marx21 Ausgabe Nummer 37 / 04-2014

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BERLIN

Das richtet sich vor allem an die NSA, doch auch die deutschen Dienste sind keinen Deut besser, wie das skandalöse Agieren des Verfassungsschutzes in der NSU-Mordserie gezeigt hat. Viele Rednerinnen und Redner betonten, dass die Große Koalition die Schlapphüte nicht an die Kette legt, sondern ihr Treiben sogar noch verstärkt – zumindest wenn es keinen breiten und sichtbaren gesellschaftlichen Protest gibt.

C BY-N st / C e Herb © Mik

Bereits zum achten Mal hat ein breites Bündnis aus etwa achtzig Organisationen zu den wohl größten Protestaktionen gegen staatliche Überwachung seit dem Volkszählungsboykott in den 1980er Jahren aufgerufen. Im Mittelpunkt der Kritik steht dabei auch in diesem Jahr die Rolle der Geheimdienste.

C / fl ickr.co m

Unter dem Motto »Freiheit statt Angst« ziehen am 30. August Tausende durch das Berliner Regierungsviertel, um gegen den zunehmenden Überwachungswahn und für einen umfassenden Datenschutz zu demonstrieren.


Liebe Leserinnen und Leser, NEUE HOMEPAGE

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on on einem Sommerloch konnte in diesem Jahr keine Rede sein. Während der Krieg in der Ukraine weiter eskalierte, begann die israelische Armee den Gaza-Streifen zu bombardieren. Im Nordirak ist die Terrorgruppe »Islamischer Staat« auf dem Vormarsch, die staatlichen Strukturen befinden sich in Auflösung. Die Weltordnung scheint instabil wie lange nicht. Doch was steckt dahinter? Unser Redakteur David Maienreis gibt auf Seite 18 eine Einschätzung der zunehmend explosiven Lage. Außerdem widmen wir den Entwicklungen im Irak einen Schwerpunkt. Warum sich die Krise nicht durch Waffenlieferungen lösen lässt und wie eine Perspektive auf Frieden in der Region aussehen könnte, erfahrt ihr ab Seite 22. Im Oktober kommen bei der Konferenz »Erneuerung durch Streik« zum zweiten Mal kämpferische Teile der deutschen Gewerkschaftsbewegung zusammen. Aus diesem Anlass stellen wir im zweiten Schwerpunkt dieses Hefts die Frage, mit welcher Strategie die Gewerkschaften wieder in die Offensive kommen könnten. Zudem erklärt Gastautor Bernd Riexinger, weshalb die Pläne der Bundesregierung zur Tarifeinheit bekämpft werden müssen. Los geht es auf Seite 34. Kurz vor Redaktionsschluss gab es dann auch noch innenpolitisch ein kleines Erdbeben. Die Alternative für Deutschland zog mit einem zweistelligen Ergebnis in die Landtage von Brandenburg und Thüringen ein. Ab Seite 10 analysieren wir sowohl die Bedeutung dieser Wahlen für DIE LINKE als auch die Gründe für den Aufstieg der neuen Rechten. Und auch bei uns ist so einiges passiert: Es war ein gewaltiger Aufwand, doch nun ist es endlich vollbracht. Unsere neue Homepage marx21.de ist online. Ein komplett neues Design, eine übersichtliche Darstellung auch auf mobilen Geräten und eine gute Anbindung an die sozialen Medien. Damit verabschieden wir uns nun auch digital aus den frühen 2000er Jahren. Schaut vorbei, es lohnt sich! Weitere Infos gibt es auf Seite 83. In unserer Redaktion wird sich ebenfalls einiges verändern: Nach mehr als sieben Jahren verlässt uns mit Stefan Bornost einer unserer leitenden Redakteure. Auf ihn warten neue Aufgaben innerhalb des marx21-Netzwerks, etwa die Organisation der »MARX IS‘ MUSS«-Herbstkonferenzen, zu denen wir euch herzlich einladen wollen (siehe auch Seite 55). Auch Carolin Hasenpusch beendet ihre Arbeit in der Redaktion. Sie wird in Zukunft im Bereich der politischen Bildung bei der LINKEN tätig sein. Doch müssen wir keineswegs komplett auf die beiden verzichten. Sie werden auch weiterhin unser Heft mit Artikeln oder Interviews bereichern. Zuletzt gibt es noch zwei gute Nachrichten: Ronda Kipka, die die letzte Ausgabe noch als Praktikantin mitgestaltet hat, gehört fortan fest zu unserem Redaktionsteam. Ein kleines Porträt von ihr gibt es in der »Betriebsversammlung« auf Seite 6. Außerdem freuen wir uns über die Verstärkung durch unsere neue Kollegin Christina Müller. Herzlich willkommen! Eure Redaktion

Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post.

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Ukraine: Von Lenin lernen

Review: Aufbruch in der Hölle

70 64 Kultur: Platz für Grauzonen

Aktuelle Analyse

Unsere Meinung

Titelthema: Die falschen Freunde des Irak

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20 Gaza: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg Kommentar von Stefan Ziefle

23 »Islamischer Staat«: Der Weg ins Inferno Von Frank Renken

21 Anschläge auf Moscheen: Ein gefährlicher Ort Kommentar von Jules El-Khatib

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AfD: Ein Rechtsruck in Deutschland Von Volkhard Mosler

14 Landtagswahlen: Bittere Bilanz Von Lucia Schnell 18

Die neue Weltunordnung Von David Maienreis

Schwerpunkt: Erneuerung durch Streik

neu auf marx21.de

Partei der Straße Podemos ist der Shootingstar der spanischen Linken. Wir sprachen mit einer der Gründerinnen. 4

Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

Kurdistan: Flagge Zeigen Von Florian Wilde

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Antikapitalistisch und konfliktorientiert Thesen des Netzwerks marx21

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Um Hegemonie kämpfen Von Bernd Riexinger

44 Migrantische Fachkräfte: La lucha continúa Von Miguel Sanz Alcántara


08 Fotostory: Protest gegen Fast-Food-Ketten in den USA

30 14 Analyse: Bittere Bilanz einer Regierungsbeteiligung

Internationales

Kultur

Rubriken

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64 Serie »Marxismus und Kunst«, Teil 1: Platz für Grauzonen Von Phil Butland

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 08 Fotostory 48 Weltweiter Widerstand 54 marx21 Online 55 Was macht das marx21-Netzwerk? 70 Review 79 Quergelesen 80 Preview

Ukraine: Von Lenin lernen Von Volkhard Mosler

Sexuelle Befreiung 56 Sex & Emanzipation Von Helmut Dahmer Geschichte 60 1989: Als die Macht auf der Straße lag Von Olaf Klenke

INHALT

IS-Terror: Kurdinnen verteidigen sich

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 8. Jahrgang, Heft 37 Nr. 4, Oktober / November 2014 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Carla Assmann, Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller, David Jeikowski, Ronda Kipka, David Maienreis, Yaak Pabst Lektorat Carla Assmann, Sandra Boden, Marcel Bois, Mona Mittelstein, Rosemarie Nünning, David Paenson, Carsten Schmidt, Christoph Timann, Irmgard Wurdack Übersetzungen David Paenson Layout Christina Müller, Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat Christine Buchholz, Michael Ferschke, Stefanie Graf, Ole Gvynant, Werner Halbauer, Rabea Hoffmann, Christoph Hoffmeier, Sven Kühn, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Heinz Willemsen, Irmgard Wurdack Redaktion Online Ole Gvynant (verantw.), Hans Krause, Jan Maas, Paula Rauch, Stefan Ziefle Aboservice-Team Marcel Bois, Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

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Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 1. Dezember 2014 (Redaktionsschluss: 11.11.)

Ronda Kipka, Redakteurin

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igentlich ging es immer überall auch um Politik«, erinnert sich Ronda. Das beginnt bereits im deutsch-französischen Zweig der Gesamtschule, die sie in Berlin-Schöneberg besucht. Mittlerweile studiert Ronda Literatur- und Theaterwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Keine Frage, dass sie sich dort auch mit politischen Themen auseinandersetzt. Beispielsweise beschäftigt sie sich mit verschiedenen Formen revolutionärer Agitation im Theater – vom deutschen Kaiserreich bis ins heutige Indien. Im vergangen Jahr nimmt Ronda an den Blockupy-Protesten in Frankfurt teil. Dort bekommt sie das repressive Vorgehen der Staatsmacht zu spüren. Da wird ihr klar: Es reicht nicht aus, sich mit Politik zu beschäftigen – man muss sich auch organisieren. Im Bus nach Frankfurt hat sie Genossinnen und Genossen von Die Linke.SDS kennengelernt. Daher schließt sich, zurück in Berlin, dem Studierendenverband an. Dort engagiert sie sich in der Projektgruppe Arbeitskampf und wird bald zur Landessprecherin gewählt. Vor einigen Monaten kommt Ronda für ein Praktikum zu uns, denn sie wollte schon immer mal in einer Redaktion arbeiten. »Aber in einem richtigen Projekt, wo noch diskutiert und redigiert wird, nicht in so einer Schreibmaschinerie wie bei den meisten Zeitungen.« Gleich zwei Interviews führt sie für die letzte Ausgabe, eins mit dem brasilianischen Aktivisten Sean Purdy und eins mit dem LINKEN-Vorsitzenden Bernd Riexinger. Glücklicherweise können wir sie mit unserer Arbeitsweise überzeugen: Denn fortan wird Ronda als festes Mitglied unserer Redaktion mitarbeiten, wo sie sich vor allem den Rubriken Internationales und Kultur widmen wird. Und Stoff zum Diskutieren und Redigieren gibt es wahrlich immer genug.

Das nächste Mal: Miguel Sanz Alcántara


Zum Interview »Gegen die Regierung, gegen die Separatisten« mit Oleksandra Bienert (Heft 3/2014) Die Äußerungen von Oleksandra weisen frappierende Ähnlichkeiten mit denen der NATO-Offiziellen auf: Die Faschisten in der Ukraine seien nur marginal, ihre Bedeutung werde massiv übertrieben und ihre Wähler seien sowieso keine überzeugten Nazis. Dass die faschistische Swoboda-Partei bei der Parlamentswahl 2012 in einigen Bezirken 30 bis 40 Prozent der Stimmen erlangen konnte, lässt Übles befürchten hinsichtlich der kommenden Parlamentswahl. Hier können diese Ergebnisse noch übertroffen werden, da die Popularität von Swoboda durch die Präsenz auf dem Maidan und die Beteiligung an der Regierung noch weiter gestiegen ist. Die Polarisierung der Gesellschaft aufgrund des Kriegs in der Ostukraine und die prekäre soziale Situation, die durch die anstehenden IWF-Einschnitte noch verschärft werden wird, dürften ihr übriges tun. Relevanter als die Wahlergebnisse erscheinen mir aber die faschistischen Bataillone, die zusammen mit der regulären ukrainischen Armee derzeit im Osten kämpfen, worüber inzwischen sogar einige bürgerlichen Medien berichten. Hier sammeln sich Faschisten und Rassisten und werden unterstützt von Neonazis aus Russland, Skandinavien und anderen europäischen Ländern. Einer ihrer Anführer äußerte, dass seine Mission ein »finaler Kreuzzug für das Überleben der weißen Rasse« sei. Viele Neonazis haben in diesen Bataillonen eine militärische Ausbildung erhalten und man mag sich kaum vorstellen, wofür sie dieses Wissen in ihrer Heimat einsetzen, wenn die Kämpfe in der Ostukraine (mit welchem Ergebnis auch immer) enden. Erste Drohungen haben diese Gruppen schon gegenüber der Kiewer Regierung ausgesprochen, die ihnen als zu zurückhaltend erscheint: Man könne auch sie mit Waffengewalt stürzen. Diese Geister, die man rief, können noch zum Problem werden für die Kiewer Regierung. Antifaschisten, Kommunisten und linke Gruppen wie Borotba (welche die Bezeichnung als prorussisch übrigens wiederholt zurückgewiesen hat und mit der russischen »Linken Front« verbündet ist, die sich explizit gegen die PutinRegierung stellt und deswegen Repressionen ausgesetzt ist) werden schon jetzt verfolgt, bedroht und körperlich angegriffen. Ihre Infrastruktur wurde zerstört und einige ihrer Mitglieder getötet. André Paschke, Hamburg

Zur Rezension »Einer für alle(s)« von Theodor Sperlea (Heft 3/2014) Theodor Sperlea schreibt, dass Noam Chomsky »keiner der wortgewaltigen und umstrittenen kontinentalen Denker« ist. Das sei eine Stärke: »Er ist ein kritischer Denker, der konsensfähig ist«. Das ist meines Erachtens nicht richtig: Es gibt genug Neoliberale, die keinen Konsens mit Chomsky haben. Abgesehen davon glaube ich, dass sich die politische Linke keinen Gefallen tut, Chomsky als Konsensträger darzustellen. Als Anarchist steht Chomsky Parteien schon immer skeptisch gegenüber. Man könnte argumentieren, dass sich seine Beschäftigung mit der Rolle von Intellektuellen teilweise aus dieser Skepsis speist. Selbstverständlich ist es eine legitime Ansicht, dass wir gesellschaftliche Veränderung ohne Organisation erreichen können. Sie ist aber auf keinem Fall unumstritten. Selbiges gilt für die Ansichten, die Chomsky in dem Bereich vertritt, in dem er seinen größten politischen Beitrag geleistet hat: zum Thema Nahost. Seine aktuellsten Äußerungen über Israel haben berechtigte Kritik aus der PalästinaSolidaritätsbewegung hervorgerufen. Wie alle große Denker ist Chomsky oft einfühlsam, regelmäßig umstritten und liegt manchmal falsch. Alles anders wäre farblos. Seine Ansichten würdigen wir am besten durch Debatte. Chomsky hat keine heiligen Schriften geschrieben, sondern reale Ideen verbreitet, mit denen wir uns kritisch auseinandersetzen müssen. Phil Butland, Berlin

Zum Schwerpunkt »100 Weltkrieg« (Heft 3/2014)

Jahre

Erster

Die Schwerpunkt-Artikel zum Ersten Weltkrieg sind gut recherchiert. Ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Fehler: Professor Herfried Münkler ist kein Historiker, sondern Politikwissenschaftler. Das ist deshalb nicht ganz unwichtig, weil er die Debatte um den Ersten Weltkrieg massiv zur aktuellen politischen Intervention für verstärkte deutsche Beteiligung an militärischen Abenteuern nutzt. Dabei ist er ein Meister des »Neusprech«, denn »Bäh-Wörter« wie Krieg, Bombardements und Tod benutzt er wohlweislich nicht. Münkler sieht in internationalen Flüchtlingsströmen die »größte sicherheitspolitische Herausforderung« für Europa: »Also bedarf es einer präventiven bzw. präemptiven Stabilisierungspolitik in der europäischen Peripherie.« Und die Regionen für ein militärisches Eingreifen

liefert er gleich mit: »Das ist eine gewaltige Aufgabe, da sie sich auf einen Halbkreis bezieht, der inzwischen in der Ukraine beginnt, sich über den Kaukasus sowie den Nahen und Mittleren Osten nach Ägypten erstreckt und von dort bis in den Maghreb reicht, wobei die Probleme des subsaharischen Afrikas zusätzlich noch dazukommen.« Philippe Ressing, Stuttgart

Zum Artikel »Gibt es eine ›Welle des Antisemitismus‹?« von Volkhard Mosler (marx21.de, 03.09.2014) Den Artikel empfinde ich als sehr gelungen. Anders als viele Linke übertreibt er nicht das Ausmaß des Antisemitismus. Zudem kommt klar heraus, dass Kritik an der Politik des Staats Israel allemal gerechtfertigt ist und nicht vorneweg als antisemitisch bezeichnen werden darf. DIE LINKE hätte die Demonstration am 14. September mit Frau Merkel als Hauptrednerin nicht bedingungslos unterstützen sollen. Denn diese diente dazu, berechtigte Kritik an Israel zu reduzieren und die rassistische Apartheidpolitik Israels zu legitimieren. Ole Hartkopf, Braunschweig Dass antimuslimischer Rassismus und der gegen Sinti und Roma (massiv) ansteigen, glaube ich sofort. Von einem Rückgang des Antisemitismus zu sprechen, finde ich hingegen ziemlich ungeheuerlich. Zumal in den letzten Wochen und Monaten Aussagen über das »jüdische Finanzkapital« und explizit die Familie Rothschild meines Erachtens deutlich lauter wurden. Sie begegneten mir teils sogar unter Genossinnen und Genossen der LINKEN. Auch das Aufrechnen des einen gegen den anderen Rassismus ist überhaupt nicht zielführend. Die eine Spielart des Rassismus ist doch nicht weniger schlimm, bloß weil die andere auch existiert. Zuletzt: Bei aller Kritik an der Politik Israels – sie ist keine Apartheidpolitik. Moshe Machover von der sozialistischen Organisation Matzpen hat dazu ziemlich gute Artikel geschrieben und unter anderem auf den entscheidenden Unterschied hingewiesen: Das israelische Wirtschaftssystem ist – anders als es in Südafrika war – nicht auf der Ausbeutung, sondern auf der Verdrängung der indigenen Bevölkerung aufgebaut. Mona Mittelstein, auf unserer Facebookseite

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

LeserbriefE

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© flickr.com / Bob Simpson / CC BY-NC-SA-2.0

FotoSTORY

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McDonald‘s im Mai (wir berichteten) greifen sie auch immer wieder auf Mittel des zivilen Ungehorsams zurück. Mitte: Schließlich greift die Polizei ein. Rechts: Es kommt zu zahlreichen Festnahmen. Nach einigen Stunden werden die Inhaftierten jedoch wieder freigelassen und von ihren jubelnden Kolleginnen und Kollegen in Empfang genommen.

© flickr.com / Bob Simpson / CC BY-NC-SA-2.0

zungen. Unten links: Der Streik ist Teil der Bewegung »Fight for $15«, die seit 2012 für einen landesweiten Mindestlohn von 15 US-Dollar kämpft. Die Beschäftigten der Fast-Food-Konzerne sind in den vergangenen Jahren ins Zentrum der US-amerikanischen Arbeiterbewegung gerückt. Seit den Protesten auf der Aktionärsversammlung von

© flickr.com / Bob Simpson / CC BY-NC-SA-2.0

© flickr.com / Bob Simpson / CC BY-NC-SA-2.0

USA | Tausende Beschäftigte der großen Fast-Food-Ketten verlassen am 4. September in mehr als 150 Städten ihren Arbeitsplatz, um gegen schlechte Löhne und für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung zu demonstrieren. Oben: In vielen Städten, wie hier in Chicago, blockieren Streikende ihre Filialen und größere Straßenkreu-


© flickr.com / Bloco / CC BY-NC-SA

FOTOSTORY

»Gottes Wille« die Unterdrückung von Frauen, Schwulen und Transgendern. Mitte: Als Symbol für den »Babycaust« tragen klerikale Ultras Hunderte weiße Kreuze mit sich. Rechts: »Mein Körper, meine Entscheidung«: Das Recht auf freie Entscheidung bei der Familienplanung und auf individuelle Sexualität muss ausgebaut, anstatt eingeschränkt zu werden.

© Carla Assmann

Recht auf sexuelle Selbstbestimmung im Allgemeinen. Oben: Doch auch die Gegenproteste sind deutlich größer als in den vergangenen Jahren. Ein breites Bündnis hatte dazu aufgerufen, sich dem Marsch entgegenzustellen. Unten links: »Halte deine Theologie heraus aus meiner Biologie« fordert eine Gegendemonstrantin. Die christlichen Hardliner rechtfertigen mit

© facebook.com / Sozialfotografie_StR / CC BY-NC-ND-2.0

© Carla Assmann

Berlin | Bereits zum zehnten Mal kommen am 20. September christlichfundamentalistische Abtreibungsgegner aus ganz Deutschland zum »Marsch für das Leben« zusammen. Dieses Jahr ist er mit etwa fünftausend Teilnehmern so groß wie noch nie. Die selbst ernannten »Lebensschützer« hetzen nicht nur gegen Schwangerschaftsabbrüche, sondern gegen das

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AKTUELLE ANALYSE

Ein Rechtsruck in Deutschland? Die große Siegerin der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ist die Alternative für Deutschland. Was steckt hinter ihrem Aufstieg? Von Volkhard Mosler ★ ★★

Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

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n Sachsen kam die Alternative für Deutschland (AfD) aus dem Stand auf fast zehn Prozent, in Thüringen auf 10,6 und in Brandenburg sogar auf 12,2 Prozent. Ihre Etablierung im Parteienspektrum droht einen Rechtsruck auszulösen. Dies ist auch das erklärte Ziel der AfD-Führer: Sie hoffen vor allem, der CDU ihre politische Agenda aufzwingen zu können. »Die AfD wird für die Union das, was die Linken für die SPD sind«, schreibt Heribert Prantl in der »Süddeutschen Zeitung«. Das ist nur eingeschränkt richtig. Bürgerliche Politik hat gerade in Krisenzeiten nach rechts breiten Spielraum. Nach links jedoch sind ihr durch die Funktionsweise der kapitalistischen Produktion enge Grenzen gesetzt, welche die SPD seit 1914 nie anzutasten bereit war.

Die Ära der Mehrheit links von CDU und FDP ist zu Ende

Zusammen hätten CDU/CSU und AfD nach aktuellen Umfragen bundesweit eine Mehrheit von 47 Prozent (CDU/CSU vierzig, AfD sieben Prozent). SPD, LINKE und Grüne kämen zusammen nur noch auf 43 Prozent. Damit geht eine Ära zu Ende, die im Jahr 2005 mit dem Einzug der LINKEN in den Bundestag begonnen hat. Eine parlamentarische Mehrheit links von CDU/CSU und FDP hat es zuletzt bei den Bundestagswahlen 2013 gegeben. Stefan Hebel schreibt in der »Frankfurter Rundschau«, Thüringen könnte »als vorerst letzte Gelegenheit in die Geschichte eingehen, es mit Rot-Rot-Grün zu versuchen«. Insofern muss man Prantl wahrscheinlich zustimmen, wenn er im Kommentar zur Sachsenwahl zu dem Schluss kommt: »Der politische Lebensraum

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verändert sich.« Die Veränderung besteht aber nicht nur darin, dass die AfD sich mit dem Einzug in drei Landtage höchstwahrscheinlich auf Dauer als bundespolitischer Faktor etabliert und die FDP verdrängt hat. Auch die AfD selbst hat sich mit den Wahlerfolgen im Osten verändert. Sowohl im Bundestags- als auch im Europawahlkampf ist die Partei mit einem konservativ-bürgerlichen, neoliberalen Image aufgetreten. Dabei unterdrückte sie ihren latent rassistischen und frauenfeindlichen Charakter. Auch islamfeindliche Parolen wurden nicht geduldet, in der Asylpolitik wurde die Partei von der CSU (»Wer lügt, der fliegt«) rechts überholt. Die AfD-Führung verhängte sogar einen Aufnahmestopp gegen ehemalige Mitglieder der Pro-Parteien, der NPD und anderer faschistischer Organisationen. Einige Landesverbände, darunter Sachsen, Thüringen und Brandenburg, unterstützten diesen Kurs nicht. Daher ist es kein Zufall, dass die neue sächsische Landtagsfraktion ihren Kandidaten für das Amt des Alterspräsidenten zurückziehen musste, weil dessen Nazivergangenheit bekannt geworden ist. In Leipzig will die AfD ein Bürgerbegehren gegen den Bau einer Moschee unterstützen. In der Brandenburger Landtagsfraktion sitzen jetzt ein ehemaliges Mitglied der Republikaner und sowohl der Vorsitzende als auch der stellvertretende Vorsitzende der islamfeindlichen Partei »Die Freiheit«. Die Spitzenkandidaten der AfD in Thüringen und Brandenburg, Björn Höcke und Alexander Gauland, haben sich im Wahlkampf als »Islamkritiker« positioniert. Gauland will wieder Kontrollen an der Gren-


© blu-news.org / CC BY-NC / flickr.com

deshalb mit den Republikanern Franz Schönhubers in den 1980er Jahren. Dieser Vergleich ist falsch. Die Republikaner waren nämlich eine Abspaltung der NPD (und nicht der CSU, wie es Prantl in der »Süddeutschen Zeitung« behauptet). Schönhuber selbst hatte sich öffentlich zu seiner SS-Vergangenheit bekannt (»Ich war dabei«) und bei der Gründung der Republikaner in Bayern spielte eine Gruppe von Bundeswehrreservisten der NPD eine zentrale Rolle. Sie waren von Anfang an eine faschistische Organisation, die die parlamentarische Bühne zwar nutzen wollte, aber zugleich eine außerparlamentarische Massenbewegung aufzubauen trachtete, mit der sie dann die Demokratie zerschlagen wollte. Darüber hinaus strickt Prantl an einer Legende, wenn er behauptet, die CDU habe die Republikaner durch strikte Kooperationsverweigerung isoliert und an »den äußersten rechten Rand« gedrängt. Im Gegenteil hatte die Union Anfang der 1990er Jahre zunächst mit der »Asylflutkampagne« versucht, die Republikaner rechts zu überholen. Damit war sie ebenso wenig erfolgreich wie die CSU im Europawahlkampf gegen die AfD. Die Republikaner eilten von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Erst eine riesige antirassistische Demonstrations- und Protestwelle nach den mörderischen Brandanschlägen und Pogromen in Rostock, Hoyerswerda, Mölln und Solingen führ-

AfD-Chef Bernd Lucke bei einem Auftritt im Augustinerkeller in München am 30. August 2013. Ihren latent rassistischen und frauenfeindlichen Charakter hielt die Partei im Bundestagswahlkampf noch bedeckt. Einige Landesverbände unterstützten diesen Kurs jedoch auch damals schon nicht

AKTUELLE ANALYSE

ze zu Polen einführen und behauptet öffentlich, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Höcke setzt noch einen drauf: Zum Moscheebau in Erfurt gefragt, antwortet er: »Jeder Moslem kann in Deutschland selbstverständlich seine Religion ausüben, auch ohne Moscheen.« Minarette sind für ihn ein Symbol der »Landnahme« durch den Islam. Gaulands Erfolg erklärt sich teilweise dadurch, dass er nicht nur nach rechts, sondern auch nach links geblinkt hat. Neben Asylpolitik und Grenzkriminalität griff er auch die Wirtschaftssanktionen gegen Russland an. In einem Brief an die Wählerinnen und Wähler der LINKEN lobte er Sahra Wagenknechts Eurokritik und Gysis Kritik an den Sanktionen. Am Montag nach der Wahl in Sachsen positionierte sich Gauland gegen die Verwendung einer ehemaligen Kaserne als Flüchtlingsunterkunft. Stattdessen empfahl er, »sozial schwachen Brandenburger Familien darin Erholung und Entspannung zu ermöglichen«. Heribert Prantl diagnostiziert also stichhaltig einen Rechtsruck der AfD in den ostdeutschen Wahlkämpfen: »weg von der bürgerlichen, hin zu einer kleinbürgerlichen, tendenziell nationalistischen, fremdenfeindlichen und ressentimentgeladenen Politik«. Einige Politiker wie der Brandenburger SPD-Landtagsfraktionschef Klaus Ness vergleichen die AfD

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te zu einem Stimmungsumschwung in Deutschland. Im Juni 2014 gab die Zeitschrift »Stern« bei Forsa eine Untersuchung über die soziale Basis der AfD in Auftrag. In der Studie heißt es, dass die Anhänger der AfD »eher aus den Ober- und Mittelschichten mit hohen Einkommen« stammen. Bei ihrer Gründung wurde die AfD nicht von ungefähr als »Professorenpartei« bezeichnet. Sie entsprang dem Widerstand mittelständischer Unternehmerverbände und Wirtschaftsprofessoren gegen die Bankenrettung nach der Krise von 2008/09. Gründungsmitglied Hans-Olaf Henkel war langjähriger Sprecher des Unternehmerverbandes BDI. Die Gruppe um Henkel und Bernd Lucke war sich gleichwohl von Beginn an bewusst, dass die neue Partei allein mit einem neoliberalen Wirtschafts- und Sozialprogramm und der Kritik des Euros nicht massenwirksam werden könne. Deshalb hat sie immer auch auf »populäre« Vorurteile (Sexismus, Rassismus) gesetzt – allerdings zunächst mit angezogener Handbremse, weil sie nicht gleich in der »rechten Ecke« landen wollte. Lucke und Henkel werden auch nach den rassistischen Wahlkämpfen im Osten nicht müde, sich gegen die Einstufung als »Rechte« zu wehren. Hier bestätigt sich, was in der Langzeitstudie »Deutsche Zustände« unter Leitung des Soziologen Wilhelm Heitmeyer in den Jahren 2002 bis 2010 beobachtet wurde. Die Finanz- und Wirtschaftskrise verursachte ein höheres Abstiegsrisiko für die Angehörigen der sogenannten Mittelschichten. Die nachfolgende Schuldenkrise habe zu einer »explosiven Situation als Dauerzustand« geführt. Heitmeyer spricht von der Entstehung eines »entsicherten Bürgertums«, das nicht davor zurückscheue, »eigene Ziele mit rabiaten Mitteln durchzusetzen«. Die angebliche Liberalität der höheren Einkommensgruppen scheint in Auflösung begriffen. Auch eine starke Linke kann solche Entwicklungen nicht unbedingt verhindern. Was sie aber hätte verhindern können, ist ein Abgleiten der unteren Schichten des Proletariats, der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten, nach rechts. Diese Schichten hätte DIE LINKE mit einer offensiv antirassistischen Ausrichtung und sozialen Forderungen erreichen können. Stattdessen fand die AfD ein freies Feld vor. In einer Wahlauswertung konnte Alexander Gauland feststellen, die AfD habe es geschafft, ihre Themen Kriminalität und innere Sicherheit sowie Einwanderung ungehindert zu setzen. Es ist ein deutliches Signal für einen allgemeinen Rechtsruck, dass bei allen drei ostdeutschen Landtagswahlen AfD und NPD zusammen auf knapp 15 Prozent gekommen sind. Jüngste Studien über Rassismus bestätigen diesen

Eindruck. Sie haben zunehmende Vorurteile gegen Sinti und Roma, gegen Flüchtlinge und Asylbewerber und gegen Muslime ermittelt. DIE LINKE hat leider einen Bogen um das Thema gemacht: In keinem der drei Bundesländer trat sie mit antirassistischen Plakaten auf. Das ist die erste und wichtigste Lehre aus den Wahlresultaten. DIE LINKE muss sich überall, wo rassistische Kampagnen entstehen – wie jetzt gegen einen Moscheebau in Leipzig oder bei den zahlreichen Aktionen gegen Flüchtlingsunterkünfte – öffentlich solidarisieren und beim Aufbau antirassistischer Kampagnen tatkräftig mitarbeiten. Sie muss sogenannte weiche Themen wie die Gleichstellung der Homo-Ehe oder das Abtreibungsrecht aufgreifen und dies in Verbindung bringen mit der sexistischen und rassistischen Ausrichtung der AfD. Der bisherige Widerstand gegen die AfD findet entweder gar nicht statt oder als »antifaschistischer Kampf«. Doch die AfD ist keine faschistische Partei. Sie kann jedoch zum Sammelpunkt von Nazis werden. Auch heute schon ist sie als offen rassistische und sexistische Partei eine besondere Gefahr für die Arbeiterbewegung und die demokratischen und sozialistischen Kräfte. In England formiert sich gerade eine Bewegung gegen die rechtspopulistische UKIP, die in vielerlei Hinsicht ein Vorbild der AfD-Gründer war und ist. Die Bewegung mobilisiert überall, wo die UKIP öffentlich auftritt. Aber sie versucht nicht, deren Veranstaltungen zu verhindern, wie wir es gegenüber Nazis und Faschisten tun müssen. Eine »antifaschistische« Kampagne gegen die AfD ist zum Scheitern verurteilt, weil die AfD eine Partei ist, die in die Parlamente und durch sie zur politischen Macht strebt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nach der Wahl widersprüchliche Aussagen zur AfD gemacht. Einerseits hat sie wiederholt, dass es keine Zusammenarbeit in Bund und Ländern mit ihr geben dürfe und die CDU an ihrem bisherigen Kurs festhalten wolle. Andererseits hat sie gesagt, es müsse darum gehen, die Sorgen der AfD-Wähler aufzugreifen und die zugrunde liegenden Probleme zu lösen. Das kann bedeuten, dass die CDU selbst ihr rassistisches Profil erhöht, was sie durch die Ankündigung neuer Asylgesetze schon in Angriff genommen hat. Auch hier droht die Gefahr eines Rechtsrucks: Es ist möglich, dass sich die CDU von der AfD vor sich her treiben lässt, um dieser den Wind aus den Segel zu nehmen. Doch das hat noch nie funktioniert. Wer sich solch ein Programm wünscht, wird im Zweifelsfall die konsequenteren und radikaleren Sexisten und Rassisten wählen. ■

Die AfD ist trotz allem keine faschistische Partei

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Berlin Sonntag, 30.11. Zeit: 10:00 Ort: Vierte Welt, Adalbertstr. 4, U-Bahnhof Kottbusser Tor

Essen Samstag, 01.11. Zeit: 11:00 Ort: DGB-Haus, Teichstraße 4

Frankfurt Samstag, 15.11. Zeit: 11:00 Ort: Bildungsraum Schönstraße 28

Freiburg Infos zu Termin und Ort unter: 0170-4860385 (Daniel)

Hamburg Samstag, 29.11. Zeit: 10:00 Ort: Parteibüro DIE LINKE. Altona, Am Felde 2

Weitere Informationen gibt es auf facebook.com/marxismuss

München Samstag, 15.11. Zeit: 11:00 Ort: EineWeltHaus, Schwanthalerstr. 80

AKTUELLE ANALYSE

H 1914-2014: Wie imperialistisch ist Deutschland heute noch? H Kinder, Küche Karriere - wie wirkt Frauenunterdrückung? H Linke an die Macht!? Möglichkeiten und Grenzen linker Regierungen

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AKTUELLE ANALYSE

Bittere Bilanz Nach den Landtagswahlen in Thüringen und Brandenburg ist eine Debatte über die Strategie der LINKEN notwendig. Welche Ausrichtung soll die Partei in Zukunft haben?

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Von Lucia Schnell

ei den jüngsten Landtagswahlen in Thüringen und in Brandenburg war die Wahlbeteiligung historisch niedrig. DIE LINKE konnte diesem Trend nicht entgegenwirken. In beiden Ländern verlor sie Stimmen an die Nichtwähler und die AfD. Deren Erfolg bedeutet eine Verschiebung des politischen Spektrums nach rechts.

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Lucia Schnell ist Sprecherin der LINKEN in Berlin-Neukölln.

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In Brandenburg regiert DIE LINKE seit dem Jahr 2009 zusammen mit der SPD. Ihr Ziel war es, zum ersten Mal in ihrer Geschichte aus einer Regierungsbeteiligung heraus keine Stimmen zu verlieren. Das hat sie weit verfehlt: Hatten bei der letzten Wahl noch 377.000 Menschen für DIE LINKE gestimmt, waren es dieses Jahr nur noch 183.000. Mehr als die Hälfte ihrer Wählerinnen und Wähler hat sich also von ihr abgewandt. Ihr Stimmenanteil sank von 27,2 auf 18,6 Prozent. Rund 115.000 ehemalige LINKEWähler blieben diesmal zu Hause, 20.000 wählten die AfD und 7000 die SPD. Im Wahlkampf gab sich DIE LINKE staatstragend und wenig profiliert (»Brandenburg ist nicht Berlin«). Auf Kritik an der SPD und an existierenden Missständen hat sie verzichtet. Um ihren Koalitionspartner zu schonen, prangerte sie einen der größten Baufilz-Skandale der Republik, den BER-Flughafen, nicht an. Zudem sitzen Minister der LINKEN im Aufsichtsrat und sind damit mitverantwortlich. Nach einem erfolgreichen Volksbegehren für ein Nachtflugverbot unterstützte die Regierung zwar dieses Anliegen, konnte sich damit aber gegenüber Berlin und dem Bund als Mitanteilseignern nicht durchsetzen. Die AfD hat das Thema dankbar aufgegriffen, warb massiv für ein Nachtflugverbot und konnte so Kritik und Protest nach rechts wenden. Die Freien Wähler haben derweil den Protest gegen die Flug-

routen vereinnahmt und damit einen betroffenen Direktwahlkreis gewonnen. DIE LINKE hat es in den vergangenen fünf Jahren nicht vermocht, Brandenburg spürbar zu verändern. Sie konnte in der Koalition zwar einige positive Reformen durchsetzen, etwa die Einführung des Wahlrecht ab 16 oder eines Mindestlohns bei öffentlichen Aufträgen. Auch wurden unter Rot-Rot mehr Lehrkräfte eingestellt, die Kitabetreuung wurde verbessert und das Schüler-BAföG erweitert. Aber die Regierung hat zugleich die öffentlichen Investitionen gesenkt und Millionen Euro an die Banken zurückgezahlt. Trotz Steuermehreinnahmen und einer besseren Finanzierung der Kommunen können einige von ihnen keinen Haushalt aufstellen. Verantwortlich dafür sind die zahlreichen Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen auf Bundesebene in den letzten zehn Jahren. Hierdurch fehlen den Ländern jährlich Millioneneinnahmen. Mit vielen Maßnahmen hat sich die brandenburgische LINKE gegen ihre Anhängerinnen und Anhänger gestellt: Beispielsweise hat sie an den Hochschulen die Beibehaltung von Rückmeldegebühren, eine Art Studiengebühren, mitgetragen. Wirtschaftsminister Ralf Christoffers (LINKE) hat sich für die umweltschädliche Vergrabung von Kohlendioxid im Boden starkgemacht – gegen den Protest vieler Gemeinden und Parteigliederungen. Erst im Frühsommer stimmten die Minister der LINKEN einer Ausweitung des Braunkohle-Tagebaus für Vattenfall in Welzow zu. Das widersprach nicht nur dem eigenen Parteiprogramm für eine soziale Energiewende, sondern auch dem Landtagswahlkampf von 2009 (»Konsequent gegen neue Tagebaue«). Nicht von ungefähr hat die Partei in den Braunkohlegebieten im Süden Brandenburgs mit elf bis dreizehn Prozentpunkten überdurch-

An der Regierung hat DIE LINKE ihre Wähler stets enttäuscht


© DIE LINKE Sachsen / CC BY-NC / flickr.com

Der ehemalige Abgeordnete und Staatssekretär der LINKEN in Berlin, Benjamin-Immanuel Hoff, bestreitet in einer Wahlauswertung, dass Regierungsbeteiligungen der LINKEN automatisch schaden. Doch genau das hat die Vergangenheit gezeigt: In Mecklenburg-Vorpommern verlor die PDS im Jahr 2002 nach vier Jahren rot-roter Regierung acht Prozentpunkte, in Berlin 2006 mehr als neun Prozentpunkte. In den folgenden Wahlen verharrten die

PDS und später dann DIE LINKE auf diesem niedrigen Niveau. In diesen Trend fügt sich nun Brandenburg ein. Es existiert hingegen kein Beispiel dafür, dass DIE LINKE als Regierungspartei neue Wählerinnen und Wähler gewonnen hätte. Das Problem bei einer Regierungsbeteiligung ist, dass sich DIE LINKE durch Tauschgeschäfte – zum Beispiel Tariftreuegesetz gegen Stellenabbau in Brandenburg – vor ihren Wählerinnen und Wählern diskreditiert. Denn dabei opfert sie die Grundsätze der Partei dem vermeintlichen sofortigen Erfolg. Genau diese Entzauberung wünscht sich die SPD. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner plädierte beispielsweise für Rot-Rot-Grün in Thüringen. Das führe dazu, dass DIE LINKE »gemäßigter« auftrete: »Die Desperados in der Partei würden geschwächt.« Wenn die Linkspartei in der Regierung aber sozialen und politischen Protest nicht unterstützt, wie in Brandenburg, oder ihn sogar ideologisch bekämpft, wird sie schwächer. Die wenigen Verbesserungen, die unter den gegebenen Machtverhältnissen möglich sind, lassen sich nur mit Widerstand auf der Straße erkämpfen. Dass dies möglich ist, zeigte sich bei den Flüchtlingsprotesten in Berlin und Hamburg, beim Energie-Volksbegehren in Hamburg oder beim Volksentscheid gegen die Teilprivatisierung des Tempelhofer Feld in Berlin. In den meisten Bundesländern hat DIE LINKE die Erfahrung gemacht, aus der Opposition heraus etwas zu verändern – auch in Brandenburg und Thüringen.

Dresden im Jahr 2009: Bodo Ramelow (Thüringen, l.), Kerstin Kaiser (Brandenburg, 2. v. l.) und André Hahn (Sachsen, r.) mit dem damaligen Parteivorsitzenden Lothar Bisky während des Landtagswahlkampfs. Schon damals orientierte DIE LINKE im Osten auf eine Regierungsbeteiligung. In Brandenburg ging der Plan auf. Dort verlor sie nun binnen einer Wahlperiode mehr als die Hälfte ihrer Wählerinnen und Wähler

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schnittlich viele Stimmen verloren. Zudem hat die rot-rote Regierung den Stellenabbau im öffentlichen Dienst fortgeführt und das Pensionsalter von Beamten angehoben. Das Tariftreuegesetz für öffentliche Aufträge wiegt den Stellenabbau keineswegs auf. Der Personalabbau traf insbesondere die Polizei. Die Gewerkschaft der Polizei hat fast 100.000 Unterschriften gegen Personalabbau und Umstrukturierungen gesammelt. Das hat die AfD für ihre rechte Rhetorik gegen »grenzenlose Kriminalität« und für antipolnischen Rassismus ausgenutzt. Damit konnte sie besonders in der Grenzregion punkten. Teilweise ist die AfD auch mit vermeintlich linken Positionen zu Sanktionen gegen Russland und mit »Banken in die Schranken«-Plakaten aufgetreten. Dem hatte DIE LINKE wenig entgegenzusetzen: Sie selbst hat im Wahlkampf kein einziges antikapitalistisches Plakat geklebt – und auch kein antirassistisches. Gerade das wäre aber dringend notwendig gewesen angesichts der rassistischen Kampagnen der AfD gegen Flüchtlingswohnheime.

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Nur in der Opposition kann DIE LINKE ihre Grundsätze aufrechterhalten. Gibt sie diese auf, verliert sie die Achtung ihrer Anhängerinnen und Anhänger und entledigt sich der Möglichkeit zur Mobilisierung einer Gegenmacht und dazu, eine Partei der »besitzlosen Klassen« aufzubauen. Harald Wolf, ehemaliger Senator der PDS und der LINKEN in Berlin, schreibt aus leidvoller Erfahrung: »Bei allen Schwierigkeiten, es bleibt dabei: Die notwendige Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse kann nicht durch noch so kluge Verhandlungstaktik und Entscheidungen am Kabinettstisch ersetzt werden.« DIE LINKE in Brandenburg sollte gegenüber der SPD nicht nur eine Liste mit positiven Forderungen aufstellen, sondern auch klar benennen, was mit ihr nicht zu machen ist. Das bedeutet, Mindestbedingungen für eine Regierungsbeteiligung aufzustellen und zum Beispiel dem Sparkurs und neuen Tagebauen oder BraunkohleKraftwerken eine klare Absage zu erteilen.

muss aufpassen, nicht dasselbe Schicksal zu erleiden wie die Genossinnen und Genossen in Mecklenburg, Berlin und Brandenburg. Die Erfahrungen mit Regierungsbeteiligung und Haushaltskonsolidierung waren schmerzhaft. In Berlin hat DIE LINKE Mitglieder verloren, obwohl es einen Aufschwung von sozialen und linken Bewegungen gab. Die Partei soll aber ein Instrument werden, die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft zu verändern. Zudem gibt es zahlreiche politische und juristische Beschränkungen einer Landesregierung, zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage oder beim Verfassungsschutz: DIE LINKE übernimmt in der Regierung auch Verantwortung für Abschiebungen und polizeiliche Willkür. Der Staat ist kein Fahrrad, auf das man sich setzt und die Richtung ändert. Der Staatsapparat ist nicht neutral, sondern von den Eliten aufgebaut. Er ist nicht demokratisch organisiert. Polizei, Justiz, Verwaltung verteidigen die Eigentumsrechte der Reichen und Konzerne und ihre eigenen Privilegien und Befugnisse. Die Regierung und das Parlament haben keine Macht über die Wirtschaft – nicht einmal dann, wenn DIE LINKE die absolute Mehrheit hätte. Linke Regierungen sind in der Geschichte entweder mit dem Kapital und dem Staatsapparat in Konflikt geraten oder sie haben ihre Prinzipien verraten. Die Schlussfolgerung – auch aus der bitteren Erfahrung mit Rot-Rot in Berlin – sind die Grundsätze des Erfurter Programms: »DIE LINKE strebt nur dann eine Regierungsbeteiligung an, wenn wir damit eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen erreichen können. An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt, die Privatisierungen der Daseinsvorsorge oder Sozialabbau betreibt, deren Politik die Aufgabenerfüllung des öffentlichen Dienstes verschlechtert, werden wir uns nicht beteiligen.«

Ein linker Ministerpräsident bringt keinen Cent mehr in die Kasse

In Thüringen hat DIE LINKE ihr gutes Ergebnis aus dem Jahr 2009 noch verbessert und Wählerinnen und Wähler der SPD gewonnen, die keine Große Koalition wollen. Aber mit der Perspektive auf eine rot-rot-grüne Regierung konnte sie die Nichtwähler nicht begeistern. Im Gegenteil: 11.000 ihrer ehemaligen Wähler sind nicht zur Wahl gegangen, 16.000 hat sie an die AfD verloren. Dem Aufstieg der AfD konnte die Perspektive auf ein linkes Regierungsprojekt nicht entgegenwirken. Bereits im Wahlkampf drosselte Bodo Ramelow die Erwartungen. Auf dem Parlamentariertag der LINKEN sagte er: »Wir versprechen niemandem, dass im Keller Geld gedruckt wird. Die Schuldenbremse haben wir abgelehnt, aber nun gilt sie.« Im »Neuen Deutschland« versprach er, »die Dinge ordentlich zu machen«. DIE LINKE werde, so Ramelow, an die Regierung gelassen, wenn die Haushaltslage schwierig ist. Tatsächlich gibt es unter einem linken Ministerpräsidenten keinen Cent mehr in der Kasse, deshalb stellt Ramelow alles unter den Vorbehalt des Kassensturzes. Er beschreibt selbst die Probleme: »Thüringen hat 16 Milliarden Euro Schulden. Ein Viertel der Kommunen haben keinen Haushalt. Sämtliche Kultureinrichtungen sind unterfinanziert. Das Landestheater kriegt kaum Geld. Die Geraer Stadtwerke wurden in die Insolvenz getrieben.« Es gibt also keinen Spielraum für linke Politik. Warum sollte da DIE LINKE für eine Situation Verantwortung übernehmen, die sie nicht geschaffen hat? Die Lage wäre nur zu ändern, wenn die Schuldenbremse aufgehoben und die Reichen auf Bundesebene besteuert würden. DIE LINKE in Thüringen

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Diese Mindestbedingungen müssen erst recht für eine Koalition gelten, in der DIE LINKE zum ersten Mal die führende Kraft wäre. Doch im Wahlkampf nannte Bodo Ramelow genau wie die Brandenburger LINKE keine Mindestbedingungen, sondern nur einzelne Kernforderungen. In der Debatte um das Parteiprogramm hatte er sich sogar dafür eingesetzt, den Stellenabbau im öffentlichen Dienst aus den Haltelinien zu streichen. Er argumentierte im Dezember 2010 in der »Thüringer Allgemeinen«: »Der öffentliche Dienst ist nicht heilig. Die Strukturen in Thüringen müssen drin-


gend angepasst werden, damit sie noch bezahlbar sind.« Das widerspricht den Forderungen der Bundespartei, den öffentlichen Dienst wieder aufzustocken. Seit 1990 wurden bundesweit mehr als zwei Millionen Arbeitsplätze im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen abgebaut, ob in Krankenhäusern, Schulen oder Bürgerämtern. Angesichts dieses Kaputtsparens rechtfertigt auch kein Bevölkerungsrückgang einen weiteren Stellenabbau. Eine Partei, die auf Landesebene Arbeitsplatzabbau rechtfertigt, kann nicht erfolgreich gegen Arbeitsplatzabbau beim Bund, bei Kommunen oder Unternehmen mobilisieren. Der DGB HessenThüringen schreibt in seinen Eckpunkten zur Landtagswahl: »Durch den Stellenabbau im öffentlichen Dienst haben die Arbeitsverdichtung und damit die Arbeitsbelastung für die verbliebenen Beschäftigten stark zugenommen. Einen weiteren Stellenabbau darf es nicht geben! Nicht weniger, sondern mehr Beschäftigung im Landesdienst ist erforderlich.« Susanne Hennig-Wellsow, die Landesvorsitzende der LINKEN in Thüringen bezieht sich auf die DGB-Eckpunkte als »gemeinsamen Kern einer möglichen rot-rotgrünen Landesregierung«. Aber die Thüringer LINKE schließt Stellenabbau in ihrem Wahlprogramm

nicht aus. Die bisherige schwarze-rote Regierung will im öffentlichen Dienst bis zum Jahr 2020 über 8.000 Stellen streichen. DIE LINKE sollte in Thüringen und Brandenburg bei den Sondierungsgesprächen neben positiven Forderungen auch Mindestbedingungen formulieren, also keinen Sozialabbau, keinen Stellenabbau, keine Privatisierungen sowie die Abschaltung aller V-Leute des Verfassungsschutzes. So kann sie ihren Anhängern, die auf einen Regierungswechsel hoffen, offenlegen, unter welchen Bedingungen sie nicht bereit ist zu regieren. Eine linke Regierungsbeteiligung um jeden Preis ist abzulehnen. Sie ist nicht das kleinere Übel zu einer großen Koalition, weil DIE LINKE als Oppositionskraft ausfällt und Rechte diese Rolle einnehmen können. Die gegebenen Verhältnisse können wir aber nur als sichtbares Rückgrat von außerparlamentarischen Bewegungen, Streiks und Bürgerinitiativen verändern. Dazu kann die Begleitung durch parlamentarische Arbeit eine große Hilfe sein. Aber unsere politische Arbeit als LINKE darf nicht durch Regierungsbeteiligung behindert oder unmöglich gemacht werden. Auch die AfD können wir nur stoppen, wenn wir glaubwürdig bleiben und an unseren sozialen Prinzipien festhalten. ■

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AKTUELLE ANALYSE

Die neue Weltunordnung Gaza, Ukraine, Irak: Das Gefüge der Welt gerät ins Wanken. Das ist kein Zufall Von David Maienreis ★ ★★

David MAienreiS ist Redakteur von marx21.

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n aktuellen Umfragen steht die CDU bundesweit solide bei über vierzig Prozent. Angela Merkel ist mit großem Abstand die beliebteste Politikerin des Landes. Das hilft ihr auch bei den Auseinandersetzungen mit ihren Partnern im bürgerlichen Lager, erst der FDP, jetzt der CSU. Einziges Anzeichen dafür, dass in der politischen Landschaft etwas im Gange ist, ist der Aufstieg der AfD – und der ist bedrohlich. Aber politisch wirken die Verhältnisse in Deutschland eher verschlafen, weil auch die wirtschaftliche und soziale Situation zwar alles andere als rosig, aber stabil ist: die offiziellen Arbeitslosenzahlen bleiben auf einem vergleichsweise niedrigen Stand, im Staatshaushalt gibt es seit vielen Jahren wieder Überschüsse und die Regierung hat von drastischen Einschnitten und Angriffen auf die Bevölkerung abgesehen.

tatsächlich Anzeichen einer ernsten Bedrohung, wie sie seit dem Ende des Kalten Kriegs praktisch für unmöglich gehalten wurde. Angesichts dieser Entwicklung treten die weiterhin schwelenden Kriege in Libyen, Syrien und in Somalia, wo die USA gerade wieder eingefallen sind, in den Hintergrund. Doch nicht nur die Kriegsschauplätze sind Krisenherde. Über die wirtschaftliche, soziale und politische Krise in Griechenland, Portugal und Spanien haben die bürgerlichen Medien nie gern berichtet, mittlerweile werden sie aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland völlig ausgeblendet. Die Situation in diesen Ländern hat sich allerdings um keinen Deut verbessert. Sie ist weiterhin so desolat, dass zehntausende, gerade junge Menschen keinen Ausweg sehen als auszuwandern. Ein Ende der europäischen und weltweiten Stagnationskrise ist nicht in Sicht.

Diese Ruhe lässt in Deutschland fast vergessen, dass die Welt pünktlich zum einhundertsten Jahrestag des Ersten Weltkriegs in einer tiefen und zunehmend unkontrollierbaren Krise steckt. »Die Welt ist aus den Fugen geraten, zumindest wenn wir in diesen Wochen auf die Krisenherde schauen«, schrieben Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier dieser Tage an die SPD-Mitglieder. Marxisten und Sozialdemokraten haben in der Einschätzung der internationalen Lage lange nicht mehr so nah beieinandergelegen. Die Anzahl der Krisenherde, wo unter Beteiligung westlicher Mächte bewaffnete Konflikte ausgetragen werden, ist in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Die Nachrichten verfolgen fast täglich die Entwicklungen in der Ukraine, im Irak, in Gaza. Das Säbelrasseln zwischen dem Westen und Russland ist

Die zunehmenden Spannungen auf der politischen und militärischen Ebene haben ihre Ursache nicht mehr in der Übermacht des Westens oder dessen alten Führungsmacht USA. Als die Vereinigten Staaten nach 1989 als »einzige Supermacht« auftraten, verlief ihr Machtausbau meist ohne den Einsatz ihrer Armee, der größten Streitkraft der Welt. Was an Saddam Husseins Irak statuiert wurde, sollte vor allem eins sein: ein Exempel für alle anderen, die je mit dem Gedanken spielen sollten, sich gegen die USA aufzulehnen. Der gegenwärtige hysterisch anmutende Einsatz der US-amerikanischen Streitkräfte ist hingegen Ausdruck der Schwäche der USA und ihrer Angst vor dem weiteren Abstieg. Die Regierung von George W. Bush versuchte noch, das schwindende wirtschaftliche Gewicht des Landes durch den Trumpf

Nicht nur die Kriegsschauplätze sind Krisenherde


© marx21 / Carsten Schmidt

Die herrschenden Klassen kennen die Geschichte der bisherigen Weltwirtschaftskrisen. Sie überlegen angestrengt, wie sie die Fehler der Vergangenheit vermeiden können. Aber ökonomisch haben sie es mit »derselben alten Scheiße« zu tun, wie Marx den Kapitalismus einmal nannte. Die Optionen, die zur Wahl stehen, wurden alle schon einmal ausprobiert – und führten in Katastrophen. Sie heißen: nationale Abschottung, keynesianische Wirtschaftsprogramme, Verelendung der Bevölkerung, Verlagerung der nationalen Probleme ins Ausland durch militärische oder Wirtschaftskriege. Über eine verstärkte internationale Zusammenarbeit zur Krisenbewäl-

tigung wird bemerkenswerterweise kaum noch gesprochen. Ähnlich wie die Banken vertrauen in der gegenwärtigen Situation auch die Staaten einander nur noch bedingt. Indem sich Arbeitslosigkeit, Armut und Kriege ausweiten, schwindet auch der Zuspruch der Menschen – nicht nur zu Regierungen und Parteien, sondern auch zu den politischen Institutionen. Diese Abkehr von der bestehenden Ordnung nützt der Linken, global gesehen, bislang kaum. Vielmehr profitieren Bewegungen, die ihre Kritik in nationalistischen oder religiösen Kategorien formulieren. Auch wenn kaum eine relevante politische Kraft den Sozialismus zum Ziel hat: Die objektiven Probleme weisen alle auf die Lösung durch Vergesellschaftung und demokratische Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft. Nur so können Armut und Kriege überwunden werden. Aus den Chefetagen von Wirtschaft und Staat sind hingegen nur Lösungen zu erwarten, die die Probleme verlagern oder verschärfen. Das beweist deren bisheriger Umgang mit den wirtschaftlichen, sozialen, militärischen und ökologischen Krisen. Die Welt befindet sich derweil, auch wenn man das in Deutschland bislang kaum zu spüren bekommt, in einer reichlich chaotischen und explosiven Lage und die Zeichen stehen auf Verschärfung und Ausweitung der Auseinandersetzungen. Im Jahr 1914 stimmte die SPD der deutschen Beteiligung an einem Krieg zu, den sie als »progressiv« verteidigte. Doch der darauf folgende Weltkrieg hatte sich aus zahlreichen kleineren Zusammenstößen der Großmächte entfacht. Die deutsche Linke sollte diese Fehler heute nicht wiederholen und sich jeder möglichen Eskalation durch eine deutsche Beteiligung an Kriegen entgegenstellen. ■

Zweifellos ist die Bundesrepublik Deutschland wirtschaftlich ein Riese. Doch auch politisch ist sie schon lange kein Zwerg mehr. Momentan ist die europäische Großmacht zwar nur begrenzt in der Lage, militärisch unabhängig von den USA zu agieren. Doch sie arbeitet mit großem Fleiß daran, dies langfristig zu ändern

AKTUELLE ANALYSE

»militärische Schlagkraft« wettzumachen. Dass der »Krieg gegen den Terror« nur Zerstörung und Elend gebracht hat – und keinen Sieg für die USA und die NATO –, ist aus Sicht der herrschenden Klasse der USA eine Katastrophe. Sie sieht nur einen Ausweg: Ausweitung der Kriege. Denn sie will um jeden Preis den Eindruck vermeiden, dass sie – ähnlich wie nach dem verlorenen Vietnamkrieg – künftig darauf verzichtet, ihre Interessen militärisch durchzusetzen. Hintergrund für diese Politik ist eine strukturelle, langfristige Krise des globalen Kapitalismus. Diese ist in den vergangenen 15 Jahren mit neuer Heftigkeit ausgebrochen und nun auch in seinen Zentren angelangt. Auf die Asienkrise der Jahre 1997/98 folgte das Platzen der Dotcom-Blase um die Jahrtausendwende und dann die Subprime-Krise von 2008/09, deren Ursachen und Folgen längst noch nicht beseitigt sind. Jede dieser Krisen bedeutete eine große Kapitalvernichtung, jede zerstörte – vermeintliche – Anlagemöglichkeiten für überakkumuliertes Kapital.

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UNSERE MEINUNG

GAZA

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg Von Stefan Ziefle

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er Friedensnobelpreisträger Yitzhak Rabin sagte einmal: »Ich wünschte, Gaza versänke im Meer.« Besser kann man die Haltung der israelischen Politik zum Gazastreifen, jenem Ort mit der höchsten palästinensischen Bevölkerungsdichte, nicht ausdrücken. Mehr als die Hälfte der dort lebenden Menschen sind Nachfahren von Flüchtlingen aus Dörfern, die 1948/49 von der israelischen Armee zerstört wurden. Da diese Menschen aber nicht einfach verschwinden, ist es das Ziel der israelischen Politik, zumindest den Gedanken an Rückkehr, an Gleichberechtigung, an Freiheit zu zerstören. Momentan symbolisiert vor allem die Hamas, die gegenwärtig bedeutendste Organisation des palästinensischen Widerstands, diese Hoffnungen. »Gaza von Hamas zu befreien«, war dementsprechend das Ziel des israelischen Kriegs im Sommer. Es ging um die Eliminierung der Organisationsstrukturen der Hamas und ihrer politischen und militärischen Führung. Zudem sollte die Bevölkerung des Gazastreifens eingeschüchtert werden, um jeden Gedanken an Widerstand zu beseitigen. Um ihr Ziel zu erreichen, war die israelische Regierung bereit, tausende Zivilisten umzubringen. Dabei war ein klares Muster zu erkennen: Nach jedem Gefecht am Boden, das mit Verlusten der israelischen Armee einherging, bombardierte die Luftwaffe in der folgenden Nacht palästinensische Wohnviertel. Je größer die militärischen Verluste, desto mehr Bomben auf Zivilisten. Der größte Teil der israelischen Bevölkerung unterstützte die Bombardierungen – Zehntausende bejubelten beim Public Viewing die Einschläge in Gaza. Wenn es nach der Mehrheit der Israelis gegangen wäre, hätten die Bombardierungen so lange stattgefunden, bis Gaza dem Erdboden gleichgemacht worden wäre. Weit davon entfernt war man ohnehin nicht mehr. Wo der Westen in diesem Krieg stand, verdeutlichte beispielsweise US-Präsident Barack Obama: Er lieferte Nachschub für die israelische

Luftwaffe im Wert von 750 Millionen Dollar. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel übergab der israelischen Marine mitten im Krieg ein zur Hälfte mit Steuergeldern finanziertes U-Boot. Zwei Dinge haben schließlich zum Ende des Militäreinsatzes geführt: Erstens wurde immer offensichtlicher, dass Israel sein Kriegsziel nicht erreichen konnte, zumindest nicht, ohne die Zahl ziviler Opfer noch weiter in die Höhe zu treiben. Der militärische Widerstand der Palästinenser, »on the ground« in Gaza und per Raketen auf Tel Aviv, nahm nicht ab. Zweitens sah sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit einer weltweiten Welle der Solidarität mit den Palästinensern konfrontiert. Selbst in Deutschland, dem Land der institutionalisierten bedingungslosen Israelunterstützung, kritisierten in Umfragen plötzlich 85 Prozent der Bevölkerung Israel. Massendemonstrationen, etwa von 150.000 Menschen in London, und breit getragene Boykottbewegungen gegen Israel ließen dessen Verbündete eine weitere Eskalation des Kriegs – und damit der Bewegung dagegen – fürchten. Sogar die engsten Alliierten äußerten zumindest leise Kritik an der israelischen Kriegsführung. In dieser Situation war die für das Erreichen der Kriegsziele erforderliche militärische Eskalation nicht machbar. Aber die israelische Regierung hat ihre Ziele nicht aufgegeben. Einem gerechten Frieden, einer Aufhebung der Blockade und einem Rückkehrrecht der Flüchtlinge sind wir keinen Schritt nähergekommen. Insofern sollte sich die Bewegung auf eine neue Runde der Gewalt vorbereiten. Die mehr als 2000 Opfer des Sommers werden nicht die letzten gewesen sein.

Israel will jede Hoffnung auf Rückkehr zerstören

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★ ★★ Stefan Ziefle ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und Internationale Politik der LINKEN.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Anschläge auf Moscheen

Ein gefährlicher Ort Von Jules El-Khatib nur um traurige Höhepunkte einer beunruhigenden Entwicklung: Nach Angaben der Bundesregierung sind Übergriffe auf Moscheen in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Zwischen 2001 und 2011 waren es durchschnittlich 22 im Jahr, mittlerweile liegt die Zahl bei 35. Deutschland wird für Muslime allmählich zu einem gefährlichen Ort.

Die »SchariaPolizei« ist sicher nicht das Problem In dieser Situation treten Innen- und Justizminister vor die Presse – aber nicht etwa, um einen »Aufstand der Anständigen« zum Schutz der Muslime auszurufen. Nein, ihr Thema ist die »Scharia-Polizei«: elf junge Gläubige, die vor Spielotheken und Diskotheken junge

Muslime ansprechen und sie bitten, lieber in die Moschee kommen, anstatt feiern zu gehen, Drogen zu nehmen und ihr Geld zu verspielen. Ihre moralisierende und besserwisserische Art sollte man nicht gutheißen. Doch sie unterscheidet sich kaum von dem, was christliche Fundamentalisten wie die Zeugen Jehovas in deutschen Fußgängerzonen veranstalten. Die »Scharia-Polizei« zur Gefahr der öffentlichen Ordnung zu stilisieren, während Moscheen brennen, ist nicht nur grotesk, sondern gefährlich – und eine Aufmunterung für die Zündler. ★ ★★ Jules El-Khatib ist Landessprecher der Linksjugend [solid‘] in Nordrhein-Westfalen und Gründer des Onlineportals »Die Freiheitsliebe«.

UNSERE MEINUNG

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ölln, Bielefeld, Oldenburg, Berlin: Orte, die in dieser Verbindung wohl nur wenigen etwas sagen. Doch sie haben etwas gemein: Überall hier wurden in den vergangenen Wochen Anschläge auf Moscheen verübt. In Mölln wurde eine Stinkbombe gegen die Eingangstür des Gotteshauses geworfen. Die Polizei hielt die Tat zwei Wochen lang geheim – angeblich um Nachahmer zu verhindern. In Bielefeld brannten zwei Korane und ein Gebetsteppich. In der darauf folgenden Nacht schlugen Flammen aus einem neuen Moschee-Anbau in Berlin-Kreuzberg. Wenige Tage später gab es in Bielefeld erneut ein Anschlag. Dieses Mal stiegen die Täter am frühen Morgen durchs Fenster ein. Sie stapelten Bücher aufeinander, darunter mehrere Korane, und zündeten sie an. In Oldenburg wurden schließlich sogar Molotow-Cocktails auf die Moschee geworfen. Hierbei handelt es sich

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TITELTHEMA DIE FALSCHEN FREUNDE DES IRAK

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Freiheitsk채mpfer Kurden wehren sich selbst gegen IS-Terror


Der Weg ins Inferno Die USA bauen ein Bündnis auf, um dem Vormarsch der Terrorgruppe Islamischer Staat zu bremsen. Doch wird eine Militärintervention den Menschen im Irak wirklich helfen? Wir beantworten die wichtigsten Fragen zum Konflikt Von Frank Renken mittels Waffenlieferungen. Bislang hat die Bundesregierung lediglich Israel gegen die Palästinenser und in den 1990er Jahren die Türkei gegen die Kurden militärisch unterstützt. Doch die Beteiligung im Irak ist viel offener, direkter und geschieht im Kontext eines amerikanischen Luftkriegs. Von der Leyen schloss im selben Interview auch Waffenlieferungen an die Ukraine nicht mehr grundsätzlich aus. Sehr kalkuliert hat die Verteidigungsministerin zunächst die Entsendung von humanitären Hilfslieferungen in den Nordirak durch Militärtransporter in Szene gesetzt. Kurze Zeit später wurde daraus »nicht-letale militärische Hilfe« in Form von Schutzwesten und Nachtsichtgeräten, schließlich lieferte Berlin Panzerfäuste und Handgranaten. So soll die Bevölkerungsmehrheit, die Auslandseinsätzen und Waffenexporten kritisch gegenüber steht, Schritt für Schritt an die neue Situation gewöhnt werden.

© Jayel Aheram / CC BY / flickr.com

Die Jesiden haben nichts von den Waffenlieferungen

Aber ist es nicht grundsätzlich richtig, dass die Bundesregierung die Kurden gegen den Islamischen Staat unterstützt? Die Kurden bilden in der Türkei, im Irak, Iran und in Syrien jeweils eine große nationale Minderheit. In allen diesen Ländern werden sie diskriminiert,

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Frank Renken ist Mitglied im Ortsvorstand der LINKEN in Berlin-Friedrichshagen. Er hat zum algerischen Unabhängigkeitskrieg promoviert, in Nordafrika gelebt und gearbeitet. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur arabischen Revolution.

TITELTHEMA DIE FALSCHEN FREUNDE DES IRAK

Der Bundestag hat die Entsendung von Waffen in den Irak beschlossen. Was steckt dahinter? Anfang August musste die ethnische Minderheit der Jesiden im nordirakischen Sindschar-Gebirge vor den Truppen des Islamischen Staats fliehen. Die Bundesregierung hat die Bilder dieser dramatischen Flucht genutzt, um Waffenlieferungen aus Bundeswehrbeständen an die Regierung der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak zu rechtfertigen. Kanzlerin Angela Merkel sprach von einem »Völkermord«, den es abzuwenden gelte. Doch die Jesiden haben nichts davon. Die deutschen Waffen, darunter drahtgesteuerte Boden-Boden-Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ Milan, 8000 Sturmgewehre Typ G36 und zehnttausend Handgranaten, werden erst Wochen nach dem Ende des Fluchtdramas der Jesiden im Nordirak ankommen. Worum es der Bundesregierung tatsächlich geht, verdeutlicht Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, wenn sie in einem Interview mit der »Zeit« erklärt: »Wichtiger als die Frage, ob und welche Waffe wir am Ende liefern, ist die Bereitschaft, Tabus beiseite zu legen und offen zu diskutieren. An dieser Stelle sind wir gerade.« Das Tabu, das von der Leyen meint, heißt: offene Intervention Deutschlands in einen laufenden Krieg

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manchmal sogar brutaler Verfolgung ausgesetzt. Deshalb sollten Linke und Sozialisten das Recht der Kurden auf nationale Selbstbestimmung und einen eigenen Staat unterstützen. Doch genau das hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier explizit ausgeschlossen. Die Bundesregierung weigert sich auch, das Verbot der Kurdischen Arbeiterpartei PKK aufzuheben – obwohl es die mit der PKK verbündeten syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) waren, die viele der belagerten Jesiden aus dem Sindschar-Gebirge gerettet haben (siehe hierzu auch den Artikel von Florian Wilde auf Seite 30). Seit jeher ist die Unterstützung der Bundesregierung für die Kurden heuchlerisch. Im Jahr 1988 ließ der irakische Diktator Saddam Hussein die kurdische Stadt Halabdscha mit Giftgas angreifen, das mit Hilfe deutscher Firmen hergestellt worden war. Dem Angriff fielen bis zu 5000 Kurden zum Opfer. Damals sprach keiner der westlichen Regierungschefs von einem Völkermord. Denn der Angriff richtete sich zugleich gegen eine kurdische PeschmergaMiliz, die die Stadt am Vortag erobert hatte. Anders als heute galten die Peschmerga als Gegner des Westens. Sie kämpften auf Seiten des Iran gegen das irakische Regime, welches damals die Unterstützung der USA genoss. Wenn es die Bundesregierung ernst meinen würde mit der Unterstützung der Unterdrückten in der Region, dann würde sie den Jesiden großzügig Asyl gewähren und das Verbot der PKK aufheben. Doch das tut sie nicht. Stattdessen unterstützt sie die kurdische Regionalregierung im Nordirak gerade so weit, dass es ausreicht, den Vormarsch ihrer sunnitischen Gegner einzudämmen. Dadurch soll verhindert werden, dass ein Gebiet entsteht, das sich jeder Kontrolle durch den Westen entzieht. Denn im Boden des Irak lagern die zweitgrößten Erdölreserven der Welt, um die Staaten und Unternehmen wetteifern. Der ehemalige irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki führte jahrelang harte Verhandlungen mit Ölmultis wie der US-amerikanischen ExxonMobil, der britisch-niederländischen Royal Dutch Shell, der französischen Total, der russischen Gazprom und der chinesischen Sinopec. Seit 2009 wurden viele Lizenzen vergeben, so dass die Erdölförderung bei 3,6 Millionen Barrel pro Tag liegt. Das sind fast fünfzig Prozent mehr als vor vier Jahren und auch mehr als unter dem Regime Saddams. Dieser Wettlauf um das Öl erklärt, warum sich so viele Staaten im Irak militärisch engagieren. Um die Rechte der Kurden geht es dabei nicht. Es wäre eine Tragödie, wenn sich der kurdische Befreiungskampf – in der Hoffnung auf Waffen und Gelder – zu

einer Marionette des Westens machen ließe. Die Erfahrungen im Kosovo zeigen, wohin das führt: Die unterdrückten Albaner stellten im zerfallenen Jugoslawien mit der UCK eine eigene Miliz, die mit Unterstützung der NATO für ein eigenständiges Kosovo kämpfte. Zwar hatten sie Erfolg, aber anstatt eines freien Landes entstand im Kosovo ein rassistisches EU-Protektorat, in dem Serben ausgegrenzt und Tausende Roma vertrieben wurden. Aber die Kurden haben doch Waffen gefordert, wie kann man dann gegen Waffenlieferungen sein? Tatsächlich haben weder die PKK noch die in Syrien gegen den Islamischen Staat kämpfenden kurdischen YPG eine Anfrage an die Bundesregierung mit der Bitte um Waffen gerichtet, sondern die im nordirakischen Erbil sitzende kurdische Regionalregierung. Deren Präsident Masud Barsani hat eine lange Geschichte der Kooperation mit den USA und den Regierungen der Nachbarländer. Seit den 1980er Jahren hat er als Vorsitzender der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) abwechselnd Bündnisse mit der Türkei oder dem Iran gesucht, obgleich diese ihrerseits Kurden unterdrücken. In den letzten Monaten hat Barsani die Kooperation mit Ankara verstärkt. So schloss seine Regionalregierung im Frühjahr einen milliardenschweren Deal mit der türkischen Regierung ab. Dieser sieht türkische Investitionen in die Exploration von sechs potenziellen kurdischen Erdölfeldern und den Import von jährlich zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Kurdistan vor. Die US-amerikanische Regierung unterstützte Barsani und übte diplomatischen Druck auf die Zentralregierung in Bagdad aus, diesen Deal zu akzeptieren. Doch die Zusammenarbeit mit der Türkei hat ihren Preis. Als Zeichen des guten Willens ergriff Barsani Maßnahmen, die die Wirtschaft des benachbarten kurdischen Gebiets in Syrien treffen sollten. Die türkische Regierung will dieses Rückzugsgebiet der PKK schwächen, das infolge der Revolution gegen das syrische Assad-Regime de facto unabhängig geworden ist. So ließ Barsanis Regionalregierung einen drei Meter breiten und zwei Meter tiefen Graben an der Grenze zu Syrisch-Kurdistan ziehen. Eine provisorische Brücke zwischen den kurdischen Gebieten westlich und östlich der Grenze wurde demontiert. Betroffen waren hauptsächlich jene Kurden, die vom Handel über die Grenze abhängig sind. Es kam zu Protesten, die die Peschmerga mit Waffengewalt beantworteten und die Menschenleben kosteten. Die gegenwärtige westliche Intervention unterscheidet zwischen

Die Kurden dürfen sich nicht zu einer Marionette des Westens machen lassen

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im Irak und Syrien« (Isis). Die Organisation konnte im vergangenen Jahr in Syrien an Boden gewinnen. Dies gelang ihr, indem sie in den vom Regime Assad befreiten Gebieten eine Terrorherrschaft gegen die Revolutionäre durchzusetzen versuchte. Doch im Kern ist der IS ein irakisches Gewächs, ein Produkt des Kriegs, den die USA im Jahr 2003 nach Irak brachte. Hervorgegangen ist die Gruppe aus »al-Qaida im Irak« (AQI), die sich infolge der US-amerikanischen Invasion von 2003 gebildet hatte. Doch während viele andere Gruppen des Widerstands die Truppen der US-amerikanischen Besatzer und deren Marionettenregierung bekämpften, erklärte die radikal-sunnitische AQI alle Nicht-Sunniten zum Feind. Bombenattentate gegen schiitische Wallfahrtsorte oder von Schiiten frequentierte Marktplätze wurden zu

Verbündeter des Westens: Der Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Irak, Masud Barsani (o. r.), trifft im Juni US-Außenminister John Kerry in Erbil. Ein knappes Jahrzehnt vorher: Barsani kommt im Oktober 2005 zu Gesprächen mit USVerteidigungsminister Donald Rumsfeld ins Pentagon (kl. Foto). Wie bereits im ersten Golfkrieg unterstützte der Barsani-Clan auch damals die Invasion der USA

TITELTHEMA DIE FALSCHEN FREUNDE DES IRAK

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Wie ist der Islamische Staat entstanden? Vor einem Jahr kannte kein Mensch den Islamischen Staat. Heute kontrolliert die Gruppe große Gebiete im Irak und Syrien. Das lässt sich nicht mit dem bloßen Verweis auf deren abstoßende Brutalität erklären. Offenbar wird der IS von bestimmten Teilen der sunnitischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten geduldet, wenn nicht sogar unterstützt. IS nannte sich bis vor kurzem noch »Islamischer Staat

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vermeintlich guten und schlechten Kurden. Willfährigen Parteien bekommen Waffen geliefert, die anderen werden als terroristisch eingestuft. Hier ist bereits eine Teile-und-Herrsche-Politik angelegt, die die kurdischen Parteien, die momentan unter dem Druck des gemeinsamen Feindes zusammen kämpfen, am Ende gegeneinander ausspielen soll. Ein unabhängiger kurdischer Staat wird nicht mit Unterstützung westlicher Regierungen oder durch US-amerikanische Luftangriffe entstehen. Die herrschende Klasse in Irakisch-Kurdistan um Barsani setzt auf ein solches Bündnis. Doch ein unabhängiges und überlebensfähiges Kurdistan kann nur entstehen, wenn es innerhalb der kurdischen Gesellschaft zu Solidarisierungen über Staatengrenzen hinweg kommt. Diese zu unterstützen ist eine politische Aufgabe der Linken weltweit.

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Der ehemalige irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki im Jahr 2008. Für acht Jahre kontrollierte er den irakischen Staatsapparat. Im August dieses Jahres musste er schließlich zurücktreten, nachdem sowohl die USA als auch der Iran ihm die Unterstützung entzogen hatten

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Wieso konnte der Islamische Staat plötzlich so stark werden? Im Januar dieses Jahres befand sich Isis – unter dem Druck des Widerstands der syrischen Opposition – auf einem umfassenden Rückzug und musste unter anderem Aleppo verlassen, die größte Stadt des Landes. Im Juni ist die Organisation mit dem Blitzangriff auf die irakische Millionenstadt Mosul als militärischer Akteur zurückgekehrt. Die irakische Armee brach binnen Stunden zusammen, zehntausende Soldaten flohen in Panik. Daraufhin rückte Isis an allen Fronten vor – im Irak und in Syrien. Anführer Baghdadi fühlte sich ermutigt, Eroberungen in anderen Ländern wie Saudi-Arabien anzukündigen, und erklärte sich zum »Kalifen«, zum Führer aller sunnitischen Muslime. Seine Organisation benannte er entsprechend in Islamischer Staat um. Diesen dramatischen Umschwung in der Kräftekonstellation kann man nur mit einem Blick auf die Natur des Regimes erklären, das die US-amerikanischen Besatzer im Irak installiert haben. Um politischen Einfluss auszuüben, teilten sie Machtpositionen im Staatsapparat und im Parlament nach einem ethnisch-religiösen Schlüssel auf. Dies hat zu einem Machtpoker innerhalb der herrschenden Klasse des Irak geführt, der sich an der Unterscheidung nach der Zugehörigkeit zum schiitischen, sunnitischen oder kurdischen Block orientiert. Dem schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki gelang es, Kräfte der sunnitischen Eliten von der Teilhabe an der Macht zu verdrängen. Als Schiit wurde er unter Saddam Husseins sunnitischer Herrschaft verfolgt. Nun drehte er den Spieß einfach um. Die seit einigen Jahren sprudelnden Erdöleinnahmen haben den meisten Menschen im Irak kein besseres Leben beschert. Der Reichtum fließt in die Taschen derjenigen, die den Staatsapparat kontrol-

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ihrem Markenzeichen. Anders als man meinen könnte, ist der IS keine Organisation, die von Klerikern angeführt wird. Tatsächlich hatten viele ihrer führenden Personen bis zum Beginn des Kriegs im Jahr 2003 keinen besonderen Bezug zur Religion. So sind ein Drittel der 25 Stellvertreter des IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadis Personen, die als Offiziere in der irakischen Armee unter Saddam Hussein gedient haben. Saddam hatte vor seinem Sturz eine brutale Diktatur errichtet, aber sie war durch und durch säkular. Baghdadi hat die meisten seiner Stellvertreter kennengelernt, als ihn die US-Armee in Camp Bucca gefangen hielt. IS und seine Vorläufer entstanden in den Gefängnissen der Besatzungsmacht. Dies hat seinen Teil zur Verrohung der Kämpfer beigetragen. Im Jahr 2005 gingen Bilder um die Welt, die zeigten, wie die US-Armee Gefangene systematisch demütigte und folterte – mit Billigung des damaligen Präsidenten George W. Bush.


elle Gründe, denn die Gruppe konnte sich die Kontrolle über einen großen Staatsschatz in der Zentralbank Mosuls sichern. Deren Mittel haben ebenso wie der militärische Erfolg selbst zu einem enormen Wachstum der Organisation geführt. In einem Land, in dem eine Anstellung in der Armee oder in einer der Milizen für viele junge Männer die einzige Berufsperspektive darstellt, ist der IS für einige zum Arbeitgeber geworden. Ausschlaggebend für den Er-

Nicht nur die Milizen des IS begehen Gräueltaten folg des IS ist aber die Tatsache, dass die Sunniten im Irak ausgegrenzt und von der schiitisch dominierten Armee beschossen und bombardiert werden. Das hat den sunnitischen Dschihadisten ermöglicht, Mitstreiter zu gewinnen, die sich sonst kaum IS angeschlossen hätten. Die Verankerung der Organisation beruht nicht auf religiösem Fanatismus, sondern auf dem Gefühl vieler Sunniten, dass der IS sie effektiver als alle anderen Kräfte vor der irakischen Armee schützt. Ist eine neue Regierung unter Einbindung der Sunniten die Lösung? Auch die Regierungen in Washington und Berlin verstehen mittlerweile, dass der IS nur geschlagen werden kann, wenn ein relevanter Teil der Sunniten sich gegen ihn stellt. Deshalb hatten sie Ministerpräsident Maliki nachdrücklich auf die »Einbindung der Sunniten« in die Regierung gedrängt. Doch Maliki stellte sich quer, bis er im August gestürzt wurde. Sein Nachfolger Haidar al-Abadi wird als Hoffnungsträger bezeichnet, der einen versöhnlicheren Ton anschlägt. Doch Abadi stammt aus derselben Partei wie Maliki, der schiitischen Dawa. Bis zu seiner Ernennung als Ministerpräsident ist er niemals als Kritiker Malikis oder der herrschenden Zustände im Irak aufgefallen. Der Krieg ging während und nach der Regierungsumbildung im August weiter. Er folgt einer Logik, welche die Versuche erschwert, die sunnitische Elite gegen den IS zu gewinnen. So hat die irakische Armee auch nach Malikis Sturz weiter Fassbomben gegen Wohngebiete in Falludscha eingesetzt. Diese sind vollgestopft mit 200 bis 300 Kilogramm Sprengstoff und zerstören ganze Häuser. Der sunnitische Stammesälteste Scheich Mohammed al-Badschari spricht von zehn bis fünfzehn Fassbomben pro Tag. Er bezeichnete dies zu Recht als kollektive Bestrafung von Zivilisten. Die Bundesregierung will uns vermitteln, im Irak begingen nur die Milizen des IS Gräueltaten. Damit rechtfertigt sie ihre Beteiligung an dem Konflikt

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lieren, und von dort häufig auf Konten oder in Immobilien in der Schweiz und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Für die einfache Bevölkerung fehlt es an grundlegenden Dingen wie einer sicheren Stromversorgung. Auch Benzin muss teuer importiert werden, weil es an eigenen Raffinerien mangelt. Die kurdische Regionalregierung im nordirakischen Erbil konnte ebenfalls vom Ölreichtum profitieren, nachdem sie eigene internationale Verträge abschloss. Die Folge war ein immer härter geführter Streit mit der schiitisch dominierten Zentralmacht in Bagdad um Ressourcen, Gelder und Territorien. Kurdische Peschmerga haben den Zusammenbruch der irakischen Armee genutzt, um im Schatten der internationalen Aufmerksamkeit das ölreiche Kirkuk zu besetzen. Die Einheit des Irak besteht nur auf dem Papier. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die deutschen Waffen, die zur Bekämpfung des IS an die Peschmerga geschickt worden sind, in Zukunft in einem bewaffneten Konflikt zwischen Bagdad und Erbil zum Einsatz kommen. In diesem Kampf um den Zugang zu Ressourcen sind die sunnitisch geprägten Gebiete ins Hintertreffen geraten. Die Provinz Anbar ist heute das Armenhaus des Irak. Dort, in den Städten Falludscha und Ramadi, brachen im Dezember 2013 Massenproteste gegen die unsoziale Politik der Regierung Maliki aus. Inspiriert waren sie von den Revolutionen in anderen arabischen Ländern. Im Internet sind zahlreiche Dokumente dieser Proteste unter dem Banner »Irakischer Frühling« zu finden. Sie waren weitgehend friedlich, auf den Ausgleich zwischen Schiiten und Sunniten bedacht. Doch westliche Medien nahmen das kaum zur Kenntnis – ebenso wenig wie die Tatsache, dass Falludscha und Ramadi als Hotspots des Volkswiderstands von der irakischen Armee erst eingekesselt und dann blindlings bombardiert worden sind. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat im Mai einen umfangreichen Bericht veröffentlicht, der Angriffe auf Krankenhäuser und Wohngebiete dokumentiert. In die sich entwickelnde militärische Konfrontation zwischen den örtlichen Stämmen und der irakischen Armee mischte sich Isis, aus Syrien kommend, ein. Dem irakischen Regime stand dementsprechend nicht Isis allein, sondern ein Bündnis von sunnitischen Kräften gegenüber, das von der ansässigen Bevölkerung unterstützt wurde. Deshalb scheiterte der Versuch der irakischen Armee, Falludscha zu erobern. Auch in Ramadi ist die Armee mittlerweile eingekesselt und kann sich nur noch selbst verteidigen. Der IS ist also nur ein Teil des bewaffneten Kampfs, der sich aus der Mitte der sunnitischen Bevölkerung rekrutiert. Allerdings ist er durch die Eroberung Mossuls deutlich gestärkt. Das hat durchaus materi-

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Muss die UNO handeln? Die humanitäre Lage im Irak, besonders im Norden, ist dramatisch. Es befinden sich bereits zwanzig Unterorganisationen der Vereinten Nationen im Irak. Sie organisieren eine der größten humanitäre Hilfsaktionen der letzten Jahre. Diese Aktivitäten sind zu begrüßen. Nicht zu begrüßen sind Beschlüsse der UNO, die dem US-amerikanischen Bombardement und anderen militärischen Aktivitäten politische Rückendeckung geben. Die UNO hat einen Anteil am Desaster im Irak. Beispielsweise legitimierte sie die erste von der US-Armee geführte Invasion im Jahr 1991. In den folgenden Jahren verhängte sie Wirtschaftssanktionen, die zu akutem Mangel etwa an Medikamenten führten. Hunderttausende Iraker bezahlten die Militärintervention und das folgende Embargo mit dem Leben. Präsident Barack Obama hat eine internationale Koalition geschmiedet und einen Luftkrieg nach dem Vorbild der US-amerikanischen Angriffe auf Jemen und Somalia angekündigt. Dort sterben unter dem Beschuss durch US-Kampfdrohnen seit Jahren unschuldige Menschen, während die Länder immer tiefer im Krieg versinken. Die angekündigten Angriffe auf Ziele in Syrien stellt eine weitere Eskalation dar. Ein UN-Mandat würde diese Bombenangriffe nicht besser machen, sondern einzig der Verschleierung der tatsächlichen Motive dienen. Auch zeigt sich, dass die US-amerikanischen Bomben nur eine begrenzte Wirkung entfalten. Nach den ersten Luftangriffen hat der IS seine Taktik verändert. Statt gegen den Norden hat er seine Vorstöße nun auf Dschalaula und Chanakin nahe der iranischen Grenze konzentriert. Die Bomben, die unweigerlich auch Zivilisten treffen, können die Kräfte-

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auf Seiten der Peschmerga und des Regimes in Bagdad. Doch nach dem Zusammenbruch ihrer Armee in Mosul kann sich die irakische Regierung nur mit Hilfe schiitischer Milizen halten, die vom Geist des Rassismus gegen die Sunniten erfüllt sind. So brannte Anfang September eine dieser schiitischen Milizen fünfzig sunnitische Dörfer in der Umgebung der Stadt Amerli nieder, nachdem sie diese mit der Unterstützung von US-Armee und Peschmerga erobert hatte. Laut der irakischen Zeitung »As-Saman« wurden dabei achtzehn Sunniten hingerichtet und enthauptet. Selbst wenn es Abadi gelingt, einige Personen aus der sunnitischen Elite in seine Regierung einzubinden, ändert das nichts an der fatalen Logik des interreligiösen Konflikts. Von einer breiten Koalitionsregierung ist zudem keine Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerungsmehrheit zu erwarten, die allein die Grundlage für eine Aussöhnung bieten kann. Echte Einheit, die die Grenzen zwischen Schiiten und Sunniten überwindet, kann nur von unten wachsen.

verhältnisse am Boden verändern und Frontlinien verschieben. Doch solange sich nichts an den sozialen Wurzeln des Konflikts verändert, verschieben sie den Krieg nur in immer neue Gegenden. Das Pentagon hat gegenüber der Presse die begrenzte militärische Wirkung der Bombenangriffe eingeräumt. Ein Vertreter sagte Ende August: »Luftschläge als solche werden die Bodengewinne des Islamischen Staats nicht rückgängig machen können.« Was ist dann die Lösung? Nach Jahren des Kriegs, der Zerstörung und der Etablierung eines rassistisch geteilten Staates kann niemand eine schnelle Lösung präsentieren. Der einzig richtige Weg ist eine Politik, die den Kampf gegen jede ethnisch-religiöse Diskriminierung mit sozialen Forderungen verknüpft. Jegliche Intervention von außen, ob durch die Groß- oder Regionalmächte, ob mit oder ohne UN-Mandat, widerspricht einer solchen Politik. Bomben, die die US-Armee auf den Irak abwirft, können Stellungen des IS treffen und die Organisation militärisch schwächen. Doch politisch geht sie gestärkt hervor, da sie sich als Speerspitze des Widerstands präsentieren und Gegner un-


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ter den Sunniten als Verräter brandmarken kann. Tatsächlich gibt es auf allen Seiten, auch unter den Sunniten, viele, die sich gegen die Logik des ethnisch-religiösen Konflikts stellen. Die »New York Times« berichtete über sunnitische Araber im Sindschar-Gebirge, die sich dem IS angeschlossen und ihn gegen die jesidischen Nachbarn unterstützt haben. Die Zeitung berichtete aber auch über Fälle, in den Sunniten ihr Leben riskiert haben, um verfolgten jesidischen Familien zu helfen. Es gibt sowohl in den arabischen als auch in den kurdischen Städten des Iraks Kerne einer politischen

Linken, die einen Bezugspunkt für die internationale Linke bilden können. Revolutionäre Organisationen aus verschiedenen arabischen Ländern, darunter die Union Irakischer Kommunisten, haben Ende Juni in einer Erklärung dem IS und dem Regime in Bagdad den Kampf angesagt. Zugleich verurteilen sie jede Einmischung durch internationale und regionale Mächte. Wörtlich heißt es: »Es muss eine breite linke Bewegung im Irak gegründet werden. Sie kann auf einem Gefühl des Aufbegehrens der Mehrheit der Menschen aufbauen, die in heruntergekommenen Gebieten leben und sich ihrer sozialen und ökonomischen Rechte beraubt fühlen (…) unabhängig, welcher Glaubensgemeinschaft sie angehören.« Die Linke in Deutschland kann ihren Teil zu diesem Kampf beitragen. Dazu gehört der Widerstand gegen jede Beteiligung der Bundesregierung an dem Bürgerkrieg im Irak, sei es durch Waffenlieferungen, sei es durch die Unterstützung der US-amerikanischen Bombardements, sei es durch UN-mandatierte Militäreinsätze. Die Lösung im Irak kann nur aus dem Irak selbst, von unten erwachsen. ■

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Die UNO hat einen Anteil am Desaster im Irak

»Keine Sanktionen, kein Krieg. Solidarität mit der irakischen Bevölkerung«: Eine Delegation der spanischen Kampagne zur Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak protestiert in Jahr 2002 in Bagdad (gr. Foto). Denn die damaligen UN-Sanktionen treffen vor allem die Bevölkerung. Bis 1990 hatte der Irak eines der modernsten und besten Gesundheitssysteme der Region (kl. Foto). Heute – nach zwei Jahrzehnten westlicher Einmischung – sind große Teile der Bevölkerung von der Grundversorgung abgeschnitten

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Flagge zeigen Zur Bekämpfung der IS-Terrormilizen unterstützt der Westen jetzt kurdische Organisationen. Doch deren größte ist in Deutschland weiterhin verboten Von Florian Wilde

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Florian Wilde ist Historiker und arbeitet als gewerkschaftspolitischer Referent in der Rosa-LuxemburgStiftung. Von 2012 bis 2014 war er Mitglied des Parteivorstandes der LINKEN.

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nfang August: Im Nordirak, nahe der syrischen Grenze, erstürmen die Terrormilizen des Islamischen Staats (IS) eine Gegend, die von der jahrtausendealten Glaubensgemeinschaft der Jesiden bewohnt wird. Eigentlich hat die Regierung der Autonomen Region Kurdistan hier Streitkräfte stationiert, die sogenannten Peschmerga. Doch die ergreifen kampflos die Flucht. Verzweifelt flehen die Jesiden, mehrheitlich ethnische Kurden, die Peschmerga an, ihnen Waffen zu überlassen, um sich zumindest selbst verteidigen zu können. Vergeblich. Zu Zehntausenden müssen sie schutzlos in die Berge fliehen. An denen, die zurückbleiben, verübt der IS einen Völkermord: Tausende werden umgebracht, hunderte lebendig in Massengräbern beerdigt. Die Terrormilizen vergewaltigen unzählige Frauen, verschleppen sie und bieten sie auf Sklavenmärkten feil. Uralte heilige Stätten der Jesiden werden gesprengt. Aber auch denen, die fliehen können, droht eine humanitäre Katastrophe: Eingeschlossen in den Bergen, ohne Wasser und Nahrung, bei sengender Hitze und vom IS verfolgt, warten sie von aller Welt verlassen auf den nahenden Tod. Doch plötzlich kommt unerwartete Hilfe: Einheiten der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) brechen von Nordsyrien aus durch die Linien des IS, Guerilleros der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) stoßen vom Norden und Einheiten der iranischen PKK-Schwester PJAK (Partei für ein freies Leben in Kurdistan) vom Osten aus zu den eingeschlossenen Jesiden vor. Gemeinsam kämpfen sie einen Fluchtkorridor frei, durch den Zehntausende in die befreiten Kurdengebiete im Norden Syriens gelangen. Erst Tage später beginnen die Bombenangriffe der USA und die Offensive

der mit ihnen verbündeten Peschmerga gegen den IS. Überlebende Jesiden schilderten immer wieder westlichen Journalisten: »Es waren nicht die Amerikaner. Gott und die PKK haben uns gerettet!« Die nordsyrischen Kurden kamen den Jesiden zur Hilfe, obwohl sie selbst vom IS tödlich bedroht wurden. Es handelt sich hierbei um Kräfte, die unter Führung der Partei der Demokratischen Union (PYD) stehen, einer Schwesterorganisation der PKK. Als die Syrische Revolution ausbrach, erhoben sie sich gegen Diktator Assad und vertrieben dessen Truppen aus dem Norden des Landes. Anschließend erklärten sie sich neutral im Bürgerkrieg und beschränkten sich auf die Verteidigung ihrer Gebiete. Hier schufen sie ein ganz einzigartiges, auf Selbstverwaltungsstrukturen gestütztes demokratisches Gemeinwesen, das sie Rojava nennen. Dort gibt es festgelegte Quoten für die Beteiligung von Frauen im Parlament und auf allen Ebenen der Verwaltung, ebenso wie für ethnische und religiöse Minderheiten. Zur Verteidigung wurden die parteiübergreifenden YPG-Einheiten geschaffen, die auch große eigenständige Fraueneinheiten umfassen. Inmitten des Alptraumes des syrischen Bürgerkrieges entstand so eine Insel der Hoffnung auf Selbstbestimmung und Emanzipation. Doch sie war von Anfang an bedroht: Die Türkei schloss die Grenzen, um die kurdische Selbstverwaltung auszuhungern. Zudem unterstütze Ankara die islamistische Terrorgruppe Isis, den Vorläufer des IS, die vom Süden aus die Kurdengebiete angriff. Als den IS-Milizen bei der Eroberung der nordirakischen Millionenstadt Mosul umfangreiche Waffenbestände der fliehenden Armee inklusive schwerem Kriegsgerät aus US-amerikanischer Produktion in

»Gott und die PKK haben uns gerettet!«


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die Hände fielen, schafften sie diese Waffen nach Syrien. Dort starteten sie im Juli eine Großoffensive gegen Kobane, ein Zentrum der kurdischen Selbstverwaltung. Die militärisch unterlegenen YPG rüsteten sich für einen verzweifelten Abwehrkampf. Doch sie bekamen Unterstützung von außen: Überall im türkischen Teil Kurdistans sammelten die Menschen Geld, Nahrungsmittel und Medikamente, um das belagerte Kobane zu unterstützen. Tausende errichteten Camps entlang der Grenze, um in einem Akt zivilen Ungehorsams die Grenzanlagen zu demontieren und die türkische Blockade Rojavas zu durchbrechen. Die PKK schickte hunderte ihrer GuerillaKämpfer aus den Bergen in den Kampf um Kobane. Freiwillige aus ganz Kurdistan, aber auch Mitglieder linker türkischer Parteien, schlossen sich ihnen an. Diese Solidarität hatte Erfolg: Die IS-Offensive wurde gestoppt, Kobane ist bisher nicht gefallen, das bedrohte demokratische Experiment in Rojava besteht fort. Die Offensive des IS in Syrien und dem Irak hat die Kurdenfrage wieder ins Zentrum der Weltpolitik gerückt. Zugleich werden die Widersprüche in der Politik des Westens deutlich. Seine Verbündeten Türkei, Saudi-Arabien und Katar tolerierten zumindest lange Zeit die Aufrüstung des IS. Zugleich verfolgen

die USA, die EU und die Bundesrepublik mit der PKK ausgerechnet die Kraft, die sich am entschiedensten und erfolgreichsten dem IS entgegenstellte, als Terrororganisation. Die Kurden sind das größte Volk der Welt ohne eigenen Staat. Als die imperialistischen Mächte nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen des Nahen Ostens neu zogen, blieben ihre nationalen Interessen unberücksichtigt. Heute leben bis zu achtzehn Millionen Kurden in der Türkei, zwischen fünf und sieben Millionen im Iran, fünf Millionen im Irak und zwei Millionen in Syrien. Die Geschichte der Kurden im 20. Jahrhundert ist eine Geschichte der Unterdrückung und des Widerstands. Immer wieder kam es zu Aufständen für nationale Unabhängigkeit, demokratische Freiheiten und kulturelle Selbstbestimmung. Im Iran entstand nach dem Zweiten Weltkrieg für kurze Zeit ein eigener Staat, der sich an der Sowjetunion orientierte. Auch nach dessen Eroberung durch persische Truppen setzten linke kurdische Gruppen den Kampf fort – erst gegen die Diktatur des Schahs, später gegen das Regime der Mullahs. Zentrum der kurdischen Widerstandsbewegung wurde aber für viele Jahre der Irak. Hier waren es vor allem zwei Parteien, die den Kampf gegen den Diktator Saddam Hussein und für ein unabhängiges Kurdistan führten: die traditi-

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Kurdische Kämpferinnen im März 2014 in Syrien. Die kurdische Miliz verfügt über eigene Fraueneinheiten

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GEORGIEN ARMEN IEN

TÜRKEI 14,3 Millionen Kurden IRAN 7,8 Mio.

SYRIEN 2 Mio. IRAK 5,4 Mio. Gebiete mit überwiegend kurdischer Bevölkerung

Das größte Volk der Erde ohne eigenen Staat: Weltweit leben etwa dreißig Millionen Kurdinnen und Kurden, die meisten von ihnen in der Türkei. Aber auch im Iran, Irak und Syrien gibt es bedeutende kurdische Minderheiten

Autonome Region Kurdistan im Irak

Glossar IS (Islamischer Staat) Reaktionäre salafistische Organisation, deren Ziel die gewaltsame Errichtung eines Gottesstaats in Syrien und im Irak ist. Bis Juni 2014 wurde die Gruppe Isis genannt. Jesiden Religiöse Minderheit im nördlichen Irak, in Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei. Die meisten der 800.000 Angehörigen sprechen Nordkurdisch. KDP (Demokratische Partei Kurdistans) Traditionalistisch-konservative kurdische Partei im Irak, geführt vom Barsani-Clan. Peschmerga Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak, stehen KDP und PUK nahe. PJAK (Partei für ein freies Leben in Kurdistan) Kurdische Guerillaorganisation im Iran, Schwesterorganisation der PKK. PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) Linke kurdische Untergrundorganisation in der Türkei, in Deutschland verboten. PUK (Patriotische Union Kurdistans) Sozialdemokratische kurdische Partei im Irak, geführt von Talabani-Clan. PYD (Partei der Demokratischen Union) Kurdische Partei in Syrien, Schwesterpartei der PKK. Schuf in Nordsyrien während des Bürgerkriegs ein auf Selbstverwaltungsstrukturen gestütztes demokratisches Gemeinwesen (»Rojava«). YPG (Volksverteidigungseinheiten) Kurdische Miliz in Syrien, stehen der PKK und der PYD nahe.

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onalistisch-konservative Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und die ideologisch etwas fortschrittlichere Patriotische Union Kurdistans (PUK). Die als Peschmerga bekannt gewordenen kurdischen Freiheitskämpfer wurden bald zu Spielbällen ausländischer Mächte. Während des irakisch-iranischen Krieges der Jahre 1980 bis 1988 unterstützte der Irak die iranischen Kurden, während der Iran die irakischen Kurden aufrüstete. Der Westen unterstützte seinen Verbündeten Saddam Hussein bei der blutigen Niederschlagung kurdischer Aufstände. In der kurdischen Kleinstadt Halabja tötete erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsches Giftgas massenhaft Menschen: Deutsche Konzerne hatten es an den irakischen Diktator geliefert. Die Lage änderte sich, als Saddam Hussein im Jahr 1990 Kuwait überfiel. Plötzlich wurden die irakischen Kurden zu Verbündeten der USA im Golfkrieg. Zur Belohnung für ihren Einsatz errichteten die USA in den 1990er Jahren eine Flugverbotszone im Nordirak, in deren Schutz die Kurden die irakischen Truppen vertrieben. Auch im zweiten Golfkrieg des Jahres 2003 kämpften die Kurden auf Seiten der USA und bekamen dafür nach dem Sturz Saddams eine autonome Region im Nordirak. Sie stand unter Kontrolle von KDP und PUK, umfasste allerdings nur einen Teil der von den Kurden im Irak bewohnten Gegenden. Auch die PKK konnte hier Stützpunkte für ihren Guerillakampf gegen den türkischen Staat errichten. In der Türkei kam es ebenfalls immer wieder zu kurdischen Aufständen. Hier war die Unterdrückung der Kurden besonders hart, denn ihre Existenz passte nicht in das Konzept eines rein türkischen Nationalstaates von Staatsgründer Atatürk. Sie durften ihre Sprache nicht sprechen, die Verwendung kurdischer Namen war ebenso verboten wie die von Buchstaben wie dem W und dem X, die zwar das kurdische, nicht aber das türkische Alphabet kennt. In den 1970er Jahren entstanden in der Türkei vor dem Hintergrund großer Arbeiter- und Studierendenbewegungen zahlreiche linke Parteien, darunter auch die PKK. Sie wurde 1978 von einer Gruppe linker Aktivisten um Abdullah Öcalan gegründet. Die Partei gab sich ein marxistisch-leninistisch inspiriertes Programm und orientierte auf eine bewaffnete Revolution, um ein unabhängiges und sozialistisches Kurdistan zu erkämpfen. Als im Jahr 1980 rechtsradikale Militärs in der Türkei putschten und die linken Gruppen unterdrückten, musste auch die PKK ins Ausland ausweichen. Sie fand Unterschlupf in Ausbildungscamps der linken palästinensischen Befreiungsfront PFLP im Libanon, an deren Seite sie 1982 gegen die israelische Invasion im Libanon kämpfte. Im Jahr 1984 begann die PKK einen blutigen Guerillakrieg im türkischen Teil Kurdistans und baute bald eine Massenbasis unter der kurdischen Bevölkerung auf. So kam es in den frühen 1990ern


unter ihrer Führung zu Volksaufständen, die als »kurdische Intifada« bekannt wurden. Wegen ihres autoritären Führungsstils und ihres Nationalismus gab es aber auch von linker Seite immer Kritik an der PKK. Im Jahr 1999 verschleppte der türkische Geheimdienst den Vorsitzenden Öcalan in die Türkei, wo er seitdem auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert ist.

Ihnen stehen innerhalb der kurdischen Bewegung die korrupten pro-imperialistischen Parteien KDP und PUK gegenüber. Diese setzen auf einen eigenen Staat im Nordirak und werden vom Westen unterstützt, der sich davon ungehinderten Zugriff auf die dortigen Ölfelder und ein Zurückdrängen der antiimperialistisch-demokratischen Bewegungen aus dem Umfeld der PKK erhofft. Es gibt starke Hinweise darauf, dass die Führung der nordirakischen Kurden absichtlich ihre Einheiten abzog und die Jesiden schutzlos dem IS überließ, um den Westen zum Eingreifen und zu Waffenlieferungen zu bewegen. Mit Erfolg: Tatsächlich wird die Peschmerga-Armee nun mit Waffen beliefert. Nicht zum Plan gehörte jedoch das entschlossene Eingreifen der PKK zugunsten der Jesiden – und vor allem, dass ihr das größte Sympathien unter der kurdischen Bevölkerung beschert hat. Tausende Jesiden haben sich der PKK und YPG angeschlossen und bauen nun, von ihnen ausgebildet, ihre eigenen Selbstverteidigungseinheiten auf. Sie bräuchten dringend moderne Waffen. Doch über Lieferungen an sie spricht niemand: Sie gelten dem Westen weiter als »Terroristen«. Waffenlieferungen an die Führung der irakischen Kurden sind hingegen der falsche Weg und sollten von Linken abgelehnt werden. Denn sie zielen darauf ab, den Einfluss imperialistischer Mächte in der Region zu stabilisieren – eben jener Mächte, deren Politik den Aufstieg des IS erst ermöglichte. Es ist gut möglich, dass diese Waffen schon bald zur Bekämpfung der PKK eingesetzt werden. Die Linke in Deutschland sollte stattdessen eine kraftvolle Kampagne gegen das PKK-Verbot organisieren. Dessen Aufhebung würde eine direkte Stärkung der bedeutendsten linken Formation des Nahen Ostens bedeuten und zugleich imperialistische Interessen schwächen. Angesichts von etwa 800.000 Kurden, die in Deutschland leben, wäre die Forderung auch stark mobilisierungsfähig. Die Aufhebung des PKK-Verbots ist durchaus durchsetzbar: Selbst konservativen Medien fällt der Widerspruch zwischen dem Kampf gegen den IS und der fortgesetzten Unterdrückung der PKK durch die Bundesregierung auf. Linke sollten Demonstrationen gegen das Verbot organisieren und die verbotenen Fahnen und Symbole der PKK offensiv zeigen. Das wären konkrete und sichtbare Formen der antiimperialistischen Solidarität mit fortschrittlichen und demokratischen Bewegungen im Nahen Osten. ■

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Die deutsche Linke sollte sich für die Aufhebung des PKK-Verbots einsetzen

Als Öcalan verhaftet wurde, war die PKK hierzulande schon seit sechs Jahren verboten. Noch Anfang der 1990er Jahre war sie mit über 15.000 Mitgliedern eine der stärksten linken Gruppen in Deutschland überhaupt. Immer wieder organisierte sie Demonstrationen und Aktionen gegen die brutale Unterdrückung in der Türkei und die fortgesetzten deutschen Waffenlieferungen an den NATO-Partner. Mit dem Verbot im Jahr 1993 wollte die Bundesregierung einerseits die Türkei im Kampf gegen deren schärfsten Gegner unterstützen. Andererseits ordnet sich das PKK-Verbot in die rassistische und ausländerfeindliche Politik dieser Zeit ein: Begleitet von einer Medienkampagne gegen die »Terror-Kurden« wurde einer der größten migrantischen Gruppen in Deutschland ein faktisches politisches Betätigungsverbot erteilt. Bald folgten USA und die EU, die die PKK auf ihre »Terrorlisten« setzten. Bis heute genügen PKK-Symbole der deutschen Polizei als Anlass, um Demonstrationen anzugreifen. Nach der Verhaftung Öcalans begann in der kurdischen Bewegung eine Phase kritischer Selbstreflexion und Neuorientierung. Getragen von der Erkenntnis, dass ein eigener Staat keineswegs ein Garant für Demokratie und Freiheit sein muss, wurde die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit von dem Konzept eines »demokratischen Konföderalismus« abgelöst, der auf eine Assoziation lokaler demokratischer Selbstverwaltungsstrukturen innerhalb der bestehenden Staaten abzielt. Feministische und ökologische Forderungen bekamen einen großen Stellenwert. In der Türkei wurde ein Bündnis kurdischer und linker türkischer Parteien mit Frauenund LGBT-Bewegungen aufgebaut. Der Kandidat dieses Bündnisses, Selahattin Demirtaş, erhielt bei der Präsidentschaftswahl im August dieses Jahres fast zehn Prozent der Stimmen. Unter der Führung der PKK und ihrer Schwesterorganisationen entstanden überall in Kurdistan starke Basisbewegungen, die für Demokratie, Geschlechtergleichheit und soziale Gerechtigkeit kämpfen.

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SCHWERPUNKT Erneuerung durch Streik

Š marx21

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Angriff aufs Streikrecht Bernd Riexinger Ăźber die Tarifeinheit

Arbeitskampf im Exil Wie sich Spanier in Berlin organisieren


Antikapitalistisch und konfliktorientiert An einem Wiederaufbau gewerkschaftlicher Kampfkraft führt kein Weg vorbei. Die Linke – groß und klein geschrieben – kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Fünf Thesen für eine notwendige gewerkschaftliche Neuformierung VoM NETZWERK MARX21 zent der Beschäftigungsverhältnisse im Westen und 43 Prozent im Osten unter einen Tarifvertrag. Immer mehr abhängig Beschäftigte arbeiten in einem Unternehmen, das weder einen Betriebsrat noch einen Tarifvertrag hat. Letztes Jahr traf dies auf 35 Prozent im Westen und sogar 46 Prozent im Osten zu. Deutschland hat einen der größten Niedriglohnsektoren Europas. Bei der Mitgliederentwicklung scheint die Talsohle erreicht. Aber eine Trendwende sieht anders aus. Weniger als jeder fünfte abhängig Beschäftigte ist heute Gewerkschaftsmitglied, vor zwanzig Jahren war es noch jeder Dritte. Statt auf die eigene Kampfkraft zu setzen oder diese aufund auszubauen, versuchen die Gewerkschaftsspitzen politischen Lobbyismus zu betreiben, vor allem über die SPD aber auch mit der Bundeskanzlerin. Die SPD hofft davon zu profitieren und verlorenes Vertrauen zurück zu gewinnen – bisher mit wenig Erfolg. Die Gewerkschaftsführung verwechselt gewerkschaftliche Kampfkraft mit sozialpartnerschaftlicher Politik. »Wir haben in unserer Politik im Doppelspiel von Sozialpartnerschaft und Gegenmacht eine vernünftige Balance gefunden«, meint Sommer. Tat-

Ein Mindeslohn »light« ist noch keine Trendwende

SCHWERPUNKT Erneuerung durch Streik

1.

Eine ehrliche Bestandsaufnahme ist nötig »Der Motor läuft wieder«, freute sich der soeben aus dem Amt geschiedene DGB-Vorsitzende Michael Sommer im Mai dieses Jahres. Mit Blick auf den kommenden Mindestlohn und kleinere Korrekturen bei der Rente sieht er die Gewerkschaften im Aufwind. Sie seien »wieder eine starke, gestaltende Kraft in diesem Land. Wir sind gesellschaftlich anerkannt, wir haben die Trendwende in der Mitgliederentwicklung erreicht und sind stabilisiert.« Doch das entspricht eher einem Wunschbild als der Realität. Um wirkliche Fortschritte zu machen, ist zunächst eine aufrichtige Analyse der Situation notwendig. Dass der Mindestlohn kommt, ist ein Erfolg. Aber es ist ein Mindestlohn »light«, der nicht imstande ist, den Niedriglohnsektor auszutrocknen, geschweige denn die prekäre Beschäftigung einzudämmen. Gewerkschaftliche Stärke zeigt sich darin, ob und wie es gelingt, kollektiv gute Arbeitsbedingungen und Löhne durchsetzen. Seit Jahren passiert das immer seltener. Im Jahr 2014 fallen nur noch sechzig Pro-

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sache ist: Seit Jahren stagnieren die Arbeitskämpfe auf einem niedrigen Niveau. Selbst für einen Mindestlohn, der seinen Namen verdient, haben die Gewerkschaften keine große gesellschaftliche Mobilisierung angestoßen. Die gewonnene Akzeptanz in Politik und Wirtschaft, von der Sommer spricht, ist ein Lob der Herrschenden für das zurückhaltende Agieren und die Zugeständnisse der Gewerkschaften. Darauf kann man nicht stolz sein – und schon gar nicht für die Zukunft aufbauen. An einem Wiederaufbau gewerkschaftlicher Kampfkraft mit einem konfliktorientierten, antikapitalistischen Kurs führt kein Weg vorbei. Erste Anzeichen lassen hoffen, dass dies möglich ist. Die Linke muss sich hier aktiv einbringen. Denn ohne starke klassenkämpferische Gewerkschaften keine Änderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse! Die Grundlage für die Sozialpartnerschaft ist schmal und brüchig Es ist illusorisch, auf eine Erneuerung der Sozialpartnerschaft zu setzen, die ohne große Kämpfe in Verhandlungen mit Arbeitgebern soziale Errungenschaften gewährleistet. Einerseits wird die Basis einer Sozialpartnerschaft jenseits der Kernsektoren der Metall- und Chemieindustrie immer schmaler. Die Arbeitgeber in den wachsenden Branchen des Dienstleistungssektors sind kaum bereit, den Beschäftigten kampflos Zugeständnisse in Form guter Tarifverträge zu machen. Vielmehr werden vorhandene Flächentarifverträge in Frage gestellt, wie 2013 im Einzelhandel, oder erst gar nicht abgeschlossen. Nur durch den Aufbau eigener Kampfkraft werden die Gewerkschaften die Unternehmen in Tarifverträge zwingen können. Andererseits ist selbst in den Großbetrieben der Metall- und Chemieindustrie die Basis der Sozialpartnerschaft äußerst brüchig und schon längst nicht mehr das, was sie einmal war. Leiharbeit, befristete Jobs und Dumpingwerkverträge haben sich wie ein Krebsgeschwür festgesetzt. Das gewerkschaftliche Co-Management in der Automobilindustrie führt dazu, dass die Arbeit der Kernbelegschaften für steigende Profite verdichtet und flexibilisiert wird. In Wirklichkeit sind die angeblichen Erfolge der Sozialpartnerschaft dort nur leidige Ergebnisse einer konfliktarmen Gewerkschaftspolitik, die zu Zugeständnissen bereit ist. Die ideologische Fessel der Sozialpartnerschaft ist die Bindung an das kapitalistische Konkurrenzprinzip. Es hilft nichts, die bestehenden Verhältnisse zu leugnen. Stattdessen müssen Alternativen aufgezeigt werden. Es ist keine Perspektive, den Wettbewerbsdruck in den Branchen mit immer neuen Kürzungsrunden zu begleiten. So wird nur eine Spirale nach unten aufrechterhalten. Beispielhaft steht dafür die Warenhauskette Karstadt. Dort haben der

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Foto Mitte: Einzelhandelsstreik in Stuttgart 2013: Die Erfahrungen aus der Schwabenmetropole zeigen, dass es in den Betrieben, in denen Tarifbewegungen konfliktorientiert und partizipativ geführt werden, möglich ist kämpferische Belegschaften aufzubauen

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Gesamtbetriebsrat und ver.di die Schließung von Standorten und die Aufkündigung der Tarifverträge durch das Management von Milliardär Nicolas Berggruen kampflos akzeptiert, in der Hoffnung, so das Unternehmen zu retten. Genützt hat das alles nichts, der nächste Kahlschlag steht bevor. Die materielle Grundlage der Sozialpartnerschaft steht und fällt mit dem boomenden Export. Bricht dieser ein oder verändern sich die Rahmenbedingungen, sind auch die organisationsstarken Industriegewerkschaften mit ihrem Latein am Ende. In der Krise wurden hunderttausende Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer sowie befristet Beschäftigte nach Hause geschickt. Opel ist hier ein warnendes Beispiel. Als Reaktion auf die tiefgreifende Unternehmenskrise haben die IG Metall und der Gesamtbetriebsrat einzelne Standorte gegeneinander ausgespielt und letztlich den Standort Bochum geopfert. Vor diesem Hintergrund wäre es mehr als fahrlässig, in den Gewerkschaften auf eine Erneuerung der Sozialpartnerschaft zu setzen.

SCHWERPUNKT Erneuerung durch Streik

© ver.di / Joachim E. Roettgers

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Ermutigende Kampferfahrungen verallgemeinern Es stimmt zwar, dass in Deutschland in den vergangenen Jahren große soziale Kämpfe ausgeblieben sind. Dafür häufen sich seit einiger Zeit erfolgreiche Kampferfahrungen, die manchmal nur einen Betrieb betreffen, manchmal aber auch größere Teile einer Branche. Dazu zählt die überraschend hohe Streikbeteiligung der Reinigungskräfte und Erzieherinnen im Jahr 2009. Dazu zählen ebenso die erfolgreichen Streiks von Sicherheitskräften an den Flughäfen oder auch der Beschäftigten des Einzelhandels zur Verteidigung ihres Manteltarifvertrages im Jahr 2013. Dazu kommen zahlreiche Konflikte in einzelnen Betrieben um die Einführung von Haustarifverträgen, wie zum Beispiel bei Amazon. Zum Teil sind diese Konflikte Abwehrreaktionen gegen Angriffe der Arbeitgeber, immer häufiger aber auch Ausdruck offensiver Forderungen. Weil dort nicht annähernd so viele gestreikt haben wie in den Warnstreikwellen in der Metallbranche oder Teilen des öffentlichen Dienstes, werden diese Kämpfe oft weniger wahrgenommen. Aber sie sind härter als die ritualisierten Warnstreiks: Sie dauern wochen- oder monatelang und die Beschäftigten entfalten eine viel größere Eigenaktivität. Insgesamt werden die Kämpfe von den Aktiven meist als Erfolg bewertet, selbst dann, wenn sie mit den unmittelbaren Ergebnissen nicht immer zufrieden sind. Denn die Beschäftigten sammeln Erfahrungen von kollektiver Stärke und Selbstvertrauen und beginnen politische Diskussionen über die gesellschaftlichen Hintergründe des Konflikts. Die Streikenden sind oft weiblich und arbeiten häufig in Dienstleis-

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tungsberufen. Sie repräsentieren das neue Gesicht der Arbeiterklasse. Die Erfahrung aktiver Auseinandersetzungen und das daraus erwachsende Selbstvertrauen führen häufig zu einer politischen Hinwendung nach links. Für sich genommen sind die einzelnen Erfahrungen sehr ermutigend. Aber das Problem ist: Über die unmittelbar Betroffenen hinaus beteiligen sich die Gewerkschaften und die Linke zu wenig. Die Erfahrungen werden nicht ausreichend verallgemeinert. Wir können keine großen Kämpfe herbeireden. Wir können aber die vorhandenen Kämpfe unterstützen und vernetzen. So ist es möglich, mittelfristig deutlichere Spuren einer erfolgreichen konfliktorientierten Gewerkschaftspolitik zu hinterlassen.

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Neue Möglichkeiten und Verantwortungen für die Linke Für eine Linke (groß und klein geschrieben), die sich die Überwindung des Kapitalismus zum Ziel gesetzt hat und dabei auf die kollektive Kraft der Arbeiterklasse setzt, eröffnet diese Entwicklung viele Möglichkeiten. Zugleich nimmt sie sie in die Pflicht. Hier bietet sich die Gelegenheit für praktischen Antikapitalismus. Eine radikale Linke, welche die Beteiligten solcher Konflikte unterstützt, kann weit über ihr begrenztes soziales Milieu hinaus wirken – vorausgesetzt, die Belange und Forderungen der Beschäftigten sind die Grundlage der Unterstützungsarbeit. Ob sich relevante Teile der antikapitalistischen radikalen Linken darauf einlassen, wird auch darüber entscheiden, ob sie weiterhin ein Nischendasein führen oder breiter ausgreifen und gesellschaftlich bedeutsamer werden. Die Mitstreiterinnen und Mitstreiter der Partei DIE LINKE sind gefordert, sich von einer verengten parlamentarischen Perspektive zu lösen. Dafür müssen wir Schritte hin zu einer Bewegungspartei machen, die soziale Bewegungen, insbesondere Klassenkämpfe, als zentrales Moment der gesellschaftlichen Veränderung begreift. Es geht darum, mit den Betroffen, die selbst aktiv werden, für eine konkrete Verbesserung ihrer Lebensumstände zu kämpfen. Zugleich muss die Partei ideologisch eine Alternative zum Kurs der Sozialpartnerschaft anbieten. Zwischen Teilen der radikalen Linken und kämpferisch orientierten Teilen der Gewerkschaften kann DIE LINKE eine wichtige Scharnierfunktion erfüllen. Vor allem aber macht eine solche praktische Unterstützungsarbeit in den Konflikten einen realen Unterschied. Sie stärkt und vernetzt kämpferische Kolleginnen und Kollegen, befördert ein Ausgreifen und ermutigt dazu, weitere Schritte in diese Richtung zu gehen. Ansatzweise gelang dies in Berlin mit der Unterstützung für den Streik der Beschäftigten im Einzelhandel. Linke Streikunterstützer machten sehr

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inspirierende Erfahrungen, wozu Beschäftigte, die kämpfen, in der Lage sind. Zugleich wurde ein Prozess der Selbstbefähigung der Beschäftigten befördert. Dieser bewirkte maßgebliche und nachhaltige Ergebnisse für die gewerkschaftliche Neuformierung in diesem Bereich. Das Vorhaben der nächsten Jahre muss es sein, die Chancen, die sich zur Erneuerung der Gewerkschaften bieten, gezielter zu nutzen.

SCHWERPUNKT Erneuerung durch Streik

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Kitastreik 2015: Mit der Aufwertungskampagne der Sozial- und Erziehungsdienste ein Zeichen setzten Wie ist es möglich, innerhalb der Gewerkschaften mehr für eine kämpferische Neuformierung zu bewirken? Zunächst bedarf es einer gezielten strategischen Orientierung. Eine große Chance bietet in vielerlei Hinsicht der für das Jahr 2015 anstehende Tarifkonflikt bei Erzieherinnen und Erziehern zur Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste. Die derzeit diskutierten Forderungen nach einer Höhergruppierung werden sich nicht ohne Streik durchsetzen lassen. Viele Beschäftigte haben Kampferfahrung aus dem Jahr 2009, als sie gegen Gehaltsabsenkungen durch den neu eingeführten Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TvöD) gestreikt haben. Mitten in der Krise, im größten Abschwung der Nachkriegszeit, zeigten die Kita-Beschäftigten – die in der Vergangenheit bei den Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst so gut wie keine Rolle gespielt hatten, ja sogar als »unorganisierbar« galten –, dass sie willens und in der Lage sind, erfolgreich für ihre Interessen einzutreten. Die Spaltung von Alt- und Neubeschäftigten wurde aufgehoben. Hier steht eine bundesweite Auseinandersetzung an, die potenziell einige hunderttausend Beschäftigte betrifft. Die Erfahrungen des vorherigen Streiks zeigen, wie wichtig öffentliche Unterstützung, insbesondere der Eltern, für den Erfolg des Arbeitskampfs ist. Unterstützungsarbeit soll aber nicht nur die Streikenden stärken und unentschlossene Beschäftigte ermutigen. Sie soll zudem dazu beitragen, sich bundesweit auszutauschen und Erfahrungen zusammenzubringen. Ideologisch ist mit dem Tarifkonflikt die Frage der Umverteilung eng verbunden. Denn gute öffentliche Dienste, die allen kostenlos zur Verfügung stehen, wird es nur geben, wenn der gesellschaftliche Reichtum anders verteilt wird. Dafür lässt sich gut um öffentliche Unterstützung werben. Ein Erfolg dieser Auseinandersetzung wäre auch für andere Branchen richtungsweisend. Zudem kann er strategisch ein wichtiger Schritt zu einer kämpferischeren Ausrichtung der Gewerkschaften werden. Deshalb ist hier besondere Unterstützung nötig: Wir müssen den Kita-Konflikt zur Schlüsselauseinandersetzung des Jahres 2015 machen. ■

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SCHWERPUNKT

Um Hegemonie kämpfen In der Diskussion über die Neuregelung der Tarifeinheit werden verschiedene Gewerkschaften gegeneinander ausgespielt. Doch statt uns spalten zu lassen, sollten wir jetzt die Frage nach dem Ganzen stellen Von Bernd Riexinger ★ ★★

Bernd Riexinger ist Parteivorsitzender der LINKEN. Zuvor war er Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart.

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ie Große Koalition plant derzeit unter der Überschrift »Gesetzliche Regelung des Grundsatzes der Tarifeinheit« eine Einschränkung des Streikrechts. Tarifeinheit bedeutet zunächst, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Gültigkeit beanspruchen kann, auch wenn verschiedene Gewerkschaften unterschiedliche Verträge mit dem Unternehmen abgeschlossen haben. Dies war in Deutschland lange gesetzlich vorgeschrieben. Im Jahr 2010 kippte das Bundesarbeitsgericht jedoch dieses Gesetz. Nun will die Bundesregierung in Abstimmung mit Unternehmerverbänden und DGBGewerkschaften das »betriebsbezogene Mehrheitsprinzip« gesetzlich festschreiben. Die im Betrieb stärkste Gewerkschaft hätte dann bei Tarifverhandlungen den Vorrang und damit auch nur sie allein die Möglichkeit, legale Warn- und Erzwingungsstreiks zu organisieren. Die kleinere(n) Gewerkschaft(en) wären an die Friedenspflicht gebunden. Das Gesetzesvorhaben richtet sich im Kern gegen Streiks von Berufsgruppen- und Spartengewerkschaften wie der GDL, Vereinigung Cockpit oder Marburger Bund. Diese nutzen die hohe strukturelle Verhandlungsmacht von Krankenhausärztinnen und -ärzten, Lockführerinnen und Lockführern oder Pilotinnen und Piloten, die durch ihre Streiks

schnell hohe Kosten verursachen können, um für diese Gruppen unabhängig von anderen Beschäftigtengruppen im Betrieb gezielt hohe Tarifabschlüsse durchzusetzen. Arbeitsrechtler haben wiederholt massive Kritik am Gesetzesvorhaben geübt: Jeder Versuch, das Streikrecht kleinerer Gewerkschaften mit Verweis auf die Tarifeinheit zu beschränken, sei verfassungswidrig. Ohne das Streikrecht würden Tarifverhandlungen zum »kollektiven Betteln«, wie es das Bundesarbeitsgericht formuliert. Die Gewerkschaften sind in dieser Frage gespalten. Als Reaktion auf die Aufhebung des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das Bundesarbeitsgericht entstand schon im Jahr 2010 der Versuch, ein Bündnis von DGB und Arbeitgeberverbänden gegen die Berufsgruppengewerkschaften zu schmieden. Doch das scheiterte am Widerstand in verschiedenen DGB-Gewerkschaften. Auf dem DGB-Bundeskongress im Mai dieses Jahres setzten sich die Kritikerinnen und Kritiker des Gesetzesvorhabens durch. Der gefällte Beschluss lässt jedoch Interpretationsspielräume: Einerseits wird das »Bekenntnis der Großen Koalition zu Tarifautonomie, Tarifeinheit und Sozialpartnerschaft« hervorgehoben, andererseits jeder Eingriff in das Streikrecht und die Tarifau-


© Alexander Hömme CC BY-ND / flickr.com

roth gezeigt hat, immer auch ein Kampf antagonistischer Kräfte und Interessen um die Auslegung und Durchsetzung von Verfassungsnormen in der Verfassungswirklichkeit. Sollte die Regierung das Gesetz tatsächlich beschließen, stehen die Gewerkschaften vor der Herausforderung, das Streikrecht mit politischem Druck zu verteidigen. Die Gewerkschaftslinke organisiert beispielsweise Initiativen hierzu und DIE LINKE kritisiert das Gesetzesvorhaben massiv. Es muss jetzt darum gehen, die Aufklärungsarbeit in den Betrieben voranzutreiben. Für die Gewerkschaftsbewegung ist es zentral, Gegenstrategien zu entwickeln, die die Durchsetzungsmacht der Lohnabhängigen und die gemeinsame politische Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften stärken. Dafür sollten zwei Prinzipien leitend sein: 1. Wir müssen den Kampf um das Streikrecht als Kampf um Demokratie und das Grundgesetz führen: Wer die Axt ans Streikrecht legt, legt die Axt ans Grundgesetz. Das Streikrecht ist zentral für die Durchsetzung von Demokratie in der Wirtschaft und

Das Bundesverfassungsgericht wird das Streikrecht nicht retten

St. Gallen im November 2012: Streik gegen Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst. Die kollektive Arbeitsniederlegung ist das wichtigste und effektivste Kampfmittel der Arbeiterklasse. Daher muss der geplante Angriff der Bundesregierung auf das Streikrecht verhindert werden

SCHWERPUNKT Erneuerung durch Streik

tonomie abgelehnt. Während ver.di eine gesetzliche Regelung ablehnt, befürwortet ein Teil der DGB-Gewerkschaften weiter das Gesetzesvorhaben. Angesichts des Bröckelns gewerkschaftlicher Unterstützung und verfassungsrechtlicher Bedenken aus dem Justizministerium sucht Arbeitsministerin Andrea Nahles nun einen Ausweg. Im Gesetz soll weiter der Vorrang der mitgliederstärkeren Gewerkschaft festgeschrieben werden – jedoch ohne Aussagen über die Friedenspflicht zu treffen, wie die »Stuttgarter Zeitung« kürzlich berichtete. Damit würde gezielt eine Gesetzeslücke geschaffen und den Gerichten die Entscheidung über die Konsequenzen überlassen. Selbst wenn die Minderheitengewerkschaft streiken dürfte, fände das Ergebnis des Arbeitskampfes, nämlich der Tarifvertrag, keine Anwendung. Auch wenn die Verfassungswidrigkeit des Gesetzesvorhabens auf der Hand liegt, wäre es fatal, sich zurückzulehnen und darauf zu setzen, dass spätestens das Bundesverfassungsgericht das Gesetz kippt. Der Kampf um das Streikrecht ist, wie Wolfgang Abend-

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für die Verteidigung sozialer und demokratischer Errungenschaften – es muss daher ausgeweitet statt eingeschränkt werden. 2. DIE LINKE unterstützt eine solidarische und konfliktorientierte Politik der Gewerkschaften. Sie wendet sich gegen Tendenzen zu einer »exklusiven Solidarität« nach dem Motto: »Die Starken kämpfen nur für sich«. In der aktuellen Auseinandersetzung um die Tarifeinheit drohen diese beiden Grundsätze linker und solidarischer Gewerkschaftspolitik gegeneinander ausgespielt zu werden. Im Beschluss des DGBBundeskongresses heißt es richtig: »Eine fortschreitende tarifliche Zersplitterung wäre fatal, weil den Schwächeren die Solidarität der Stärkeren verweigert würde. Grundsatz der Tarifpolitik muss die einheitliche Vertretung aller Beschäftigten in Betrieb und Dienststelle sein.« Es greift jedoch gleich doppelt zu kurz, wenn die Durchsetzung von Tarifeinheit durch rechtliche Festschreibung gelöst werden soll und die damit verbundene Frage der Zukunft der Einheitsgewerkschaft auf die Frage der Gewerkschaftskonkurrenz verengt wird. Tarifeinheit basiert in letzter Konsequenz auf der Fähigkeit der Gewerkschaften, eine Solidarität unterschiedlicher Beschäftigtengruppen in den Verteilungskämpfen zu organisieren. Berufsgruppengewerkschaften, die nur für die Ziele durchsetzungsstarker Beschäftigtengruppen kämpfen, werden zu Recht als Form »exklusiver Solidarität« kritisiert. Die DGB-Gewerkschaften haben sich jedoch lange schwer getan, auf Veränderungen in bestimmten Berufsgruppen einzugehen, wie etwa auf die besondere Situation der Klinikärzte. Oder sie haben, wie im Fall Transnet, durch Korruption und »sozialpartnerschaftliche« Politik dazu beigetragen, dass Berufsgruppengewerkschaften wie GDL oder der Marburger Bund gestärkt wurden. Zudem macht es einen entscheidenden Unterschied, ob Gewerkschaftskonkurrenz zu Unter- oder Überbietung in der Tarifpolitik führt. Eine solidarische Tarifpolitik ist nur dann durchsetzbar, wenn die klassenpolitische Verteilungsfrage offensiv gestellt wird. Die Verteilungsspielräume gegenüber dem Kapital müssen vergrößert werden, um Solidarität zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen dauerhaft organisieren zu können. Tarifeinheit ist eine Frage der Stärkung gewerkschaftlicher Organisations- und Durchsetzungsmacht! Entscheidend für die Einheitsgewerkschaften ist ihre Fähigkeit, erreichte Errungenschaften so zu verallge-

meinern, dass sie zu einem verbindlichen Standard werden. Diese Fähigkeit hat in den letzten Jahrzehnten stetig abgenommen. Seit Jahren gibt es einen Trend der Unternehmen zur Tarifflucht. Ihre Mittel hierzu sind: Austritt aus Arbeitgeberverbänden, Öffnungsklauseln in Tarifverträgen, Outsourcing und Privatisierung (öffentlicher Unternehmen) oder der Übergang zu einem Status ohne Tarifvertrag (OT). In der Gesamtwirtschaft beträgt die Tarifbindung noch 55 Prozent (fünfzig Prozent durch Branchentarifverträge und weitere fünf Prozent durch Firmentarifverträge). Im Einzelhandel ist Bindung an den Flächentarifvertrag auf etwa 37 Prozent, im Gesundheits- und Sozialwesen auf 35 Prozent in West- und 23,9 Prozent in Ostdeutschland zurückgegangen. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden Tarifflucht und Tarifkonkurrenz durch die neoliberale Politik systematisch vorangetrieben: durch die Erleichterung von Outsourcing, durch die Privatisierungswellen im Gesundheitssystem, durch die Agenda-Politik zur Deregulierung des Arbeitsmarkts und durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors und von prekärer Beschäftigung. Im Zentrum der Diskussion über die Tarifeinheit sollte daher nicht die Frage der Gewerkschaftskonkurrenz stehen. Wir brauchen eine Diskussion über eine neue Offensive für die Stärkung der Tarifbindung!

Tarifbewegungen müssen demokratisiert werden

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Erforderlich wäre folgende Doppelstrategie: Auf betrieblicher und Unternehmensebene bräuchten wir eine stärker konfliktorientierte, organisierende Tarifpolitik zum Aufbau einer »Tarifeinheit von unten«. Außerdem müssten wir politischen Druck aufbauen für eine andere Regulierung des Arbeitsmarktes, die Zurückdrängung prekärer Beschäftigung und die Stärkung der Reichweite und Bindekraft von Tarifverträgen. (1) Um solidarische Brücken in den Belegschaften zu bauen, ist eine konfliktorientierte Tarifpolitik notwendig, die die Verteilungsspielräume durch Streikbewegungen erweitert. Das ist nur möglich, wenn die Organisationsmacht gestärkt wird – durch Gewinnung neuer Mitglieder und Aktiver, aber auch durch Lernprozesse der Streikenden. Zugleich müssen Organisierungs- und Entscheidungsprozesse in Tarifbewegungen demokratisiert werden. (2) In vielen Bereichen sind die Gewerkschaften zu schwach, um die Tarifbindung zu verteidigen oder Tarifverträge mit Fortschritten für alle Beschäftigten zu erreichen. Trotzdem wäre eine Strategie mittelfristig zum Scheitern verurteilt, die sich als Reaktion auf den Rückgang gewerkschaftlicher


DIE LINKE versteht sich als Bündnispartner der Lohnabhängigen und der Gewerkschaften und wird dazu beitragen, Widerstand gegen jeden Versuch

Etwa eine Million Beschäftigte haben im vergangenen Jahr die Arbeit niedergelegt. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich weit hinten. Doch auffällig ist die steigende Zahl von Arbeitskämpfen im Dienstleistungssektor der Einschränkung des Streikrechts zu organisieren. Ihre Aufgabe ist es aber auch, zur Strategie-Diskussion der Gewerkschaften und der gesellschaftlichen Linken beizutragen. Mögliche Angriffe auf das Streikrecht können nur verhindert werden, wenn die Auseinandersetzung um Tarifeinheit und Streikrecht als Kampf um die Hegemonie in der Gesellschaft geführt und mit gesellschafts- und demokratiepolitischen Grundsatzkonflikten verknüpft und »aufgeladen« wird: der sozialen Frage nach »guter Arbeit« und dem guten Leben für alle sowie nach der Bedeutung des Streikrechts für eine »echte Demokratie«. DIE LINKE hat die Aufgabe, Motor einer solchen gesellschaftspolitischen Diskussion und Mobilisierung zu sein. Gewerkschaftliche Strategieratschläge sollen dafür in den kommenden Monaten Räume schaffen. Mit einer organisierenden Kampagne zu prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen, die über mehrere Jahre angelegt ist, wollen wir die Selbstermächtigung und Organisierung der Prekären unterstützen. Gleichzeitig wollen wir gesellschaftliche Mehrheiten für die Zurückdrängung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse erkämpfen. Eine wichtige Aufgabe wird es sein, mittelfristig mit den Gewerkschaften und Bündnispartnern eine gemeinsame politische Offensive für die Stärkung der Tarifbindung auf den Weg zu bringen und diese mit dem Kampf gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse zu verbinden. ■

SCHWERPUNKT Erneuerung durch Streik

Durchsetzungsmacht nur auf die Hochburgen konzentriert und sich aus der Fläche zurückzieht. Die Gewerkschaften müssen gezielt an der Organisierung von Durchsetzungsmacht in Bereichen ohne Tarifbindung arbeiten, zum Beispiel durch Organisierungskampagnen in Schlüsselunternehmen oder -Branchen. (3) Ein politischer Ansatzpunkt könnte sein, Tarifverträge gesetzlich für allgemeinverbindlich zu erklären, wenn dies im öffentlichen Interesse ist. Weitere zentrale Forderungen gegen Tarifflucht sind das Verbandsklagerecht, mit dem die Gewerkschaften die Einhaltung von Tarifverträgen gerichtlich erzwingen könnten, sowie eine gesetzliche Festlegung darauf, dass bei Betriebsverkauf die alten Tarifverträge unbefristet gültig bleiben. Gegen Outsourcing gilt es, Demokratie in den Unternehmen auszubauen und ein Vetorecht der Belegschaften zu erkämpfen. Um auf breiter Ebene mobilisierungsfähig zu werden, müssen die Gewerkschaften gemeinsam mit Bündnispartnern – aus der gesellschaftlichen Linken und darüber hinaus – einen Kampf um Hegemonie führen. Die Auseinandersetzung darf nicht entlang der Linie »Berufsgruppengewerkschaften versus DGB« geführt werden. Vielmehr muss sie um die Frage kreisen, welche Arbeit in der Gesellschaft »normal« und selbstverständlich sein sollte: gute Arbeit oder prekäre Arbeit? Der Kampf um die Stärkung der Tarifbindung müsste mit einer politischen Mobilisierung für eine ReRegulierung des Arbeitsmarkts – für eine neue Ordnung der gesellschaftlichen Arbeit – verbunden werden: Lohndumping, die Spaltung der Belegschaften und die Schwächung der Gewerkschaften durch prekäre Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit, Mini-Jobs oder den Missbrauch von Werkverträgen müssen gestoppt werden! Notwendig ist der Kampf für ein neues »Normalarbeitsverhältnis«. Dieses darf sich nicht mehr wie bisher am männlichen Alleinverdiener und lebenslanger Vollzeit orientieren. Es geht darum, an Selbstverständlichkeiten und Ansprüchen im Alltagsverstand anzusetzen, und davon ausgehend Brücken zwischen unterschiedlichen Gruppen der »Prekären« und den »Kernbelegschaften« zu bauen. Arbeit muss existenzsichernd sein und vor Altersarmut schützen. Die strukturelle Unterbeschäftigung der einen (Arbeitslosigkeit, erzwungene Teilzeit) und die Überlastung der anderen erfordert eine geschlechtergerechte Umverteilung der Arbeit. Es muss selbstverständlich sein, die eigene Zukunft planen zu können und Zeit für Familie, Freunde, kulturelles und politisches Engagement zu haben.

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SCHWERPUNKT

La lucha continúa Mit großartigen Versprechungen werden Fachkräfte aus den europäischen Krisenländern nach Deutschland gelockt. Im vermeintlichen Arbeitsparadies erwarten sie dann Niedriglöhne und Knebelverträge. Doch die »Empörten« haben auch ihren Kampfgeist mitgebracht VON Miguel Sanz Alcántara ★ ★★

Miguel Sanz Alcántara lebt seit einem Jahr in Berlin. Er ist aktiv in der LINKEN und bei »15M Berlin«.

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nfang September forderte der Präsident der normalerweise gewerkschaftsfeindlichen spanischen Pflegekammer verärgert ein Treffen mit dem deutschen Botschafter und der spanischen Gesundheitsministerin. Als Grund nannte er die »arbeitsrechtlichen Missbräuche, die spanische Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger in Deutschland erleiden«. Sein Brief enthielt erschreckende Zahlen: Spanische Krankenpflegerinnen verdienen bis zu vierzig Prozent weniger als ihre deutschen Kolleginnen. Sie arbeiten in Schichten bis zu zwölf Stunden ohne Pausen und bei einer Kündigung vor Vertragsende drohen ihnen Strafen bis zu 10.000 Euro.

Seit 2008 haben 700.000 Menschen Spanien verlassen

Die Daten, welche die Pflegekammer zitierte, stammen aus den Presseerklärungen und Flyern der »Grupo de acción sindical« (GAS). Diese gewerkschaftliche Aktionsgruppe haben wir vor sechs Monaten in Berlin gegründet, um Migrantinnen und Migranten, die ihre Arbeitsbedingungen in Deutsch-

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land verbessern wollen, dabei zu helfen sich gewerkschaftlich zu organisieren. Seit Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 sind etwa 700.000 Personen aus Spanien emigriert. Laut dem letzten Bericht des Statistischen Bundesamtes sind davon etwa 50.000 nach Deutschland gekommen. Die GAS ist eine Projektgruppe der »asamblea« des »15M Berlin«. »15M Berlin« gründete sich vor drei Jahren als spontaner Ableger der 15MBewegung in Spanien. Diese besetzte am 15. Mai 2011 ausgehend von der Plaza del Sol in Madrid Plätz in über siebzig Städten. Die Arbeitssprache auf den Treffen der GAS ist zwar Spanisch, sie sind aber für Beschäftigte aller Nationalitäten offen. Wir geben keinen juristischen Rat zu Arbeitsverträgen, Entlassungen, Schichten oder dem Gehalt. Unser Ziel sind kollektive Aktionen in den Betrieben. In der Bewertung des wirtschaftlich bedingten Exils vieler Spanierinnen und Spanier teilen wir die Ansicht der 15M-Bewegung: »Wir gehen nicht, wir wer-


© Laura Colomé / CC BY-NC-SA / flickr.com

Unsere Arbeitsweise ist simpel. Wir sind über eine Emailadresse und ein Kontakttelefon für die Arbeiterinnen und Arbeiter erreichbar. Nach der Kontaktaufnahme versuchen wir, ein Treffen mit möglichst vielen der Beschäftigten im Betrieb zu organisieren.

Spanische Migrantinnen und Migranten demonstrieren im Frühjahr 2011 in Berlin. Die Krise hat auf der Iberischen Halbinsel eine ganze Generation ihrer Zukunft beraubt. Gleichzeitig erleben die Jungen auch eine starke Politisierung, die sie mit nach Deutschland bringen

Zitiert »Die GAS gibt uns Hoffnung und Vertrauen. Sie eröffnet uns Möglichkeiten, Dinge zu verändern. Ich bin wegen des arbeitsrechtlichen Schutzes Mitglied von ver.di geworden und sehr zufrieden, es gab nie Unklarheiten. Überhaupt fühle ich mich wohl in Deutschland, ich möchte hierbleiben. Aber wir werden jedes Mal kämpfen, wenn es nötig ist.« Nerea, Pflegekraft Intensivpflege »Die GAS ist eine wirklich nützliche Gruppe, die den Arbeiterinnen und Arbeitern stets zur Seite steht. In Spanien gibt es mehr Möglichkeiten sich zu organisieren. Aber nachdem ich mit der GAS geredet habe, erscheint es mir hier unvermeidlich, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden. Wir müssen weiterkämpfen, damit es keine Ungleichheit zwischen deutschen und ausländischen Arbeiterinnen mehr gibt.« Natalia, Krankenschwester und Organisatorin ihrer Kollegen in der Pflegefirma GIP

SCHWERPUNKT Erneuerung durch Streik

den rausgeschmissen!« Gleichzeitig stehen wir in der Tradition des revolutionären Syndikalismus, der aus historischen Gründen in Spanien sehr einflussreich ist. Es geht uns um die Selbstorganisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter im Gegensatz zum Stellvertretertum vieler Gewerkschaften. Zu unseren Treffen kommen sowohl Aktivistinnen und Aktivisten, als auch Beschäftigte aus verschiedenen Betrieben, in denen Konflikte ausgetragen werden. Es geht um einen konstanten Austausch unserer Erfahrungen – sowohl zwischen Aktivisten und Beschäftigten als auch der Beschäftigten untereinander, denn sie befinden sich in unterschiedlichen Phasen von Arbeitskonflikten. Grundlage unseres Projektes ist der Einfluss der 15M-Bewegung, der die spanischen Emigranten auch hier erreichte. Viele Spanierinnen und Spanier sind bereit, sich zu organisieren, Versammlungen einzuberufen und ihre Forderungen mit Aktionen zu unterstreichen. Für sie ist das nichts Unbekanntes. Das verdankt sich der dreijährigen sozialen Bewegung, die Millionen von Menschen durch direkte Aktionen, zivilen Ungehorsam und politische Diskussionen geprägt hat.

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Auf diesem Treffen wird eine Liste mit Forderungen aufgestellt und ein erster Arbeitsplan mit Daten und konkreten Aktionen entwickelt. Dazu gehört auch, Kontakt mit weiteren Beschäftigten auszunehmen, die unsere Forderungen unterstützen. Mit Hilfe der GAS führen die Beschäftigten erste Flyer-Aktionen durch, schreiben Texte, Presseerklärungen und Nachrichten auf Facebook. Im Allgemeinen empfehlen wir den migrantischen Beschäftigten, Mitglied der deutschen Gewerkschaft zu werden. Wir versuchen auch, sofort mit der jeweiligen zuständigen Gewerkschaft zusammenzuarbeiten und ihre juristischen und materiellen Ressourcen zu nutzen. Wenn die erste Phase der Konfliktorganisierung abgeschlossen ist und sich eine ausreichend breite Basis aktiver Leute im Betrieb zusammengefunden hat, stellen wir unsere Forderungen an die Unternehmensleitung. Wenn diese sie ablehnt – was bis jetzt in dieser Phase immer der Fall war – tragen wir die Forderungen mit einer Kampagne an die Öffentlichkeit.

Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die spanischen Gewerkschaften und die Kammer für Krankenpflege sahen sich gezwungen, die spanischen Behörden so unter Druck zu setzen, dass diese sich gegen Knebelverträge und ungleiche Bezahlung eingesetzt haben. Mittlerweile kontaktieren uns Beschäftigte im Pflegebereich aus ganz Deutschland und wollen dem Beispiel der Krankenpflegerinnen der GIP folgen.

Die Mauer zwischen Festangestellten und Prekären muss fallen

In den wenigen Monaten seit ihrer Gründung hat die GAS bereits in zwei großen privaten Pflegeunternehmen größere Arbeitskämpfe angestoßen. Außerdem nutzen wir unsere Kontakte in einem Dutzend Unternehmen, um neue Kämpfe zu eröffnen. Die meisten neu nach Deutschland kommenden Spanierinnen und Spanier finden ihre erste Arbeit in den Bereichen Gastronomie, Reinigung, IT, Krankenpflege und in Laboren. Unsere erste Intervention fand in der privaten Pflegefirma GIP statt. Im Rahmen eines »Work and Travel« genannten Programms hat diese Firma spanische und griechische Pflegekräfte dazu verpflichtet, überall in Deutschland flexibel einsetzbar zu sein. Der Vertrag läuft zwei Jahre, bei vorzeitiger Kündigung müssen die Beschäftigten 6000 Euro Bußgeld zahlen. Unsere Kernforderungen – Abschaffung der Bußgelder und gleiche Löhne für deutsche und migrantische Beschäftigte – konnten wir zwar noch nicht durchsetzen, aber immerhin musste die Firma das »Work and Travel«-Programm nach unserem Einsatz einstellen. Die öffentlichkeitswirksame Kampagne rund um diesen Konflikt hat internationale

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In mittleren und großen Unternehmen kann der Arbeitskampf einer Gruppe von Migrantinnen und Migranten inspirierend wirken. Allerdings können ihre Forderungen nur durchgesetzt werden, wenn es gelingt den Kern der Belegschaft dafür zu gewinnen. In den Branchen, in denen die GAS momentan vertreten ist, besteht dieser Kern mehrheitlich aus deutschen Beschäftigten mit besseren Arbeitsbedingungen als ihre prekär beschäftigten migrantischen Kolleginnen und Kollegen. Deshalb werben wir dafür, sich in einer deutschen Gewerkschaft zu organisieren. Denn die schlechten Arbeitsbedingungen können nur durch die Mauer aufrechterhalten werden, die die prekär Beschäftigten von den Festangestellten trennt. In einer Gewerkschaft kann diese Mauer durchbro-

chen werden. Oft werden wir gefragt, wie wir es schaffen, dass junge Leute ohne politische Erfahrung, die Gewerkschaften häufig ablehnen, bereits nach dem ersten Treffen der GAS einer Gewerkschaft beitreten. Die Antwort lautet, dass wir politisch komplett unabhängig von ihnen sind. Das ist eines der Grundprinzipien des 15M. Es ermöglicht uns, die positiven Aspekte einer Gewerkschaftsmitgliedschaft hervorzuheben, während wir gleichzeitig offen die Fehler und die bürokratische Praxis der Gewerkschaften kritisieren können. So gewinnen wir das Vertrauen und schaffen eine Nähe zu den Beschäftigten, wie es die Gewerkschaften nicht können. Im Moment organisieren wir ein Unterstützernetzwerk für die prekär beschäftigten Migrantinnen und Migranten. Wenn du dich informieren oder Teil dieses Netzwerkes werden möchtest, schreib uns an accionsindical@riseup.net. ■


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SCHWERPUNKT Erneuerung durch Streik


WELTWEITER WIDERSTAND

Australien

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»Sie sagen: kürzen. Wir sagen: kämpfen!« Wie hier in Melbourne protestieren am 20. August zeitgleich in allen großen Städten Australiens Studierende gegen Kürzungen im Bildungssektor. Die konservative Regierung will die Zuschüsse für die Hochschulen um zwanzig Prozent kürzen und Studierende mit deutlich höheren Kosten für Studienkredite und steigenden Studiengebühren belasten. Die bisherige Kappung der Studiengebühren soll fallen, staatliche Studienkredite müssen früher zurückgezahlt werden. Organisator der Proteste ist die Studierendengewerkschaft NUS.


GroSSbritannien

8NEWS

Beschäftigte des britischen Gesundheitswesens stimmen über Streik ab. Eine halbe Million Pflegekräfte könnte nun in den Ausstand treten. Und sie sind nicht die Einzigen. Von Dave Sewell

© Corey Oakley CC BY-NC-SA / flickr.com

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Übersetzung: David Paenson

eremy Hunt, der englische Gesundheitsminister, will den 600.000 Pflegekräften nicht einmal ein Prozent Lohnerhöhung zugestehen. Jahrelange Lohnerhöhungen unterhalb der Inflationsrate haben seit dem Jahr 2010 zu Reallohnverlusten von bis zu 15 Prozent geführt. Gleichzeitig wurde der Arbeitsdruck durch Kürzungen enorm erhöht. Der Streik im Gesundheitsbereich ist für Anfang Oktober angesetzt. Zur gleichen Zeit wollen auch eine Million kommunale Angestellte streiken und für den 18. Oktober planen die Gewerkschaften Massendemonstrationen unter dem Motto: »Großbritannien braucht eine Lohnerhöhung«. Aber zunächst muss die Urabstimmung gewonnen werden. Deshalb verteilen Aktivistinnen und Aktivisten Flugblätter an die Kollegen und Kolleginnen und organisieren Informationsveranstaltungen. »Uns sind viele begegnet, die von der Urabstimmung nicht mal gehört hatten«, sagt Andy. »Der Streik ist ein großer Schritt nach vorn und wir nutzen die Gelegenheit, um neue Gewerkschaftsmitglieder zu gewinnen. Die Wut ist da, aber es ist eine Menge Organisierung notwendig, um sie in Aktion umzuwandeln.« Eine lange Streikserie im Dienstleistungsunternehmen Care UK in der Stadt Doncaster hat der Urabstimmung Auftrieb gegeben. Die Beschäftigten befinden sich in der dritten Woche eines dreiwöchigen Streiks gegen Lohnkürzungen. Die Gewerkschaftsmitglieder schildern ihren Kampf auf Versammlungen überall

im Land. In den letzten sechs Monaten haben sie insgesamt sechzig Tage gestreikt. Das ist nur dank der Solidarität anderer Arbeiterinnen und Arbeiter möglich. Der Sprecher des örtlichen Gewerkschaftsverbands Dave Gibson stellt fest: »Die Streikenden von Care UK sind ein großartiges Beispiel dafür, dass man sich sehr wohl gegen die Angriffe der Tories auf das Gesundheitssystem wehren kann.« Am 6. September erreichte ein Protestzug zur Rettung des nationalen Gesundheitswesens London. Gestartet war er in Jarrow im Nordosten des Landes, in Erinnerung an den Jarrow-Hungermarsch des Jahres 1936. Zur Abschlusskundgebung auf dem Trafalgar Square kamen 5000 Menschen. »Für viele ist das ihr erster Streik. Wenn es gelingt, Krankenhauspersonal für Streikposten vor Krankenhäusern zu gewinnen, kann die Wirkung sehr groß werden«, hofft Andy. Der Gewerkschaftsdachverband TUC sprach sich für die geplanten Streiks im Oktober aus. Diese müssen aber Teil eines nachhaltigen Widerstands werden. Bis zum 1. Oktober stimmen die insgesamt mehr als 460.000 Mitglieder der Gewerkschaften Unison, Unite und GMB in England, Wales und Nordirland über den Streik ab. Die Gewerkschaft der Geburtshelfer ruft zum ersten Mal in ihrer Geschichte ihre 22.500 Mitglieder in England zur Urabstimmung auf. Wenn sie alle am 13. Oktober streiken und die kommunalen Beschäftigten einen Tag darauf in den Ausstand treten, wird es eine elektrisierende Kampfwoche geben, mit den Massendemonstrationen der Gewerkschaften als Höhepunkt. ■

Kleiner Erfolg nach mehrmonatigem Protest und zeitweiligem Hungerstreik: In Dhaka haben 1500 Textilarbeiterinnen und -arbeiter erreicht, dass ihnen ihr Arbeitgeber Tuba Group wenigstens Teile des ausstehenden Lohns auszahlt. Dem Textilbetrieb gehört unter anderem eine im April vergangenen Jahres eingestürzte Fabrikhalle. Während der sechs Monate, die der Geschäftsführung hierfür im Gefängnis saß, konnte die Firma nach eigenen Angaben ihre Beschäftigten nicht bezahlen.

8China In der Hafenstadt Ningbo kam es bei einem dreitägigen Streik, an dem sich fast 10.000 Berufskraftfahrer und -fahrerinnen beteiligten, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Auslöser waren die seit acht Jahren stagnierenden Frachtraten, die de facto einen Lohnverlust darstellen. Denn gleichzeitig steigen die Container- und Benzin-preise – und für diese Ausgaben müssen die quasi-selbstständigen Trucker in China selbst aufkommen.

Argentinien

Alle Räder stehen still...

Generalstreik in Argentinien: Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr legten Arbeiterinnen und Arbeiter Ende August die Wirtschaft des süd-amerikanischen Landes lahm. Zum Protest hatten die oppositionellen Flügel dreier großer Gewerkschaften sowie linke Parteien aufgerufen. Er richtete sich vor allem gegen ständig steigende Lebenshaltungskosten und Arbeitslosigkeit. Die Streikenden forderten Lohnerhöhungen und Maßnahmen gegen Korruption. Das Land hat innerhalb der letzten zwölf Monate eine Inflation von über 35 Prozent erlebt. Die Regierung befindet sich derzeit im Streit mit den HedgefondsInhabern und Inhaberinnen, die ihr Geld zurückverlangen.

Weltweiter Widerstand

»Viele streiken zum ersten Mal«

8Bangladesch

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Von Lenin lernen Schon zur Zeit der Russischen Revolution diskutierten Sozialisten über die nationale Frage in der Ukraine. Ihre Einschätzungen sind überraschend aktuell Von Volkhard Mosler

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ie Europäische Union (EU) und die USA streiten mit Russland um die Vorherrschaft über die Ukraine. Diese Auseinandersetzung ist nun in ein gefährliches Stadium eingetreten. In diesem Zusammenhang wollen uns Politiker und Mainstreammedien den Eindruck vermitteln, dass die EU eine Friedensmacht sei, die für demokratische Werte und Normen kämpft, und dass nur Putins Russland diese Werte bedrohe.

weiligen Bewohner mussten fliehen. Auch die Separatisten führen den Kampf mit brutaler Härte und verfolgen echte und vermeintliche Anhänger der Zentralregierung. Wie sollten sich Linke in einer solch verworrenen Lage positionieren? Diese Frage stellt sich nicht zum ersten Mal. Denn die Ukraine ist schon seit langer Zeit das Interessengebiet verschiedener Staaten und Machtblöcke. Der russische Sozialist Leo Trotzki beschrieb im Jahr 1939 die Lage des Landes: »Gekreuzigt zwischen vier Staaten ist die Ukraine heute in der Entwicklung Europas in die gleiche Situation geraten wie seinerzeit Polen.« Polen wurde 1772, 1793 und 1795 zwischen Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt. Besonders zu leiden hatten die Menschen in der Ukraine unter dem russischen Zarenreich, welches das Land ab Mitte des 17. Jahrhunderts beherrschte. Die im 19. Jahrhundert aufkommende ukrainische Nationalbewegung wurde unterdrückt, Bücher in ukrainischer Sprache verboten. Die Russische Revolution von 1917 ließ das Zarenreich zerbrechen. Die nun regierenden Kommunisten, die Bolschewiki, standen vor der Frage, wie sie mit der ukrainischen Nationalbewegung umgehen sollten. Einerseits wollten sie das Land für die aufzubauende Sowjetunion gewinnen, denn sie kämpften für eine Ausdehnung der sozialistischen Revolution auf andere Länder. Andererseits wollte die Par-

Doch im Konflikt der beiden Lager gibt es keinen »Guten«. Sowohl Russland als auch die EU und USA sind imperialistische Mächte. Der einzige Unterschied ist, dass das westliche Lager gegenwärtig wirtschaftlich und militärisch überlegen ist. Es versucht, die Ukraine in seinen Einflussbereich zu ziehen. Deshalb stützt es die durch die Maidan-Bewegung an die Macht gekommene prowestliche Regierung und toleriert die mitregierenden Faschisten der Partei Swoboda. Russland unterstützt im Gegenzug die Separatisten in ihrem Sezessionskrieg. Präsident Putin verkleidet dabei seine Einflussnahme als »Kampf gegen den Faschismus«. Doch eigentlich geht es darum, die nach dem Zerfall der Sowjetunion verlorene Machtposition wieder aufzubauen. Beiden Seiten ist das Schicksal der Menschen in der Ostukraine egal. Die ukrainische Armee hat bei ihrer Offensive die Innenstädte von Donezk und Luhansk mit Mörsergranaten beschossen – mehr als die Hälfte der je-

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© wikimedia

Wieder einmal ist die Ukraine Spielball imperialistischer Mächte

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Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

tei die Zwangspolitik des Zaren nicht weiterführen – wohl wissend, dass die Ukrainer jede gewaltsame Intervention als Fortsetzung großrussischer Herrschaftspolitik, jetzt unter »roten« Vorzeichen, wahrnehmen und bekämpfen würden. Entsprechend sah die Politik der Bolschewiki aus. In einer von Lenin verfassten »Resolution über die Sowjetmacht in der Ukraine« wurde erklärt, warum gerade russische Sozialisten und Internationalisten dem ukrainischen Nationalismus »mit größter Geduld und Behutsamkeit« begegnen müssten. Die ukrainische Kultur sei »jahrhundertelang durch den russischen Zarismus unterdrückt« worden, das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Russlands mache es deshalb »allen Parteimitgliedern zur Pflicht, mit allen Mitteln an der Beseitigung jeglicher Hindernisse für eine freie Entwicklung der ukrainischen Sprache und Kultur hinzuwirken«. Sie müssten »allen Russifizierungsversuchen, allen Versuchen, die ukrainische Sprache in den Hintergrund zu drängen, entgegenwirken«.

Die Bolschewiki erhoben das Ukrainische zur Amtssprache

Die Bolschewiki versuchten zudem, die gemeinsamen sozialen Interessen von russischen und ukrainischen Bauern und Arbeitern in den Vordergrund zu stellen. Das sollte den reaktionären Teilen der ukrainischen Nationalbewegung langfristig den Boden entziehen. Diese Politik war Anfang der 1920er Jahre erfolgreich. Zwar griff die Rätebewegung zunächst nur in die industriell geprägte Ostukraine über – der Westen wurde zum Rückzugsgebiet der so genannten »weißen« Armeen, die einen Bürgerkrieg gegen die Revolution führten. Doch die ostukrainische Rätebewegung entwickelte ein soziales und politisches Programm, das auch für die bäuerlichen Massen der gesamten Ukraine attraktiv war. Denn es sah die Enteignung der Großgrundbesitzer, die Verteilung des Landes an die Bauern und das nationale Selbstbestimmungsrecht für die Ukraine vor. Das war für die sich in feudaler und nationaler Unterdrückung befindenden Bauern der Westukraine sehr attraktiv, so dass sie sich rasch auf die Seite der Revolution zubewegten. Zudem vollzogen die Bolschewiki eine Politik der »Ukrainisierung«. Sie erhoben das Ukrainische zur Amtssprache und bauten ein ukrainischsprachiges Bildungs- und Kultursystem auf. Die Früchte dieser Politik waren der Sieg im Bürgerkrieg, die Deklaration der Ukraine als Sowjetrepublik und ihr Beitritt zur Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, der UdSSR, im Jahr 1922. Rechte klerikale und nationalistische Strömungen und Parteien hingegen verloren zu dieser Zeit in der Ukraine an Einfluss.

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Das änderte sich mit dem Sieg des Stalinismus gegen Ende der 1920er Jahre. Nun wurden beide Errungenschaften – Landreform und Ukrainisierung – wieder rückgängig gemacht. Stalin führte ab 1929 eine »Zwangskollektivierung« durch: die gewaltsame Enteignung des Bauernlands durch den Staat. Die Folge war eine gewaltige Hungersnot in den Jahren 1932/33, die in der Ukraine als »Holodomor« (wörtliche Übersetzung: »Tötung durch Hunger«) bezeichnet wird. Nach unterschiedlichen Schätzungen starben allein in der Ukraine zwischen vier und sieben Millionen Menschen, das war mehr als ein Viertel der Landbevölkerung. Gleichzeitig rief Stalin den Kampf gegen den »bürgerlichen Nationalismus« aus und nahm in der Tradition des Zarenreichs die Zurückdrängung der ukrainischen Sprache und Kultur wieder auf: Wer in Partei, Verwaltung oder Staat Karriere machen wollte, musste Russisch sprechen können. An die Stelle der Verwurzelung in ukrainische Sprache und Kultur trat eine erneute Russifizierung des Staatsapparats. Durch diese Politik stärkte Stalin jenen Flügel innerhalb der ukrainischen Nationalbewegung, der sich traditionell immer an den westlichen Imperialmächten orientierte, mit denen Russland gerade im Konflikt lag. Während des Ersten Weltkriegs war dies zunächst Österreich-Ungarn, dann Deutschland (1918). Später suchte die Bewegung das Bündnis mit dem antikommunistischen polnischen Militärregime. Im Zweiten Weltkrieg paktierte sie schließlich unter Führung von Stefan Bandera mit Nazideutschland. Das Muster war also immer dasselbe: Die begründete Angst vor Unterdrückung durch Russland führte die ukrainische Nationalbewegung zu einer fragwürdigen Bündnispolitik mit imperialistischen Nachbarstaaten. Trotzki beschrieb im Jahr 1939, wie der Stalinismus sich in der Ukraine auswirkte. Von dem »früheren Vertrauen und der Sympathie (...) für den Kreml« sei »keine Spur mehr übrig«. Stattdessen seien die Arbeiter und Bauern in der Ukraine desorientiert: »Wohin soll man sich wenden? (...) In dieser Situation gerät die Führung natürlich in die Hände der reaktionärsten ukrainischen Cliquen, deren ›Nationalismus‹ sich darin ausdrückt, das ukrainische Volk mit dem Versprechen einer fiktiven Unabhängigkeit an den einen oder anderen Imperialismus zu verkaufen.« Trotzki analysierte hier auch den Zusammenhang von Stalinismus und Faschismus in der Ukraine. In Abwesenheit großer, selbstbewusster Arbeiterbewegungen seien die oppositionellen Kräfte in den Sog reaktionärer und faschistischer Kräfte geraten. Ohne die Vergewaltigung der Sowjetukrai-


Imperialismus zu suchen, in diesem Falle der EU. Dazu dient das jetzt beschlossene Assoziierungsabkommen mit ihr. Viele Kriegsgegner sind gegenwärtig entweder für den aus ihrer Sicht »demokratischen, fortschrittlichen« Westen, andere halten Russland immer noch für »fortschrittlicher« oder – weil schwächer – zumindest für das geringere Übel. Für manche kann nur der Westen imperialistisch sein, für andere nur Russland. Doch in diesem inter-imperialistischen Konflikt gibt es aus sozialistischer Sicht weder gut noch böse. Vielmehr ist es das imperialistische System, das wir als weltweites System bekämpfen müssen. Auch die beiden nationalistischen Lager in der Ukraine sind nicht fortschrittlich. Beide suchen das Bündnis mit Großmächten. Sozialisten in der Westukraine sollten daher für die sofortige Beendigung jeder Gewaltanwendung durch die Kiewer Regierung eintreten. Umgekehrt ist es die Pflicht von Sozialisten in der Südostukraine, sich für die Einheit des Landes und gegen die Separatisten zu engagieren. Nur so kann es zu einem gemeinsamen Kampf für eine demokratische und soziale Republik ohne Oligarchen kommen. Nur durch die Besinnung auf die gemeinsamen Klasseninteressen der Arbeiter und Bauern in der Ost- und der Westukraine ist eine friedliche und soziale Zukunft für die Menschen in der Ukraine möglich. Notwendig ist es also, an der Politik des proletarischen Internationalismus anzuknüpfen, wie sie die Bolschewiki vor fast 100 Jahren praktiziert haben. ■

Statue in Kiew zum Gedenken an den Holodomor, den »Tod durch Hunger«. Millionen Ukrainer starben in Folge der Stalinschen Zwangskollektivierung. Das war ein wesentlicher Grund für das Erstarken des ukrainischen Nationalismus

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In diese Tradition, die vom Zaren über Stalin bis zu Breschnew reicht, hat sich auch Wladimir Putin gestellt. Er grenzt sich explizit vom Ansatz der Bolschewiki ab, denen er vorwirft, russische Gebiete der Ukraine angegliedert zu haben. Sie hätten nach der Revolution von 1917 »bedeutende Teile des historischen Südrussland – möge Gott ihr Richter sein – an die Ukrainische Unionsrepublik abgetreten«. Putin hingegen verfolgt ein imperiales Projekt, indem er Teile der Ukraine, wie die Krim, annektiert und andere Teile, wie die Ostukraine, in den ökonomischen und politischen Einflusskreis Russlands zieht. Der russische Imperialismus versucht momentan – aus der Defensive heraus – zumindest das bisherige Gleichgewicht zu erhalten. Am liebsten würde er die Ukraine aber zum Mitglied des neuen regionalen Blocks machen, der Eurasischen Union. Gleichzeitig nimmt die ukrainische Zentralregierung die Tradition der ukrainischen Nationalbewegung auf, ihr Heil im Bündnis mit dem westlichen

© Jonathan Khoo / CC BY-NC-ND / flickr.com

ne durch die stalinistische Bürokratie hätten die faschistischen Kräfte unter Bandera und der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) niemals einen solchen Einfluss auf die ukrainischen Massen gewinnen können. Bandera und seine Anhänger hofften, der Vormarsch von Hitlers Armeen würde das Land vom Joch der Stalinbürokatie befreien und eine unabhängige Ukraine schaffen. Deshalb waren sie zunächst bereit, mit Hitler zusammenzuarbeiten. Doch die Nazis hatten andere Pläne: Sie unterwarfen das Land und plünderten es aus. Bandera und die Führung der OUN wurden in das KZ Sachsenhausen gebracht, weil sie im Jahr 1941 beim Rückzug der Roten Armee in Lemberg (Lwiw) einen eigenen ukrainischen Staat proklamiert hatten. Auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Jahr 1956 äußerte sich der damalige Parteivorsitzende Nikita Chruschtschow zur Nationalitätenpolitik Stalins und warf ihm die »brutale Vergewaltigung der grundlegenden Leninschen Prinzipien der Nationalitätenpolitik des Sowjetstaats« vor. Die Rechte der nichtrussischen Völker seien mit Füßen getreten worden, »Massenumsiedlungen ganzer Völker aus ihren heimatlichen Orten« habe es gegeben. »Die Ukrainer entgingen ihrem Schicksal deshalb, weil sie zu viele sind und es keine Möglichkeit ihrer Umsiedlung gab.« Doch die Phase der Entspannung währte nur kurz. Unter Leonid Breschnew, der von 1964 bis 1982 Generalsekretär der KPdSU war, kehrte die UdSSR zur Politik der Russifizierung sämtlicher Sowjetrepubliken zurück. Die Begriffe »Föderation« und »Föderalismus« mit einem möglichen Hinweis auf die staatliche Eigenständigkeit der Republiken wurde vermieden. Stattdessen war vom »Sowjetvolk« und der UdSSR als »Vaterland« die Rede.

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MARX21 Online

Online-Redakteur Stefan Ziefle (l.) und Paul Grasse analysieren die Geschichte der Hamas

Oliver Völckers via facebook Hervorragender Artikel. Endlich einmal erhellende Zusammenhänge statt Beschimpfungen und Vorurteile. 2 · 28. Juli um 15:49 Uhr Martina Beyer via facebook Sehr guter Artikel, der sehr viele Hintergrundinfos liefert und die Hamas weder glorifiziert noch dämonisiert. Auf dem Niveau lässt sich meines Erachtens auch ernsthaft über eine Lösung des Nahostkonflikts reden. 1 · 29. Juli um 13:51 Uhr

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Was macht Marx21?

Auf ein Neues! Du hast den »MARX IS‘ MUSS«-Kongress im Sommer verpasst? Oder du warst da und hast Lust auf mehr bekommen? Dann sind unsere Herbstkonferenzen genau das richtige Angebot für dich Jahrhundert. Junge Frauen haben heute in Fragen wie Berufstätigkeit oder sexueller Selbstbestimmung ganz andere Möglichkeiten als die Generation ihrer Eltern und Großeltern. Doch wie frei sind sie wirklich? Das wollen wir in allen Städten diskutieren. Bei der Essener Herbstkonferenz werden wir die Debatte noch in Workshops vertiefen. Abschließen möchten wir den Tag mit einer Diskussion über linke Strategien. Sei es ein Wahlsieg in Griechenland, eine von der LINKEN geführte Regierung in Thüringen oder Rot-Rot-Grün im Bund im Jahr 2017 – die Frage des Verhältnisses von Linken zu Regierungsmacht stellt sich immer wieder: Wollen wir an die Regierung und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Oder wollen wir es nicht? Doch wie können wir sonst die Gesellschaft verändern? Mit diesen Fragen werden wir uns bei der Abschlussveranstaltung beschäftigen. Haben wir dein Interesse geweckt? Auf www.marxismuss.de findest du unter dem Reiter »Herbstkonferenzen« Informationen, das Programm und Mitmach-Möglichkeiten der lokalen Veranstaltungen. Auch auf unserer Facebook-Seite kannst du dich informieren: facebook.com/MarxIsMuss. ■

TERMINE Hamburg | 15.10.2014 marx21-Forum »Der Konflikt um die Ukraine« | Uhrzeit: 19:00 | Ort: Parteibüro DIE LINKE.Altona, Am Felde 2 (SAltona) Essen | 01.11.2014 »MARX IS‘ MUSS«-Herbstkonferenz | Uhrzeit: 11:00 | Ort: DGB-Haus, Teichstraße 4 Frankfurt/M. | 15.11.2014 »MARX IS‘ MUSS«-Herbstkonferenz | Uhrzeit: 11:00 | Ort: Bildungsraum, Schönstraße 28 München | 15.11.2014 »MARX IS‘ MUSS«-Herbstkonferenz | Uhrzeit: 11:00 | Ort: EineWeltHaus München, Schwanthalerstraße 80 Hamburg | 29.11.2014 »MARX IS‘ MUSS«-Herbstkonferenz | Uhrzeit: 10:00 | Ort: Parteibüro DIE LINKE.Altona, Am Felde 2 (S-Altona) Berlin | 30.11.2014 »MARX IS‘ MUSS«-Herbstkonferenz | Uhrzeit: 10:00 | Ort: Vierte Welt, Adalbertstraße 4, (U-Kottbusser Tor) Freiburg | 08.05.2014 »MARX IS‘ MUSS«-Herbstkonferenz | Infos zu Termin und Ort unter: 0170-4860385 (Daniel)

WAS MACHT MARX21?

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ie vielen positiven Rückmeldungen zu unserem bundesweiten Kongress »MARX IS‘ MUSS« haben uns ein weiteres Mal vor Augen geführt, wie lebendig und engagiert die Linke doch ist. Mit noch mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmern als im letzten Jahr haben wir die unterschiedlichsten Themen kontrovers diskutiert und Perspektiven für eine kämpferische Linke in Deutschland entwickelt. Schon jetzt bereiten wir den Kongress des kommenden Jahres vor, der vom 14. bis 17. Mai stattfinden wird. Zur Überbrückung bieten wir euch nun in verschiedenen Städten lokale Herbstkonferenzen an. Die »MARX IS‘ MUSS«-Herbstkonferenz 2014, das ist jeweils ein Tag voller politischer Debatte für eine stärkere Linke. In Berlin, Essen, Frankfurt, Freiburg, Hamburg und München laden wir euch dazu ein, mit uns engagiert und kontrovers zu diskutieren. Die Themenpalette ist breit angelegt: In der Auftaktveranstaltung schlagen wir den Bogen vom Ersten Weltkrieg zur »neuen deutschen Außenpolitik« und fragen: »Wie imperialistisch ist Deutschland heute?« Weiter geht es mit einer Auseinandersetzung über Frauenunterdrückung und Frauenbefreiung im 21.

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Sexuelle Befreiung

Von Helmut Dahmer

Die Schriftstellerin und Journalistin Ulrike Heider untersucht in einem neuen Buch die Entwicklung der sexuellen ¨ Emanzipationsbewegung ab den spĂ„ten sechziger Jahren. Die derzeitigen Angriffe auf die Errungenschaften der Bewegung machen deutlich`dass der Kampf noch nicht vollendet ist 56


Die »Antiautoritären«, die ihren Namen der Bakuninschen Internationale (nicht der von Marx beeinflussten) entlehnt hatten, orientierten sich an den Schriften von Wilhelm Reich, Herbert Marcuse und A. S. Neill (dem Gründer der freien Schule »Summerhill«). Indem sie sich öffentlich neue Freiheiten herausnahmen, gelang es ihnen in kurzer Zeit, eine Bresche in die Festung der repressiven Sexualmoral zu schlagen, deren Verteidiger seither – ingrimmig – auf dem Rückzug sind, aber natürlich jede Möglichkeit nutzen, etwas von dem verlorenen Terrain zurückzuerobern. Den aktuellen Frontverlauf bezeichnen die »Fälle« Edathy und Conchita Wurst.

Die »Sexwelle« veränderte das Leben von Millionen Teenagern

Heider berichtet von den Versuchen, das menschliche sexuelle Begehren neu zu deuten, die sich im letzten halben Jahrhundert vervielfältigt und zugleich fortschreitend entpolitisiert haben. Versuche, vormals als »pervers« verpönte Formen sexueller Praxis zu legitimieren, »Männliches« und »Weibliches« zu mischen und »Identitäten« neu zu erfinden. Die Geschichte dieser sexuellen Revolution(en), die von einer als »skandalös« empfundenen Buchpublikation zur nächsten fortschritt, von einem »gewagten« Film zum folgenden, ist natürlich mit der Lebensgeschichte der Autorin verknüpft. Mit eingestreuten Episoden aus der eigenen sexuellen »Bildungsgeschichte« macht sie die Kriterien plausibel, anhand derer sie sich im Dschungel sexueller Revolutionen und Konterrevolutionen orientiert. Ihre eigene sexuelle Befreiung begann, als sie im Jahr 1967 »als Zaungast« an Mitgliederversammlungen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im Frankfurter Walter-Kolb-Studentenhaus teilnahm: »Das von antiautoritären Linken geprägte Kolbheim (…) schien mir etwas von jener Kollektivität und Solidarität zu bieten, die Ehe und Familie (…) überflüssig machen würde. Man begegnete einander mit einer mir bisher unbekannten Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft und Offenheit. Über alles konnte man mit jedem sprechen, über Geschichte und Politik ebenso wie über Probleme mit den Eltern, über Krankheiten oder Depressionen und über Sex. (…) Endlich den Heiratserwartungen und latenten Vorwürfen meiner Mutter und meines Freundes entkommen, empfand ich das Leben unter radikalen Linken als große Befreiung. (…) Staunend beobachtete ich das freie Sexualleben meiner neuen Freunde.« Freud hatte gezeigt, dass die kulturell begünstigte »genitale« Organisationsform der Libido nur ein Teiltrieb unter vielen anderen (»vielgestaltig abweichenden«) ist, die deshalb nicht zum Zuge kommen. Freuds Freund und Kollege Sándor Ferenczi formu-

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Helmut Dahmer war bis 2002 Professor für Soziologie an der TU Darmstadt und ist Autor einer Vielzahl von Büchern, unter anderem »Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart«. Von 1968 bis 1992 war er leitender Redakteur der psychoanalytischen Zeitschrift »Psyche«. Heute lebt er als freier Publizist in Wien.

Sexuelle Befreiung

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lrike Heider, die mit der hedonistischen Linken sympathisiert – also mit denen, die es eher mit den Anarchisten und der Bohème halten als mit den Sozialdemokraten oder Bolschewiken –, erzählt die Geschichte der Revolte gegen die traditionelle Sexualökonomie der sechziger Jahre. Damals begann eine aktive Minderheit unter den westdeutschen Studierenden und Schülern, sich gegen die konservative Sexualmoral, die bekanntlich nur die Alternative von Aufzucht und Unzucht kannte, zu wehren. Der Marquis de Sade im 18., Charles Fourier im frühen und Friedrich Engels im späteren 19. und schließlich Sigmund Freud im 20. Jahrhundert hatten diese den ursprünglichen Triebwünschen auferlegte Zwangsordnung theoretisch unterminiert. Dass die menschlichen Triebe »luxurieren«, also nicht in feste Verhaltensschemata eingebunden, sondern im Überfluss vorhanden sind und einer zeit- und schichtgemäßen Formung unterliegen, war eine der wesentlichen Entdeckungen Freuds. Künstler und Freigeister hatten sich in Ateliers und geheimen Clubs eh und je über die herrschende repressive Sexualmoral hinweggesetzt. Nun aber forderte ein Teil der Generation, die in Japan genauso wie in Amerika, in England, Frankreich und Westdeutschland wie immer verzögert auf die Schrecken des zweiten Weltkriegs reagierte, in Hörsälen und auf Schulhöfen, auf Straßen und Plätzen nicht nur den Bruch mit dem Kalten Krieg und der kapitalistischen Welt(un)ordnung, sondern auch den mit jener (Sexual-)Moral, die den Absturz in die Barbarei nicht verhindert, sondern ermöglicht hatte. Sie erkannten Obrigkeitshörigkeit und autoritäre Charakterstrukturen als Ergebnisse sexueller Repression, die dem Erhalt autoritärer gesellschaftlicher Strukturen und Organisationen Vorschub leistet. »Seit 1964 wussten die Nachkriegsjugendlichen, was ihnen ihre (…) moraltriefenden Väter und Lehrer einschließlich der offiziellen Vatergestalten aus Politik, Wirtschaft und von der Sittenfront verschwiegen hatten: Die, die ihre Söhne militärischer Disziplin unterwarfen, die Unschuld der Töchter hüteten, kleine, beim Onanieren erwischte Kinder züchtigten, aber über Sexualität nicht sprechen konnten. Die, denen der Anblick nackter Frauenbrüste in Filmen und Zeitschriften unerträglich war. Die, die sich mit jener stickigen Aura von Doppelmoral, Heuchelei, von Verschweigen und Vertuschen umgaben. Eine Mörderbande waren sie einst gewesen, nichts anderes als ein Haufen Schwerverbrecher«, wie es Ulrike Heider beschreibt.

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Die Verteidiger der »Tradition« hielten (und halten) die repressive Sexualökonomie für die einzig »natürliche«. Von Höllenangst getrieben, unterwerfen sie sich ihr stets wieder, indem sie alle, die davon abweichen, fanatisch bekämpfen. Die Verfechter einer freieren sexuellen Praxis reagierten darauf, indem sie (mit Wilhelm Reich) den »guten«, von ihnen als »natürlich« gepriesenen Sex gegen die Unnatur der gesellschaftlich dressierten, auf Fortpflanzung ausgerichteten Sexualität ausspielten. Das beinhaltete einerseits einen sehr viel freieren Umgang mit Sexualität, andererseits in manchen Kreisen einen neuen Messianismus. Dass die Menschennatur eine durch und durch »künstliche«, vielfältig gestaltbare ist, und dass jede ihrer kulturellen und subkulturellen Gestaltungen »legitimiert« wird, indem ihre Verteidiger sie für die einzige ausgeben, die der endlich aufgefundenen »wahren« Menschennatur entspricht (die es freilich gar nicht gibt), wollten weder die einen noch die anderen wahrhaben. Wer aber diese oder jene Form von Sexualität mit »Natur« verwechselt, verfällt einer Illusion. Nämlich der, er könne nicht nur sich und Gleichgesinnten durch die Rückkehr zum »wahren« menschlichen Wesen das Leben erleichtern, sondern alle Übel dieser Welt ließen sich gerade »aus diesem Punkte« kurieren. Damit ist das Scheitern der allermeisten privaten Emanzipationsversuche vorprogrammiert. Denn je geringer die Chance, die soziale Welt jenseits von Paar und Kommune zu ändern, desto größer das Risiko, dass sich im Innern der kleinen, angestrengt vorweggenommenen Zukunftsgesellschaften gerade das reproduziert, dem die Utopisten entkommen wollen: Herrschaft und Gewalt. Die marxistischen Sozialphilosophen der »Frankfurter Schule« haben der sexuellen Revolution der vergangenen Jahrzehnte frühzeitig die Diagnose gestellt, es handele sich dabei um eine Form von »repressiver Entsublimierung« (Marcuse), wie etwa Aldous Huxley sie in seinem Roman »Schöne neue 58

© LIFE / Wikimedia

lierte im Jahr 1911 die (Jahrzehnte später von Judith Butler entfaltete) These, dass Männer und Frauen unter sozialem Druck zu »Zwangsheterosexuellen« werden: Sie opfern ihr auf das gleiche Geschlecht bezogene Interesse dem auf das andere Geschlecht bezogenen. Die bis weit in die Nachkriegszeit gerade auch in Westdeutschland herrschende sexualfeindliche Moral verbannte die (vor-genitalen) Teiltriebe und die sexuellen »Zwischenformen« in den Untergrund. Seit den sechziger Jahren aber wurden Zug um Zug neuartige Toleranzen erkämpft. Der Studenten-Protestbewegung entwuchs die neue Frauen-Emanzipationsbewegung, die sich alsbald in viele, einander bekämpfende Fraktionen teilte; auf die Frauen- folgte die Schwulenbewegung und fünfzehn Jahre später die der Sado-Masochisten, die auch den »bösen« (gewaltförmigen) Sex rehabilitieren wollten.

Der Österreicher Sigmund Freud gilt als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Seine Erkenntnisse über die menschliche Sexualität werden bis heute kontrovers diskutiert. Zu seiner Zeit waren sie zweifellos revolutionär Welt« antizipiert hatte. Heterosexuelle Befriedigung sei – auf dem Wohlstandsniveau der höchst entwickelten kapitalistischen Oasenländer – nicht mehr verpönt und verboten, sondern werde nun erlaubt und sogar geboten. Sexualität sei nicht mehr – wie andere, subversive Kräfte – in den gesellschaftlichen Untergrund verbannt, sondern werde isoliert, auf den Markt gezerrt und verwertet. Durch und durch sexualisiert, erscheine schließlich sogar das System der Ausbeutung den Ausgebeuteten attraktiv. Im Hinblick auf die vor fünfzehn Jahren (auch) an deutschen Universitäten eingeführten, von Texten Judith Butlers inspirierten »Gender Studies« merkt Heider an, »größere Emanzipationsbewegungen« seien daraus bisher »nicht hervorgegangen«; im übrigen scheine in diesen »akademischen Kreisen« eine »gewisse Weltfremdheit zu herrschen«: »Da gehen Lehrende und Lernende (…) davon aus, dass es keine Männer und Frauen gibt beziehungsweise geben müsste. Zudem nehmen sie an, dass Heterose-


Diese Besinnung auf den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem die universitären »GenderStudies« stehen, mag den Lesern des Heiderschen Buches (die allesamt Nutznießer der sexuellen Revolution sind) Anlass geben, auch die Bedeutung solch akademischer Untersuchungen zu relativieren. Wer nicht nur aus dem Fenster eines Seminarraums auf die Millionen »draußen in der Welt« schaut, wozu Heider ihn anregt, wird kaum übersehen, dass die permissive Sexualökonomie der Wohlstandsoasen mit dem Alltagsleben derer, die in den Elends- und Kriegsregionen dieser Welt leben, wenig zu tun hat – auch wenn in den Slumhütten die Seifenopern und Werbespots der »ersten Welt« tag-

ein, tagaus als bunte Schemen über die Bildschirme geistern. In Dutzenden von Ländern machen autoritäre Despoten und Theokraten, flankiert von modernisierungsfeindlichen Guerillas, gegen »westliche Dekadenz« mobil – gegen den Luxus und die Freiheiten jener fernen Minderheit, die in irdischen Paradiesen lebt, die unerreichbar sind und von denen darum viele denken, dass es sie besser gar nicht geben sollte. In Deutschland haben die sexuelle Revolution und die sie bald begleitende und dann überflutende »Sexwelle« das Leben von Millionen Teenagern nachhaltig verändert; zahllose Homosexuelle sind vom Stigma der »Perversion« befreit worden, Millionen Frauen wurden ganz neue Lebensmöglichkeiten erschlossen. Heider setzt darauf, dass die Vermarktung und Technifizierung der Sexualität nicht die letzte von deren Umgestaltungen ist: »Ein neuer Hedonismus könnte den seit über dreißig Jahren herrschenden Libertinismus ablösen, ohne die Fehler der Sexuellen Revolution (der vergangenen Jahrzehnte, Anm.d.Autors) zu wiederholen. Das hieße, den Sirenengesängen von der ursprünglich guten Sexualität als Heilsbringerin zu widerstehen, ebenso wie der Versuchung des sexuellen Inselkommunismus in utopischen Kommunen oder weiblichen Identitätszusammenhängen.« ■

★ ★★ DAS BUCH

Ulrike Heider Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt. Rotbuch Verlag Berlin 2014 320 Seiten 14.95 Euro

Sexuelle Befreiung

xualität (…) ein Repressionsinstrument sei. Draußen im Lande wird derweil die ›Herdprämie‹ für Hausfrauen diskutiert, eine Familienministerin hinterfragt die einst selbstverständlichen Forderungen der Frauenbewegung, die Abtreibungsgegner sind im politischen Mainstream angekommen, und die neuen Schwulenhasser sind auf dem Vormarsch. Immer mehr Zeitgenossen schenken den Theorien der Evolutionsbiologen Glauben, die menschliche Sexualität aus einem angeblichen Paarungsverhalten der Steinzeitmenschen ableiten. Vergewaltigung, behaupten einige aus dieser Schule, sei damals ein wichtiges Mittel zur Zeugung gesunder Nachkommenschaft gewesen.«

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GESCHICHTE

Als die Macht auf der Straße lag ★ ★★

Olaf Klenke wurde durch die Wendebewegung politisiert und beschäftigt sich seitdem mit der Geschichte der DDR. Seine Doktorarbeit hat er über Rationalisierung und soziale Konflikte in der DDR geschrieben. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linksfraktion im Bundestag.

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Binnen weniger Wochen fiel im Herbst 1989 ein Regime, das über Jahrzehnte unangreifbar schien. Millionen Menschen nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Unser Autor erinnert an die letzten Tage der DDR

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Von Olaf Klenke

s ist der 11. September 1989. Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich. In drei Tagen flüchten 15.000 DDR-Bürgerinnen und -Bürger gen Westen. In Prag und Warschau besetzen tausende Flüchtlinge die westdeutsche Botschaft und erzwingen ihre Ausreise. Es sind vor allem junge Arbeiterinnen und Arbeiter, die dem »Arbeiter- und Bauernstaat« DDR keine Chance mehr geben. Die Ausreisebewegung erschüttert das SED-Regime in seinen Grundfesten. Stacheldraht und Mauer werden durchlässig. Jeder Ostdeutsche hat Verwandte, Bekannte und Kollegen, die das Land verlassen. Die Parteiführung reagiert mit Lügen und Verachtung. Die staatlichen Zeitungen berichten von angebli-

chem Kidnapping. Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker verkündet, er trauere den Geflohenen »keine Träne« nach. Immer mehr Menschen verlangen nach Freiheiten. Nachdem Anfang September tausend Protestierende an der Montagsdemonstration in Leipzig teilnahmen, sind es Ende des Monats bereits 8000. Neben der Forderung »Wir wollen raus« rufen immer mehr Demonstranten die trotzige Losung »Wir bleiben hier« und fordern, die gerade gegründete Oppositionsgruppe »Neues Forum« zuzulassen. In der Parteiführung werden Erinnerungen an den Arbeiteraufstand vom Juni 1953 wach, als das Regime nur noch durch sowjetische Panzer zu retten

© mjk23 / flickr.com


ihrer Fahrzeuge. In einigen Geschäften werden Polizisten nicht mehr bedient. Nach dieser Woche der Gewalt steht in Leipzig am 9. Oktober die nächste Montagsdemonstration bevor. Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Von dort war der Funke der Proteste ausgegangen. Hier will die SED sie ersticken. In Medien und Betrieben wird vor dem Einsatz der Armee gewarnt. Krankenhäuser stellen Blutkonserven

bereit. Aber die Menschen lassen sich nicht mehr einschüchtern. Am Abend ziehen 80.000 Personen durch die Innenstadt und trotzen der Staatsgewalt. Soldaten verweigern wie bereits in den Tagen zuvor ihre Befehle. Die Parteiführung vor Ort schreckt vor dem Einsatz von Gewalt zurück. Die Bewegung feiert ihren ersten großen Sieg über das SED-Regime. Nach dem Durchbruch in Leipzig ist die Bewegung nicht mehr aufzuhalten. In kleinen Städten prügelt

Die Stasi warnt vor der brodelnden Stimmung in den Betrieben die Polizei noch Proteste nieder. Aber vom Süden her breiten sich die Demonstrationen aus. In den Großstädten nehmen Hunderttausende an den Protesten teil. Anfang November gehen allein in Berlin und Leipzig zusammen eine Million Menschen auf die Straße. Nach jahrzehntelanger Unterdrückung wird mit den Massendemonstrationen das Gefühl der Machtlosigkeit überwunden. »Wir sind das Volk« wird zum Slogan einer Bewegung, die die Gesellschaft grundlegend verändern wird. Überall organi-

sieren Aktivisten Diskussionen. Allein zwischen dem 30. Oktober und dem 5. November meldet die Staatssicherheit 230 »politisch geprägte Veranstaltungen mit fast 300.000 Teilnehmern«. Bis zum Januar 1990 werden 250 verschiedene Initiativen anerkannt. Komitees zur Aufarbeitung der Stasi-Gewalt werden gegründet, Häuser besetzt, Galerien und Bars eröffnet, Studierende gründen unabhängige Vertretungen, Frauengruppen eröffnen Cafés und Inhaftierte fordern die Beteiligung an der Gefängnisverwaltung. In den Betrieben erheben Arbeiterinnen und Arbeiter die Forderung nach Demokratie und der Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. In einem Berliner Elektronikwerk erreicht eine Wandzeitung mit Diskussionsbeiträgen eine Länge von mehreren hun-

Der Mauerfall als Kunstwerk: Foto-Installation von Peter Zimmermann im Museum de Fundatie im niederländischen Zwolle

GESCHICHTE

war. Die SED-Spitze reagiert auf die Bewegung mit Unterdrückung und lässt den Protest gewaltsam auflösen. Anfang Oktober liefern sich Demonstrierende in Dresden und anderen Städten Straßenschlachten mit der Polizei. Gleichzeitig warnt die Stasi vor der brodelnden Stimmung in den Betrieben. Es gibt vereinzelte spontane Arbeitskämpfe im Süden der DDR: In Altenberg organisieren 600 Bergarbeiter einen Bummel-Streik um die Wiedereröffnung des Grenzverkehrs über die tschechoslowakische Grenze zu erzwingen. Als am 7. Oktober, dem Staatsfeiertag der DDR, in 18 Städten protestiert wird, gehen Soldaten und Polizisten mit Gummiknüppeln und Massenverhaftungen gegen die Demonstrierende und auch gegen unbeteiligte Personen vor. In Plauen, einer Stadt mit 80.000 Einwohnern nahe der Grenze zu Bayern, wird die Polizei jedoch vom Ausmaß der Demonstration überrumpelt. 15.000 Menschen – mobilisiert über wenige Flugblätter und Mundpropaganda – kommen im Stadtzentrum zusammen, ohne zu wissen, was sie genau erwartet. Auch der Einsatz von zwei als Wasserwerfer umfunktionierten Feuerwehrautos hält sie nicht auf. Sie marschieren durch die gesamte Innenstadt und verabreden sich wieder für den nächsten Samstag. Ihre Demonstration ist die erste, die nicht gewaltsam von Ordnungskräften zerschlagen wird. In den Tagen danach verurteilt die Freiwillige Feuerwehr den unsachgemäßen Einsatz

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dert Metern. In einigen Kasernen wählen Rekruten Soldatenräte. Der Druck der Straße zwingt die SED zu Zugeständnissen. Das Staatsfernsehen beginnt, über die Demonstrationen zu berichten. Staats- und Parteichef Honecker tritt am 18. Oktober von allen Ämtern zurück. Doch die Menschen misstrauen auch der neuen Regierung und fordern mit dem Slogan »Die Mauer muss weg!« den freien Reiseverkehr. Am Abend des 9. November kündigt der SED-Funktionär Günter Schabowski im Rahmen einer internationalen Pressekonferenz die vorgesehene Öffnung der Grenze an. Auf die Frage eines Journalisten, ab wann die neue Regelung gelte, antwortet Schabowski ohne Wissen über die Vorgabe: »Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich.« Er beschleunigt damit, was sowieso nicht mehr zu verhindern war. Es versammeln sich Zehntausende an den Grenzübergängen in Berlin und drücken die Absperrungen buchstäblich ein. Mit dem Fall der Mauer verliert die SED die Kontrolle über die Bevölkerung. Enthüllungen über Privilegien der SED-Oberen und deren Versuche, den Machtapparat zu rechtfertigen und Reformen zu verschleppen, heizen die Unzufriedenheit weiter an. Anfang Dezember stürmen Demonstrierende in Erfurt und anderen Bezirksstädten die Stasizentralen. Der Unterdrückungsapparat der SED ist angeschlagen.

von einer Demonstration in Magdeburg mit 100.000 Teilnehmern, die alle von ihm wissen wollten, wie es weitergehen solle. Die Arbeiterinnen und Arbeiter des Großbetriebs Schwermaschinenbaukombinat »Ernst Thälmann« mit 12.000 Kolleginnen und Kollegen wären entschlossen, zu streiken, und fragten ihn, welche Forderungen er vorschlagen würde. Er gibt die Frage an die Sitzung weiter: »Was soll ich ihnen sagen, welche Forderungen sollen aufgestellt werden?« Eine Streikbewegung wäre der nächste Schritt, um weitere Teile der Bevölkerung zu aktivieren. Wenn es zu Arbeitsniederlegungen in großen Betrieben im Süden und Berlin käme, dann hätte die Regierung dem nichts mehr entgegenzusetzen. Der Demoslogan »Neues Forum an die Macht« könnte zur Realität werden. Aber die Oppositionsgruppe schreckt davor zurück, die SED zu stürzen und eine Gegenregierung zu bilden. Führende Personen des Neuen Forums lehnen die Forderung als »verfrüht« ab und nehmen stattdessen am »Runden Tisch« mit den Vertretern der alten Macht Platz. Ihr gemeinsames Ziel: Die DDR erhalten. Die Bürgerrechtsgruppen hoffen auf einen »Dritten Weg« einer eigenständigen DDR. Damit stellen sie sich zunehmend ins Abseits. Die Mehrheit der Bewegung hat sich radikalisiert. Sie wollen keine Verhandlungen mit den alten Eliten. Sie wollen den Sturz des gesamten Machtapparates der SED.

In einigen Kasernen wählen Rekruten Soldatenräte

★ ★★ HINTERGRUND Diesen Text haben wir erstmals in Heft 13 (November 2009) unter dem Titel »Revolution!« veröffentlicht. Er erschien anlässlich des 20. Jubiläums des Umsturzes in der DDR.

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In diesen Tagen liegt die Macht »auf der Straße«. Doch nun geht es auch um die Kontrolle der Betriebe. Auf den Demonstrationen wird gefordert: »SED – raus aus den Betrieben«. Am 3. Dezember tritt die komplette Parteiführung zurück. Am selben Tag treffen sich Vertreterinnen und Vertreter des Neuen Forums, der einzigen landesweit einflussreichen Widerstandsgruppe, um zu diskutieren, wie sie mit den aufkommenden Forderungen nach einem Generalstreik umgehen. Schon in der Woche zuvor fand in der Tschechoslowakei ein zweistündiger Generalstreik statt, der in der DDR mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde. In vielen Betrieben wird nun diskutiert, warum man nicht dasselbe macht. Die ersten Betriebsgruppen des Neuen Forums haben sich bereits gegründet. Das Treffen des Neuen Forums erfährt von einem weiteren Streikaufruf, als eines der führenden Mitglieder verspätet eintrifft. Jochen Tschiche berichtet

In den ersten Wochen des Jahres 1990 erreicht die Bewegung noch einmal einen Höhepunkt. In Dutzenden Betrieben legen Arbeiter gegen den drohenden Machterhalt der SED die Arbeit nieder. In Berlin stürmen am 15. Januar Demonstrierende die Stasizentrale. Sie rufen »Nieder mit der SED« und fordern den Rücktritt des neuen Regierungschefs Hans Modrow. Mit dem Rücken zur Wand lädt dieser die Bürgerrechtsgruppen zum Eintritt in eine Übergangsregierung ein. Die Bürgerrechtler nehmen das Angebot an, um den Sturz der Regierung zu verhindern. Weder diejenigen im Neuen Forum, die den Regierungskurs kritisieren, noch die vielen neuen Aktivistinnen und Aktivisten verfügen über die Strukturen, die es bräuchte, um dem eine alternative Führung entgegenzusetzen. So entsteht ein Machtvakuum, das Helmut Kohl in den Folgemonaten ausnutzen kann. ■


Realistisch & Radikal

Debattenmagazin »Realistisch & Radikal« / Schwerpunkt DIE LINKE und Europa. Download unter:

www.sozialistische-linke.de

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KULTUR

Platz für Grauzonen Marx ist als Ökonom, Historiker und Philosoph bekannt, aber als Kunstkritiker? Können Marxistinnen und Marxisten überhaupt einen eigenständigen Beitrag zum Verständnis von Kunst leisten? Durchaus, meint unser Autor Von Phil Butland ★ ★★

Phil Butland hat Philosophie und Literatur studiert und schreibt regelmäßig über Kunst und Kultur für marx21. Er ist Gründungsmitglied der Gruppe KünstlerInnen gegen Krieg Berlin.

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K

unst und Sozialismus? Da denkt man doch gleich an Statuen von Arbeiterhelden und Wandfriese über den Aufstieg des Proletariats, alles im heroischen Einheitsstil des »sozialistischen Realismus«. Dazu Agitpropfilme, deren Botschaft vom immanenten Sieg des Sozialismus keinen Platz für Grauzonen lässt. Diese Vorstellung von »proletarischer Kunst« ist einem kleinen Bürokraten zu verdanken: Andrei Alexandrowitsch Schdanow. Er war Kulturminister unter Stalin und forderte von marxistischen Künstlerinnen und Künstlern, sie sollten »den Heroismus schildern und allgemeingültig darstellen, mit dem das Volk (…) am Wiederaufbau der Volkswirtschaft unseres Landes arbeitet«. Sowjetische Literatur war für Schdanow die »revolutionärste der Welt«, im Gegensatz zu bürgerlicher Kunst, die nur »geistloser Zerstreuung und nichtswürdiger Humoristik« diene und »ihre eigene geistige und moralische Verkommenheit hinter einer schönen Form ohne Inhalt« verberge. Aus seiner Sicht hatte Kunst politisch zu sein: Wichtig war der Inhalt, die Darstellung von Arbeiterhelden. Humor war in seltenen Fällen erlaubt, er durfte jedoch auf keinen Fall »zwecklos« sein. Schdanow behandelte Kunst, als hätte sie keinen eigenständigen Wert –

die beste Kunst war für ihn ein illustriertes Manifest. Und natürlich seien nur überzeugte Sozialistinnen und Sozialisten in der Lage, wirklich große Kunst zu schaffen.

Unser Bild von »proletarischer Kunst« verdanken wir einem kleinen Bürokraten

Glücklicherweise gibt es Marxistinnen und Marxisten, die eine differenziertere und überzeugendere Auffassung von Kunst vertreten. Marx und Engels selbst haben sich mit Balzac auseinandergesetzt, Lenin beschäftigte sich mit Tolstoi. Gramsci schrieb in seiner Gefängniszelle über Kunst und Literatur. Nicht zu vergessen Simone de Beauvoir, Frida Kahlo, Stieg Larsson und viele weitere überzeugte Marxistinnen und Marxisten, die ganz unterschiedliche Arten von Kunstwerken geschaffen haben. Ich möchte in diesem Artikel einige wichtige Ansätze marxistischer Kunstkritik vorstellen. Natürlich kann das nur ein erster Einblick sein – aber einer, der hoffentlich weiterführende Diskussionen anstößt. Ganz im Gegensatz zu Schdanow war Leo Trotzki der Meinung, »die Erzeugnisse des künstlerischen Schaffens müssen in erster Linie nach ihren eigenen Gesetzen, das heißt nach den Gesetzen der Kunst beurteilt werden«. Trotzkis Feststellung finde ich richtig und wichtig – allerdings wirft sie mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Was sind diese »Gesetze der Kunst«? Handelt es sich um absolute Gesetze, die für


alle Zeit und für jedes Publikum die gleiche Gültigkeit besitzen? Oder sind sie relativ, so dass meine Gesetze nicht mit deinen vergleichbar sind? Wenn mir ein Kunstwerk gefällt und dir nicht, irrt dann einer von uns?

Street-Art des britischen Künstlers Banksy in New York: Auch die Kunst außerhalb der großen Galerien ist den kapitalistischen Verhältnissen unterworfen, wie Diskussionen um das Eigentumsrecht bei Straßenkunst zeigen. Einige von Banksys Werken sollten bereits von ihrem ursprünglichen Ort entfernt und versteigert werden

KULTUR

Kunst kann aber nicht nur auf vergangene Erfahrungen zurückgreifen. Während der Umwälzungen nach der Russischen und der Deutschen Revolution haben Künstlerinnen und Künstler neue Formen von Kunst entwickelt. Statt Geschichten zu erzählen, wollten sie ihr Publikum provozieren. Da gab es den spanischen Maler und gelegentlichen Marxisten Pablo Picasso, der fand, dass »gute Kunst vor Rasierklingen nur so strotzen sollte«. Zu nennen sind außerdem Theatermacher wie Erwin Piscator, Filmemacher wie Sergej Eisenstein oder der »Hooligandichter« Wladimir Majakowski. Hier soll es nun aber vor allem um den gewandtesten dieser Künstler gehen, den Dramaturgen Bertold Brecht. Brecht hatte kein Interesse an Happy Ends und seine Kunst

© Künstler: Banksy Foto: Carnagenyc / CC BY-NC / flickr.com

Wir können anfangen, diese Dichotomie zu überwinden, indem wir ein Kunstwerk nicht allein nach seinem Inhalt bewerten. Der Inhalt eines Kunstwerks ist für die meisten Menschen derselbe. Wenn wir ein Gedicht lesen, sind die Wörter für alle gleich. Dieselben Wörter reimen sich miteinander (manchmal aber auch nicht. Es könnte sein, dass wir verschiedene Dialekte sprechen, dann sind für uns nicht alle Reime gleich). Bei der Wirkung von Kunst ist es ganz anders: Ein und dasselbe Kunstwerk kann sehr unterschiedliche Reaktionen erzeugen. Wir konsumieren Kunst nicht passiv, sondern bringen unsere eigenen Erfahrungen in die Betrachtung ein. Als ich jünger war, habe ich besonders gern bestimmte britische Fernsehfilme aus den sechziger Jahren geschaut. Die Handlung war oft die gleiche: Ein Junge aus der Arbeiterklasse verlässt Familie und Heimatstadt und lernt zum ersten Mal – und mit Schrecken – Leute aus einer anderen gesellschaftlichen Klasse kennen. Obwohl diese Filme schon zwanzig Jahre alt waren, habe ich in ihnen meine eigenen Erfahrungen wiedererkannt. Etwas, das mir zum Beispiel »Wiedersehen mit Brideshead« nicht bieten konnte. »Brideshead« wurde damals als Höhepunkt künstlerischer Fernsehproduktion gefeiert. Es ist eine Adaption von Evelyn Waughs großem Bildungsroman, ich aber nahm die Serie eher als triviale Geschichte von zwei verweichlichten weißen Männern und einem Teddybär wahr. Inzwischen habe ich gelernt, die Qualitäten dieser TV-Serie zu schätzen, aber damals war mein Verständnis für Kunst nicht von der persönlichen Geschichte zu trennen. Es fiel mir schwer, Gefallen an einem Kunstwerk zu finden, das meiner Lebenserfahrung so fern war.

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sollte unangenehm sein. Er machte interventionistische Kunst: Sie ist nicht mit dem Ende des Theaterstücks abgeschlossen, sondern soll übergehen in die Aktion der Leserschaft oder des Publikums. Hier sehen wir den Unterschied zwischen radikaler und konservativer Kunst. Konservative Kunst endet mit dem Sieg des Helden. Die Welt ist mehr oder weniger dieselbe, mit der der Film, der Roman oder das Stück begonnen hat. Tugend wird belohnt und das Böse bestraft. Die Zuschauer bleiben passiv und konsumieren. Brecht sah das ganz anders. Über sein »episches Theater« schrieb er: »Von keiner Seite wurde es dem Zuschauer weiterhin ermöglicht, durch einfache Einfühlung in dramatische Personen sich kritiklos (und praktisch folgenlos) Erlebnissen hinzugeben (…) Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muss aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe.« Durch Verfremdung der dramatischen Handlung wollte Brecht die Zuschauerinnen und Zuschauer aufrütteln. Dazu setzte er künstlerische Mittel ein, die den Lauf des Stücks unterbrachen: Kommentierung der Szenen aus dem Off, Heraustreten des Schauspielers aus seiner Rolle, unvermittelt einsetzende Lieder. Vor kurzem hat die Band Massive Attack eine ähnliche Methode angewandt. Auf ihren Konzerten blendeten sie den Satz »Gaza ist seit 1948 besetzt oder von Sanktionen betroffen« (»Gaza has been occupied or under restricitons since 1948«) über der Bühne ein. Ziel war es, das Publikum vom künstlerischen Geschehen loszureißen, um es auf die politischen Vorgänge aufmerksam zu machen. Hier lohnt es sich zwischen Brechts Zielen (sein Publikum zum Denken und Handeln zu bringen) und seinen künstlerischen Mitteln (Verfremdung, Provokation, Einreißen der »vierten Wand« des Theaters zwischen Bühne und Zuschauern) zu unterscheiden. Andere linke Künstlerinnen und Künstler verfolgen dieselben Ziele mit anderen Mitteln. In den Romanen von Émile Zola oder den Filmen von Ken Loach entsteht die Provokation aus der Darstellung der kapitalistischen Welt in ihrer ganzen Ekelhaftigkeit. Dadurch werden die Leserinnen und Zuschauer dazu animiert, sich zu wehren und diese Welt zu verändern. Diese Strategie war nicht erfolglos. So hat Loachs Fernsehfilm »Cathy Come Home« zur Gründung von Shelter geführt, einer Hilfsorganisation für Obdachlose. Zolas Romane haben soziale Themen wie Armut und Alkoholismus für ein breites Publikum zugänglich gemacht. Aber Loach und Zola sind dann

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Szene aus einer schwedischen Inszenierung von Berthold Brechts Drama »Mutter Courage und ihre Kinder« aus dem Jahr 1965. Kaum einem Theaterstück gelingt es eindrücklicher, die Abscheulichkeit des Krieges darzustellen, ohne dabei zu moralisieren

Radikale Kunst muss aufrütteln


am effektivsten und ihre Kunst ist – meiner Meinung nach – am besten, wenn sie die Akteurinnen und Akteure von Veränderung darstellt. »Cathy Come Home« war Loachs erster Film und ist relativ eindimensional. Er skandalisiert, aber bietet keine Alternativen an. Loachs spätere Filme, wie »Bread and Roses« (über den Arbeitskampf von Reinigungskräften) oder »Looking for Eric« (Fußballfans) oder Zolas Meisterwerk »Germinal« (über einen Bergarbeiterstreik) zeigen eine aktive Klasse, die Veränderung bewirkte. Wir sehen es am deutlichsten in Loachs Film über den Spanischen Bürgerkrieg, »Land and Freedom«. Ein gutes Beispiel ist die Szene, in der spanische Bauern und internationale Brigaden darüber diskutieren, ob sie das Land kollektivieren sollen, obwohl dadurch eine mögliche Unterstützung durch westliche Regierungen gefährdet wäre. Im Gegensatz zu Schdanows Dogma, dass nur die »richtige« Meinung dargestellt werden darf, hören wir unterschiedliche Positionen. Am Ende stimmen die Anwesenden ab. Wir sind in die Diskussion einbezogen und werden dazu aufgefordert, darüber nachzudenken, wie wir

Bisher haben wir über die Kunst von überzeugten Marxistinnen und Sozialisten gesprochen. Gelten andere Regeln für »unpolitische« Künstlerinnen und Künstler? Der britische Historiker und Marxist Ian Birchall argumentiert: »König Ödipus und Wordsworths ›Narzissen‹ sind Teil eines menschlichen Erbes, das uns allen gehört und das die Arbeiterklasse erben wird« – also können auch wir über die bürgerliche Kunst verfügen. Laut dem Literaturtheoretiker Terry Eagleton ist alle große Kunst sozial progressiv, denn »sie erfasst die wesentlichen ›welthistorischen‹ Kräfte einer Epoche, die Veränderung und Wachstum erzeugen. Kunst enthüllt ihr sich entfaltendes Potenzial in seiner ganzen Komplexität.« Das Wesen der Kunst hängt von den sozialen Zusammenhängen ab, in denen sie produziert und konsumiert wird. Zugleich stellt sie diese Beziehungen dar. In seinem Buch »Literatur und Revolution« behauptet Leo Trotzki deshalb: »Nur der Marxismus ist fähig zu erklären, warum und woher in einer gegebenen Epoche eine bestimmte Richtung in der Kunst entstanden ist.« Da Kunst ein gesellschaftliches Phänomen ist, kann man sie nicht verstehen ohne die Gesellschaft zu kennen. Trotskis »Gesetze der Kunst«, die ich anfangs erwähnt habe, sind letztendlich nicht von den Gesetzen der Gesellschaft zu trennen. Aber muss man sich immer mit den sozialen Bedingungen auseinandersetzen? Gibt es nicht auch reine Schönheit? Kann ich nicht einfach deswegen die Mona Lisa mögen, weil es ein schönes Bild ist? Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Schönheit ist ein soziales Konstrukt. Die dicken Frauen, die Rubens gemalt hat, wurden damals als schön empfunden, weil ihre Körper ein Zeichen von Wohlstand waren. Dem könnte man jedoch entgegenhalten, dass heute ganz andere Schönheitsideale gelten als zu Rubens Zeiten. Trotzdem schätzen wir seine Malerei. Anders gefragt, sind Trotzkis »Gesetze der Kunst« nicht doch unabhängig von der Gesellschaft? In diesem Rahmen kann das Problem nicht bis ins Letzte gelöst werden. Aber ich würde mit Marx und Engels argumentieren: »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« Kunstwerke sind Produkte des Zeitalters, in dem sie geschaffen und in dem sie konsumiert werden. Eine der Aufgaben von Kunstkritik ist es, diese komplizierte Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft zu erklären. KULTUR

© Beata Bergström

handeln würden. Diese Herangehensweise ermöglicht nicht nur gute Politik, sondern auch wirkungsvolle Kunst.

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»Eine antike Venusstatue z.B. stand in einem anderen Traditionszusammenhange bei den Griechen, die sie zum Gegenstand des Kultus machten, als bei den mittelalterlichen Klerikern, die einen unheilvollen Abgott in ihr erblickten«, bemerkt Walter Benjamin in seinem Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Der Kritiker John Berger geht noch weiter: »Jedes Bild verkörpert eine Betrachtungsweise. Sogar ein Foto (…) Jedes Mal wenn wir ein Foto betrachten, sind wir uns – und sei es auch noch so schwach – des Fotografen bewusst, der es aus unzähligen anderen Ansichten auswählt.« Man kann es so zusammenfassen: Jedes Kunstwerk ist das Ergebnis von Hunderten – teils bewussten, teils unbewussten – Entscheidungen einer Künstlerin oder eines Künstlers, die zudem gesellschaftlich beeinflusst werden. Und auch wie wir auf Kunst reagieren, ist von unserer Erfahrung beeinflusst. Selbstverständlich können wir Kunst einfach nur als schön genießen, aber um sie wirklich schätzen zu können, hilft es, ihren (und unseren) sozialen Hintergrund zu kennen. Boff Whalley, Anarchist und Gitarrist der Band Chumbawamba, formulierte es so: »Musik benötigt wie jede Kunstform ein Ziel, eine Bedeutung und einen eigenständigen Charakter damit sie in das Gewebe der Zeit einfließen kann, in Erinnerungen, Kultur und Gesellschaft. Um ein Teil meines Lebens zu werden, muss Musik weiter reichende Bedeutung haben. Ich will den Song ›Hound Dog‹ (der in Elvis Presleys Interpretation weltberühmt wurde, Anm.d.Redaktion) nur untrennbar verknüpft mit dem vulgären, animalistischen Rock‘n‘Roll Bop, mit der Entrüstung der Elterninitiativen und den vom Ku-Klux-Klan organisierten Demonstrationen vor Presleys Konzerten.«

Auch Leni Riefenstahl hat Filme gemacht, die provozieren und bewegen. Marx und Engels schätzten bekannterweise den Aristokraten Honoré de Balzac, obwohl ihnen klar war, dass »all seine Sympathien (…) der Klasse (gehören), die zum Untergang verurteilt ist.« Der Wert von Balzacs Romanen liegt in seiner Ehrlichkeit, die im Widerspruch zu seinen politischen Sympathien stand. Für Engels bestand das Großartige an Balzacs Werken darin, dass dieser »die Notwendigkeit des Untergangs seiner geliebten Adligen sah und sie als Menschen schilderte, die kein besseres Schicksal verdienen.« »Die Faust im Nacken« aus dem Jahr 1954 ist zugleich ein politisch äußerst reaktionärer und künstlerisch großartiger Film. Seine Helden sind ein Pfarrer und ein Streikbrecher. Die Hafenarbeitergewerkschaft, damals eine der stärksten in den USA, wird als korrupt und von der Mafia kontrolliert dargestellt. Noch schlimmer ist es, dass Regisseur Elia Kazan den Film als plumpe Rechtfertigung dafür benutzt, dass er seine Arbeitskollegen vor der antikommunistischen McCarthy-Kommission verraten hat. Der Skandal war so groß, dass noch mehr als fünfzig Jahre später progressive Künstlerinnen und Künstler bei einer Oscarverleihung gegen Kazan protestierten. Ihr Protest war absolut gerechtfertigt, widerspricht aber nicht der Tatsache, dass der Film fesselnd und schauspielerisch überragend ist (unter anderen spielt der junge Marlon Brando mit). Wie bei Krimis, wo wir der Kripo Erfolg wünschen, während wir sonst »A.C.A.B.« rufen, bewegt uns der menschliche und künstlerische Aspekt des Films.

Auch linke Kunst wird missbraucht, um Cola und Jeans zu bewerben

Die Qualität von Kunst ist nicht unbedingt von der politischen Überzeugung des Künstlers abhängig. Reaktionäre Künstlerinnen und Künstler sind auch in der Lage, gute Kunst zu produzieren. Rosemarie Nünning und Simon Behrman schrieben vor einiger Zeit in dieser Zeitschrift über Richard Wagner: »Wagner der Mensch und Wagner der Künstler sind zu komplex und faszinierend, um ihn den Kleingeistern des Faschismus zu überlassen« (»Ersehnte Götterdämmerung«, Heft 3/2013).

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Theoretisch sollte alle Kunst wertlos sein, also unverkäuflich. Aber wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der alles als Ware gehandelt wird und einen Geldwert zugeschrieben bekommt. Auch politisch linke Kunst – von Portraits von Che Guevara bis zur Musik von The Clash – wird dazu benutzt, Cola und Jeans zu verkaufen. Dabei wird der künstlerische Wert kompromittiert. Diese Tendenz nimmt zu. Viele Kunstkritiker schätzen nur diejenige Kunst, die für irrwitzige Summen verkauft wird. Über die »Qualität« von Kunst entscheiden Kunsthändler und Galeriebesitzer wie Charles Saatchi, der einst mit seiner Werbeagentur


© wikimedia

Irrwitzige Summen können längst auch mit moderner Kunst erzielt werden. Der britische Bildhauer, Maler und Konzeptkünstler Damien Hirst ließ im Jahr 1991 einen Tigerhai in einer Vitrine konservieren. Das Werk wurde später für 6,5 Millionen Pfund verkauft Marx und Engels. Sie stellten sich eine Gesellschaft vor, die es ermöglicht, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«. In ihrer kommunistischen Gesellschaft »gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen«. Kunst setzt der Entfremdung des Menschen im Kapitalismus etwas entgegen. Unter kapitalistischen Bedingungen können wir aber nur Bruchstücke unserer Kreativität entfalten. Erst in einer sozialistischen Gesellschaft, in der Kunst Teil des Alltags von uns allen wird, können wir wirklich frei und völlig kreativ sein. ■

★ ★★ NEUE SERIE Dieser Artikel über die wichtigsten Ansätze marxistischer Kunsttheorie ist der erste einer dreiteiligen Serie. In kommenden Ausgaben schreibt Phil Butland über den »Widerling als Held« und über »Kunst und Nichtkunst«. KULTUR

Margaret Thatchers Wahlkampagne entwickelt hat. Aber auch Kunst, die ohne großen materiellen Aufwand produziert wird – wie Street Art, Straßentheater oder Poetry Slams – ist den kapitalistischen Bedingungen unterworfen. Sie kann nicht unabhängig von der Ideologie und der Marktfixierung unserer Gesellschaft existieren. Dieser Artikel ist das Ergebnis langer Diskussionen, unter anderem erreichte mich folgende Rückmeldung: »Ich würde mir nicht nur wünschen, dass Menschen Kunst genießen, sondern aktiv daran teilnehmen und es nicht nur wenigen Auserwählten überlassen, ein Künstler zu sein (...) Ich finde deshalb gerade auch die Möglichkeit sehr wichtig, sich miteinander durch Kunst zu verbinden und auszutauschen.« Eine ähnliche Vision von Kunst hatten

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© Stiftung Topographie des Terrors / Einzelbild aus dem Film The »Warsaw Rising«

Review


Ausstellung

Der Warschauer Aufstand 1944 | Stiftung Topographie des Terrors Berlin

Aufbruch in der Hölle Im Sommer 1944 erhebt sich die Bevölkerung von Warschau gegen die deutsche Besatzung. Während der folgenden acht Wochen entsteht neues Leben in der Stadt. Eine Ausstellung in Berlin widmet sich dem »Warschauer Aufstand« Von David Paenson ten Polen nicht nur erobern, sondern vernichten, die Bevölkerung, zunächst vor allem die jüdische und dazu die gesamte polnische Intelligenz, ausrotten. Später sollten sich die Polen zu Tode schuften: 2,8 Millionen wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verfrachtet. Die Ausstellung widmet einige Plakatwände dem jüdischen Ghetto-Aufstand aus dem Jahr 1943, den Schwerpunkt bildet aber der ein Jahr später stattfindende Warschauer Aufstand: Nachdem die Rote Armee am 31. Juli 1944 den Ostteil der Stadt erreicht hatte, beschloss die polnische Untergrundarmee, sich gegen die deutsche Besatzung zu erheben. Sie besaß kaum Waffen und hatte nur für wenige Tage Nahrungsvorräte. Daher zählte sie auf die Unterstützung der Russen. Außerdem hoffte sie darauf, dass US-amerikanische und englische Flugzeuge Lebensmittel und Waffen über der Stadt abwerfen würden. Doch beides blieb aus. Stalin weigerte sich, die russischen Flughäfen für Hilfslieferungen an die Aufständischen freizugeben. Denn ein selbstbefreites Volk wollte er unter allen Umständen verhindern. Die Aufständischen hielten dennoch zwei ganze Monate durch. Während dieser Zeit und trotz der höllischen Umstände bauten sie ein demokratisches Leben »von unten« auf: 150 verschiedene Zeitungen erschienen, ein Oberbürgermeister

wurde gewählt, Krankenhäuser nahmen den Betrieb auf und versorgten 25.000 Menschen. Es gab kostenlose Kunstausstellungen, Cafés eröffneten, Filme wurden gedreht. Zudem bauten die Menschen der Stadt – nachdem die Deutschen die Wasserversorgung unterbrochen hatten – 44 Brunnen, 178 ehrenamtliche Feldküchen ernährten die Bevölkerung. Die Deutschen metzelten schließlich den Aufstand Straßenzug für Straßenzug nieder. Nach dem Waffenstillstand wurde die gesamte überlebende Bevölkerung deportiert. Den Massenmord an den drei Millionen polnischen Juden und die restlose Zerstörung Warschaus verübten die Nazis. Aber es darf nicht vergessen werden, dass die Alliierten, unter ihnen Stalins Russland, dem tatenlos zusahen. Es hat daher Symbolkraft, wenn entlang der Niederkirchnerstraße, nur wenige Meter von der Ausstellung entfernt, die Ruinen der Berliner Mauer noch zu sehen sind: Die Warschauer haben zwar verloren, aber wir können mächtige Unterdrückerregime sehr wohl besiegen. ■

★ ★★ AUSSTELLUNG | Der Warschauer Aufstand 1944 | Stiftung Topographie des Terrors Berlin | Noch bis 26. Oktober | Öffnungszeiten: täglich 10 bis 20 Uhr | Eintritt frei | www.topographie.de REVIEW

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ereits der Ort lässt einen erschaudern: die Ruinen der Kellergewölbe der ehemaligen Kunstgewerbeschule in der Berliner Prinz-Albert-Straße 7 (heute Niederkirchnerstraße), eine der Schaltzentralen des NS-Staats. Hier wird unter freiem Himmel die Geschichte Warschaus nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Jahr 1989 in eindrucksvollen Fotografien mit erläuternden Texten nachgezeichnet. Polen war insgesamt 123 Jahre lang von Preußen, Österreich und Russland besetzt. Erst im Jahr 1918 erlangte das Land wieder seine Unabhängigkeit. Die neue Freiheit in vollen Zügen genießend entwickelte sich die Hauptstadt Warschau in rasantem Tempo und nach den Vorgaben einer modernen Stadtplanung. Beispielsweise wurde das Straßenbahnnetz von 43 auf 117 Kilometer erweitert. Automobil- und andere Industrien etablierten sich – fast die Hälfte aller Warschauer arbeitete in der Industrie, ein weiteres Fünftel im Handel. Warschau eröffnete einen Flughafen und gründete einen nationalen Rundfunk. Das kulturelle Leben blühte auf. An all dem hatte die große jüdische Minderheit – sie umfasste 380.000 der über 1,3 Millionen Einwohner – regen Anteil. Dieser Entwicklung wurde mit dem Überfall der Hitlertruppen am 1. September 1939 ein jähes Ende bereitet. Die Nazis woll-

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ukunftsmusik – das ist es wohl, was das HipHop-Duo Shabazz Palaces mit ihrem Album »Lese Majesty« (Majestätsbeleidigung) erschaffen hat. Und gleich im doppelten Sinn: Nicht nur klingt fast jedes der – mal vierzig Sekunden, mal vier Minuten langen – Lieder häufig so verworren und abgespaced, als befände man sich mitten in einem Science-Fiction-Film. Sondern man hat es hier vielleicht auch, wie der Ausspruch »Das ist noch Zukunftsmusik« impliziert, mit einem Blick in die Kristallkugel zu tun, einer Art Prototyp dessen, was HipHop in Zukunft sein könnte. Der Beginn mit langen Harmonien und einem regentropfenartigen Rhythmus erinnert an Phil Collins‘»In the Air Tonight«. Wenn sich dann die hallend hin-und-her-schwingende Melodie darüber ergießt, ist man jedoch längst über dessen Nachtluft hinaus. »Focus!« (»Konzentriert euch!«), fordert Palaceer Lazaros Stimme lehrerartig aus dem Weltraum und beginnt seine Geschichtsstunde. Es geht (höchstwahrscheinlich) um vergangene afrikanische Königreiche und die Rückeroberung ägyptischer Traditionen – Kulturen, in denen viele Afroamerikaner ihre Wurzeln sehen. Die Worte fließen zu Bildern: Pharaonen, Sklavenschiffe, antike Städte. Plötzlich heißt es: »Meet us there/ We’re throwing cocktails at the Führer« (»Trefft uns da/ Wir werfen Cocktails auf den Führer«), und lässt einen verwirrt zurück. Wenn es so radikal und direkt geht, lag dann vielleicht der Sinn der vorherigen Zeile bereits ebenso auf der Hand? Das Universum bleibt stumm und nimmt einen mit ins nächste Lied. Eine Spoken-Word-Passage vom legendären Lightnin’ Rod schlägt den Bogen zur schwarzen Lebensrealität der Gegenwart. Aus dem Königreich prächtiger Königinnen und weiser Astronomen ist ein Zusammentreffen von Zuhältern und Taschendieben geworden. Assoziationsketten

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Shabazz Palaces | Lese Majesty

ALBUM DES MONATS Majestätsbeleidigung aus den Tiefen des Weltalls – »Lese Majesty« von Shabazz Palaces ist ein Meisterwerk subversiver HipHop-Kunstmusik Von David Jeikowski

★ ★★ ALBUM | Shabazz Palaces | Lese Majesty | Sub Pop 2014

führen durch den nächtlichen Ghetto-Himmel. Gab es unter den gefallenen Söhnen und Töchtern wenigstens noch Zusammenhalt, so zerfällt im nächsten Lied auch dieser und hinterlässt Vereinzelung und Egoismus. Da hilft auch kein Stück vom spätkapitalistischen Kuchen. »Vanity, I love you for myself/ Me and always you and always never no one else/(...) my jacket fits/ kinda statuesque« (»Eitelkeit, ich liebe dich um meiner selbst willen/ Ich und immer du und

immer nie kein anderer/ (…) meine Jacke passt/ wie eine Statue«). Ein Geräusch irgendwo zwischen menschlichem »Ey« und Computerton pitcht immer wieder hoch und runter und unterstreicht damit das Wahnhafte an diesen Zeilen. Das Lied will trotz der Besänftigungsversuche melodiöser Elemente nicht zur Ruhe kommen. Hier beginnt eine ganz neue, raue Welt: häufig atonal, Pop-Intuition und Rhythmusgewohnheiten herausfordernd. In »Ishmael« beispielsweise

dominieren dumpfe Synthiesounds und eine Clap, die immer dann zuklatscht, wenn man es nicht erwartet. Palaceer Lazaros, der sich früher in Texten gern offen auf Marx bezog, erklärt aus den Tiefen dieses Urwalds sein jetziges Textkonzept: »Huey Beats and Malcolm Flow/ (...) All our stories told in codes« (»Huey Beats und Malcolm Flow/ (…) Alle Geschichten erzählen wir verschlüsselt«). Ein Bezug auf Black-PantherGründer Huey P. Newton und Schwarzenführer Malcolm X. In »#Cake« fällt endgültig alles zusammen. Rhythmen scheinen parallel zu laufen und sich im Refrain in Knarzen aufzulösen. Dazu singt eine Frauenstimme von Sünden und dem Wohlwollen der Götter. Im dazugehörigen Videoclip schwebt eine gigantische Krone in einer von ebenso überdimensionierten Schlangen bewohnten Ruine. Avantgarde könnte man das alles nennen: Steht doch hinter der Auflösung gewohnter Liedund Albumstrukturen (die 18 Songs sind in sieben Suiten zusammengefasst) der Wille, strukturelle Kritik zu äußern und den Horizont der Rezipienten so zwangsläufig zu erweitern. Avantgarde auch deshalb, weil »Lese Majesty« ein Kunstwerk ist. Als solches ist es erfahrbar und – trotz Stolpersteinen – wunderbar konsumierbar, jedoch allein textlich häufig nicht wirklich zu verstehen. Wie beim Betrachten moderner Kunst bedarf es neben den Rap-Zeilen allein bei den Songtiteln häufig der Interpretation, um halbwegs zu erfassen, worum es hier geht. »Sonic MythMap for the Trip Back« (»akustische MythenKarte für den Rückweg«)? Was wollen uns die Künstler damit sagen? Das bleibt häufig im sprichwörtlichen Dunkeln. Nur gelegentliche Blitzlichter verraten, dass es um schwarze Identitätsfindung und Widerstand gegen den Status Quo geht. Doch gerade das ist das Faszinierende an diesem Album: Ständig eröffnen sich ganz neue Welten, in die man sich nur allzu gern vertiefen will. ■


BUCH

Lothar Peter | Marx an die Uni. Die »Marburger Schule« – Geschichte, Probleme, Akteure

Sozialismus an der Lahn Akademische Lehre und Forschung mit dem Ziel, die Gesellschaft praktisch zu verändern: Darum ging es der kritischen Theorie. Ein neues Buch ergänzt die Geschichte dieser Bewegung Von Theodor Sperlea ersten Gruppe, die als Marburger Schule bezeichnet werden kann. An dieses Dreigestirn schließen sich in Peters Darstellung mehrere Generationen von Professoren an. Unter ihnen finden sich bekannte Namen wie Georg Fülberth, Frank Deppe und Dieter Boris. Jeder der Professoren wird mit Biografie und einer kurzen Einführung in sein Hauptwerk vorgestellt. Die Beschreibungen der Forschungsschwerpunkte offenbaren eine große thematische Vielfalt, aber auch eine gemeinsame, sozialistische Basis in den Theorien von Marx und Engels. Dieser Bezugspunkt erzeugte einen starken Widerhall in der Öffentlichkeit der damaligen Bundesrepublik. Bald bezeichnete die Presse die Professoren als »akademische Agenten der DKP und SED«. Die politische Linie der Marburger Schule war regelmäßiges Thema heißer Debatten in den Medien, angeheizt durch Vorwürfe von Stalinismus sowie der Unterwanderung der Bundesrepublik. Der Grundton des Buchs ist wissenschaftlich-trocken. Das zeigt sich bereits in den ersten Kapiteln, die sich mit dem Begriff der »Schule« als Wissensgemeinschaft beschäftigen. Dieser Ton steht dem Thema jedoch sehr gut zu Gesicht, weil das Buch so über einen oberflächlichen Blick auf die Personalien der Protagonisten hi-

nausgehen kann. Dies ist leider in kurzweiliger geschriebenen Büchern selten der Fall. Konflikte mit der Öffentlichkeit beschreibt Peter detailliert, ohne offen Partei zu ergreifen. Dennoch ist das sozialistische Weltbild und die Nähe des Autors zu den Protagonisten klar zu erkennen. Für mich als Marburger Student ist es interessant, etwas über die Tradition der kritischen Theorie in meiner Universitätsstadt zu erfahren. Die Nachwirkungen der Bewegung sind noch immer zu spüren: Marburg hat eine reiche, vielfältige linke Szene, die sich auch im Stadtbild zeigt. Man könnte fast sagen: Es gibt zwar das sprichwörtliche Wirtshaus an der Lahn nicht mehr, aber die sozialistische Kneipe steht noch. Aber auch außerhalb von Marburg ist dieses Buch zu empfehlen: Zum einen bietet es einen Einblick in die Arbeit einiger marxistischer Soziologen verschiedener Forschungsrichtungen. Zum anderen füllt es einen weißen Fleck auf der Landkarte des sozialistischakademischen Denkens in Deutschland. ■

★ ★★ BUCH | Lothar Peter | Marx an die Uni. Die »Marburger Schule« – Geschichte, Probleme, Akteure | PapyRossa Verlag | Köln 2014 | 221 Seiten | 14,90 Euro

REVIEW

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enn man an die Geschichte der kritischen Theorie in Deutschland denkt, dann fällt einem sicherlich zuerst die Frankfurter Schule ein: Adorno, Benjamin, Horkheimer und Habermas. Aber es gab auch andere Zentren und Schulen linker, akademischer Gesellschaftskritik – zum Beispiel in Marburg. Lothar Peter erzählt die Geschichte dieser fast vergessenen Gruppe sozialistischer Denker im kürzlich erschienen Buch »Marx an die Uni«. Die »Marburger Schule« bezeichnet eine politikwissenschaftliche Tradition, deren Kern aus Professoren des Fachbereichs 03 (Gesellschaftswissenschaften und Philosophie) der Philipps-Universität Marburg besteht. Manche sprechen auch nur von der »AbendrothSchule«, nach Wolfgang Abendroth, dem »organischen Intellektuellen« der Bewegung. Sie betrachten diese Bewegung als kurzlebig, andere sehen hingegen eine bis heute bestehende Kontinuität, deswegen nennen sie sie »Marburger Schule«. Der Autor, der eindeutig zur zweiten Gruppe gehört, führt uns im Buch chronologisch durch diese Tradition: Am Anfang steht der Ruf Wolfgang Abenroths nach Marburg im Jahr 1950. Darauf folgen die Berufungen von Heinz Maus (1960) und Werner Hofmann (1966). Sie bilden den Kern der

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Buch

Gabriel Bornstein | 45 Minuten bis Ramallah

45 Minuten Klamauk Der in Hamburg lebende israelische Drehbuchautor Gabriel Bornstein hat seinen ersten Roman veröffentlicht: eine schwarzhumorige Nahosterzählung, in der Israelis und Palästinenser »gleich nett« erscheinen sollen. Eigentlich keine schlechte Idee Von Mona Mittelstein

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★ ★★ BUCH | Gabriel Bornstein | 45 Minuten bis Ramallah | Assoziation A | Berlin 2013 | 192 Seiten | 16 Euro

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ei der Lektüre von »45 Minuten bis Ramallah« fällt als erstes der extrem vereinfachte Sprachstil auf, der sich an Jugendliche oder gar Leseanfänger zu richten scheint. Passend dazu ist wohl auch das Frauenbild des Romans der Fantasie eines 15-Jährigen entsprungen: Frauen werden auf Brüste, Haarfarbe und Schmollmünder reduziert. Bleibt die Hoffnung, das Buch könne zumindest einen unterhaltsamer Einstieg in die Thematik des Nahost-Konfliktes bieten. Immerhin werden diverse Schikanen geschildert, denen sich Palästinenser in Israel und der Westbank ausgesetzt sehen: Checkpoints oder Vorschriften, die keiner versteht, aber dennoch mit aller Härte durchgesetzt werden. Zudem schildert Bornstein die permanente Angst und den alltäglichen Rassismus. Aber der Plot ist nicht nur schwach, sondern auch völlig überzogen. Erst stirbt der Vater auf der Hochzeit des Sohns. Dann versuchen dieser und sein Bruder die Leiche heimlich nach Ramallah zu schaffen, geraten an eine russische Trickbetrügerin, die ihnen Auto samt Leiche stiehlt, und landen in einem israelischen Gefängnis. Die Schläge während des Verhörs werden auf die schlechte Laune des Offiziers zurückgeführt, dessen Frau mit dem Essen auf ihn wartet. Weil die Ehefrau ihn drängt, nach Hause zu

kommen, werden die Brüder dann entlassen, nur um kurz darauf in die Hände eines ukrainischen Mafioso zu geraten – natürlich unter Beteiligung der russischen Trickbetrügerin. Nur durch einen heißen Kuss der Russin entkommen die Protagonisten dem Tod. Nun endlich gelangen sie nach Ramallah und landen – wie sollte es anders sein – sofort in einem palästinensischen Gefängnis. Auch hier Folter und Schläge, auch hier der drohende Tod: Sie sollen als Kollaborateure hingerichtet werden, weil sie israelische Pässe haben. Ihr Mithäftling aber ist führendes Mitglied des – schon erraten? Na klar: des Islamischen Dschihad, so dass sie in letzter Sekunde von den Dschihadisten befreit werden. Von ihnen werden die Brüder zu »Märtyrern« auserkoren – eine Bombe muss her. Die gibt es bei dem ukrainischen Mafioso, der dem Anführer der Dschihadisten auch gleich noch eine Frau verkauft – natürlich: unsere Russin! Aus Ärger darüber sorgt sie dafür, dass die Bombe unentdeckt im Hauptquartier der Mafiosi verbleibt. Die Dschihadisten betäubt sie mit Wodka und Gesang und versteckt sich anstelle der Bombe neben der Leiche im Auto der Protagonisten. Die Brüder werden mit Handgranaten ans Lenkrad gefesselt, damit sie ihren Auftrag auch ja ausführen. Doch sie hören die Hilfeschreie der Russin, der die Luft auszugehen droht, und be-

freien sich. Dabei werden sie von den Dschihadisten erwischt, die die Bombe zünden. Diese geht im Hauptquartier der Mafiosi hoch und tötet den Boss. Die Dschihadisten werden auch gleich noch mit der Handgranate beseitigt, so dass die Brüder nun endlich ihren Vater beerdigen können. Auf der Beerdigung gibt’s eine Ohrfeige von Mama, weil es nicht 45 Minuten sondern drei Tage gedauert hat, und dann endet das Buch mit einem Kuss zwischen Russin und Hauptprotagonisten am offenen Grab. Khallas (»Ende« auf Arabisch, Anm.d.Red.). Resümierend lässt sich feststellen: Israelis und Palästinenser sind in Bornsteins Buch zwar nicht »gleich nett«, aber gleich unsympathisch, naiv und gewalttätig. Der Unterschied besteht maßgeblich darin, dass die Israelis unter der Fuchtel ihrer Ehefrauen stehen und die Palästinenser wahlweise unter der ihrer Mütter oder »des Islam« oder auch mal beides – damit kommen beide besser weg als die Einwanderer aus Osteuropa, die ausschließlich als Kriminelle auftreten. Insgesamt eine herbe Enttäuschung. ■


Paul Frölich | Im radikalen Lager. Politische Autobiographie 1890–1921

BUCH DES MONATS Genosse Zufall sei Dank: In einem Amsterdamer Archiv entdeckt ein Mitarbeiter ein seit siebzig Jahren verschollenes Manuskript. Es sind die Lebenserinnerungen des Kommunisten und Rosa-Luxemburg-Biografen Paul Frölich. Nun liegen sie als Buch vor Von STEFAN BORNOST

★ ★★ BUCH | Paul Frölich | Im radikalen Lager. Politische Autobiographie 1890–1921 | herausgegeben und mit einem Nachwort von Reiner Tosstorff | BasisDruck | Berlin 2013 | 416 Seiten | 29,80 Euro

der Novemberrevolution von 1918 war er Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats in Hamburg. Wenige Wochen später beteiligte er sich am Gründungsparteitag der KPD, zu deren führenden Vertretern er bis zum Jahr 1924 gehörte. Später zählte er zu den schärfsten Kritikern der »Stalinisierung«, also der zunehmenden Abhängigkeit seiner Partei von Moskau, und musste sie daher im Jahr 1928 verlassen.

Seine Schrift öffnet das Fenster in die zentralen Organisationen der Arbeiterbewegung seiner Zeit. Beispielsweise beschreibt er anschaulich die Stimmung in der Leipziger SPD vor Beginn des Ersten Weltkriegs: »Die fünfhundert Menschen, die die Leipziger Partei so fest in ihren Händen hatten, waren die alte Generation (…). Wenn ihnen Rosa Luxemburg von der Unvermeidlichkeit großer wirtschaftlicher und politischer Erschütterungen

sprach, waren sie davon überzeugt. Aber das wirkte rein auf den Kopf, drang nicht tiefer. Denn die Erfahrung ihrer ganzen Lebensarbeit zeigte ihnen den steten Aufstieg der Arbeiterklasse, eine unabsehbare Kette von Erfolgen der Partei, und dem Kopf zum Trotz setzte sich diese Kette in den Tiefen ihres Bewusstseins unendlich fort – bis zum entscheidenden Wahlerfolg.« Spannend sind auch die Geschichten, die Frölich aus dem Innenleben der jungen KPD erzählt. Zum stärksten Teil gehört hier die scharfe Charakterisierung ihrer zentralen Akteure. Karl Radek zeichnet er als rastlosen Internationalisten mit großen politischen Gaben, aber dank seiner zynischen und beleidigenden Art bald bei fast allen seinen Genossen verhasst. Leo Jogiches: ein Arbeitstier und strenger Zuchtmeister, der aber trotzdem durch Hingabe und politische Klarheit mitreißen konnte. Und immer wieder der nach dem Tode von Luxemburg, Liebknecht und Jogiches zum Parteiführer aufgerückte Anwalt Paul Levi: Ein genialer Kopf und brillanter Redner, der mit dem Arbeitermilieu seiner Partei fremdelte und sich letztendlich mit allen überwarf. Frölich hat hauptsächlich als Journalist für die Partei gearbeitet und verfügt über eine entsprechend flotte Schreibe. Er zeichnet sowohl das große Bild, die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, als auch die Details der Arbeit sehr unterschiedlicher Strömungen und Menschen am gemeinsamen Ziel. Vielleicht ist seine Autobiografie nicht das richtige Buch zum Einstieg in die Geschichte der revolutionären Linken – einige Vorkenntnisse sind hilfreich, um die zahllosen Umgruppierungsprozesse ab 1917 nachvollziehen zu können. Doch auf jeden Fall handelt es sich um eine wichtige Erweiterung unseres Blicks auf die Tradition des revolutionären Sozialismus. ■

REVIEW

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ür Linke ist die Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen Pflichtprogramm – und oftmals ein mühsames Geschäft. Zwischen uns und den Sozialisten vergangener Tage scheint ein undurchdringlicher Schleier zu liegen. Parteibeschlüsse, theoretische Diskussionen, taktische Wendungen – all das lässt sich aus Dokumenten und Publikationen gut und mit Erkenntnisgewinn rekonstruieren. Doch die handelnden Personen bleiben blass, eher Träger von politischen Linien als Menschen. Wir wissen, was die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wann beschlossen hat, wie sich die Organisation entwickelte, wir kennen Siege und Niederlagen. Doch wie fühlte es sich an, in der KPD aktiv zu sein? Welche Charaktere prägten die Partei, wie prägte diese wiederum ihre Mitglieder? Wie war der Umgang miteinander, wie die Stimmung, und welchen Einfluss hatte das auf die Politik? Solche Fragen können vor allem Autobiografien der damaligen Akteure beantworten. Aus diesem Genre ist nun ein besonders schönes Exemplar erschienen. Verantwortlich ist der Genosse Zufall. Bei Aufräumarbeiten im Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte im Jahr 2007 fand ein Mitarbeiter ein Manuskript, das dort siebzig Jahre lang unentdeckt lagerte. Geschrieben hat es Paul Frölich, Luxemburg-Biograf und zentraler Aktivist der deutschen Arbeiterbewegung. Der Text, betitelt »Im radikalen Lager«, ist seine politische Autobiografie, allerdings beschränkt auf die Jahre 1890 bis 1921. Der Titel ist gut gewählt, Frölich hat in seiner politischen Sozialisierung als revolutionärer Sozialist keine Station ausgelassen. Im Jahr 1884 geboren, gehörte er im Kaiserreich zum linken Flügel der Sozialdemokratie. Während

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Mein Lieblingsbuch

ls die Nachkriegsgeneration in der BRD ihre Mütter und Väter fragte, welchen Anteil sie an den Verbrechen des »Dritten Reichs« hatten, war das für die Bevölkerung in der DDR offiziell kein Thema. Nach dem Krieg herrschte verordneter Antifaschismus. Die Kriegsverbrecher waren sowieso in den Westen gegangen und die Frage der Schuld damit für Staats- und Parteiführung erledigt. Die wohl bekannteste Schriftstellerin der DDR, Christa Wolf, geht mit ihrem Buch »Kindheitsmuster«, das 1976 im Aufbau-Verlag veröffentlicht wurde, einen anderen Weg. Als sie mit ihrem jüngeren Bruder und ihrer Tochter in ihren Geburtsort in Polen reist, aus dem sie als Jugendliche 1945 mit ihrer Familie flüchten musste, kehren Erinnerungen zurück. Fragen kommen auf: Was ist da eigentlich geschehen? Warum? Und wie gehen wir heute damit um? Christa Wolf stellt sich diesen Fragen. Sie erzählt von ihrer Kindheit im Nationalsozialismus, so, wie sie sie erlebt hat. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Familie Jordan. Das sind die Eltern Charlotte und Bruno sowie die ältere Tochter Nelly und der jüngere Sohn Lutz. Das Buch dreht sich um ihre Erlebnisse vom Beginn der Naziherrschaft bis zu den ersten Jahren nach dem Krieg unter sowjetischer Besatzung. Zuweilen schildert Christa Wolf die Begebenheiten mit Humor oder Sarkasmus. Ungeschönt berichtet sie, wie sie selbst in der Ideologie des »Dritten Reichs« aufgeht, mit einer Selbstverständlichkeit, die ahnen lässt, wie erfolgreich die Machthaber die Bevölkerung beeinflussten. Schleichend, aber immer deutlicher bestimmt das System den Alltag: »Zwei Tage später steht sie auf dem Marktplatz in Reih und Glied angetreten. Nun erst recht! Ruft der Bannführer. Und dass der Führer, wie man

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Von marx21-LeserIN Martina Beyer

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Kindheitsmuster« von Christa Wolf

★ ★★ Christa Wolf | Kindheitsmuster | Suhrkamp Verlag | Frankfurt 2007 | 637 Seiten | 15 Euro

sieht, unverwundbar ist. Das kommt Nelly allerdings auch so vor. Wochenlang tragen sie alle in der Schule die HitlerJugend-Uniform, und das, wie Charlotte nörgelt, in Zeiten, da es keine Bezugsscheine für BDM-Blusen gibt und es schier unmöglich ist, eine der zwei weißen Blusen, die Nelly besitzt, immer einsatzbereit zu haben. Nelly findet es nicht übertrieben, dass man die Treue zum Führer auch äußerlich zeigt. Charlotte meint, man sollte Treue nicht durch Blusen zeigen müssen. Nelly schmerzt es, wenn die Mutter über heilige Dinge vom Standpunkt ihrer Waschküche aus urteilt.« Zuweilen funktionieren die Verdrängungsmechanismen des Alltags jedoch nicht mehr, lässt sich die grausame Realität der Naziherrschaft und ihrer Verbrechen durch die zur Normalität gewordene Ideologie des Faschismus nicht mehr verschleiern. Aber erst durch Flucht, Besatzung und die Begegnung mit Opfern und mit Menschen, die dem Faschismus grundsätzlich kritisch gegenüber standen, gelingt es der Erzählerin, das Erlebte aus der Distanz neu zu bewerten und zu begreifen, welchen Charakter das System hatte, in dem sie aufgewachsen ist. Aber nicht nur aus der Vergangenheit berichtet Christa Wolf. Immer wieder kehrt sie zurück in ihre Gegenwart, versucht von neuem sich zu erinnern, nichts wegzulassen, nichts zu verfälschen, die wirren Gedanken zu ordnen, um den Faden immer wieder neu zu finden. Dabei macht sie spürbar, wie schwierig es ist, die Ereignisse im Nachhinein verlässlich wiederzugeben. Das Ergebnis ist ein autobiographischer Roman von einzigartiger Authentizität, spannend und von hohem literarischen Anspruch. »Kindheitsmuster« dürfte eine der bedeutendsten Veröffentlichungen der deutschen Nachkriegsliteratur sein.■


BUCH

Carolin Amlinger | Die verkehrte Wahrheit

Den Bann brechen Warum handeln Menschen gegen ihre eigenen Interessen? Mit dieser Frage beginnt Ideologiekritik. In einem neuen Buch durchleuchtet die Soziologin Carolin Amlinger die Meilensteine marxistischer Theorien über das falsche Bewusstsein Von Alex Schröder

zu brechen. Nur die Tendenz der Arbeiterklasse zur Selbsterkenntnis führe zur Wahrheit. Organisiert in einer klassenbewussten Arbeiterpartei würde das Proletariat die eigene Stellung und Berufung im Kapitalismus erkennen und die Notwendigkeit seines Sturzes praktisch angehen. »Die politische Wahrheit liegt für Lukács also in einer Subjekt-Objekt-Einheit des parteilichen Zusammenschlusses«, so Carolin Amlinger. Daran anknüpfend stellen Theodor Adorno und Max Horkheimer die These vom falschen Ganzen auf, dem »universellen Verblendungszusammenhang«, der praktisch nicht zu durchbrechen sei. »Adorno und Horkheimer tilgen den proletarischen Messianismus Lukács‘ zugunsten eines düsteren Geschichtspessimismus.« Alle Menschen unterliegen demnach voll und ganz dem ideologischen Schein. Die Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat sei unerheblich geworden gegenüber der Herrschaft der Industrie und Kulturindustrie über die Menschen. Ein Ausbruch sei allenfalls noch künstlerisch oder geistig möglich. Louis Althusser bringt die Theorie wieder auf den Boden der Klassenkämpfe zurück. Er thematisiert den Einsatz repressiver und ideologischer Staatsapparate durch die Herrschenden. Andererseits unterwerfen sich die Unterdrückten

unbewusst und freiwillig den Staatsapparaten, weil es ihrer Lebenslage entspreche. Ideologie ist in diesem Sinne kein falsches Bewusstsein, sondern einfach das »bewusste Sein« in einer bestimmten Klassenlage. Einzig die Wissenschaft entziehe sich konkreter Lebenslagen. Slavoj Žižek zufolge wird Ideologie sogar von kritischen Geistern durchschaut, aber zugleich praktisch reproduziert und damit doch wieder verkannt: »Die Distanz des Bewusstseins ist in den alltäglichen Ritualen also letztlich nicht von Belang«, so Amlinger. Ideologie könne nicht auf ideologischer Ebene durchbrochen werden, sondern nur in einem spontanen, revolutionären Akt, der aus dem Alltag ausbricht. Carolin Amlinger ist eine kritische und durchaus lesenswerte Darstellung der marxistischen Debatte über die »verkehrte Wahrheit« gelungen. Allerdings ist nicht nur der Gegenstand kompliziert, sondern auch das Buch selbst keine leichte Kost. Marxisten, die sich in das Thema vertiefen wollen, sei es daher empfohlen. Ansonsten ist vielleicht die Lektüre der besprochenen Ideologiekritiker vorzuziehen. ■

★ ★★ BUCH | Carolin Amlinger | RDie verkehrte Wahrheit | Laika Verlag | Hamburg 2014 | 192 Seiten | 19,90 Euro

REVIEW

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er Titel »Die verkehrte Wahrheit« ist ein Zitat von Karl Marx, der erkannt hat, dass Ideologie nicht einfach eine Täuschung der Beherrschten durch die Herrschenden ist. Marx entwickelt die These vom Warenfetisch, wonach die kapitalistischen Verhältnisse auch ohne absichtliche Manipulation ein falsches Bewusstsein produzieren. Sowohl Arbeiter als auch Kapitalisten werden dadurch getäuscht. Ihre eigenen Erzeugnisse erscheinen den Menschen als über ihnen stehende Dinge. Dieser Eindruck spiegelt die reale Ohnmacht der Menschen im Kapitalismus wider, enthält also einen Funken Wahrheit. Zugleich ist es »verkehrte Wahrheit«, weil die Menschen stets die Macher ihrer Geschichte bleiben. Den Ausbruch aus diesem Schein ermögliche die Rückbesinnung auf Hegels Diktum: »Das Ganze ist das Wahre«. Die Unterdrückten müssen die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen begreifen, um den Kapitalismus zu überwinden. Ideologie wird quasi als Bildungslücke der Arbeiterklasse verstanden, die die kommunistische Bewegung schließen muss. Georg Lukács entwickelt diese Thesen weiter. Das Ganze ist nicht mehr das Wahre, sondern das Falsche. Entsprechend reiche das Wissen über Geschichte und Klassenkampf nicht aus, um den ideologischen Schein

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BUCH

Stefan Aust, Dirk Laabs | Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU

Wegweiser durch den braunen Sumpf Von wegen »Pleiten, Pech und Pannen«: Es ist der wohl größte Geheimdienstskandal in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein neues Buch gibt Einblicke in den NSU-Komplex

Von Tim Herudek

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aum ein anderes Thema hat die deutsche Öffentlichkeit in den letzten Jahren so sehr beschäftigt wie der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU). Obwohl immer noch viele Fragen ungeklärt sind und die Sicherheitsbehörden schweigen, hat sich die Berichterstattung in den Medien zunehmend in Richtung »Pleiten, Pech und Pannen« verschoben: Die Verfassungsschutzämter und andere Behörden hätten vom Treiben des NSU nichts gewusst. Gegen diese Reinwaschung von Verfassungsschutz, Landeskriminalämtern und Bundeskriminalamt haben Stefan Aust und Dirk Laabs ein Buch geschrieben. »Heimatschutz« ist in der kurzen Zeit seit seiner Veröffentlichung zum Standardwerk über den NSU, sein Umfeld und die Rolle des Staats darin geworden. Die gut belegte These der beiden Autoren lautet: Der Verfassungsschutz war viel näher am NSU-Trio dran, als er zugibt. Absichtlich habe der Inlandsgeheimdienst die Ermittlungen von Polizei und LKAs weg von dem Verdacht einer rechtsextremen Tat gelenkt. Das zeigen die Autoren besonders stichhaltig anhand des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße im Jahr 2004 auf. Noch bevor die Ermittlungen begannen, bestand das Bundesamt für Verfassungsschutz bereits gegenüber dem LKA

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darauf, es handele sich keinesfalls um einen rechtsterroristischen Anschlag. Und es war ausgerechnet der für V-Männer in der rechten Szene zuständige Beamte, der beim LKA intervenierte. Solche und zahllose andere Beispiele dafür, wie der Verfassungsschutz Ermittlungen sabotiert und verhindert hat, werden in »Heimatschutz« akribisch aufgeführt. Doch Aust und Laabs begnügen sich nicht mit einer umfassenden Darstellung dieser Ereignisse, sondern loten auch den Kontext aus, in dem der rechtsradikale Terror gedeihen konnte. Ihr Buch beginnt in den frühen 1990er Jahren, als der Nazimob in den Straßen tobte, Menschen tötete und Pogrome veranstaltete. Die Autoren geben einen tiefen Einblick in die Naziszene der 1990er Jahre, deren Konzepte vom »führerlosen Widerstand« sowie deren Verbindungen im In- und Ausland. Das Buch bietet aber nicht nur eine umfassende Darstellung der rechten Szene, sondern untersucht auch, wie sich der Staat in Nazinetzwerken engagierte. Hier beleuchten die Autoren vor allem die Rolle des Bundesamts für Verfassungsschutz und die der Landesämter in Thüringen und Sachsen. Alle relevanten Nazistrukturen waren von V-Leuten durchsetzt, die der Verfassungsschutz finanzierte und systematisch vor den Zugriffen der Justiz schützte. Auch im Umfeld der NSU-

Terroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe gab es durchgängig Spitzel, die mit ihnen regen Kontakt hielten, selbst nachdem die drei untergetaucht waren. Dass der Verfassungsschutz wusste, wo die drei sich aufhielten, ist sehr wahrscheinlich. Mit Rückschlüssen darauf, was der Verfassungsschutz konkret wusste, halten sich Aust und Laabs jedoch zurück. Auch stellen sie keine Thesen darüber auf, warum die Behörden das Morden des NSU so lange zuließen. Die Stärke des Buchs besteht in der umfassenden Darstellung der bisher bekannten Faktenlage. Obwohl mit sehr vielen Namen und Orten hantiert wird, befällt einen nie das Gefühl, sich beim Lesen im braunen Behörden-Sumpf zu verirren. Am Ende der über 800 Seiten zitieren die Autoren den Geheimdienstkoordinator und ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Klaus-Dieter Fritsche, mit den Worten: »Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.« Auf die Bedeutung dieses Satzes können sich die Leserinnen und Leser dann selbst einen Reim machen. ■

★ ★★ BUCH | Stefan Aust, Dirk Laabs | Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU | Pantheon Verlag | München 2014 | 864 Seiten | 22,99 Euro


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zu befassen. In der aktuellen Ausgabe (Nr. 175, September/ Oktober 2014) untersucht beispielsweise Akif Yasar, wie der kurdische Widerstand das Geschehen im Nahen Osten beeinflusst. Die Entstehung des »Islamischen Staats« beleuchtet Dilar Dirik. Erdan Ayboga beschreibt die Diskussionen über ein neues Rechtssystem in Rojava, jenem selbstverwalteten Gemeinwesen der Kurden, das in Nordsyrien entstanden ist.

ie Unabhängigkeitsbewegung hat es nicht geschafft: Eine knappe Mehrheit der Schotten entschied sich gegen die Abspaltung ihres Landes von Großbritannien. Im Vorfeld habe es eine massive Kampagne von »big business, bankers and billionaires« gegen die Unabhängigkeit gegeben, schreiben Keir McKechnie and Charlie Kimber in der englischsprachigen Wochenzeitung »Socialist Worker« (19. September 2014). Angesichts dessen sei die Tatsache, dass trotzdem 45 Prozent mit Ja stimmten, ein großer Erfolg. Vor allem aber habe eine ungeheure Politisierung den Norden der britischen Insel erfasst, das Referendum die mit Abstand höchste Wahlbeteiligung aller Zeiten hervorgebracht. Es sei eine neue Bewegung entstanden, die Schottland für immer verändern könne.

Angesichts des Terrors des »Islamischen Staats« ist die Situation der Kurden ins Interesse der Weltöffentlichkeit gerückt. Die Zeitschrift »Kurdistan Report« bietet eine gute Möglichkeit, sich jenseits des Mainstreams mit deren Kampf gegen Unterdrückung

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21-Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Publikationen

★ ★★ WEBLINKS Socialist Worker: www.socialistworker.co.uk Prokla: www.prokla.de Kurdistan Report: kurdistan-report.de Apabiz Monitor: www.apabiz.de Debatte: www.debatte.ch

Jenische sind eine nationale Minderheit in verschiedenen Staaten Mittel- und Westeuropas, lediglich in der Schweiz wird dieser Status überhaupt anerkannt. Aber selbst hier sind sie bis heute Opfer von Diskriminierung. Diese richtet sich vor allem gegen die »reisenden« Jenische. Damit sind schätzungsweise 3000 bis 5000 Personen gemeint, die von Frühling bis Herbst von Ort zu Ort ziehen und sich als Tagelöhner verdingen. Die Schweizer Zeitschrift »Debatte« (Nr. 29, Sommer 2014) widmet ihrem »zähen Kampf um Anerkennung« einen Schwerpunkt. ■

REVIEW

Der Boulevard hetzt gegen Hartz-IV-Empfänger und Thilo Sarazzin behauptet, Arme seien dümmer als Reiche. Für dieses Phänomen gibt es einen Begriff. Er lautet »Klassismus« und bezeichnet die Diskriminierung von sozial schlechter Gestellten. Im deutschsprachigen Raum ist er bislang »derart unbekannt, dass es ein Euphemismus wäre, ihm ein Schattendasein anzudichten«. Wenn überhaupt, wird der Begriff nur in der sozialwissenschaftlichen Debatte verwendet. Einer, der sich damit auskennt, ist Christian Baron. Er schreibt gegenwärtig eine Doktorarbeit darüber. In der aktuellen Ausgabe der »Prokla« (Nr. 175, Juni 2014) diskutiert er verschiedene Konzepte des Klassismus.

Organisierte Abtreibungsgegner bringen immer mehr Menschen auf die Straße, etwa beim jährlichen »Marsch für das Leben« in Berlin. Der »Apabiz Monitor« (Nr. 65, Juli 2014) des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums Berlin gibt einen Überblick über Ziele und Organisation dieser Bewegung. Zudem wird deren Vernetzung in konservative bis extrem rechte Kreise nachgezeichnet. Bei dem entsprechenden Artikel handelt es sich um einen Auszug aus dem gerade erschienen Buch »Deutschland treibt sich ab« von Eike Sanders, Ulli Jentsch und Felix Hansen.

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Preview Š Senator Film


FILM

Pride | Regie: Matthew Warchus

Vereint gegen Thatcher Demnächst in den Kinos: Im Großbritannien der 1980er Jahre unterstützen schwul-lesbische Aktivistinnen und Aktivisten streikende Bergarbeiter. Doch die wollen das gar nicht Von Marcel Bois Gegenliebe. Doch schon bald entsteht eine Freundschaft zwischen den Dorfbewohnern und den LGSM-Aktivistinnen und -Aktivisten. Auf einfühlsame Weise und mit viel Humor erzählt »Pride«, wie praktische Solidarität Menschen verändern kann: Im vereinten Handeln gegen einen gemeinsamen Feind schwinden gegenseitige Ressentiments und Vorbehalte. Zu schön, um wahr zu sein? Mitnichten. »Pride« basiert auf einer wahren Begebenheit. Die LGSM existierten wirklich. Die Organisation gründete sich 1984 in London und hatte später Ableger in ganz Großbritannien. Allein die Londoner Aktivistinnen und Aktivisten sammelten über 20.000 Pfund für die Bergarbeiter und organisierten obendrein ein erfolgreiches Benefiz-Konzert. Indem er ihre Geschichte erzählt, stellt sich Regisseur Matthew Warchus in die Tradition des sozialkritischen britischen Kinos. Er reicht mit seinem Streifen vielleicht nicht an die Vielschichtigkeit eines Ken Loach heran. Stattdessen ist »Pride« ein unterhaltsamer Gute-Laune-Film, ohne jedoch ins Flache abzugleiten. Er bleibt immer politisch – und authentisch. Denn die Macher haben sich im Vorfeld intensiv mit ihrem Thema auseinandergesetzt. Zeitgenössische Fotos inspirierten den Look des Films und Drehbuchautor Stephen Beresford sprach mit zahlreichen Aktivisten von damals. »Beim Schreiben«, erzählt er, »merkte ich schon bald, dass die Wahrhaftigkeit der Anker des ganzen Drehbuchs war, deswegen wollte ich mich davon gar nicht zu sehr entfernen«. Dementsprechend entspringt auch die eindrucksvollste Geschichte des Films der Realität: Im Sommer nach dem Streik veranstaltet die Londoner Schwulen- und Lesbenszene ihre jährliche Gay Pride, eine Demonstration für Anerkennung und Gleichberechtigung. Anders als sonst führen dieses Mal keine schwul-lesbischen Aktivisten den Umzug an, sondern: hunderte walisische Bergarbeiter. ■

★★★

FILM | Pride | Regie: Matthew Warchus | Großbritannien 2014 | 120 Minuten | Kinostart: 30. Oktober 2014

PREVIEW

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roßbritannien im Sommer 1984: Schon seit Monaten streiken im ganzen Land Bergarbeiter gegen die Privatisierung und Schließung ihrer Kohleminen. Sie bekommen die volle Härte des Staatsapparats zu spüren. Die Regierung von Premierministerin Margaret Thatcher kürzt die staatliche Unterstützung für die Streikenden, schließt deren Kinder von der Schulspeisung aus und vielen Bergarbeiterfamilien werden Strom und Gas abgestellt. An den bestreikten Minen geht die Polizei mit äußerster Brutalität gegen die Arbeiter vor und die Presse hetzt gegen den Ausstand, wie es wahrscheinlich nur der britische Boulevard kann. Mark Ashton kommt das alles sehr bekannt vor: »Diese Bergarbeiter werden genauso schikaniert wie wir«. Mark ist ein Aktivist der Londoner Schwulenund Lesbenszene. Tatsächlich ist das Großbritannien der Thatcher-Ära kein angenehmer Ort, um homosexuell zu sein: Ausgrenzung, Polizeischikanen und homophobe Übergriffe gehören zum Alltag. Es ist die Zeit, in der die Krankheit Aids erkannt wird – für die Konservativen ein willkommener Anlass, um gegen die »Perversen« zu hetzen. Mark will sich mit den Streikenden solidarisieren. Gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten gründet er die Gruppe »Lesben und Schwule für Bergarbeiter« (LGSM, »Lesbians and Gays Support the Miners«). Der Buchladen eines Aktivisten wird zur Zentrale der Gruppe, die Mitglieder schwärmen aus, um Geld für die Kumpel zu sammeln. Doch die Spenden an den Mann zu bringen, gestaltet sich schwieriger als erwartet. Da die Gewerkschaftsführung die Anfragen der Gruppe ignoriert, beschließen die Mitglieder, in die walisische Bergbauregion zu reisen, um ihre Solidarität persönlich kundzutun. Als die Städter mit ihrem bunt bemalten Kleinbus in der grauen Reihenhaussiedlung Onllwyn ankommen, stoßen sie zunächst nicht nur auf

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Kampagne | Nein zum transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP

»Protest ist die einzige Sprache, die Politiker verstehen« Ende September beginnt die Kampagne gegen das geplante transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. Es ist »ein fettes Schnitzel für die Konzerne«, meint der Europaabgeordnete Fabio de Masi. Doch er ist optimistisch: Noch können wir es ihnen vom Teller schnappen Interview: Carla Assmann TTIP, CETA, TISA – was verbindet die von der Europäischen Union geplanten transnationalen Handelsabkommen? Bei diesen Abkommen geht es vor allem um die sogenannten »nicht-tarifären Handelshemmnisse«: Gesetze, die die Profite großer Konzerne einschränken. Egal, ob Regeln für Banken, Verbraucherschutz, Umweltschutz, öffentliche Auftragsvergabe, Buchpreisbindung oder Arbeitnehmerrechte. Selbst der Mindestlohn scheint nach unseren letzten Informationen nicht sicher. Zudem wollen die Konzerne an unser öffentliches Eigentum. Die öffentlichen Dienste und Aufträge machen in der EU etwa zwanzig Prozent der Wirtschaftskraft aus. Ein fettes Schnitzel für die Konzerne. Was ist das Prinzip dieser Verträge? Im Kern geht es um die gegenseitige Anerkennung von Standards. Ein Beispiel: In der EU herrscht das sogenannte Vorsorgeprinzip. Chemische Stoffe werden erst nach Nachweis der Unbedenklichkeit zugelassen. In den USA müssen Behörden der chemischen Industrie die Gefahr für Menschen und Umwelt nachweisen. Dort sind nur elf chemische Stoffe verboten, in der EU sind es 1300. Das Vorsorgeprinzip wäre durch diese Verträge bedroht. Umgekehrt wollen europäische Banken die strengeren Eigenkapitalanforderungen für ausländische Banken in den USA angreifen. Das Dienstleistungsabkommen TISA geht sogar so weit, die internationale Entsendung von Leiharbeitern nach den Regeln ihres Herkunftslandes zu ermöglichen. Das ist die Rückkehr der Sklaverei. 82

Fabio de Masi

Fabio De Masi ist Ökonom und Europaabgeordneter der LINKEN. Er sitzt im Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments. ★ ★★ Mit TTIP soll aus der EU und den USA die weltweit größte Freihandelszone werden. Die Folge wäre ein Abbau von Produktionsstandards, Verbraucherschutz- und Arbeitnehmerrechten, Lohnniveaus, Umwelt- und Sozialauflagen und demokratischer Rechtsstaatlichkeit.

Was steht genau in diesen Abkommen? Das erfahren wir gar nicht. Die wenigen Abgeordneten im Handelsausschuss des Europäischen Parlaments, die Zugang zu bestimmten Dokumenten haben, dürfen sich weder Notizen machen noch darüber sprechen. Einige Dokumente wurden aber geleakt. Noch wichtiger ist, was nicht drin steht. Denn was nicht explizit ausgenommen ist, wird den Konzernen überlassen. Und was wissen wir? Im Mittelpunkt von TTIP und CETA stehen transatlantische Regulierungsräte. Die sollen die Gesetze auf

Vereinbarkeit mit den Profiten der Konzerne prüfen und so in Zukunft die Demokratie ausschalten. Das nennt man ein »living agreement«, ein für weitere Entwicklungen offenes Abkommen, das wie ein Krebsgeschwür wächst. Vor privaten internationalen Schiedsgerichten sollen Konzerne Staaten auf entgangene Profite verklagen können. Man stelle sich, vor die Arbeitnehmer in Deutschland könnten nach der Agenda 2010 auf entgangene Löhne klagen. Da wäre aber was los. Kann der Abschluss der Verträge noch verhindert werden? Aber sicher. Ein ähnliches Abkommen ist in den 1990er Jahren gescheitert. Dazu braucht es aber öffentlichen Druck. Vor allem die Unterstützung der Gewerkschaften ist dabei wichtig. Protest ist die einzige Sprache, die Politiker verstehen. Das Europäische Parlament kann am Ende nur ja oder nein sagen. Wir kämpfen daher für das Recht des Bundestags und des Bundesrats, über diese Abkommen zu entscheiden, da sie in Kompetenzen der Nationalstaaten und Länder eingreifen. Nicht, weil da lauter edle Abgeordnete sitzen, sondern weil es vor Ort mehr demokratische Öffentlichkeit gibt. Und wie können wir Druck aufbauen? Eigentlich sollte am 24. September die Europäische Bürgerinitiative (EBI) gegen TTIP und CETA starten. Doch die EU Kommission hat die EBI abgelehnt. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass aus der Wut nicht Ohnmacht wird. Am 11. Oktober gibt es einen europaweiten Aktionstag gegen die Abkommen, mit Veranstaltungen in vielen Städten. ■


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