marx21 05/2014 | DEZEMBER / JANUAR | 4,50 EURO | MARX21.DE
Ebola Was tun gegen das tödliche Virus? HoGeSa »Salafismuskritik« ist Rassismus
MAGAZIN FÜR INTERNATIONALEN SOZIALISMUS
Hansi Weber
berichtet über den kommenden Kitastreik
Sameh Naguib analysiert die Konterrevolution in Ägypten
Katja Kipping
stellt den Zukunftskongress der LINKEN vor
Bahnstreik Einheit um jeden Preis? Irak Ist der IS faschistisch? Kultur Heldinnen und Helden in der Literatur
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Zwischen US-Bomben und Selbstverwaltung: Perspektiven und Widersprüche eines Befreiungskampfes
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FREIHEIT FÜR KURDISTAN. ABER WIE?
ÖSTERREICH 4,70 EURO SCHWEIZ 7,50 CHF
Vergessene Geschichte Die Weddinger Opposition der KPD
© Roe
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NIEDERLANDE Unter dem Motto »Rettet die Pflege« demonstrieren am 8. November Tausende im Regierungsviertel von Den Haag. Die Proteste richten sich gegen eine Gesundheitsreform, die massive Kürzungen im Pflegebereich bedeuten würde. Sollte das Reformpaket durchkommen, droht Tausenden Beschäftigten der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Außerdem würde sich die Versorgung von Pflegebedürftigen deutlich verschlechtern. Bereits in den 1990er Jahren wurde die Heimpflege in den Niederlanden privatisiert. Seither ist die Situation der Pflegekräfte und der Patientinnen und Patienten immer schlechter geworden, während gleichzeitig die Profite der Gesundheitskonzerne in die Höhe schossen. Der niederländische Gewerkschaftsbund FNV hat zu dem Aktionstag aufgerufen. Die Demonstrierenden fordern ein Ende des Sozialabbaus und einen Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Missstände in der Pflege.
Liebe Leserinnen und Leser,
IN EIGENER SACHE
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ie Schlacht um Kobane hat den Befreiungskampf der Kurdinnen und Kurden wieder ins Licht der Weltöffentlichkeit gerückt. Doch während die USA Luftangriffe auf Stellungen des Islamischen Staats fliegen und die Bundesregierung die kurdischen Truppen des Barzani-Regimes im Nordirak mit Waffen versorgt, ist die größte kurdische Organisation, die PKK, in Deutschland nach wie vor verboten. Diesen offensichtlichen Widerspruch haben wir zum Anlass genommen, den Perspektiven des kurdischen Befreiungskampfs einen Schwerpunkt zu widmen. Wir sprachen beispielsweise mit Nicole Gohlke, deren Immunität als Bundestagsabgeordnete aufgehoben wurde, nachdem sie die verbotene Fahne der PKK hochgehalten hatte. Sie gibt Antworten auf die Frage, was Linke hierzulande tun können, um den Kampf der Kurdinnen und Kurden zu unterstützen. Das Interview und die weiteren Artikel des Schwerpunkts findet ihr ab Seite 21. Ein anderes Thema, das die Welt in den vergangenen Monaten in Atem hielt, war die Ebola-Krise in Westafrika. Mittlerweile ist die Panikmache in den Medien über eine mögliche Ausbreitung der Seuche nach Europa abgeflaut. Doch eine Eindämmung der Krankheit ist bisher nicht in Sicht. Auf Seite 14 zeigt die Ärztin Kirsten Schubert, warum die Epidemie weniger ein medizinisches als ein politisches Desaster ist. Ohne Desaster ist hingegen unsere neue Homepage Ende September online gegangen. Für das neue Design und die übersichtliche Darstellung haben wir viel positives Feedback erhalten. Danke dafür! Doch nicht nur online beschreiten wir neue Wege. Seit kurzem geben wir kostenlose Probehefte von marx21 an Interessierte heraus. Einzige Bedingung: Wir dürfen sie nach einiger Zeit anrufen und fragen, ob sie ein Abo abschließen möchten. Der Erfolg der Aktion hat uns überrascht: Bereits nach einigen Wochen war die letzte Ausgabe komplett vergriffen. Jetzt sind wir gespannt, ob auch der zweite Teil der Idee aufgeht und viele der neuen Leserinnen und Leser sich entscheiden, uns auch langfristig durch ein Abo zu unterstützen. Wenn ihr Menschen kennt, die das Magazin interessieren könnte – empfehlt uns weiter! Falls ihr noch nach einem Weihnachtsgeschenk für eure Lieben sucht, möchten wir euch ebenfalls ein Jahresabonnement von marx21 ans Herz legen. Einen Geschenkgutschein zum Ausfüllen und unter den Baum legen findet ihr auf marx21.de.
Kein Kioskverkauf im Jahr 2015 Aus finanziellen Gründen müssen wir leider vorerst den Verkauf des Heftes am Kiosk einstellen. Wenn du auch 2015 keine Ausgabe verpassen willst, dann unterstütze uns mit einem Abo. Einzelhefte können ebenfalls unter marx21.de bestellt werden.
Aus den Redaktionsräumen gibt es noch zu berichten, dass David Maienreis leider erstmal nicht mehr an der Erstellung unseres Magazins beteiligt sein wird. Stattdessen wird er sich nun voll in die Arbeit an der nächsten Ausgabe unserer Theoriezeitschrift theorie21 stürzen. Trotzdem bleibt er uns natürlich als Autor und Übersetzer erhalten. Zuletzt noch eine gute Nachricht: Momentan arbeitet das Organisationsteam mit Hochdruck am Programm für den Kongress »MARX IS' MUSS 2015«. Ab Mitte Januar könnt ihr es auf der Seite www.marxismuss.de ansehen und downloaden.
Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10
MARX IS' MUSS 2015 4 Tage, 60 Veranstaltungen, 1 Kongress Der Kongress findet im Jahr 2015 über Himmelfahrt (14. bis 17. Mai) in Berlin statt. Anmelden kannst du dich ab sofort auf www.marxismuss.de. Mit einer frühzeitigen Anmeldung hilfst du uns dabei, die Kosten für das Werbematerial zu finanzieren. Wir bedanken uns mit einem Frühbucherrabatt.
EDITORIAL
Eure Redaktion
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Fotostory: Protest in Belgien
Ist der IS faschistisch?
36 14 Ebola: Was tun gegen das tödlich Virus?
AKTUELLE ANALYSE
UNSERE MEINUNG
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Das Problem heißt Rassismus, nicht Salafismus Thesen des Netzwerks marx21
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Symptom: Ebola, Diagnose: Kapitalismus Von Kirsten Schubert
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neu auf marx21.de
Ob Maidan oder Blockupy Wir sind stets dabei und berichten.
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Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de
Nahostdebatte in der LINKEN: Kritik an Israel ist legitim Kommentar von Stefan Bornost Millenniumsziele: Ein Armutsbericht Kommentar von Martin Haller
TITELTHEMA: FREIHEIT FÜR KURDISTAN. ABER WIE? 21
»Es ist Zeit, ein Zeichen zu setzen« Interview mit Nicole Gohlke
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PKK: Symbol der kurdischen Befreiungsbewegung Von Erkin Erdogan
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Rojava: Ein Projekt auf dünnem Eis Von Jürgen Ehlers und Yaak Pabst
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»Washingtons Haltung ist heuchlerisch« Interview mit Joseph Daher
58 Bahnstreik: Warum die GDL recht hat
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Ist der Islamische Staat faschistisch? Von Volkhard Mosler Religiöse Spaltungen: Ein Phänomen der Moderne Von Bassem Chit
65 21 Titelthema: Freiheit für Kurdistan. Aber wie? BETRIEB & GEWERKSCHAFT
RUBRIKEN
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Morgenkreis im Streiklokal Interview mit Hansi Weber
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GDL: »Sie kämpft für uns alle« Von Heinz Willemsen
03 06 06 07 08 44 53 70 79 80
INTERNATIONALES
GESCHICHTE
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Ägypten: Hohe Erwartungen und große Furcht Von Sameh Naguib
Die Widerständigen vom Wedding Von Marcel Bois
KULTUR 65
Editorial Impressum Betriebsversammlung Briefe an die Redaktion Fotostory Weltweiter Widerstand Was macht das marx21-Netzwerk? Review Quergelesen Preview
Jede Gesellschaft bekommt die Heldinnen und Helden, die sie verdient Von Phil Butland INHALT
Kultur: Der Held im Kapitalismus
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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 8. Jahrgang, Heft 38 Nr. 5, Winter 2014/15 ISSN 1865-2557 www.marx21.de Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Carla Assmann, Marcel Bois, Martin Haller, David Jeikowski, David Maienreis , Ronda Kipka, Christina Müller, Yaak Pabst (V.i.S.d.P.) Lektorat Carla Assmann, Marcel Bois, Mona Mittelstein, Rosemarie Nünning , David Paenson, Christoph Timann, Irmgard Wurdack Übersetzungen David Maienreis, David Paenson, Xenia Wenzel Layout Christina Müller, Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat Christine Buchholz, Michael Ferschke, Stefanie Graf, Ole Gvynant, Werner Halbauer, Rabea Hoffmann, Christoph Hoffmeier, Sven Kühn, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Heinz Willemsen, Irmgard Wurdack Redaktion Online Ole Gvynant (verantw.), Hans Krause, Jan Maas, Paula Rauch, Stefan Ziefle Aboservice-Team Marcel Bois, Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de
Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 16. Februar 2015 (Redaktionsschluss: 29.01.) 6
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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.
BETRIEBSVERSAMMLUNG
MIGUEL SANZ ALCÁNTARA, LAYOUTER
A
m Anfang stand der Wunsch nach konkreten Verbesserungen: Weg mit dem diktatorischen Sportlehrer, weg mit dem Rauchverbot, mehr Bewegungsfreiheit auf dem Schulgelände, forderte der 13-jährige Miguel in der Schülervertretung. So geriet er in den Sog der Politik und begann sich in seiner spanischen Heimatstadt Jerez de la Frontera in der globalisierungskritischen Bewegung zu engagieren. Mit 18 wurde er Mitglied in der revolutionärsozialistischen Organisation En Lucha und beschäftigte sich mit marxistischer Theorie. »Ich las die marxistischen Klassiker, während große, soziale Bewegungen Europa veränderten. Die Kombination von Theorie und praktischer politischer Arbeit war sehr fruchtbar«, berichtet er über die Zeit von 1998 bis 2004. Der Ausbruch der Krise veränderte alles. Als Mitarbeiter einer Umweltorganisation war Miguel in ganz Spanien unterwegs. Er erlebte die Generalstreiks, den Kampf gegen Wohnungsräumungen und war in einer antikapitalistischen Gewerkschaft aktiv. Seine beeindruckendste politische Erfahrung war jedoch die breite Bewegung 15M im Mai 2011, an der er sich in Sevilla beteiligte. Auch in Berlin gibt es eine Generalversammlung von 15M. Dort ist Miguel seit seinem Umzug im Sommer 2013 aktiv, genauso wie in der Zweigstelle der Partei Podemos in Deutschland. Nebenbei gründete er die Gewerkschaftliche Arbeitsgruppe (GAS) mit, die die gewerkschaftliche Organisierung von zugewanderten Beschäftigten unterstützt. Wo da noch Zeit für die Magazinarbeit bleibt, fragen wir uns lieber nicht: Auch in dieser Ausgabe gestaltete er wieder etliche Seiten. Solch einen »polyaktiven« Layouter finden wir schließlich nicht alle Tage.
DAS NÄCHSTE MAL: CHRISTINA MÜLLER
BRIEFE AN DIE REDAKTION
der Bibel sowieso sehr oft ablehnend gegenüber. Dies muss nicht noch mit Kampagnen wie »Jawohl wir haben abgetrieben« hofiert werden. Torben Zahradnicky, Nidderau
Zum Interview »Die GDL muss den Streik politisch führen« mit Horst Krüger (marx21.de, 07.11.2014)
Die neue Seite ist euch wahnsinnig gut gelungen. Total abwechslungsreich anzuschauen, interessante, relevante Beiträge, vielseitig! Echt toll! Viel Glück damit! Heike Pelchen, Berlin Die neue Website: Gut gemacht! Arno Klönne, Paderborn Seit dem an sich gelungenen »Relaunch« – der Neugestaltung der marx21-Website – dauert es beim Aufrufen der Seite mehrere Sekunden, bis sich das obere Bild aufgebaut hat. Das macht den Besuch der Seite etwas mühselig. Ich persönlich finde sie auch etwas unübersichtlich, weil ich erst unter ein großes Bild scrollen muss, um mehr zu sehen. Tatsächlich zögere ich seitdem, ob ich marx21.de aufrufen will oder nicht. Rosemarie Nünning, Berlin
Zum Artikel »Der Weg ins Inferno« von Frank Renken (Heft 4/2014) Exzellent kenntnisreicher Artikel, vielen Dank dafür. Ich denke, dass viele Friedensaktivistinnen und -aktivisten im Moment verunsichert sind und die Informationen und die Analyse dringend brauchen. Die Gemengelage ist wirklich nicht leicht zu durchschauen. Hannes, per E-Mail
Zur Fotostory über den »Marsch für das Leben« (Heft 4/2014) Als Mitglied einer Pfingstkirche und Befürworter des »Marsch für das Leben« muss ich mich nicht als »christlichen Fundamentalisten« bezeichnen lassen. In Wirklichkeit gibt es überhaupt keine christlichen Fundamentalisten. Diese Bezeichnung zielt darauf ab, Mitglieder der Pfingstbewegung und anderer Freikirchen mit Islamisten gleichzusetzen. Dies ist jedoch ungeheuerlich. Mitglieder der Pfingstbewegung heben die Werte der Bibel hervor. Dies ist leider in den Amtskirchen oft nicht der Fall. Die säkulare Gesellschaft steht
Zur Filmbesprechung »Vereint gegen Thatcher« von Marcel Bois (Heft 4/2014) Ich habe mir »Pride« gestern Abend angeschaut. Wer noch nicht drin war: Der Film ist ein Muss! Er zeigt, wie Kämpfe gegen Unterdrückung, hier von Schwulen und Lesben, durch die aktive Beteiligung an der Solidaritätskampagne für den Bergarbeiterstreik selbst politisiert und gestärkt werden. Er zeigt, dass nicht nur die Bergarbeiter ihre krassen Vorurteile gegen Schwule und Lesben in diesem Kampf aufgegeben haben, sondern umgekehrt auch die Schwulen und Lesben sich verändert haben. Die Schlussszene ist einfach umwerfend. Am Gay-and-Lesbian-Pride-Day in London ein Jahr nach Ende des Streiks fahren mehrere Busse aus den Streikdörfern in Wales nach London und demonstrieren dort an der Spitze der Parade mit ihren Gewerkschaftsbannern und Musikkapellen. Solche Filme gibt es selten. »Pride« zeigt, wie Klassenbewusstsein im umfassenden Sinn durch die »sinnliche Erfahrung« entsteht. Der Film erinnerte mich an ein Lenin-Zitat: Klassenbewusstsein ist nicht, wenn russische Arbeiter für höhere Löhne streiken, von Klassenbewusstsein könne man erst dann sprechen, wenn russische Arbeiter gegen die Unterdrückung der Juden streikten. Volkhard Mosler, auf unserer Facebook-Seite
Zum Artikel »Wolf Biermann: So oder so, die Erde bleibt rot…« von Rosemarie Nünning (marx21.de, 24.11.2014) Nach dem, was Biermann im Bundestag abgezogen hat, hat er eine solche »Würdigung« nicht verdient. Martina Beyer, auf unserer Facebook-Seite
★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen bitte an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de.
IMPRESSUM | LESERBRIEFE
Zum Relaunch unserer Homepage
Das Problem wäre kaum entstanden, wenn man wie in Schweden vor einigen Jahren das Tariflohnsystem ersetzt hätte durch die »individuelle Lohnfestsetzung«, bei der Löhne und Gehälter von den Vorgesetzten willkürlich bestimmt werden… Reinhard Helmers, Lund/Schweden
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FOTOSTORY
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in Racism« (»Rassismus bringt keine Ehre«) und »Not your Mascot« (»Nicht euer Maskottchen«) fordern sie von der Mannschaft, sich umzubenennen und nicht länger das Bild eines amerikanischen Ureinwohners als ihr Maskottchen zu nutzen.
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aus dem ganzen Land. Unterstützt werden sie von einem Protestzug der Studierenden der Universität Minnesota. Unten links: Die Demonstrierenden marschieren unter dem Motto »Stoppt Rassismus« zum Stadion. Mitte und rechts: Mit Slogans wie »No honor
© Light Brigading / CC BY-NC / flickr.com
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USA | Am 2. November spielt in Minneapolis die Footballmannschaft »Vikings« gegen die »Redskins« (»Rothäute«) aus Washington, D.C. Gleichzeitig gehen mehrere Tausend Menschen auf die Straße. Die Menschenmenge besteht überwiegend aus Native Americans
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FOTOSTORY
und rechts: Die Demonstration in der Hauptstadt wird von einem sehr breiten Bündnis verschiedener Organisationen und Gruppen getragen. Mehrere Gewerkschaften haben dazu aufgerufen, sodass auch der Nahverkehr zum Stillstand kommt.
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Ausgaben plant die gerade vereidigte Mitte-Rechts-Regierung von Premier Charles Michel, das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre anzuheben. Unten links: Die Protestierenden kritisieren unmenschliche Arbeitsbedingungen in verschiedenen Branchen. Mitte
© Antonio Ponte / CC BY-NC-SA / flickr.com
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BELGIEN | Gegen die Sparpolitik der Regierung gehen am 6. November in Brüssel Hunderttausend Menschen auf die Straße. Sie sind es leid, »wie Hühnchen gerupft zu werden« (»Marre de se faire plumer«). Neben einer Steuerreform und der Kürzung der öffentlichen
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AKTUELLE ANALYSE
Das Problem heißt Rassismus, nicht Salafismus Fünf Thesen über den Erfolg des Netzwerk »Hooligans gegen Salafismus« (HoGeSa), den antimuslimischen Rassismus und die Aufgaben der Linken VOM NETZWERK MARX21
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Auftaktpodium: Islamfeindlichkeit – Rassismus im Gewand der Aufklärung Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de
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Die Mobilisierungserfolge des Netzwerks »Hooligans gegen Salafismus« (HoGeSa) sind Ausdruck eines Strategiewechsels in der rechten Szene: Die Hetze gegen Muslime und den Islam ist zu einem zentralen Bestandteil ihrer Politik geworden. Unter dem Deckmantel der »Salafismuskritik« wollen die Neonazis im Kampf um die Straße wieder in die Offensive kommen. Die rechte Szene verschiebt anscheinend den inhaltlichen Schwerpunkt ihrer Straßenproteste. In der Vergangenheit hatten die größten Aufmärsche vor allem die Traditionspflege zum Anlass. Beispiele dafür sind die Feiern zur Verherrlichung des ehemaligen Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß oder die Aufmärsche anlässlich der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Der jährliche Naziaufmarsch in Dresden war einmal der größte Europas, bevor wiederholte Blockaden von antifaschistischen Bündnissen seine Durchführung nahezu unmöglich gemacht haben. Es war allerdings nur eine Frage der Zeit, bis die Nazis einen neuen Weg auf die Straße finden würden. Denn Aufmärsche wie in Dresden stellen eines der zentralen Elemente in der Strategie der Faschistinnen und Faschisten dar. Neben dem Kampf um die Köpfe und dem Kampf um die Parlamente führen sie bewusst einen Kampf um die Straße, um Macht zu demonstrieren. Faschistinnen und Faschisten können Anziehungskraft auf ihr Umfeld ausüben, wenn sie den Eindruck erwecken, sie könnten ihre Gegner niederhalten. Aufmärsche lassen sie als die Macht auf der Straße erscheinen. Der HoGeSa-Aufmarsch von Köln war die größte Machtdemonstration der
extremen Rechten der vergangenen Jahre. Während der Demonstration waren zahlreiche klassische Neonazi-Parolen wie »Hier marschiert der nationale Widerstand«, »Frei, sozial und national« oder »Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!« zu hören. Mehrfach wurde Journalistinnen und Journalisten unter Rufen wie »Lügenpresse auf die Fresse« Gewalt angedroht. Klar ist: HoGeSa besteht keineswegs nur aus randalierenden »unpolitischen« Fußballfans. Zu den Gründungsmitgliedern zählten von Beginn an rechtsextreme Kader aus ganz Deutschland. Dazu gehören Christian Hehl, bekennender Neonazi und NPD-Gemeinderatsmitglied in Mannheim, Siegfried Borchardt von der Partei Die Rechte und der Pro-NRW-Ratsherr Dominik Horst Roeseler. Letzterer agierte als Sprecher der Gruppe. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den »Salafismus« einen Kampf gegen »den« Islam zu führen, ist zum vereinenden Band zwischen sich gemäßigt gebenden Rechtskonservativen, der extremen Rechten und Hooligans geworden. Parteien wie Pro Deutschland, die »Identitäre Bewegung« (IB), die islamfeindliche German Defence League (GDL), die NPD und zuletzt auch rechte und neonazistische Fußball-Hooligans riefen stets zum Protest, wenn sich Salafiten in der Öffentlichkeit präsentieren. Die rechte Szene will das Schreckensbild »Salafismus« nutzen und erhofft sich die Zustimmung auch aus liberalen Kreisen. Wenn die Linke nicht handelt, besteht die Gefahr, dass sich über das HoGeSa-Netzwerk eine radikalisierte und von Neonazis organisierte gewaltbereite Speerspitze einer antimuslimischen Bewegung bildet.
Islamfeindlichkeit hat mit Religionskritik nichts zu tun
© blu-news.org / CC BY-SA / flickr.com
das Konto des Rechtsterrorismus von Gruppen wie dem NSU gehen. So leugnete auch der Verfassungsschutz bis 2011 in seinen jährlich herausgegebenen Berichten, dass es rechtsterroristische Strukturen oder organisierte rechte Gewalt in Deutschland gibt, obwohl die Existenz des NSU schon damals bekannt war. Auch die Angriffe auf das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und auf die Rechte von Homosexuellen stammen hauptsächlich nicht von islamischen Gläubigen, sondern von fundamentalistischen christlichen Strömungen. In Berlin demonstrierten am 20. September dieses Jahres 5000 sogenannte »Lebensschützer« gegen das Recht auf Abtreibung. Verschwiegen wird zudem, dass der Antisemitismus durchaus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft verankert ist und ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt. Islamfeindlichkeit ist eine Ideologie, die Muslimas und Muslime sowie »den« Islam insgesamt als völlig anders von der eigenen Gruppe – in unserem Fall: der deutschen Mehrheitsgesellschaft – darstellt und ausgrenzt. Ihnen werden aufgrund ihrer Religion besondere Merkmale und Verhaltensweisen unterstellt. Folglich werden Menschen mit einem vermeintlich muslimischen Hintergrund unabhängig von ihrer Selbstverortung nur noch über »ihre« Religion definiert: »Ein Türke oder Araber handelt so, weil er Muslim ist«. Anstelle der Konstruktion der »Rasse« werden sie in das Korsett einer »kulturell-religiösen Gruppe« gesteckt. Diese fiktive Gruppe wird als Ein-
Aufmarsch des HoGeSa-Netzwerks am 26. Oktober in Köln: Statt der Traditionspflege widmet sich die radikale Rechte zunehmend der Hetze gegen Muslime. Hier sieht sie eine Chance an die weit verbreiteten Vorurteile gegenüber »dem Islam« anzuknüpfen
AKTUELLE ANALYSE
2.
Der antimuslimische Rassismus der bürgerlichen Mitte gibt Neonazis und rechten Hooligans Rückenwind für ihre Hetze gegen den Islam. Die Islamfeindlichkeit, die mit differenzierter Religionskritik in den allerwenigsten Fällen etwas zu tun hat, erfüllt mittlerweile alle Merkmale des klassischen Rassismus. Die Fokussierung der rechten Szene auf das Thema »Islam« ist wohl kalkuliert. Jürgen Gansel, der für die NPD zwischen 2004 und 2014 im Sächsischen Landtag saß, drückt die dahinterstehenden strategischen Überlegungen folgendermaßen aus: »Die nationale Opposition ist also wahltaktisch gut beraten, die Ausländerfrage auf die Moslemfrage zuzuspitzen (ohne sie freilich darauf zu beschränken) und die Moslems als Projektionsfläche für all das anzubieten, was den Durchschnittsdeutschen an Ausländern stört.« Das Mittel hierzu waren in den letzten Jahren vor allem Kampagnen gegen Moscheebauten sowie neuerdings auch Aktionen gegen Salafitinnen und Salafiten. Die rechte Szene kann dabei darauf setzen, dass Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien ebenso wie ein Großteil der Medien das Feindbild Islam weiter aufbauen. Seit mehreren Jahren wird der Islam in der Öffentlichkeit gezielt mit überwiegend negativ besetzten Themen in Zusammenhang gebracht wie beispielsweise Terrorismus, Frauenunterdrückung, Homophobie oder Antisemitismus.Das passiert, obwohl in Deutschland die allermeisten Terrorangriffe auf
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© duesseldorf-blog / CC BY-SA / flickr.com
3.
Feindbild Islam beim Karneval (o.) und in den Medien (l.): In beiden Fällen wird ein stereotypes Bild konstruiert, das für alles steht, wovon man sich absetzen will: Irrationalität, Fanatismus und Rückständigkeit
heit gesehen. Ignoriert wird dabei, dass Menschen in Deutschland, die ursprünglich in den 1980er Jahren als Dissidenten aus dem Iran flohen, nicht viel gemeinsam haben mit den Kindern der ehemaligen von Deutschland angeworbenen türkischen »Gastarbeiter- und Gastarbeiterinnen« oder dem Immobilienmakler aus Abu Dhabi. In den meisten Fällen eint sie lediglich die Diskriminierungserfahrung als vermeintliche Muslimas und Muslime. Dass sie ansonsten in ihren Identitäten, Interessen und ihrem sozialen Status viel mehr mit herkunftsdeutschen Mitmenschen ähnlicher Milieus teilen, wird dabei ebenso ignoriert. Auch findet keine Beachtung, dass es – wie in jeder anderen Religion – unterschiedlichste Strömungen gibt. Es gibt nicht »den« Islam. In der Logik des Rassismus rechtfertigt die angebliche negative Andersartigkeit der Muslimas und Muslime, sie anders (schlechter) zu behandeln und ihre Rechte einzuschränken. Der Fraktionsvorsitzende der AfD im Thüringer Landtag, Björn Höcke, drückt das so aus: »Thilo Sarrazin sagte einmal, dass er, wenn er den Muezzin rufen hören möchte, ins Morgenland fahren würde. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich wünsche nicht, dass Europa ein vom Islam dominierter Kontinent wird – er hat eine Heimat. Punkt.« Was er ausspricht, setzen andere in die Tat um: Allein in den letzten zwölf Monaten kam es bundesweit zu 37 Anschlägen auf Moscheen, seit dem Jahr 2001 waren es über 200. Einige Moscheen benötigen mittlerweile denselben Polizeischutz wie etliche Synagogen. Beides ist mehr als verstörend in einem Land, in dem vor fast 80 Jahren Tausende Synagogen angezündet wurden.
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Die Linke sollte zu einer differenzierten Analyse des Salafismus in Deutschland beitragen. Die salafitischen Gläubigen sind eine Minderheit innerhalb der Minderheit und zudem keine homogene Gruppe. Der Begriff Salafiya leitet sich von »as-Salaf as-Sahih« ab, was so viel wie »die rechtschaffenen Vorfahren« bedeutet. In der Regel sind damit die ersten drei Generationen der Muslimas und Muslime gemeint. Genauso wie islamische Gläubige im Allgemeinen keine homogene Gruppe bilden, obwohl sie sich alle auf den Koran berufen, so ist auch die salafitische Glaubensgemeinschaft keine homogene Gruppe, trotz ihrer Orientierung am Ur-Islam. So war die Salafiya-Bewegung im 19. Jahrhundert eine reformistische und modernisierende. Besonders bekannte Vertreter dieser modernen Salafiya waren Dschamal ad-Din al-Afghani und Mohammed Abduh. Anders als der zeitgenössische Salafismus, hielten sie den Koran und die Sunna für interpretationsfähig und versuchten so, den Islam an die Moderne anzupassen. Erst durch die brutale Verfolgung der Muslimbrüder und den wachsenden Einfluss Saudi-Arabiens wurde die Salafiya überwiegend konservativ und reaktionär. Aber selbst innerhalb konservativer salafitischer Kreise gibt es mindestens drei unterschiedliche Strömungen: Den Purismus, den politischen Salafismus und den Dschihadismus. Die puristischen Salafitinnen und Salafiten sind apolitisch, lehnen Gewalt strikt ab und beschränken sich auf Missionierung. Die Politischen wollen gewaltfrei an die Macht gelangen. Die als besondere Bedrohung dargestellten Dschihadistinnen und Dschihadisten befürworten Gewaltanwendung im Namen Gottes, sind aber selbst in der salafitischen Gemeinschaft nur eine Minderheit.
4.
Die reale Gefahr eines neuen Rassismus und – dahinter lauernd – eines neuen Faschismus geht in Deutschland nicht von salafitischen religiösen Sekten aus, sondern von der wachsenden Zahl der »Islamkritiker«. In Deutschland leben angeblich 6300 Salafitinnen und Salafiten, was 0,1 Prozent aller hierzulande lebender Muslimas und Muslime ausmacht. Der für seine »seriösen« Einschätzungen und Analysen bekannte Verfassungsschutz geht von 100-150 »Gefährdern« aus und meint damit Menschen, die zu Anschlägen bereit sein könnten. Trotz dieser geringen Zahlen werden die Gewaltbereiten mit der Mehrzahl der friedlich lebenden Muslimas und Muslime gleichgesetzt und es wird von einer großen Gefahr durch den »Islamismus« gesprochen. Das aufgebaute Schreckgespenst »Salafismus« steht in keinerlei Verhältnis zum Bedrohungspotential. Zum Vergleich: Den 100-150 »Gefährdern« stehen laut demselben Verfassungsschutzbericht
9.600 militante Rechtsextreme gegenüber. Es sind die täglichen Übergriffe von Neonazis auf Ausländerinnen und Ausländer und linke Aktivistinnen und Aktivisten, es sind die Anschläge auf Moscheen, linke Jugendzentren und Bürgerbüros, es sind die regelrechten »No-Go-Areas« und »national befreite Zonen« in ländlichen Gebieten, aber auch Stadtvierteln in Großstädten, die ein Klima der Angst schaffen – nicht Koran verteilende Salafitinnen und Salafiten oder fünfzehn sich als Scharia-Polizei aufspielende Mitglieder fundamentalistischer Gruppierungen. Dass der Salafismus in Deutschland hegemonial werden könnte, ist höchst unrealistisch: Er wird niemals in der Lage sein, über gesellschaftliche Machtverhältnisse zu entscheiden. Der Rassismus hingegen ist es bereits, denn er spaltet schon jetzt die Gesellschaft in Muslime und Nicht-Muslime und verbreitet Misstrauen und Hass. Wissenschaftliche Studien über Rassismus haben in den letzten Jahren einen Anstieg von Vorurteilen gegen Asylsuchende, gegen Sinti und Roma, gegen Muslimas und Muslims festgestellt. Eine im Juni veröffentliche Untersuchung der Universität Leipzig, die sogenannte »Mitte-Studie«, ergab, dass fünf Prozent der Deutschen antisemitisch eingestellt seien und 36 Prozent »explizit islamfeindlichen Aussagen zustimmten« (2011 noch 22,6 Prozent), 55,9 Prozent zeigten »antiziganische Einstellungen« (2011: 44,2 Prozent) und 55 Prozent hatten starke Vorurteile gegen Asylbewerberinnen und Asylbewerber (2011: 46,7 Prozent). Darauf bauen die Nazis auf. So ist es kaum verwunderlich, dass der HoGeSa-Aufmarsch am 5. Dezember in Halle unter dem Motto »gegen die Islamisierung, die Zigeunerplage und den Asylantenwahnsinn« stand.
gleichzeitig religiösen Menschen zuwenden und ihre sozialen Interessen als Anknüpfungspunkt sehen. Der Blick auf junge Männer und Frauen, die sich konservativen oder reaktionären Strömungen des Islams zuwenden, ignoriert meist die sozialen Ursachen dafür. Wer den Zulauf zu Pierre Vogel und anderen nur als irrational abstempelt und nach sicherheitspolitischen Antworten ruft, blendet aus, dass die politisch Verantwortlichen in Deutschland mit ihrer verfehlten Asylgesetzgebung, mit der Diskriminierung junger Menschen mit nichtdeutschen Namen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem und nicht zuletzt mit ihrer Unterstützung für die US-Kriege im Nahen Osten diesen Zulauf selbst mitzuverantworten haben. Wer von klein auf nur Ablehnung, Rassismus und ökonomische Chancenlosigkeit erlebt hat, ist empfänglich für Gruppierungen, die positive Identifikationsangebote bieten und scheinbar »den Spieß umdrehen« gegen den westlichen Imperialismus. Dass sogar innerhalb der Linken teilweise eine Gleichsetzung zwischen Rassismus und Salafismus betrieben wird, ist für den gemeinsamen Kampf gegen HoGeSa und andere rechte »Islamhasser« wenig hilfreich. So wendete sich der Aufruf des linken Bündnisses gegen den HoGeSa-Aufmarsch in Hannover auch gegen »religiösen Fundamentalismus«. Solche Gleichsetzungen sind gefährlich – nicht nur, weil sie die falschen Behauptungen über Salafismus reproduzieren, sondern vor allem, weil sie eine Zusammenarbeit mit der von Rassismus betroffenen religiösen Minderheit der Muslimas und Muslime erschweren. Linke sollten sich für die Gleichberechtigung der Religionen und die Trennung von Staat und Kirche einsetzen, anstatt sich nur in abstrakter Religionskritik zu üben. Wir sollten die Ursachen bekämpfen, die Religion als »Schmerzmittel« attraktiv machen, statt unsere Zeit dem Kampf gegen Religion zu widmen. Eine Linke, die sich gegen soziale Spaltung, Ausgrenzung und Diskriminierung stellt, ist in der Lage, für eine Welt zu kämpfen, in der die Menschen nicht mehr ihre Schmerzen betäuben müssen. Linke sollten sich schützend vor diejenigen stellen, die von rassistischer Gewalt bedroht sind. Sie sollten zwischen Opfern von Rassismus keinen Unterschied machen. So wie wir uns solidarisch vor Opfer antisemitisch motivierter Übergriffe stellen, sollten wir uns schützend vor Muslimas und Muslime stellen, wenn diese unter dem Deckmantel des Antisalafismus bedroht werden. Das Problem heißt Rassismus, nicht Salafismus. ■
Allein letztes Jahr gab es 37 Anschläge auf Moscheen
IN EIGENER SACHE
Kein Kioskverkauf im Jahr 2015 Aus finanziellen Gründen müssen wir leider vorerst den Verkauf des Heftes am Kiosk einstellen. Wenn du auch 2015 keine Ausgabe verpassen willst, dann unterstütze uns mit einem Abo. Einzelhefte können ebenfalls unter marx21. de bestellt werden.
AKTUELLE ANALYSE
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Es ist die Aufgabe von Linken, Rassismus gegen religiöse Minderheiten zurückzuweisen, ungeachtet dessen, wie sympathisch uns einzelne Gruppierungen sein mögen. Es geht um konkrete und praktische Solidarität vor dem Hintergrund steigender Zustimmung zu rechter Hetze. Die von Rassismus betroffene religiöse Minderheit der Muslimas und Muslime muss in die antirassistische und antifaschistische Bewegung miteinbezogen werden. Dass religiöse Prediger von jungen Migrantinnen und Migranten und darüber hinaus Zulauf erhalten, hängt auch mit der Unfähigkeit von Teilen der Linken zusammen, eine angemessene Position zur Religion zu finden. Die Linke muss sich viel kritischer mit dem Missbrauch von Religion auseinandersetzen und sich
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AKTUELLE ANALYSE
Symptom: Ebola Diagnose: Kapitalismus VON KIRSTEN SCHUBERT
»Medizin ist eine soziale Wissenschaft und Politik nichts weiter als Medizin im Großen«, schrieb einst der berühmte Berliner Sozialmediziner und Politiker Rudolf Virchow. Was derzeit in Westafrika passiert, ist kein medizinisches Desaster, sondern ein politisches 14
Die hohe Sterblichkeit bei eigentlich gut oder zumindest besser behandelbaren Krankheiten ist in den meisten Ländern Afrikas nichts Neues. Malaria, Tuberkulose, AIDS, aber auch Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Herzinfarkt fordern deutlich mehr Opfer, als es unter guten medizinischen Bedingungen der Fall ist. Von den mittlerweile über 10.000 mit Ebola Infizierten ist knapp die Hälfte gestorben. Das fadenförmige Virus überträgt sich durch die Körpersekrete symptomatischer Patienten. Infizierte, die noch keine Symptome haben, sind während der Inkubationszeit von zwei bis 21 Tagen nach aktuellem Stand nicht ansteckend. Anders als das Grippevirus überträgt sich Ebola nur durch den direkten Kontakt von Schleimhäuten mit dem infektiösen Material – nicht über Tröpfchen, die zum Beispiel beim Husten entstehen. Der Übertragungsweg ist der enge Kontakt zu den Erkrankten, meist sind es Bekannte, Familienmitglieder oder Pflegepersonal. Die Versorgung kranker Angehöriger ist in Westafrika traditionell Aufgabe der Familie. Das marode, nahezu nicht existente Gesundheitssystem zwingt die Menschen jedoch dazu, auch schwerkranke Familienmitglieder zu Hause zu pflegen – selbst wenn eine mögliche Ansteckungsgefahr bereits bekannt ist. Viele Menschen haben sich
bei der traditionellen Waschung und Versorgung der Toten infiziert. Die Viruslast ist auf dem Höhepunkt der Erkrankung am höchsten. Ganze Familien wurden durch das Virus ausgelöscht. Durch das Virus? Nein, denn mit guter medizinischer Versorgung hätten viele von ihnen überlebt. Die drei Länder Westafrikas, in denen Ebola ausbrach, gehören zu den ärmsten der Welt. Auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen belegen Liberia, Guinea und Sierra Leone die untersten Plätze: 175, 179 und 183 von insgesamt 187 gelisteten Ländern. Sie alle sind geprägt von der kolonialen Vergangenheit und der neoliberalen Gegenwart. Die Folgen der Sklaverei, der Militärdiktaturen und Bürgerkriege wirken nach und prägten ein nachvollziehbares Misstrauen in die herrschenden Eliten. Sierra Leone hat mit nur 45 Jahren die weltweit niedrigste durchschnittliche Lebenserwartung. Das liegt auch an der extrem hohen Kindersterblichkeit: Von 1000 Kindern erreichen 107 nicht das erste Lebensjahr. In Deutschland sind es drei. Dabei ist Sierra Leone ein reiches Land. Reich an Kultur und reich an Ressourcen: Der Boden beherbergt wichtige Rohstoffe der kapitalistischen Industrie: Diamanten, Gold, Platin, Grundstoffe für die Aluminiumgewinnung und Seltene Erden für die Produktion von Mobiltelefonen. Auch die fruchtbare Oberfläche dient mehr dem Export als der Ernährung der Menschen, die auf ihr leben und sie für Hungerlöhne bewirtschaften. Im Nachbarland Guinea kaufte im Jahr 2010 der durch englische Investorinnen und Investoren gestützte Konzern Farm Land of Guinea Limited riesige Flächen für den Soja- und Maisanbau. Der italienische Stromkonzern Nouve Iniziative erstand 700.000 Hektar für die Produktion sogenannter Biotreibstoffe. Viele Menschen lebten zuvor von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Sie werden vertrieben und müssen auf der Suche nach Nahrung und Brennholz in Waldgebiete ausweichen. Hier werden sie mit neuen Krankheitserregern konfrontiert, die zuvor Affen oder Flughunde besiedelt haben. Die mangelhaften Gesundheits- und Bildungssysteme in den Regionen machen es unmöglich, den Ausbruch dieser Krankheiten zu verhindern. Die Migration vom Land in die Slums der Großstädte bietet den perfekten Nährboden für die Ausbreitung der Viren. Es gibt einen Fachausdruck für Krankheiten, die durch ärztliches Handeln entstehen: Iatrogene In-
© Dr. Frederick A. Murphy / CDC / wikimedia.org
Die Menschen sterben einen vermeidbaren Tod
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KIRSTEN SCHUBERT ist Ärztin und Mitglied im Vorstand des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte e.V.
AKTUELLE ANALYSE
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ür Deutschland ist Ebola keine Gefahr. Beruhigend und zugleich verstörend. Neunzig Prozent der Ebolainfizierten könnten mit der richtigen medizinischen Ausstattung überleben, so der US-amerikanische Mediziner und Anthropologe Paul Farmer. Dabei geht es primär um kreislaufunterstützende Maßnahmen wie die Gabe von Flüssigkeit, Sauerstoff und blutdruckstabilisierende Medikamente. Das ist mit der Basisausstattung eines durchschnittlichen Krankenhauses zu gewährleisten. Tatsächlich sterben mehr als fünfzig Prozent der Erkrankten: In den Ländern, die aktuell von dem Ebolaausbruch betroffen sind, ist diese Basisausstattung höchstens rudimentär vorhanden. Ähnlich ist es mit der Prävention: Einmalhandschuhe, Atemmasken und Desinfektionsmittel könnten einen Großteil der Übertragung unterbinden. Doch der überwiegende Teil des Gesundheitspersonals und erst recht die pflegenden Angehörigen müssen auf diese extrem kostengünstigen Medizinprodukte verzichten. Wie so oft sterben die Menschen dort einen vermeidbaren Tod. Wer weiß ist oder den richtigen Pass hat, wird ausgeflogen.
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fektion. Über Jahrzehnte hat der »Patient« Afrika die falsche Therapie erhalten. Im Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen wurde die Wirtschaft auf den Export ausgerichtet und an öffentlicher Daseinsvorsorge gespart. Ähnlich wie wir es aktuell in Europa erleben, wurden in nahezu allen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens »bittere Pillen« verabreicht, um die Staatsverschuldung einzudämmen. Einer der größten Kostenfaktoren eines jeden Staatshaushalts ist das Gesundheitssystem. Hier setzten die Weltbank und der Internationale Währungsfonds meist zuerst den Rotstift an. Die geringen Errungenschaften der Jahre des Wirtschaftsbooms vor 1970 wurden zunichte gemacht, Gebühren eingeführt und Privatisierung salonfähig gemacht. Heute arbeiten mehr liberianische Medizinerinnen und Mediziner im Ausland als im Inland. Auf vier Millionen Menschen in Liberia kommen nur knapp fünfzig Ärztinnen und Ärzte. Genauso desolat steht es um die übrigen Gesundheitsbeschäftigten und die gesamte medizinische Infrastruktur. Das Gesundheitssystem in allen drei Ländern ist kurz vor dem Kollaps. Dies macht nicht nur die dringende Behandlung der Ebolaerkrankten unmöglich. Auch die Behandlung anderer Krankheiten und die Geburtshilfe leiden darunter. Geschlossene Krankenhäuser, Mangel an Gesundheitspersonal, aber auch die Angst vor Ansteckung verschlimmern die zuvor schon dramatische Lage. Zu Recht schreibt der bereits erwähnte Paul Farmer: »Ebola ist das Symptom eines maroden Gesundheitssystems.«
Ebola nötig wären, wurden bis Mitte Oktober nur 290 Millionen aufgebracht. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen fordert für Liberia, wo die Infektionen am weitesten verbreitet sind, 800 bis 1000 Isolationsbetten statt der vorhandenen 150 bis 180 Betten. Neben der medizinischen Grundausrüstung fehlt es vor allem an ausgebildetem Pflegepersonal. Radikalkur anstelle von Prävention ist ein weiteres Mal die Politik der Industrienationen. Die USA schicken 3000 Soldatinnen und Soldaten nach Westafrika. Militärische statt humanitärer Hilfe macht es den Ländern in Westafrika jedoch sehr schwer, unabhängig von den Interessen der US-Regierung zu handeln. Dabei wäre eine selbstständige Kontrolle der Regierungen vor Ort ein wichtiger Schritt für den Aufbau von Infrastruktur und für langfristige Verbesserungen.
Chronische Krankheiten sind profitabler
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Rassismus, Sexismus, und Ausbeutung - wie verhält sich Unterdrükkung zum Kapitalismus? Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de
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Die Auswirkungen neoliberaler Haushaltskürzungen auf die Gesundheit der Menschen ließen sich auch in Griechenland beobachten: Die öffentlichen Gelder für Krankenversorgung und Prävention wurden im Rahmen der Krise auf Druck der inneren und äußeren Troika massiv zusammengestrichen. Ausbrüche von Malaria und dem WestNil-Virus folgten. Die Zahl der Toten durch Grippe und die Zahl der HIV-Infektionen schnellten in die Höhe. Und auch der Pflegenotstand in Deutschland entwickelt zunehmend gefährliche bis tödliche Auswirkungen auf das Wohl der Patientinnen und Patienten und der Pflegenden: Er ist direkt mit der Zunahme von multiresistenten Keimen im Krankenhaus in Verbindung zu bringen. Was tun? Von den schätzungsweise 786 Millionen Euro, die für die Eindämmung und Bekämpfung von
Die Militarisierung der Gesundheitspolitik muss im Kontext der geopolitischen Ziele der USA gesehen werden. Armeen verfolgen immer die strategischen Ziele ihres Staates. Nachdem China zunehmend auf dem afrikanischen Kontinent Fuß fassen konnte, versuchen die USA nun wieder an Einfluss zu gewinnen: Erst Anfang August fand der US-Afrika-Gipfel in Washington statt. Fast fünfzig Staaten waren vertreten, amerikanische Unternehmen versprachen Investitionen in Höhe von 33 Milliarden Dollar. Im Jahr 2007 wurde das sechste Regionalkommando der US-Streitkräfte, United States Africa Command (AFRICOM), gegründet – mit Hauptquartier in Stuttgart. Ein Viertel des US-amerikanischen Öls soll in Zukunft aus Afrika kommen. Auch an anderer Stelle wird eine wirksame Therapie durch Profitinteressen verhindert. Für die Pharmafirmen lohnt es sich nicht, in Medikamente zu investieren, die nur kurze Zeit eingenommen werden. Viel profitabler sind die großen chronischen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Krebs. Erkrankte müssen täglich Tabletten einnehmen – ein profitables Geschäft. Da ist es schon geschäftsschädigend, wenn man darauf hinweist, dass diese chronischen Krankheiten zu einem großen Teil Folgen der sozialen und politischen Bedingungen und somit vermeidbar sind. Dass der Markt dem Profit und nicht dem Bedarf folgt, ist selbstverständlich. Eine privatwirtschaftlich organisierte Pharmaindustrie wird nie die von der Gesellschaft benötigten Medikamente entwickeln. Der Bedarf an Medikamenten ist ohnehin schwer
© Carlos Latuff
Soldaten statt Ärzte: Westafrika bräuchte sofortige humanitäre und medizinische Hilfe. Stattdessen schickt der Westen Militär
wundert es nicht, dass die WHO erst mit einer Verzögerung von vier Monaten die höchste Alarmstufe für Ebola ausgerufen hat. Wahrscheinlich zu spät. Im Fall Ebola sollte die Bundesregierung Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen verstärkt unterstützen. Bisher belief sich die Hilfe auf 500.000 Euro. Außerdem könnte die spezielle Ausbildung der Helfenden, die unter schwersten Bedingungen in Westafrika arbeiten, gefördert werden. Ausrüstung und Fachwissen dafür gibt es in Deutschland. Sie sollten in solchen Krisenregionen schnellstmöglich zum Einsatz kommen. Das wäre ein Ansatz für Nothilfemaßnahmen. Eine nachhaltige Therapie müsste die Gesundheitssysteme der Länder Westafrikas darin unterstützen demokratisch organisierte, patientenzentrierte und gesundheitsförderliche Infrastrukturen aufzubauen. Verhindern lassen sich solche Ausbrüche jedoch nur, indem man die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen drastisch verbessert. ■
AKTUELLE ANALYSE
zu definieren und unterliegt ständigem Wandel. Nur eine demokratisierte Wirtschaftsform könnte dem gerecht werden. Bis dahin müssten Pharmaunternehmen gezwungen werden, die Ergebnisse ihrer Forschungen in öffentliche Patentpools zu geben. Seit dem Jahr 1976 wütet Ebola in Afrika. Bislang existiert nur eine experimentelle Therapie, die auch nur begrenzt zur Verfügung steht. Erhalten haben sie bis jetzt nur Weiße. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist zunehmend auf die Gelder von Stiftungen und der Wirtschaft angewiesen. Auf der Liste der Sponsorinnen und Sponsoren stehen die weltweit größten Pharmakonzerne wie Bayer, Merck oder Novartis. Das Budget der WHO beläuft sich auf vier Milliarden US-Dollar, davon sind drei Milliarden freiwillige Beiträge. Die Pflichtbeiträge der Mitgliedstaaten sind seit den 1980er Jahren eingefroren. Im aktuellen Zweijahreshaushalt wurden die Gelder für die Krisenintervention um mehr als fünfzig Prozent gekürzt. So
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UNSERE MEINUNG NAHOST-DEBATTE IN DER LINKEN
Kritik an Israel ist legitim
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VON STEFAN BORNOST
n der Partei DIE LINKE kursiert ein Aufruf mit dem Titel »Ihr sprecht nicht für uns«. Die Initiatorinnen und Initiatoren legen den Bundestagsabgeordneten Annette Groth, Heike Hänsel und Inge Höger indirekt nahe, ihre Mandate niederzulegen. Anlass ist der Konflikt um eine Veranstaltung mit den israelkritischen Journalisten David Sheen und Max Blumenthal. Dieser Aufruf ist schädlich, spaltet die Partei und wird vor allem den Herausforderungen für DIE LINKE durch die Eskalation der Lage in Ostjerusalem nicht gerecht. Der Hauptvorwurf an die drei Abgeordneten lautet, sie hätten mit Sheen und Blumenthal Personen eingeladen, »die unzulässige Vergleiche Israels mit der deutschen Nazidiktatur« ziehen. Dass diese Vorwürfe sachlich falsch sind, davon konnten sich die Teilnehmenden der kurzfristig verlegten Veranstaltung überzeugen. Hier berichteten die beiden Journalisten fundiert und sachkundig von einem gefährlichen Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft. Wie jüngste Studien belegen, gibt es in Israel einen Aufschwung des Rassismus sowohl gegenüber Menschen arabischer Herkunft als auch gegenüber zugewanderten, jüdischen Nicht-Weißen. Die religiöse Rechte prägt zunehmend das gesellschaftliche Klima. Sie hetzt gegen Andersdenkende und Andersgläubige und organisiert zum Beispiel Demonstrationen gegen interreligiöse Heirat. Der Ton von Seiten der Rechten hat sich deutlich verschärft: Im August verfasste Moshe Feiglin, immerhin stellvertretender Vorsitzender der Knesset, einen Brief an Premierminister Benjamin Netanjahu. Hier fordert er die endgültige Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen, die völlige militärische Zerstörung des gesamten Gebiets und die anschließende Umwandlung in israelisches Staatsgebiet: »Ein Haar auf dem Kopf eines israelischen Soldaten ist kostbarer als die ganze Bevölkerung von Gaza, die Hamas gewählt hat.« Miri Regev, Vorsitzende des Innenausschusses, bezeichnete im Jahr 2012 sudanesische Flüchtlinge als »Krebs« der israelischen Gesellschaft. Solche extremen Stimmen gab es in Israel immer. Sheen und
Blumenthal haben aber darauf hingewiesen, dass sie zunehmend Gehör finden, insbesondere unter jüngeren Israelis. Eine Darstellung dieser Sachverhalte ist nicht antisemitisch. Nicht kritische Journalistinnen und Journalisten oder linke Bundestagsabgeordnete schüren Hass, sondern die israelische Regierung. Das wird vielfach auch so wahrgenommen. Weltweit gibt es Empörung über Tod und Zerstörung in Gaza. Das Unterhaus in Großbritannien und das schwedische Parlament haben erst kürzlich Palästina als Staat anerkannt. Die Untergrabung der palästinensischen Selbstbestimmung durch den fortgesetzten Siedlungsbau ist so eklatant, das sich selbst die Regierung in Washington und die Staatsführungen einiger EUStaaten kritisch äußern. Natürlich versucht die zunehmend isolierte israelische Regierung, Kritikerinnen und Kritiker ihrer Politik mundtot zu machen, indem sie ihnen Antisemitismus vorwirft. Doch eine linke Partei, die für sich in Anspruch nimmt, auf der Seite der Unterdrückten und Entrechteten zu stehen, sollte sich diese Argumentation nicht zu eigen machen. Dabei könnte DIE LINKE durchaus eine produktive Rolle spielen in der weltweiten Kampagne gegen die Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser. Mit einer wahrnehmbaren Kritik am Siedlungsbau könnte sie konkret aufzeigen, wer die Eskalation in Nahost zu verantworten hat. So würde sie auch verlorenen Kredit unter den vielen Aktivistinnen und Aktivisten, die das Leid der Bevölkerung Palästinas bewegt, wiedergewinnen. Das ist wesentlich produktiver als der Versuch der Initiatoren des Aufrufs »Ihr sprecht nicht für uns«, den Nahostkonflikt zu instrumentalisieren, um eine parteiinterne Schlacht gegen den linken Flügel auszutragen.
Der Nahostkonflikt wird parteiintern instrumentalisiert
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★ ★★ STEFAN BORNOST schreibt regelmäßig für marx21.
KARIKATUR © Klaus Stuttmann
MILLENNIUMS-ENTWICKLUNGSZIELE
Ein Armutsbericht trem arm«, wer von weniger als 1,25 USDollar am Tag lebt. Tatsächlich ist der Anteil der Weltbevölkerung, auf den das zutrifft, zurückgegangen. Das ist jedoch vor allem auf die Entwicklung in China zurückzuführen – einem Land, das den Empfehlungen der UN nicht folgt. Außer-
Die UN ist eine Meisterin der Schönfärberei dem bedeutet dieser Wandel keineswegs, dass sich die Lage der Menschen verbessert haben muss. Die rein monetäre Bemessung der Armut lässt zum Beispiel die Zerstörung ländlicher Strukturen, die jährlich Millionen Menschen in die Lohnabhängigkeit zwingt und in die Slums der Megastädte treibt, als einen Erfolg in der Armutsbekämpfung erscheinen. Die Entwicklungspolitik der UN folgt den glei-
chen neoliberalen Prinzipien wie der IWF und die Weltbank. In den Ländern, in denen dieser Kurs am konsequentesten verfolgt wird, hat sich die Armut nicht einmal den geschönten Daten der UN zufolge reduziert. Im Gegenteil: In vielen Regionen haben Krise und Nahrungsmittelspekulation die Lage sogar noch verschärft. Momentan arbeitet die UN am Nachfolgerahmen der Millenniumsziele, in welchem Fragen der Nachhaltigkeit im Mittelpunkt stehen sollen. Ich bin schon gespannt auf die schönen Fotos aus dem indonesischen Regenwald. ★ ★★ MARTIN HALLER ist Redakteur von marx21. UNSERE MEINUNG
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enn es eine Organisation gibt, die es immer schafft, ihr Scheitern als Erfolg zu verkaufen, dann sind es die Vereinten Nationen. »Wer UNO heißt, der niemals auf den Teller scheißt«, formulierte es Christoph Schlingensief einst treffend. »Die Millenniums-Entwicklungsziele sind der erfolgreichste, je unternommene globale Vorstoß gegen die Armut«, so der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon über die im Jahr 2000 verfassten Ziele, die bis 2015 erreicht sein sollen. Und tatsächlich: Auch der diesjährige Bericht ist mal wieder voll von Erfolgsmeldungen. Zwischen den hochauflösenden Fotos von peruanischen Schulkindern und ugandischen Marktfrauen wird verkündet, dass die extreme Armut seit 1990 weltweit um über die Hälfte zurückgegangen sei. Das klingt beeindruckend. Doch bei genauerem Blick ergibt sich ein anderes Bild. Für die UN gilt als »ex-
VON MARTIN HALLER
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Türkei Eine kurze Geschichte der PKK
Rojava Projekt auf dünnem Eis
US-Bomben auf Syrien? Interview mit einem syrischen Sozialisten
Analyse Ist der Islamische Staat faschistisch?
Religiöses Sektierertum Ein Phänomen der Moderne
© Seven Resist / CC BY-NC-SA / flickr.com
TITELTHEMA FREIHEIT FÜR KURDISTAN. ABER WIE?
»Es ist Zeit, ein Zeichen zu setzen« Sie zeigte auf einer Demonstration die Fahne der verbotenen PKK. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft München gegen sie. Nicole Gohlke erklärt, warum und wie sie das Verbot der kurdischen Organisation kippen möchte
NICOLE GOHLKE
Nicole Gohlke ist Bundestagsabgeordnete der LINKEN. In den Jahren 2011 und 2013 bereiste sie verschiedene kurdische Gebiete. Die dort gesammelten Erfahrungen bestärkten die Abgeordnete in ihrer solidarischen Haltung mit der kurdischen Befreiungsbewegung.
sche Schulen wurden nicht zugelassen, Zeitungen und Bücher immer wieder beschlagnahmt oder verboten. Laut türkischen Presseangaben wurden alleine in den 1990er Jahren 6153 Siedlungen und 1779 Dörfer zwangsgeräumt und eine Million Menschen zwangsumgesiedelt. Im Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden ermordete die türkische Regierung Tausende politisch aktive Menschen. Bis heute schließt die Türkei etwa zwölf Millionen Personen von jeglichen verfassungsrechtlichen Garantien aus. Die Solidarität mit der Befreiungsbewegung der Kurdinnen und Kurden ist deswegen seit langem eine wichtige Haltung innerhalb der Linken. Auch die Bundesregierung behauptet, an der Seite der Kurdinnen und Kurden zu stehen. Die dramatische Flucht der Jesidinnen und Jesiden vor dem »Islamischen Staat« diente ihr als Rechtfertigung für Waffenlieferungen an die kurdische Regionalregierung im Nordirak. Das neue Bundeswehrmagazin »Y« titelt »Kampf der Kurden – von der verfolgten Minderheit zum Bündnispartner« … Einspruch! Wenn die Bundesregierung es ernst meinen würde mit der Unterstützung der Unterdrückten in der Region, dann würde sie ihnen großzügig Asyl ge-
TITELTHEMA FREIHEIT FÜR KURDISTAN. ABER WIE?
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m 18. Oktober hast du auf einer Kundgebung zur Solidarität mit der kurdischen Stadt Kobane die in Deutschland verbotene Fahne der PKK, der Arbeiterinnen- und Arbeiterpartei Kurdistans, hochgehalten. Der Bundestag hat daraufhin deine Immunität als Abgeordnete aufgehoben. Die staatlichen Behörden können nun gegen dich ermitteln. Warum ist es dir wichtig, mit den Kurdinnen und Kurden solidarisch zu sein? Die rund dreißig Millionen Kurdinnen und Kurden in der Türkei, in Syrien, im Iran und Irak sind weltweit das größte Volk ohne eigenen Staat. In ihren Siedlungsgebieten werden sie seit langer Zeit angefeindet, unterdrückt und verfolgt. Das reichte vom Entzug der Staatsangehörigkeit in Syrien bis hin zu Angriffen mit Chemiewaffen durch das irakische Saddam-Regime. Auch im Iran erging es der kurdischen Bevölkerung nicht viel besser – unabhängig davon, wer dort gerade herrschte. Die türkische Regierung betrieb die vielleicht gründlichste Unterdrückungspolitik. Dort wurden beispielsweise die Worte Kurde und Kurdistan aus allen Schulbüchern, Lexika und Landkarten getilgt. Die öffentliche Verwendung der Sprache war verboten, ebenso kurdische Kulturvereine und politische Parteien. Auch kurdi-
INTERVIEW: CHRISTINA MÜLLER
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währen und das Verbot der PKK aufheben. Doch genau das passiert nicht. Worum es der Bundesregierung tatsächlich ging, verdeutlichte Verteidigungsministerin von der Leyen in einem Interview mit der »Zeit«. Sie sagte: »Wichtiger als die Frage, ob und welche Waffe wir am Ende
PKK festhält und so die in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden stigmatisiert und kriminalisiert. Das PKK-Verbot ist nichts anderes als ein Instrument der Repression und der Versuch, eine große Minderheit in Deutschland einzuschüchtern. Mit meiner Aktion wollte ich insbe-
Kurdinnen und Kurden werden in Deutschland stigmatisiert
liefern, ist die Bereitschaft, Tabus beiseite zu legen und offen zu diskutieren.« Das Tabu, das von der Leyen meint, heißt: offene Intervention Deutschlands in einen laufenden Krieg mittels Waffenlieferungen. Leider bekommt man den Eindruck, dass der Bundesregierung das Schicksal der Kurdinnen und Kurden herzlich egal ist. Die aktuelle Notsituation wird von vielen Seiten missbraucht und für eigene Interessen instrumentalisiert. Die Regierungen in der Türkei und Syrien sind an einer Schwächung der kurdischen Bevölkerung interessiert, da diese Staaten durch die föderal organisierten kurdischen Autonomiegebiete in Frage gestellt werden. Die USA verfolgen vor allem das Ziel, Einfluss auf das strategisch und wirtschaftlich bedeutende Gebiet im Krieg gegen Syrien zu gewinnen. So geschieht die angebliche Unterstützung der Kurdinnen und Kurden parallel zu Waffenlieferungen an Katar und Saudi-Arabien – also an zwei Staaten, von denen gemutmaßt wird, sie versorgten den IS mit Waffen. Warum hält die Bundesregierung am PKK-Verbot fest? Die Bundesregierung steht offensichtlich fest an der Seite ihres NATO-Partners Türkei. Ohne die politische und militärische Unterstützung durch westliche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA wäre die jahrelange Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung überhaupt nicht möglich gewesen. Die Bundesregierung unterstützt die Türkei militärisch, indem sie eine Raketenstaffel der Bundeswehr (die Patriots) im Land unterhält und im großen Stil Waffen exportiert. Zudem unterstützt sie die türkische Regierung politisch, indem sie weiterhin am Verbot der
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sondere die laufende Debatte über eine mögliche Aufhebung des PKK-Verbots bestärken. Selbst in konservativen Medien wird gelegentlich das Verbot hinterfragt. Unions-Fraktionschef Volker Kauder hat ja sogar erwägt, Waffen an die PKK zu liefern. Nicht dass das meine Position wäre, aber dafür wäre ja wohl die Aufhebung des PKK-Verbots und die Streichung der Organisation von der Terrorliste der EU nötig. Auch aus den Reihen der SPD und den Grünen haben sich einzelne Politikerinnen und Politiker kritisch zum Verbot geäußert. Einerseits freue ich mich, weil nun immer mehr Personen erkennen, dass das Verbot falsch ist. Andererseits macht es mich nachdenklich, welch eine entsetzliche Notlage für dieses Umdenken notwendig war. Durch deine solidarische Aktion bist du unmittelbar selbst vom PKK-Verbot betroffen. Welchen Repressionen sind politisch und sozial engagierte Kurdinnen und Kurden in der Bundesrepublik ausgesetzt? Das PKK-Verbot bedeutet für einen Großteil der hier lebenden kurdischen Bevölkerung, von elementaren Grundrechten wie der Presse- und Meinungsfreiheit oder von dem Recht auf Versammlung und Vereinigung ausgeschlossen zu werden. In letzter Zeit gab es Tausende Ermittlungen gegen politisch aktive Kurdinnen und Kurden in Deutschland. Die meisten Anzeigen betreffen Verstöße gegen Paragraf 20 des Vereinsgesetzes. Seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Oktober 2010 wurden kurdische Personen auch strafrechtlich nach Paragraf 128b StGB, also als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung im Ausland, verfolgt und zu mehrjährigen
Freiheitsstrafen verurteilt. Immer wieder wird nach der Teilnahme an legalen Demonstrationen oder an Veranstaltungen in kurdischen Vereinen eine Einbürgerung verweigert – oder die Behörden versuchen sogar, die entsprechenden Personen für Spitzeldienste anzuwerben. Das PKK-Verbot führt dazu, dass die in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden sich nicht mehr politisch betätigen können. Daher würde ich durchaus von einer Gesinnungsjustiz sprechen. Gleichzeitig wirken solche Repressionen und die anhaltende Hetzkampagne massiv integrationshemmend. Befürworterinnen und Befürworter des PKK-Verbots argumentieren immer wieder mit den in der Vergangenheit verübten Anschlägen, den politischen Verfolgungen auch in den eigenen Reihen, sowie dem Vorwurf des Drogenhandels. Was sagst du dazu? Ich möchte zwei Dinge zu bedenken geben. Zum einen muss jeder Vorwurf genauer betrachtet werden. Viele werden gezielt gestreut, etwa durch die türkische Regierung. Das gilt beispielsweise für den ebenso prominenten wie absurden Vorwurf, alle Kurdinnen und Kurden würden mit Drogen handeln. Das ist ein Versuch, die PKK zu diskreditieren. Wenn man sich den Konflikt mit der Türkei oder überhaupt mit den Staaten, in denen Kurdinnen und Kurden leben, anschaut, wird deutlich, wer unterdrückt und wer von den Repressionen betroffen ist.Sicherlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die PKK auch viele Fehler gemacht hat und über Jahrzehnte eine Partei stalinistischer Prägung war. Ich finde es zweitens jedoch zwingend, den Kontext in die Bewertung mit einzubeziehen: Das türkische Militär hat vergewaltigt, gefoltert und gemordet. Einem derartigen Staatsterror ausgesetzt zu sein und in der Illegalität agieren zu müssen, sind Rahmenbedingungen, die in einer Beurteilung nicht ausgeblendet werden dürfen. Mein Eindruck vor Ort war, dass die PKK in den letzten Jahren einen deutlichen Wandel vollzogen hat. Diese Einschätzung teilen auch viele Personen, die der PKK nahestehen. Von einigen alten Methoden wurde Abstand genommen und die Strukturen für eine bessere Anbindung an die Basis aufgebrochen. Es ist spürbar, das eine stärkere Verankerung in der Bevölkerung besteht. Für eine Partei, die sich in der Illegalität befindet und massiven Repressionen ausge-
setzt ist, ist das zweilsfrei eine große Leistung. Und die Frage, die sich jetzt stellt, ist doch, ob Kriminalisierung und politische Verfolgung zu rechtfertigen sind. Egal wie man zur PKK im Einzelnen steht, meine ich: Das sind sie nicht. Also geht es um kritische Solidarität? Die Linke sollte auch nicht den Fehler machen und den kurdischen Befreiungskampf romantisieren. Ich denke auch, dass wir beispielsweise eine offene und kritische Diskussion innerhalb der Linken über die Gefahren der gegenwärtigen westlichen Intervention brauchen, die viele Kurdinnen und Kurden verständlicherweise zurzeit als ein kleineres Übel ansehen.
gen werden kann. Zunächst einmal ist es völlig richtig und wichtig zu betonen, dass die Menschen in Kobane ein Recht auf Selbstverteidigung haben. Es stellt sich nur die Frage, wie die Unterstützung aus Deutschland aussehen soll: Wie können wir den Verteidigungskampf der Kurdinnen und Kurden nicht nur mit leeren Worthülsen der Solidarität gutheißen, sondern tatsächlich Hilfe leisten? Geld für Waffen zu sammeln sehe ich eher skeptisch. Die paar Tausend Euro, die wir zusammen bekommen, sind für die Menschen in Kobane nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hierzulande nutzt die Kampagne aber jenen Kräften, die die Lockerung von Waffenexporten und Auslandseinsätze voranbringen wollen. Was wir wirklich tun können, ist unsere eigene Bundesre-
gierung unter Druck zu setzen und eine breite politische Debatte über die Frage des PKK-Verbots und der Legitimität der kurdischen Befreiungsbewegung anzustoßen. Ich glaube, es ist Zeit, dass Politikerinnen und Politiker, Prominente, Intellektuelle, Personen aus Kunst und Kultur und die gesamte Linke ein Zeichen setzen gegen diese Kriminalisierung und gegen die unerträgliche Heuchelei der Bundesregierung. Wer es ernst meint mit der Unterstützung des kurdischen Widerstands, muss jetzt vor allem zwei Dinge tun: erstens das PKK-Verbot abschaffen und zweitens Druck auf die Türkei ausüben, die Grenze nach Syrien zu öffnen für Flüchtende, humanitäre Hilfe und den Nachschub für die kämpfenden Kurdinnen und Kurden und sie zu schließen für den IS. ■
TITELTHEMA FREIHEIT FÜR KURDISTAN. ABER WIE?
Wie können Linke in Deutschland den Kampf der Kurdinnen und Kurden deiner Meinung nach am besten unterstützen? Wir sollten versuchen, die kurdische, die türkische und die radikale Linke dafür zu gewinnen, das aktuelle Zeitfenster und die mediale Aufmerksamkeit zu nutzen, um konzentriert gegen das PKK-Verbot vorzugehen – mit Aktionen, Demonstrationen oder Kundgebungen. Ich halte das auch deshalb für wichtig, weil ich das Gefühl hatte, dass viele erstmal erschüttert von der Brutalität des IS waren und nicht wussten, wie nun weiter vorgegan-
Proteste von Exilkurdinnen und –kurden gegen den Islamischen Staat in London. In Deutschland ist es nach wie vor verboten, öffentlich die PKK-Fahne zu zeigen
© Alan Denney / CC BY-NC-SA / flickr.com
Wie würdest du die innerparteiliche Stimmung in der LINKEN zur Forderung der Aufhebung des PKK-Verbots beschreiben? Mich freut, dass es hierzu eine sehr einstimmige Position gibt. Die Fraktion unter Federführung von Ulla Jelpke wird einen Antrag zur Aufhebung des PKK-Verbots in den Bundestag einbringen. Der Parteivorstand hat sich dafür ausgesprochen, die Aufhebung des PKK-Verbots voran zu treiben, und hat sich auch mit meiner Aktion solidarisiert. Die Parteivorsitzende Katja Kipping hat ihren Protest gegen die Aufhebung meiner Immunität auf ihrer Homepage formuliert, andere Abgeordnete wie beispielsweise Andrej Hunko, Dieter Dehm oder Pia Zimmermann sind meinem Vorbild gefolgt und haben die PKK-Fahne öffentlich gezeigt. Ich habe das Gefühl, dass die Partei an dieser Stelle sehr geschlossen agiert und eine große Solidarität vorherrscht.
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Symbol der kurdischen Befreiungsbewegung Seit 1978 ist die Kurdische Arbeiterinnen- und Arbeiterpartei PKK Kern des Widerstands gegen die Unterdrückung durch die türkische Regierung. Trotz ihrer inneren Widersprüche verdient sie deshalb unsere bedingungslose Unterstützung VON ERKIN ERDOGAN
ERKIN ERDOGAN promoviert im Fach Politische Ökonomie und ist Mitglied in der türkischen sozialistischen Organisation DSIP. Er ist aktiv bei der LINKEN und bei HDP Berlin.
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ie kurdische Frage hat vor allem eine Ursache: die rassistische Ausformung der im Oktober 1923 gegründeten Türkischen Republik und ihrer im Jahr 1924 verabschiedeten ersten Verfassung. Diese tilgte alle dem kurdischen Volk zuvor zugesprochenen Kollektivrechte. Hinzu kam, dass die Grundlage für die Staatsangehörigkeit die Zuordnung zur türkischen Volksgruppe wurde. Kurdistan wurde in »Ostanatolien« umgetauft, kurdische Städte, Bezirke und sogar Dörfer wurden umbenannt, die Sprache wurde verboten. Die türkische Regierung betrieb eine rigorose Assimilationspolitik. Um das Kind beim Namen zu nennen: Nordkurdistan wurde von der Türkei besetzt und kolonisiert. Volksaufstände, beginnend mit der Rebellion Scheich Saids im Jahr 1925, waren stets eine Reaktion auf diese ungerechte Behandlung durch den türkischen Staat. Bis zu der Rebellion in der Region Dersim im Zentrum der Türkei im Jahr 1938 fanden insgesamt 28 kurdische Aufstände statt. Alle unterdrückte der türkische Staat brutal. Vor Kurzem kam ein Schriftwechsel zwischen dem damaligen Premierminister und dem Generalstabschef der Armee ans Licht, der die Verwendung von Höhlen in Dersim als Gaskammern im Jahr 1938 belegt. Eine Million Kurdinnen und Kurden wurden in den Jahren von 1925 bis 1938 massakriert und eine weitere Million ins westliche Anatolien deportiert. Die Unterdrückung der kurdischen Gemeinschaft verschlimmerte sich noch im Lauf der Zeit, vor allem unter den verschiedenen Militärdiktaturen. Die Junta, die sich im Jahr 1980 an die Macht putschte, definierte kurdische Menschen offiziell als »Bergtürken«. In einem vom türkischen Generalstab he-
© Free Kurdistan / flickr.com
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ÜBERSETZUNG: DAVID PAENSON
In den 1980er Jahren wurde die PKK zu einer Massenorganisation und nahm den Guerillakrieg gegen die türkische Regierung auf
Die Kurdische Arbeiterinnen- und Arbeiterpartei (PKK) wurde im Jahr 1978 von einer Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten unter dem Einfluss der türkischen stalinistischen Linken und der allgemeinen politischen Gärung gegründet. Der Kopf der PKK, Abdullah Öcalan, floh unmittelbar vor dem Militärputsch von 1980 nach Syrien, später in die Bekaa-Ebene in Libanon. Die PKK-Zentrale konnte so ihre Organisationsstruktur auch während des Höhepunkts der Unterdrückung in der Türkei bewahren. Die PKK gründete sich auf »marxistisch-leninistische« Prinzipien und bereitete einen Guerillakrieg gegen die Türkei vor. Anfänglich war sie auch in viele Zwiste mit anderen kurdischen Gruppen verwickelt. Nach ihrem zweiten Kongress im Jahr 1982 unternahm die PKK am 15. August 1984 ihren ersten wichtigen Überraschungsangriff auf türkische Militärkräfte in Semdinli und Eruh im Südosten der Türkei. Beide Bezirke fielen eine Zeit lang unter die Kontrolle der PKK und die Guerillas konnten über die Lautsprecheranlagen der Moscheen ihre Aufstandsbotschaft verkünden. Das machte im ganzen Land Eindruck. Die PKK war eine harte militärisch-politische Strömung. Den Marxismus-Leninismus sah sie ausschließlich durch die stalinistische Brille. Sie kämpfte für ein unabhängiges, vereintes und sozialistisches Kurdistan auf einem Gebiet, das von den siegreichen Mächten des Ersten Weltkriegs in vier Staaten geteilt worden war. Nach dem Fall des Sowjetblocks wurde der Bezug auf Marxismus-Leninismus durch den »Apoismus« (nach dem Spitznamen Öcalans »Apo« benannt) ersetzt, eine Ideologie in deren Mittelpunkt die Erlangung demokratischer kurdischer Freiheiten steht. Die Emanzipationsvorstellungen der PKK basierten nicht auf Massenkämpfen, sondern auf den Aktionen einer Guerillaelite. Ihr Sozialismusverständnis reduzierte sich bestenfalls auf eine Spielart des Staatskapitalismus. Ihr revolutionärer Diskurs eröffnete ihr jedoch ein Rekrutierungsfeld unter den unterdrückten Klassen der kurdischen Gesellschaft. Ein weiterer Faktor war, dass der Guerillakrieg die breite Unterstützung der armen bäuerlichen Bevölkerung in den ländlichen Gebieten Kurdistans erforderte. Ihr Überleben als relativ kleine Guerillaorganisation hing von diesem breiteren logistischen Umfeld ab. Ein weiterer Schwerpunkt der PKK war die Frauenbefreiung. Der feudale Hintergrund der traditionellen Gesellschaftsstrukturen zeigte sich besonders
in der Frauenunterdrückung in Kurdistan. Die Führung der PKK war von feministischen Ideen beeinflusst und legte strenge Gleichstellungskriterien in der Organisation fest. Die Guerillakämpferinnen agierten bereits in der Anfangszeit autonom. Durch den Guerillakrieg und durch ihre Kampfansage an die kulturellen Normen der traditionellen kurdischen Gesellschaft gewannen sie ein umfassenderes Verständnis von Frauenbefreiung. Die PKK wurde zum Symbol der kurdischen Befreiungsbewegung. In den frühen 1990er Jahren verwandelte sie sich in eine Massenorganisation. So konnte sie gleichzeitig Friedensverhandlungen mit der türkischen Regierung aufnehmen und einen im Volk verankerten Guerillakrieg führen, flankiert von einer legalen Partei und einer kurdischen Fraktion im türkischen Parlament. Der neu gewonnene Status der kurdischen Bewegung war dem kemalistischen Flügel der türkischen herrschenden Klasse in Gestalt des Generalstabs und einiger Großunternehmen ein Dorn im Auge. Sie beschlossen einen Strategiewechsel und setzten auf brutale Repression, um die Massenbewegung einzuschüchtern. Im Jahr 1992 griff die Armee Protestversammlungen in verschiedenen Städten Kurdistans anlässlich des Früh-
GLOSSAR JUNGTÜRKEN Eine politische Reformbewegung im Osmanischen Reich Anfang des 20. Jahrhunderts, die für eine konstitutionelle Demokratie anstelle der absoluten Monarchie eintrat. Nach 1908 gründete sie die Schirmpartei KEF, Komitee für Einheit und Fortschritt LAUSANNER VERTRAG Der im Juli 1923 von der Türkei, Griechenland und den alliierten Mächten unterzeichnete Friedensvertrag teilte Kurdistan auf vier Staaten auf.
Nordkurdistan wurde von der Türkei besetzt und kolonisiert
MUSTAFA KEMAL ATATÜRK Gründer der Türkischen Republik. Er war Offizier in der osmanischen Armee und hatte aktiv im Balkankrieg und im Ersten Weltkrieg gekämpft. Er war von den Jungtürken beeinflusst. KEMALISMUS die Gründungsideologie der Türkei. Der Kemalismus propagierte westlichen Lebensstil und Säkularismus und war ein von oben organisiertes Modernisierungsprojekt auf der Basis des türkischen Nationalismus. NEWROZ Die traditionelle Neujahrsfeier der kurdischen Gesellschaft am 21. März. Sie ist auch Gedenktag der kurdischen Sache. Das Entzünden von Feuern gilt als Freiheitssymbol.
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rausgegebenen Buch wurde behauptet, das Wort »Kurde« leite sich von jenem Geräusch ab, das entstünde, wenn Turkmenen in den Ostregionen durch den Schnee stapften. Noch heute fällt es schwer, die Bestialität der Folterungen im Gefängnis Diyarbakir zur Zeit der Junta in Worte zu fassen.
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lingsfests Newroz an und tötete etwa 100 Menschen an einem einzigen Tag. Die kurdischen Organisierten reagierten mit verschiedensten Formen zivilen Ungehorsams wie Boykotts, inoffiziellen Streiks, Massendemonstrationen oder der Schließung von Geschäften während der Serhildan genannten spontanen Volksaufständen. Eine zweite Zielscheibe des Generalstabs war die kurdische Parlamentsvertretung, die Arbeitspartei des Volkes (HEP). Sie wurde 1993 wegen Förderung von Separatismus verboten und einige ihrer führenden Mitglieder wurden ins Gefängnis geworfen. Als Höhepunkt der dreistufigen Strategie der Generäle folgte im Jahr 1994 eine breit angelegte Militäroperation. In deren Verlauf zerstörte die türkische Armee 3000 kurdische Dörfer und vertrieb eine Viertelmillion Menschen, um den Rückzugsraum der Guerilla auszutrocknen. Bis zum heutigen Tag gab es 40.000 Tote, drei Viertel von ihnen kurdisch. Die türkische Regierung leugnete auf zynischste Weise ihre Kriegsverbrechen. Premierministerin Tansu Ciller verkündete im Jahr 1994: »Ich will nicht glauben, dass der Staat Dörfer niederbrennt, und sollte ich es mit eigenen Augen sehen. Ich glaube nicht, dass es unsere Hubschrauber sind. Es könnte ein PKK-Hubschrauber sein. Oder vielleicht sogar ein russischer, ein afghanischer oder ein armenischer Hubschrauber.« Der eskalierende Bürgerkrieg zwang die kurdischen Massen zur rückhaltlosen Unterstützung des Widerstands. Im Jahr 1993 entschloss sich die PKK zu einer strategischen Wende. Von nun an engagierte sie sich auf den Kampffeldern der türkischen Politik. Sie zeigte Gesicht in der Gewerkschaftsbewegung des öffentlichen Diensts und nahm aktiv an den sozialen und Demokratiebewegungen im Westen Anatoliens teil. Bereits Ende des Jahrzehnts konnte die kurdische Bewegung Wahlerfolge verbuchen und viele lokale Regierungen bilden.
freiungsbewegung nahm mit der Zeit zu. Den ideologischen Wandel vollzog Öcalan dann nach seiner Entführung aus dem griechischen Konsulat in Kenia und seiner Verfrachtung in die Türkei durch die CIA im Jahr 1998 endgültig. Die PKK wandte sich ab von ihrer Forderung nach einem sozialistischen Kurdistan. Nunmehr bestand das Ziel darin, im Rahmen einer »demokratischen Konföderation« Teil der Türkei aber mit anerkannten nationalen und kulturellen Rechten zu sein. Öcalan bezog sich dabei ausdrücklich auf die Anfangszeit der Türkischen Republik und forderte die damals vereinbarte Autonomie ein. In das Konzept eines »demokratischen Konföderalismus« flossen die Ideen von Murray Bookchin, einem amerikanischen Anarchisten und Pionier auf dem Gebiet der sozialen Ökologie und des libertären Kommunalismus, aber auch von Bewegungen wie dem Zapatismus ein. Es mag wie ein Widerspruch klingen, aber Bookchins Vorstellungen passten sehr gut zu einer PKK, die das kollabierte Modell des Ostblocks ad acta legen wollte. Die PKK hatte bereits in der Mehrheit der kurdischen Städte lokalpolitisch das Sagen und es bestand die Notwendigkeit, den demokratischen Übergang fortzusetzen, aber ohne den Kern der kapitalistischen Produktionsweise anzugreifen. Öcalan begann nun, den Guerillakrieg infrage zu stellen. Die Guerillabewegung hatte im kurdischen Volk die Vorstellung von nationaler Unabhängigkeit verstärkt. Der Krieg schuf aber zugleich seine eigenen Strukturen, die dem Konzept der Befreiung im Weg standen. Gleich nach seiner Gefangennahme rief er zu einem sofortigen Waffenstillstand auf und setzte schließlich im Jahr 2013 den Friedensprozess in Gang. Die Verhandlungen mit der türkischen Regierung wurden von der durch den andauernden Krieg erschöpften kurdischen Gemeinschaft mit großer Erleichterung begrüßt. Öcalan ist gegenwärtig nach Präsident Recep Tayyip Erdogan die zweiteinflussreichste politische Persönlichkeit in der Türkei. Der Friedensprozess und die Abwendung der PKK vom bewaffneten Kampf wurden von einer massiven Bewegung auf den Straßen Kurdistans und der Türkei begleitet. Die Protestbewegung entwickelte sich nun zum Hauptinstrument des kurdischen politischen Kampfs. Die PKK behielt aufgrund ihrer sozialistischen Vergangenheit und infolge des internationalen Komplotts bei Öcalans Entführung Elemente ihrer antiimperialistischen Ausrichtung bei. Das ist
Dem Antiimperialismus blieb die PKK treu
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Peschmerga, PKK, PYD - Kurdistan und das nationale Selbstbestimmungsrecht Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de
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In nur zehn Jahren verwandelte sich eine revolutionäre Guerillagruppe in eine landesweite Bewegung mit komplexen Strukturen. Es war strategisch wichtig für die PKK, als starker politischer Faktor in Kurdistan die nationalen Rechte zu verteidigen. Doch dies führte zu Kompromissen mit den bestehenden kapitalistischen Strukturen statt zu dem Versuch, sie umzustürzen. Der Einfluss der kurdischen Bourgeoisie und der Stammesführung auf die Be-
© Free Kurdistan / flickr.com
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HINTERGRUND DIE KURDISCHEN FRAGE Die Idee der Gründung eines Nationalstaats aus dem multikulturellen Flickenteppich des Osmanischen Reichs war wahrscheinlich eine der unglücklichsten des 20. Jahrhunderts.
Diese Politik fand ihre erste Konkretisierung im Völkermord an der armenischen Bevölkerung. Etwa 1,5 Millionen Menschen wurden ab dem Jahr 1915 vertrieben und ermordet. Die zweite Gelegenheit für ethnische Säuberungen bot sich nach dem griechisch-türkischen Krieg von 1919 bis 1922. Hunderttausende griechische Zivilistinnen und Zivilisten wurden nach dem Rückzug der griechischen Armee aus Anatolien umgebracht. Die neugegründete Türkische Republik vereinbarte 1923 mit Griechenland einen Völkertausch und vertrieb 1,5 Millionen anatolische Griechinnen und Griechen, während im Gegenzug 356.000 muslimische Menschen von Griechenland nach Anatolien umsiedeln mussten. Dadurch verschob sich das Verhältnis der muslimischen zur christlichen Bevölkerung innerhalb eines Jahrzehnts dramatisch. Die größte noch übrig gebliebene nichttürkische Gemeinschaft war die kurdische. Diese genossen unter der osmanischen Herrschaft Autonomiestatus. Während des türkischen Unabhängigkeitskriegs versprach Mustafa Kemal Atatürk der kurdischen Führung die Beibehaltung ihrer Autonomie. Noch im Januar 1923 sagte er der Presse, dass die neue Republik auf dem Fundament des türkischen und kurdischen Volks aufgebaut werde. Die ersten Parlamentsabgeordneten aus den kurdischen Städten wurden als »Vertretung Kurdistans« begrüßt. Es handelte sich aber lediglich um eine Taktik der kemalistischen Führung, um sich im Vorfeld der Friedensverhandlungen in Lausanne die kurdische Unterstützung zu sichern. Die Tinte unter dem Friedensvertrag war noch nicht getrocknet, da machte die Regierung Mustafa Kemals das Gegenteil von dem, was sie versprochen hatte.
auch einer der Hauptgründe, warum sie immer noch von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Aber schrittweise gibt es Veränderungen. Die PKK trifft pragmatische Entscheidungen in der Tagespolitik und bewegt sich auf diplomatischem Parkett, um für die kurdische Bevölkerung der Türkei und in Rojava internationale Anerkennung zu erreichen. Das erklärt sich daraus, dass für die Organisation nationale Interessen schwerer wiegen als die Interessen des kurdischen Proletariats oder der Sozialismus. Das ist nachvollziehbar, zeigt aber die Grenzen der PKK als Akteurin für den sozialen Wandel auf. Es existiert eine mächtige linksradikale Tendenz in der kurdischen Bewegung. Je mehr Menschen diese für soziale Kämpfe und radikale Demokratie auf den Straßen mobilisiert, desto stärker wird sie. Auch Öcalan hatte vor einigen Jahren die Idee, eine linksradikale Wahlpartei zu gründen, aus der schließlich die Volksdemokratische Partei HDP entstand. Der Kandidat der HDP, Selahattin Demirtas, bekam mit seinem Programm der Verteidigung von Bürgerrechten, Multikulturalismus, Frauenbefreiung und Ökologie zehn Prozent der Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen im August 2014. Wir unterstützen bedingungslos die PKK in ihrem Kampf für das Selbstbestimmungsrecht. Ob sie in einem Guerillakrieg für die Unabhängigkeit kämpft oder auf den Straßen für Frieden mobilisiert: Wir halten die Fahne der Solidarität hoch. Die Arbeiterbewegung hat von der Unterdrückung staatenloser Nationen nichts zu erhoffen, aber umso mehr von dem gemeinsamen Kampf gegen die Unterdrückenden. ■
Links: Demonstration am kurdischen Neujahrsfest Newroz im Jahr 2011. Spätestens seit den Massakern der türkischen Armee während der Festtage des Jahres 1992 haben die Feiern eine hohe politische Bedeutung. Rechts: Auch heute noch ist Abdullah Öcalan Kopf der PKK und Held der kurdischen Befreiungsbewegung. Seine Anhängerinnen und Anhängern nennen ihn »Serok« (»Führer«) und verehren ihn teilweise kultartig
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Um die Jahrhundertwende entwickelten die Jungtürken das Konzept des Panturkismus mit dem Ziel, die Modernisierung des Reichs voranzutreiben. Es war ein Prozess der Nationenbildung von oben, der die Herausbildung einer stärkeren türkischen Bourgeoisie erforderte. Weiterhin sollte die ethnische Säuberung Anatoliens eine von signifikanter Opposition unbehelligte türkische Identität stiften.
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Ein Projekt auf dünnem Eis PYD-Kämpfer in Rojava: Das demokratische Projekt blickt in eine ungewisse Zukunft
Pariser Kommune oder Spanien im Jahr 1936: Wenn Linke auf die selbstverwaltete Provinz Rojava zu sprechen kommen, dann werden schnell Vergleiche zu den großen Experimenten der sozialistischen Bewegung gezogen. Wir wagen einen etwas nüchternen Blick VON JÜRGEN EHLERS UND YAAK PABST
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ie seit Monaten hart umkämpfte Stadt Kobane, die mehrheitlich von Kurden bewohnt wird, ist Teil einer Provinz im Norden Syriens, die von den Bewohnern Rojava genannt wird. Dort findet seit dem Jahr 2011 ein von Linken viel beachtetes politisches Experiment inmitten des blutigen Bürgerkrieges statt. Die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD), die eng mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbunden ist, begann dort mit dem Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen, die sicherstellen sollten, dass jetzt im Bürgerkrieg alle Bewohnerinnen und Bewohner mit dem zum Überleben Notwendigsten versorgt werden. Doch die PYD will mehr als nur eine Notstandsverwaltung. Nach den Vorstellungen der Partei soll in Rojava das Konzept des »Demokratischen Konföderalismus« in die Praxis umgesetzt werden. Dieses hat Abdullah Öcalan, der in der Türkei inhaftierte Führer der PKK, in seinen Schriften entwickelt. Ziel ist eine kommunale, selbstverwaltete und ökologisch aufgebaute Ökonomie, in der Männer und Frauen gleichberechtigt zusammenleben können. Die Unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und religiösen Minderheiten sollen gemeinsam die Region verwalten, Stadtteilräte und Kooperativen das Rückgrat einer basisdemokratisch aufgebauten Gesellschaft bilden.
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Angesichts der Rückschläge des Arabischen Frühlings und einer vom Bürgerkrieg gekennzeichneten Region setzen viele Linke in das Projekt Rojava große Hoffnungen. So schreibt die Antifaschistische Linke Fürth: »Rojava steht für ein sozialistisches Projekt, das versucht, alle Ethnien und Religionen zu vereinen und die Gleichstellung von Frauen und Männern im Alltag und in der politischen Praxis umzusetzen, um eine neue Gesellschaft aufzubauen. (…) Die Räte orientieren sich an einer multiethnischen, multireligiösen und antipatriarchalen Vision jenseits des bürgerlich-kapitalistischen Staates.« In der »Sozialistischen Zeitung« (SoZ) vergleicht Nick Brauns die Entwicklungen in Rojava mit dem Arbeiteraufstand der Pariser Kommune von 1871 und im linksliberalen »Freitag« stellt Occupy-Gründer Dave Graber das Projekt Rojava in eine Reihe mit den Ereignissen in Spanien 1936, als spanische Arbeiterinnen und Arbeiter zusammen mit den Internationalen Brigaden gegen den Faschismus und für eine sozialistische Gesellschaft kämpften. Das große Interesse in der Linken ist nachvollziehbar, angesichts eines durch den Stalinismus in den Augen vieler für immer diskreditierten Sozialismus, dem sich bis Ende der 1980er Jahre die meisten Befreiungsbewegungen verschrieben hatten. Einige Entwicklungen, die die PYD in Rojava angestoßen hat, sind begrüßenswert, insbesondere in Bezug auf die Rechte von Frauen und religiösen und
ethnischen Minderheiten. Die Vergleiche mit der Pariser Kommune oder den Ereignissen in Spanien 1936 sind jedoch wenig hilfreich, um ihr politisches Modell verstehen und analysieren zu können. In Paris erhob sich 1871 die Bevölkerung spontan ohne politische Führung gegen die eigene Regierung, die vor dem preußischen Heer, das vor den Toren der Stadt stand, kapitulieren wollte. Ein Teil der bewaffneten Staatsmacht, die Nationalgarde, verbrüderte sich mit der Pariser Bevölkerung. Die Regierung floh daraufhin zusammen mit den übrigen Truppen aus der Stadt. Die Massenbewegung schaffte es innerhalb von zehn Tagen, Wahlen zum Generalrat der Kommune zu organisieren, der dann weitreichende Beschlüsse fasste, die das Leben der Menschen für kurze Zeit radikal veränderten. In Rojava stellte zwar die PYD die politische Führung, aber es gab eben keine spontane Massenbewegung von unten. Das Experiment in Rojava ist nicht das Ergebnis einer Erhebung der Mehrheit der dortigen Bewohner gegen das Regime Assads. Vielmehr nutzte die PYD die Gunst der Stunde zur Durchführung ihres Modells des Demokratischen Konföderalismus, als Assads Regierung ihre militärischen Verbände komplett aus der Region abzog, um diese gegen die stärker werdende syrische Revolution einzusetzen. Im Machtvakuum, das durch den Rückzug der Truppen Assads entstanden war, startete die PYD eine politische Revolution von oben. Zuhat Kobani, zuständig für Auswärtige Angelegenheiten bei der PYD, sagte im November 2011 der Online-Plattform »The Kurdistan Tribune«: »Es ist eine taktische Entscheidung. (…) Es gibt einen De-facto-Waffenstillstand zwischen den Kurden und der Regierung. Die Sicherheitskräfte sind damit überfordert, sich in allen syrischen Provinzen Demonstranten entgegenzustellen, und sie können gerade keine zweite Front im syrischen Teil Kurdistans eröffnen. Und wir wollen auch, dass die Armee sich raushält. Unsere Partei ist damit beschäftigt, Organisationen und Komitees aufzubauen, die die Kontrolle übernehmen können, wenn das Regime dann zusammenbricht.« Zu diesem Schritt kam es auch deshalb, weil Teile der Führung der syrischen Opposition ebenso wie Assad gegen das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volks eingestellt sind. Trotzdem haben solche Aussagen dem Ansehen der PYD geschadet und waren die Grundlage dafür, dass Teile der syrischen Opposition der PYD eine verdeckte Kollaboration mit dem syrischen Regime vorwerfen. Dieser Verdacht wird auch dadurch genährt, dass der in der Türkei inhaftierte Führer der PYD-Schwesterorganisation PKK Abdullah Öcalan fast zwanzig Jahre
lang im syrischen Exil lebte. Bis 1998 lenkte er unter dem Schutz Assads den Kampf der PKK in der Türkei, während Assad gleichzeitig die syrischen Kurden brutal unterdrückte. Assad wollte mit dem Truppenabzug erreichen, dass sich die Kurdinnen und Kurden von der Oppositionsbewegung fernhalten. Ferner sollten sie durch die Etablierung der kurdischen Selbstverwaltung als Pufferzone im Bürgerkrieg gegenüber jeglichem militärischen Eingreifen der Türkei dienen, einem der wichtigsten regionalen Konkurrenten Syriens. Doch dieser Plan ging nur zum Teil auf. Kurden in ganz Syrien haben an vorderster Front gegen Assads Regime gekämpft. Viele Bilder zeigen Demonstrationen, auf denen sowohl kurdische Fahnen als auch die Fahne der syrischen Opposition getragen werden. Der syrische Sozialist Jo Daher schreibt dazu: »Die autonome Selbstverwaltung in Rojava wäre ohne die massenhafte spontane Bewegung des syrischen Volkes, in der Araber, Kurden und Syrer zusammen gegen das kriminelle und autoritäre Regime Assads kämpften, nie erlaubt worden.« Auch in den nördlichen, mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten organisierten verschiedene kurdische Organisationen Demonstrationen gegen Assad, etwa die Kurdische Zukunftsbewegung, die Yekiti- und die Azadi-Partei. Die PYD dagegen hat diese gemeinsamen Demonstrationen anfangs nicht unterstützt. Meist organisierte sie eigene Kundgebungen parallel zu den Protesten anderer Gruppen. Insgesamt war ihre Politik gegenüber dem syrischen Aufstand widersprüchlich. Sie schwankte zwischen Unterstützung der Revolution und Neutralität, ohne klar Partei zu ergreifen. Das hängt gegenwärtig auch mit der Vorstellung der PYD zusammen, die von einem möglichen »dritten Weg« im Bürgerkrieg ausgeht. Der Journalist Devris Çimen, Mitarbeiter im Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, schreibt, der PYD gehe es »vor allem darum, ihre eigenen Gebiete vor den anderen bewaffneten Gruppen zu schützen« und in ihren Gebieten »ihr alternatives System aufzubauen«. Weiter schreibt er: »Der dritte Weg für Syrien heißt, sich weder auf die Seite des antidemokratischen und diktatorischen Baath-Regimes zu stellen, noch sich aufseiten der im Interesse des Westens und einiger Regionalkräfte wie SaudiArabien, Katar und Türkei agierenden FSA (Freien Syrischen Armee; Anm. d. Red.) oder der Islamisten zu positionieren. Der dritte Weg heißt, für einen demokratischen Wandel in Syrien einzutreten, der von der Bevölkerung Syriens selbst ausgehen muss. Das Gesellschaftsmodell, mit dem das friedliche Miteinander der Menschen ermöglicht werden soll, be-
Assad hat die syrischen Kurden brutal unterdrückt
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JÜRGEN EHLERS
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YAAK PABST ist Politologe und Redakteur von marx21.
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ist aktives Mitglied der LINKEN in Frankfurt am Main.
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zeichnen die Kurdinnen und Kurden als ›Demokratische Autonomie‹. (…) Die Kurdinnen und Kurden in Rojava haben bereits angefangen, dieses Modell mit Leben zu füllen.« Leider erwähnt die PYD-Führung nicht, dass durch die Revolution in ganz Syrien Formen der Selbstverwaltung von unten entstanden sind. Die sogenannten Volkskomitees sind auf Dorf-, Stadt- und Regionalebene die wichtigste politische Organisationsform. Sie waren die wirklichen Speerspitzen der Bewegung, die die Menschen zum Protest mobilisierten. Danach entwickelten die Regionen, die sich vom Regime befreit hatten, Formen der Selbstverwaltung auf der Basis von Massenorganisationen. Das Modell Rojava war überhaupt nur machbar auf Grundlage dieser dynamischen Protestbewegung im ganzen Land und eines bis jetzt andauernden relativen Gleichgewichts im Bürgerkrieg. Sollte nun eine der beiden Seiten die Oberhand gewinnen, kann die Lage von Rojava prekär werden, vor allem wenn die Kurden keine Verbündeten unter den arabischen Massen in Syrien finden. Die Politik des »dritten Wegs« der PYD ist daher riskant und die Kehrseite der vor allem auf kurdische Autonomie zielende Ausrichtung der Partei. Sie ist organisierter Ausdruck einer Bewegung, die gegensätzliche Klassenstandpunkte in sich zu vereinen sucht – von den kurdischen Arbeitnehmern, über die Bauern bis hin zu kurdischen Unternehmern. Zwar grenzt sich die PYD von der Autonomieregierung östlich des Tigris ab, die von Massud Barsanis Demokratischer Partei Kurdistans geführt wird und die einen auf einer neoliberalen Ölrentenökonomie basierenden Wirtschaftsaufschwung dirigiert. Das macht sie, indem sie sich mit revolutionären Parolen in Szene setzt und sich trotz der politischen Abkehr vom Marxismus immer noch als linke nationale Befreiungsbewegung versteht. Die
Praxis der PYD ist jedoch von pragmatischer Realpolitik geprägt. Deswegen ist das Modell Rojava oder der Demokratische Konföderalismus, den die PYD propagiert, auch weit entfernt von dem, was Anarchisten und Sozialisten in Spanien des Jahres 1936 erreichen wollten: Damals gab es eine Massenbewegung gegen einen Putsch der Armee, die gemeinsam mit den Faschisten die Republik zerschlagen wollten. Den Republikanern kamen Internationale Brigaden zur Hilfe, weil sie im Faschismus eine Bedrohung für ganz Europa sahen. Die Brigaden setzten sich vor allem aus jungen Arbeitern und Intellektuellen zusammen, die mit ihrem Kampf auch die Hoffnung verbanden, dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft näherzukommen. Es ging ihnen um eine revolutionäre Perspektive, die sich nicht auf Spanien oder einen anderen Nationalstaat begrenzen lässt: den Sturz des Kapitalismus durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Davon ist das Modell Rojava weit entfernt. Die PYDVorsitzende Asya Abdullah schilderte in einem Interview, dass zwar zur Bildung von Kooperativen ermuntert werde, ihre Partei allerdings auch das Recht auf Privateigentum verteidigen und dieses nicht antasten werde. So gehört der parteiunabhängige Premierminister des Kantons Cizîrê in Rojava zu den reichsten Unternehmern und Landbesitzern Syriens. Thomas Schmidinger, Lektor für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Autor des Buches »Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan – Analysen und Stimmen aus Rojava« bilanziert das Modell Rojava: »Auch wenn die PYD/PKK die Verwaltungspraxis in Rojava gelegentlich als Beispiel für den von ihr propagierten ›Demokratischen Föderalismus‹ anpreist, so stellt die Praxis vor Ort eher eine militärische Notverwaltung dar. De facto hat die PYD die Verteilung wichtiger Grundversorgungsgüter organisiert und monopolisiert. Ökonomisch bildet das
Die PYD will das Privateigentum nicht antasten
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Die staatlichen Strukturen befinden sich in Syrien in Auflösung. Das Gebiet, welches die Kurdinnen und Kurden Rojava nennen, bildet keine zusammenhängende Einheit. Nur wenn die syrische Revolution siegt, hat die kurdische Selbstverwaltung eine Überlebenschance
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von der syrischen Regierung kontrolliertes Gebiet von den IS-Milizen kontrolliertes Gebiet von Kurden kontrolliertes Gebiet
von syrischen Rebellen kontrolliertes Gebiet
© wikimedia / Gerda Taro
wollen, wenn ausgerechnet dort, wo die materielle Lebensgrundlage erzeugt wird, die Demokratie ausgeschlossen bleibt – wie im Kapitalismus auch. Wenn die Eigentumsverhältnisse aber nicht angetastet werden, dann treffen die Eigentümer der Produktionsmittel die Entscheidungen, die die Entwicklung der ganzen Gesellschaft bestimmen und damit jede Rätedemokratie auf kaltem Weg entmachten können. Zum anderen entwickelt die PYD durch ihr Festhalten an dem Plan von einem »dritten Weg« eine quasi neutrale Haltung gegenüber der Syrischen Revolution. Das Modell Rojava wäre ohne die Revolution von unten gegen Assad, in der die kurdische, syrische und arabische Bevölkerung Seite an Seite kämpfen, nicht möglich gewesen. Das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes wurde durch die Syrische Revolution gestärkt. Beide Prozesse sind miteinander verbunden. Zurzeit kämpfen Freiwillige der FSA gemeinsam mit kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern gegen den Islamischen Staat in Kobane. Gleichzeitig gibt es Solidaritätsdemonstrationen mit Kobane in syrischen Städten. Inmitten des Bürgerkriegs gibt es weiterhin in ganz Syrien tausende Aktivistinnen und Aktivisten, die tagtäglich ihr Leben riskieren, um Demonstrationen zu organisieren, Verwundete zu versorgen oder Lebensmittel zu organisieren. Eine Niederlage der Syrischen Revolution wäre wahrscheinlich auch das Ende der Selbstverwaltung in Rojava. Deswegen ist die Unterstützung der Opposition gegen Assad durch die Kurden grundsätzlich der richtige Weg. Nur der gemeinsame Kampf schafft die Voraussetzung, die politischen Mehrheitsverhältnisse und die Willensbildung in der Oppositionsbewegung so zu beeinflussen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kurden in Syrien eine Chance bekommt, anerkannt zu werden. ■
Oben: Der Dokumentarfilmer Joris Ivens (l.) mit dem Schriftsteller Ernest Hemingway (M.) und dem Chef der elften internationalen Brigade Ludwig Renn. Hemingway arbeitete damals als Korrespondent und berichtete vom Spanischen Bürgerkrieg. Unten: Republikanische Milizionärinnen im August 1936 beim Training am Strand in der Nähe von Barcelona
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Mit ihrem Plan, einen »dritten Weg« im Bürgerkrieg zu beschreiten, begibt sich die PYD auf dünnes Eis. Zum einen ist es schwierig, eine Selbstverwaltung aufzubauen, ohne das Privateigentum anzutasten, weil sich die Lebenssituation der Mehrheit auf lange Sicht nicht verbessern wird. Ein basisdemokratisches Gesellschaftsmodell verliert seine Anhänger, nämlich Menschen, die ihr Leben selbst gestalten
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System in Rojava derzeit keine Alternative zum Kapitalismus. (…) Die PYD ist in der aktuellen Situation darauf angewiesen, mit der kurdischen Oligarchie ein Zweckbündnis zu schließen.« Entsprechend ist das Modell Rojava ausgerichtet. Dar Kurdaxi, Wirtschaftswissenschaftlerin und Vertreterin des Komitees für wirtschaftliche Belebung und Entwicklung in Efrin, einem der drei Kantone Rojavas, berichtet: »Die Methode Rojava richtet sich nicht gegen das Privateigentum, sondern hat zum Ziel, dieses Privateigentum für den Dienst an allen Bevölkerungsgruppen, die in Rojava leben, einzusetzen.« Doch Basisdemokratie, basierend auf Rätestrukturen, kann im Rahmen kapitalistischer Eigentumsverhältnisse nicht funktionieren. Ein Großgrundbesitzer hat andere Interessen als seine Landarbeiter oder Pächter. Der Besitzer einer kleinen Werkstatt oder eines Bauunternehmens hat andere Interessen als seine Arbeiterinnen und Arbeiter. Die einen beuten aus, die anderen werden ausgebeutet. Die Region Rojava ist geprägt durch die Landwirtschaft. Die kostenlose Aufteilung des von Assad verstaatlichten Ackerlands an mittellose Kleinbauern war ein richtiger Schritt der PYD. Er sicherte vielen Menschen das Überleben und verhalf der Partei zu mehr Popularität. Aber in Rojava gibt es eben auch die wohlhabenden Großgrundbesitzer, denen etwa zwanzig Prozent des Bodens gehören. Da es keine Großindustrie mit Ausnahme von Raffinerien gibt und sonst nur Klein- und Kleinstbetriebe existieren, in denen kaum mehr als fünfzehn Personen arbeiten, bestimmt die Größe des Grundbesitzes auch das politische Gewicht in dieser Gesellschaft. In jedem Dorf gehört diese Erfahrung seit Jahrhunderten zum Alltag. Während Assads Diktatur spielte dieser Aspekt eine eher untergeordnete Rolle, weil der zentralistische Staatsapparat das Land von oben nach unten beherrschte. Mit der von der PYD durchgeführten politischen Revolution ist das anders geworden. Die Zusage, das Privateigentum nicht anzutasten, hat nicht nur zur Folge, dass man sich mit den Großgrundbesitzern arrangieren muss, sondern bedeutet auch, dass sehr viele Menschen weiterhin in Abhängigkeit von den Großgrundbesitzern leben und von diesen deswegen leicht für ihre Interessen eingespannt werden könnten.
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»Washingtons Haltung ist heuchlerisch« Die USA begründen ihre Militärintervention gegen den Islamischen Staat damit, die Menschen in Syrien und im Irak beschützen zu wollen. Der syrische Sozialist Joseph Daher lehnt den Einsatz hingegen ab. Warum, erklärte er im Gespräch mit uns INTERVIEW: NORA BERNEIS Barack Obama behauptet, sein Militäreinsatz gegen den Islamischen Staat sei nötig, um Terror und Unterdrückung zu beenden. Worum geht es wirklich bei der Intervention in Syrien und Irak? Die USA nennen ihre militärische Intervention »humanitär«, sie ist aber Teil einer politischen Strategie: Sie dient dem Schutz amerikanischer Diplomaten im nordirakischen Erbil und dem Schutz großer multinationaler Energiekonzerne wie ExxonMobil, Chevron oder Total, die in die Ausbeutung der Ölvorkommen der Region bereits mehr als zehn Milliarden US-Dollar investiert haben. Der wichtigste Grund für den Einsatz ist aber, das Bündnis mit dem irakischen Regime aufrechtzuerhalten. Wie heuchlerisch die Haltung von Washington ist, zeigte sich beim Fall von Mosul. Damals flohen mehr als eine halbe Million Menschen, trotzdem haben sich die USA zurückgehalten. Sie haben erst eingegriffen, als der IS drohte, die autonome kurdische Region im Nordirak und Bagdad einzunehmen. Barack Obama wurde im Jahr 2008 vor allem wegen seines Versprechens gewählt, die Militärpräsenz im Nahen Osten – insbesondere im Irak – zu verringern und neue Einsätze zu verhindern. Im November gab er nun die Verdoppelung der US-amerikanischen Truppen im Irak bekannt. Wenn es um den Schutz des irakischen Regimes geht, warum wurde dann Premierminister Nuri al-Maliki abgesetzt?
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Die USA wollten nur eine oberflächliche Veränderung in der irakischen Regierung, keinen wirklichen Wandel. Maliki musste wegen seiner katastrophalen Misswirtschaft gehen. Der neue Premier, Haidar al-Abdadi, ist ein enger Verbündeter von ihm und ebenfalls Mitglied der Dawa-Partei. Warum bombardiert die »Koalition der Willigen« auch in Syrien? Zu Beginn haben die USA erklärt, nur den IS bekämpfen zu wollen, doch sie haben auch andere reaktionäre Kräfte wie die Al-Nusra-Front angegriffen. Die revolutionäre Linke in Syrien lehnt nicht nur diese reaktionären Kräfte ab. Wir sind auch gegen das westliche Eingreifen, denn es schützt die Syrische Revolution weder vor dem IS noch vor Assads Regime. Vielmehr ist das Ziel des Einsatzes, die syrische Hegemonie wiederherzustellen und eine gewisse Stabilität zu garantieren, die insbesondere im Interesse der Golfstaaten zum Ende des revolutionären Prozesses führen würde. Die Intervention ist eng verknüpft mit Obamas Vorschlag für eine »jemenitische Lösung« in Syrien. Im Jemen hatte Expräsident Ali Abdullah Salih die Amtsgeschäfte an seinen Stellvertreter Abdurabbo Mansur Hadi übergeben. Dieser wurde dann im Februar zum neuen Präsidenten gewählt – nachdem er als einziger Kandidat angetreten war. Washington will also eine Übereinkunft zwischen dem Regime, oder zumindest einem Teil des Regimes, und jenen oppositionellen
Ein Kampfjet wird betankt (o.): Seit dem 23. September greifen die USA Stellungen des IS in Syrien und dem Irak an. Doch bereits im Juni entsandten sie den Flugzeugträger USS George H. W. Bush zu diesem Zweck in den Persischen Golf. Unser Bild zeigt die Verladung von Lenkraketen auf dem Schiff (u.). Die Bombardierungen treiben den dschihadistischen Truppen täglich neue Kämpfende in die Arme
Gruppen, die mit dem Westen oder den Golfstaaten verbunden sind. Auch der Beschluss des amerikanischen Kongresses, 5.000 bis 10.000 syrische Rebellinnen und Rebellen zu bewaffnen und zu trainieren, geht in diese Richtung. Lässt sich die syrische Opposition auf diesen Plan ein? Der Wunsch, dass Aufständische im Interesse der USA kämpfen, wird von den Realitäten des Bürgerkrieges konterkariert. Die große Mehrheit der oppositionellen Gruppen wird nur unter zwei Bedingungen ein Bündnis mit Washington eingehen: Zum einen wollen sie ihre Unabhängigkeit bewahren und zum anderen verlangen sie, dass das Konzept der USA den Sturz Assads beinhaltet. Beispielsweise sagte Riad al-Asaad, Oberbefehlshaber der Freien Syrischen Armee
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Es wird immer deutlicher, dass es nicht funktioniert, den IS, al-Nusra oder ähnliche Gruppen mit denselben Mitteln zu bekämpfen, die sie erschaffen haben. Diese reaktionären Kräfte sind das Resultat krimineller autoritärer Regime und ausländischer Interventionen in der Region. Die Einzigen, die von der Bombardierung profitieren, sind die beiden Seiten der Konterrevolution: Das Regime Assads und die rückwärtsgewandtesten Kräfte innerhalb der islamistischen und dschihadistischen Gruppierungen. Ein Beispiel: Bei einem US-Luftschlag in der Provinz Aleppo wurden die Getreidespeicher der Stadt Manbidsch zerstört. In derselben Woche konnte der IS in der Provinz mehr als 200 neue Kämpferinnen und Kämpfer gewinnen. Zugleich versucht das Regime Assads »Legitimität« wiederzugewinnen, indem es zu einem Partner des Westens im «Krieg gegen den Terror« wird. Doch selbst wenn die Bombardierung den IS, al-Nusra und andere reaktionäre Kräfte kurzzeitig schwächt, wird sie sich höchstwahrscheinlich als kontraproduk-
JOSEPH DAHER
Joseph Daher gehört der Revolutionären Linken Strömung in Syrien an und betreibt den Blog »Syria Freedom Forever«.
(FSA): »Wenn sie die Freie Syrische Armee an ihrer Seite sehen wollen, müssen sie versichern, dass das Regime gestürzt wird und dass der Plan revolutionäre Prinzipien beinhaltet.« Viele bewaffnete Gruppen stehen den Luftschlägen kritisch gegenüber und ein großer Teil der Bevölkerung, die auf der Seite der Revolution steht, lehnt die Bombardierung ab. Liegt der Grund für diese Ablehnung vielleicht auch in den direkten Auswirkungen der Intervention? Ja, durchaus. Nach offiziellen Angaben sind den Angriffen des US-geführten Bündnisses in den ersten acht Wochen seit ihrem Beginn am 23. September mehr als 50 Zivilpersonen zum Opfer gefallen. Gleichzeitig setzte Assad den Kampf gegen die FSA und die Bevölkerung in den befreiten Gebieten fort.
tiv erweisen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass sie zu wachsender Unterstützung für die dschihadistischen Gruppierungen führt und ihnen täglich neue Rekrutinnen und Rekruten einbringt. Schon seit Längerem versuchen sich diese Kräfte als die einzige echte antiimperialistische Bewegung darzustellen. Dies führt auch zu einem Konkurrenzverhältnis unter den verschiedenen Gruppen. Die Al-Nusra-Front steht beispielsweise unter Druck, sich weiter zu radikalisieren, um nicht ihre Kämpferinnen und Kämpfer, insbesondere die ausländischen, an den IS zu verlieren. Aber haben die Luftschläge nicht zumindest der kurdischen Miliz im Kampf um Kobane geholfen? Nein. Im Gegenteil: Selbst hier sind Luftschläge nicht wirklich effektiv. Zu Beginn
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Die US-Bomben helfen nur der Konterrevolution
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der Intervention war der IS sechzig Kilometer von Kobane entfernt, heute besetzt er einen Teil der Stadt. Hier wird deutlich, dass die Intervention in erster Linie Propaganda ist. Hinzu kommt: Saudi-Arabien und Katar, also die regionalen Zentren der Konterrevolution, unterstützen die US-amerikanischen Angriffe. Die dschihadistischen und islamistischen Kräfte dienen den westlichen und regionalen Mächten als Grund für ihr militärisches Eingreifen. Gleichzeitig bedroht deren Vormarsch über regionale Grenzen hinweg aber tatsächlich ihre eigenen Interessen. Die »Koalition der Willigen« ist also keineswegs im Dienste der Syrischen Revolution aktiv. Aber Obama behauptet, dass durch die westliche Intervention religiöse und ethnische Minderheiten geschützt werden … Richtig ist: Der Islamische Staat stellt eine besondere Bedrohung für alle Teile der Bevölkerung dar, auch für sunnitische Muslimas und Muslime. Selbstverständlich hat er die Angehörigen der christlichen und jesidischen Minderheiten auf brutale Weise unterdrückt. Die christliche Bevölkerung Mosuls hat er beispielsweise durch ein Ultimatum unter Mordandrohung, entweder zu konvertieren, Steuern zu zahlen oder zu fliehen, aus der Stadt vertrieben. Dass Washington sich jetzt aber als Verteidiger der religiösen und ethnischen Minderheiten darstellt, ist an Heuchelei kaum zu überbieten. Der IS ist nicht der Feind der USA, weil er eine ultra-reaktionäre und konfessionell-sektiererische Organisation ist, die sich gegen Minderheiten richtet, sondern weil er die Souveränität der irakischen Regierung bedroht. Obama verschweigt, dass sich das Regime in Bagdad lediglich dank der Unterstützung von radikal-schiitischen Milizen halten kann, die wie der IS von Rassismus durchdrungen sind und ebenso Gräueltaten begehen. Wohin das führt, zeigte die Schlacht um Amerli nördlich von Bagdad. Anfang September konnte ein Bündnis aus schiitischen Milizen und Peschmerga die Belagerung der Stadt mit US-Luftunterstützung beenden. Anschließend gingen die schiitischen Milizen gegen die sunnitische Landbevölkerung der Umgebung vor und brannten fünfzig Dörfer nieder.
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Assad dient den Interessen der USA
Laut der irakischen Zeitung »as-Saman« wurden dabei achtzehn Sunniten hingerichtet und enthauptet. Das Märchen von der »humanitären Intervention« des Westens soll lediglich die imperialistischen Interessen verdecken, die nichts mit Menschlichkeit zu tun haben. Worüber nicht berichtet wird, ist beispielsweise die Solidarität in der irakischen Bevölkerung. Als in Mosul Christinnen und Christen demonstrierten, nahmen auch Muslimas und Muslime an dem Protest teil, stellten sich vor sie und hielten den IS-Dschihadisten Plakate mit der Aufschrift »Ich bin Christ, ich bin Iraker« entgegen. Wie beurteilst du die Situation in Syrien? Dort gilt Ähnliches: Die USA greifen nicht ein, um Minderheiten zu schützen, sondern weil sie den Sturz des Regimes verhindern wollen. Assad hat in der Vergangenheit ihren Interessen gedient, beispielsweise indem er gegen die progressiven palästinensischen und libane-
»Wir werden Assad zur Rechenschaft ziehen; egal wie viele Leben es kostet, egal wie viel Leid es noch bringt.« Das Foto wurde am 1. Februrar 2013 in der nordsyrischen Stadt Kafranbel von Oppositionellen aufgenommen, die ein Zeichen ihrer Entschlossenheit im Kampf gegen das Regime setzen wollten
sischen Widerstandsbewegungen vorging oder sich im Jahr 1991 am US-geführten Irakkrieg beteiligte. Nun hat Assad als Reaktion auf die Ereignisse im Irak damit begonnen, den IS vermehrt anzugreifen, damit es so aussieht, als würde er den »Terrorismus« bekämpfen. Doch in Wahrheit hat das syrische Regime seinen Krieg von Anfang an vor allem gegen die demokratischen Kräfte, die Volkskomitees und später gegen die FSA gerichtet. Gleichzeitig befreite es reaktionäre und dschihadistische Kräfte aus den Gefängnissen und ließ ihnen freie Hand. Diese waren mit politischer und finanzieller Unterstützung aus Saudi-Arabien und Katar in der Lage, große und gut bewaffnete Brigaden aufzubauen. Der Schutz religiöser und ethnischer Minderheiten und ebenso der restlichen Bevölkerung in der Region kann nur mit echter Demokratie, sozialstaatlichen Elementen und gesellschaftlichen Strukturen erreicht werden, die keine konfessionellen Spaltungen und ausländische
Eingriffe zulassen. Es braucht eine demokratische, progressive, säkulare und gesellschaftlich breit getragene Bewegung der Bevölkerung, die gegen alle Kräfte vorgeht, die sie entlang religiöser oder ethnischer Unterschiede spalten, im Rahmen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik ausbeuten und autoritär unterdrücken wollen. Würdest du sagen, dass die Syrische Revolution und der kurdische Widerstand in Rojava ihren gemeinsamen Ursprung im Kampf gegen die Unterdrückung durch Assads Regime haben? Ja, Kobane wurde am 19. Juli 2012 als erste von drei kurdischen Städten in Syrien befreit. Die Selbstverwaltung in Rojava ist eine direkte Konsequenz des syrischen revolutionären Prozesses. Anders hätte es nicht zur kurdischen Autonomie in Nordsyrien kommen können. Das chauvinistische, arabisch-nationalistische Regime Assads hätte dies niemals zugelassen. Es war der Aufstand der syri-
Was würde es bedeuten, wenn Kobane vom IS eingenommen würde? Der Fall Kobanes wäre nicht nur ein Verlust für die Kurdinnen und Kurden, sondern für die gesamte Syrische Revolution. Jeder Schritt in Richtung einer größeren kurdischen Selbstbestimmung ist mit der Vertiefung des revolutionären Prozesses verbunden. Wenn diese Bewegung zerschlagen wird, werden die Regierungen in Damaskus und Ankara alles in ihrer Macht Stehende tun, um jede Form kurdischer Autonomie zu unterbinden. Die Kräfte der syrischen Bevölkerung, die gemeinsam gegen Assad aufstanden, sind dieselben, die sich gegen die islamistischen und dschihadistischen Kräfte verbünden. Die Revolution von unten, in der sich die syrischen Volksmassen – arabischer und kurdischer Herkunft – vereinen, ist der einzige Weg gegen konfessionelles Spaltungen, Rassismus und nationalen Chauvinismus. Die Selbstbestimmung der Kurdinnen und Kurden wurde durch die Syrische Revolution eingeleitet und muss weitergehen, denn beide Prozesse sind in einem dialektischen Verhältnis miteinander verbunden. Ein Ende des revolutionären Prozesses würde höchstwahrscheinlich ein Ende der autonomen Region Rojava bedeuten. Die Hoffnungen auf eine selbstbestimmte Zukunft würden auf den Widerstand des westlichen und russischen Imperialismus, des arabischen und türkischen nationalen Chauvinismus und der islamistischen Reaktionäre treffen. Andersherum wäre der syrische revolutionäre Prozess nicht komplett, wenn die Kurdinnen und Kurden nicht die Möglichkeit hätten, frei über ihre Zukunft zu entscheiden – egal, ob dies zur Abspaltung oder zum gemeinsamen Kampf von demokratischen und progressiven Kräften für ein demokratisches, soziales, säkulares Syrien führt, in dem gleiche Rechte für alle garantiert sind. Deshalb müssen wir uns allen Versuchen widersetzen, die kurdische Selbstbestimmung oder den syrischen revolutionären Prozess zu untergraben. ■
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schen Bevölkerung, der das Regime dazu brachte, sich aus den mehrheitlich kurdischen Regionen zurückzuziehen und der PYD die Verwaltungshoheit zu überlassen.
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Ist der Islamische Staat faschistisch? Das Wüten der Terrororganisation IS ist erschreckend. Das macht sie aber nicht zu Nazis, auch wenn manche Linke sie so nennen. Fünf Thesen über Islamismus, Imperialismus und Faschismus VON VOLKHARD MOSLER ★ ★★
VOLKHARD MOSLER ist Redakteur von theorie21.
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1) Der Islamische Staat (IS) ist keine faschistische Bewegung, sondern hat sich aus einer konservativ-reaktionären Tradition des sunnitischen Islam, dem Wahhabismus, entwickelt. Das erklärte Kriegsziel des IS, der Aufbau eines auf einer mittelalterlichen Auslegung des Koran basierenden Gottesstaats, ist zwar reaktionär, hat aber nichts mit Faschismus zu tun. Der Faschismus ist in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Seine Geburtsstunde war die große Krise des Kapitalismus und die Zuspitzung des Imperialismus, dessen zerstörerische Folgen mit dem Krieg einen ersten Höhepunkt erreicht hatten. Dessen Grauen untergrub zugleich die Bindekraft der althergebrachten Ideologien des Bürgertums. Die Heimat des Faschismus liegt also in den Ländern des entwickelten Industriekapitalismus. Seine Mission bestand darin, die Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung vollständig zu zerschlagen, um so die durch Weltkrieg, Revolutionen und Weltwirtschaftskrise gefährdeten Akkumulationsbedingungen für das Kapital wiederherzustellen. Dazu musste er zu einer politischen Massenbewegung unter dem Kommando eines charismatischen Führers heranwachsen. Keine der islamistischen Bewegungen funktioniert jedoch nach dem faschistischen Führerprinzip. Der IS ist ein Machtbündnis verschiedener unabhängiger Zentren, die durch eine fundamentalistische Religionsideologie zusammengehalten werden. Der IS ist vor allem eine militärische Struktur, die inzwischen auch Elemente staatlicher Verwaltung ausgebildet hat. Es gibt jedoch keine politischen und sozialen Massenorganisationen wie in faschistischen
Regimen. Denn seine politische Aufgabe ist eine völlig andere. Der IS muss keine mächtige proletarische Bewegung mit massenhafter Verankerung in Betrieben und Kommunen niederschlagen, um sein Ziel zu erreichen. Dem IS reichen militärische Erfolge, um seine politische Macht zu sichern. Genau das macht den Unterschied zwischen Militärdiktatur und Faschismus aus. In einer Militärdiktatur setzt sich der bürgerliche Gewaltapparat (Armee, Polizei, Gefängnisse/Justiz) als Machtstruktur nicht nur faktisch, sondern auch in der äußeren Form der Herrschaft durch und ersetzt die demokratischen, parlamentarischen Strukturen. Der Faschismus ist dagegen eine Verdoppelung der Staatsmacht: Neben der zur staatlichen Macht erhobenen faschistischen Bewegung existiert der bürgerliche Staat weiter, wird jedoch in seiner Fähigkeit zum eigenständigen Handeln eingeschränkt (zum Beispiel: Etablierung der SS als polizeiähnliche Organisationen während der NS-Zeit, die zugleich die Kontrolle über die reguläre Polizei ausübte). Ziel des Faschismus ist die Sicherung der bürgerlichen Herrschaft durch die vollständige Zerschlagung der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung und aller Formen der proletarischen Demokratie wie Parteien, Gewerkschaften, Betriebsräte und Genossenschaften. So etwas gibt es im »Kalifat« nicht und muss es auch nicht geben. Der IS ist in seiner organisatorischen Form eine Söldnerarmee oder Miliz, eine Art von religiöser Militärdiktatur ohne »Verdoppelung« der Staatsmacht durch selbständig agierende faschistische Massenorganisationen. Im Irak operierte der IS zunächst als Guerillaarmee, in Syrien als eine re-
Eine religiöse Diktatur ist noch kein Faschismus
Poster mit dem Emblem des Islamischen Staates an einer Häuserwand in Syrien. Die schwarze Flagge ist zu einem angsteinflößenden Symbol geworden guläre Armee, gestützt auf digitale und soziale Netzwerke, über die er in Verbindung zu größeren Massen tritt. Von einer politischen Mitgliedschaft im IS kann nicht gesprochen werden, da dieser anders als der Faschismus keine Partei oder andere politische Massenorganisationen herausbildet. Die als IS firmierenden Kräfte im Irak beziehen ihre gegenwärtige politische Macht vor allem aus einer spontanen Aufstandsbewegung der Sunniten im Norden und Nordwesten des Lands. Diese werden lokal von sunnitischen Stammesführern und auch von Teilen des alten, im Krieg zerschlagenen Partei- und Militärapparats Saddam Husseins, den Baathisten, angeführt. Die Eroberung der Zweimillionenstadt Mossul im Juni erfolgte durch wenige hundert Kämpfende innerhalb von drei Tagen. Dies zeigt vor allem den Grad an Demoralisierung und Korruption der ihnen gegenüber stehenden Armee des irakischen Staats. In Syrien war der IS Teil der Konterrevolution, der Niederschlagung der demokratisch-revolutionä-
2) Es liegt nichts speziell Islamisches in der Brutalität, mit der der IS seine Opfer tötet, foltert und vergewaltigt. Brutalität ist das Gesetz jeder militärischen Kriegsführung: Je grausamer die Kampfmethode, desto größer ist die Aussicht, das Gegenüber zu besiegen. Die ständige Betonung des islamischen Charakters des IS dient hierzulande vor allem als ein weiterer Baustein des allgegenwärtigen antimuslimischen Rassismus. Der dem IS vorauseilende Ruf besonderer Grausamkeit ist beabsichtigt. Es gehört zu seiner militärischen Taktik, Gegner so einzuschüchtern und zu demoralisieren. Der IS veröffentlicht regelmäßig eine genaue Statistik seiner militärischen Operationen, die sich wie ein Rechenschaftsbericht an mögliche Auftrag- und Geldgebende liest. Doch diese Art von Terror ist keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal des IS. Gezielter Terror gegen die Zivilbevölkerung zählte auch zur Taktik der schiitischen Todesschwadrone des ehemaligen irakischen Premierministers Nuri al-Maliki – die für die Popularität des IS unter vielen Sunnitinnen und Sunniten heute verantwortlich ist. Die Vorgehensweise des IS ähnelt außerdem Empfehlungen, die in Handbüchern der US-amerikanischen Armee zur psychologischen Kriegsführung verbreitet werden. Ziel ist es, unerwünschte Bevölkerungsgruppen in eroberten Gebieten zur Flucht zu zwingen, um diese Gebiete leichter beherrschen zu können, wie es beispielsweise in den 1980ern in Zentralamerika geschah. Ist es grausamer, einen Menschen eigenhändig zu köpfen, oder eine ganze Gruppe von Menschen von einem Büro aus per Knopfdruck zu töten? Seit Jahren führen die USA in Afghanistan, Pakistan, im Jemen und in Somalia einen ferngesteuerten Drohnenkrieg. Laut einem Bericht der pakistanischen Regierung wurden so allein in den Jahren 2011 bis 2013 knapp 700 Menschen getötet, darunter 94 Kinder. Und sind die Giftgas- und Benzinbomben-Einsätze des syrischen Herrschers Assads auf dicht besiedelte Wohngebiete in Homs oder Aleppo geringere Gräueltaten als die Angriffe des IS? Der Flächenbombardierung syrischer Städte durch das Assad-Regime sind zumindest weitaus mehr Menschen zum Opfer gefallen als den Bodentruppen des IS in Irak und Syrien.
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Von al-Qaida zum Islamischen Staat: Wer sind diese Dschihadisten? Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de
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© 3aref 6ari2o / CC BY-SA / flickr.com
ren Erhebung gegen das Assad-Regime. Allerdings nahm die Konterrevolution eine andere Form an als in Italien 1922, Deutschland 1933 oder im spanischen Bürgerkrieg 1936-39. Der kleine bewaffnete Stoßtrupp und die Söldnertruppe reichten aus, um die Revolution zu besiegen, die selbst schon geschwächt und religiös gespalten war. Es gab keine proletarischen Massenorganisationen in Form von Räten, Gewerkschaften oder Parteien mit ihrem enormen Machtpotential, die der hätte IS niederwerfen und zerschlagen müssen.
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Der Terror des Islamischen Staates wird oft als eine neue Stufe der Brutalität dargestellt. Doch Folter, Vergewaltigungen und Hinrichtungen sind seit jeher Bestandteil von Kriegen und dienen der Demoralisierung des Gegenübers
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3) Die Dämonisierung des IS zu einer einzigartigen Bedrohung für die »zivilisierte Welt« ist falsch und dient dem Westen vor allem als Rechtfertigung für den dritten Irakkrieg unter Führung der USA. »Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit«: Dementsprechend sollten Behauptungen, die im Rahmen eines Konflikts aufgestellt werden, stets mit Vorsicht genossen werden. In der Berichterstattung wird uns der IS als neue Stufe der Brutalität serviert: Folter, Vergewaltigungen und Hinrichtungen werden als Beweise der negativen Einzigartigkeit der Kämpfenden des IS angeführt. Nicht, dass die Vorwürfe falsch sind, aber das Vorgehen ist keineswegs einzigartig. Grausamkeiten und deren öffentliche Inszenierung sind beispielsweise auch bei den in Mexiko operierenden Drogenkartellen zu finden. So verwendet das Kartell »Los Zetas« Enthauptungsvideos als sein »Markenzeichen«. Seit 2006 starben über 100.000 Menschen im Drogenkrieg. Hunderte wurden enthauptet, davon allein 49 im Jahr 2012 beim sogenannten Cadereyta-Massaker im Bundesstaat Nuevo León. Die Allianz gegen den IS, die US-Präsident Obama geschmiedet hat, umfasst auch Länder wie SaudiArabien. Was Politik und Medien beim IS als barbarisch verurteilen, ist dort Alltag: Laut Amnesty International wurden in der Monarchie seit Anfang August 2014 mindestens vierzig Menschen hingerichtet. Die übliche Methode ist die öffentliche Enthauptung mit einem Schwert. Die Dämonisierung des IS zur Bedrohung der »zivilisierten Welt« ist nur zu verstehen als ideologische Begleiterscheinung des dritten Irakkrieges des USImperialismus und einer neuen Koalition der Willigen, der unausgesprochen auch Irans Mullah-Regime und Assads Reststaat in Syrien angehören. Es ist ein altes Muster: Immer wenn Regierende die Bevölkerung auf einen Krieg einschwören wollen, er-
klären sie die gegnerische Macht zum absoluten Dämon der Weltgeschichte. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde in vielen Staaten die Pressefreiheit ausgesetzt. Etwa zeitgleich entstanden in Großbritannien und Frankreich, später auch in Deutschland und den USA, staatliche Propagandaapparate, die den Journalisten amtliche Mitteilungen zur Veröffentlichung stellten, um damit die öffentlich Meinung zu steuern. In dem Buch »Die illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution« aus den 1920er Jahren heißt es: »In allen Ländern wurden der Bevölkerung mit der Morgenzeitung die Gräuel des Gegners, die ermordeten Kinder, die vergewaltigten Frauen und die aufgeschlitzten Bäuche zum Frühstück serviert. In allen Ländern wurde den Soldaten eingeredet, sie kämpften gegen ein Volk, das durchweg aus Menschenfressern und Barbaren bestehe.« Stellvertretend für die Propaganda in neueren Kriegen steht die »Brutkastenlüge«. Um ihre militärische Intervention zu rechtfertigen, verbreiteten die USA die Geschichte, dass irakische Soldaten bei der Invasion Kuwaits im Jahr 1990 kuwaitische Frühgeborene getötet hätten, indem sie sie aus ihren Brutkästen rissen. Die Brutkastenlüge hatte großen Einfluss auf die öffentliche Debatte über die Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens zugunsten Kuwaits und wurde sowohl vom damaligen amerikanischen Präsidenten George Bush als auch von Menschenrechtsorganisationen angeführt. Erst später stellte sich die Geschichte als Erfindung der amerikanischen PR-Agentur Hill+Knowlton heraus. Diese war von der im Exil befindlichen kuwaitischen Regierung bezahlt worden, um eine Rückeroberung Kuwaits mittels Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen. Die Liste der Kriegslügen ließe sich beliebig fortsetzen. Der Journalist Herwig Katzer bilanziert in seinem Beitrag »Kriegslügen als Mittel der Politik«: »Übertreibungen, Unwahrheiten, Lügen: sie sind das Fundament der Kriege und das Werkzeug der Mächtigen.« Ähnliches passiert auch jetzt wieder, und die Linke sollte auf die Dämonisierung des IS nicht hereinfallen. 4) Der IS ist ein Monster – aber nicht das einzige auf der Welt. Vor allem: Es gibt noch ein größeres: den US-Imperialismus. Die Unterscheidung zwischen imperialistischen und nicht-imperialistischen Staaten ist auch heute noch wichtig für das politische Handeln von Linken. Der Imperialismus ist der Kapitalismus in seinem »höchsten Stadium«. Gewiss gibt es kleinere und größere, stärkere und schwächere imperialistische Staaten. Aber eines ist ihnen allen gemein: Ihre ökonomische Basis ist heute ein hoch entwickelter »postindustrieller« Kapitalismus, der nur noch durch internationale Expansion wachsen kann und deshalb tendenziell mit seinen Konkurrenten politisch und schließlich auch militärisch zusammen-
stößt. Der IS verfügt weder über eine entwickelte industrielle ökonomische Basis noch über eine nennenswerte Luftwaffe, ohne die ein Angriffskrieg gegen Drittstaaten außerhalb des eigenen Territoriums heute undenkbar ist. Die USA hingegen haben seit 1945 mehr als 30 Kriege geführt: Dazu gehören kleinere Kriege wie in Grenada (1983), mittelgroße Kriege wie im Libanon (1958) und große Kriege wie in Vietnam (1964-1975) oder im Irak (1991-2011). Auch die jetzige militärische Intervention unter Führung der USA dient vor allem einem Zweck: Der Rückgewinnung verlorener Vormachtstellung über die erdölreichste Region der Welt. Die imperialistischen Staaten beuten nicht nur ihre eigenen Völker aus. Sie operieren weltweit, sie plündern die Rohstoffe und Reichtümer Afrikas, Asiens und Südamerikas aus. Der Imperialismus führt daher immer wieder auch zur Unterwerfung und Unterdrückung kleinerer Völker, wo jene den Raubzügen dieser Staaten im Weg stehen. Eine demokratische Form der Selbstbestimmung der Nationen wird durch diese ökonomische Machtkonzentration immer wieder in Frage gestellt. Das Schicksal der unterdrückten kurdischen Bevölkerung in der Türkei und der Palästinenserinnen und Palästinenser ist Ausdruck dieser imperialistischen Weltordnung.
So argumentierten nach dem Sieg des Ayatollah Khomeini im postrevolutionären Iran der frühen 1980er Jahre viele iranische Linke, dass es sich bei Khomeinis Mullah-Regime um eine neue Form des Faschismus handele. Seitdem hat sich der Begriff des »Islamofaschismus« in einem Teil linker Diskurse festgesetzt und bildet eine Brücke zur Annäherung an den westlichen Imperialismus als angeblich kleineres Übel. Der frühere britische Sozialist und Aktivist der 68er-Bewegung Fred Halliday brachte es 1991 auf den Punkt: »Wenn ich zwischen Imperialismus und Faschismus wählen muss, wähle ich Imperialismus.« Damit rechtfertigte er sowohl frühere Versuche der USA, das Khomeini-Regime militärisch zu schwächen, als auch im Jahr 1991 Bushs Krieg gegen Saddam Hussein. Ähnlich argumentierten Linke in Algerien, Ägypten und Syrien, die in islamistischen Bewegungen ihrer Länder einen neuen Faschismus sahen und sich dann auf die Seite diktatorischer Regime stellten, wie etwa denjenigen von Assad in Syrien oder al-Sisi in Ägypten. Aber wenn es falsch ist, die islamistischen Bewegungen im Nahen Osten als »faschistisch« anzusehen, so ist es genauso falsch, sie einfach als »antiimperialistisch« oder »prinzipiell staatsfeindlich« zu bezeichnen. Sie kämpfen nicht nur gegen Herrschende, also jene Klassen und Staaten, die die Masse der Bevölkerung ausbeuten. Immer wieder haben sich Bewegungen oder Parteien, die sich den politischen Islam auf die Fahne schreiben, gegen Frauenrechte, gegen die Interessen der Lohnabhängigen, gegen Linke und gegen ethnische und religiöse Minderheiten gewandt. Wie sollten Linke dann dem Islamismus gegenübertreten? Chris Harman schlug vor knapp zwanzig Jahren folgenden Ansatz vor: »Der Islamismus ist eine Antwort auf die Verwüstungen durch den Imperialismus. Er ist allerdings eine Antwort, die genauso rückwärtsgewandt sein kann, um sich einige der reaktionärsten Züge vorkapitalistischer Gesellschaften zu eigen zu machen, wie nach vorne gewandt, um den Imperialismus zu bekämpfen. (…) Die nicht-religiöse Linke kann die Führung im Kampf um eine bessere Gesellschaft übernehmen. Allerdings nur, wenn sie die tödliche Falle vermeidet, zu glauben, dass der Imperialismus oder seine Satellitenregierungen vor Ort irgendwie ›zivilisierter‹ wären als ihre islamistischer Gegner. Sollte die Linke in diesem Irrtum verharren, wird sie nur viele Menschen zurück in einen Islamismus drängen (…).« Diese Mahnung gilt noch heute. ■
Der Imperialismus ist nicht »zivilisierter« als seine Gegner
★ ★★ WEITERLESEN
Chris Harman Politischer Islam – eine marxistische Analyse 4. Aufl., VGZA Frankfurt am Main 2012 84 Seiten 3,50 Euro oder kostenfreier Download auf marx21.de
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5) Die Charakterisierung des Islamismus von Teilen der Linken als »Islamofaschismus« ist politisch gefährlich. Sie kann eine Brücke zur Annäherung an den westlichen Imperialismus als »kleineres Übel« darstellen. Der Aufstieg des Islamismus hat in der Linken zu Verwirrung geführt. Viele sind sich unsicher, wie sie diesem Phänomen gegenübertreten sollen. Manche sehen in ihm einen neuen Faschismus. Der britische Marxist Chris Harman setzt sich in seiner Schrift »Politischer Islam – eine marxistische Analyse« kritisch mit dem Begriff »Islamofaschismus« auseinander. Er schreibt: »Die islamistischen Massenbewegungen (…) spielen (…) eine andere Rolle als der Faschismus. Ihre Zielscheiben sind nicht in erster Linie die Arbeiterorganisationen, und sie dienen sich nicht den zentralen Sektoren des Kapitals als Mittel zur Lösung ihrer Probleme auf Kosten der Arbeiter an. Diejenigen auf der Linken, die in den Islamisten bloß Faschisten sehen, lassen die destabilisierende Wirkung dieser Bewegungen auf die Interessen des Kapitals im gesamten Nahen Osten außer Acht und landen schließlich auf der Seite von Staaten, die die mächtigsten Unterstützer sowohl des Imperialismus als auch des örtlichen Kapitals sind.«
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Ein Phänomen der Moderne Wie lassen sich die wachsenden religiösen Spannungen im Nahen Osten erklären? Unser Autor meint: Mit Mohammed haben sie reichlich wenig zu tun VON BASSEM CHIT ★ ★★
BASSEM CHIT war ein libanesischer Sozialist. Anfang Oktober verstarb er an den Folgen eines Herzinfarkts. Bassem wurde nur 34 Jahre alt. Sein Artikel ist erstmals im Februar 2014 in der britischen Zeitschrift »Socialist Review« erschienen.
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mmer wieder kommt es im Nahen Osten zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen und schiitischen Bevölkerungsgruppen oder auch zwischen anderen religiösen Minderheiten wie den alawitischen, drusischen oder christlichen Gläubigen. Das hat seit dem Arabischen Frühling eine Debatte über die Bedeutung von religiösen Spaltungen und religiösem Sektierertum entfacht (Anm. d. Red.: In der englischen Version dieses Textes verwendet Bassem Chit den Begriff »religious sectarianism«, für den es keine eindeutige deutsche Übersetzung gibt. Gemeint ist die Diskriminierung oder Ablehnung anderer aufgrund religiöser Herkunft). Die meisten Veröffentlichungen hierzu beleuchten das Thema aus kultureller Perspektive. Ein sehr einschlägiges Beispiel dafür ist die Debatte über die vermeintliche Trennung zwischen der schiitischen und der sunnitischen Glaubensrichtung. Viele Autorinnen und Autoren sehen sie als Fortsetzung des Konflikts über die Nachfolge des Propheten Mohammed nach dessen Tod im Jahre 632. Eine solche Sichtweise übergeht jedoch jedwede gesellschaftliche Entwicklung und Veränderung, die seitdem stattgefunden hat. Religiöses Sektierertum ist meines Erachtens aber ein Phänomen der Moderne. Es ist die Gegenwart, die diese Verbindungen zur Vergangenheit herstellt – nicht als Racheakt für vergangene Kämpfe, sondern um die gegenwärtigen zu gewinnen. Ein solches Geschichtsverständnis im Dienst der Gegenwart ist nicht neu. In seiner Schrift »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« argumentierte schon Karl Marx: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen
und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.«
Der arabische Nationalismus war nie säkular
In diesem Sinne verstehe ich das religiöse Sektierertum als ein Ergebnis der derzeitigen Widersprüche in den modernen arabischen und nahöstlichen Gesellschaften. Seine vulgärsten Auswüchse erlebt es in Krisenzeiten: Die Kriege zwischen Maroniten und Drusen im Libanon-Gebirge in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts machten die Widersprüche des neu aufkommenden kapitalistischen Systems sichtbar. Auch im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) entwickelte sich religiöses Sektierertum als Ausdruck des politischen Konflikts: Es verdeutlichte einerseits die Krise des neu gegründeten libanesischen Staates, andererseits war es eine Strategie der Herrschenden, um die damalige Massenbewegung der Opposition zu zerstören. Der Krieg der USA im Irak (ab 2003) bereitete ebenfalls den Boden für den Ausbruch eines religiösen Konflikts. Zugleich ließ er die unter Saddam Hussein eingeführte Politik der religiösen Spaltung wieder aufleben. Weitere aktuelle Beispiele hierfür finden sich in Syrien, Bahrain und zum Teil auch in Ägypten. Das jüngste Erstarken des religiösen Sektierertums lässt sich nur im Zusammenhang mit den revolutionären Kämpfen verstehen, die in der Region
Sowohl der arabische Nationalismus als auch das religiöse Sektierertum sind Produkte des kolonialen Zeitalters. Sie fungierten zugleich als Voraussetzung einer antikolonialistischen Politik sowie als Rechtfertigung für die koloniale Herrschaft. Der arabische Nationalismus gab sich nach außen hin zwar säkular, das war aber nicht mehr als nur ein Schein. Denn er berief sich ständig auf Religion, benutzte und kooptierte sie, um seine Macht zu sichern. Der ägyptische Staatsmann Gamal Abdel Nasser leitete Reformen in der al-Azhar-Moschee ein, die als führende Autorität im sunnitischen Islam gilt. Damit wollte er seinen Vorsprung gegenüber den Muslimbrüdern und den eher konservativen Wahhabiten, die von Saudi-Arabien unterstützt werden, sicherstellen. In den siebziger Jahren schürte der syrische Diktator Hafiz al-Assad religiöse Spannungen und festigte seine Macht durch die Bevorzugung bestimmter Sippen. Seine baathistische Regierung baute Moscheen und gründete islamische Schulen, erhöhte die Gehälter der sunnitischen Oberschicht, propagierte den Islam in den Massenmedien und brachte eine konservative islamische Einrichtung dazu, seine Regierung zu legitimieren. Im Jahr 1973 veranlasste Assad eine Gesetzesänderung in der säkularen Verfassung, die besagte, dass »die Religion des Präsidenten der Islam« sei. Auf der anderen Seite lässt sich das Anwachsen einer bestimmten Form des religiösen Nationalismus beobachten, etwa bei den iranischen Schiitinnen und Schiiten und beim Wahhabismus in Saudi-Arabien. Im Libanon finden wir eine nicht ganz so deutliche Ausprägung dieses Zusammenspiels von Nationalismus und Religiosität vor: Dort beschreibt »Ta‘ayush« (arabisch für »Zusammenleben« und »nationale Einheit«) die nationale Identität, Konfessionalismus aber die Praxis. Viele halten das religiöse Sektierertum für ein »konter-nationalistisches« und »prämodernes Phänomen«. Das ist damit zu erklären, dass die meisten Auffassungen zur historischen Entwicklung der modernen arabischen und nahöstlichen Gesellschaften wenig durchdacht und eurozentristisch sind. Die Entwicklung des Kapitalismus (und somit der Moderne) wird hier so verstanden, dass sie dem eu-
ropäischen Modell zu folgen hat. Nach einem solchen Verständnis kommt Moderne einem ideologischen Bruch mit religiösen Einrichtungen und Ideen gleich. Doch die Entwicklung des Kapitalismus ist keineswegs einheitlich, sondern er durchlebt einen Prozess der »ungleichen und kombinierten Entwicklung«, wie Leo Trotzki es einst beschrieb. Wenn man »Moderne« als ideologischen Begriff versteht und sie als das Ergebnis des Übergangs von Feudalismus zu Kapitalismus begreift, kann sie also nicht gleichförmig verlaufen. Vielmehr spiegelt sie die historischen Verläufe wider, die in den einzelnen Regionen differieren. Bei der politischen Meinungsbildung in arabischen und nahöstlichen Gesellschaften spielt Religion noch immer eine große Rolle. Der Grund dafür ist, dass der dortige Übergang zur »Moderne« nicht das Resultat einer langsamen und lang andauernden Revolution war, sondern von westlicher Kolonialherrschaft. Als Folge und Begleiterscheinung seiner brutalen gesellschaftlichen Zerwürfnisse brachte der Kapitalismus Nationalismus und religiöses Sektierertum hervor. In der Zeit vor der kolo-
Die eurozentrische Sichtweise auf die islamische Welt führt zu vielen falschen Schlussfolgerungen. Um die Rolle der Religion in den modernen arabischen und nahöstlichen Gesellschaften zu verstehen, müssen wir nach den speziefischen historischen Voraussetzungen für deren Existenz fragen
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stattfinden.Die politische und ideologische Rolle des religiösen Sektierertums war stets, eine bestehende Krise in eine neue ideologische Form zu überführen. Es stellt also den Versuch dar, eine »neue« Hegemonie herzustellen, um die Krise der bürgerlichen Gesellschaft zu überdecken. Und obwohl das religiöse Sektierertum gemeinhin als Gegenstück zum arabischen Nationalismus angesehen wird, ist es nichts anderes als eine Widerspiegelung des Nationalismus.
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nialen Besetzung des Nahen Ostens waren religiöse Strukturen keineswegs im gleichen Maße verbreitet wie im Westen. Sie spielten im Verhältnis zu den bestehenden Autokratien eine eher zu vernachlässigende Rolle. Im Osmanischen Reich existierte der Kanun als säkulares Rechtssystem neben dem religiösen Gesetz der Scharia. Als der Feudalismus unterging, verschob sich die Loyalität religiöser Einrichtungen auf die Seite der neuen bürgerlichen Klassen. In einigen Fällen vergrößerten sie ihren Machteinfluss durch Landnahme oder Förderung kapitalistischer Investitionen im eigenen Land. Die neuen bürgerlichen Staaten gingen nicht aus einem revolutionären Bruch mit der Religion hervor, wie es in vielen Ländern Europas der Fall war, sondern durch eine Legitimierung durch die religiöse Autorität. Dieses Phänomen lässt sich vielfach im Nahen Osten beobachten, so zum Beispiel im Personenstandsrecht. Dementsprechend gibt es nicht nur einen Typ von religiösem Sektierertum, sondern verschiedene Ausprägungen. Sie sind jeweils eine Reaktion auf die spezifisch historischen Bedingungen bei der Entstehung bürgerlicher Politik und der Art und Weise, wie das Kapital sich ideologisch in Verbindung mit der Religion setzt. In Ägypten beispielsweise ist die koptisch-christliche Gemeinde zu einem Schlachtfeld zwischen Muslimbrüdern und dem Militärrat geworden. Hier gibt sich das Militär als Beschützer vor dem konfessionellen »Terrorismus« der Muslimbrüder aus, obwohl viele Angriffe auf die koptische Kirche vom Militär verübt oder geduldet wurden. In Syrien stellt sich die Assad-Regierung als Beschützerin der religiösen Minderheiten gegen die »dunklen Mächte« der sunnitisch-takfirischen Gruppen dar. Währenddessen rechtfertigt die libanesische Hisbollah, eine politische Gruppe der Schiitinnen und Schiiten, ihre militärischen Interventionen zur Unterstützung der Regierung als Kampf gegen den »amerikanisch-israelischen-takfirischen Plot«. Der al-Qaida nahe stehende Islamische Staat im Irak und Syrien (IS) und seine Rivalen von der al-NusraFront sind beides Beispiele neu entstandener religiös-sektiererischer Organisationen in Syrien. Sie bildeten sich als Reaktion auf die instabilen Strukturen in der Freien Syrischen Armee und auf die brutale Niederschlagung der Aufstände der Bevölkerung durch die syrische Regierung. Viele Menschen, die mit der starken religiösen Denkweise dieser Organisationen nicht einverstanden waren, fanden hier die Disziplin, die ihnen in anderen kämpferischen Organisationen fehlte.
Sowohl religiöses Sektierertum als auch Nationalismus stellen für die herrschende Klasse Möglichkeiten dar, die Arbeiterinnen- und Arbeiterklasse zu disziplinieren und zu spalten. Denn in ihr sieht sie die größte Gefahr für ihre Macht. So hält sie aber ihre Macht in einem konstruierten »heroischen Kampf« aufrecht und verbirgt ihre Krise. Passend dazu schrieb Marx: »Aber unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des Bürgerkriegs und der Völkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen. Und ihre Gladiatoren fanden in den klassisch strengen Überlieferungen der römischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurfte, um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten.« In der von der herrschenden Ordnung hervorgerufenen Stimmung der Angst und des Terrors haben religiöses Sektierertum und Nationalismus ihr Entstehungsmoment. Wenn diese nicht angefochten werden, kann es sein, dass Arbeiterinnen und Arbeiter sie annehmen und schließlich als »die einzige unmittelbare« Lösung für Schutz oder Sieg ansehen. Das war beispielsweise der Fall, als im Libanon die schiitischen Arbeiterinnen und Arbeiter die Politik der Hisbollah befolgten und die sunnitischen Beschäftigten den verschiedenen sunnitischen Parteien folgten. Ähnliches gilt für die Menschen in Syrien, die sich bestimmten religiösen Gruppen anschließen, weil diese finanziell besser gestellt und organisierter sind. Ein weiteres Beispiel liefern die ägyptischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die auf den Militärrat oder die Muslimbrüder setzten, da eine verlässliche Alternative fehlt. Aus diesen Gründen sollten revolutionäre Linke das religiöse Sektierertum nicht einfach als eine »Teile und Hersche«-Taktik abtun. Wir müssen die historischen Voraussetzungen für dessen Existenz nennen, indem wir die Natur der modernen arabischen und nahöstlichen Gesellschaften und die Rolle der Religion darin hinterfragen. Zugleich müssen wir eine revolutionäre Gegenideologie entwickeln, die nicht nur die Gründe der Ausbeutung offengelegt, sondern auch die ideologische Hegemonie der Herrschenden ständig hinterfragt. Revolutionärer Säkularismus darf weder »säkularnationalistisch« noch »säkular-neoliberal« bedeuten, sondern muss auf einem weltweiten Kampf für Sozialismus aufbauen. ■
»Säkular« darf nicht »neoliberal« bedeuten
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TITELTHEMA FREIHEIT FÜR KURDISTAN. ABER WIE?
MARX IS' MUSS 2015 4 Tage, 60 Veranstaltungen, 1 Kongress Der Kongress findet im Jahr 2015 über Himmelfahrt (14. bis 17. Mai) in Berlin statt. Anmelden kannst du dich jetzt schon auf www.marxismuss.de. Mit einer frühzeitigen Anmeldung hilfst du uns dabei, die Kosten für das Werbematerial zu finanzieren. Wir bedanken uns mit einem Frühbucherrabatt.
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WELTWEITER WIDERSTAND
© Roel Wijnants / CC BY-NC / flickr.com
AUSTRALIEN
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Während des Mitte November in Brisbane abgehaltenen G20-Gipfels versammeln sich diverse Gruppen, um gegen die Politik der teilnehmenden Staaten zu demonstrieren. Neben Anti-Putin-Protesten gibt es einen Strand-Flashmob, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeinsam ihre Köpfe in den Sand stecken, um Australiens Umgang mit dem Klimawandel darzustellen. Besonders viele kommen, um den Umgang von Premierminister Tony Abbott mit der Aborigine-Bevölkerung anzuprangern. »Er stellt das Land so dar, als sei es (vor der Ankunft der Europäerinnen und Europäer im Jahr 1788, Anm. d. Red.) unbewohnt gewesen«, so einer der Teilnehmer.
BURKINA FASO
Jugend auf der Straße VON KEN OLENDE
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iktator Blaise Diktator Blaise Compaoré regierte Burkina Faso 27 Jahre lang autokratisch. Ende Oktober haben Massenproteste in der Hauptstadt Ouagadougou ihn dazu gezwungen, abzudanken und aus dem westafrikanischen Land zu fliehen. Sie stürzten den Herrscher eines der ärmsten Länder der Welt, als dieser versuchte, die Verfassung zu ändern, um sich weitere Amtsperioden zu ermöglichen. Das Militär behauptet nun, es habe »übergangsweise« die Kontrolle übernommen, um wieder Ordnung herzustellen. Die Sozialforscherin Lila Chouli beschäftigt sich schon lange mit sozialen Bewegungen in Burkina Faso. Für sie steht fest: »Ein von der Bevölkerung ausgehender Aufstand zwang Compaoré zur Flucht. Die Armee versucht nun, diesen Erfolg zu stehlen. Die Omnipräsenz der Armee war schon immer ein zentraler Aspekt des politischen Lebens seit der Unabhängigkeit im Jahr 1960. Auch Compaorés Herrschaft war militärisch, trotz ihres zivilen Auftretens.« Doch das Militär ist zerstritten. Nach Compaorés Rücktritt verkündete Armeechef General Honoré Traoré, er habe das Kommando übernommen. Doch binnen kürzester Zeit wurde er durch Oberleutnant Isaac Zida ersetzt, dem früheren Oberst der Präsidentengarde. Diese »gilt als Armee innerhalb der Armee«, sagt Lila Chouli. »Seit Jahren gab es Forderungen, sie aufzulösen. Teile der Zivilgesellschaft und der politischen Opposition können sich plötzlich mit diesem armeegeführten Machtübergang anfreunden. Jedoch stehen sie unter dem Druck der Straße, die dies unmissverständlich ablehnt. Noch sind die Würfel nicht gefallen.« Die Massenproteste scheinen aus dem Nichts entstanden zu sein. »Sie haben keinen direkten Organisator«, erklärt Chouli. »Oppositionspolitiker riefen seit Mitte Oktober zu immer radikaleren Protesten auf. Doch die Jugend wäre eh auf die Straße gegangen, um sich gegen Compaoré zu stellen. Seit der Ermordung des Journalisten Norbert Zongo im Jahr 1998 gab es regelmäßig Massenbewegungen.
Im Jahre 2011 fand eine Welle von Protesten und Streiks statt. Auf der Straße haben sich seit 2013 außerdem neue Kräfte entwickelt, in Vorbereitung auf die für 2015 angedachten Wahlen – neue Kampagnengruppen, neue Parteien.« Die meisten Leute auf der Straße wollen ihre Lebensumstände verbessern. Etwa 46 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Dabei ist Burkina Faso eine sehr junge Gesellschaft: Etwa sechzig Prozent der 17 Millionen Einwohner sind jünger als 25 Jahre. Sie erwartet keine rosige Zukunft. Burkina Faso grenzt im Norden an Mali, im Osten an Niger, südlich an Benin, Togo und Ghana, sowie an Côte d’Ivoire im Westen. Das Land ist ein enger Verbündeter seiner früheren Kolonialmacht Frankreich und der USA. Beide besitzen hier Militärbasen. Die USA nutzen Burkina Faso als Basislager für Drohnen, um mögliche Bedrohungen in der Sahelzone aufzuspüren. Die französische Regierung sieht das Land als Schlüssel ihrer »Françafrique«-Politik, weiterhin Einfluss auf ihre früheren Kolonien auszuüben. »Unter Compaoré war Burkina Faso eine Säule dieser Politik«, meint Chouli. Beide Staaten hoffen, dass die neue Führung zwar demokratisch legitimiert, aber keineswegs kapitalismusfeindlich sein wird. Paris startete im August die Militäroperation »Barkhane« gegen den »Extremismus« in den anliegenden Ländern. Laut Lila Chouli »scheint dies die Wichtigkeit Burkina Fasos als Basis im ›Kampf gegen den Terror‹ zu senken, da außerdem Mali, Mauretanien, Niger und Tschad beteiligt sind. Jedoch wissen wir, dass General Traoré sich einen Tag vor dem Rücktritt Compaorés mit der Opposition und dem Botschafter Frankreichs getroffen hat.« Auch sein Nachfolger versicherte, dass Burkina Faso alle Verpflichtungen einhalten werde, die Compaoré eingegangen sei. ★ ★★ KEN OLENDE schreibt regelmäßig für die britische Wochenzeitung »Socialist Worker«.
UNGARN In Budapest sind im November abermals mehr als 10.000 Menschen auf die Straße gegangen, nachdem Massenproteste Ende Oktober bereits die Rücknahme der geplanten Internetsteuer erwirkt hatten. Diese empfand die vor allem im Internet organisierte Opposition als Zensur. Der erneute Protest richtet sich gegen Präsident Viktor Orbán und auch gegen die Leiterin des Finanzamts, Ildikó Vida. Erst kürzlich ist bekannt geworden, dass die USA gegen sie ein Einreiseverbot wegen Korruptionsverdachts verhängt haben.
ITALIEN Seit Wochen protestieren Arbeiterinnen und Arbeiter des Edelstahlwerkes AST gegen die geplante Entlassung von einem Drittel der Belegschaft. Das Werk im mittelitalienischen Terni gehört zum Konzern ThyssenKrupp und bietet vor Ort die meisten Arbeitsplätze. Mitte November besetzten Beschäftigte eine Autobahn, zwei Wochen zuvor zogen sie vor die deutsche Botschaft in Rom. Hierbei wurden mehrere Demonstrantinnen und Demonstranten von der Polizei brutal angegriffen.
GROSSBRITANNIEN
LOHNERHÖHUNG IM GANZEN LAND Etwa 80.000 Arbeiterinnen und Arbeiter gingen Mitte Oktober in London auf die Straße, um unter dem Motto »Britain needs a payrise« für Lohnerhöhungen zu kämpfen. Die vom Gewerkschaftsdachverband TUC organisierte Demonstration schloss damit an landesweite Streiks im öffentlichen Dienst an. Grund für den Protest waren die immer größer werdenden Reallohnverluste, die seit Beginn der Finanzkrise 50 Pfund (etwa 63 Euro) pro Woche ausmachen. Spitzengeschäftsführerinnen und -geschäftsführer verdienen laut TUC inzwischen das 175-fache der durchschnittlichen Angestellten.
WELTWEITER WIDERSTAND
Ein Aufstand der Bevölkerung stürzt den Diktator. Doch nun versucht die Armee, diesen Erfolg für sich zu reklamieren
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INTERNATIONALES
Hohe Erwartungen und große Furcht In Ägypten tobt die Konterrevolution: Mit der Wahl des Generals Abd alFattah al-Sisi versuchen die Herrschenden, die Kontrolle zurückzugewinnen. Eine Analyse zum vierten Jahrestag der Revolution VON SAMEH NAGUIB ★ ★★
SAMEH NAGUIB ist Mitglied der Organisation Revolutionäre Sozialisten in Ägypten. Er lehrt Soziologie an der American University in Kairo.
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s besteht kein Zweifel, dass wir in Ägypten Zeuginnen und Zeugen eines Siegs der Konterrevolution sind. Die erste Woge der Revolution ist abgeebbt. Abd al-Fattah al-Sisis Krönung zum Präsidenten fand auf den Leichen vieler Revolutionärinnen und Revolutionäre statt und wurde begleitet von der größten Verhaftungswelle der neueren ägyptischen Geschichte. Er erhielt beispiellose Unterstützung von Großunternehmen, geheimdienstlichen, juristischen und religiösen Institutionen des Staats sowie von bedeutenden privaten und staatlichen Medienanstalten, die unmittelbar vom Geheimdienst kontrolliert werden. Unter dem Deckmantel der »Bekämpfung des Terrorismus« und um den Staat vor den Spaltungen, die die Revolution von 2011 hervorgerufen hat, zu schützen, hat er zahlreiche repressive Gesetze erlassen. Damit wird nicht nur der Raum für politische Aktivitäten erheblich eingeschränkt, sondern sie beschneiden auch massiv soziale und wirtschaftliche Rechte.
Trotz des Siegs der Konterrevolution ist die Militärdiktatur mit großen Problemen und Krisen konfrontiert. Das neue Regime bewegt sich in einem offenen Widerspruch zwischen den Versprechungen, die es der Bevölkerung macht, und der realen wirtschaftlichen Lage, die weder Wachstum noch Stabilität verspricht. Der permanente »Krieg gegen den Terror« und die Illegalisierung der Muslimbruderschaft sind zwar notwendig, um das Bündnis der Staatsinstitutionen und die Unterstützung eines signifikanten Flügels der Mittelschicht zu sichern, gleichzeitig jedoch sind diese Maßnahmen ein Hindernis für einen erneuten Zufluss ausländischer Investitionen und die Wiederbelebung des Tourismus. Die ägyptische Wirtschaft wird krisenhaft bleiben und nur dank der Hilfe der Golfstaaten von einem Monat zum anderen überleben. Ohne einen Grad von Stabilität, der den Golfstaaten gewisse Profite verspricht, wird dieses Arrangement kaum Bestand haben können. Die Kluft zwischen den von Privat- und Staatsmedien geschürten hohen Erwartungen großer Teile der Mittelschicht bezüglich der Hebung ihres Lebensstandards und der Realität ist riesig. Denn diese Erwartungen werden sehr bald
Al-Sisis Sternstunde wird bald vorüber sein
Husni Mubaraks Staat beruhte auf einer Arbeitsteilung und einem sehr genau austarierten Kräfteverhältnis zwischen verschiedenen Staatsinstitutionen und Machtzentren. Die Armee stand dem Präsidentenamt und dem Innenministerium gegenüber; der staatliche und der militärische Geheimdienst wiederum dem Staatssicherheitsdienst, während das Lager der Unternehmen ein Gegengewicht zur Führung der Nationaldemokratischen Partei Mubaraks darstellte. Die Januarrevolution erschütterte dieses Konstrukt. Möglicherweise wurde al-Sisi ins Präsidentenamt gehievt, weil er als klügster Kopf des Obersten Rats der Streitkräfte entscheidend dazu beigetragen hat, dieses System vor weiteren Spaltungen oder gar einem Zusammenbruch zu retten. Mohammed Mursis Muslimbruderschaft hatte ihm anfangs sogar dabei geholfen, am Ende ging er über ihre Leichen. Dennoch bleibt der ägyptische Staat in allen Institutionen zerrissen. Al-Sisis Sternstunde als Retter und Einiger wird bald vorüber sein, weil sich das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessennetzwerken und Machtzentren nur schwer wiederherstellen lässt. Als größte Schwäche der Regierung al-Sisis könnte sich aber erweisen, dass ihm eine echte politi-
Bild links: Vorerst mag die Konterrevolution gesiegt haben. Ruhe herrscht am Nil jedoch keine. Immer wieder kommt es zu größeren Protesten. Vor allem Studierende spielen dabei eine bedeutende Rolle, wie hier im Frühjahr 2014 bei Straßenschlachten mit Sicherheitskräften an der Ain-Shams-Universität in Kairo
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© Mohamed Al Hussainy / CC BY-NC-SA / flickr.com
mit der neoliberalen Sparpolitik des Regimes kollidieren. Jeder ernsthafte Versuch al-Sisis, seine Versprechungen auch nur zeitweilig umzusetzen, wird unweigerlich an den Interessen des Großkapitals und der Investoren aus den Golfstaaten zerschellen. Wenn al-Sisi von großen Sprüngen spricht, die die Wirtschaft unbedingt braucht, hat er Recht. Um wieder wettbewerbsfähig zu werden, benötigt die ägyptische Wirtschaft grundlegende Veränderungen in ihrer Infrastruktur: Kraftwerke zur Lösung der Energieengpässe, neue Straßen und Eisenbahnnetze, eine Bildungsoffensive. Solche Projekte setzen allerdings zweierlei voraus: Zeit und viel Geld. Al-Sisi verfügt weder über das eine noch das andere. Die Instandsetzung des Eisenbahnnetzes kostet Milliarden Dollar und dauert mindestens zehn Jahre. Der Bau von Atomkraftwerken ist doppelt so teuer und sie können frühestens fünfzehn Jahre nach Baubeginn Energie erzeugen. Weder mit den Investitionen aus den Golfstaaten noch mit einheimischem Kapital ist das zu bewerkstelligen – auch nicht über Sparprogramme, selbst wenn der irre General die Löhne noch so drastisch senkt und die Arbeitszeit verdoppelt. Also wird alSisis Regime weiterhin von Krisen geschüttelt sein: ein verschuldeter, korrupter, unterwürfiger Bettler, der von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten (UAE) und den USA abhängig ist. Unterdessen wird das Militärregime mit seiner Auffassung von Wirtschaftsplanung papierene Riesenprojekte entwerfen und weitere Katastrophen erzeugen.
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Bild Mitte: Hunderte Oppositionelle wurden im vergangenen Jahr zum Tode verurteilt. Die meisten von ihnen unterstützen die Muslimbruderschaft – aber auch andere politische Gruppen sind starken Repressionen ausgesetzt
sche Partei fehlt. Es ist nicht länger möglich, auf den Apparat der alten Nationaldemokratischen Partei zurückzugreifen, die allzu gern zu ihrer früheren Vorherrschaft mit ihrer gesamten Machtfülle zurückkehren möchte. Das bewies schon die Lähmung und Passivität der Partei bei den Präsidentschaftswahlen. Al-Sisis Beliebtheit geht vor allem auf seine Unterstützung aus der Mittelschicht zurück, aber die sind nicht als Partei mit klarer Ideologie und Struktur organisiert. Eins ist gewiss: Reformistinnen und Reformisten verraten Revolutionen immer. Ihr Verrat führt entweder zur Ausschaltung der reformistischen Kräfte und zur Vollendung der Revolution oder er führt zur Konterrevolution, wenn ein revolutionäres Gegenüber mit tiefer Verwurzelung in den Massen fehlt, das den Kampf gegen die Konterrevolution und gegen die reformistischen Kräfte aufnimmt. Das Los der ägyptischen Revolution war ein doppelter Verrat. Zuerst wurde sie von der Muslimbruderschaft verraten, die auf dem Rücken der Revolution an die Macht kam und sie dann ihren Feindinnen und Feinden auslieferte. Mit außergewöhnlicher Dummheit ebnete sie der Konterrevolution den Weg und kam dadurch dann selbst zu Fall. Den letzten Stoß jedoch versetzten die Liberalen, die Linken und Nationalisten der Revolution. Sie gründeten gemeinsam mit Anhängerinnen und Anhängern Mubaraks und der Geheimpolizei die Nationale Rettungsfront und anschließend die Tamarod-Bewegung und die Koordination für den 30. Juni. Diese Bewegung sammelte Millionen Unterschriften auf den Straßen, in Verwaltungen und Universitäten für die Forderung nach Neuwahlen, also den Sturz Mursis. Bei der Transformation einer neu aufbrandenden revolutionären Woge gegen den Verrat der Muslimbruderschaft an den Prinzipien der Revolution spielten diese Kräfte eine wesentliche Rolle. Jene revolutionäre Bewegung richtete sich auch gegen die Gleichgültigkeit der Muslimbrüder in Bezug auf das Innenministerium und die Armee, ihre Diskriminierung von Frauen und koptischen Christen, ihre Unfähigkeit, die Forderungen der Lohnabhängigen aufzugreifen. Der neue revolutionäre Aufschwung, der sich gegen den Verrat der Bruderschaft an der Revolution und gegen den alten Staatsapparat Mubaraks und den Regimetreuen richtete, wurde sehr bald vom säkularen Reformismus gekapert, indem er die Verbindung zwischen den beiden Elementen kappte und sich nur noch auf den Sturz der Bruderschaft konzentrierte. Hierbei spielten die bürgerlichen Medien und hinter den Kulissen der Geheimdienst eine entscheidende Rolle. Die Führungsfiguren des »säkularen« Reformismus rechtfertigten ihr Vorgehen auf klassisch opportunistische Weise: Gemäß ihrer Logik stellte die Bruderschaft ein Hindernis für die Vollen-
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dung der Revolution dar, weshalb sie zuerst beseitigt werden musste, um danach mit den Überresten von Mubaraks Regime abzurechnen. Aus dieser Etappentheorie folgte logisch das Eintreten für ein Bündnis aller, die sich gegen die Bruderschaft stellten, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Positionen zur Revolution und deren Forderungen. Dieses Bündnis wurde nicht nur mit den Mubarak-Treuen geschlossen, die schon früh mit der Gründung der Nationalen Rettungsfront begannen, sondern auch noch mit dem stählernen Herzen des alten Staats, der Armee, der Polizei und den Geheimdiensten. So wurde der Ruf nach dem Sturz der Bruderschaft zur Parole für ein Projekt, das im Kern behauptete, die Revolution selbst habe die Bruderschaft an die Macht gebracht und »den Staat« mit Zusammenbruch und Bürgerkrieg bedroht. Folglich seien der Sturz der Bruderschaft und die Wiedererrichtung »des Staates« der einzig sichere Weg aus der Krise, ohne Mubarak und seine Familie, aber mit der Rückkehr des Militärs und seiner Institutionen an die Macht. Der 30. Juni war 2013 daher nicht der Kamm einer revolutionären Woge, der wie die Aufwallung vom Januar 2011 mit der Strömung ging, sondern bahnte in Wirklichkeit der Konterrevolution den Weg und legitimierte einen Militärputsch mit Massakern und Verhaftungen. Natürlich haben wir als Revolutionäre Sozialisten das damals nicht so eingeschätzt. Die Situation war sehr komplex. Wir nahmen mit anderen revoluti-
onären Kräften am 30. Juni teil. Unser Hauptargument lautete, dass es bei einer Massenmobilisierung dieses Ausmaßes und im Zusammenhang mit der vorangegangenen Protestbewegung und den Streiks möglich sein würde, die Bewegung von Verräterinnen und Verrätern sowie von Sympathisierenden der Polizei und Armee zu befreien. Oder zumindest mehr Unabhängigkeit für den Teil der Massen zu erlangen, der die Muslimbruderschaft loswerden wollte, um die Revolution vollenden zu können. Die Ereignisse dieses Tages zeigten jedoch, dass das Kräfteverhältnis für uns keineswegs vorteilhaft war. Denn trotz der Millionen zählenden Demonstration und trotz der Sprechchöre wie »Das Volk will den Sturz des Regimes« war der soziale und politische Inhalt dieser Mobilisierung und die Parolen ins Gegenteil der vorherigen Revolutionsbewegungen verkehrt worden. In diesen Protesten war die säkulare Mittelschicht das einflussreichste und dominierende Element – muslimisch wie christlich, Männer wie Frauen. Sie befanden sich in einem Zustand hysterischer Feindschaft gegen die Bruderschaft gemischt mit einer Verherrlichung der Armee und sogar der Polizei – derselben Polizei, die die erste Revolution so vehement angegriffen hatte, und derselben Armee mit ihrem Obersten Rat, gegen die im Februar 2011 Millionen protestiert hatten. Zur weiteren Verwirrung über den Charakter des 30. Juni trug ein falsches und vereinfachendes Verständnis davon bei, was wir »die Massen« oder »das Volk« nennen. Das Volk oder die Massen sind nicht nur in gesellschaftliche Klassen gespalten. Sie sind darüber hinaus in
Zusätzlich sorgten in den revolutionären Kreisen, auch bei uns, die vielen unterschiedlichen Einschätzungen über den Charakter der Muslimbruderschaft für Verwirrung. Für die einen war die Muslimbruderschaft eine Art religiöser Faschismus, eine Kollaborateurin des USImperialismus und eine Gegnerin einer ägyptischen nationalen Bewegung. Denn mit dem steigenden Einfluss der islamistischen Bewegung im Ganzen und der Muslimbruderschaft im Besonderen unterstützten die Linken entweder offen Mubaraks Regime – weil es sich »religiösem Faschismus« entgegenstellte, um den »säkularen Staat« zu verteidigen – oder vertraten die Auffassung, dass der »Faschismus« der Bruderschaft sehr viel schlimmer sei als Mubaraks Tyrannei. Diese Position vertraten Rifaat al-Said von der Tagammu-Partei und seine Anhängerschaft in der Kommunistischen Partei Ägyptens. Unter diesen Umständen war Neutralität gleichbedeutend mit bedingungsloser Unterstützung der stärkeren Seite. Schlimmer noch, wenn die islamistische Bewegung eine faschistische oder halbfaschistische war, bedeutete das, dass Rifaat al-Said und seine säkulare Partei die einzig überzeugende Antwort parat hatten. Denn vom Standpunkt der marxistischen Linken aus ist für die Arbeiterinnen- und Arbeiterklasse, für deren Belange alle diese Fraktionen zu sprechen beanspruchten, nichts gefährlicher als der an die Macht gekommene Faschismus. Diese analytische Fehleinschätzung führte letztlich zum Bündnis zwischen diesen Flügeln der Linken und Rifaat al-Said, die sich al-Sisi in die Arme warfen, als die Bruderschaft an die Macht gekommen war. Führte die Position der Stalinisten unterschiedlichster Schattierung zu der Schlussfolgerung: »Immer gegen die Islamisten, manchmal mit dem Staat«, wies die Analyse der Revolutionären Sozialisten bezüglich der islamistischen Bewegung in die entgegengesetzte Richtung: »Immer gegen den Staat, manchmal mit den Islamisten.« Aus unserer Sicht ist die islamistische Bewegung voller Widersprüche, sie besteht aus vielen Fraktionen und hat sich in ihrer Geschichte unzählige Male gewandelt. Betrachten wir nur einen Ausschnitt ihrer Geschichte oder behandeln sie als geschlossenes Gebilde, können wir solche Bewegungen nicht begreifen. Wir müssen die Entstehung und Entwicklung der Muslimbruderschaft in einen historischen Zusammenhang setzen, uns die wechselnde soziale Zusammensetzung ihrer Führung ansehen, ihre Kader und die breite Masse ihrer Folgschaft – und von
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Arbeiterbewegung: Motor der Revolution in Ägypten Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de
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© Carlos Latuff
verschiedene Lager geteilt, die alle ein unterschiedliches Bewusstsein besitzen und zum Ausdruck bringen und die von daher von ihren jeweiligen Parolen und Forderungen motiviert sind.
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dort aus ihre Bedeutung im politischen und im Klassenkampf in Ägypten analysieren. Wir müssen hier betonen, dass die Muslimbruderschaft eine reformistische Bewegung ist, die Klassenwidersprüche in sich trägt und sozial konservativ auftritt. Unsere Einschätzung, dass sie keine faschistische Bewegung ist und auch keine Verbindungen zum Faschismus hat, hat sich als völlig richtig erwiesen, wenn wir uns den Weg der Bruderschaft von der Opposition zur Macht und dann ins Gefängnis vor Augen führen. Die Bruderschaft war während der letzten zehn Jahre der Herrschaft Mubaraks die größte oppositionelle Massenorganisation. Ihre Opposition beschränkte sich jedoch auf einen konservativen Reformismus, der stets zwischen Beschwichtigung und begrenzter Konfrontation schwankte. Wegen des Fehlens organisierter politischer Alternativen und angesichts der winzigen linken, liberalen und nationalistischen Konkurrenz blieb die Bruderschaft aus Sicht großer Teile der unteren Mittelschicht und der Armen einschließlich der Arbeiterklasse die einzige überzeugende Opposition zur Korruption und Tyrannei des Regimes. Das Vorgehen der Bruderschaft in der ersten Phase der Revolution ist der beste Beweis für ihre widersprüchliche Natur. Ihre Jugend und die einfachen Mitglieder nahmen an der Revolution teil, während die Führung mit Repräsentantinnen und Repräsentanten des Regimes verhandelte, um einen Kompromiss zu erreichen. Nach Mubaraks Sturz und der Machtübernahme des Obersten Rats der Streitkräfte schloss die Führung der Bruderschaft ihr historisches Abkommen mit dem Militär. Die Bruderschaft bemühte sich, im Gegenzug zur Beteiligung an der Macht die Revolution zu vereinnahmen und auszuschalten. Mit Mohammed Mursis Übernahme der Präsidentschaft wurde sein Schicksal und das der Bruderschaft besiegelt. Die Bruderschaft war weder in der Lage, die Straßenbewegung einzudämmen und die sozialen Forderungen und Hoffnungen, die die Revolution aufgeworfen hatte, aufzugreifen, noch konnte sie Armee, Polizei, Justiz und den Medien die Kontrolle über die Schlüsselfunktionen des Staats entwinden. Genauso wenig kontrollierte sie die Schlüsselpositionen der ägyptischen Wirtschaft mit ihren großen Monopolen, die in den Händen derselben Superreichen und Generäle blieben – wie schon zur Zeit Mubaraks. Mit der Unterstützung der säkularen reformistischen Kräfte nutzte die Armee den 30. Juni als Deckmantel
für einen Militärputsch und für die Überführung des Unmuts über die Bruderschaft in ein Mandat, nicht nur die Bruderschaft, sondern auch die Revolution des 25. Januar in Blut zu ertränken. Was mit Massakern und Verhaftungen von Mitgliedern der Bruderschaft begann, weitete sich schnell zu einem totalen Krieg gegen alle aus, die an der Revolution teilgenommen hatten, und gegen alle Prinzipien und Forderungen der Revolution.
Al-Sisi will jede Spur der Revolution auslöschen
★ ★★ IN EIGENER SACHE
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Al-Sisis Popularität beruht auf einer Mischung aus hohen Erwartungen und Furcht. Furcht vor dem Zusammenbruch des Staats, Furcht vor Chaos, innerstaatlichen Konflikten, Terrorismus und vor dem Zusammenbruch der Sicherheit. Furcht davor, dass der Aufstieg des Islamischen Staats (IS) im Irak und in Syrien die Zukunft bedeutet. In weiten Teilen der Mittelschicht, unter den Arbeiterinnen und Arbeitern und unter den Armen gibt es den starken Wunsch nach Sicherheit um jeden Preis. Die derzeitige Harmonie und Einheit im Lager alSisis beruht im Wesentlichen auf einem negativen und deshalb nur vorübergehenden Ziel: der völligen Auslöschung jeder Spur der Revolution und mit ihr sogar der einzigen reformistischen Massenpartei, der Muslimbruderschaft. Je mehr sich abzeichnet, dass diese Aufgabe nicht zu bewältigen ist, desto größer werden die Widersprüche und Spaltungen unter den Verbündeten des Diktators. Das heißt weder, dass das Regime vor dem Kollaps steht, wie die Muslimbruderschaft endlos wiederholt, noch dass eine zweite Revolution vor der Tür steht. Wirtschaftskrisen führen nicht von sich aus zum Zusammenbruch oder zur Revolution. Möglicherweise lautet die wichtigste Lehre dieser Konterrevolution, dass es ein fataler Fehler ist, die Kraft und Macht des Gegenübers zu unterschätzen. Wir mögen al-Sisi als Zuhälter, Verräter, Mörder bezeichnen, aber er ist ein nicht zu unterschätzender Gegner. Wenn unser Ziel bei einem Neuaufschwung der Revolution der Sieg ist, dann müssen wir die Kräfteverhältnisse zwischen uns und unseren Feindinnen und Feinden mit kühlem Kopf analysieren. Genau das haben die mit uns rivalisierenden Kräfte getan, die die Revolution zum Tode verurteilten. Vor uns liegt ein weiter Weg, bis wir al-Sisi und jene, die ihn unterstützen, aus allen Ämtern entfernt haben. Dieser Weg erfordert eine fundierte strategische Vision und die Fähigkeit, eine entsprechende Taktik anzuwenden – die revolutionäre Linke steht vor großen Herausforderungen. ■
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der Bewegungen in Spanien Insgesamt gab es im Oktober 18.022 Aufrufe der Seite marx21.de (im November: 12.137 / Stand: 25.11.) 52
Gregor Mohlberg auf marx21.de Die PKK hat Waffen gefordert. Euer Text stimmt an dieser Stelle leider nicht. 29. September 18:24 Uhr Frankie Red Ramone auf marx21.de Zu dem Zeitpunkt, als der Text geschrieben worden ist (vor sechs Wochen), lag bei der Bundesregierung nur eine schriftliche Anfrage vor, unterzeichnet von Barzani – so, wie im Text formuliert. Richtig war schon damals: Die PKK würde Waffen nicht ablehnen, wie jede andere bewaffnete Organisation. Diese Frage stellt sich aber in Deutschland auf Grund des PKK-Verbots nicht praktisch. Anfang September war ansonsten in der deutschen Öffentlichkeit vielen gar nicht klar, dass nicht »die« Kurden, sondern nur ein bestimmter Flügel bedient wird – während der andere verfolgt wird. Nach dem Angriff auf Kobane stellen sich neue Fragen, da hat marx21 bereits ein neues Extra produziert. 16. Oktober um 11:23 Uhr
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BADENWÜRTTEM BERG Julia (Freiburg) | jt.meier@gmx.de
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und DIE LINKE am Streik eingesetzt. Mit Erfolg: Insbesondere Studierende der Humboldt-Universität unterstützten den Ausstand und arbeiten eng mit den Streikenden der nahegelegenen H&M-Filiale zusammen. Diese Erfahrung wurde bei der »Erneuerung durch Streik II«-Konferenz in Hannover zur Verallgemeinerung empfohlen. Genau diese Verallgemeinerung möchte das marx21-Netzwerk nun herstellen. Auch DIE LINKE und Die Linke.SDS haben beschlossen, den kommenden Streik der Sozial- und Erziehungsdienste zu unterstützen. Jetzt stellt sich die Frage nach der konkreten Umsetzung. Die Ideen reichen von Solidaritätsbündnissen bis zur Gründung von Elternräten, die kollektiv eine Ersatzbetreuung organisieren. Gemeinsam mit vielen anderen Genossinnen und Genossen in der LINKEN möchten wir die kommenden Monate nutzen, um für die lokalen Verhältnisse passende Solidaritätsstrukturen zu entwickeln. Das Ziel: DIE LINKE soll nicht nur Solidaritätsschreiben verfassen, sondern ihren Gebrauchswert für Menschen, die kämpfen, unter Beweis stellen. Mehr Informationen über die Situation in den Kitas und die Tarifbewegung der Erzieherinnen gibt es auf den nächsten Seiten. ■
BAYERN Carla (München) | carla. assmann@gmail.com BERLIN / MECKLEN BURGVORPOMMERN Silke (Berlin) | marx21berlin@ yahoo.de BRANDENBURG Anne (Zossen) | annekathrinmueller@gmx.net HAMBURG Christoph (Hamburg) | christoph. timann@googlemail.com HESSEN Christoph (Frankfurt) | choffmeier@hotmail.com NIEDERSACHSEN / BREMEN Dieter (Hannover) | dieter. hannover@email.de NORDRHEINWEST FALEN Azad (Duisburg) | mail@ azadtarhan.de RHEINLANDPFALZ / SAARLAND Martin (Kaiserslautern) | horsch@ bawue.de SACHSEN Einde (Chemnitz) | einde@gmx.de SACHSENANHALT Anne (Halle) | anne.geschonneck@ooglemail.com SCHLESWIGHOL STEIN Mona (Lübeck) | mona-isabell@ mittelstein.name THÜRINGEN Marco (Pössneck) | m21@ celticlandy.de
WAS MACHT MARX21?
Im Sozial- und Erziehungswesen stehen die Zeichen auf Streik. Das marx21-Netzwerk diskutiert, wie praktische Solidarität aussehen kann m kommenden Jahr wird die Gewerkschaft ver.di die schlechte Entlohnung in den Sozial- und Erziehungsdiensten zum Thema einer eigenen Tarifbewegung machen. Die wird Kernfragen der LINKEN berühren: Es geht um den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen in einer stark weiblich geprägten Dienstleistungsbranche. Etwa 95 Prozent der Beschäftigten sind Frauen. Erziehungs- und Sozialarbeit ist deutlich unterbezahlt und gehört dringend aufgewertet. DIE LINKE und der Studierendenverband Die Linke.SDS können in dieser Auseinandersetzung praktische Solidarität organisieren. Die ist auch bitter nötig. Denn im Kitabereich ist es zentral, dass die Eltern mitziehen, obwohl sie vom Wegfall der Betreuung während des Streiks stark betroffen sind. Die gesellschaftliche Anerkennung der sozialen Dienste und ihrer Beschäftigten ist trotzdem extrem hoch. Wie sich dieses Potenzial nutzen lässt, ist seit Monaten Diskussionsthema innerhalb des marx21Netzwerks. Ausgangspunkt ist hier die Erfahrung der Solidaritätsarbeit mit dem Einzelhandelsstreik im Jahr 2013. Insbesondere in Berlin hatten sich damals Netzwerkunterstützerinnen und -unterstützer für eine aktive Beteiligung von Die Linke.SDS
MARX21 VOR ORT
WAS MACHT MARX21?
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BETRIEB & GEWERKSCHAFT
Morgenkreis im Streiklokal Ein bisschen vorlesen und jede Menge Kaffeeklatsch, so lautet das gängige Klischee über die Arbeit von Erzieherinnen. Unsinn, meint unsere Gesprächspartnerin Hansi Weber, und erklärt, warum es in Kindertagesstätten bald zum Arbeitskampf kommen könnte INTERVIEW: FANNI STOLZ
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um Jahresbeginn 2015 startet ver. di in den Sozial- und Erziehungsdiensten eine eigene Tarifrunde. Dabei geht es unter anderem um eine deutlich höhere Eingruppierung für Erzieherinnen und Erzieher. Wie kommt ihr zu dieser Forderung? Wie die meisten Beschäftigten in sozialen Berufen werden Erzieherinnen nach wie vor wesentlich schlechter entlohnt als Kollegen in den typischen »Männerberufen«. Erziehungs- und Sozialarbeit ist allgemein unterbewertet, schlecht bezahlt und nicht selten in Teilzeit prekär organisiert. All das entspricht jedoch weder der gesellschaftlichen Bedeutung unserer Arbeit, noch unserer Qualifikation. Die Anforderungen, die an uns Erzieherinnen gestellt werden, sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Die Eingruppierung in der Entgelttabelle muss sich endlich dem anpassen, was von uns verlangt wird. Erzieherinnen sind pädagogische Fachkräfte und ihre Arbeit ist ein zentraler Bestandteil des Bildungsangebots dieses Landes. Zudem arbeiten im Erzieherberuf zu etwa 96 Prozent Frauen. Dadurch ist unsere Forderung auch Teil des Kampfes gegen die Lohndiskriminierung von Frauen im Allgemeinen.
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HANSI WEBER
Hansi Weber ist Landesfachgruppenvorsitzende der Sozial-, Kinder- und Jugendhilfe bei ver.di in Baden-Württemberg. Fünfzehn Jahre lang arbeitete sie in einer städtischen Kita in Mannheim.
Inwiefern sind die Anforderungen in der Kinderbetreuung gestiegen? Die Arbeits- und Ausbildungsinhalte haben sich in den letzten zwanzig Jahren entscheidend verändert. Die Kinderbetreuung in den Kitas ist heute Teil des Bildungssystems. Dementsprechend richtet sich unsere Arbeit auch stark an Bildungsund Orientierungsplänen aus. Wir müssen die Entwicklung der Kinder ständig dokumentieren, bewerten, mit den Eltern besprechen und darüber hinaus schauen, was wir tun können, um die Kinder bestmöglich zu fördern. Das Bild, dass Erzieherinnen lediglich auf die Kinder aufpassen, solange die Eltern bei der Arbeit sind, war schon immer falsch. Heute ist es jedoch einfach nur noch absurd. Daher müssen sich auch unsere Eingruppierungsmerkmale und deren Bewertung endlich ändern – und zwar deutlich. Das würde hohe Mehrkosten für die Kommunen bedeuten. Die sind doch aber jetzt schon Pleite. Wer soll das alles bezahlen? Man könnte auch fragen, wo das ganze Geld in der Bundesrepublik denn hingeht. Wir müssen immer wieder beto-
Die Arbeit von Erziehern und Erzieherinnen ist anspruchsvoll und anstrengend. Dennoch erhalten Sie einen vergleichsweise geringen Lohn. Nun drohen Sie in den Streik zu treten. Dabei geht es nicht nur um mehr Geld, sondern auch um die Anerkennung ihrer Qualifikation
Wir streiken nicht gegen die Eltern oder Kinder
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Eine kritische Bilanz der Tarifrunde im Sozial- und Erziehungsdienst aus Sicht von Streikaktivistinnen und -aktivisten Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de
nen, dass die öffentlichen Haushalte kein Ausgaben-, sondern ein Einnahmeproblem haben. Die Steuern für Reiche und Konzerne wurden in den letzten fünfzehn Jahren massiv gesenkt und es wurden unzählige Steuerschlupflöcher geschaffen. Die Ausfälle, die dadurch entstanden sind, summieren sich auf viele Milliarden Euro. Das waren alles politische Entscheidungen und die können auch wieder rückgängig gemacht werden. Die großen Konzerne profitieren von gut ausgebildetem Fachpersonal. Sie verlangen nach Arbeitskräften, die von klein auf in einem guten Bildungssystem aufgewachsen sind. Und wenn sie das wollen, dann müssen sie dafür auch Steuern zahlen.
Du hast fünfzehn Jahre in einer städtischen Kita in Mannheim gearbeitet. Wie sehen die Arbeitsbedingungen dort aus? Bei uns in Baden-Württemberg ist die Personalausstattung in den meisten Kitas entweder hart an der Grenze oder schlicht nicht ausreichend, um den Anforderungen noch gerecht zu werden. Und in den meisten anderen Bundesländern sieht es nicht besser aus. Die Fort- und Weiterbildungen sind, genau wie unsere Vorbereitungszeiten, überhaupt nicht im Personalschlüssel mit eingerechnet. Außerdem brauchen wir Zeit für Supervisionen, weil wir auch mit Kindern und deren Familien zurechtkommen müssen, die Probleme haben und besondere Aufmerksamkeit brauchen. All das wird in der Personalplanung überhaupt nicht berücksichtigt. Die Orientierungs- und Bildungspläne, die die Länder ausgearbeitet haben, sehen vor, dass wir jedes einzelne Kind individuell fördern sollen. Das ist natürlich auch richtig – in der Realität jedoch kaum noch möglich. Durch den Personalmangel ist es sehr schwierig geworden, in Kleingruppen intensiv zu arbeiten oder einem einzelnen Kind Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. Aber die Erzieherinnen wollen ihre Arbeit natürlich gut machen, obwohl die Bedingungen das oft nicht zulassen. Sie stellen hohe Ansprüche an sich selbst und nehmen die Arbeit mit den Kindern sehr ernst. Durch ihr großes Engagement halten sie den Betrieb am Laufen. Das geht jedoch nicht selten auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit. Viele sind überlastet und mit ihrer Arbeitssituation extrem unzufrieden. Sie sind zwar bereit, viel zu geben, wollen dafür dann aber zumindest auch angemessen bezahlt werden. Wie wollt ihr eure Forderung nach einer höheren Eingruppierung durchsetzen? Seid ihr bereit, dafür zu streiken? Dass wir, wenn es nötig ist, auch streiken können, haben wir spätestens im Jahr 2009 bewiesen. Damals haben in der Urabstimmung über neunzig Prozent für eine Arbeitsniederlegung gestimmt. Wir streikten über zehn Wochen und am
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© Howard County Library System / CC BY-NC-ND / flickr.com
Unsere Tarifbewegung ist daher zwangsläufig auch mit der Frage der gesellschaftlichen Umverteilung verbunden. Wir sind es wert, wir arbeiten gut und wir verlangen dafür das entsprechende Entgelt.
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Ende konnten wir wesentliche Verbesserungen und erstmals eine eigenständige Eingruppierung für den Sozial- und Erziehungsdienst erkämpfen. Zehntausende Beschäftigte waren an gemeinsamen Streiktagen auf der Straße. Die Beteiligung war zwar noch ausbaufähig, aber viele Beschäftigte wissen mittlerweile, um was es geht. Sie haben 2009 zum ersten Mal ihre Macht gespürt und daraus großes Selbstbewusstsein geschöpft. Lange Zeit galten Berufsgruppen wie Erzieherinnen als »unorganisierbar«. Was hat sich geändert, dass ihr mittlerweile zu Tausenden die Arbeit niederlegt? Geändert hat sich vor allem eines: Wir haben gemerkt, dass wir uns wehren können. Aber das ist natürlich nicht vom Himmel gefallen. Lange waren Streiks im öffentlichen Dienst von den Bereichen geprägt, die Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigen. In Kitas wurde überhaupt nicht gestreikt und im besten Fall gab es ein paar Solidaritätsaktionen. Das erste Mal, dass alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst zum Streik aufgerufen wurden, war 1992 infolge des Generalangriffs der Regierung Kohl. Da haben die Erzieherinnen ihre ersten Arbeitskampferfahrungen gesammelt und gemerkt, dass auch sie streiken können. Es gab zwar noch keine flächendeckenden Schließungen der Kindergärten, aber es war der Beginn eines Lernprozesses. In der Tarifauseinandersetzung 2006 für den Erhalt der 38,5-Stunden-Woche bildeten wir bereits eine große und starke Stütze des Streiks. Das hat dazu geführt, dass in der Gewerkschaft ver.di unsere Rolle als Streikfaktor im öffentlichen Dienst neu diskutiert oder sogar überhaupt erst richtig wahrgenommen wurde. Spätestens seit 2009 kann uns niemand mehr die Streikfähigkeit absprechen. Und auch unser Organisationsgrad nimmt zu. In der diesjährigen allgemeinen Tarifrunde des öffentlichen Diensts kamen etwa die Hälfte der Neueintritte aus dem Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste. Durch den Ausbau der Betreuungsplätze für die unter Dreijährigen und die steigenden Qualitätsanforderungen an die frühkindliche Bildung steuern wir zudem auf einen Fachkräftemangel im Erziehungsberuf zu. Das stärkt unsere Position natürlich erheblich, da niemand große Angst vor einer Kündigung haben muss.
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Viele Erzieher und Erzieherinnen sind bereit, zu kämpfen. Um zu gewinnen, sind sie jedoch auf die Solidarität der Bevölkerung angewiesen
Viele Beschäftigte sind überlastet und extrem unzufrieden
Wie sieht ein Streik in einer Kita aus? Für einen Streik in einer Kita ist es vor allem wichtig, der Öffentlichkeit klarzumachen, dass wir nicht gegen die Eltern oder die Kinder kämpfen. Es ist immer schwierig für die Kolleginnen, tatsächlich die Einrichtungen zu schließen, denn sie haben eine sehr hohe moralische Einstellung zu ihrem Beruf und wissen, dass sie sowohl von den Eltern als auch von den Kindern gebraucht werden. Das ist ähnlich wie im Pflegebereich. Erzieherinnen fühlen sich persönlich sehr ihrem Dienst an den ihnen anvertrauten Kindern verpflichtet. In einem Streik muss das natürlich berücksichtigt werden. Wir sind dann unmittelbar mit den Vorwürfen der Eltern konfrontiert und müssen damit umgehen. Daher ist es wichtig, mit den Eltern zu sprechen, in engem Kontakt zu bleiben und ihnen zu erklären, dass der Streik sich nicht gegen sie richtet. Eine gute Ausstattung der Kitas ist auch in ihrem Interesse. Wer eine gute Betreuung will, braucht eine Kita mit gut ausgebildeten Erzieherinnen und das setzt auch ordentlich bezahltes Fachpersonal voraus.
Und wie sah das in euren bisherigen Streiks aus? Hat die Kommunikation mit den Eltern funktioniert? Es war mal besser und mal schlechter. Aber viele Eltern hatten Verständnis für uns. Klar, es gibt auch Fälle, da wird es nach einer bestimmten Zeit schon schwierig. Bei länger andauernden Streiks haben sich Notdienstvereinbarungen für die absoluten Härtefälle bewährt. Aber wir haben die Eltern auch aufgefordert, sich mit uns zu solidarisieren und sich untereinander zu helfen. Und wir haben sie ermuntert, ihren Ärger gemeinsam mit uns an die Öffentlichkeit zu tragen, um uns zu unterstützen, damit der Streik nicht so lange dauert.
gibt auch die Forderung, dass das Geld, welches im Streik gespart wurde, sofort wieder in die Kitas zurückfließt. Aber natürlich entsteht nicht so ein hoher ökonomischer Druck, wie wenn in der Privatwirtschaft gestreikt wird. Dafür kann der gesellschaftliche Druck enorm hoch sein. Die Eltern brauchen die Kitas, um zur Arbeit gehen zu können. Ich finde auch, dass sie ihren Frust eins zu eins an die Kommunen weitergeben sollten. In vielen Städten gab es Demonstrationszüge um die Rathäuser, bei denen die Eltern ihrem Unmut Luft gemacht haben. Es gab auch Fälle, da sind sie mit ihren Kindern ins Rathaus gegangen, um sie dort symbolisch abzugeben.
Aber letztendlich trifft ein Streik in einer kommunalen Kita doch trotzdem nur die Eltern. Ökonomischer Druck auf die Arbeitgeberin entsteht dabei nicht. Vielmehr sparen die Kommunen auch noch die Lohnkosten... Es entsteht nicht unbedingt ein ökonomischer Druck. In einigen großen Kommunen haben die Eltern aber ihre Beiträge zurückverlangt und konnten das für die Schließzeiten auch erreichen. Es
Die meisten Erzieherinnen arbeiten in Einrichtungen von freien Trägern, etwa Kirchen oder Wohlfahrtsverbänden. Können sie auch etwas tun? In aller Regel übernehmen die Kirchen und Wohlfahrtsverbände unseren Tarifvertrag. Damit sind die Beschäftigten aus diesen Einrichtungen zumindest indirekt von unserem Abschluss betroffen. Solidaritätsaktionen sind also auf alle Fälle möglich und auch sehr erwünscht. In
Wie kann Solidaritätsarbeit von außen aussehen? Die Solidarität aus der Bevölkerung ist eine Voraussetzung für den Erfolg unserer Tarifbewegung. Letztendlich ist es eine politische Frage, was uns eine gute Betreuung unserer Kinder wert ist. Und Solidaritätsarbeit beginnt bereits dort, wo immer unser Arbeitskampf öffentlich verteidigt wird – sowohl unsere Forderungen als auch die Berechtigung, dafür zu streiken. Aber es kann natürlich auch noch mehr getan werden. Für die streikenden Kolleginnen ist es sehr wichtig, Zuspruch für ihre Forderungen zu bekommen, und es stärkt uns moralisch unglaublich, wenn Leute ins Streiklokal kommen und uns die Solidarität aussprechen. Natürlich sind alle auch eingeladen, mit auf die Straße zu gehen und für öffentliche Unterstützung zu werben, vor allem bei den Eltern. Veranstaltungen oder Flugblattaktionen können organisiert werden, es können Solidaritätsunterschriften gesammelt werden, die sich an die Kommunen richten und vieles mehr. Wer helfen will, sollte sich einfach direkt bei einer Kita in der Nähe oder bei den lokalen ver.di-Strukturen erkundigen, wie es vor Ort aussieht. Sollte es im Frühjahr zu einem längeren Streik kommen, ist die Stimmungsmache dagegen bereits vorprogrammiert. Dann kommt es darauf an, dass wir dem etwas entgegensetzen können. ■
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Mannheim kamen 2009 aus verschiedenen kirchlichen Kitas Kolleginnen bei uns im Streiklokal vorbei und überreichten uns Solidaritätserklärungen. Einmal bekamen wir sogar Besuch von einer gesamten evangelischen Kita, deren Kinder uns Kuchen gebacken hatten. Einige Kitas haben ihre Fenster mit unseren Streikforderungen behängt und darunter geschrieben: »Wir sind solidarisch«. Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu solidarisieren. Und jede Form der Solidarität hilft uns sehr, da wir im Streik einem enormen Druck ausgesetzt sind. Außerdem ist es wichtig, dass die Beschäftigten, die nicht streiken dürfen, die Kinder aus bestreikten Einrichtungen nicht einfach aufnehmen, sondern deutlich machen, dass sie die Forderungen und den Streik ihrer Kolleginnen aus den kommunalen Einrichtungen unterstützen.
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»Sie kämpft für uns alle« Manche glauben, die GDL zerstöre die Einheit der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Doch eine Einheit in der Niederlage nützt niemanden VON HEINZ WILLEMSEN
K ★ ★★ HEINZ WILLEMSEN ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di und Mitarbeitervertreter bei Bethel.regional.
aum ein Streik hat in den vergangenen Jahren so heftigen Gegenwind ausgelöst, wie der Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Bild.de forderte zum Telefonterror beim Vorsitzenden Claus Weselsky auf. Der WDR suchte via Facebook Menschen, die vor der Kamera über den Streik schimpfen. Die Bundesregierung rief unverhohlen zum Streikabbruch auf, als gäbe es keine Tarifautonomie. Auf Bahnhöfen wurden Lokführerinnen und Lokführer von Reisenden angepöbelt. Selbst der DGBVorsitzende Reiner Hoffmann tat, was man als Gewerkschafter auf keinen Fall machen darf: Er fiel der streikenden Gewerkschaft in den Rücken und mahnte sie zur Mäßigung.
Nahles' Angebote sind vergiftet
Die bewusst eskalierte öffentliche Diffamierung des Streiks und der Streikenden ist der gezielte Versuch, das längst unter starkem Druck stehende Streikrecht einzuschränken. Die Kampagne hängt mit dem Plan von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zusammen, per Gesetz eine sogenannte Tarifeinheit herzustellen. Diese richtet sich scheinbar gegen kleinere Gewerkschaften, betonen die Teilnehmenden der tarifpolitischen Tagung des ver.di-Bezirks HessenSüd in einer Solidaritätsresolution mit der GDL. In Wirklichkeit schadet sie aber allen Gewerkschaften. Schon im Jahr 2011 hatte es einen Streit um eine gesetzlich geregelte Tarifeinheit gegeben. Damals war es ausgerechnet der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske, der eine Initiative zur gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit startete. Ein Aufstand an der
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ver.di-Basis sorgte dafür, dass dieser Vorstoß abgeblasen wurde. Diesmal haben sich ver.di, GEW und NGG klar gegen die Gesetzesinitiative von Nahles gewandt. »Gewerkschafter können nicht die Hand reichen für einen solchen Eingriff ins Streikrecht«, betonte Bsirske. Bei IG Metall und IG BCE sieht das leider anders aus. Die IG Metall begrüßt grundsätzlich die Pläne und kritisiert scharf gewerkschaftliche Initiativen, die sich dagegen wenden, wie etwa von ver.di. Der DGB hat sich als Dachorganisation auf die Seite von IG Metall und IG BCE geschlagen und dem Vorstoß der Regierung zugestimmt. Auch wenn ver.di die Tarifeinheit in Worten ablehnt, scheut sich die Gewerkschaft vor praktischer Solidarität mit dem Streik der GDL. Nur wenige ver.di-Untergliederungen haben sich bisher mit deren Streik solidarisch erklärt. »Bsirske kritisiert Amazon und GDL«, übertitelte die »Neue Westfälische« ein Interview mit dem ver.di-Vorsitzenden. »Das kann am Ende der gesamten Gewerkschaftsbewegung schaden«, warf er der GDL vor. Die Schuld für die festgefahrenen Tarifverhandlungen sieht er nicht bei der Deutschen Bahn, sondern bei der GDL. »Es ist schwierig, mit einer Organisation eine Verständigung zu erzielen, die offenbar nicht auf Verständigung aus ist.« In ver.di ist die Furcht groß, dass sich die Propaganda von den »Dauerstreiks« bei der Bevölkerung verfängt und sich auch gegen die DGB-Gewerkschaften richtet. Schon jetzt spürt ver.di den öffentlichen Gegenwind beim Streik in Nordrhein-Westfalen bei der SPD-nahen Arbeiterwohlfahrt (AWO). Einer massiven antigewerkschaftlichen Kampagne – wie jetzt
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gegen die GDL und zukünftig vielleicht gegen ver.di – lässt sich aber nicht entgehen, indem die GDL den Kampf aufgibt. Die Hetze gegen die Lokführerinnen und Lokführer ist Ausdruck eines Klimas, das für alle Gewerkschaften rauer geworden ist. Die aktuellen Angriffe auf das Streikrecht zielen keineswegs allein auf die Spartengewerkschaften ab. Im November 2012 hat das Bundesarbeitsgericht den Kirchen das Recht eingeräumt, ihren 1,2 Millionen Beschäftigten Streiks grundsätzlich zu verbieten. Angesichts der starken Stellung, die kirchliche Unternehmen in vielen Sektoren des sozialen Bereichs haben, schwächt das die Gewerkschaften auch bei ganz weltlichen Tarifverhandlungen. Im Windschatten der öffentlichen Erregung um die angebliche Unverhältnismäßigkeit des Streiks haben die Arbeitgeberinnen, Arbeitgeber und der CDU-Wirtschaftsrat gefordert, das Streikrecht in Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge durch eine verbindliche Zwangsschlichtung nach dem Vorbild der Kirchen einzuschränken. Es sollen also genau
die Bereiche getroffen werden, in denen in den letzten Jahren vor allem bei ver.di eine neue Streikkultur gewachsen ist. Aber auch viele linke Gewerkschaftsmitglieder haben große Schwierigkeiten, sich im Streik eindeutig hinter die GDL zu stellen. Sie unterscheiden zwischen der Forderung nach mehr Gehalt und Arbeitszeitreduzierung, die sie für berechtigt halten, und dem Versuch, auch die Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter zu vertreten. Diesen lehnen sie als spalterisch gegenüber der DGB-Gewerkschaft EVG ab. Dabei übersehen sie aber, dass Konflikte um Mitglieder zwischen Gewerkschaften keineswegs selten sind. Sie betreffen viel weniger die Spartengewerkschaften als vielmehr die Gewerkschaften im DGB. Anders als zwischen GDL und EVG geht es hier nicht um eine Überbietungskonkurrenz, sondern häufig ums Unterbieten. Zum Beispiel in der Logistikbranche streiten sich ver.di und die IG Metall um die Zuständigkeit. Im öffentlichen Dienst der Länder zeigen GEW und ver.di oft wenig Interesse, ihre Streiks zu koordinieren. Beim Outsourcing in Krankenhäu-
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Es geht auch anders: Normalerweise lassen die Bilder von entnervten Reisenden nicht lange auf sich warten, wenn bei der Bahn gestreikt wird. Doch in Münster solidarisierten sich Fahrgäste mit den Streikenden – denen tat das sichtlich gut
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Im internationalen Vergleich ist Deutschland aber nach wie vor sehr streikarm. Etwa eine Million Beschäftigte haben 2013 in Deutschland die Arbeit niedergelegt. Auffällig ist dabei laut WSI die steigende Zahl von betrieblichen Auseinandersetzungen im Dienstleistungssektor.
sern stehen IG BAU und NGG schon bereit, um ver. di die ausgegliederte Küche oder den Reinigungsbereich abspenstig zu machen – sehr zur Freude der Krankenhausunternehmen. Schließlich sind die Tarife, die IG BAU und NGG für diese Berufsgruppen abgeschlossen haben oft deutlich niedriger als das, was ver.di bisher im Krankenhaus vereinbart hatte. Während der DGB-Vorsitzende seine Unterstützung von Nahles' Tarifeinheitsgesetz mit der Sorge um die Solidarität im Unternehmen begründet, scheint ihm diese Entwicklung keine Kopfschmerzen zu bereiten. GDL und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund sind keineswegs Standesorganisationen, wie viele Linke argwöhnen. Standesorganisationen streiken nicht, so der frühere IG-Medien-Vorsitzende Detlef Hensche. Die Spartengewerkschaften sind vielmehr Ausdruck einer Vergewerkschaftlichung ganzer Berufsgruppen. Die GDL streikte erstmals, als sie die Fesseln des Beamtenrechts abstreifte, weil immer mehr Lokführerinnen und Lokführer nicht mehr verbeamtet sind. Ihre Konflikte mit der DGB-Gewerkschaft EVG hängen vielfach mit deren mangelnder Konfliktbereitschaft in den vergangen Jahren zusammen. Sie hat es versäumt, die Berufsgruppen in Schlüsselstellungen für eine konfliktorientierte Tarifpolitik zu nutzten.
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Gewerkschaftliche Einheit ist zwar durchaus ein erstrebenswertes Ziel. Sie lässt sich aber nicht am Schreibtisch unter der Berufung auf abstrakte Prinzipien herstellen, sondern indem die DGB-Gewerkschaften selbst eine offensivere Tarifpolitik betreiben. Schon heute ist ver.di in vielen Kliniken nur deshalb streikfähig, weil sie gemeinsame Sache mit dem Marburger Bund macht. Bei der Deutschen Bahn hat die EVG aber bisher noch viel zu wenig gezeigt, dass sie sich vom korrupten Erbe ihrer Vorläuferin Transnet befreit hat. Aufrufe der EVG zu einer Solidarität in der Belegschaft klingen hohl, wenn man weiß, dass Transnet nicht gegen die systematische Einstellung von Leiharbeitskräften protestiert hatte. Im Jahr 2007 vereinbarte sie gar in einem Tarifvertrag mit der Deutschen Bahn die Möglichkeit, neue Lokführerinnen und Lokführer zweiter Klasse zum Stundenlohn von 7,50 Euro einzustellen. Unter ihrem Vorsitzenden Norbert Hansen wirkte die DGB-Gewerkschaft Transnet mehr wie eine Lobbyorganisation für eine Privatisierung der Bahn, als wie eine Interessenvertretung der Bahnbeschäftigten. Dagegen hat die GDL frühzeitig und erfolgreich das Personal quer über alle Berufsgruppen bei der privaten Bahnkonkurrenz organisiert. Hier ist ihr eine weitgehende Angleichung der Tarifstandards gelungen, die Ausspielereien und Tarifdumping der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber begrenzt. Hier wirkte die GDL viel eher im Sinne einer Einheitsgewerkschaft als Transnet und später EVG. Seit die SPD im Jahr 2009 in die Opposition gehen musste, bemüht sie sich darum, das Vertrauensverhältnis zu den Gewerkschaften wiederherzustellen. Mit den sozialpolitischen Gesetzen der Großen Koalition, der Einführung eines Mindestlohns und der abschlagfreien Rente mit 63 für wenige, signalisiert die SPD den Gewerkschaften, dass sie wieder zu einer teilweisen Regulierung der Beschäftigungsverhältnisse bereit ist, wie unvollkommen die Maßnahmen auch sind. Von vornherein hat Nahles aber klar gemacht, dass diese sozialpolitischen Zugeständnisse nur Teil einer Paketlösung sind, zu der eben auch die Einschränkung des Streikrechts mittels einer gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit gehört. Das Angebot, die gewerkschaftlichen Forderungen wieder im parlamentarischen Raum zu vertreten, soll gekoppelt werden an den Verzicht auf das ureigenste Mittel gewerkschaftlicher Durchsetzungskraft. Mit Zuckerbrot und Peitsche soll bröckelnde Sozialpartnerschaft wiederhergestellt werden. Nahles' vergiftetes Angebot einer neuen Sozialpartnerschaft kommt bei einem Teil der Gewerkschaften durchaus gut an. Auch das ist eine Ursache für die scharfen Worte der Vorsitzenden einiger DGB-Gewerkschaften gegen den GDL-Streik. Hier geht man von einem unwiderruflichen Verlust gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht an der betrieblichen Ba-
sis und in Tarifauseinandersetzungen aus. Diesen Verlust hofft man, durch erfolgreiche Lobbyarbeit zu kompensieren. Was man durch betriebliche Stärke nicht erreichen kann, sollen SPD und Regierung richten. Selbst in ver.di erwarten viele, dass der SPDGesundheitsexperte Heiner Lauterbach und CDUGesundheitsminister Hermann Gröhe das Problem des fehlenden Personals in Krankenhäusern mit einer Mindestpersonalbesetzung beheben werden. In diesem Teil der Gewerkschaften fehlt das Verständnis dafür, dass eine Niederlage der GDL eine Niederlage für alle Gewerkschaften ist. Wie dagegen ein Erfolg der GDL den Spielraum auch für ver.di, NGG und IG BAU erweitern kann, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Die GDL hatte in den Jahren 2007 und 2008 zu ihrem ersten großen Streik aufgerufen und schließlich eine Lohnerhöhung von elf Prozent durchgesetzt. Auch damals waren die Medien voller Horrormeldungen über Spartengewerkschaften, die das Land an den Rand des Chaos führen. Doch die meisten Menschen hatten für den Streik großes Verständnis. Viele mussten Jahr für Jahr Reallohnverluste hinnehmen, ob bei Continental in Hannover, bei LuK in Brühl oder bei Volkswagen in Wolfsburg. Überall war es seit der Jahrtausendwende das gleiche: länger arbeiten für weniger Geld. »Weniger Lohn, weniger Urlaub, weniger Einfluss – die Arbeitnehmer erleben eine epochale Entmachtung«, schrieb »Die Zeit« im Jahr 2004. Das forsche Auftreten und die hohe Forderung der GDL im Jahr 2008 wirkte dagegen wie ein Weckruf an die Gewerkschaften. Aufmerksamen DGBlern war die positive Resonanz in der Bevölkerung nicht entgangen und ver.di machte sich diese Stimmung zunutze. Jahrelang hatte es im öffentlichen Dienst keine Lohnerhöhung mehr gegeben. Im Jahr 2005 hatte ver.di sogar einen Absenkungstarifvertrag unterzeichnet, den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TvÖD). Drei Jahre später forderte ver.di nun erstmals wieder eine deutliche Lohnsteigerung. Nach drei Warnstreiks erzielte die Gewerkschaft einen sichtbaren Lohnzuwachs von 50 Euro mehr plus sechs Prozent für zwei Jahre. Zehn Wochen streikten im Jahr 2009 die Erzieherinnen der kommunalen Kitas, um die Lohnverluste durch den TvÖD wieder wettzumachen. Mitten im größten wirtschaftlichen Abschwung seit 1945 hatte ver.di für neu eingestellte Erzieherinnen eine elfprozentige Lohnerhöhung durchgesetzt. Deutschland ist nach wie vor eines der
streikärmsten Länder Europas. Nur 16 ausgefallene Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte gab es hierzulande von 2005 bis 2012, ein Zehntel dessen, was zur gleichen Zeit in Frankreich gestreikt wurde. Trotzdem sind die letzten Jahre im Hinblick auf die Häufigkeit von Streiks nicht mehr mit 2004, dem großen Jahr der Demontage der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung, zu vergleichen. Es sind keineswegs nur die kleinen Spartengewerkschaften, wie GDL, Marburger Bund oder die Vereinigung der Fluglotsinnen und Fluglotsen Cockpit, die sich durch Streiks hervortun. Nur sechs Prozent aller Streiks der letzten Jahre gehen auf ihr Konto. Dagegen hat sich die Zahl der Streiks im Bereich von ver.di seit dem Jahr 2004 vervierfacht. Streiks nehmen vor allem in den Bereichen zu, in denen sowohl die Tarifbindung als auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad niedrig sind. Im Jahr 2009 wehrten sich die Beschäftigten der Gebäudereinigungsbranche erfolgreich mit der IG BAU gegen Lohndumping, monatelang streikten die Beschäftigten eines Call-Centers in Halle und bekamen einen Tarifvertrag, mit unangekündigten Streiks erreichte das Sicherheitspersonal an den Flughäfen in Düsseldorf und Köln deutliche Lohnerhöhungen. Im Jahr 2013 verteidigten die Beschäftigten im Einzelhandel ihren Manteltarif. Als in Baden-Württemberg die Unikliniken den Tarifvertrag der Länder (TVL) verließen, erstreikten die Beschäftigten einen Tarifvertrag, der zehn Prozent über dem TVL liegt. Heute wünschen manche Gewerkschaftsmitglieder die GDL zum Teufel. Dem Kampf gegen Nahles' Pläne zur Tarifeinheit würde ihre Niederlage jedoch schaden, denn ein Recht, das man nicht nutzt, ist nichts wert. Gelingt es Bundesregierung und Deutscher Bahn mit ihrer Kampagne, die GDL in die Knie zu zwingen, werden das auch ver.di, NGG oder GEW spüren, wenn sie das nächste Mal Beschäftigte zum Streik aufrufen. Streik ist ein hohes Organisationsrisiko und eine Mutprobe für jeden einzelnen und jede einzelne. Wer jeden Tag in Fernsehen und Internet sehen muss, wie die Lokführerinnen und Lokfüher von Bahn, Bundesregierung und Medien niedergemacht und dabei von allen alleine gelassen werden, der wird sich künftig viel schwerer tun, wenn seine Gewerkschaft zum Streik aufruft. Eine klare und eindeutige Solidarität mit der GDL, das ist – schon aus Eigeninteresse – in der aktuellen Situation die Aufgabe von allen Linken und Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern. ■
Der GDL-Streik von 2008 hat die anderen Gewerkschaften aufgeweckt
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IN EIGENER SACHE
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GESCHICHTE
Die Widerstandigen vom Wedding VON MARCEL BOIS
Vergessener Aufstand gegen die Stalinisierung: Während der Weimarer Republik rebellieren Tausende KPD-Mitglieder gegen die eigene Parteiführung. Moskau ist schockiert
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rüßt euch, Genossen / Haltet die Fäuste bereit!«. Das Lied vom »Roten Wedding« war ein Hit unter Kommunistinnen und Kommunisten der späten Weimarer Republik. Es entstand nach dem Berliner »Blutmai« des Jahres 1929, als die Polizei eine Demonstration aufgelöst und über dreißig Personen erschossen hatte. Die meisten der Opfer stammten aus den Vierteln Wedding und Neukölln. Der Liedtitel kam nicht von ungefähr. Der Wedding war damals »rot«, eine Hochburg der linken Parteien. In keinem anderen Berliner Bezirk lebten so viele Arbeiterinnen und Arbeiter wie hier. SPD und KPD erhielten bei Wahlen zusammen etwa zwei Drittel der Stimmen. Selbst im März 1933, als Hitler schon an der Macht war, votierten noch fast vierzig Prozent für die Kommunistische Partei.
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MARCEL BOIS ist Historiker. Im November ist sein Buch »Kommunisten gegen Hitler und Stalin« erschienen.
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Der Wedding war widerständig. Die dortigen Kommunistinnen und Kommunisten kämpften gegen Armut, Arbeitslosigkeit und – was fast niemand mehr weiß: auch gegen die eigene Parteiführung. Eine der größten Oppositionsgruppen der KPD war hier beheimatet, mehrere Tausend Parteimitglieder gehörten ihr an. Sie hieß Weddinger Opposition. Die Existenz der Weddinger Opposition gehört zu den vergessenen Kapiteln der KPD-Geschichte. In der DDR wurde die Gruppe totgeschwiegen, weil sie schlichtweg nicht ins Bild passte. Aber auch im Westen wurde sie ignoriert. Selbst als Historiker und Historikerinnen in den 1970er Jahren langsam damit begannen, die zahlreichen dissidenten Strömungen des Weimarer Kommunismus zu erforschen, waren die Weddinger nicht dabei. Möglicherweise lag es daran, dass ihr führender Kopf keine theoretischen Schriften verfasst, keine intellektuelle Strahlkraft entfaltet hatte. An der Spitze anderer Oppositionsgruppen standen Leute wie die ehemalige Parteivorsitzende Ruth Fischer, der marxistische Philosoph Karl Korsch oder Heinrich Brandler, ein Mitbegründer des Spartakusbunds. Die Weddinger Opposition hingegen leitete der Buchhalter Hans Weber.
Der Grund dafür, dass sich überhaupt so viele oppositionelle Gruppierungen innerhalb der KPD gebildet hatten, war die Entwicklung der Partei. Diese hatte sich nämlich im Lauf der 1920er Jahre weit von ihren Grundsätzen entfernt und einen Wandel vollzogen, den die Geschichtswissenschaft heute als »Stalinisierung« bezeichnet: Parallel zum Aufstieg der Parteibürokratie um Stalin in der Sowjetunion wuchs die Abhängigkeit der deutschen Partei von Moskau. Unter der Führung Ernst Thälmanns orientierte sich die KPD zunehmend an der stalinisierten sowjetischen Schwesterpartei, an dem Ideal einer militärisch disziplinierten, straff hierarchischen Organisation – eine Kultur, die in starkem Kontrast zum Parteileben der Jahre nach der Gründung (1919) stand. Waren freie Diskussionen in der frühen KPD eine Selbstverständlichkeit, so wurden sie nun weitgehend unterbunden, Konflikte nicht politisch, sondern organisatorisch, also durch Ausschlüsse und Repressalien »gelöst«. Kritikerinnen und Kritiker belegte das Thälmann-Zentralkomitee (ZK) mit Redeverboten oder entfernte sie kurzerhand aus der Partei. Zudem wurden die politischen Positionen der KPD immer dogmatischer – oder wie es die Historikerin Sigrid KochBaumgarten ausgedrückt hat: Die Sowjetunion wurde »zum heiligen Land stilisiert, Marx, Engels, Lenin (…) wie Religionsstifter verehrt«. Gegen diese Entwicklung wandten sich die verschiedenen linken Oppositionsgruppen in der KPD, darunter auch die Weddinger. Weber und seine Genossen kritisierten die »Vergewaltigung der Parteidemokratie«, solidarisierten sich mit oppositionellen Gruppen in der Sowjetunion und forderten die Parteiführung auf, eine Diskussion über die »russische Frage« zuzulassen. Im September 1926 initiierten sie gemeinsam mit anderen Parteilinken eine Erklärung, in der es hieß: »Das Zentralkomitee der KPD hat bis jetzt geglaubt, die Lage in der KPD und in der Komintern (Kommunistische Internationale, Zusammenschluss aller kommunistischen Parteien, Anm. d. Red.) mit organisatorischen Mitteln meistern zu können. Aber die Gegensätze sind so zu-
GESCHICHTE
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Stilisierter Arbeiter: Das Motiv stammt von einem Wahlplakat der KPD aus dem Jahr 1932. Zu dieser Zeit hatte sich die Partei schon weit von ihren ursprĂźnglichen Idealen entfernt
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Marcel Bois Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik Klartext Essen 2014 614 Seiten 39,95 Euro
gespitzt wie noch nie. Der Opposition steht die Parteipresse überhaupt nicht mehr zur Verfügung.« Unter der Losung »Zurück zu Lenin, zum wirklich echten, unverfälschten Leninismus« forderten sie eine offene Diskussion. Fast 700 Funktionärinnen und Funktionäre der KPD unterzeichneten das Papier, darunter zahlreiche Reichstags- und Landtagsabgeordnete. Stalin reagierte fassungslos: »Diese Leute betreiben die gemeinste Agitation gegen die Komintern und die KPdSU(B), gegen unseren Sowjetstaat.« Auch die deutsche Parteiführung wetterte gegen die Erklärung. Sie sei eine »antibolschewistische Schmähschrift« und ein »verbrecherischer Spaltungsversuch«. Es handele sich um einen »Vorstoß gegen die Einheit der Partei«, das Papier proklamiere »ganz offen die Parteispaltung«. Dementsprechend verstärkte sie die Repressionen und schloss binnen weniger Monate Hunderte Dissidenten aus. Bis Mitte 1927 wurden fast alle linken Oppositionsgruppen aus der Partei gedrängt. Einzig die Weddinger konnten sich in der KPD halten. Auf dem Essener Parteitag wurden im März 1927 sogar noch zwei ihrer Vertreter ins Zentralkomitee gewählt. Der Reichskommissar zur Überwachung der öffentlichen Ordnung, ein Vorläufer des Verfassungsschutzes, ging zu dieser Zeit davon aus, dass die Gruppe noch etwa 3000 Unterstützerinnen und Unterstützer habe. Die befanden sich vor allem in Berlin, Westsachsen und in der Pfalz, von wo Hans Weber stammte. Hier stellte die Gruppe die Führung des KPD-Bezirks und hatte großen Einfluss auf die Beschäftigten bei BASF in Ludwigshafen. Genau das war das Geheimnis ihres Erfolgs: Die Weddinger Opposition war so stark wie keine andere Oppositionsgruppe in der lokalen Arbeiterschaft verankert. Ihre Unterstützerinnen und Unterstützer waren zudem im Durchschnitt älter als die der anderen innerparteilichen Fraktionen und schon länger Mitglied der KPD. Selbstverständlich versuchte die Parteiführung trotzdem, ihren Einfluss zurückzudrängen – etwa durch einen taktischen Schachzug im Frühjahr 1926: Sie löste den Parteibezirk Pfalz auf und gliederte ihn in den Bezirk Baden ein. Doch meist hatte sie mit solchen Manövern keinen Erfolg, der Widerstand an der Parteibasis war einfach zu groß. Auch in diesem Fall: Das ZK nahm den Schritt schnell wieder zurück.
»Zurück zu Lenin«, forderten die Oppositionellen
Erst im Laufe des Jahres 1928 gelang es der KPDFührung, den Weddingern doch noch ihre Hochburgen zu entreißen und sie dann aus der Partei zu drängen. Ein Grund dafür war, dass Thälmann überaus
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geschickt die verschiedenen dissidenten Gruppen gegeneinander ausspielte und stets diejenige bekämpfte, die innerparteilich am schwächsten aufgestellt war. Erst als alle anderen Linken die Partei verlassen hatten, musste auch die Weddinger Gruppe dran glauben. Doch deren Niederlage hatte auch politische Gründe. Denn die Weddinger Opposition vertrat »ultralinke« Positionen, die wenig geeignet waren, breitere Bevölkerungsschichten zu erreichen. Beispielsweise kritisierte sie die Einheitsfronttaktik, eine außerparlamentarische Bündnispolitik mit der SPD. Auch lehnten es die Linksoppositionellen ab, in den Gliederungen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) mitzuarbeiten. Sie plädierten stattdessen dafür, unabhängige Gewerkschaften aufzubauen. Bei ihren Anhängerinnen und Anhängern kam das gut an: In Ludwigshafen hatte sich zum Beispiel im Jahr 1922 der zum ADGB gehörende Fabrikarbeiterverband gespalten, nachdem dessen Führung einen wilden Streik bei BASF nicht unterstützt hatte. Die Weddinger Oppositionellen gründeten daraufhin eine eigene Gewerkschaft, die bald Masseneinfluss unter den Kolleginnen und Kollegen von BASF hatte. Doch anderswo arbeiteten Kommunistinnen und Kommunisten sehr wohl in den ADGB- Gewerkschaften mit – und das durchaus erfolgreich: Im Ruhrgebiet etwa stellten sie im Jahr 1926 fast die Hälfte der 1500 freigewerkschaftlichen Betriebsräte. Zu dieser Zeit führte die KPD auch die beeindruckendste Einheitsfrontkampagne ihrer Geschichte durch: den Volksentscheid zur Fürstenenteignung. Wochenlang mobilisierten SPD- und KPD-Mitglieder gemeinsam für ihr Ziel, den Adel entschädigungslos zu enteignen. Rund 14,5 Millionen Menschen stimmten schließlich für ihre Initiative. Eine solch hohe Stimmenzahl erreichten die linken Parteien gemeinsam bei keiner reichsweiten Wahl in der Weimarer Republik. Die Weddinger hingegen konnten der Kampagne nur wenig abgewinnen. Sie sahen lediglich die Gefahr »einer Wiederbelebung reformistischer Illusionen bei der Arbeiterschaft« oder gar »einer Konsolidierung der SPD«. Anders als ihre Kritik an der Entdemokratisierung waren solche Aussagen nicht gerade hilfreich, andere KPD-Mitglieder zu gewinnen. Tatsächlich ging die Zahl der mit der Linksopposition Sympathisierenden im Lauf der Zeit zurück. Als Thälmann schließlich zum entscheidenden Schlag ausholte, bekannten sich nur noch wenige Hundert zu ihr. Der Wedding blieb zwar rot, aber die KPD-Opposition spielte hier nun keine Rolle mehr. ■
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KULTUR
Jede Gesellschaft bekommt die Heldinnen und Helden, die sie verdient
Der englische Dichter William Shakespeare entstammte der aufstrebenden bürgerlichen Klasse des 16. Jahrhunderts – ebenso seine Protagonistinnen und Protagonisten
In der vergangenen Ausgabe stellte unser Autor verschiedene marxistische Konzepte von Kunst dar. Nun untersucht er die Entstehung moderner Romanfiguren aus dem Aufkommen des Kapitalismus VON PHIL BUTLAND Im vorkapitalistischen Theater ist das Schicksal der Protagonisten meist durch den Willen der Gottheiten vorherbestimmt. In Sophokles’ Tragödie »Ödipus Rex« wissen wir von Anfang an, dass Ödipus seinen Vater töten muss. Bei Shakespeare verändern Menschen die Welt. Das einzige Hindernis für ihre Entwicklung besteht in der alten feudalen Gesellschaft. Verändere diese Gesellschaft und du kannst dein Schicksal selbst bestimmen: Das ist eine revolutionäre Botschaft für revolutionäre Zeiten. Der Beginn des Kapitalismus lässt sich nicht auf das Jahr genau bestimmen. Aber ab der Englischen Revolution des Jahres 1649 können wir von der Existenz einer revolutionären kapitalistischen Klasse ausgehen. Sie erfand ihre eigene Kunstform: den Roman. In den von Umwälzungen geprägten folgenden zwei Jahrhunderten nahmen die Autorinnen und Autoren und ihre Hauptfiguren ihr Schicksal selbst in die Hand und versuchten, die Gesellschaft zu ver-
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PHIL BUTLAND hat Philosophie und Literatur studiert und schreibt regelmäßig über Kunst und Kultur für marx21. Er ist Gründungsmitglied der Gruppe KünstlerInnen gegen Krieg Berlin.
KULTUR
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aut Friedrich Engels brachte der Kapitalismus nicht nur Elend mit sich, sondern auch »die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte«. Eine aufstrebende Mittelschicht aus Anwälten, Unteroffizieren und Händlern sah sich durch den Adel und den Klerus in ihren Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt. Sie begann, gegen die alten Hierarchien zu rebellieren. Als Sohn eines Geldverleihers war der englische Dichter William Shakespeare in dieser Schicht aufgewachsen. Seine Helden gehören dieser Klasse an, auch wenn er sie manchmal weit in die Vergangenheit versetzte. Die Machtgier des schottischen Königsmörders Macbeth oder des römischen Patriziers Coriolanus kennzeichnete jene bürgerliche Klasse, die Shakespeare aufs Korn nahm, ebenso sehr wie die herrschenden Klasse des elften Jahrhunderts in Schottland oder im alten Rom.
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KULTUR
Die Heldinnen und Helden der Kunst unserer Zeit sind Typen wie Don Draper aus der Serie »Mad Men«. Sie verkörpern den amerikanischen Traum, sind smart, cool und eloquent – aber selten glücklich
ändern. Die frühesten Romane in diesem Sinn wurden von der und über diese aufstrebende Klasse geschrieben – vielleicht mit Ausnahme von Cervantes’ »Don Quixote« (Spanien 1605), einer Satire auf den alten, stagnierenden Feudalismus. Aber zumeist verkörpern Forscher wie Daniel Defoes »Robinson Crusoe« (England 1719) und Jonathan Swifts Lemuel Gulliver (»Gullivers Reisen«, Irland 1726) oder Wissenschaftler wie Mary Shelleys Viktor Frankenstein (England 1818) das neue Bürgertum. Die kapitalistische Klasse sah sich als Ansammlung von talentierten und dynamischen Individuen. Fortschritt war für sie das Ergebnis persönlicher Leistung. Deshalb war es kein Zufall, dass in der neuen Kunst ein einzelner Held im Vordergrund stand. Im Gegensatz zu einem Theaterstück, in dem mehrere Schauspielerinnen und Schauspieler gleichzeitig auf der Bühne stehen, gibt es in Romanen meist einen allwissenden Erzähler und eine Hauptfigur. Fast alle Romane dieser Epoche sind nach den Protagonisten benannt. Äußerst ungewöhnlich war Defoes »Moll Flanders« (England 1722), denn die Hauptfigur ist nicht nur eine Frau, sondern außerdem Arbeiterin. Flanders ist – wie die Heldinnen in den Romanen des Marquis de Sade – Prostituierte. Es gibt kaum andere Romane dieser Zeit mit Protagonisten (geschweige denn Protagonistinnen) aus der Arbeiterinnen- und Arbeiterklasse. Der Aufstieg der revolutionären Bourgeoisie geriet Anfang des 19. Jahrhunderts ins Stocken. Napoleon versuchte mit seiner Armee, die Französische Revolution zu exportieren. Er wollte »Reformen von oben durchsetzen, ähnlich denen, die in Frankreich von unten erzwungen worden waren: die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Feudalabgaben,
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die Trennung von Kirche und Staat (…) und die Einberufung mehr oder weniger demokratischer Versammlungen«, schreibt der britische Marxist Chris Harman. Leider war dieser revolutionäre Eifer nur von kurzer Dauer: »Was als Befreiungskrieg begann, verwandelte sich in eine düstere Zeit revolutionärer Verteidigung und endete als Krieg imperialer Eroberung. (…) Napoleons Niederlage gab den Königen, Fürsten und Adligen die Möglichkeit, wieder aufzutrumpfen und eine verrückte Halbwelt zu erschaffen, in der der alte Überbau des Ancien Régime aus dem 18. Jahrhundert den neuen gesellschaftlichen Strukturen übergestülpt wurde – zumindest in Frankreich, Norditalien und Westdeutschland.« Diese gesellschaftliche Restauration spiegelt sich in der Kunst wider, nicht zuletzt in Frankreich. »Rot und Schwarz« (Frankreich, 1830) ist ein Roman von Stendhal, einem ehemaligen Kriegskommissar in Napoleons Armee. Der Held des Romans, Julien Sorel, ist in Armut geboren. Eine Generation früher hätte er in Napoleons Armee Karriere machen können. Nun wird er Hauslehrer und Priester, danach Privatsekretär für einen Marquis. Sorels berufliche Entwicklung wird immer wieder durch Intrigen von oben behindert. Als Emporkömmling verachtet, wird er zu Unrecht wegen Mordes angeklagt und hingerichtet. Napoleon ist Sorels Held, er sehnt sich nach der Zeit zurück, in der jemand aus seiner Schicht sozial aufsteigen konnte. Aber Napoleon ist tot und das revolutionäre Zeitalter vorbei. Sorels Begabung und Bienenfleiß sind nichts mehr wert. Für Frauen war es noch schwieriger, sich selbst zu verwirklichen. Sowohl Gustav Flauberts Emma Bovary (»Madame Bovary«, Frankreich 1856) als auch Leo Tolstois »Anna Karenina« (Russland 1878) bringen sich um, weil ihnen ein besseres Leben verwehrt ist. Auch eine selbstbewusste Frau wie Charlotte Brontës »Jane Eyre« (England 1847) strebt letztendlich eher nach einer Ehe als danach, selbst etwas zu erreichen. Individueller Aufstieg scheint in den Romanen dieser Ära zwar auch möglich zu sein, allerdings sehr begrenzt. In »Die drei Musketiere« von Alexandre Dumas (Frankreich 1844) wird D’Artagnan trotz seiner relativ armen Herkunft – er ist von niederem Adel – zum Oberleutnant befördert. Dieser soziale Aufstieg ist aber von blinder Loyalität zum Ancien Régime abhängig. Doch so finster blieben die Zeiten nicht. Im Jahr 1838 formierte sich in England der Chartismus, die erste Massenbewegung der Arbeiterklasse. Millionen unterschrieben die Charta für Wahlrechte und Gleichheit, im Jahr 1842 streikten 500.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Zehn Jahre später fegten Revolutionen durch Europa. Eine neue dynamische Klasse trat auf. Statt über die bekannten bürgerlichen Helden schrieb Charles Dickens jetzt
über »Oliver Twist« (England 1838), ein Waisenkind aus dem Armenhaus. In »Life in the Iron Mills« (USA 1861) beschrieb Rebecca Harding Davis das Leben von Fabrikarbeiterinnen. Damals begannen Autoren – und davon überdurchschnittlich viele Autorinnen wie Elisabeth Gaskell, George Eliot und die Schwestern Brontë – Romane zu schreiben, die soziale Fragen behandelten. Die ersten Romane über das Proletariat konzentrierten sich auf die Armut. Arbeiterinnen und Arbeiter selbst wurden eher als leidende Opfer dargestellt. Noch vor Ende des Jahrhunderts aber sollte Emil Zolas Étienne Lantier in »Germinal« (Frankreich 1885) einen Streik anführen und Thomas Hardys Juda Fawley in »Herzen in Aufruhr« (England 1895) gegen Ungleichheit kämpfen. In den 1930er Jahren stellt James T. Farrell in seiner Romantrilogie »Studs Lonigan« einen Protagonisten vor, der zwar Arbeiter, aber völlig unheroisch ist. Lonigan ist Nationalist, Rassist und Sexist. Er stirbt jung als verbitterter Alkoholiker und durchläuft kaum eine Entwicklung. Farrell war eine Ausnahme unter den Schreibenden, weil er als Mitglied der US-amerikanischen Socialist Workers Party politisch aktiv war. Seine Hauptfiguren sind weder Helden noch Kämpfer. Das Besondere an seinen Romanen beschrieb Norman Mailer, wie Farrell ein Schriftsteller aus ärmlichen Verhältnissen: »Bevor ich ›Studs Lonigan‹ gelesen hatte, war es für mich unvorstellbar, dass das Leben von mir oder meinesgleichen überhaupt ein Thema der Literatur sein könnte.« In den sechziger Jahren wurden Alan Sillitoes »Samstagnacht bis Sonntagmorgen« und Bill Naughtons »Alfie« verfilmt. Deren Helden (Arthur Seaton und Alfie Elkins) interessieren sich wie Lonigan im Wesentlichen für Saufen und Sex. Sie enden unterschiedlich: Seaton heiratet und Elkins Freundin findet einen jüngeren Mann und verlässt ihn – aber beide sind einsam und unglücklich. Wie bei Farrell gibt es in diesen Geschichten weder Happy End noch große Arbeitskämpfe. Sie zeigen trotzdem eine neue Arbeiterklasse, die sich für ihre Herkunft nicht entschuldigt. Im Kino sah man zum ersten Mal Darstellerinnen und Darsteller wie Albert Finney, Michael Caine oder Cilla Black: stolze Arbeiterinnen und Arbeiter, die mit regionalem Akzent sprechen. Endlich war das Publikum auch auf der Leinwand vertreten.
Und die Helden und Heldinnen von heute? Es ist nichts Neues zu behaupten, die innovativste Erzählkunst unserer Zeit seien Fernsehserien. Es stimmt aber immer noch. Die Helden der Kunst unserer Zeit heißen Jimmy McNulty in »The Wire«, Don Draper in »Mad Men« oder Walter White in »Breaking Bad«. Zwischen vielen dieser Figuren gibt es Ähnlichkeiten. Sie haben große Charakterschwächen, sind aber gleichzeitig irgendwie charismatisch. Sie gehören oft der neuen Mittelschicht an – fühlen sich darin allerdings meist unbehaglich. Viele sind von armer Herkunft und haben diese nicht völlig hinter sich gelassen. Die neuen Helden verkörpern den amerikanischen Traum – durch ihr Talent haben sie einen gewissen sozialen Aufstieg geschafft. Trotzdem sind sie nicht glücklich. McNulty trinkt Bier, Draper Cocktails und White lebt vom Verkauf von Crystal Meth. Sie sind Helden eines Zeitalters mit einem niedrigen Niveau von Klassenkämpfen – man kann sein Leben individuell verbessern, aber nur in engen Grenzen.
Kunst spiegelt die soziale Situation der Kunstschaffenden wider
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Wie revolutionär ist das Theater heute? Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de KULTUR
Kunst spiegelt immer auch die soziale Situation der Kunstschaffenden wider. Es gibt mehr Autorinnen – und mehr Protagonistinnen – als je zuvor, sie stammen aber immer noch in der Regel aus der Mittelschicht. Doch die steigende Bedeutung von Fernsehserien als Kunstform wird von einer Proletarisierung des künstlerischen Berufs begleitet. Autorinnen und Autoren arbeiten traditionell allein und selbstständig – Fernsehskripte werden eher in Gruppen geschrieben. Früher war ein Schriftstellerstreik ein Ding der Unmöglichkeit. In den Jahren 2007 bis 2008 hat die Writers‘ Guild of America tatsächlich erfolgreich gestreikt. Kunstschaffende haben in ihren Werken immer die gesellschaftlichen Verhältnisse infrage gestellt, aber sie leisteten den Widerstand bisher aus der Vereinzelung heraus. Das neu entstehende kollektive Bewusstsein könnte neue Kunst und Kunstformen produzieren, von der wir bisher nicht einmal geträumt haben. Wir erwarten mit Spannung, was daraus erwachsen wird. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Kunst sich in eine andere, eher reaktionäre Richtung entwickeln kann, wo sie immer mehr zur Ware und die künstlerische Freiheit beschränkt wird. Das wird das Thema des dritten Teils dieser Serie sein. ■
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WEIHNACHTSTIPPS
Geschenktipps der marx21-Redaktion Es muss nicht unpolitisch zugehen beim »Fest der Liebe«. Unsere Vorschläge für Gaben, die auch noch Freude bereiten, wenn der Weihnachtsbaum wieder abgebaut ist ★ ★★ Ronda Kipka empfiehlt den Roman »Q«
Herbst 1517: Martin Luther veröffentlicht seine 95 Thesen. In die darauf folgenden, ereignisreichen vierzig Jahre entführt der Roman »Q«. Seine zwei Protagonisten sind erbitterte Feinde: ein Theologiestudent, Anführer der Häretiker, Verfechter der Revolte und »Q«, ein Mann ohne Namen, Statthalter des Papstes, der die Revolte vernichten soll. Das Buch hat alles, was es braucht, um auch kalte Winterabende genießen zu können: geheime Briefe und Flugblätter, Bauernrevolten, Spione, feurige Reden der Wiedertäufer und politische Debatten. BUCH Luther Blisset Q Piper Verlag München 2002 798 Seiten 13 Euro
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★ ★★ David Jeikowski empfiehlt den Film »Nymph()maniac« Im Zentrum von Lars von Triers neuestem Werk »Nymph()maniac« steht die Befriedigung im weitesten Sinne. Die promiskuitive Joe berichtet dem vertrockneten universalgelehrten Seligman in Therapiemanier von ihrem (Sex-)Leben. Das Spannungsfeld normative Kategorisierung (»Wir nennen das ›sexsüchtig‹«) vs. Selbstbestimmung (»Ich liebe meine Möse«) treibt Joe immer tiefer in die Empathieunfähigkeit. Die Bilder dazu schocken dank Erotiklosigkeit trotz/ durch Explizität. Am Ende fühlt man sich wie die Protagonistin: Man hat jegliche Sympathie verloren, doch will trotzdem mehr! DVD Nymph()maniac Vol. I & II (Directors Cut) Dänemark, Deutschland, Frankreich, Belgien, Großbritannien 2014 Concorde Home Entertainment 19,99 Euro
★ ★★ Marcel Bois empfiehlt das Album »Paris« von Zaz Sie trat auf den Straßen Frankreichs auf und sang, dass sie auf die Suite im »Ritz« gut verzichten könne. Ihr gerade erschienenes drittes Album hat die Chansonsängerin Zaz nun jener Stadt gewidmet, in der sie seit einigen Jahren lebt: Paris. Für die 34-jährige verkörpert die französische Hauptstadt »den unbeugsamen Geist der Freiheit«. So beginnt das Album auch mit dem 75 Jahre alten Lied »Paris sera toujours Paris«, das der jüdische Komponist Casimir Oberfeld am Vorabend des Zweiten Weltkriegs schrieb. Kurze Zeit später wurde die Stadt von der Wehrmacht besetzt. Musikalisch kommen die Chansons von Zaz mit einer deutlichen Prise Jazz und Swing daher. Verantwortlich dafür: Gastproduzent Quincy Jones. CD Zaz Paris Parlophone/Warner 2014 12,99 Euro
★ ★★ Christina Müller empfiehlt solidarische Ausrüstung Für die liebsten Revolutionärinnen und Revolutionäre soll's was ganz besonderes sein? Ein Geschenk, das sicher jedes sozialistische Herz höher schlagen lässt, ist die in Deutschland so schwer erhältliche PKK-Fahne. Nicht nur ein echter Hingucker unter jedem Weihnachtsbaum, sind deine Genossinnen und Genossen gleich mit dem wichtigsten Equipment für die nächste Demo gegen das PKK-Verbot ausgestattet. Erhältlich bei der kurdischen Community deines Vertrauens oder in jedem Nachbarland Deutschlands. OBJEKT PKK-Fahne Kurdistan seit 1978
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Yaak Pabst empfielt das Album »Strange & Dangerous Times«
Martin Haller empfiehlt das Buch »Geschichte wird gemacht«
Auf dem Cover des Samplers »Strange & Dangerous Times« ist die US-Flagge schon völlig hinüber. Der Journalist Sebastian Weidenbach stellt in seiner Kompilation »New American Roots – Real Music for the 21st Century« 16 weitgehend unbekannte Bands und Sänger der US-amerikanischen Folkszene vor. Herausgekommen ist dabei ein spannendes Portrait einer Musikrichtung, die wie ein Seismograf die gesellschaftlichen Umbrüche in den USA darstellt. Der Musiker Paul James erklärt: »Die Songs an sich spiegeln die Wurzeln des ländlichen Nordamerikas wieder und den Kampf der Arbeiterklasse und der Geringverdiener.« Die »Roots Music« hat sich verändert und ist heute beeinflusst von Punk, Metal und HipHop. Geblieben sind die Instrumente wie Mandoline, Kontrabass oder Banjo. Ein akustisches Feuerwerk gegen den ausufernden Kapitalismus.
»Von einer wunderbaren Form der Globalisierung« erzählt der 27. Band der Reihe »Bibliothek des Widerstands«. Er schildert die Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung, die mit dem Slogan »eine andere Welt ist möglich« zeigte, dass »das Ende der Geschichte« noch lange nicht gekommen war. Das Buch liefert keine theoretischen Hintergründe, gibt aber einen authentischen Einblick in die Bewegung. Das wahre Highlight sind jedoch die Filme, die dem Band auf drei DVDs beiliegen. Sie erzählen die Ereignisse aus erster Hand. Statt eine objektive Perspektive zu konstruieren, sind sie Dokumente der Bewegung selbst – mit all ihren Stärken und Schwächen. Pflichtlektüre für alle, die 2015 zur Blockade der Eröffnung der neuen EZB-Zentrale fahren werden.
CD Strange & Dangerous Times Zusammengestellt von Sebastian Weidenbach 2014 TRIKONT 15 Euro
BUCH Friederike Habermann Geschichte wird gemacht! Etappen des globalen Widerstands Bibliothek des Widerstands Band 27 Laika Verlag Hamburg 2014 264 Seiten 29,90 Euro
★ ★★ Carla Assmann empfiehlt die DVD »My Sweet Pepper Land« Nach dem Sturz Saddam Husseins lässt sich ein ehemaliger Widerstandskämpfer als Polizist der autonomen kurdischen Verwaltung ins abgelegene irakisch-türkische Grenzgebiet versetzen. Dort gerät er genau wie die Lehrerin des Dorfes in Konflikt mit der traditionell-mafiösen Ordnung. »My Sweet Pepper Land« ist der bislang stimmigste Vertreter der Western-Renaissance, der in Deutschland zu Unrecht wenig Beachtung fand. Die Heldin und der Held sind aufrechte Außenseiter, statt aufdringlicher Gesellschaftskritik gibt es beeindruckende Bilder der kargen Landschaft. Und obwohl sich dieser großartige Film unpolitisch gibt, sind »die Guten« doch auch auf der richtigen Seite. DVD My Sweet Pepper Land Regie: Huner Saleem Frankreich, Deutschland, Kurdistan 2013 95 Minuten 14,99 Euro
★ ★★ David Maienreis empfiehlt das Buch »Libertalia« »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« war nicht nur der Schlachtruf der Französischen Revolution, sondern auch der Grundsatz, nach dem die Piraten des frühen 18. Jahrhundert – entlaufene zwangsrekrutierte Matrosen und Sklaven, abenteuerlustige Frauen – ihr Zusammenleben organisierten. Wie die Rebellen ihr Leben gestalteten und gegen die Häscher der europäischen Könige verteidigten, beschrieb Daniel Defoe in zwei Kapiteln seiner »Allgemeinen Geschichte der Piraten«. Als das Buch im deutschen Kaiserreich übersetzt wurde, sparte man diese Kapitel aus, um die Jugend nicht auf gefährliche Gedanken zu bringen. Nun gibt es sie als eigenes Buch, ergänzt um viele historische Informationen und den Reisebericht des holländischen Händlers Jacob de Bucqouy, der 1727 von Piraten gefangen wurde und 16 Jahre lang bei ihnen lebte. BUCH Daniel Defoe Libertalia – die utopische Piratenrepublik Verlag Matthes & Seitz Berlin 2014 19,90 Euro
WEIHNACHTSTIPPS
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Š York Berlin / CC BY-ND / flickr.com
Review
BUCH
Andrej Holm (Hrsg.) | Reclaim Berlin. Soziale Kämpfe in der neoliberalen Stadt
Anlageparadies Berlin? Die Hochzeit der Hausbesetzungsbewegung, der alternativen Wohnprojekte und der Freiräume ist lange vorbei. Übernimmt das Kapital nun völlig die Stadt? Ein Sammelband gibt einen Überblick über aktuelle Entwicklungen und die Bewegungen dagegen VON MAX MANZEY rung eingehen, problematisiert Sabina Uffer in ihrem Beitrag die Privatisierungspolitik des Berliner Senats. Christian Linde setzt sich in einem spannenden Beitrag mit der Wohnungslosenpolitik auseinander. Insgesamt ergibt sich ein düsteres Bild: Berlin steht kurz vor einer gravierenden Wohnungsnot und die Privatisierung von Wohnraum wirkt als Brandbeschleuniger für Verdrängung und Segregation. Eine kleine Schwachstelle des ersten Abschnitts ist die fehlende internationale Einordnung und die kaum vorhandene Betrachtung makroökonomischer Prozesse der urbanen Wertschöpfung. Der zweite Teil des Sammelbands beleuchtet verschiedene »Konflikte und Widersprüche«. Auch hier wird ein sehr breites Feld an Themen behandelt. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Jenny Künkel über »Umkämpfte Räume des Sexgewerbes«. Sie beschreibt, wie die neoliberale Stadtentwicklung zur Verdrängung von Straßenstrichen führen kann, und zeigt am Beispiel der Kurfürstenstraße, wie erfolgreiche Gegenwehr aussieht. Der letzte Teil des Buchs widmet sich dem »Protest und Widerstand« gegen Mietsteigerungen und gegen die Verdrängung subkultureller Räume sowie den Perspektiven der Hausbesetzungsbewegung. Ein Höhepunkt ist der Beitrag der Mieterinnen- und Mieter-
initiative Kotti & Co über das »Recht auf Stadt«. Kotti & Co ist eine von Migrantinnen und Migranten geprägte Initiative, die mit innovativen Mitteln politischen Druck auf den Senat ausübt und dadurch bereits Teilerfolge erringen konnte. Das Buch »Reclaim Berlin« ist eine Pflichtlektüre für alle stadtpolitischen Aktivistinnen und Aktivisten in Berlin und anderswo, da es wichtige Argumente und eine gute Übersicht über das Thema bietet. Die inhaltliche Vielfalt ist dabei zugleich eine Stärke als auch eine Schwäche. Viele Themen werden nur kurz in einem Beitrag angeschnitten, ohne in die Tiefe zu gehen. Bedauerlich ist auch, dass das erfolgreiche Volksbegehren gegen Luxusbebauung auf dem Tempelhofer Feld nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Dabei stellt dieser Erfolg eine wichtige Erfahrung für die gesamte Berliner Mietenbewegung dar. Vielleicht findet die Initiative ja ihren Platz in einem Nachfolgeprojekt von »Reclaim Berlin«. Dass die Debatte um die Berliner Stadtentwicklung und die dazugehörigen Proteste in dieser Form weitergeführt wird, ist auf jeden Fall zu hoffen.■
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BUCH | Andrej Holm (Hrsg.) | Reclaim Berlin. Soziale Kämpfe in der neoliberalen Stadt | Assoziation A | Berlin 2014 | 368 Seiten | 18 Euro
REVIEW
B
is in die 1990er Jahre galt Berlin als Hochburg stadtpolitischer Protestbewegungen: von den Häuserkämpfen um die Mainzer Straße über die Massenmobilisierungen gegen Verdrängung auf dem Prenzlauer Berg bis zu den Straßenschlachten am 1. Mai. Davon ist heute nur noch wenig zu spüren, von den damaligen Strukturen sind nur subkulturelle Nischen geblieben. Gleichzeitig ist der neoliberale Umbau der Stadt weit fortgeschritten. Berlin gilt heute als Goldgrube für Immobilienspekulanten. Die Mieten sind in die Höhe geschossen – in manchen Stadtteilen stiegen die Neuvermietungspreise in den letzten fünf Jahren um über 50 Prozent. Dies ging einher mit einer der weitgehendsten Privatisierungswellen der letzten Jahre: Der rot-rote Senat verkaufte in den Jahren von 2002 bis 2011 allein 140.000 städtische Wohnungen. Der neue Sammelband »Reclaim Berlin«, herausgegeben von Andrej Holm, dem wohl bekanntesten deutschsprachigen Kritiker der Gentrifizierung, gibt in 17 Artikeln und Interviews einen aktuellen Überblick über die stadtpolitische Situation in Berlin. Der erste Teil des Bands (»Berliner Zustände«) macht eine Bestandsaufnahme der letzten Jahre. Während Kerima Bouali und Sigmar Gude auf die neueren Tendenzen der Gentrifizie-
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is ins 19. Jahrhundert stand den europäischen Großmächten im Südosten ein Gigant gegenüber: das Osmanische Reich. Als Aufstände und Kriege das einst so mächtige Sultanreich allmählich in die Knie zwangen, forderte die Politik im Westen den Gnadenstoß. Der nunmehr zum »kranken Mann am Bosporus« verkommene Gegner sollte »balkanisiert«, sprich: in einzelne Kleinstaaten aufgeteilt und dem daraus folgenden Chaos und der Rückständigkeit überlassen werden. Während das Schlagwort der Balkanisierung wegen seines offensichtlich diskriminierenden Charakters heutzutage kaum noch verwendet wird – lediglich der satirischen APPD (Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands) ist es einen Parteiprogrammpunkt wert – scheint sich seither am bundesdeutschen Assoziationskatalog »Balkan« wenig geändert zu haben. Dabei dient die Halbinsel (neuerdings assoziationsbefreiter, jedoch nicht ganz deckungsgleich, »Südosteuropa« genannt) vor allem der mitteleuropäischen Identitätsbildung: chaotisch, bäuerlich-exotisch dort; strukturiert, materialistisch-monoton hier. Mit genau diesen Klischees spielt »No escape (from Balkan)«, das erste Lied des Albums »Happy machine« von Dubioza kolektiv. Eine orientalische Harmonie eröffnet das Lied und zieht uns gen Osten, irgendwo Richtung »Tausendundeine Nacht«. Eine verzerrte Stimme konkretisiert die weltmusikalische Destination zwar durch »Ba-ba-balkan«- Rufe, leitet damit jedoch einen erstklassigen Hardrock-Part ein. Auch das gehört zum Balkan, will man uns anscheinend hiermit sagen. Ohne an Intensität zu verlieren, wandelt sich das Lied abermals zu einer Art SkaPunk. Ein Gastarbeiter erzählt in akzentbelastetem Englisch, wie er sein Heimatland verlassen hat und sich in der neuen Heimat nun an westlichen Statussymbolen erfreut (»very smart phone, hundred inch TV/
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Dubioza kolektiv | Happy Machin
ALBUM DES MONATS Die Band Dubioza kolektiv vereint, was zu lange getrennt war: orientalische Harmonien und Skapunk, Balkan und Mitteleuropa, politischen Protest und Spaß an der Musik VON DAVID JEIKOWSKI
★ ★★ ALBUM | Dubioza kolektiv | | Happy Machine | Password Production | 2014
american hits on my MP3«). Doch trotz Konsumfreude und Gesetzeskonformität (»I live by your rules every single day«) belasten Vorurteile (»Don’t believe the hype, I never beat my wife«) und will die Integration als ganzes anscheinend nicht gelingen. »Eine Flucht aus dem Balkan ist nicht möglich«, konstatieren Songtitel und Refrain. In diesem verbinden sich die orientalische Melodie und der Hardrock- Beat abermals, synkopiert durch Dubstep-typische Halfbeats – ein Übermaß an (zumindest) musikalischer Integration, das die Frage aufwirft: Wer ist hier nicht offen für
Neues, die Zugewanderten oder die neue Heimat? In Deutschland weitestgehend unbekannt ist Dubioza kolektiv in Osteuropa schon länger eine feste Größe. Im Jahr 2011 gewann sie dort einen MTV Award und war nominiert für den wichtigen europäischen Independentpreis, Impala. Die aus Bosnien stammende Band gründete sich im Jahr 2003 vor allem aus dem Bedürfnis heraus, dem Nationalismus entgegenzutreten, der sich auch nach den Jugoslawienkriegen hartnäckig in der Region hält. Dabei verstehen sich die sieben Bandmitglieder nicht nur als Musi-
ker, sondern vielmehr als Aktivisten. Als Menschenmassen im Februar dieses Jahres in Bosnien und Herzegowina gegen Korruption und hohe Arbeitslosigkeit auf die Straße gingen, war die Gruppe selbstverständlich mit dabei und spielte Konzerte für die Menge. Ein auch bei regulären Konzerten häufig zu hörender Schlachtruf lautet »This is not a free world, this is just a free market!« (»Das ist keine freie Welt, nur ein freier Markt!«). In konsequenter Opposition zu diesem Markt bietet die Band ihre Musik auf der eigenen Internetseite gratis zum Download an und unterstützt mit »free.mp3«, dem zweiten Lied auf »Happy Machine«, die inzwischen verhafteten Gründer der Download-Seite »The Pirate Bay«. Der Song geht mit seinem vergleichsweise simplen Refrain (»Our music is for free/ you can download mp3« – »Unsere Musik gibt’ s umsonst/ Lad’ sie als MP3 herunter«) sofort ins Ohr, um mit ebenso eingängigem Rhythmus und GitarrenEinlagen gute Laune zu verbreiten. Textlich wird anhand amüsanter Beispiele (Jamie Oliver-Kochrezepte, PromiNacktbilder, Herzchirurgie-Anleitungen) die weite Welt des Web gepriesen, die es gegen Copyright-Juristerei und die Industrie im Interesse aller zu verteidigen gilt. Etwas rockiger wird es wieder mit »Hay Libertad«, dem dritten und letzten Song der Mini- EP. Im Refrain wirft das wieder in Uptempo gehaltene, spanischsprachige Lied allem politischen Zweifeln und Trübsalblasen ein unglaublich vitales Trompetengebläse und ein entschlossenes »Es gibt (noch) Freiheit« entgegen. »Solange du um diese Welt weinst/ ist es noch nicht zu spät/ die Ungerechtigkeit zu verändern« – so lassen sich auch die müdesten Knochen von Aktivistinnen und Aktivisten wieder beleben. Wer noch immer daran zweifelt, kann sich »Happy Machine« ganz einfach unter dubioza. org herunterladen und es selbst ausprobieren. ■
BUCH
David Peace | GB84
Woche für Woche Der Streik der Bergleute von 1984 war eines der wichtigsten Ereignisse der britischen Nachkriegsgeschichte. Ein neuer Roman soll den kämpfenden Kumpeln nun ein Denkmal setzten – und verliert sich dabei in Belanglosigkeiten VON PHIL BUTLAND teidigung des tapferen Kampfs der Streikenden. Umso schwerer fällt es mir, dieses Werk zu kritisieren. Doch leider fand ich es gähnend langweilig und habe mich bis zum Ende durchquälen müssen. Ein Problem ist der Schreibstil. Peace mag kurze Sätze. Sehr kurze Sätze. Sätze, die sich wiederholen. Sätze, die eher für ein Kinderbuch geeignet wären. Dieser Stil passte gut zu »Damned United«, einem hervorragenden Buch von Peace über den Fußballtrainer Brian Clough. Doch hier irritierte er nur. Eine weitere Schwäche des Buchs ist, dass der Autor seinen Stil über den Inhalt stellt. Der Streik – einer der längsten in der Geschichte – dauerte 53 Wochen, also ein gutes Jahr. In dem Roman wird jede dieser Wochen gleichgewichtet, jeder sind etwa zehn Seiten gewidmet. Das führt dazu, dass jedes Ereignis dieselbe Relevanz zu haben scheint. Einem möglichen Wendepunkt, der zu einem Sieg des Streiks hätte führen können, räumt Peace nicht mehr Platz ein als einer Woche, in der es nur langweilige Sitzungen gab. Dadurch geht die Dynamik des Streiks verloren. Er entwickelt sich von einem Ereignis zum anderen, und es ist überhaupt nicht klar, was nun wichtig war – und was eher nicht. Für deutschsprachige Leserinnen und Leser wird es ein
weiteres Problem geben: Regelmäßig tauchen Nebenfiguren auf, die an reale historische Personen angelehnt sind. Als jemand der im Jahr 1984 in Großbritannien gelebt und den Streik unterstützt hat, kann ich einige dieser Personen nicht einordnen. Für alle, die nicht dabei waren, gibt es keine Möglichkeit herauszufinden, wer gemeint ist. Für die Handlung selbst sind sie meist nicht wichtig. Sie verstärken nur das Gefühl, Peace als allgegenwärtiger Autor wüsste etwas, das wir nicht wissen. Lesen wird so von einem Genuss zu einem Wettbewerb. Insgesamt erscheint der Streik in Peaces Buch als fernes Ereignis, zu dem wir keinen Bezug haben, und man fühlt sich von ihm entfremdet. Entgegen der Absicht des Autors können wir die Niederlage mit unvermeidlicher Wucht heranrollen sehen. Dass Peace dem Streik ein literarisches Denkmal setzen wollte, ist lobenswert. Leider steht ihm sein ärgerlicher Schreibstil im Weg. Wer sich für den Bergarbeiterstreik interessiert, kommt hier natürlich trotzdem auf seine Kosten. Doch lohnenswerter ist es, ins Kino zu gehen und die beiden hervorragenden Filme »Pride« und »(Still) The Enemy Within« anzuschauen. ■
★ ★★ BUCH | David Peace | GB84 | Liebeskind | München 2014 | 544 Seiten | 24,80 Euro
REVIEW
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in Buch, in dem es mal nicht um die Luxusprobleme der Mittelschicht geht: »GB84« von David Peace stellt stattdessen Klassenkampf aus Sicht der Beschäftigten vor. Der Roman wurde im Jahr 2004 anlässlich des zwanzigsten Jahrestags des großen britischen Bergarbeiterstreiks veröffentlicht. Zum dreißigjährigen Jubiläum ist nun endlich auch eine deutsche Übersetzung erschienen. Der Streik der Bergleute war ein Wendepunkt in der britischen Nachkriegsgeschichte. Erst nachdem er verloren war, konnte die damalige Premierministerin Margaret Thatcher ihre drastische Sparpolitik vollends umsetzen. Peace hat nicht den Anspruch, »objektiv« zu schreiben. Seine Helden sind die Streikenden und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer. Politik, Geheimdienste und eine gewalttätige Polizei sind die Bösen. Er stellt deutlich dar, wie der britische Geheimdienst gegen die Gewerkschaften vorgegangen ist. Der Autor widerspricht auch der allgemeinen Ansicht, dass der Streik von Anfang an zur Niederlage verurteilt war. So erwähnt er die Möglichkeit gleichzeitiger Solidaritätsstreiks in den Häfen, die das Schicksal des Ausstands hätten ändern können. Zweifellos ist das Buch von David Peace eine engagierte Ver-
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BUCH
Eike Sanders, Ulli Jentsch, Felix Hansen | Deutschland treibt sich ab. Organisierter »Lebensschutz«, christlicher Fundamentalismus, Antifeminismus
Christliche Kampftruppe am rechten Rand Die Geschichte hat gezeigt, dass Klerikalismus und Selbstbestimmung nicht zusammengehen. Ein neues Buch stellt dar, wie kirchliche und reaktionäre Organisationen gemeinsam gegen die Rechte von Frauen mobilmachen VON ROSEMARIE NÜNNING
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★ ★★ BUCH | Eike Sanders, Ulli Jentsch, Felix Hansen | Deutschland treibt sich ab. Organisierter »Lebensschutz«, christlicher Fundamentalismus, Antifeminismus | Unrast Verlag | Münster 2014 | 100 Seiten | 7,80 Euro
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m Jahr 1974 wurde in Westdeutschland der Strafrechtsparagrafen 218 zum Schwangerschaftsabbruch gelockert. Sowohl vorher als auch danach haben christliche Kirchen immer wieder politischen Druck dagegen ausgeübt. Beispielsweise organisiert seit einigen Jahren der fundamentalistische Flügel der »Lebensschützer« in verschiedenen Städten sogenannte Märsche für das Leben. Im September findet zudem eine große bundesweite Demonstration in Berlin statt. Die kleine Aufsatzsammlung »Die neue Radikalität der Abtreibungsgegner« aus dem Jahr 2012 bot einen ersten nützlichen Einblick in den Sumpf des klerikalen Fundamentalismus. Jetzt gibt es zu diesem Thema dankenswerterweise ein weiteres Büchlein mit einer bündigeren Darstellung und dem Titel »Deutschland treibt sich ab«. Die Autoren zeigen, dass die »Lebensschützer« sehr gut vernetzt sind, auch international. Das reicht von christlichen Gemeinden über Publikationen, Veranstaltungen, Jugend-, Ärzte- und Juristenverbände bis zu »Beratungs«-Stellen für Frauen und Aktionen. Dabei greifen sie bis ins Nazi-Spektrum aus und sind »selbst Teil der extremen Rechten«. Ein »wichtiges Sprachrohr der Bewegung«, schreiben die Autoren, ist die Wochenzeitung »Junge
Freiheit«, das zentrale Medium der Neuen Rechten. Es gibt Verbindungen zu Jürgen Elsässer, der mit seiner Zeitschrift »Compact« einen völkischen »Antikapitalismus« pflegt, sowie zu der Zeitung »Zuerst!«, die auch Nazi-Devotionalien vertreibt. Dazu existieren personelle Verflechtungen mit der weit rechts stehenden Partei Alternative für Deutschland. Und nebenbei helfen die Kindernahrungsfirma Hipp und der Schnullerhersteller Nuk gerne mit Tausenden Babyflaschen für Spendensammlungen aus. Neben den zentralen Organisationen wie dem Bundesverband Lebensrecht in Berlin gibt es den Verein EuroProLife, der selbst in Kirchenkreisen als »›Kampftruppe‹ am äußersten Rand der Kirche« gilt, oder die Piusbruderschaft aus dem klerikalfaschistischen Spektrum. Diese Nähe überrascht angesichts des Totalitätsanspruchs der »Lebensschützer« nicht, zumal sie selbst durch Verwendung des Kunstbegriffs »Babycaust« für Schwangerschaftsabbrüche den Holocaust relativieren. Im Mittelpunkt ihres ideologischen Angriffs steht das Recht der Frauen auf Schwangerschaftsabbruch und das Hochhalten der deutschen heterosexuellen Kleinfamilie mit der Frau als Gebärmaschine. Sie operieren mit Lügen und Übertreibungen, insbesondere bezüglich der Zahl der
Schwangerschaftsabbrüche und der physischen wie psychischen Folgen für die betroffenen Frauen. Der Sprung zu Rassismus (»drohender Volkstod« durch Zuwanderung) und zum Hass auf Homosexuelle und Transgender (»HomoLobby«) – sowie auf die 68er und die Linke im Allgemeinen – ist naturgemäß ein sehr kleiner. In ihrem Fazit weisen Eike Sanders, Ulli Jentsch und Felix Hansen zu Recht darauf hin, dass es den fundamentalistischen Kräften noch nicht gelungen ist, breiter in die Gesellschaft auszugreifen. Das kann sich allerdings schnell ändern. In Frankreich marschierten Anfang 2014 Zehntausende Klerikale und die Gefolgschaft des faschistischen Front National (FN) gegen die Homo-Ehe und bei den letzten Wahlen konnte der FN deutlich zulegen. Die konservative Regierung in Spanien wollte erst kürzlich mit einem Federstrich das Recht auf Schwangerschaftsabbruch gänzlich beseitigen und konnte nur durch eine Massenbewegung gestoppt werden. Es liegt an uns, ob es den »Lebensschützern« gelingt, sich weiter auszubreiten und Druck auf Parteien und Institutionen wie Kliniken auszuüben, oder ob wir ihnen mit Aufklärung und einer breiten Gegenbewegung den Raum dafür nehmen. ■
Gernot Ernst, Andreas Heinz | Die widerspenstige Materie.
BUCH DES MONATS Marx hat es getan, Kropotkin sowieso und heute kann es auch nicht schaden: Politische Diskussionen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen ergänzen. Ein neues Buch bietet dafür einen guten Einstieg VON THEODOR SPERLEA
★ ★★ BUCH | Gernot Ernst, Andreas Heinz | Die widerspenstige Materie. Neues aus der Naturwissenschaft und Konsequenzen für linke Theorie und Praxis | Schmetterling Verlag | Stuttgart 2013 | 240 Seiten |18 Euro
Schwerpunkte. Das ist selbst für Expertinnen und Experten nicht uninteressant geschrieben und behandelt auch topaktuelle und in Fachkreisen vieldiskutierte Fragen. Der marxistische Hintergrund der Autoren und die kritische Auseinandersetzung mit der Wissenschaft zeigen sich im Kapitel »Infektionen« besonders deutlich. Darin wird unter anderem die Blindheit der Schulmedizin für soziale
Gründe von Krankheiten herausgearbeitet. Im letzten Teil des Buchs führen die Autoren spielerisch und verständlich durch eine große Vielfalt von Ideen und Ergebnissen aus den Wissenschaften. Anhand von Themen wie Spieltheorie, Kompexitätsforschung, Selbstorganisation und ökonomischen Steuerungsformen werden die im Titel versprochenen »Konsequenzen für linke Theorie und Praxis«
entwickelt und enden oft in offenen Fragen. Ein Höhepunkt des Buches ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Schwarmintelligenz«. Sie wirft ein kritisches Licht auf kollektive Entscheidungsfindung und damit auch auf die Idee der direkten Demokratie. Ausgehend von ihrer wissenschaftlichen Analyse erarbeiten die Autoren konkrete Ratschläge für die Praxis: »Für linke Gruppen, die richtige Entscheidungen (so es sie gibt) anstreben, hat das erstmal paradoxe Schlussfolgerungen: Jede Diskussion sollte zunächst damit begonnen werden, dass jedes Gruppenmitglied sich allein eine Meinung bildet, und erst dann sollte man in die Gruppendiskussion eintreten.« Mit »Die widerspenstige Materie« haben Gernot Ernst und Andreas Heinz ein erstaunliches Buch geschrieben, das dem Publikum überraschend viele und unterschiedliche Fragestellungen der Wissenschaften auf wundervoll klare Weise näher bringt. Durch die Auswertung aktueller Ergebnisse aus Psychologie, Informatik, Gesellschaftswissenschaften und Ökonomie werden Kernthemen linker Bewegungen auf neue Art betrachtet und kritisch hinterfragt. Das Buch schafft den Spagat zwischen wissenschaftlicher Theorie und linker Praxis – etwas, das nicht viele Autoren wagen. Allerdings wird meine Euphorie von einigen Fehlern gedämpft, die bei einem Buch dieser Qualität nicht passieren sollten. Zum Teil sind Abbildungen in einer so schlechten Qualität, dass wichtige Details nicht erkennbar sind, zudem falsch oder gar nicht beschriftet und oft fehlt die Angabe der Quellen. Und auf keinen Fall sollte man dieses Buch nach seinem schlecht gestalteten Buchdeckel, mit lila Schrift auf schwarzem Grund, beurteilen: Das ist die kleine Made im ansonsten wunderbaren – und sehr zu empfehlenden – Apfel. ■
REVIEW
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iefe Gräben durchziehen die akademische Welt: Zum einen hat sich die recht willkürliche Trennung zwischen sogenannten Natur- und Geisteswissenschaften so sehr gefestigt, dass die beiden Gebiete nun unterschiedliche Sprachen sprechen. Zum anderen verlieren die Wissenschaften immer mehr den Kontakt zur Öffentlichkeit. Das sollten wir als Linke nicht einfach hinnehmen. Stattdessen sollten wir unsere politischen Diskurse viel häufiger mit neuen wissenschaftlichen Erkentnissen unterfüttern. Dafür setzen sich die Autoren Gernot Ernst und Andreas Heinz in ihrem Buch »Die widerspenstige Materie« ein. Zugleich bieten sie eine wundervolle Einführung in viele (natur-)wissenschaftliche Gebiete. Das Buch ist in drei Teile gegliedert, um auf den knapp 250 Seiten einen möglichst breiten Einblick in das Themengebiet zu geben. Im ersten Teil ermutigen die Autoren die Leserinnen und Leser, die wissenschaftlichen Ergebnisse, von denen im restlichen Buch berichtet wird, mit einer gesunden kritischen Einstellung zu lesen. Dazu verweisen die sie auf Grundlagen der Erkenntnistheorie und gehen darauf ein, wie stark der Einfluss sozialer Phänomene auf die wissenschaftliche Forschung ist. Mit einer Analyse der Ökonomisierung der Wissenschaften und des Drittmittelsystems bieten die Autoren einen Einblick in Prozesse, die zu vielen merkwürdigen Entwicklungen in den Wissenschaften führen. Solche Beispiele tragen dazu bei, den kritischen Blick auf die Wissenschaft zu fördern, denn »es kann nicht darum gehen, Wissenschaft abzulehnen oder ihr andererseits unkritisch zuzustimmen«. Der zweite Teil des Buches leitet die Leserinnen und Leser leichtfüßig durch neue Ergebnisse aus der Physik und der Biologie. Die Autoren liefern hier eine hervorragende Darstellung verschiedenster
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er USamerikanische Autor T.C. Boyle erzählt die Geschichte zweier Familien, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite kämpfen illegal Eingewanderte ums nackte Überleben, auf der anderen macht sich die gutsituierte Mittelschicht Sorgen um ihre Hunde und ein bisschen herumliegenden Müll. Delaney Mossbacher schreibt Artikel für ein Umweltmagazin und führt mit seiner Frau Kyra, einer erfolgreichen Immobilienmaklerin, und deren sechsjährigem Sohn ein finanziell sorgenfreies Leben. Sie wohnen in einem Villenvorort von Los Angeles. Die Siedlung ist umgeben von einer Mauer und Maschendrahtzaun, um wilde Tiere und Fremde, besonders Illegale und Schwarze, fernzuhalten. Unterhalb der Villensiedlung in einem Canyon am Fluss haust Candido Rincon mit seiner Frau América in einem selbstgebauten Verschlag. Sie kamen in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die USA. Da sie aber weder Papiere haben noch Englisch sprechen, bleiben für sie nur schlecht bezahlte, kurzfristige Jobs. Die Geschichte beginnt damit, dass Candido beim Überqueren einer Straße von Delaney angefahren und schwer verletzt wird. Als Delaney fragt, ob er helfen kann, lehnt Candido ab, streckt die Hand aus und sagt »Geld«. Eine Verständigung ist nicht möglich: Delaney spricht kein Spanisch und Candido kein Englisch. So drückt ihm Delaney zwanzig Dollar in die Hand und glaubt, sich von der Schuld befreit zu haben. Candido schleppt sich schwer verletzt in seine Behausung und die schwangere América muss für beide den Lebensunterhalt verdienen. Gegen den Willen ihres Manns macht sie sich auf die Suche nach Arbeit. Sie findet eine Stelle, bei der sie Buddhastatuen mit einer ätzenden Flüssigkeit reinigen muss. Am Ende betrügt der Arbeitgeber sie um einen Teil ihres Lohns und auf dem
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Mein Lieblingsbuch
VON MARX21LESERIN ERIKA MOURGUES
Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es alle einmal gelesen haben sollten? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »América« von T.C. Boyle
★ ★★ T.C. Boyle | América | dtv | München 1998 | 400 Seiten | 9,90 Euro
Heimweg wird sie vergewaltigt und ausgeraubt. Langsam erholt sich Candido von seinen Verletzungen und begibt sich wieder auf Arbeitssuche. Wenn er Geld verdient, versucht er, etwas zu sparen. Er hofft, eine Wohnung oder ein Zimmer mieten zu können, bevor das Kind geboren wird. Doch immer wieder wird er beraubt oder betrogen und steht mit leeren Händen da. Derweil beschließen die Privilegierten in der Villensiedlung, ihren Zaun zu erhöhen. Die Mossbachers stimmen nach anfänglichem Zögern zu, weil ein Kojote im Garten ihre Hunde gerissen hat. Sie machen sich aber auch Sorgen wegen der vielen mexikanischen Zugewanderten, die illegal hier leben: Kyra sorgt sich um den Wert der Immobilien und Delaney befürchtet weitere Umweltverschmutzung durch die Mexikaner – immer sieht er sie beim Müll herumlungern. Der Hass auf die Zugewanderten nimmt zu. Delaney beobachtet Candido und verdächtigt ihn, zu stehlen. Mit einer Pistole bewaffnet folgt er dem Einwanderer in den Canyon, um ihn zu stellen. In diesem Moment werden sie von einer gewaltigen Schlammlawine erfasst, die alles mit fortreißt. Delaney wird von Candido gerettet, doch dieser verliert seine neugeborene Tochter. »América« schildert sehr anschaulich die schier ausweglose Situation illegaler Migrantinnen und Migranten, die vor Armut und Gewalt in der Hoffnung auf Wohlstand in die USA geflohen sind. Zugleich gewährt der Roman Einblick in die Welt der ignoranten Mittelschicht mit ihrer ständigen Angst um ihren Besitz, den sie glaubt, mithilfe neuer Mauern schützen zu können.Mir gefiel an diesem Roman besonders die sehr lebensnahe Darstellung der beiden Protagonisten und die erzählerische Dynamik durch die Zuspitzung von Ereignissen. Beeindruckt hat mich auch, wie Boyle die Entstehung von Rassismus nachvollziehbar macht. ■
BUCH
Gerd Fesser | Deutschland und der Erste Weltkrieg
Großes Sterben im Zeitraffer Er wälzte ganz Europa um und veränderte die Welt. Ein neues Buch gibt einen ebenso knappen wie gehaltvollen Überblick über den Ersten Weltkrieg VON CHRISTIAN SCHRÖPPEL
in einem kurzen, aber sehr lesenswerten Kapitel des Buches. Ebenfalls sehr erhellend stellt Fesser dar, wie sich die SPD zum Krieg verhielt und welche Diskussionen innerhalb der politischen und industriellen Führung Deutschlands aufkamen. Dabei ging es unter anderem um die Frage, ob Deutschland vorrangig versuchen sollte, Territorien anderer europäischer Länder zu annektieren, oder ob ein Kontinentaleuropa unter deutscher Führung anzustreben sei, das sich den USA, dem britischen Empire und Russland handels- und machtpolitisch entgegenstellen könne. Die Nahrungsmittelknappheit, die Streiks im Laufe des Jahres 1918, das Wirken der linken Opposition um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und die Strahlkraft der Russischen Revolution auf die Länder Europas beleuchtet Fesser in ihrem Zusammenhang. Übrig bleibt eine Lücke, die wohl auch der knappen Darstellung geschuldet ist: Der Autor vertritt die Auffassung, die deutsche Reichsregierung trage die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges. Doch zugleich betont er, es habe ein »Zusammenwirken eines Bündels von Entwicklungen und Faktoren« gegeben. Aus der Darstellung in »Deutschland und der Erste Weltkrieg« ist die These einer solchen »Komplexität der Kriegsursachen« jedoch keineswegs zwingend herzuleiten.
Waren nun die Regierung oder die Umstände schuld? Der scheinbare Widerspruch ließe sich wie folgt auflösen: Geraten die systemischen Zwänge der internationalen Konkurrenz in Widerspruch zu den Interessen der Mehrheit der Menschen, so ist eine umso entschlossenere Führung nötig, um diese Zwänge durch Unterdrückung, Ideologie und konkretes Handeln durchzusetzen. Die Regierung Deutschlands hat sich in diesem Sinne als eine konsequente Vollstreckerin des kapitalistischen Systems erwiesen. Sie als Hauptschuldige des Ersten Weltkriegs zu bennenen, ist in diesem Sinne auch ein Anklagen des Kapitalismus. Fessers Buch ist eine sehr gelungene und vor allem auch gut lesbare Abhandlung über de Ersten Weltkriegs. Es bietet einen ausgezeichneten Blick hinter die Kulissen des militärischen Geschehens und hilft, die Diskussion über die Kriegsschuld Deutschlands und ihrer Bedeutung auf einer soliden Basis zu führen. ■
★ ★★ BUCH | Gerd Fesser | Deutschland und der Erste Weltkrieg |PapyRossa Verlag | Köln 2014 | 123 Seiten | 9,90 Euro
REVIEW
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s sei »kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg... Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm.« Das schrieb Friedrich Engels im Jahr 1887. Knapp dreißig Jahre später, im Jahr 1914, begann der Erste Weltkrieg. Zehn Millionen Soldaten und sieben Millionen Zivilistinnen und Zivilisten starben durch Kriegshandlungen, etwa zwanzig Millionen Soldaten wurden verwundet. Auf nur 123 Seiten stellt der Historiker Gerd Fesser die Geschichte dieses Kriegs dar. Fesser beschreibt die ihm vorausgehende Hochrüstung der imperialistischen Mächte ebenso wie die Rolle Österreich-Ungarns und das »perfide Intrigenspiel« des deutschen Reichskanzlers bei seinem Versuch, den Angriffskrieg als Verteidigungskrieg darzustellen. Er widerspricht der gegenwärtig wieder vertretenen These, wonach die europäischen Regierungen »in den Krieg hineingeschlittert« seien. Zudem verweist er darauf, dass von einer klassenübergreifenden Euphorie über den Kriegsausbruch keine Rede sein kann. Vielmehr habe sich die Kriegsbegeisterung auf das Bürgertum und die »Intelligenz in den Großstädten« beschränkt. Die »Kultur im Kriege« beschreibt der Autor
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BUCH
Harald Klimenta, Andreas Fisahn u.a. | Die Freihandelsfalle. Transatlantische Industriepolitik ohne Bürgerbeteiligung – das TTIP
Alles wird Ware Seit vor einigen Monaten Details aus Geheimverhandlungen über das Handelsabkommen TTIP an die Öffentlichkeit kamen, reißt der Protest gegen die geplante Freihandelszone nicht ab. Ein neues Buch informiert über Inhalt, Hintergründe und Alternativen des Vertrags VON CARLOS APARICIO
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★ ★★ BUCH | Harald Klimenta, Andreas Fisahn u.a. | Die Freihandelsfalle. Transatlantische Industriepolitik ohne Bürgerbeteiligung – das TTIP | Attac Basistexte 45 | VSA Verlag | Hamburg 2014 | 128 Seiten | 9 Euro
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er Plan der europäischen und US-amerikanischen Regierungen, durch Verhandlungen hinter verschlossenen Türen eine öffentliche Debatte über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zu verhindern, ist nicht aufgegangen. Es gründete sich eine europaweite Bürgerinitiative, die zusammen mit anderen Organisationen Widerstand organisiert. Denn aus den durchgesickerten Informationen wird vor allem eines deutlich: Es existiert eine große Kluft zwischen dem, was sich die Mehrheit der Menschen wünscht, und dem, was Regierungen vertreten und aushandeln. In »Die Freihandelsfalle«, koordiniert von Harald Klimenta und Andreas Fisahn, beschäftigen sich achtzehn Autorinnen und Autoren mit verschiedenen Aspekten der geplanten Freihandelszone. Am Anfang wird die Funktionsweise eines Freihandelsabkommens erklärt und die vielfältigen Formen werden vorgestellt, die solche Abkommen in der Vergangenheit angenommen haben. Drei Punkte, so wird bei der Lektüre des Buchs klar, unterscheiden das geplante Abkommen von früheren Vereinbarungen. Erstens ist der Nutzen des Vertrages für die unterzeichnenden Länder ungewiss, »da weder die Wirtschaftstheorie noch die Empirie zweifelsfrei belegen kann, dass Freihan-
del ein Segen für die beteiligten Handelsnationen ist«. Zudem erscheine es angesichts bereits bestehender Abkommen wie GATT oder WTO für den Warenhandel überflüssig. Zweitens liegen diesem Freihandelsvertrag eindeutig ideologische und geostrategische Interessen der beteiligten Staaten zugrunde, doch werden wirtschaftliche Beweggründe vorgeschoben. Drittens behandelt das Abkommen Dienstleistungen, darunter Aufgaben der staatlichen Daseinsvorsorge, und auch Rechte als Waren, die den Gesetzen des Marktes unterworfen werden müssen. TTIP und andere geplante Handelsabkommen wie CETA und TISA zielen darauf ab, »Handelshindernisse« abzubauen – das bedeutet die Abschaffung von Gesetzen, die den Profiten der Konzerne im Weg stehen: Regulierungen wie Qualitätsstandards, Verbraucherinnen- und Verbraucherschutz, Umweltschutz, öffentliche Auftragsvergabe oder Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dürften nicht gegen den Willen der Unternehmen bestehen. Die demokratischen Aktions- und Kontrollmöglichkeiten würden zugunsten der Profite von Konzernen stark eingeschränkt. Diese Deregulierungen lassen Arbeiterinnen und Arbeiter, Umwelt und persönliche Daten der Menschen völlig schutzlos zurück. Die Konsequenzen aus dem Abschluss des Abkom-
mens werden in dem Buch »Die Freihandelsfalle« sorgfältig und kritisch beschrieben. Nach der Analyse des Inhalts des Abkommens sowie dessen Bedeutung vom wirtschaftlichen und politischen Standpunkt aus gesehen gehen die Verfasserinnen und Verfasser auch auf die wichtigsten Akteurinnen und Akteure beim Zustandekommen des Handelsvertrags ein. Dabei beleuchten sie auch die Rolle, die Widerstände der Bevölkerung in den Verhandlungsprozessen spielen. Dass es auch anders gehen könnte, beschrieben die Autorinnen und Autoren anhand des alternativen Handelsmandats (Alternative Trade Mandate, ATM), das einen gemeinsamen, gerechten, umweltfreundlichen und allem voran demokratischen Handelsraum eröffnen könnte. Das im Rahmen der Reihe »Attac Basistexte« erschienene Buch bietet eine sehr breite Palette von Analysen und Ausblicken. Es ist sowohl für den eigenen Überblick als auch als Grundlage für Debatten sehr zu empfehlen. Denn nur mit offenen Diskussionen und kollektiven Aktionen können wir uns gegen ein Aushebeln der Demokratie wehren. ■
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Soziologin Eva Eichinger forscht über Selbsttötungen und kann die These belegen: »Männlichen Suiziden haftet häufig etwas Heldenhaftes an, sie werden entweder heroisiert oder kriminalisiert. Weibliche Suizide hingegen werden oft in Zusammenhang mit Beziehungen gebracht, Frauen gelten als Opfer und werden entsprechend pathologisiert. Das spiegelt sich auch in den Suizidraten wider, wonach sich Männer viel häufiger suizidieren, Frauen hingegen häufiger Suizidversuche unternehmen würden.« Lesenswert.
Im Februar findet die erste Landtagswahl des Jahres 2015 statt: In Hamburg wird die Bürgerschaft neu gewählt. Passend hierzu hat das statistische Amt Hamburg kürzlich eine Analyse der Kommunalwahl vom Mai 2014 veröffentlicht. Sie ist vor allem deswegen interessant, weil die Wählerinnen und Wähler damals kumulieren und panaschieren, also ihre Stimmen auf Kandidatinnen und Kandidaten verschiedener Parteien verteilen durften. In einem Beitrag für das Portal »vorortLINKS« (03.10.2014) hat sich Manfred Goll die Zahlen einmal genauer angeschaut. Das überraschende Ergebnis: DIE LINKE schneidet vor allem in den Hochburgen der Grünen überdurchschnittlich stark ab. Einem gesellschaftlich eher tabuisierten Thema widmet sich die aktuelle Ausgabe des feministischen Magazins »an.schläge« (November 2014), nämlich dem Suizid. »Selbsttöten und Überleben haben ein Geschlecht« heißt es auf der Titelseite. Die
QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21-Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Publikationen
★ ★★ WEBLINKS Wirschaftsjournalist: www.wirtschaftsjournalist-online.de vorortLINKS: www.vorort-links.de an.schläge: anschlaege.at Freitag: www.freitag.de Kunst, Spektakel und Revolution: http://spektakel.blogsport.de
Mal wieder Zeitungskrise: Das Verlagshaus Gruner und Jahr kündigt die nächste Entlassungswelle an. Diesmal trifft es die »schreibenden Redakteure« der Zeitschriften »Brigitte« und »Geo«. Katja Kullmann sieht darin einen allgemeinen Trend zum »Verlag ohne Redakteure«. In ihrem Artikel »Nullen und Nadelstreifen« (»Freitag«, 06.11.2014) zeigt sie auf, dass Zeitschriften immer häufiger von einem kleinen, aber »agilen, kreativen und flexiblen Kompetenzteam ausgedacht und produziert« würden. Diejenigen, »die die Ware dann faktisch herstellen, die neudeutsch den Content liefern, ohne die es die zu vermarktenden Güter gar nicht gäbe, ohne die der Verlag blank dastünde«, gelten hingegen in den Führungsetagen der Verlagshäuser als verzichtbar und würden entsprechend behandelt. Seit dem Jahr 2009 findet in Weimar die Veranstaltungsreihe »Kunst, Spektakel und Revolution« statt. In loser Reihenfolge werden die dort gehaltenen Vorträge als Broschüre in ansehnlicher Gestaltung veröffentlicht. Nun ist Heft 4 erschienen. Es widmet sich – anhand von Figuren wie Hölderlin, Heine oder Rimbaud – dem Verhältnis von Dichtung und Revolution im 19. Jahrhundert. ■
REVIEW
eht das? Kommunist sein und für’s Kapital schreiben? Offenbar schon: DKP-Mitglied Lucas Zeise war jahrelang Ressortleiter bei der »BörsenZeitung« und der »Financial Times Deutschland«. Der »Wirtschaftsjournalist« (Nr. 4/2014) hat nun »Das irre Doppelleben des Lucas Zeise« zur Titelgeschichte seiner aktuellen Ausgabe gemacht. Zeise selbst sieht keinen Widerspruch zwischen Job und politischer Aktivität: »Marxisten sind ja der Meinung, dass man die Gesellschaft am besten erklären kann, wenn man die Ökonomie versteht. Und im Zentrum des Ökonomischen steht im Kapitalismus nun mal der Finanzsektor. Insofern ist das nicht nur als Journalist, sondern auch als Marxist der interessanteste Bereich, in dem man tätig sein kann.«
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Preview Š Bundesarchiv Bild 146-1981-046A-14 / wikimedia
BUCH
Florian Wilde | Ernst Meyer – ein vergessener Parteiführer
Der Erfinder der Einheitsfront Ernst Meyer rückte im Jahr 1921 an die Spitze der Kommunistischen Partei Deutschlands. Unter seinem Einfluss entwickelte die Partei bald eine neuartige Bündnisstrategie. Nun stellt ein Buch den vergessenen Parteivorsitzenden vor VON MARCEL BOIS tik. Denn die fiel in genau jene Phase, in der Meyer Parteivorsitzender war. Damals ebbten die großen revolutionären Wellen nach dem Ersten Weltkrieg langsam ab. In Deutschland orientierte sich die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter weiterhin an der SPD. Meyer und seine Genossinnen und Genossen standen also vor der Frage, wie sie diese Menschen für den Kommunismus gewinnen könnten – und entwickelten eine neuartige Bündnisstrategie. Ihre Idee lautete: Es müsse eine gemeinsame Praxis geben, in der die KPD zeigen könne, dass sie am entschiedensten für die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter kämpfte. Wenn die SPD etwa höhere Löhne forderte, musste die KPD sie auffordern, gemeinsam für dieses Ziel auf die Straße zu gehen. Weigerte sich die Sozialdemokratie, auf dieses Angebot einzugehen, stellte sie sich selbst vor ihren Anhängerinnen und Anhängern bloß. War sie zu gemeinsamen außerparlamentarischen Aktionen bereit, würden diese Aktionen den Arbeiterinnen und Arbeitern zeigen, dass sie durch ihre eigene Kraft viel mehr bewirken können, als wenn sie darauf warten, dass jemand anders für sie etwas im Parlament erreicht. Die Taktik funktionierte: Mit der Einheitsfrontpolitik erlebte die KPD ihre erfolgreichsten Zeiten. Sie gewann sowohl Mitglieder als auch Wählerinnen und Wähler hinzu. Den Weg zu dieser fruchtbaren Strategie zeichnet Wilde anhand des Wirkens von Ernst Meyer nachvollziehbar nach. Das ist mehr als nur ein weiterer Mosaikstein in der Geschichte der KPD. Denn aus den damaligen Strategiedebatten lässt sich zudem für die heutige Politik noch etwas lernen. Florian Wildes umfangreiche Doktorarbeit über Meyer steht bereits unter dem Titel »Ernst Meyer (1887-1930) – vergessene Führungsfigur des deutschen Kommunismus« frei verfügbar im Internet. Anfang des Jahres 2015 wird eine gekürzte Version als Buch erscheinen. ■
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BUCH | Florian Wilde | Ernst Meyer – ein vergessener Parteiführer | Mit einem Vorwort von Hermann Weber | Dietz-Verlag, Berlin | Ca. 440 Seiten, 39,90 Euro | Erscheint Anfang 2015
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Einheitsfrontstrategie: Mit Kampagnen die Wirklichkeit verändern Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 - Jetzt anmelden! www.marxismuss.de
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er Zusammenbruch des »Ostblocks« hat der Geschichtswissenschaft ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Streng geheime Dokumente sind seitdem frei zugänglich, etwa aus dem umfangreichen Parteiarchiv der Anfang 1919 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Deren Geschichte ist dementsprechend in zahlreichen Arbeiten neu erforscht und aufgearbeitet worden. In diesem Zusammenhang sind auch einige biografische Werke veröffentlicht worden. Historikerinnen und Historiker haben beispielsweise die Lebenswege von Heinrich Brandler, Paul Levi, Ruth Fischer und Werner Scholem nachgezeichnet. All diese Figuren eint, dass sie zeitweilig zum engsten Führungskreis der KPD gehörten, irgendwann aber mit der Partei brachen. Dementsprechend wurden sie in der DDR zu Unpersonen, auch im Westen gerieten sie in Vergessenheit. Das gilt auch für Ernst Meyer, dem der Berliner Historiker Florian Wilde nun ein äußerst lesenswertes Buch gewidmet hat. Der im Jahr 1887 geborene Meyer spielte zwei Jahrzehnte lang eine herausragende Rolle im linken Flügel der deutschen Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs zählte er zu dem Kreis um Rosa Luxemburg, der die Spartakusgruppe gründete. Als nach dem Krieg die KPD entstand, rückte er kurz darauf in deren Führung auf. In den Jahren 1921/22 war er sogar Parteivorsitzender. Später – Ernst Thälmann leitete bereits die KPD und deren Abhängigkeit von Moskau wurde immer größer – geriet Meyer zunehmend in Opposition zu diesem Kurs. Bis zuletzt blieb er seiner Überzeugung treu und starb, innerparteilich isoliert, Anfang des Jahres 1930. Florian Wilde hat bislang unbekannte Details aus Meyers Leben zusammengetragen und dessen Kampf für die innerparteiliche Demokratie nachgezeichnet. Darüber hinaus widmet er sich ausführlich der Entstehung der sogenannten Einheitsfrontpoli-
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KONGRESS | Zukunftskongress der LINKEN vom 23. bis 26. April 2015 in Berlin
»Neue strategische Anker« Wir können die Welt von Grund auf verändern. Aber dazu müssen wir gemeinsam die nächsten Schritte entwickeln, findet Katja Kipping. Und lädt zum Zukunftskongress der LINKEN ein INTERVIEW: CARLA ASSMANN Katja, du und Bernd Riexinger habt für den 23. bis 26. April 2015 einen Zukunftskongress angekündigt. Was kann ich mir darunter vorstellen? Wir wollen in die Diskussion um eine Zukunft jenseits des neoliberalen Finanzkapitalismus eingreifen und linke Alternativen stärken. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Was sind Schritte zu einem demokratischen, grünen, lustvollen Sozialismus? Linke Strategiedebatten schwanken oft zwischen zwei Extremen: kleinteiligen Abwehrkämpfen und weitreichenden Utopien. Aber zwischen der nüchternen Analyse des Bestehenden und einem Gegenentwurf, der mobilisiert und motiviert, klafft oft eine große Leerstelle. Hier muss das gemeinsame Nachdenken über einen Pfadwechsel ansetzen. Kannst du das konkretisieren? Das Ganze ist ja erst im Werden und wir wollen noch Ideen aus der Partei aufgreifen. Aber ich kann es an einem Beispiel erläutern: dem Kinderprivileg. Dieses Konzept habe ich in einem Papier zur Debatte gestellt. Die Idee des Kinderprivilegs ist es, alle Kinder gleichzustellen: Gewisse öffentliche Güter, wie Zugang zu Sportvereinen, Bus- und Bahnfahrt werden Kindern frei zur Verfügung gestellt. So führen wir Gleichheit schrittweise ein. Der Nachteil, die Fokussierung auf Kinder, liegt auf der Hand. Der Vorteil ist, dass man damit an bestehendem Alltagsempfinden und an einzelnen, bereits akzeptierten Regelungen anknüpfen kann. So gewöhnen wir die Gesellschaft Schritt für Schritt daran, dass Gleichheit in einem elementaren Sinn neu gelebt werden kann. 82
KATJA KIPPING
Katja Kipping ist Vorsitzende der Partei DIE LINKE und sozialpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion. ★ ★★ KONGRESS Der Zukunftskongress der LINKEN wird vom 23. bis 26. April 2015 in Berlin stattfinden. Es ist ein Blog eingerichtet, bei dem alle eingeladen sind, mitzudiskutieren. Er ist unter http://zukunftskongress2015.die-linke.de/ zu erreichen
Und warum gerade jetzt? DIE LINKE ist im Kampf gegen die Agenda 2010 und gegen den Neoliberalismus groß geworden. Dass jetzt der Mindestlohn – wenn auch löchrig – kommt, ist unser Erfolg. Aber wir merken, dass der Bezug auf den Kampf gegen die Agenda 2010 nicht mehr alleine als Identifikationsthema trägt. Wir brauchen neue strategische Anker. Im Aufruf zum Kongress steht: »Demokratisch-sozialistische Politik sollte ihre Poesie aus der Zukunft ziehen?« Wofür braucht Politik Poesie?
Das ist eine Anspielung auf Marx‘ »18. Brumaire«. Darin sagt Marx, dass die Arbeiterbewegung im Gegensatz zu vorherigen Bewegungen ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft zieht. So wichtig Abwehrkämpfe sind, so sehr brauchen wir auch eine Vorstellung davon, dass die Welt ganz anders sein könnte, dass wir die Zwänge des Kapitals überwinden können. Deshalb braucht sozialistische Politik das utopische, das überschießende Moment – die Poesie. Wer soll an dem Kongress teilnehmen? Der Kongress richtet sich nicht nur an Mitglieder der LINKEN – wir hoffen auch auf kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und auf Heldinnen und Helden des Alltags, die sich dissident verhalten: Sei es der Jobcenter-Mitarbeiter, der keine Sanktionen anordnet, sei es die Polizistin, die die Residenzpflicht reisender Asylbewerberinnen und -bewerber übersieht, sei es die Netzaktivistin, die gegen Überwachung kämpft. Wer diese Gesellschaft sozialer, friedlicher, ökologischer und demokratischer machen will, ist herzlich eingeladen, mitzudiskutieren. Sind schon Schwerpunkte geplant? Ja, der Kongress soll sich an fünf Themensäulen orientieren: 1. Zukunft der gesellschaftlichen Arbeit; 2. Gleichheit als Chance; 3. Zukunft der Daseinsvorsorge/ Commons; 4. Zukunft der Produktion/ sozial-ökologischer Umbau; 5. Aneignung der Demokratie/ Partei der Zukunft. Kann man noch Themen einbringen? Das kann man und das ist auch sehr gewünscht. Vorschläge können direkt an kongress@die- linke.de geschickt werden. Oder besucht den Blog »Zukunftskongress 2015«. ■