Erpressung während der vergangen Jahre beobachten, nämlich in Bezug auf die Gefahr von Energieengpässen. Denn ein Verlassen der Eurozone und die damit möglicherweise eintretende Währungsabwertung könnte durchaus die Einfuhr von Energie verteuern. Aber das würde eine Umstellung der Prioritäten im Energieverbrauch erfordern, indem beispielsweise der öffentliche dem privaten Verkehr vorgezogen wird oder der Gesamtverbrauch gesenkt wird. Solche Maßnahmen wären keineswegs bloß vorübergehender Natur, sie sollten als wichtige Aspekte einer umweltverträglichen sozialistischen Strategie gesehen werden.

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MARX21 Online

Was macht Marx21? Der Aktivist Ilya Budraitskis analysiert die Widersprüche der russischen Gesellschaft.

Arne List via facebook: Man muss kein westliches Medium sein, sondern Antifaschist reicht schon, um zu konstatieren, dass das Putinregime die größte faschistische Gefahr für Europa darstellt seit 1945. Ich behaupte sogar, »westliche Medien« benennen das in der Regel nicht so klar. 22. April um 14:07 Uhr

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waffen. Nein zum Militäreinsatz Insgesamt waren 23.479 Besucher im Mai (16.753 im April) auf marx21.de 56

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»Viele tolle Genossen und Genossinnen kennengelernt« Der Kongress »MARX IS' MUSS« fiel auf die bisher heißesten Tage des Jahres. Der guten Stimmung tat dies keinen Abbruch

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nsgesamt 726 Menschen machten sich am Pfingstwochenende auf den Weg zum diesjährigen »MARX IS’ MUSS«-Kongress. Es war mit Abstand der größte Kongress, den das Netzwerk marx21 bisher organisierte. Das Publikum war überwiegend jung, nicht zuletzt die Teilnahme von etwa 350 Studierenden sorgte dafür. In fast hundert Veranstaltungen, Seminaren und Podiumsdiskussionen war es möglich, zahlreiche Denkanstöße mitzunehmen. Grundsätzliches wechselte sich hierbei mit Aktuellem und Politisch-Strategischem ab. Besonders erfreulich ist das überwiegend gute Feedback. Einem Teilnehmer gefielen vor allem »die Internationalität, Vielfalt und Professionalität«, einem anderen »das unglaublich breite Themenspektrum und die Möglichkeit, im Anschluss an das Referat eine kritische Diskussion zu führen, die oft kontrovers und produktiv war. Außerdem«, erzählt er weiter, »hat mir die Atmosphäre sehr gut gefallen, man hatte stets das Gefühl, von netten und unkomplizierten Menschen umgeben zu sein. Wenn es mir zeitlich möglich ist, bin ich nächstes Jahr wieder dabei«. Obendrein hat man, wie jemand anders zu berichten wusste, »viele tolle Genossen und Genossinnen ken-

nengelernt und aufschlussreiche Gespräche in den Pausen auf dem Hof« geführt. Zu den Highlights des Kongresses zählten insbesondere die internationalen Veranstaltungen. Hier spielte die Situation in der Ukraine und insgesamt in Osteuropa eine wichtige Rolle. Ebenso auch die Europawahl, die zwar einzelne linke Erfolge (Spanien, Griechenland) brachte, aber vor allem die Gefahr von rechts verdeutlicht (Frankreich, Holland, Österreich, England). Zu den am besten besuchten Veranstaltungen zählten die über Kontroversen innerhalb der LINKEN. Beispielsweise das Podium »Rot-rot-grün: Perspektive für einen Politikwechsel?« mit Benjamin-Immanuel Hoff (Forum Demokratischer Sozialismus) und Janine Wissler (Fraktionsvorsitzende DIE LINKE Hessen). In den kommenden Wochen werden wir eine Audio-Dokumentation des Kongresses auf marx21.de posten. Hier können dann ausgewählte Veranstaltungen nachgehört werden. Der Termin für den kommenden Kongress steht auch bereits fest. Im Jahr 2015 wird »MARX IS' MUSS« am Himmelfahrtswochenende stattfinden (14. bis 17. Mai). Unsere Empfehlung: Schon jetzt das Datum fett in den Kalender eintragen. ■

Baden-Württemberg Julia (Freiburg) | jt.meier@gmx.de Bayern Carla (München) | carla. assmann@gmail.com Berlin / Mecklenburg-Vorpommern Silke (Berlin) | marx21berlin@ yahoo.de Brandenburg Anne (Zossen) | annekathrinmueller@gmx.net Hamburg Christoph (Hamburg) | christoph. timann@googlemail.com Hessen Christoph (Frankfurt) | choffmeier@hotmail.com Niedersachsen / Bremen Dieter (Hannover) | dieter. hannover@email.de Nordrhein-Westfalen Azad (Duisburg) | mail@ azadtarhan.de Rheinland-Pfalz / Saarland Martin (Kaiserslautern) | horsch@ bawue.de Sachsen Einde (Chemnitz) | einde@gmx.de Sachsen-Anhalt Anne (Halle) | anne.geschonneck@ooglemail.com Schleswig-Holstein Mona (Lübeck) | mona-isabell@ mittelstein.name Thüringen Marco (Pössneck) | m21@ celticlandy.de

WAS MACHT M21

Benjamin Pascal Zygmund via facebook: Wie kommen Sie darauf, dass das »Putinregime« die größte faschistische Gefahr für Europa seit 1945 darstellt? 22. April um 14:05 Uhr

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NEUES AUS DER LINKEN / SPEZIAL

Die brandenburgische LINKE wird für ihre Zustimmung zum Ausbau des Braunkohletagebaus heftig kritisiert – zu Recht Von Georg Frankl

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eit 2009 regierte DIE LINKE in Brandenburg gemeinsam mit der SPD relativ ruhig und ungestört. Anders als zuvor die Berliner Genossinnen und Genossen provozierten die Brandenburger kaum größere Auseinandersetzungen in der Bundespartei um ihre Regierungspolitik. Doch das ist seit dem 26. Mai anders: An diesem Tag besetzten Greenpeace-Aktivisten das Karl-Liebknecht-Haus, um gegen die Ausweitung des Braunkohletagebaus in der Lausitz zu protestieren.

Die Bundespartei reagierte auf die Vorwürfe von Greenpeace, DIE LINKE sei »100 Prozent unglaubwürdig«, mit einem scharfen Dementi und bekräftigte ihre Positionierung gegen weitere Investitionen in den Braunkohleabbau. Die vier stellvertretenden Parteivorsitzenden riefen in einem offenen Brief gemeinsam mit prominenten Energie- und Umweltpolitikern der LINKEN ihre Genossinnen und Genossen im Brandenburger Kabinett auf, die Entscheidung über die Erschließung des Tagebaus Wel-

Greenpeace-Aktivisten besetzen am 26. Mai die Parteizentrale der LINKEN in Berlin, um auf die widersprüchliche Positionierung des brandenburgischen Landesverbands aufmerksam zu machen

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aktuelle Abgeordnete aus Bund und Land oder dem Europaparlament. Vattenfall deckt achtzig Prozent seiner Stromproduktion in Deutschland durch Braunkohle und betreibt die Tagebaue in der Lausitz. In dem Leitbild »Brandenburg 2030« der SPD ist nichts vom Ziel zu lesen, aus der schädlichen Braunkohleverstromung auszusteigen – im Gegenteil: Die Braunkohle wird zur wichtigen »Brückentechnologie« und paradoxerweise sogar zum »Partner für die erneuerbaren Energien« erklärt. Dass ohne die Braunkohle aus Welzow II in der Mark das Licht auszugehen drohe, ist eine völlige Verdrehung der Tatsachen. Im Jahr 2011 betrug die Bruttostromerzeugung insgesamt 52.505 Gigawattstunden. Der Wirtschaftsminister der LINKEN Ralf Christoffers musste auf Anfrage der CDU zugeben, dass davon 31.457 Gigawattstunden – knapp schzig Prozent – exportiert werden. 65 Prozent des in Brandenburg produzierten Stroms wurde in Braunkohlekraftwerken generiert. Der Ausbau des Kohleabbaus dient also nicht der Überbrückung beim Ausbau der erneuerbaren Energien, sondern dem Profit im Stromexport. Außerdem müssen einmal mehr die Beschäftigten für die Fortsetzung der Umweltzerstörung herhalten. Über 10.000 Arbeitsplätze stünden in der strukturschwachen Region auf dem Spiel, erklären die Landesregierung und die Gewerkschaft IG BCE. Ein schwaches Argument. Denn dass die Betroffenen auch für etwas Sinnvolleres arbeiten könnten als die Umwelt zu vernichten, liegt auf der Hand. Wenn die Bezahlung nicht schlechter ist, machen sie es wahrscheinlich sogar lieber. Gerade in dieser Region gibt es viel zu tun, um die soziale und wirtschaftliche Infrastruktur aufzubauen. Dafür müsste das Land aber Geld in die Hand nehmen, das allerdings aufgrund von Schuldenbremse und Steuerpolitik auf Bundesebene zurzeit fehlt.

Und gewonnen hat: Vattenfall

Die Brandenburger SPD ist mit der Braunkohle-Industrie traditionell eng verbunden. Im Aufsichtsrat der Vattenfall Europe Mining AG sitzen vier prominente Sozialdemokraten, allesamt ehemalige oder

Dass es der SPD gelungen ist, DIE LINKE für ihre klimafeindliche Politik mit ins Boot zu holen, bedeutet einen herben Rückschlag im Kampf gegen Luftverschmutzung und Zerstörung der Natur. DIE LINKE betont in der Diskussion um die Energiewende als einzige Partei den deutlichen Zusammenhang von ökologischer und sozialer Politik: Wer ums Überleben kämpft, kann kaum Rücksicht auf die Umwelt nehmen. Als Massenorganisation kann DIE LINKE zugleich Knotenpunkt und Motor für soziale und ökologische Bewegungen sein. Mit ihrer Zu-

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Georg Frankl ist Mitglied der LINKEN in Berlin.

NEUES AUS DER LINKEN

Der SPD in die Falle gegangen

zow II zu vertagen oder dagegen zu stimmen. Doch am 3. Juni stimmten die vier Regierungsmitglieder der LINKEN, darunter die Umweltministerin, dem Braunkohlenplan zu. Jetzt drohen die vollständige Zerstörung dreier Dörfer, die Umsiedlung von 800 Menschen und ein längeres Festhalten an der CO2intensiven Braunkohleverstromung. Drei Monate vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen werden uns die Probleme, mit denen DIE LINKE in einer Koalitionsregierung zu kämpfen hat, wieder einmal deutlich vor Augen geführt. Dass DIE LINKE sich grundsätzlich gegen die Verstromung von Braunkohle ausspricht, stand nie zur Debatte. Denn Braunkohle ist der schmutzigste aller fossilen Brennstoffe. Dazu kommt, dass der Abbau im Tagebau Kulturlandschaften und Natur auf Dauer zerstört. Sowohl das Parteiprogramm als auch das Brandenburger Landtagswahlprogramm von 2009 definieren das Ziel einer Stromerzeugung aus hundert Prozent erneuerbaren Energien. Im Landtagswahlkampf hatte DIE LINKE sogar mit Plakaten geworben, auf denen sie sich »Konsequent gegen neue Tagebaue« aussprach. Vor dem Wahlkampf hatte man an der Seite von Umweltverbänden, Bürgerinitiativen und Grünen über 25.000 Unterschriften für das Volksbegehren »Keine neuen Tagebaue« gesammelt, damit allerdings nur ein knappes Drittel des notwendigen Quorums erreicht. Bei der anschließenden Landtagswahl wurde DIE LINKE mit 27,2 Prozent erneut zweitstärkste Kraft. Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) wollte die Koalition mit der unzuverlässigen und notorisch zerstrittenen CDU nicht fortsetzen, weswegen er ein rot-rotes Bündnis forcierte. In den Koalitionsverhandlungen machte die SPD die faktische Aufgabe der linken klimapolitischen Positionen dann zur Bedingung für das Zustandekommen des Bündnisses. So musste DIE LINKE ihre klar ablehnende Haltung gegen die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid (CCS-Technologie) fallen lassen und der Erforschung und Erprobung dieser umstrittenen Technik zustimmen, um den Weg in die Regierung freizumachen. Der Ausstieg aus der Braunkohle wurde weit in die Zukunft verschoben, konkrete Schritte wurden nicht verabredet.

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Sommer 2014

Afghanistan 2014

© nozoomii / CC BY-NC-SA / flickr.com

Bis zu zwanzig Millionen Tonnen Braunkohle werden jährlich im Tagebau Welzow-Süd befördert. Ein dreckiges, profitreiches Geschäft auf Kosten der Umwelt

stimmung zur Erschließung des Tagebaus Welzow II hat die Brandenburger Führung aber einmal mehr der Koalitionsraison den Vorzug vor der politischen Vernunft gegeben. Die Angst, möglicherweise aus der Regierung zu fliegen, war größer als die Einsicht, dass wirkliche Veränderungen nur zusammen mit sozialen und ökologischen Bewegungen erkämpft werden können. Wenn sich DIE LINKE gegen die Aktivistinnen und Aktivisten stellt, schwächt sie nur ihre eigene Position und ist der SPD noch stärker ausgeliefert. So holt sich DIE LINKE zwangsläufig die Widersprüche zwischen Regierung und fortschrittlichen Bewegungen in die eigene Partei. Umweltministerin Anita Tack von der LINKEN erklärte im »Neuen Deutschland« zu ihrem Abstimmungsverhalten: »Fakt ist: In Brandenburg gibt es derzeit noch immer

Die SPD lässt sich nicht von guten Argumenten überzeugen keine Mehrheit für einen so konsequenten Ausstieg aus der Braunkohle bis zum Jahre 2040, wie ihn die LINKE fordert – und für den ich mich auch persönlich immer wieder eingesetzt habe und einsetzen werde.« Abgesehen davon, dass es für den angeblichen Fakt keinen Beleg gibt, ist diese Argumentation gefährlich. Denn wenn sich DIE LINKE darauf beschränkt, die vermeintliche Bevölkerungsmehrheit zu repräsentieren, dann geht die Perspektive für eine Veränderung der gesellschaftlichen Mehrheiten und

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Kräfteverhältnisse verloren. Am Ende muss sie Politik gegen die eigenen Überzeugungen machen. Ein weiteres Problem ist der Koalitionspartner. Dass die SPD sich nicht von guten Argumenten überzeugen lässt, sondern dazu neigt, sich an den Interessen von Banken und großen Unternehmen zu orientieren, hat sie schon allzu oft bewiesen. Eine klare Positionierung der LINKEN auf Seiten der Aktivistinnen und Aktivisten gegen Welzow II hätte die rot-rote Koalition zweifelsohne schwer belastet, aber dafür der Bewegung vielleicht zusätzlich Kraft und Optimismus verliehen. Im Ergebnis ist genau das Gegenteil geschehen. Einer der Antikohleaktivisten, der gemeinsam mit Greenpeace die Zentrale der LINKEN besetzt hatte, ist Falk Hermenau. Er koordinierte bereits im Jahr 2009 das Volksbegehren gegen neue Tagebaue. Damals beteiligte sich DIE LINKE an der Mobilisierung. Entsprechend verärgert zeigte sich Hermenau nun im Interview mit dem Online-Magazin »Klimaretter.info« über den Beschluss für den Tagebau: »Natürlich bin ich enttäuscht. Gerade von ehemaligen Weggefährten. Die Diskussionen der letzten Tage haben einfach gezeigt, dass den Linken in Brandenburg der Machterhalt viel wichtiger ist als die Menschen in der Region. Ich habe noch die Vision, dass auch ein Leben in der Lausitz nach der Braunkohle möglich ist und nicht alle Dörfer weggebaggert werden. Daran muss man festhalten, damit wir weiter kämpfen können. Wenn die Politiker schon keine Visionen für die Lausitz entwickeln, dann werden wir das eben selbst in die Hand nehmen.« Es ist sehr zu begrüßen, wenn die Betroffenen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen wollen. Wenn DIE LINKE ihnen dabei nicht hilft, ist sie überflüssig. ■

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Realistisch & Radikal

Wahlbeobachtungen am Hindukusch 2014 • Genese und Zukunft der Warlords • Zwischen Bürgerkrieg und fragiler Staatlichkeit • Opiumproduktion: „We have failed, we have lost“ • Besitzkämpfe und Interessen im Urbanisierungsprozess • Perspektiven der afghanischen Flüchtlinge in Deutschland • Kampfdrohnen Ägypten: Arbeiter/Gewerkschaftsbewegung. Militärputsch: Wer zahlt die Rechnung? • Algerien: Jamila Buhired • Palästina: Katastrophe in Yarmuk, Dahlan-Faktor • Syrien: Gewaltlosigkeit. Flüchtlinge im Libanon. Homs-Absprache ✉ inamo e.V., Postfach 310727, 10637 Berlin, ☎ 030/86 42 18 45, @ redaktion@inamo.de, 5,50 

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H. Bierbaum u.a.: Europa auf dem Weg nach rechts?

Joachim Bischoff: Wachstumsmotor EZB?

Vasco Pedrina: Soziales Europa dringender denn je

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INTERVIEW

»Ich hab immer davon geträumt, dass wir mal eine linke sozialistische Partei auf die Beine stellen«

Bernd Riexinger Bernd Riexinger ist seit 2012 Parteivorsitzender der LINKEN. Zuvor war er Landessprecher der LINKEN in BadenWürttemberg und Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart.

Schon in jungen Jahren galt Bernd Riexinger als aufmüpfiger Gewerkschafter. Nun ist er Vorsitzender der LINKEN und möchte aus ihr eine aktive Mitgliederpartei machen. Ein Gespräch über Bürgerbeteiligung, Blockupy und eine streikerprobte Bausparkasse Interview: Ronda Kipka und David Maienreis

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Wie war die Mobilisierungsfähigkeit der Partei im Wahlkampf? Die Wahlkampfveranstaltungen waren fast durchgängig gut gemacht, aber die Mobilisierung war deutlich geringer als bei der Bundestagswahl. Alles war ein bisschen dröger. Dieser Wahlkampf lief ja praktisch ohne Polarisierung, weil alle etablierten Parteien mehr oder weniger dasselbe erklärt haben. DIE LINKE war die einzige, die überhaupt mit einem anderen Tonfall in den Wahlkampf gegangen ist. Aber da es keine breite Bewegung oder Politisierung um diese Wahl herum gab, ist es uns als kleiner Partei schwergefallen, hier eine Zuspitzung hinzubekommen. Wir sollten gleichzeitig nicht unterschätzen, dass eine weit verbreitete Skepsis existiert, ob der bisherige Umgang mit der Krise dauerhaft erfolgreich sein wird. Leider schlägt diese Skepsis nicht in Protest um. Viele haben die Hoffnung, dass die wirtschaftliche Lage in Deutschland noch ein wenig so weiter wabert. Tatsächlich ist schwer einzuschätzen, was passieren wird. Klar ist jedoch: Die europäische Krise ist nicht vorbei. Im Gegenteil: Länder wie Italien oder Frankreich geraten erst allmählich in ihren Sog. Es ist fraglich, ob Merkel und die Troika die bisherige Austeritätspolitik weiter

umsetzen können. Denn die politische Polarisierung in Europa macht deutlich, dass die Bindungskraft der bürgerlichen, vor allem aber auch der sozialdemokratischen Parteien nachhaltig bröckelt. Das ist der Preis, den sie für ihre Austeritätspolitik zahlen müssen. In Berlin ist die Beteiligung an der Europawahl deutlich gestiegen, weil gleichzeitig das Volksbegehren zum Tempelhofer Feld lief. Welche Schlüsse kann man daraus für den Parteiaufbau ziehen? Auch dort, wo Kommunalwahlen stattfanden, hatten wir höhere Mobilisierungen. Konkrete Auseinandersetzungen vor Ort haben auch in unserer aktiven Mitgliederschaft einen höheren Stellenwert als Europawahlen. Das ist schade, weil die europäische Frage politisch immer zentraler wird. Wie wir die Brücke zwischen Europa und kommunalen Anliegen schlagen sollen, ist nicht so leicht zu beantworten. In jedem Fall aber sollten wir die Auseinandersetzungen vor Ort – gewerkschaftliche wie kommunale – zur politischen Mobilisierung nutzen. Privatisierungen von Krankenhäusern oder die zunehmende Unterwerfung des Öffentlichen unter den Kommerz, wie im Fall des Tempelhofer Felds, aber auch die Rekommunalisierung der Stromversorgung in Hamburg nehmen die Menschen als wichtige Fragen ihrer unmittelbaren Lebensrealität wahr. Diese Auseinander-

setzungen gilt es, mit der Bundes- und der europäischen Ebene zu verbinden. Ein rein abstrakter Zugang zu Europa ist schwierig. DIE LINKE muss sich darauf einstellen, dass sich Europa stärker polarisieren wird, aber in Deutschland wahrscheinlich keine eruptiven Ausbrüche stattfinden werden. Wir erleben hier einen eher schleichenden Prozess der gesellschaftlichen Spaltung – was uns politisch vor eine fast noch größere Herausforderung stellt. Aber: Die jüngste Zinssenkung der Europäischen Zentralbank ist ein Verzweiflungsschritt, ihre Geldpolitik bewirkt keine nachhaltigen Wachstumsimpulse. Zumal die Löhne und Renten sinken, und die Binnenmärkte erodieren. Ob sich die deutsche Wettbewerbspoli-

tik europaweit weiter so durchsetzen lässt wie bisher, wird die spannende Frage der kommenden Monate. Viele Journalisten stimmen nach der Europawahl denselben Abgesang auf DIE LINKE an wie schon in den vergangenen Jahren. Was setzt du dem entgegen? Ich sehe das grundlegend anders! Wir hatten im Bundestagswahlkampf extrem schwierige Bedingungen: drei Parteien, die verbal nach links gerückt sind. Trotzdem konnten wir uns behaupten und auch in Hessen den Abwärtstrend stoppen. Wenn wir das überstanden haben – warum sollten wir dann jetzt vor einem Abstieg stehen? Noch in diesem Jahr wird die SPD in der Großen Koalition ihr Pulver verschossen haben. Dann wird sie

INTERVIEW

nem Prozent. Das deutet darauf hin, dass wir langsam eine größere Stammwählerschaft haben.

© marx21

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ernd, die Europawahl hat gezeigt: Von der Krise profitieren die linken Kräfte weniger als die rechten. In Deutschland haben die staatstragenden Parteien eine klare Mehrheit, international erleben wir den Aufstieg neurechter Parteien. Wie erklärst du dir, dass DIE LINKE so wenig an Zustimmung gewinnt? Merkel hat mit ihrer Deutung, wir seien gut durch die Krise gekommen und hätten sie gut gemanagt, großen Anklang gefunden. Seit fünf Jahren geben Mehrheiten bei Umfragen an, sie seien mit der wirtschaftlichen Lage zufrieden. Gleichzeitig haben die Menschen ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit. Sie sehen, dass Europa in einer großen Krise steckt, die aber Deutschland nicht erreicht hat. Daraus erklärt sich, dass in Deutschland als einzigem Land bei der Europawahl die Regierung bestätigt worden ist. Allerdings gibt es eine große gesellschaftliche Spaltung: Ein Drittel hat von dem Miniaufschwung überhaupt nicht profitiert. Diese Menschen gehören eigentlich zum Wählerinnen- und Wählerpotential der LINKEN. Aber gerade sie sind überwiegend nicht zur Europawahl gegangen, weil sie sich von ihr nichts versprechen. Ich nehme die Wahl trotzdem nicht als Niederlage wahr. Im Jahr 2009 lag die Differenz zwischen unseren Ergebnissen bei Bundestags- und Europawahl bei vier Prozentpunkten, dieses Mal nur bei ei-

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Wie siehst du Blockupy in diesem Zusammenhang, oder die Fortsetzung der Konferenz »Erneuerung durch Streik«? Ich halte Blockupy für wichtig, weil es da um den Kern der Auseinandersetzung mit der europäischen Krisenpolitik geht und diese Bewegung einen internationalen, europäischen Charakter angenommen hat. Leider hat sie es bislang nicht geschafft, eine wirklich gesellschaftlich relevante Größenordnung zu erreichen. Ihre Ausstrahlungskraft ins gewerkschaftliche Spektrum ist sehr begrenzt. Gerade hier könnte DIE LINKE langfristig eine verbindende Rolle spielen. Insgesamt ist mein Eindruck, dass in dieser Bewegung DIE LINKE große Anerkennung findet, weil wir mitmobilisieren und unseren Beitrag leisten, ohne den Versuch zu unternehmen, diese Bewegung für unsere Interessen zu benutzen. Ich bin generell dagegen, Bewegungen zu benutzen. Die Konferenz »Erneuerung durch Streik II« finde ich sehr wichtig. Denn wir brauchen bewegungs- und konfliktorientierte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Wir müssen einen Erfahrungsaustausch organisieren und politische Inhalte transportieren, die für die Praxis in den Betrieben und den Gewerkschaften relevant sind. Die erste Konferenz war bedeutsam, weil sie empirisch aufgearbeitet hat, welche neuen Streikformen in

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den vergangenen Jahren durch neue Akteurinnen und Akteure entstanden sind: Welche neuen Methoden haben Verkäuferinnen und Verkäufer, Servicekräfte im Flughafenbereich oder Beschäftigte im öffentlichen Dienst entwickelt? Wie haben sie Streiks organisiert? Ihre Ansätze unterscheiden sich zum Teil deutlich von den traditionellen Herangehensweisen der Industriegewerkschaften. Sie waren demokratischer und beteiligungsorientierter. Diese Erfahrungen sind verallgemeinerbar, was die Gewerkschaften jedoch nicht leisten. In dieser Hinsicht hat DIE LINKE eine Bedeutung. Beim Einzelhandelsstreik in Berlin wurden Methoden aus Baden-Württemberg angewandt und sogar weiterentwickelt. Das war ein ungemein wichtiger Punkt für DIE LINKE, die auf diese Weise auch einen Gebrauchswert für Menschen hat, die nicht Mitglied sind.

Ich habe damals gegen den autoritären Umgang mit Lehrlingen gekämpft Glaubst du, dass diese neu gewerkschaftlich organisierten Bereiche die Ausrichtung und Strategie der traditionellen Gewerkschaften beeinflussen können? Ich war immer ein Gegner der Strategie, die Gewerkschaftsführungen zu »entlarven«. Die Gruppen, die das jetzt seit zwanzig oder dreißig Jahren machen, haben damit keinen Erfolg gehabt. Ich will nicht sagen, dass man die Gewerkschaften, wo sie anpasslerisch sind, nicht kritisieren soll. Aber im Kern geht es darum, dass DIE LINKE nicht nur kritisiert, sondern dafür sorgt, dass mehr Menschen Erfahrungen in konkreten Kämpfen und Auseinandersetzungen machen. Denn solche Erfahrungen politisieren! Wir können hierzu einen Beitrag leisten, indem wir solche Kämpfe vorantreiben. Wichtig ist, dass die Kolleginnen und Kollegen uns vertrauen. Sie müssen uns glauben, dass wir einen Streik gemeinsam mit

ihnen führen und ihn nicht an die Wand fahren werden. Personen, die ewig nur kämpfen und einen Streik nicht beenden wollen, würde nie dessen Führung anvertraut werden. Andererseits gehen Führungen oft vorschnell Kompromisse ein. Linke hingegen müssen sagen: Ja, es wird Kompromisse geben, aber wir müssen die Bereitschaft der Leute, zu kämpfen, ausreizen. Dann muss ein Kompromiss herauskommen, den alle Streikenden mittragen. Mit einer solchen Herangehensweise kann DIE LINKE Anerkennung finden. Sie wird schlicht daran gemessen, welchen Beitrag sie dazu leistet, dass sich die Situation der Kolleginnen und Kollegen verbessert. Viele Arbeitskämpfe sind ohnehin schon politisch: Wenn Frauen für höhere Löhne kämpfen, dann geht es dabei natürlich auch um Gleichberechtigung. Die Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst sind immer politische Kämpfe, die gesellschaftliche Verteilungsfragen berühren. Und wenn Verkäuferinnen kämpfen, dann haben wir es mit der Problematik zu tun, dass Dienstleistungen grundsätzlich geringer entlohnt werden als klassische Industriearbeit. Das hat historische Gründe. Das können wir thematisieren, so dass die Beteiligten anfangen, ein politisches Bewusstsein dafür zu entwickeln, in welcher Gesellschaft sie leben und mit wem sie es zu tun haben. Das ist der produktive Impuls, den linke Politik geben kann. Du kommst selbst aus der Gewerkschaft. Aber was hast du davor gemacht? Durch welche Organisation oder Partei bist du ursprünglich politisiert worden? Ich hab zwar immer davon geträumt, dass wir mal eine linke sozialistische Partei in Deutschland auf die Beine stellen, aber war zunächst lange in keiner Partei. Mein politisches Leben entspringt zwei Strömungen: Zum einen der Jugendzentrumsbewegung und der linken Kinderund Jugendarbeit. Erst kürzlich war ich zum 40. Jubiläum des selbst verwalteten Jugendzentrums in Weil der Stadt in der Nähe von Stuttgart. Ich bin einer der Mitbegründer dieses Jugendzentrums. Zum anderen habe ich mich durch die gewerkschaftliche Arbeit und in der Lehrlingsbewegung politisiert. Das war ja Mitte der 1970er Jahre eine Art Nachklappbewegung der Studentenbewegung. Ich habe

mich sehr früh in meinem Ausbildungsbetrieb als Jugendvertreter engagiert. Die Lehrlingsbewegung war sehr aufmüpfig und wandte sich gegen den autoritären Umgang mit den Azubis. Diese beiden Erfahrungen haben mich auch im Hinblick auf meine theoretische Entwicklung geprägt. Wo genau hast du deine Ausbildung gemacht? Ich hab meine Ausbildung in der Nähe von Stuttgart bei der Leonberger Bausparkasse gemacht. Anschließend sollte ich nicht übernommen werden, obwohl ich ganz gute Noten hatte. Das war damals ein Massenphänomen: Gewerkschaftliche Jugendvertreter wurden nach der Ausbildung nicht übernommen. Doch aufgrund der Lehrlingsproteste hatte die sozial-liberale Regierung gegen diese Praxis ein Gesetz verabschiedet. Ich fiel unter dieses Gesetz und war in BadenWürttemberg der erste, der auf dieser Grundlage geklagt hat. Ich gewann den Prozess und mein Ausbilder musste mich übernehmen. Gegen seinen Ausbilder oder Arbeitgeber zu klagen – dazu noch in einer Bausparkasse oder Bank – war damals völlig unüblich. Ich galt schnell als aufmüpfiger, linker Gewerkschafter. Meine Eltern hatten mir dringend abgeraten, zumal mein Fall öffentlich wurde. Aber diese Auseinandersetzung war ein ganz wichtiger politischer Sieg, nicht nur für mich persönlich. Nach der Übernahme konnte ich relativ schnell freigestellter Betriebsrat werden und mit dafür sorgen, dass die Leonberger Bausparkasse der erste Bankbetrieb war, der in der Nachkriegsgeschichte gestreikt hat, für die 35-Stundenwoche. Meine Sparkasse blieb der verlässlichste Streikbetrieb in dieser Branche. Wie kam es dazu, dass du dich schließlich doch der Parteilandschaft zugewandt hast? Es stand natürlich erstmal meine gewerkschaftliche Arbeit im Vordergrund, aber ich habe immer die Verbindung zu den sozialen Bewegungen gesucht. Ich wollte nicht nur eine kämpferische und politisierte Gewerkschaftspolitik, sondern habe mich um Bündnisse mit anderen Bewegungen bemüht, insbesondere anlässlich der Proteste gegen die Agenda 2010. Schließlich habe ich die WASG mitbe-

gründet, weil mir klar war, dass die Gewerkschaften angesichts der neoliberalen Hegemonie mit dem Rücken zur Wand standen. Aus dieser Position konnten sie nicht alleine rauskommen. Seit Ende der 1990er Jahre waren die Gewerkschaften »mega-out« und befanden sich nur noch in einer Verteidigungshaltung. Sie haben sich auch nicht besonders geschickt verhalten, als es um die Agenda 2010 ging. Gleichzeitig gab es in der Wirtschaft riesige Umwandlungen, einen relativen Rückgang der Industrie und einen Aufschwung der Dienstleistungen – was die organisatorischen Herausforderungen an die Gewerkschaften erhöhte. Sie konnten in den neuen Bereichen nicht so schnell Fuß fassen, wie sie in den alten Branchen Mitglieder verloren. Zu einer politischen Schwäche kam also eine organisatorische Schwäche, die bis heute nicht überwunden ist. Ich gehörte immer zu den Gewerkschaftslinken, die für eine Politisierung der Gewerkschaftsarbeit und das politische Mandat der Gewerkschaften eintraten. Zugleich war mir aber immer klar: Ohne eine neue Partei, die die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt, werden die Gewerkschaften nicht vom Fleck kommen. Das war deine Motivation, die WASG und später dann DIE LINKE mitzugründen? Richtig. Und in der Tat können die Gewerkschaften heilfroh sein, dass es DIE LINKE gibt: Dadurch sind für sie neue Spielräume entstanden, denn die SPD ist gezwungen, sich wieder stärker den Gewerkschaften zuzuwenden, weil sie sonst der LINKEN das Feld überlassen würde. Ich finde es immer ungeschickt, wie wenig die Gewerkschaftsführungen unsere Partei nutzen. Wenn es uns nicht gäbe, würde die SPD gar nicht mehr zu ihnen kommen. Die Gewerkschaften dürfen sich nicht nur auf eine Partei konzentrieren, sondern müssen schauen, wer sie wirklich unterstützt. Trotzdem gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik eine Partei, die neben der SPD so gut in den Gewerkschaften verankert war wie jetzt DIE LINKE. Das müssen wir noch ausbauen, aber wir sind durchaus schon im Mittelbau und in vielen Betrieben sehr präsent. Das ist viel stärker als alles, was andere linke Gruppen in den letzten Jahrzehnten geschafft haben. ■

PUBLIKATIONEN Fanny Zeise/Rabea Hoffmann (Hrsg.) ERNEUERUNG DURCH STREIK – DIE EIGENE STÄRKE NUTZEN

Beiträge aus Wissenschaft und Praxis Reihe Materialien, Februar 2014 Download unter: www.rosalux.de/event/50464 Bestellung unter Tel. 030 44310-123 oder bestellung@rosalux.de

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INTERVIEW

ihre wenigen kleinen Projekte umgesetzt haben, die nur bestimmten Gruppen nutzen, aber von allen bezahlt werden müssen. Die entscheidende Frage wird dann sein, ob wir diese Chancen unterlegen können mit einen Prozess des Parteiaufbaus, durch den wir den Aktivitätsgrad unserer Mitglieder erhöhen, neue Mitglieder gewinnen und in die Lage kommen, gesellschaftlich relevante Kampagnen zu führen. Wir müssen unsere Verankerung vor Ort erhöhen, unseren Einfluss in den Gewerkschaften vergrößern und es schaffen, eine positive Rolle in sozialen Bewegungen und Arbeitskämpfen zu spielen. Das wird über das Schicksal der Partei entscheiden. Wahlen sind hierfür nur eine Voraussetzung. Wenn eine linke Partei bei Wahlen und im Parlament nicht mehr präsent ist, verliert sie die Möglichkeit, ihre politischen Ansätze an die Öffentlichkeit zu bringen. Aber der andere Prozess ist mindestens genauso wichtig.


KULTUR

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r stand direkt daneben. Fassungslos und »sehr bleich«, wie ein Polizeiwachtmeister später berichtete. Damals, im Mai 1933, als die Nazi-Studentenschaft die Werke vieler als »undeutsch« titulierter Autorinnen und Autoren unter infernalischem Triumphgeheul des faschistischen Mobs in den lichterloh brennenden Scheiterhaufen auf dem Platz vor der Berliner Staatsoper warf. Neben Büchern von Marx, Brecht, Seghers oder Luxemburg befanden sich auch sein Roman »Fabian« und seine Gedichtbände darunter. Ganz unscheinbar weilte dieser freundliche kleine Herr mit tief ins Gesicht gezogenem Hut in der tobenden Menge, beobachtete angewidert das primitive Spektakel und entfernte sich erst dann rasant, als eine Frau ihn erblickte und – mehr verwundert als denunzierend – lautstark ausrief: »Da ist ja der Erich Kästner!« Ja, der Erich Kästner hat sich, anders als die allermeisten seiner verfemten Kollegen, nicht aus dem Staub gemacht nach der unheilvollen Machtübernahme durch die NSDAP. Er arrangierte sich mit dem erdrückenden Terror, ohne ihm jemals zu dienen. Und doch wurde ihm sein Verbleib im Lande nachher immer wieder barsch zum Vorwurf gemacht; bis hin zu der schneidenden Annahme, der lediglich stille Widerstand des im NS-Regime verbotenen Literaten sei eine Bestätigung für dessen immerzu unpolitische Haltung gewesen. So zumindest will es bis heute die bundesrepublikanische Erzählung, die Kästner nur mehr als Schöpfer netter Kindergeschichtchen und als bloßen Märchenonkel in der »Hall of Fame« des deutschen Dichtertums duldet. Wie so häufig liegt aber auch hier ein hegemonialer Narrativ weit jenseits der Wahrheit. Tatsächlich hatte Kästner einen privaten Grund, der ihn im sogenannten Dritten Reich hielt, dafür aber einen wirklich guten: sein »liebes Muttchen«. Zu Ida Kästner pflegte der Autor zeitlebens ein derart inniges Verhältnis, dass sein Biograf Klaus Kordon daraus sogar Kästners dauerhafte Bindungsprobleme mit allen »Frauen, die nicht seine Mutter sind«, ableitet. Kästner selbst hat dies in seinen charmanten Kindheitserinnerungen »Als ich ein kleiner Junge war« bestätigt. Er wäre wohl an seinen Schuldgefühlen zerbrochen, hätte er die betagte Dame nicht in diesen zwölf furchtbaren Jahren bestmöglich unterstützt, sondern bei dem weitgehend mittellosen Vater in Dresden zurückgelassen.

Ebendort wurde Erich Kästner am 23. Februar 1899 in der Königsbrücker Straße 66 geboren. Nachdem der zurückhaltende Musterschüler als Kind formal-bürgerlich wenig gebildeter Eltern unter entbehrungsreicher Förderung seiner Mutter zunächst brav Aufsätze schrieb, in denen er die »deutsche Gemütstiefe« und den »deutschen Volkscharakter« lobte und beides gegen die »vielen Feinde der deutschen Art« verteidigte, besuchte er eher aus Verlegenheit denn aus Überzeugung das Lehrerseminar. Im Ersten Weltkrieg blieb ihm dank eines Herzfehlers der Schützengraben erspart. In der parallel zum Germanistikstudium in Leipzig aufgenommenen journalistischen Tätigkeit begab sich der junge Mann, dem in der Schule zeittypisch widerlichster Kadavergehorsam eingedrillt wurde, dann später doch noch in den Schützengraben, wenn auch nur in den diskursiven. Hier avancierte er vom obrigkeitshörigen Bübchen zum antifaschistischen Friedensaktivisten mit höchsten literarischen Ambitionen. Spätestens mit seinem 1927 erfolgten Umzug nach Berlin entwickelte der wortgewandte Frauenheld aus Sachsen in den folgenden fünfeinhalb Jahren eine literarische Produktivität, die er nachher nie mehr erreichen sollte. Inspiriert haben ihn insbesondere das mitreißende Nachtleben der Metropole und die vielen weiblichen Bekanntschaften, denn die »Romantische Zweierbeziehung« war für den Lebemann persönlich nie ein denkbares Lebensmodell, auch wenn es fast immer die Frauen waren, die ihm den Laufpass gaben. In der Stadt an der Spree etablierte sich Kästner schnell als prominenter Publizist, indem er für das Wochenblatt »Montagmorgen« zwischen 1928 und 1930 seine brillanten »Montagsgedichte« schrieb und neben seinen beiden wichtigsten Romanen (1929: »Emil und die Detektive« und 1931: »Fabian«) auch seine zwei besten Gedichtbände veröffentlichte: »Herz auf Taille« (1928) und »Ein Mann gibt Auskunft« (1930). In ersterem findet sich sein bissigstes antimilitaristisches Poem mit dem typisch kästnerschen Sarkasmus. Er parodiert hier Goethes pathetisches »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn« und münzt es auf den in Deutschland florierenden Nationalismus: »Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn? / Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen! / Dort stehen die Prokuristen stolz und kühn / in den Büros, als wären es Kasernen. (…) / Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will / – und es ist sein Beruf, etwas zu wollen – / steht der Verstand erst

»Die Zeit ist kaputt!« Erich Kästner wird heutzutage fast nur noch als harmloser Kinderbuchautor wahrgenommen. Doch in fast all seinen Werken kommt auch sein politisches Engagement für Frieden und Gerechtigkeit zum Vorschein. Eine Hommage zum 40. Todestag Von Christian Baron

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Christian Baron ist freier Journalist und Soziologe. Er lebt in Erfurt und promoviert derzeit an der Universität Trier zum Thema »Der neue Klassismus. Eine kritische Analyse des massenmedialen Sozialstaatsdiskurses in Deutschland«. Im Laika-Verlag gibt er gemeinsam mit Carolin Amlinger und John Lütten die Reihe »Marxist Pocket Books« heraus.

KULTUR

© wikimedia

Er avancierte vom obrigkeitshörigen Bübchen zum Friedensaktivisten

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Erich Kästner (ganz r.) bei der Gründung der deutschen Abteilung der internationalen Schriftstellervereinigung PEN im Jahr 1948. Sie setzt sich besonders gegen Unterdrückung und Verfolgung von Schriftstellern ein

Sich von niemandem vereinnahmen lassen und doch Haltung zeigen

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Mit einem aber sollte Benjamin uneingeschränkt Recht behalten: Kästner unterschätzte die Nazis maßlos. Nicht etwa in ihrer grundsätzlichen Gefahr. Er glaubte aber, der Spuk sei nach kurzer Zeit wieder vorbei. Auch der Zweite Weltkrieg und der Holocaust überstiegen bei weitem seine düstersten Vorahnungen. So sah er sich im Nazi-Reich gefangen und geknebelt, hoffend, dass es schnell vorüber sein mochte. Als »Kulturbolschewist« mit einem Schreibverbot belegt, durfte er hin und wieder doch unter Pseudonym arbeiten. Das noch heute in Expertenkreisen als herausragend betrachtete Drehbuch zu dem NS-Durchhalteprojekt »Münchhausen«

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In »Emil und die Detektive« zeigte er sich dann sogar als erster bedeutender Literat, der Kinder wirklich ernst nahm, dialogisch mit ihnen kommunizierte und seine Geschichte nicht im Indianerland oder in der Märchenwelt, sondern im vor sozialen Problemen nur so wimmelnden Berlin der 1920er Jahre ansiedelte. Emil und seine Freunde jagen darin einen dreisten Dieb durch die Stadt und bringen damit in Ordnung, was Erwachsene verbrochen haben und was sie eigentlich auch selbst wieder gut machen müssten. Ähnlich verfuhr Kästner im »Doppelten Lottchen« (1949). In »Pünktchen und Anton« (1931) wiederum kritisierte er die Klassenverhältnisse im Kapitalismus unaufdringlich und kindgerecht. In »Fabian«, seinem einzigen politischen, aber genialen Roman für Erwachsene zeichnet Kästner ein satirisch formuliertes und zugleich realistisch inszeniertes Bild von der chaotischen Spätphase der Weimarer Republik, in der eine menschenfreundliche Ethik der Hauptfigur Jakob Fabian nichts einbringt als das hilflose Erleiden eines Elends nach dem anderen. Seine Odyssee durch das von brutalen Nazis, missgünstigen Karrieristen und beziehungsopportunistischen Frauen verseuchte Berlin kulminiert in der Pointe, in welcher der Protagonist einen Knaben retten will: »Der kleine Junge kam heulend ans Ufer. Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen«.

Kästner (mit Hut), hier bei einem Filmdreh im Jahr 1968 in München, kämpfte gegen Wiederbewaffnung und Vietnamkrieg

stammt aus Kästners Feder. Schaut man sich den mit Hans Albers in der Hauptrolle besetzten Spielfilm heute an, staunt man, wie Kästner es schaffte und wie er es sich vor allem traute, in dieser Komödie allerlei Seitenhiebe auf das NS-Regime unterzubringen. Nicht nur dies zeigt, dass er zwar einerseits zu Kompromissen bereit war, um sich ebenso wie seine Langzeitfreundin Luiselotte Enderle und seine Eltern durchzubringen, andererseits aber auch unbändigen Mut bewies. In der Mondszene fragt beispielsweise Münchhausens Diener seinen Herrn: »Entweder ist Ihre Uhr kaputt, Herr Baron, oder – oder die Zeit ist kaputt.« Antwort: »Die Zeit ist kaputt!« Klaus Kordon schreibt dazu in seiner lesenswerten Kästner-Biographie: »Menschen, die unter Stiefeln leben, haben das Heraushören auch der leisesten Untertöne gelernt.« Unfair, weil völlig falsch, wäre somit das Urteil, Kästner sei ein Mitläufer gewesen, der außer dem wunderbaren Gedicht »Sachliche Romanze« und einigen schönen Kinderbüchern nichts von dauerhaftem Wert geschrieben hätte. Ganz im Gegenteil: Den

Spätgeborenen stünde ein demütigeres Reden als jenes von der Kollektivschuld aller in der Nazi-Diktatur lebenden Menschen gut zu Gesicht. Wer bewundernswert offensiv aufmuckte, erlebte die Befreiung durch die Alliierten in der Regel nicht. Wer sich wie Kästner in innerer Emigration befand und alles überstand, ohne dem System je zu nutzen, verdient ebenfalls großen Respekt. Und als der hochdekorierte und in die »Kitschhölle des Volksschriftstellers« (Hanuschek) verbannte Erich Kästner am 29. Juli 1974 in München an Speiseröhrenkrebs starb, hinterließ er ein in diesem Sinne imposantes politischliterarisches Erbe. Das letzte Kapitel seines »Fabian« ist nicht umsonst betitelt mit einer glasklaren Aufforderung, die das Fiktive durchbricht: »Lernt schwimmen!« Kästner formte Fabian bewusst als Identifikationsfigur des Romans, wollte ihn aber keinesfalls als Vorbild verstanden wissen. Ihm ging es in seiner Arbeit immer um den unabhängigen Kampf an der Seite der Erniedrigten und Geknechteten. Ein Anspruch, den er auch als Motto lyrisch pointiert hat: »Es gibt nichts Gutes. Außer: Man tut es!« ■

★ ★★ Weiterlesen Sven Hanuschek: »Keiner blickt mir hinter das Gesicht«. Das Leben Erich Kästners, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011, 494 Seiten, 16,90 Euro. Klaus Kordon: Die Zeit ist kaputt. Die Lebensgeschichte des Erich Kästner, Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel 2012, 336 Seiten, 9,95 Euro.

KULTUR

Hier erklomm Kästner zweifellos den Gipfel seiner famosen Sprachbegabung, denn er erschuf erstmals in der verkopften deutschsprachigen Literatur eine Schreibe, die einfach zu lesen und doch erhellend war. Was ihm in seiner inhaltlichen Grundhaltung bis heute als zu pessimistisch vorgehalten wird und was der Dichter selbst einmal süffisant mit »Wo bleibt das Positive, Herr Kästner? Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt!« beantwortete, fand in den linken Reaktionen zum »Fabian« seinen Höhepunkt. Walter Benjamin nämlich warf ihm ebenso wie Kurt Tucholsky und Walter Mehring grimmig vor, »linke Melancholie« zu fabrizieren, die nur das Bürgertum anspreche: »Es ist von Haus aus allein diese Schicht, der der Dichter etwas zu sagen hat, der er schmeichelt, indem er ihr vom Aufstehen bis zum Zubettgehen den Spiegel weniger vorhält als nachträgt.« Damit richtet sich der bürgerliche Marxist primär gegen Kästners immer wieder explizit geäußerte Ablehnung der direkten Parteiarbeit. In Sven Hanuscheks hervorragender Kästner-Biographie findet sich dazu ein Bonmot, mit dem Kästner seine diesbezügliche Sichtweise treffend beschrieb: »Ich bin Mitglied einer Partei, die es nicht gibt, denn wenn es sie gäbe, wäre ich nicht ihr Mitglied.« Er war gewiss kein Marxist, kein Anarchist und erst recht kein Sozialdemokrat. Seine Devise lautete, sich von niemandem vereinnahmen zu lassen und doch Haltung zu zeigen: 1932 initiierte er einen Aufruf zu einer einheitlichen Arbeitereinheitsfront, also zur Zusammenarbeit von SPD und KPD gegen die immer stärker werdenden Nazis, und auch nach dem Krieg engagierte er sich als Journalist und Dichter massiv gegen die Wiederbewaffnung der BRD, kritisierte die zahllosen Nazis in höchsten Staatsämtern, kämpfte gegen die atomaren Bestrebungen der Bundesregierung und später gegen den Vietnamkrieg.

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stramm und zweitens still. / Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!« Auch dem Kapital gegenüber wurde er zunehmend aufmüpfiger. So wünschte Kästner dem »Maskenball im Hochgebirge« eine Lawine, welche »die blöde Bande« zudecken möge. Fast alle seine in dieser Zeit erschienenen Gedichte vermitteln eine formgewandte Mischung aus anthropologischem Pessimismus und aufgebrachtem Drang nach Frieden und sozialer Gerechtigkeit. In seiner »Ansprache an die Millionäre« warnte er etwa die selbstgefälligen Reichen vor dem Zorn der Arbeiterschaft: »Warum wollt ihr so lange warten, / bis sie euren geschminkten Frauen / und euch und den Marmorpuppen im Garten / eins über den Schädel hauen? (…) Ihr seid nicht klug. Ihr wollt noch warten. / Es tut uns leid. Ihr werdet’s bereuen. / Schickt aus dem Himmel paar Ansichtskarten! / Es wird uns freuen«. Das Neue an Kästners Lyrik war, dass er die Perspektive der sogenannten kleinen Leute einnahm. Stets schrieb er im Interesse der Arbeiterklasse, viele Figuren seiner Texte stammen aus einfachen Verhältnissen – von der Bardame über die Sekretärin bis zum Handwerker und dem prekären Akademiker.

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AUSTELLUNG

Trotz alledem! Sozialdemokratische Streuzettel der 1930er Jahre | Karl-Marx-Hof Wien

»Gegen Knechtschaft und Not!« Zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter waren in Österreich im Widerstand gegen die Nazis aktiv. Eine Ausstellung in Wien widmet sich einer ihrer stärksten Waffen: der illegalen Propaganda Von Marcel Bois Daraufhin gehen die Arbeiterinnen und Arbeiter in vielen Städten Österreichs auf die Barrikaden. Mehrere Tage dauern die sogenannten Februarkämpfe an. Sie enden mit einer Niederlage. Zuletzt nimmt das Militär auch den Karl-Marx-Hof ein. Die Sozialdemokratie existiert fortan nur noch im Untergrund. Heute befindet sich in einer der beiden Wäschereien des KarlMarx-Hofes ein kleines Museum, der »Waschsalon Nr. 2«. Den 80. Jahrestag der Februarkämpfe haben die Betreiber zum Anlass genommen, eine Auswahl historischer sozialdemokratischer Flugblätter zu zeigen. Einige stammen aus den frühen 1930er Jahren, die meisten jedoch aus der Zeit der Illegalität. Sie illustrieren den Widerstand, den Arbeiterinnen und Arbeiter zunächst gegen den Austrofaschismus geleistet haben und später, nach dem »Anschluss« Österreichs, auch gegen die deutschen Nationalsozialisten. Unter Einsatz ihres Lebens haben sie Flugblätter verteilt, Sabotageakte verübt, zum Teil bewaffnet gegen die Nazis gekämpft. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes schätzt die Zahl der am Widerstand beteiligten Österreicher auf 100.000. Gerade ihre »Streuzettel« sind wichtige Quellen, um die Geschichte des österreichischen Antifaschismus erfassen zu können. »Gegen Knechtschaft und Not! Für Freiheit und Brot! Unser Wien bleibt immer rot!«, ist auf einem der Pamphlete zu lesen.

Damit verweist es auf die sehenswerte Dauerausstellung, die der Waschsalon ebenfalls beherbergt. Die zeigt nämlich, was die Arbeiterbewegung im Februar 1934 so vehement verteidigte: das Rote Wien – »ein einzigartiges gesellschaftspolitisches Experiment, das sämtliche Lebensbereiche der Menschen erfasste – von der Sozial- und Gesundheitspolitik über das Bildungswesen bis zum Wohnbau«, wie die Kuratoren der Ausstellung schreiben. Tatsächlich führten die Wiener Sozialdemokraten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ein viel beachtetes und bis heute zum Teil auch mystifiziertes Reformprogramm durch. Binnen weniger Jahre entstanden in der österreichischen Hauptstadt 65.000 Gemeindewohnungen, 90 Kindergärten, 60 Arbeiterbüchereien und 25 neue Badeanstalten. Finanziert wurden die sozialen Verbesserungen durch radikale Umverteilungsmaßnahmen. Beispielsweise erhob die Gemeinderegierung hohe Steuern auf Luxusgüter wie Autos, Pferde oder Hauspersonal. Trotzdem scheiterte der »Sozialismus in einer Stadt«. Warum, erfährt man als Besucher leider nicht. Dennoch: Gerade in Zeiten von Schuldenbremse und leeren Kommunalkassen kann ein Blick auf eines der radikalsten Sozialexperimente des 20. Jahrhunderts durchaus inspirieren. ■

★ ★★ AUSSTELLUNG | Trotz alledem! Sozialdemokratische Streuzettel der 1930er Jahre | Waschsalon Nr. 2, Karl-Marx-Hof, Wien | Noch bis 14. Dezember 2014 | Öffnungszeiten: Donnerstag: 13 bis 18 Uhr, Sonntag: 12 bis 16 Uhr | dasrotewien-waschsalon.at

REVIEW

Review

© Waschsalon Karl-Marx-Hof

W

ien im Februar 1934: Das österreichische Heer rückt mit schwerem Geschütz in den Norden der Hauptstadt vor. Im Karl-Marx-Hof haben sich aufständische Arbeiter verschanzt. Durch Artilleriebeschuss soll ihr Widerstand gebrochen werden. Der Karl-Marx-Hof ist ein Musterbeispiel des sozialen Wohnungsbaus. Im Jahr 1930 eröffnet umfasst er 1400 Wohnungen für 5000 Menschen, jede mit fließend Wasser und einem eigenen WC ausgestattet. Zwei Wäschereien, zwei Kindergärten, eine Zahnklinik, eine Mutterberatungsstelle, eine Bibliothek und ein Jugendheim befinden sich in dem Komplex. Mit einer durchlaufenden Fassadenlänge von 1,1 Kilometern handelt es sich um das größte Wohngebäude der Welt. Nicht nur weil er architektonisch an eine Festung erinnert, ist der Karl-Marx-Hof eine Hochburg der organisierten Arbeiterbewegung. Seit dem Frühjahr 1933 ist in Österreich der »Austrofaschismus« an der Macht – ein Regime, das stark vom italienischen Faschismus Mussolinis beeinflusst ist. Nach und nach setzen seine Vertreter die Verfassung und das Parlament außer Kraft und errichten einen autoritären Ständestaat. Am 12. Februar 1934 beschließt die Regierung schließlich die Auflösung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, aller sozialdemokratischen Vereine und der Freien Gewerkschaften sowie die Beschlagnahmung ihrer Vermögen.

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BUCH

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Kaiser Chiefs | Education, Education, Education & War

ALBUM DES MONATS Die Kaiser Chiefs bringen ihre eigene Interpretation der britischen Politik – nicht immer ganz antikapitalistisch, dafür umso antimilitaristischer Von David Jeikowski

★ ★★ ALBUM | Kaiser Chiefs | Education, Education, Education & War | Spv Recordings (ATO Records) 2014

gen auch »One More Last Song« und »Ruffians on Parade«. Auch hier das beliebte Aufheizenzum-Abgehen-Spielchen. Allerdings fällt der Refrain dank zentralen, hellen Gitarren-Riffs und langgezogenem »Uoohs« seitens des Sängers eher freundlich aus und klingt wie maßgeschneidert für die Rock am Rings dieser Welt. Textlich geht es dafür weniger feierlich zu. Hier geht es um Raufbolde mit psychischem Knacks nach Kriegseinsatz im Ausland (»Ich studiere militärische Landkarten/ Es hilft mir dabei, mich zu entspannen/... Wenn wir weit

weg von Zuhause spielen/ schicken wir die Drohnen rein/«) Symbolisch einfach schön ist dagegen »Bows & Arrows«. So wie Pfeil und Bogen ohne einander nutzlos sind, komplettieren sich auch Sänger und Besungene. Das mag man zuerst als Kitsch abtun, doch immerhin sind es Kriegswerkzeuge, die hier als Analogie herhalten müssen: »Los geht’s, in die Zukunft/ Zusammen kämpfend/ Wir sind Pfeil und Bogen/«. Und diese Erfahrung lässt sich verallgemeinern: »Wir, das Volk, gleich erschaffen/ Und wenn das stimmt, sind wir nicht

die einzigen/«. So einfach wird das Private politisch. Und dann ist da noch »Cannons«. Je häufiger sich die mit schweren Drums dramatisch untermalte zentrale Zeile »Wir werden noch viel mehr Kanonen brauchen« ihren Weg durch die Boxen bahnt, desto mehr demaskiert sich die Absurdität hinter dieser Haltung. Wenn sich »Militärmächte mit unser aller Blut auf Dinner-Partys zuprosten« und es überall heißt: »Politiker und Kinder zuerst« – wie soll dann ausgerechnet dieser politisch auferlegte Wunsch nach weiterer Bewaffnung bei dem bescheidenen Wunsch helfen »an Weihnachten« von der Front »nach Hause zu kommen«? Das nachfolgende Gedicht »The Occupation«, gelesen vom britischen Schauspieler Bill Nighy, nimmt die Schreckensbilder nochmals auf und extrapoliert sie zu einem technokratischen Endzeitszenario, inklusive VIPEvakuierungen und rumpelnden Rüstungsfabriken. Doch trotz aller revolutionären Gebärden enttäuschen die Kaiser Chiefs zuweilen in der Realität durch häufig anbiedernde Vermarktungsversuche. So spielte die Band 2013 bei einem Werbeclip für das Finanzunternehmen Barclays mit und beteiligten sich ihre Mitglieder Anfang dieses Jahres als Juroren an der Castingshow »The Voice UK«. In Deutschland traten sie vor kurzem in der Teenie-Soap »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« auf. Es ist bei weitem nicht alles politisch auf »Education, Education, Education & War« und insgesamt scheint es viele Arten zu geben, die Lieder der Kaiser Chiefs zu hören – gerade dies ist ja der verkaufsfördernde Kniff an Popmusik. Die auf dem Album immer wieder beschworenen Kriegsszenarien lassen sich in der Realität aber nur durch eine antimilitaristische und antikapitalistische Bewegung von unten dauerhaft einmotten. Mit dieser Überzeugung im Hinterkopf gibt das Album sehr viel mehr her als Gefühlsduseleien. »Your mind is the key« – in diesem Fall sogar wirklich. ■

Ein geplantes Massaker In Südafrika schießt die Polizei auf streikende Minenarbeiter, Dutzende sterben. Ein neues Buch gibt ihnen eine Stimme Von Niema Movassat

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m 16. August 2012 versammeln sich 3000 Bergarbeiter am Hügel der Platinmine im südafrikanischen Marikana, um für die Anhebung des Mindestlohnes zu demonstrieren. Dabei kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Einer der Streikenden berichtet, dass sie »eingehegt wurden, mit einem Drahtzaun, als wären wir Kühe«. Über einen schmalen Gang, den die Polizei offen lässt, versuchen die Arbeiter zu fliehen. An dieser Stelle eröffnete die Polizei das Feuer. Zehn Sekunden lang rattern die automatischen Waffen. Die Bilanz: 34 Tote, 78 Verletzte und 259 Festnahmen. Viele der Minenarbeiten sterben durch Schüsse in den Rücken, einige werden von Panzerfahrzeugen überfahren. Es ist das größte staatliche Massaker an den Bewohnern Südafrikas seit dem Ende der Apartheid. Die Medien des Landes, die Politik und selbst der Gewerkschaftsdachverband COSATU verteidigen das polizeiliche Vorgehen als Notwehr. Bis heute ist keiner der Verantwortlichen angeklagt und verurteilt worden. Bis heute warten die Angehörigen der Toten auf Gerechtigkeit. Herausragend an dem Buch »Das Massaker von Marikana« ist, dass es den Arbeitern eine Stimme gibt. Denn sie wurden nach dem Massaker kaum gehört, während die Sichtwei-

se der Herrschenden breit gestreut wurde. Die fünf Autoren haben kurz nach dem Ereignis vor Ort zahlreiche Interviews mit Minenarbeitern und Angehörigen der Opfer geführt. Sie skizzieren, wie hart und gefährlich die Arbeitsbedingungen in den Bergwerken Südafrikas sind. Zwar gibt es Sicherheitsvorschriften, aber ein Minenarbeiter berichtet, dass diese oft umgangen werden: »Wir arbeiten unter starkem Druck unserer Bosse, denn die wollen Produktion (…) sie wollen, dass du unter den Sicherheitsstandards arbeitest; wenn du das nicht möchtest (…) sagen sie, sie werden dich rauswerfen oder sie schlagen dich.« Ein Arbeiter wendete sich deswegen an die Gewerkschaft und erzählt: »Als wir ihnen unsere Beschwerden vorgetragen haben, schienen sie diese nicht ernst zu nehmen.« Der Gewerkschaftsdachverband COSATU ist mit dem ANC verwoben und es gibt auch eine enge Verflechtung mit den Unternehmen. Als die Arbeiter angesichts niedriger Löhne und Arbeitszeiten von 12 bis 13 Stunden am Tag in einen wilden Streik traten, gab es keine Verhandlungsbereitschaft. Vielmehr wurden sie von den Unternehmen, den Gewerkschaften und der Polizei bedroht und eingeschüchtert. Die Schilderungen der Interviewpartner sind bewegend und schockierend zugleich. Man

erfährt von Familien, die ihren Ernährer verloren haben und nicht mehr wissen, wie sie ihre Existenz sichern sollen. Auch erfährt man viel über die Lebensrealität der Arbeiter und bekommt eine Vorstellung davon, wie enorm die Unterdrückung und die soziale Spaltung im Land ist. Dadurch werden die Beweggründe für den Streik deutlich. Das Ende der Apartheid beendete zwar die Rassendiskriminierung, doch die Schwächsten in der Gesellschaft werden weiterhin brutal ausgebeutet. Die Minenarbeiter Südafrikas gehören hierbei zu den rechtlosesten Produzenten innerhalb des kapitalistischen Systems. Das Buch liefert zudem Beweismaterial dafür, dass das Massaker nicht zufällig stattfand, sondern ein geplantes Unterfangen war. Staat und Kapital wollten ein Exempel statuieren. Doch damit hatten sie keinen Erfolg: Die Arbeiter haben kämpferisch weitergestreikt und sich nicht entmutigen lassen. Den Autoren ist beizupflichten, wenn sie folgern: »Das war eine der bemerkenswertesten und mutigsten Taten innerhalb der bisherigen, globalen Arbeiter_ innengeschichte.« ■

★ ★★ BUCH | Peter Alexander u.a. | Das Massaker von Marikana - Widerstand und Unterdrückung von Arbeiter_innen in Südafrika | Mandelbaum Verlag | Wien 2013 | 260 Seiten | 19,90 Euro

REVIEW

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m April 2005 hielt Tony Blair in Sedgefield eine Wahlkampfrede. Die kleine Stadt im Nordosten Englands gehört zum Wahlkreis des damaligen Ministerpräsidenten und so konnte dieser hier ungestört ganz auf sein Lieblingswahlkampfthema eingehen: die Bildung. Nach ein paar vollmundigen Wahlverspechen und dem Aufzählen dreier heilsbringender Vorteile der Bildung resümierte er: »Education, education, education – then and now the key to the door of Britain’s future succes«. Allerdings engagierte sich der Labour-Politiker während seiner Amtszeit auch gerne in weniger karitativen Bereichen: Zum Zeitpunkt seiner Rede hatte Blair die britischen Truppen bereits in mehr Kriege geschickt als je ein Premierminister zuvor. Allein im Jahr 2003 befand sich ein Drittel der Armee im völkerrechtswidrigen Irakkrieg, in Afghanistan besitzt Großbritannien noch immer die zweitstärkste Militärpräsenz. Die ebenfalls aus dem Vereinigten Königkreich stammende Indieband Kaiser Chiefs fasst daher die Politik ihres Landes in ihrem neusten Albumtitel folgendermaßen zusammen: »Education, Education, Education & War«. Frei nach dem Motto »Es herrscht immer Krieg in den Fabriken«, nimmt der erste Song »The Factory Gates« gleich mit hinter jene Tore, hinein in die Welt proletarischer Blaumannträger und offen zutage tretender Ausbeutungsverhältnisse. »Sie befehlen dir Tag für Tag/ dich auf den Weg durch die Fabriktore zu machen./ Was du auf dem Fabrikboden verdienst/ nimmst du gleich mit in den Laden/«, grölt der Sänger im Refrain, während das Schlagzeug gnadenlos zuschlägt. In den Strophen vereinen sich Keyboard und EGitarre zu aufputschenden Quietsche-Loops, die sich beim Refrain dann so schlagartig zurückhalten, dass man, solchermaßen aktiviert, gar nicht anders kann, als mitzusingen. In eine ähnliche Kerbe schla-

Peter Alexander u.a. | Das Massaker von Marikana - Widerstand und Unterdrückung von Arbeiter_innen in Südafrika

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Noam Chomsky | Die Herren der Welt. Essays und Reden aus fünf Jahrzehnten

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Einer für alle(s) Der Linguist und politische Aktivist Noam Chomsky ist im vergangenen Jahr 85 geworden. Ein neues Buch verspricht eine Zusammenstellung seiner wichtigsten Schriften. Das Konzept kann jedoch nur teilweise überzeugen Von Theodor Sperlea

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★ ★★ BUCH | Noam Chomsky | Die Herren der Welt. Essays und Reden aus fünf Jahrzehnten | Promedia Verlag | Wien 2014 | 208 Seiten | 17,90 Euro

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oam Chomsky kann auf ein hochaktives Leben zurückblicken: Er hat die formale Linguistik ein gutes Stück vorangebracht und beeinflusst bis heute wissenschaftliche Strömungen von Informatik bis Psychologie. Gleichzeitig ist er einer der bekanntesten Linken der USA. Mit »Die Herren der Welt« liegt ein Buch vor, das Reden und Essays aus knapp 45 Jahre umfasst und uns einen – leider nur kurzen – Einblick in das politische Denken des Autors ermöglicht. In sieben Kapiteln zeigt sich Chomsky als Denker mit klarem Blick. Seine Analysen behandeln viele Bereiche der heutigen kapitalistischen Gesellschaften des Westens. Als roter Faden dient dabei die Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft – letztlich wohl die Frage Chomskys an sich selbst, was er in seiner Situation für eine bessere Welt oder das wirklich gute Leben tun kann. Ob es um die Erhaltung der Natur und um Themen wie Krieg oder Demokratie geht: Chomsky möchte zeigen, »dass es durchaus gangbare Wege gibt, die vom Einzelnen nicht verlangen, ein Heiliger zu werden«, wie Marcus Raskin im Vorwort schreibt. Der Titel des Buches ist ein Verweis auf Adam Smith, einen Vordenker unseres Wirtschaftssystems. Dessen Vorstellung nach sollte die freie Marktwirtschaft die Welt besser und gerechter machen. Inzwischen herrscht der (freie) Markt, doch

Smiths Ausspruch bleibt weiterhin gültig: »Alles für sich selbst und nichts für andere, scheint zu allen Zeiten die elende Devise der Herren der Welt gewesen zu sein.« Im Grunde beschäftigen sich alle Artikel des Bandes mit Machtverhältnissen und der Frage, wie sich diese reproduzieren. In »Einfache Wahrheiten, schwierige Fragen« aus dem Jahr 2004 untersucht Chomsky dies am Beispiel der Menschenrechte. Von den westlichen Mächten eingesetzt, dienen sie oft der Rechtfertigung von drastischen Maßnahmen gegen sogenannte feindliche Mächte. Zugleich aber missachten die USA selbst die Menschenrechte. Denn paradoxerweise sind die Machthabenden immer ausgenommen von der »universellen« Regel. So können sie an der Macht bleiben. Noam Chomsky sieht »die Rolle der Intellektuellen (...) im Beurteilen und Bewerten, im Überzeugen und Organisieren, und nicht in der Machtergreifung und Herrschaft«. Dies begründet er im Artikel »Wissen und Macht« aus dem Jahr 1970 damit, dass »eine Beteiligung der Massen an der Planung, Entscheidungsfindung und Umgestaltung gesellschaftlicher Institutionen (...) die Voraussetzung jeglicher gesellschaftlicher Umgestaltung« sei. Immer wieder produziert Chomsky solche Sätze, die in jedes linke Poesiealbum passen,

jedoch wenig konkrete Forderungen enthalten und sich nicht als Parolen eignen. Dieser Stil ist meiner Meinung nach wohldurchdachte Absicht: Parolen würden nicht denselben Nachdruck entfalten. Chomskys Interventionen hingegen klingen nicht nach einer Meinung, sondern nach wissenschaftlicher Wahrheit. Noam Chomsky ist keiner der wortgewaltigen und umstrittenen kontinentalen Denker. Doch ist das seine Stärke: Er ist ein kritischer Denker, der konsensfähig ist. Ich denke jedoch nicht, dass es sich bei den in diesem Band versammelten Artikeln um die »wichtigsten Essays und Reden Chomskys« handelt, wie der Klappentext verspricht. Einen Tiefpunkt stellen zwei Buchrezensionen dar, mit denen man ohne Kenntnis der besprochenen Bücher nicht viel anfangen kann. Weiterhin wird an vielen Stellen, wo es interessant wird, auf andere Texte und Bücher Chomskys verwiesen. Wenn man von einem 200-Seiten-Werk zu viel erwartet, wird man enttäuscht: Dieses Buch liefert keine neuen Denkansätze, aber die alten in neuer Klarheit. ■

on David Harvey, der die sozialen Bewegungen der letzten Jahre als Kämpfe um »das Recht auf Stadt« deutet, bis zu David Graeber, für den diese Bewegungen einen neuen Anarchismus verkörpern: Bücher und Interpretationen zur Krise und den neuen Protestbewegungen gibt es zur Genüge. Ungewöhnlich ist es hingegen, wenn darin Gramscis Theorien und Begriffe wie der »passiven Revolution« oder der »gesellschaftlichen Partei« auf aktuelle Entwicklungen angewandt werden, um strategische Schlussfolgerungen für die Stärkung des Widerstands und gegen eine Fragmentierung der Linken herauszuarbeiten. Gerade das aber versuchen Mario Candeias und Eva Völpel – und zwar mit Erfolg. In einem einleitenden Kapitel erläutern sie, inwiefern die Prekarisierung der traditionellen Arbeiterklasse neue Fragen und Herausforderungen für eine bewegungsorientierte Linke aufgeworfen hat. Dieser Wandel habe schwerwiegende Konsequenzen sowohl für die Handlungsfähigkeit von abhängig Beschäftigten als auch für die »Re-Organisierung« der heutigen Linken. Hier könnte man Candeias und Völpel vorwerfen, dass sie die ökonomischen Veränderungen zu stark hervorheben. Die (politische) Krise der Repräsentation und das Streben der Bewegungen nach direkter radikaler Demokratie kommen hingegen etwas zu kurz. Die folgenden drei Kapitel des Buches geben einen Überblick über die Entwicklung der amerikanischen OccupyBewegung, der spanischen Indignad@s und der Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen in den Jahren 2011 und 2012. Candeias' und Völpels Analyse der Occupy-Bewegung in den Vereinigten Staaten verdeutlicht, dass diese alles andere als ›spontan‹ entstand. Stattdessen verband sie neue und alte politische Kräfte. Die Autorin und der Autor betonen hierbei besonders die Rolle vorhergegangener Organizingstrategien der Gewerkschaftsbewegung, den

Mario Candeias, Eva Völpel | Plätze sichern!

BUCH DES MONATS Weltweit bildet die Besetzung öffentlicher Plätze den Ursprung für soziale Bewegungen. Wie aus scheinbar spontanem Protest langfristige Strategien des Widerstands werden, zeigt ein neues Buch Von Mark Bergfeld

★ ★★ BUCH | Mario Candeias, Eva Völpel | Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland | VSA Verlag | 240 Seiten | 16,80 Euro

Moment der Verdichtung im New Yorker Zuccottipark und wie die Bewegung wiederum Anschluss in ihrem jeweiligen lokalen Umfeld suchte. Die jüngste Welle von Streiks für einen Mindestlohn von 15 Dollar in der Fast-Food-Branche und die Wahl der Sozialistin Kshama Sawant in den Stadtrat von Seattle zeigen, wie Occupy die US-amerikanische Gesellschaft verändert hat und weiterhin verändern wird. Die spanischen Indignad@s stempeln die beiden Autoren nicht leichtfertig als Jugendbewegung ab. Sie hätten nicht nur die dortige Linke verändert, sondern auch das

Kräfteverhältnis im spanischen Staat. Hier gilt das besondere Interesse der Autorin und des Autors dem Mosaik von Organisationen, das sich im Zuge dieser Bewegung neu formieren musste. Die massenhafte Beteiligung am »Marsch der Würde« gegen die Kürzungspolitik am 22. März 2014 in Madrid bestätigt, dass die Indignad@s keine Eintagsfliege waren. Sie sind in der Mitte der Gesellschaft verankert und können diese aktivieren. Kaum drei Monate nach seiner Gründung schaffte das aus der Bewegung hervorgegangene Wahlbündnis Podemos (Wir können) den

Einzug ins Europaparlament. Dies könnte ein einschneidender historischer Moment sein, der die Rolle der Indignad@s als gesellschaftlicher Akteur im spanischen Staat verfestigt und so eine neue Phase einläutet. Schade nur, dass »Plätze sichern« diese Entwicklungen nicht mehr mit einbeziehen konnte. Das Kapitel zu den Bewegungen in Griechenland gibt einen guten Überblick über die historischen Besonderheiten des Mittelmeerstaates. Von den verschiedenen lokalen Kämpfe und Kampagnen über den Wahlerfolg der Linkspartei Syriza im Jahr 2012 spannen Candeias und Völpel einen Bogen zu der Frage, wie die Gestaltung der griechischen Gesellschaft jenseits diktatorischer Sparmaßnahmen aussehen könnte. Eine Auswertung der Besetzung und Übernahme durch die Beschäftigten der Baustofffabrik Vio.me und des staatlichen Fernsehsenders ERT runden die Betrachtungen ab. Die letzten beiden Kapitel sind einer strategischen Diskussion gewidmet. Auch wenn man vielleicht nicht mit allen Schlussfolgerungen des Buches übereinstimmt, ist die von den Autorinnen eingeforderte Debatte doch dringend notwendig. Denn allzu oft beschränken sich Bewegungsforscher auf bloßes Kommentieren. Candeias und Völpel zeigen, dass es auch anders geht. Sie entwickeln Vorschläge für eine »revolutionäre Realpolitik«, die sich auf Rosa Luxemburg bezieht. Reform und Revolution stehen sich dabei nicht entgegen, sondern bilden sich ergänzende Elemente in der Radikalisierung der Massen. Candeias und Völpel haben ein beeindruckendes Buch geschrieben, das Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland sehr nützlich sein kann, um die Lernprozesse innerhalb von Bewegungen zu verstehen und die Frage zu stellen: Wie gelangen wir von bloßer Bewegung zu einem gesellschaftlichen Wandel? ■

REVIEW

Buch

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Mein Lieblingsbuch

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Von marx21-LeserIN Irmgard Wurdack

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle Dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Am zwölften Tag« von Wolfgang Schorlau

★ ★★ Wolfgang Schorlau | Am zwölften Tag – Denglers siebter Fall | KiWi-Taschenbuch | Köln 2013 | 352 Seiten | 9,90 Euro de in den 1970er Jahren in der Lehrlingsbewegung politisiert. Hier kam er in Kontakt mit linken Studierenden und lernte den Marxismus kennen. In seinem aktuellen DenglerFall lässt der Autor neben den jugendlichen Tierschützern auch die Bosse selbst zu Wort

kommen, und er verleiht den Menschen, die sonst unsichtbar in Massentieranlagen das Töten übernehmen, eine Stimme. Die Monologe des zynischen Fleischfabrikanten Carsten Osterhannes haben mir dabei mehr als einen Schauer den Rücken herunter

gejagt. Mal rühmt er sich einer »Demokratisierung« des täglichen Fleischkonsums, den er als Billiganbieter der breiten Masse ermögliche. Dann plaudert er darüber, wie die Branche mit ihrer Lobby- und Pressearbeit erreicht hat, dass weißes Fleisch, also Hähnchen und Pute, als schlank und gesund gilt. Was Tierschutz und Menschenrechte miteinander (und letztlich mit dem Kapitalismus) zu tun haben, zeigt Schorlau, wenn er das Engagement der Tierschützer mit dem Kampf gegen Rassismus und Ausbeutung verknüpft. Die Rocker etwa, die die Jugendlichen bewachen, wurden ursprünglich angeheuert, um osteuropäische Arbeiter dazu zu zwingen, ihrer Tätigkeit zu Hungerlöhnen nachzugehen. Absolut authentisch erscheint hier die Geschichte der beiden rumänischen Arbeitsmigranten Adrian und Kimi. Sie werden halb totgeschlagen, als sie nach zwei Monaten ohne Lohn ihr Geld und ihre Pässe verlangen. Mit dem Mut der Verzweiflung und der Solidarität einer Handvoll Landsleute können sie sich wieder aufraffen. Im Anhang des Buches berichtet Schorlau von den Recherchen für den Roman, er hat auch mit Wanderarbeitern gesprochen. Spannend fand ich darüber hinaus die Debatten unter den Jugendlichen: Während der Arztsohn Simon die Arbeiter anfangs »Mörder« nennt, widerspricht Cem, der Sohn eines türkischstämmigen Daimler-Betriebsrats energisch. Cem erkennt ihre gemeinsamen Interessen, er hat selbst schon »Undercover« in einer Tierfabrik gejobbt, dort heimlich fotografiert und einen rumänischen Arbeiter als Informanten gewonnen. Schorlau hat mit Denglers siebtem Fall nicht nur einen packenden Krimi für Jung und Alt geschrieben. Ihm ist es zudem gelungen, die Frage des Tierschutzes auf einen Klassenstandpunkt zu heben. Das ist umso wertvoller, als es bisher viel zu selten geschieht. ■

BUCH

Dimitris Psarras | Neonazistische Mobilmachung im Zuge der Krise. Der Aufstieg der Nazipartei Goldene Morgenröte in Griechenland

Gewalt als Mittel und Zweck Die Europawahlen glichen einem politischen Erdbeben. In mehreren Ländern konnten rechte und faschistische Parteien beachtliche Erfolge verbuchen. Am Beispiel Griechenlands analysiert eine neue Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung den Aufstieg der Neonazis Von Dirk Spöri

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eit dem Aufstieg von Syriza schauten viele Linke hoffnungsvoll nach Griechenland. Das Land galt ihnen als Beispiel, wie Menschen sich mit Generalstreiks und sozialen Bewegungen gegen Sozialabbau und Massenentlassungen wehren. Doch im Juni 2012 zog mit Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) auch eine rechte Partei ins Parlament ein. Besonders beunruhigend: Sie tritt gewalttätig auf und bezieht sich offen auf Faschismus und Nationalsozialismus. Bei den diesjährigen Europawahlen konnte Chrysi Avgi ihr Ergebnis von 2012 wiederholen. Die neue Broschüre »Neonazistische Mobilmachung in der Krise« untersucht die gefährliche Strategie von Chrysi Avgi. Obwohl in Griechenland seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 eine verbreitete Ablehnung gegenüber rechten Parteien besteht, ist es Chrysi Avgi gelungen, an Stärke zu gewinnen. Autor Dimitris Psarras beleuchtet, wie seit den 1990er Jahren Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit in den Medien und von den Konservativen hoffähig gemacht wurden. Psarras zeichnet ein sehr detailliertes Bild der Ideologie, Organisationsstruktur und Praxis von Chrysi Avgi. Die Partei versucht seit den 1990er Jahren, das der Hitlerjugend entlehnte Parteimotto »Blut – Ehre – Chrysi Avgi« mit Taten zu füllen: Ge-

walt ist sowohl Mittel als auch Zweck. Neumitglieder müssen in »einer Art Einweihungsritual Gewalttaten verüben«. Ein Politiker der Partei kündigte öffentlich an: »Wenn Chrysi Avgi im Stadtrat sitzt, gibt es ein Pogrom«. Bei organisierten Ausschreitungen werden Läden von Migranten eingeschlagen und Häuser als »griechisch« markiert. Trotz dieser extremen Positionen und Taten konnte Chrysi Avgi breitere Teile der Bevölkerung ansprechen. Wahlerhebungen zeigen die soziale Zusammensetzung ihrer Anhänger: Die Hälfte der Wähler von Chrysi Avgi ist erwerbslos oder prekär beschäftigt, 20 Prozent jedoch sind Unternehmer. Eine tiefer gehende Analyse der sozialen Basis liefert die Broschüre allerdings nicht. Insbesondere Anzahl und Zusammensetzung der Parteimitglieder und Geldgeber wären durchaus von Interesse. Ebenso wichtig wäre es, mehr auf die sozialen Auseinandersetzungen der letzten Jahre und die Rolle, die Chrysi Avgi in den Klassenkämpfen spielte, einzugehen. In Piräus arbeitete die Partei mit Schiffsgesellschaften zusammen, um die gut organisierten Hafenarbeiter zu bekämpfen. Hier zeigt sich klar, auf welcher Seite sie wirklich steht. Auch in Bezug auf Gegenstrategien bleibt die Broschüre

knapp. Aus dem erfolgreichen Protest gegen ein Nazifestival 2005 schließt der Autor zu Recht: »Nur wenn sich ein breites gesellschaftliches Bündnis zusammenfindet und sich entschieden gegen die Gewalt der Neonazis zur Wehr setzt«, könnten diese besiegt werden. Im letzten Jahr gelang es, Chrysi Avgi durch konfrontatives Vorgehen und Massenproteste zu schwächen. Die Frage, wie der Alltagsrassismus in Griechenland bekämpft und Migranten in soziale Bewegungen einbezogen werden könnten, erörtert die Broschüre leider nicht. »Neonazistische Mobilmachung« zeigt eindringlich, wie infolge der Eurokrise nicht nur Rechtspopulisten, sondern Neonazis an Boden gewinnen. Nationalismus und Hetze gegen Flüchtlinge haben Positionen hoffähig gemacht, die von faschistischen Parteien besetzt werden. Die unsoziale und häufig korrupte Politik der Volksparteien führte dazu, dass Chrysi Avgi sich als scheinbar glaubwürdige Alternative präsentieren konnte. Umso wichtiger ist es, dass die Linke entschlossen Nationalismus und Rassismus bekämpft, an der Seite von Flüchtlingen steht und sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt. ■

★ ★★ BUCH | Dimitris Psarras | Neonazistische Mobilmachung im Zuge der Krise. Der Aufstieg der Nazipartei Goldene Morgenröte in Griechenland |Reihe »Analysen« der Rosa-Luxemburg-Stiftung| Berlin 2013 | 50 Seiten | Kostenlose pdf-Datei unter: www.rosalux.de/publication/39832/neonazistische-mobilmachung-im-zuge-der-krise.html

REVIEW

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ammelfleisch und Hungerlöhne: Kaum eine Woche vergeht ohne einen neuen Skandal in der Fleischindustrie. Diesen Irrsinn nimmt Wolfgang Schorlaus »Am zwölften Tag» ins Visier, der jüngste und siebte Politthriller mit dem Stuttgarter Privatdetektiv Dengler. Alarmiert durch besorgte Anrufe seiner Ex-Frau begibt sich Dengler auf die Suche nach dem gemeinsamen Sohn Jakob. Tatsächlich macht der 18-Jährige entgegen den Erwartungen der Eltern nicht in Barcelona Urlaub, sondern in einer Putenmastanlage. Dort hat er sich mit seinen Freunden Laura, Cem und Simon eingeschlichen, um die miserablen Zustände und die Massenschlachtung der Tiere zu filmen. Doch jemand hat ihren Plan verraten, eine brutale Rockerbande hält die Jugendlichen auf dem Hof eingesperrt. Ein rasantes Wettrennen mit der Zeit beginnt, während dessen der aus dem BKA ausgestiegene ExPolizist Dengler seinen Sohn völlig neu kennenlernt. Schorlau verwebt hier unterhaltsame Fiktion mit gründlich recherchierten Fakten über die Machenschaften der großen Mast- und Verarbeitungsbetriebe und die gesundheitlichen und sozialen Folgen der Profitgier: Fast nebenbei erfahren wir von multiresistenten Keimen aufgrund massiv eingesetzter Antibiotika, vom stressbedingten Kannibalismus unter zusammengepferchten mit eitrigen Wunden übersäten Puten und von der gängigen Praxis der Fleischmafia, Gammelfleisch als mariniertes Grillgut zu tarnen. Doch Schorlau wäre nicht Schorlau, bliebe es bei einer spannenden Story gewürzt mit ein wenig Skandal und Ekel. Er will unterhalten – und aufklären. »Ich schreibe über Dinge, von denen ich erfahren habe, dass sie die Menschen bewegen«, erklärte er bei einer Lesung in Berlin. »Das sind Wasser, Gesundheit, Lebensmittel.« Er selbst wur-

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Wladislaw Hedeler (Hrsg.) | Lenin oder: Revolution gegen das Kapital

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Alter Wein in alten Schläuchen Die Beschäftigung mit der Russischen Revolution und ihren Akteuren ist für Linke nach wie vor wichtig. Doch eine neue Zusammenstellung von Texten Lenins und seiner Kritiker bleibt ebenso einseitig wie überholt Von Carl Herzogenberg

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★ ★★ BUCH | Wladislaw Hedeler (Hrsg.) | Lenin oder: Revolution gegen das Kapital | Karl Dietz Verlag | Berlin 2013 | 144 Seiten | 9,90 Euro

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n den letzten Jahren gab es einige Neuerscheinungen zur Geschichte der Russischen Revolution und der Politik des Bolschewismus. Diese Bücher haben den großen Vorzug, mit bürgerlichen wie stalinistischen Mythen gleichermaßen gründlich aufzuräumen – zwei besonders empfehlenswerte Beispiele sind »Die Sowjetmacht« von Alexander Rabinovitch und »Lenin Rediscovered: What Is to Be Done? In Context« von Lars T. Lih. Leider kann man dasselbe nicht von Wladislaw Hedelers »Lenin oder: Revolution gegen das Kapital« behaupten. Im ersten Teil des Buches gibt der Autor auf knapp 55 Seiten einen Überblick über Lenins Leben und Wirken. Im Anschluss findet sich eine kleine Auswahl von Schriften des russischen Kommunisten. Die Kriterien der Auswahl blieben dem Verfasser dieser Rezension allerdings rätselhaft, politisch-theoretische Relevanz gehörte aber offensichtlich nicht dazu. Beim dritten Teil handelt es sich um eine Zusammenstellung von Texten anderer Autoren über Lenin. Zu Wort kommen neben einigen Mitkämpfern Lenins vor allem zeitgenössische politische Gegner aus dem Lager der »gemäßigten« Sozialisten wie Georgi Plechanow und Karl Kautsky. Passend zum Grundtenor des Buches stammt auch

(so der Titel seines neuen Buches) ausführlicher dar. Er zeigt, warum Bauinvestoren die Innenstädte wieder für sich entdecken. Zudem liefert er Argumente, warum es im Interesse der Bevölkerung ist, Wohnen als öffentliche Daseinsfürsorge zu organisieren, denn: »Allein von den milliardenschweren Subventionen, die als Kosten der Unterkunft, als Wohngeld und als Steuergeschenke für Eigentümer Jahr für Jahr in die Taschen der Besitzenden fließen, ließe sich eine substanzielle und soziale Wohnungspolitik sehr wohl finanzieren.«

der einzige aktuelle Text von einem linken Kritiker Lenins, Wolfgang Ruge. In dem Auszug aus seiner im Jahr 2010 erschienenen politischen Biografie »Lenin. Vorgänger Stalins« findet sich denn auch argumentativ nichts Neues. Hedelers Buch bietet inhaltlich kaum mehr als eine (und nicht einmal besonders gelungene) Zusammenfassung derselben Kritik an Lenin, die schon in den Jahren 1918/19 falsch war. Lenin erscheint als ein antidemokratischer und autoritärer Befürworter von Gewaltherrschaft. Der biografische erste Teil ist, trotz des bemüht »neutralen« Schreibstils, im Grunde genommen eine Parteinahme für die Positionen der damals wichtigsten, sich als sozialistisch verstehenden Kritiker Lenins: Julius Martow und Georgi Plechanow. Dieselben Positionen wurden in Deutschland von Karl Kautsky vertreten, der im dritten Teil des Buches mit einem Textauszug zur Sprache kommt. Besonders augenfällig ist das komplette Ignorieren der umfassenden Auseinandersetzung Lenins und seiner revolutionären Mitstreiter mit den Argumenten dieser Kritiker. Mit keinem Wort werden Schriften wie »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky« von Lenin oder Trotzkis allgemei-

ner angelegter Text »Terrorismus und Kommunismus. AntiKautsky« auch nur erwähnt. Zu keinem Zitat Martows, Plechanows oder Kautskys wird die entsprechende Gegenposition von Lenin und Trotzki auch nur kurz zusammengefasst – von Zitaten, die ihre Positionen zu konkreten Kritikpunkten direkt wiedergeben, ganz zu schweigen. Dieses Privileg ist ausschließlich Lenins Kritikern vorbehalten. Immerhin wartet der erste Teil des Buchs mit einigen anekdotenhaft geschilderten Details aus Lenins privatem und politischem Alltagsleben auf, die seine Biografie etwas lebhafter werden lassen und deshalb für einige Leserinnen und Leser interessant sein können. Die beste und überzeugendste Gegendarstellung zum verzerrten Bild eines autokratischen und gewaltverherrlichenden Lenin dieses Buches ist immer noch Tony Cliffs dreibändige politische Biografie »Lenin« (»Building the Party«, »All Power to the Soviets«, »Revolution Besieged«). Wer verstehen möchte, wer Lenin war und wofür er stand, sollte diese unverzichtbare Trilogie lesen. ■

as Schubladendenken der deutschen Linken über die »Bild«-Zeitung ist falsch, behauptete kürzlich »Zeit Online«-Kolumnist Eric T. Hansen. Als Beweis nannte er die Reaktion der »Bild« auf die Ausschreitungen gegen Asylbewerber in RostockLichtenhagen im August 1992. Seiner Erinnerung nach hätte die Schlagzeile am Tag danach »Deutschland, schäm dich!« gelautet. Nur gut, dass Stefan Niggemeier vom »Bild-Blog« (22.04.2014) nochmal genau nachgeschaut hat – und Erschreckendes zu Tage förderte. Die tatsächliche Schlagzeile (»Ihr müsst Euch schämen«) richtete sich nämlich gegen führende Politiker, die nach Ansicht der Zeitung zu wenig gegen Zuwanderung getan hatten. »Was es angesichts der aktuellen Wohnungsfragen braucht, ist keine Mietpreisbremse, sondern eine Verwertungsbremse.« So lautet das Kernargument zweier Artikel des Stadtsoziologen Andrej Holm. In den »Blättern für deutsche und internationale Politik« (Nr. 5/2014) begrüßt er zwar das Gesetz zur Begrenzung der Mieterhöhungen bei Neuverträgen. Er zeigt jedoch gravierende Lücken auf, die darin auf Drängen der Vermieter-Lobby durchgesetzt wurden. Das Grundproblem sei, dass die Wohnungsversorgung nach den Regeln des Marktes organisiert werde: »Denn innerhalb dieser gibt es für eine soziale Wohnungsversorgung keinen Anreiz. Wer wirklich eine sozial orientierte Organisation der Wohnungsversorgung anstrebt, kommt um Konzepte der Dekommodifizierung und Vergesellschaftung nicht umhin.« Bei Holms zweitem Artikel handelt es sich um einen sehr fundierten Essay im SPDDebatten-Magazin »Berliner Republik« (Nr. 1/2014). Dort stellt er seine Argumente gegen den »Mietenwahnsinn«

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★ ★★ WEBLINKS Bild-Blog: www.bildblog.de Blätter für deutsche und internationale Politik: www.blaetter.de Berliner Republik: www.b-republik.de Südlink: www.inkota.de/material/suedlink-inkota-brief/ JBzG: www.arbeiterbewegung-jahrbuch.de

Er hieß nicht umsonst Erster Weltkrieg, denn es war ein globaler Krieg. Trotzdem beschränkt sich auch zum hundertsten Jahrestag das Gedenken auf die Schauplätze in Europa. Diese Leerstelle möchte die Redaktion der Zeitschrift »Südlink« (Nr. 168, Juni 2014) füllen. Die aktuelle Ausgabe des entwicklungspolitischen Fachmagazins widmet sich dem »globalen Süden zwischen den Fronten«. Ihre Autorinnen und Autoren richten den Blick nach Lateinamerika, sie beleuchten die Rolle von asiatischen Soldaten auf den europäischen Schlachtfeldern und beschreiben die Auswirkungen der Kriegshandlungen auf die Kolonien Indien, Deutsch-Ostafrika und die armenische Bevölkerung des Osmanischen Reiches. Das Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (JBzG) ist eine der letzten deutschsprachigen Wissenschaftspublikationen, die sich – wie der Name schon sagt – der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung widmet. Umso begrüßenswerter, dass die Redaktion kürzlich die etwas in die Jahre gekommene Homepage überarbeitet hat. Anlässlich des Schwerpunkthefts zum Ersten Weltkrieg (Nr. 2/2014) bietet sie hier nun erstmals ausgewählte Artikel im Volltext zum Download an. ■

REVIEW

BUCH

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COMIC

G. Willow Wilson | Ms. Marvel Vol. 1: No Normal

Lust auf Schweinespeck Jenseits der Mehrheitsgesellschaft: Der US-amerikanische Mainstreamverlag Marvel Comics setzt neuerdings auf Diversität. Eine junge, nerdige Muslima mit pakistanischen Wurzeln ist die Titelheldin seiner jüngsten Comic-Reihe Von Armin Herbert

Preview © JD Hancock / CC BY / flickr.com

dige, amerikanische Muslima mit pakistanischen Wurzeln lebt mit ihrer mäßig gläubigen Familie ihren High-School-Alltag im Osten der USA. Autorin Wilson, selbst in Kairo aufgewachsen und muslimischen Glaubens, ermöglicht den Leserinnen und Lesern Einblicke in das muslimische Leben in der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft. Beispielsweise lässt sie Kamalas Vater zum Ausdruck bringen, dass er die Strenggläubigkeit seines Sohns für eine Ausflucht vor der Jobsuche hält; die beliebte, extrovertierte, weiße Mitschülerin Kamalas wird als »concern troll« (etwa: Interesseheuchlerin) eingeführt und bestätigt dies, als sie Kamala ausgrenzt, weil diese keinen Alkohol trinken möchte. Schon in der ersten Bildfolge kämpft Kamala gegen ihre Lust auf Schweinespeck (»delicious infidel meat«). Auch eine feministische Komponente kann man dem Comic nicht absprechen: Die Stärke dieser Story ist eine junge Frau, die sich Widerständen und Diskriminierungen zweier Kulturen erwehren muss, die nicht nur mit pubertären und heldengenetischen Veränderungen ihres Ichs kämpft, sondern dabei versucht, ihre Freundschaften zu erhalten und der Frage nachzugehen, was es eigentlich mit dem seltsam dichten Nebel auf sich hatte... Marvel Comics' Marktanteil schrumpft stetig, und so schreitet der Verlag, nachdem er im Juni 2012 einen weißen schwulen Superhelden seinen schwarzen Freund heiraten ließ, auf den Diversitätspfaden weiter voran. Der Superheldin-Comic mit Vielfaltseinschlag »Ms. Marvel 2014« ist für Jugendliche ab zwölf Jahren geeignet. Die Serie ist in Europa nur in sehr gut sortierten Comicbuchläden oder als Digitalversion von Marvel erhältlich. Das Taschenbuch mit den ersten fünf Heften erscheint Ende Oktober. Eine deutsche Übersetzung ist leider nicht zu erwarten. ■

★★★

COMIC | G. Willow Wilson | Ms. Marvel Vol. 1: No Normal | Marvel Comics | New York | Erscheint am 28. Oktober 2014

PREVIEW

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m dichten Nebel bricht Kamala Khan des Nachts auf der Straße zusammen, nachdem sie von Zuhause ausgebüchst ist, um eine Party zu besuchen. Im Delirium erscheinen ihr die Superhelden Captain Marvel, Iron Man und Captain America und erfüllen den größten Wunsch der 16-Jährigen: so mächtig zu sein wie sie. So beginnt G. Willow Wilsons Neuerzählung der Geschichte der Superheldin Miss Marvel. Die Leserschaft von Comic-Heften unterliegt Generationenwechseln, was den marktführenden Verleger Marvel Comics dazu bringt, die Geschichten seiner Superhelden immer wieder neu zu erzählen. Um die Namen der Helden und die mit ihnen aufgebauten Marken zu erhalten, wird trickreich die Kontinuität der Geschichte fortgeführt. So wird Kamala Khan den früheren Namen ihres Vorbilds »Miss Marvel« annehmen, die im Jahr 2012 ihren Namen zu »Captain Marvel« geändert hatte. Kamalas Supermacht besteht nun zunächst darin, dass sie Form und Aussehen ihres Körpers verändern kann; eine Fähigkeit, die geübt sein will. So kämpft die zur Heldin werdende, formwandelnde, pubertierende Teenagerin dreifach um die Beherrschung des eigenen Körpers – ein genretypisches und unoriginelles Thema. Grafisch ist die mittlerweile vierte Umdichtung der Geschichte der Superheldin ganz auf die US-amerikanische Leserschaft ausgerichtet: Überwiegend detailarme, aber symbolreiche Zeichnungen von Adrian Alphona werden in der Größe flexibel beschnitten und in häufig zu gequetscht wirkenden Bildfolgen angeordnet. Überraschend für Mainstream-Produzenten Marvel Comics, eine Disney-Tochter, sind hingegen die Komplexität und Diversität der Charaktere, besonders der Hauptfigur Kamala. Die junge, ner-

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KONFERENZ | Gemeinsam Strategien entwickeln. Konflikte führen. Beteiligung organisieren. Erneuerung durch Streik II

»Arbeitskämpfe verändern Menschen« Die erste Konferenz »Erneuerung durch Streik« platzte aus allen Nähten. Deshalb geht die Diskussionen über innovative, konfliktorientierte Gewerkschaftsarbeit im Oktober in die zweite Runde Interview: Carla Assmann »Streik« klingt ja erstmal ziemlich defensiv. Warum soll gerade das eine Quelle für die Erneuerung der Gewerkschaften sein? Ein Streik hat grundsätzlich etwas Positives, weil den Beschäftigten dabei ihre Macht deutlich wird: Die Macht, gemeinsam die Arbeit niederzulegen. Aber es stimmt auch, dass die Zunahme der Streiks in den letzten Jahren mit der Schwäche der Gewerkschaften zusammenhängt. Die Arbeitgeber agieren immer aggressiver und zum Teil antigewerkschaftlich. Tarifverträge zersplittern und die Tarifbindung nimmt seit Jahren ab. Aber aus der Defensive kann schnell eine Offensive werden. Wie zum Beispiel? Ganz deutlich zeigte sich das bei den Streiks im Sicherheitsgewerbe. Sicherheitskräfte an Flughäfen haben sich im Verborgenen organisiert und vorbereitet und dadurch den Arbeitgeber am Streiktag völlig überrascht. Mehrfach haben sie die Flughäfen Düsseldorf und Köln lahmgelegt. So konnten Niedriglohnbeschäftigte teilweise Lohnerhöhungen von über zwanzig Prozent erreichen. Dieses kollektiv erlebte Gefühl der Stärke verändert Menschen. Ich glaube, das kann positiv auf die gesamte Gewerkschaftsbewegung ausstrahlen. Und die Konferenz soll diesen Prozess unterstützen? Vor allem können dort viele Gewerkschaftsaktive zusammenkommen, Erfahrungen austauschen und neue Anregungen mitnehmen. Ver.di Hannover und die Rosa-Luxemburg-Stiftung organisieren die Veranstaltung, Unterstützung gibt es aber unter anderem auch von der IG Metall, der IG BAU und der GEW Hannover. Natürlich sind alle Interessierten zur Diskussion eingeladen. 82

Fanny Zeise

Fanny Zeise ist Referentin für Arbeit, Produktion, Gewerkschaften im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

★ ★★ DIE KONFERENZ Gemeinsam Strategien entwickeln. Konflikte führen. Beteiligung organisieren. Erneuerung durch Streik II | Donnerstag, 2. Oktober, 19:00 Uhr, bis Samstag, 4. Oktober, 16:00 Uhr | Pavillon am Raschplatz | Lister Meile 4 | 30161 Hannover Informationen und Anmeldung unter: www.rosalux.de/streikkonferenz | Facebook: https://www. facebook.com/events/318023021679950/?ref

Wie kommt das Angebot an? Im vergangenen Jahr war die Resonanz beeindruckend. Es kamen 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer – deutlich mehr, als wir erwartet hatten. Daher waren viele Arbeitsgruppen ziemlich überlaufen, die Stimmung aber trotzdem sehr konzentriert. Viele haben mir erzählt, wie wichtig es für sie war, zu sehen, dass so viele andere Kolleginnen und Kollegen

ähnliche Erfahrungen gemacht haben und sich ähnliche Fragen stellen. Und: Es war keine dieser überalterten Veranstaltungen, wie man sie oft in linken Gewerkschaftskreisen erlebt. Die Mehrheit der Anwesenden war zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Aber auch langjährige Gewerkschaftsaktivisten brachten ihre Erfahrungen ein. Gerade diese Mischung habe ich als sehr spannend erlebt. Was plant ihr dieses Mal? Wir bieten mehr als zwanzig Arbeitsgruppen und zusätzlich kleinere Praxisseminare an. Außerdem möchten wir mit mehr Ruhe diskutieren. Auf der Konferenz sollen sich Aktive über Gewerkschaftsgrenzen hinweg austauschen und gegenseitig bereichern. Bestimmte Fragen müssen aber auch spezieller besprochen werden, damit man konkrete Anregungen mit nach Hause nehmen kann. Deshalb bieten wir auch Arbeitsgruppen an, die sich mit besonderen Problemen einzelner Branchen beschäftigten. Außerdem gibt es die Möglichkeit, sich in offenen Branchentreffen kennenzulernen und dort die Themen anzusprechen, die aktuell relevant sind. Gibt es inhaltliche Schwerpunkte? Ein wichtiges Thema ist, wie prekär Beschäftigte trotz schwieriger Bedingungen Gegenwehr aufbauen können. Aber wir werten auch Erfahrungen mit Organizing, Kampagnen oder Bündnissen aus. Die Frage, wie sich möglichst viele Beschäftigte an der Entwicklung und Umsetzung von Strategien umfassend beteiligen können, zieht sich durch alle Arbeitsgruppen. Es gibt wieder viele neue, beeindruckende Streiks zu besprechen. Aber wir schauen auch dahin, wo es zunächst nicht so spektakulär wirkt: auf den langwierigen, schrittweisen Aufbau gewerkschaftlicher Handlungsmacht. ■

Politischer Islam – eine marxistische Analyse | von Chris Harman | 84 Seiten, 3,50 Euro | ISBN 978-3-934536-23-4 | 2012

Wie frei ist die Frau? | mit Beiträgen von Judith Orr, Katrin Schierbach, Maya Cohen-Mosler | 53 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 9783-934536-33-3 | 2009

Ché Guevara und die kubanische Revolution | von Mike Gonzales | 112 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-32-6 | 2009

Islam, Rassismus und die Linke | mit Beiträgen von Marwa alRadwany, Stefan Ziefle, Volkhard Mosler, David Crouch | 37 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-93453634-0 | 2009

Wieviel Demokratie verträgt der Kapitalismus? – der Staat, das Kapital und die Linke | mit Beiträgen von Colin Barker, Chris Harman, Yaak Pabst, Win Windisch | 46 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-38-8 | 2010

Wer war Lenin? | von Ian Birchall | 48 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-34-0 | 2009

NIE WIEDER – ein Anti-Nazi Reader | mit Beiträgen von Christine Buchholz, Leo Trotzki, Alex Callinicos und Stefan Bornost | 60 Seiten, 2,50 Euro | ISBN 978-3-934536-41-8 | 2010

Die ägyptische Revolution | von Sameh Naguib | 43 Seiten, 2 Euro | ISBN 978-3-934536-20-3 | 2011

Der Markt versagt – eine marxistische Antwort auf die Krise | mit Beiträgen von Chris Harman, Tobias ten Brink | 46 Seiten, 2 Euro | ISBN 978-3934536-14-2 | 2009

BESETZT! – eine kurze Geschichte der Betriebsbesetzungen | von Dave Sherry | 56 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3934536-22-7 | 2012

Marxismus und Anarchismus | von John Molyneux | 58 Seiten, 3 Euro | ISBN 978-3-934536-42-5 | 2013

Rassismus – Meinungsmacher, Ideologien, Gegenkräfte | theorie21 Nr. 2/2012 | mit Beiträgen von Alex Callinicos, Deepa Kumar, Kate Davison, Volkhard Mosler, u.a. | 186 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-60-9

Arabellion – zur Aktualität der Revolution | theorie21 Nr. 1/2012 | mit Beiträgen von Christine Buchholz, Anne Alexander, Volkhard Mosler, u.a. | 212 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-49-4

Marxismus & Gewerkschaften | theorie21 Nr. 1/2013 | mit Beiträgen von Bill Dunn, Luigi Wolf, Olaf Klenke, Heiner Dribbusch, Frank Renken, Jürgen Ehlers, u.a. | 338 Seiten, 6,50 Euro | ISBN 978-3-934536-48-7

Die revolutionären Ideen von Karl Marx | von Alex Callinicos | 277 Seiten, 16,80 Euro | ISBN 978-3-89965-476-9 | 2011

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