marx21 Ausgabe Nummer 39 / 01-2015

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marx21 01/2015 | FRÜHJAHR | 4,50 EURO | marx21.de

Pegida und AfD Warum ihr Rassismus so gefährlich ist

Magazin für internationalen Sozialismus

Werner Schiffauer erklärt, wie der Islam zum Feindbild gemacht wird

KeeangaYamattha Taylor

über die neue antirassistische Bewegung in den USA

»Der Innerschweizer« Eine alternative Geschichte der 1980er Jahre

Kerstin Wolter

stellt den Frauen*kampftag vor

Terrorismus Der Krieg der Armen Kitas Wie den Streik der Erzieherinnen unterstützen?

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Chancen und Gefahren für den Widerstand gegen Merkels Spardiktat.

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LINKE HOFFNUNG FÜR EUROPA?

01

Kultur Kunst braucht Bewegung

Österreich 4,70 EURO SCHWEIZ 7,50 CHF

Vergessener Satiriker Rudolf Franz war seiner Zeit voraus


Brasilien Gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr gehen Anfang Januar in der Millionenstadt São Paulo Tausende Menschen auf die Straße.

CC BY -NC-S

A / flic

kr.com

Die Tarife für die Busfahrscheine sind um umgerechnet 16 Cent auf 1,12 Euro erhöht worden. Ähnlich stiegen auch die Preise für Fahrten mit der U-Bahn und dem Schienennahverkehr. Viele Menschen sind auf den öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen, um von Wohngebieten mit erschwinglichen Mieten zu ihren Arbeitsplätzen in der Innenstadt zu gelangen. Auch in anderen brasilianischen Städten gab es Proteste gegen steigende Preise im Nahverkehr.

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Bereits im Sommer 2013 hatte eine Massenmobilisierung in São Paulo geplante Fahrpreiserhöhungen verhindern können. Diesmal ging die Polizei mit Tränengas und Festnahmen gegen die Demonstrierenden vor. Doch die lassen sich nicht einschüchtern – im Gegenteil: Sie fordern einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr.


Liebe Leserinnen und Leser,

IN EIGENER SACHE

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och nie hat ein Artikel auf marx21.de so viel Aufsehen erregt wie die Stellungnahme unseres Onlineredakteurs Hans Krause zu den Attentaten in Paris. Mit mehr als 25.000 Zugriffen ist es der meistgelesene Beitrag seit Bestehen unserer Homepage. Die Zuschriften und Facebook-Kommentare reichten von überschwänglichem Lob bis hin zu wüsten Beschimpfungen. Einige der konstruktiven Kritiken findet ihr auf Seite 7. Das Titelthema dieser Ausgabe schien lange Zeit gesetzt. Mit der Pegida-Bewegung erlebte Deutschland die zahlenmäßig wohl größte rassistische Mobilisierung der Nachkriegsgeschichte. Doch dank Zehntausender, die sich den Aufmärschen in vielen Städten in den Weg stellten, scheint Pegida vorerst gestoppt zu sein. Die Gefahr, die von Rassistinnen, Rassisten und Nazis ausgeht, ist hingegen noch lange nicht gebannt. Deshalb haben wir den Schwerpunkt zum Thema beibehalten. Ihr findet ihn ab Seite 32. Das entsprechende Titelbild ist jedoch auf die Rückseite des Magazins gewandert. Auf das Cover haben wir stattdessen ein Thema genommen, dass derzeit nicht nur den Herrschenden, sondern auch der Linken in Europa Kopfzerbrechen bereitet. Der Wahlsieg der griechischen Syriza und die Aussicht darauf, dass ihr die spanische Linkspartei Podemos schon bald folgen könnte, werfen viele Fragen auf. Stellt die Regierungsübernahme eine Chance dar, mit der Austeritätspolitik in Europa zu brechen, oder werden sich die Linken zwangsläufig anpassen und mit faulen Kompromissen zufriedengeben? Wie soll der Widerstand auf der Straße und in den Betrieben wachsen, wenn die Hoffnungen der Menschen sich allein auf die Regierung richten? In unserem Titelthema »Linke Hoffnung für Europa?« geben wir Antworten. Los geht's ab Seite 16. Doch nicht nur auf dieser Seite des Atlantiks verspricht das Jahr 2015 spannend zu werden. In den USA ist ausgehend vom kleinen Städtchen Ferguson eine Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt entstanden, die das Potenzial hat, zu einer neuen Bürgerrechtsbewegung heranzureifen. Ab Seite 52 erklärt die Wissenschaftlerin und Aktivistin Keeanga-Yamahtta Taylor die Wurzeln der Bewegung und beschreibt die Herausforderungen, vor der sie steht.

MARX IS' MUSS 2015 4 Tage, 100 Veranstaltungen, 1 Kongress Der Kongress findet dieses Jahr über Himmelfahrt (14. bis 17. Mai) in Berlin statt. Anmelden kannst du dich ab sofort auf www.marxismuss.de. Mit einer frühzeitigen Anmeldung hilfst du uns dabei, die Kosten für das Werbematerial zu finanzieren. Wir bedanken uns mit einem Frühbucherrabatt.

Keeanga spricht übrigens neben vielen anderen internationalen Rednerinnen und Rednern auch auf unserem diesjährigen Kongress »MARX IS' MUSS 2015«. Das vollständige Programm ist bereits online – so früh wie noch nie. Ihr findet es auf www.marxismuss.de. Noch eine weitere erfreuliche Nachricht, die wir euch nicht vorenthalten wollen: Klaus Stuttmann, dessen Zeichnungen ihr in jeder Ausgabe auf unserer Kommentar-Doppelseite sehen könnt, ist mit dem Deutschen Karikaturenpreis ausgezeichnet worden. Die Gewinner-Karikatur gibt es auf Seite 15 zu bestaunen. Eure Redaktion

Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post.

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Fotostory: Anti-Guantanamo

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Ukraine: Eine tödliche Spirale

14 10 Terrorismus: Der Krieg der Armen

AKTUELLE ANALYSE

Titelthema: Linke Hoffnung für Europa?

Schwerpunkt: Wehret den Anfängen

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17 Griechenland: »Das ist eine gute Nacht, Frau Merkel« Von Leandros Fischer

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Terrorismus: Der Krieg der Armen Von Volkhard Mosler

Unsere Meinung 14

Ukraine: Eine tödliche Spirale Kommentar von Klaus Henning

15 Görlitzer Park: Das Problem heißt Verdrängung Kommentar von Martin Haller

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Sieben Irrtümer über die Krise in Griechenland Von Antonella Muzzupappa und Sabine Nuss

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Syriza-Regierung: Ein strategisches Problem Von Alex Callinicos

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Merkels Zwickmühle Von Catarina Príncipe

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Podemos: Können wir? Von Miguel Sanz Alcántara

Pegida: Ein Alarmsignal Von Yaak Pabst

36 Begriffsklärung: Rassismus in Bewegung Von Jan Maas 40

»Es wird gezielt eine Feindbildideologie aufgebaut« Interview mit Werner Schiffauer

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»Nie wieder, egal wen es trifft« Von Armin Langer

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Wie hältst du’s mit der Religion? Von Kate Davison


52 USA: Ferguson ist überall

Kultur: Kunst braucht Bewegung

67 56 Streik in der Kita? Eine Erzieherin im Interview

Internationales

GESCHICHTE

Rubriken

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64 Rudolf Franz: Ästhetik und Widerstand Von Ralf Hoffrogge

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Briefe an die Redaktion 08 Fotostory 50 Weltweiter Widerstand 62 marx21 Online 63 Was macht das marx21-Netzwerk? 70 Review 79 Quergelesen 80 Preview

USA: Ferguson ist überall Von Keeanga-Yamahtta Taylor

BETRIEB & GEWERKSCHAFT Kultur Erzieherinnen: »Uns unterstützen viele, die nicht direkt betroffen sind« Interview mit Songül Baspinar

Frauentag 58

»Kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung« Interview mit Rhonda Koch

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Kunst braucht Bewegung Von Phil Butland

neu auf marx21.de

Ikone einer Bewegung Vor 50 Jahren wurde Malcolm X ermordet. Wir blicken zurück auf sein politisches Leben. Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

INHALT

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 9. Jahrgang, Heft 39 Nr. 1, Frühjahr 2015 ISSN 1865-2557 www.marx21.de Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Marcel Bois, Clara Dirksen, Martin Haller, David Jeikowski, Ronda Kipka, Christina Müller, Yaak Pabst (V.i.S.d.P.) Lektorat Marcel Bois, Clara Dirksen, Mona Mittelstein, Rosemarie Nünning, David Paenson, Irmgard Wurdack Übersetzungen Loren Balhorn, Rabea Hoffmann, Rosemarie Nünning, David Paenson Layout Georg Frankl, Christina Müller, Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara Covergestaltung Francina Cortes, Yaak Pabst, Karsten Schmidt Redaktioneller Beirat Christine Buchholz, Michael Ferschke, Stefanie Graf, Ole Gvynant, Werner Halbauer, Rabea Hoffmann, Christoph Hoffmeier, Sven Kühn, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Heinz Willemsen, Irmgard Wurdack Redaktion Online Nora Berneis, Ole Gvynant (verantw.), Hans Krause, Jan Maas, Paula Schulte, Stefan Ziefle Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 1. Mai 2015 (Redaktionsschluss: 17.04.)

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Christina Müller, Redakteurin

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ie erste politische Auseinandersetzung führte Christina mit zehn Jahren. Damals erklärte sie ihrem streng katholischen Klassenlehrer, dass es so etwas wie einen Gott nicht geben könne. Christinas Eltern hatten sie nach emanzipatorischen Grundsätzen erzogen und ihre Tochter ermutigt, die eigene Meinung zu vertreten. Das kam nicht immer gut an im ebenso idyllischen wie konservativen Vorarlberg in den österreichischen Alpen. Als sie in der katholischen Mädchenschule feministische Positionen vertrat und die Rechte der Schülerinnen verteidigte, drohte die Direktion ihr mit Rauswurf – erfolglos. Stattdessen wurde Christina zur Schulsprecherin gewählt. Mit offiziellem Mandat führte sie die Auseinandersetzung mit der Schulleitung fort und setzte sich für Gleichberechtigung und gegen Rassismus ein. Noch fünf Mal sollte sie wegen ihres politischen Engagements von der Schule verwiesen werden, nie gelang es. »Das war meine Feuertaufe im Kampf gegen das herrschende System«, sagt Christina. Während ihres Studiums in Innsbruck engagierte sie sich vor allem im Verband Sozialistischer Student_innen in Österreich (VSStÖ). Nebenbei leitete sie mit den Tiroler Freiheitskämpfer_innen ein Forschungsprojekt über vergessene Verbrechen der Wehrmacht an Deserteuren und politisch Widerständigen. Im Jahr 2013 verlagerte sie den Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit nach Berlin und ist nun bei Die Linke.SDS aktiv. An der Universität Potsdam studiert sie »military studies«. Als linke Frau übernimmt sie dort wieder einmal die Oppositionsrolle. Trotzdem bleibt ihr noch genug kämpferische Energie für die Redaktionsarbeit: Seit vergangenem Herbst layoutet und schreibt sie für uns. In diesem Heft seht ihr die Ergebnisse zum Beispiel auf den Seiten 8 und 58.

Das Nächste Mal: Nora Berneis 6


Zum Artikel »Sind wir alle ›Charlie Hebdo‹?« von Hans Krause (marx21.de, 09.01.2015) Schade, dass ihr das Bild eines Karikaturisten verwendet, der in der Vergangenheit häufig mit holocaustrelativierenden und geschichtsrevisionistischen Werken aufgefallen ist. Ihr spielt auf die angebliche »Antisemitismuskeule« an, aber unterschlagt, dass »Charlie Hebdo« ebenso das Judentum auf die Schippe genommen hat. Marc Jarrón, auf unserer Facebook-Seite Die Aussage »Charlie Hebdo« habe »dazu beigetragen, dass der Hass auf Muslimas und Muslime mittlerweile bis in linke Kreise hinein ›zum guten Ton‹ gehört«, halte ich für harten Tobak. In der französischen Linken gibt es tatsächlich eine weit verbreitete Position, den Laizismus zu verteidigen – aber Hass auf Muslimas und Muslime ist etwas anderes. Hans scheint »Charlie Hebdo« und die französische Linke nicht besonders gut zu kennen. Beispielsweise nimmt die linksliberale »Libération« Anhängerinnen und Anhänger des Islam vor der Aufforderung in Schutz, sich pauschal von den Tätern zu distanzieren. Problematisch ist auch das unreflektierte Weiterposten von aus dem Kontext gerissenen Karikaturen, so dass sie nur als Apologie neokonservativer Think-Tanks in den USA und PI News in Deutschland erscheinen können. Stattdessen wäre eine Auseinandersetzung mit dem Umgang der französischen Linken mit Religion und Laizismus notwendig, um die Karikaturen einzuordnen. Vor allem die Karikatur, die den Artikel bebildert, halte ich für sehr unglücklich. Hans erklärt zu Recht, dass Satire nach Tucholsky als Erstes die Herrschenden angreifen soll. Die Karikatur suggeriert, dass Jüdinnen und Juden zu den Herrschenden gehören oder zumindest mit ihnen in Verbindung stehen. Das ist falsch, denn sie leben ebenso wie Muslimas und Muslime als Minderheiten in Frankreich. Beide sind von rechten Anfeindungen und Übergriffen

betroffen. Leider bietet der Artikel keine Basis, um mit all denjenigen, die nun aus Solidarität mit den Opfern »Wir sind Charlie« sagen, gemeinsam in Aktion gegen Rassismus und Islamfeindlichkeit zu kommen. Voraussetzung dafür wäre es, die Ursachen für solche Attentate zu diskutieren. Die Ursache liegt dabei nicht bei »Charlie Hebdo«, sondern in einer Politik, die Angehörige des Islam im Westen unterdrückt und im Nahen Osten seit Jahren Krieg gegen sie führt. Die Zahl der weltweiten Anschläge hat erst seit dem Beginn des Irakkriegs im Jahr 2003 massiv zugenommen. Meist finden sie nicht in westlichen Staaten statt und die häufigsten Opfer sind Muslimas und Muslime. Wir brauchen deshalb eine Bewegung, die die Kriege des Westens beendet und sich hier uneingeschränkt und schützend vor Minderheiten stellt. Dirk Spöri, Freiburg Egal ob Boko Haram, Papst, Nazis oder Sarrazin – ich finde, sie alle haben es verdient, ausgelacht und verspottet zu werden. Das ist auch kein Widerspruch zu Kurt Tucholsky, denn ihre Worte und Taten befördern Herrschaft und Unterdrückung. Ich bin kein Leser von »Charlie Hebdo«, aber ich finde die Karikaturen in Ordnung, wenn sie sich in angemessenem Verhältnis auch gegen Rassismus und Islamophobie wenden. Wir brauchen eine Bewegung gegen Rassismus, für Presse- und Satirefreiheit sowie die Weltlichkeit des Staates. Michael Bruns, auf unserer Facebook-Seite

Zum Leserbrief von Torben Zahradnicky aus Nidderau (Heft 5/2014) Torben Zahradnicky schrieb zu meinem Artikel »Die Lebensschützer sind eine brandgefährliche Bewegung«, es gebe keine christlichen Fundamentalistinnen und Fundamentalisten. Zudem verwahrt er sich dagegen, als Unterstützer des »Marschs für das Leben« auf eine Stufe mit Islamistinnen und Islamisten gestellt zu werden. Warum aber sollte ausgerechnet das Christentum von fundamentalistischen Strömungen ausgenommen sein? Der Versuch der strikten Bibelauslegung, um daraus für heute ebenso strikte Lebensweisen für alle abzuleiten und durchzusetzen, ist ein fundamentalistischer Ansatz. Die Ablehnung der Evolutionstheorie, an deren Stelle die biblische Schöpfungsgeschichte gesetzt wird, ist ebenfalls fundamentalistisch. Dieser Anspruch ist so totalitär wie islamischer, jüdischer, buddhistischer oder sonstiger religiöser Fundamentalismus. An allererster Stelle steht immer der Angriff auf

das Selbstbestimmungsrecht der Frauen verbunden mit dem Diktat der christlichen heterosexuellen Kleinfamilie – und der daraus folgenden Diskriminierung von Homosexuellen und Transgender. Im Verlauf der Geschichte hat es in jeder Religion unterschiedlichste Strömungen gegeben, ultrareaktionäre wie äußerst fortschrittliche. Sie sind Ausdruck der Widersprüche in einer Klassengesellschaft und spiegeln das ständige Ringen um Hegemonie in diesen Gesellschaften wider. Katharer, Wiedertäufer, Thomas Müntzers Bauernbewegung, Befreiungstheologen und Befreiungstheologinnen setzten sich vom herrschenden Klerus auch mit jeweils eigener Bibelinterpretation ab. Dominikaner- und Jesuitenorden oder die Glaubenskongregation von Kardinal Ratzinger wurden als reaktionäres Schwert gegen den gesellschaftlichen Aufbruch geschaffen. Die Französische und die Russische Revolution haben Religion wie Sexualität zur Privatsache erklärt. In Russland wurde der Schwangerschaftsabbruch legal und kostenfrei und somit ein wesentliches Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper und ihr Leben erfüllt. Daran gilt es als Linke anzuknüpfen. Rosemarie Nünning, Berlin

Zum Kommentar »Ein gefährlicher Ort« von Jules El-Khatib (Heft 4/2014) Ich finde eure Zeitung sehr gut. Auch dass ihr die Anschläge auf Moscheen ansprecht, ist wichtig. Mich stört allerdings, dass in diesem Artikel die »Scharia-Polizei« als sehr harmlos dargestellt wird. Die SchariaPolizei belästigt muslimisch aussehende Frauen. Und wenn man weiß, wie in manchen Ländern (zum Beispiel Saudi-Arabien und Teile Nigerias) im Sinne der Scharia Recht gesprochen wird, muss es doch beunruhigen, wenn radikale Islamisten auf dem Vormarsch sind. Ich halte den Artikel daher für eine ziemliche Verharmlosung, die der Sache nicht gerecht wird. Selbstverständlich sind rechtsradikale Anschläge und Angriffe zu verurteilen und zu verfolgen. Von Islamisten droht aber auch Gefahr. Das sollte ernst genommen werden. Ich denke sogar, dass es die Pegida-freundlichen »Islamkritiker« weiter radikalisiert, wenn vor den Gefahren des Islamismus weiter die Augen verschlossen werden. Martina Denk, Frankfurt am Main

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

Briefe an die Redaktion

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© Manuel Domnanovich

FotoSTORY

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erklären sich die Rechten mit Sektglas in der Hand zu den »neuen Juden« und vergleichen den antifaschistischen Protest mit den Aufmärschen von Hitlers SA. Unten rechts: Trotz massivem Polizeiaufgebot und Demonstrationsverbot harren die Demonstrierenden bis spät in die Nacht aus.

© Manuel Domnanovich

Gedankengut keinen Platz in der Gesellschaft hat. Mit einer Demonstration und Blockaden umzingeln sie die prestigeträchtige Hofburg. Unten links: Stundenlang kesselt die Polizei die Demonstrierenden ein. Von ihnen werden 54 verhaftet, über hundert angezeigt und mehrere verletzt. Mitte: Gleichzeitig

© Vice Media

© Lucia Grabetz

Österreich | Auf dem AkademikerBall der rechten Partei FPÖ in Wien schwingen schlagende Burschenschaftler, einschlägig bekannte Holocaustleugner und verurteilte Nazis aus ganz Europa das Tanzbein. Rund 9000 Antifaschistinnen und Antifaschisten zeigen, dass rechtes


© Stephen Melkisethian / CC BY-NC-ND / flickr.com

FOTOSTORY

fordert, den ehemaligen Vizepräsidenten wegen Folter und Kriegsverbrechen anzuklagen. Unten rechts: Die Demonstrierenden haben sich mit orangen Overalls und schwarzen Kapuzen wie Gefangene verkleidet. Vor dem Justizministerium legen sie 127 orangefarbene Blumen ab – eine pro Häftling in Guantanamo.

© Stephen Melkisethian / CC BY-NC-ND / flickr.com

Anklage festgehalten wird. Unten links: Als das US-Militär Fahd Gahzy im Jahr 2002 verschleppte, war er 17 Jahre alt. Mit 30 ist er immer noch eingesperrt, obwohl seit 2007 klar ist, dass es keinen Grund dafür gibt. Mitte: Eine Aktivistin der Antikriegsorganisation Code Pink protestiert vor dem Wohnhaus von Dick Cheney. Sie

© Andy Worthington / flickr.com

© Andy Worthington / flickr.com

USA | Menschenrechtsgruppen demonstrieren am 11. Januar vor dem Weißen Haus in Washington. Sie verlangen die Schließung des US-Gefängnisses Guantanamo Bay auf Kuba. Anlass ist der dreizehnte Jahrestag der Eröffnung. Der Demonstrant auf dem Bild erinnert an Shaker Aamer, der dort seit 2002 ohne

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Aktuelle Analyse

Der Krieg der Armen

©w edia

ikim / CC BY

Mehr Macht für die Geheimdienste, strengere Grenzkontrollen und Sicherheitsvorschriften: Nach den Attentaten von Paris verschärfen viele EU-Staaten ihre Anti-Terror-Maßnahmen. Doch die Ursachen des Terrorismus werden damit nicht bekämpft Von Volkhard Mosler

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ie Anschläge von Paris haben nicht nur in Deutschland eine Debatte über den islamistischen Terrorismus ausgelöst. Doch bei der Suche nach den Gründen wird über eines so gut wie gar nicht gesprochen: Die aggressive Außenpolitik des Westens. Sahra Wagenknecht war neben Oskar Lafontaine die einzige führende Politikerin der LINKEN, die unmittelbar nach den Pariser Anschlägen auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht hat. Als »wichtigste Konsequenz« aus den Terroranschlägen von Paris forderte sie »das Ende aller Militäreinsätze des Westens im Nahen und Mittleren Osten«. Ein Blick auf die Fakten gibt ihr Recht. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 haben die USA und ihre Verbündeten zwei mehrheitlich von Muslimen bewohnte Länder (Afghanistan und Irak) militärisch besetzt. Darüber hinaus haben sie militärische Spezialeinheiten in zahlreiche muslimische Länder geschickt, einen versteckten Drohnenkrieg gegen die Bevölkerungen Pakistans, Jemens, Somalias und des Sudans geführt, dessen Opferzahlen der Geheimhaltung unterliegen, und Hunderte von Muslimen und einige Muslimas ohne gerichtliche Verurteilung inhaftiert und gefoltert (in Abu Ghraib, Guantanamo und anderswo). Die Folge: Seit 2001 hat es mehr Selbstmordattentate gegen westliche Einrichtungen in Afghanistan, Irak und anderen muslimischen Ländern gegeben als in all den Jahren davor. Auch die der US-Regierung nahestehende Zeitschrift »Foreign Policy« hat erkannt: »Mehr als 95 Prozent aller Selbstmordattentate sind eine Reaktion auf fremde Besatzung. Das ergaben umfangreiche Forschungen, die wir an der Universität von Chicago im Projekt über Sicherheit und Terrorismus durchführten. Wir untersuchten jeden einzelnen der über 2200 Selbstmordanschläge in der ganzen Welt von 1980 bis heute. Während die Vereinigten Staaten Afghanistan und Irak, mit einer Gesamtbevölkerung von rund sechzig Millionen Menschen, besetzten, sind die Selbstmordanschläge weltweit dramatisch gestiegen – von etwa 300 (1980 bis 2003) auf 1800 (2004 bis 2009). Über 90 Prozent aller Selbstmordattentate sind antiamerikanisch. Die große Mehrheit der Selbstmordattentäter stammt aus Regionen, die durch ausländische Truppen bedroht sind.«

sich weiter. Zwei Tage nach dem Attentat in Paris hat ein Sprecher des Islamischen Staates (IS) in Mosul die Verantwortung für die »Operation in Frankreich« übernommen und kündigte weitere Operationen in Großbritannien und den USA an: »Die Drohung gilt für alle Länder des Bündnisses, die Luftangriffe auf den Islamischen Staat fliegen.« Die Anschläge von Paris seien »eine gerechte Strafe« für die Bombardierung des IS. Zur selben Zeit befand sich Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf einem Kurzbesuch in Bagdad. Sie rief dazu auf, »angesichts des Anschlags in Paris im Kampf gegen den Terror nicht nachzulassen«. Es sei wichtig, »dass der Mythos der Unbesiegbarkeit des sogenannten Islamischen Staats und des islamischen Terrors zu brechen ist«, betonte von der Leyen. »Je länger der IS stark und attraktiv bleibt, desto mehr steigt die Bedrohung für uns zu Hause.« Die Verteidigungsministerin verdreht hier die Tatsachen und erklärt die Folge ihrer Politik zur Ursache. Denn die Bundesrepublik ist durch die Einsätze am Hindukusch und nun auch im Irak immer mehr zur Kriegspartei geworden. Zugleich werden im Inneren Bürgerrechte eingeschränkt und die Anti-Terror-Maßnahmen verschärft. In mehreren Städten wurden Hausdurchsuchungen bei jungen Muslimen durchgeführt, die angeblich staatsgefährdende Gewalttaten vorbereiteten. Zugleich heißt es jedes Mal, es lägen keine konkreten Anhaltspunkte für Anschläge vor – so lautete beispielsweise die Meldung über die Ermittlungen gegen drei junge Männer aus Kassel. Dem 26-jährigen Syrien-Rückkehrer Ayoub B. aus Wolfsburg wird vorgeworfen, sich dem IS angeschlossen zu haben. Er kooperierte vom ersten Tag an mit der Polizei, wurde aber trotzdem nach drei Monaten festgenommen. Die Bundesanwaltschaft klagt ihn wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung an, obwohl Ayoub B.'s Syrienaufenthalt beendet war, bevor die Bundesregierung im September 2014 den IS verbot. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen: Tausende deutsche Söldnerinnen und Söldner haben in der französischen Fremdenlegion in Vietnam, Algerien, Kongo und anderen afrikanischen Staaten gekämpft. Im Irak beteiligten sich Deutsche im Rahmen der US-amerikanischen Blackwater (jetzt Academi) und anderen Privatarmeen an den Kampfhandlungen. Nach dem Strafgesetzbuch (StGB) ist das Anwerben von deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern für eine fremde Armee strafbar, nicht aber die Tätigkeit als Söldnerin oder Söldner. Deshalb werden IS-Rückkehrer

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Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

Der logische Schluss wäre, dass der Westen seine Kriege im Nahen und Mittleren Osten beendet. Doch das Gegenteil geschieht: Die Spirale der Gewalt von imperialistischen Interventionen in der muslimischen Welt und islamistischem Terrorismus dreht

AKTUELLE ANALYSE

Das Verteidigungsministerium verdreht die Tatsachen

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seit September 2014 wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB) verfolgt und angeklagt. Noch ein halbes Jahr zuvor konnten junge Muslime mit Wissen der deutschen Polizei frei in Kampfgebiete ausreisen, eine Strafverfolgung fand nicht statt. Die Verhaftung von Ayoub B. steht ganz offensichtlich im Widerspruch zur Forderung von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), der sich für »eine Wiedereingliederungshilfe für ISKämpfer« aussprach, »welche dem Terror abschwören wollen, um sie wieder in die Gesellschaft zurückzuführen«.

der Islam verdächtig, Brutstätte des Terrors zu sein, nach dem Motto: »Nicht alle Muslime sind Terroristen, aber alle Terroristen sind Muslime.« In den Medien häufen sich die Appelle an die offiziellen Vertreterinnen und Vertreter des Islam in Deutschland, sich für eine »moderne Interpretation« des Korans einzusetzen. Hinter solchen Appellen steckt der indirekte Vorwurf, dass der Islam eigentlich eine rückständige Religion sei und es deshalb immer wieder zu solchen Entartungen wie dem IS in Irak oder dem Salafismus hier kommen kann. Doch unterschiedliche Interpretationen des Korans, des Alten oder des Neuen Testaments hat es immer gegeben. In einem Beitrag für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (»Warum nur in Gottes Namen?«) schreibt der Soziologe Jens Alber: »Nun ist es richtig, dass sich im Koran manches finden lässt, was sich als Aufforderung zum Glaubenskrieg interpretieren lässt (Sure 2,191; 4,89; 9,111) oder als Ablehnung der Gleichstellung von Frauen (Sure 2,228; 4,11; 4,34) oder von Homosexuellen (Sure 26,165– 166; 7,80-81; 4,16). Dennoch führt diese Suche nicht weit. Zum einen sucht man bestimmte Strafgebote für den Fall der Blasphemie oder bildlicher Darstellungen des Propheten im Koran vergeblich; sie sind dem Koran gänzlich fremd. Zum anderen zeigt sich, dass sich in der Bibel sehr ähnliche, zum Teil sogar schärfere Formulierungen finden, wenn es um den Kampf gegen Ungläubige (3. Mose 26,7–8; 4. Mose 33,52; 5. Mose 20,10–18; Josua 10,40; Esther 8,11), die

Anzahl der Toten im Zusammenhang mit dschihadistischer Gewalt: Fast alle Opfer stammen aus muslimischen Staaten. Im Westen ist die Angst vor islamischen »Glaubenskriegern« weitgehend unbegründet

Zwar hat die Kanzlerin nun einen Schritt in die richtige Richtung gemacht, als sie sich auf den Ex-Bundespräsidenten Wulff berief und erklärte: »Der Islam gehört zu Deutschland.« In Folge dessen stellte selbst ein Scharfmacher wie Innenminister Thomas de Maizière klar, dass die Attentate von Paris mit dem Islam nichts zu tun hätten. An ihrer islamfeindlichen Politik änderte die Bundesregierung freilich nichts. Jetzt will sie jungen Muslimas und Muslimen auf bloßen Verdacht, sie könnten sich dem IS anschließen, die Personalausweise entziehen. Die vom Verfassungsschutz angegebene Zahl von Gefolgsleuten des »Islamismus«, »Salafismus« und anderen »Gefährdern« steigt von Monat zu Monat. Die Kriterien, nach denen das Bundesamt seine Einschätzung trifft, legt es jedoch nicht offen. Trotz gegenteiliger Beteuerung wird so

Tote durch Terroranschläge im November 2014

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© Statista / BBC World Service und dem International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) / CC BY-ND

Der Islam wird verdächtig, Brutstätte des Terrors zu sein


Verteidigung des Patriarchats (Epheserbrief 5,22–23; Kolosserbrief 3,18; 1. Petrusbrief 3:1) oder die Verdammung von Homosexuellen geht (3. Mose 18,22, 20,13; 1. Korintherbrief 6,9), während sich überdies dort auch explizite Blasphemieverbote finden (2. Mose 20,4-7, 22,27; 3. Mose 24,16)«.

fast verdreifacht hat. Insgesamt gab es 150 Brandund Sprengstoffanschläge, Angriffe auf Bewohnerinnen und Bewohner sowie volksverhetzende Parolen. Ähnlich besorgniserregend war der Anstieg von Attacken auf Moscheen, Muslimas und Muslime. Es ist nur eine Frage der Zeit bis es wieder Tote und Verletzte gibt. Was Medien und Politik gerne verschweigen: Die Menschen, die am stärksten vom Terrorismus betroffen sind, leben nicht im Westen, sondern oft genau in den Ländern, in denen der Westen seine Kriege und Stellvertreterkriege führt. Das in London ansässige Institut für Wirtschaft und Frieden veröffentlicht jährlich einen »Globalen Terrorismus Index«. Demnach ereigneten sich mehr als achtzig Prozent der tödlichen Terroranschläge im Irak, in Afghanistan, Pakistan, Nigeria und Syrien. Besonders vom Terrorismus betroffen ist der Irak. Dort starben allein im Jahr 2013 bei 2492 Anschlägen mehr als 6300 Menschen. Die Lehre aus all dem ist klar: Der »Krieg gegen den Terror« produziert Terror. Deswegen hat Oskar Lafontaine recht, wenn er sagt: »Wir können den Terrorismus in der Welt nur bekämpfen, wenn wir damit beginnen, unseren eigenen Terrorismus endlich einzustellen.« Das heißt: Abzug der Bundeswehr aus dem Ausland und Stopp jeglicher Waffenexporte. ■

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Veranstaltung: Die neue Weltunordnung: Chaos mit System? Mehr Informationen über Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 findest du online unter: www.marxismuss.de

AKTUELLE ANALYSE

Natürlich gibt es die Gefahr von Terroranschlägen. Aber während Anschläge von Rechtsextremen – wie das Beispiel der NSU-Morde zeigt – in der Vergangenheit systematisch abgestritten und verharmlost wurden, wird seit einigen Jahren die Gefährdung durch islamistische Gewalt überdramatisiert. Dahinter steckt politisches Kalkül. Die Bundesregierung schürt Angst und Hysterie, um die Akzeptanz für die Militarisierung der Außenpolitik zu erhöhen und währenddessen die Bürgerrechte weiter auszuhöhlen. Eine kleine Anfrage der LINKEN im Bundestag ergab, dass sich im Jahr 2014 die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte gegenüber dem Vorjahr

© wikimedia / CC BY

Der Terror kommt nicht »aus dem Herzen des Islam«, wie die »Welt« einst titelte. Der Blick auf junge Männer und Frauen, die sich konservativen oder reaktionären Strömungen des Islams zuwenden, ignoriert meist die sozialen Ursachen dafür. Zurecht sagte der Schauspieler Peter Ustinov im Jahr 2002: »Terrorismus ist der Krieg der Armen und Krieg ist der Terrorismus der Reichen.« Wer den Zulauf zu dschihadistischen Gruppen nur als irrational abstempelt und nach sicherheitspolitischen Antworten ruft, blendet die Verantwortung der deutschen Regierungen aus. Denn sie haben durch ihre verfehlte Asylgesetzgebung und ihre Unterstützung für die US-Kriege im Nahen Osten diesen Zulauf maßgeblich begünstigt. Auch die Diskriminierung von Menschen mit nichtdeutschen Namen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem spielt hier eine Rolle. Wer von klein auf nur Ablehnung, Rassismus und ökonomische Chancenlosigkeit erlebt hat, ist empfänglich für Gruppierungen, die positive Identifikationsangebote bieten und scheinbar »den Spieß umdrehen« gegen den westlichen Imperialismus. Die Ursache für die Entstehung des »islamistischen Terrorismus« ist die aggressive Außenpolitik der westlichen Staaten. Zuerst führten sie den Kampf ums Öl und dann entstand der Islamismus als Gegenreaktion. Ob der IS im Irak, die Mullah-Bewegung Khomeinis in Iran oder die Taliban in Afghanistan – der Aufstieg des Islamismus als politische Bewegung und Macht war stets eine Folge imperialistischer Interventionen und Kriege. Diese politischen Bewegungen, die sich auf den Koran und Allah beriefen, haben nicht zuletzt an Popularität gewonnen, weil sie sich antiimperialistisch geben. Sie schlüpfen in eine Rolle, die während des Kalten Kriegs noch kommunistische oder nationaldemokratische Parteien übernommen hatten.

Das Bild des Häftlings Satar Jabar wurde zum Symbol des Folterskandals im Gefängnis von Abu-Ghuraib im Irak. US-Soldaten drohten Jabar an, dass er durch Elektroschocks getötet würde, falls er von der Kiste steige. Als das Foto an die Öffentlichkeit gelangte, leugnete Washington, dass die Kabel stromführend gewesen seien. Die systematische Folter durch die USA beschert dschihadistischen Gruppen weiteren Zulauf

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UNSERE MEINUNG Ukraine

Eine tödliche Spirale Von Klaus Henning

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m Ende des Minsker Krisengipfels vom Februar stand ein Waffenstillstandsabkommen für die umkämpften Gebiete in der Ukraine. Doch ob das bestand haben wird, ist unwahrscheinlich. Denn auch die erste Waffenruhe vom September 2014 würde nie vollständig eingehalten. Schon währenddessen sind mindestens 1400 Menschen getötet worden. Bislang hat der Konflikt knapp 5000 Menschenleben gekostet. Die Regierungen im Westen beschuldigen ausschließlich russische Separatisten der Gewalt. Die Regierung Russlands macht dagegen die ukrainischen Streitkräfte verantwortlich. Tatsächlich hat die ukrainische Regierung 50.000 Reservisten mobilisiert und offiziell bestätigt, dass Stellungen der Separatisten in allen Teilen des Donbass beschossen werden. Amnesty International beschreibt den Krieg als eine von beiden Seiten in Gang gesetzte Spirale von Vergeltungsmaßnahmen. Zunehmend gehen Militäraktionen von Wohngegenden aus. Der Bürgerkrieg geht weiter, weil die US-amerikanische Regierung und mit ihr die Europäische Union das Land mit Hilfe der ukrainischen Regierung dominieren will und die russische Regierung dies durch Unterstützung der Separatisten zu verhindern sucht. Obwohl es in der ukrainischen Bevölkerung bis heute keine Mehrheit für einen Nato-Beitritt gibt, fasste das Parlament im Dezember 2014 einen folgenschweren Beschluss: Die in der Verfassung verankerte politische Neutralität des Landes wurde aufgehoben und damit die Grundlage für einen Nato-Beitritt gelegt. Ein solcher Schritt musste Reaktionen der Gegenseite provozieren. Ähnlich wie im Bosnienkrieg in den 1990er Jahren sollten sich Linke in diesem Krieg nicht mit einer Konfliktpartei solidarisieren. Bei den Separatisten handelt es sich um militärisch geschulte Kämpfer, die sich aus nationalistischen Kräften rekrutieren. In Anlehnung an das Zarenreich treten sie für die Schaffung »Neurusslands« in der Ukraine ein und halten enge Verbindungen zu russischen Na-

zigruppen. Sie werden von russischen Söldnern unterstützt, die Kriegserfahrung in Afghanistan und Tschetschenien gesammelt haben. Die von ihnen geschaffenen »Volksrepubliken« sind brutale Militärregime und Horte der Reaktion. Auf ukrainischer Seite kämpfen Bataillone, die sich aus der Organisation »Rechter Sektor« rekrutieren und modifizierte NS-Symbole als Erkennungszeichen verwenden. Auch sie werden von Söldnertruppen unterstützt. Sie propagieren einen westukrainischen Nationalismus, der sich ethnisch und sprachlich definiert. Er verehrt faschistische Verbrecher und schließt die Rechte von Minderheiten aus. Anders als beim Bosnienkrieg lässt sich die Bevölkerung in der Ukraine bisher nicht in den nationalistischen Gewaltstrudel hineinziehen. Der ethnisch definierte Nationalismus findet in der Zentralukraine, wo die ukrainische und russische Sprache immer gemeinsam existierten, wenig Anklang. »Ukrainisch« wird hier politisch verstanden, als eine auf Neutralität beruhende Unabhängigkeitsidee und als Abgrenzung vom Gesellschaftsmodell des Oligarchenwesens. Die Einberufung von Reservisten hat zu einer Massenflucht junger Männer ins Ausland geführt, die nicht bereit sind, für die ukrainische Regierung zu sterben. Weder die Europäische Union und die USA noch Russland vertreten die sozialen Interessen der Bevölkerung in der Ukraine. Linke sollten die imperialistischen Interessen der involvierten Staatenblöcke aufdecken, statt sich mit der einen oder anderen Seite gemein zu machen. Die Ukraine braucht weder Waffenlieferungen noch eine Politik des sozialen Kahlschlags, sondern einen Schuldenschnitt und eine Vergesellschaftung der Oligarchenvermögen.

Weder der Westen noch Russland vertreten die Interessen der Bevölkerung

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★ ★★ Klaus Henning ist Politologe und forscht derzeit zur Gewerkschaftsbewegung in Mittel- und Osteuropa.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Görlitzer Park

Das Problem heißt Verdrängung Vorjahr. Bis zu hundert Beamte mit Spürhunden und mobilen Flutlichtern durchkämmen den schmalen Grünstreifen und kontrollieren jeden Verdächtigen. Doch solange man weiß ist, hat man nichts zu befürchten.

Der Park ist eine »No-go-Area« für Schwarze Ja, der Görlitzer Park hat ein Problem. Die Zahl der Drogendealer ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Der Grund ist jedoch nicht eine Zunahme des Drogenkonsums, sondern die wachsende Zahl von Asylsuchenden, für die der Verkauf von ein paar Gramm Gras darüber entscheiden kann, ob sie die Nacht im Warmen verbringen. Daher geht auch der Vorstoß der Kreuzberger Grünen, die einen »kontrollierten legalen Verkauf von

Cannabis« in einem Coffeeshop am Park fordern, am Kern des Problems vorbei. Für die meisten Anwohnerinnen und Anwohner des »Görli« dürfte die eigentliche Bedrohung ohnehin nicht vom Drogenhandel ausgehen. Nirgendwo in Berlin sind die Mieten in den letzten Jahren so stark gestiegen wie hier. Seit 2009 haben sich die Preise bei Neuvermietung rund um den Park um 97 Prozent erhöht. Weder die Drogen noch die Geflüchteten bedrohen den Kiez, sondern die Verdrängung – ob mit Räumungsbescheid oder durch Abschiebehaft.

★ ★★ Martin Haller ist Redakteur von marx21. UNSERE MEINUNG

S

eit Monaten sorgt der Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg für bundesweite Schlagzeilen. »Drogenpark der Nation« oder »Paradies für Dealer« sind noch die harmloseren Beschreibungen. Der »Tagesspiegel« bezeichnete das Areal als ein »zivilgesellschaftliches Großexperiment in Sachen Verwahrlosung«, das inzwischen den ganzen Kiez bedrohe. Berlins Innensenator Frank Henkel kündigte nun an, den »Sumpf auszutrocknen« und den Park zu einer »No-go-Area für Drogendealer« zu machen. Um eine Verschärfung der Drogenpolitik geht es dabei aber höchstens am Rande. Das eigentliche Ziel ist ein härteres Vorgehen gegen die Flüchtlinge, die mangels Alternative im Park Drogen verkaufen. Durch die Repression ist der »Görli« schon jetzt eine »No-go-Area« – und zwar für Schwarze. Täglich gibt es dort Razzien. Im Jahr 2014 fanden insgesamt 511 Einsätze statt – dreimal so viele wie im

Von Martin Haller

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© Klaus Stuttmann

TITELTHEMA LINKE HOFFNUNG FÜR EUROPA?

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Faktencheck Sieben Irrtümer über die Krise

Mächtige Gegner Herausforderungen für Tsipras

Merkels Zwickmühle Sie kann weder mit noch ohne Griechenland

Der Aufstieg von Podemos Eine kritische Bestandsaufnahme


»Das ist eine wirklich

gute Nacht, Frau Merkel!« Es war die Woche des historischen Wahlsiegs von Syriza: Unser Autor hielt sich Ende Januar in Athen auf – und hörte sich um, was die Menschen über die neue Regierung denken Von Leandros Fischer erreichte wie seit der Zeit der Militärdiktatur nicht mehr. Dieser Gewalt fiel auch Marios Lolos zum Opfer, der Vorsitzende der Fotoreportergewerkschaft. Während einer Demonstration im Frühling 2012 wurde er von Spezialkräften der Polizei misshandelt. Marios ist ein erfahrener Kriegsfotograf, war unter anderem im ehemaligen Jugoslawien und im Gazastreifen im Einsatz. Trotzdem fürchtete er nach eigener Aussage selten so sehr um sein Leben wie im Griechenland der Eurokrise. Er bezeichnet sich selbst als Anarchist, obwohl er ein aktives Syriza-Mitglied ist und der trotzkistischen Fraktion innerhalb der Partei nahe steht. Seine Lebensgefährtin Dina arbeitet als Journalistin bei »Efimerida ton Sintakton« und ist ebenfalls Mitglied des Linksbündnisses. Zusammen mit Freunden diskutieren die beiden zwei Nächte vor der Wahl in einem selbstverwalteten kurdischen Restaurant, für welche Kandidaten sie stimmen werden. Die bei deutschen Parteien übliche »Listenplatzpolitik« spielt hier eine untergeordnete Rolle. Jede Wählerin und jeder Wähler erhält ein Zettel mit dem Namen der Partei, die er oder sie wählen möchte. In alphabetischer Reihenfolge stehen dort die Namen der Kandidatinnen und Kandidaten. Ihre Bekanntheit ist entscheidend. An Marios und Dinas Esstisch wird die jeweilige Wählergunst mit der Bewegungsnähe der einzelnen Kandidatinnen und Kandidaten begründet, ein Hinweis auf den stark persönlichkeitsfixierten Charakter der griechischen Politik.

Viele frühere Funktionäre der Pasok sind nun Mitglied von Syriza

»Ich will eine Regierung, die mich respektiert«, meint Chara, eine Journalistin von »Efimerida ton Sintakton« (»Die Zeitung der Redakteure«), einer selbstverwalteten, höchst professionellen Tageszeitung, die aus einem Arbeitskampf zwischen der Verlagsleitung der Tageszeitung »Eleftherotypia« und deren Redaktion hervorgegangen ist. Ähnlich wie bei den arabischen Aufständen von 2011 spielt die Frage der Würde und des Respekts eine große und oft unterschätzte Rolle bei dieser Wahl. In den vergangenen Jahren, vor allem während der Regierungszeit von Ministerpräsident Antonis Samaras, lebte Griechenland nicht nur unter einem »üblichen« neoliberalen Sparregime. Vielmehr handelte es sich um ein Land, in dem hohe Regierungsfunktionäre Verbindungen zu Neonazis pflegten, wo sich die gesamte herrschende politische Klasse vom Volk abschottete und gleichzeitig die Polizeibrutalität ein Maß

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Leandros Fischer ist Politologe. Er stammt aus Zypern und ist im Studierendenverband Die Linke.SDS aktiv.

TITELTHEMA LINKE HOFFNUNG FÜR EUROPA?

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ie Angst war weg. Die gleiche, die bei der letzten Wahl Antonis Samaras an die Macht gebracht hatte. Die Menschen in Griechenland gingen an diesem sonnigen Januar-Sonntag mit einem Gefühl des verhaltenen Optimismus zur Urne. Alles deutete auf einen klaren Sieg von Syriza hin. Es herrschte allerdings noch Ungewissheit darüber, ob es zu einer absoluten Mehrheit und somit zur Bildung einer Alleinregierung der Linken reichen würde. Oder würden sie auf die Unterstützung anderer Kräfte angewiesen sein? Was erhofften sich die Menschen von einer SyrizaRegierung?

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Sommer 2011: Ein Polizist schlägt am Rande einer Demonstration in Athen auf einen älteren Mann ein. Syriza hat die massive Polizeigewalt stets kritisiert. Nun wird die Partei beweisen müssen, ob sie den staatlichen Repressionsapparat unter Kontrolle bringen kann

Pasokopoiisi, »Pasokisierung«, ist hier ein Schimpfwort

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Veranstaltung: Syriza: Griechenlands letzte Hoffnung? Mehr Informationen über Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 findest du online unter: www.marxismuss.de

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In diesen Gesprächen werden auch unterschiedliche Deutungen von jüngsten Ereignissen in der Partei Syriza deutlich. Marios äußert sich skeptisch darüber, wie die Führung um Alexis Tsipras in den vergangenen drei Jahren agiert hat. Sie habe sich weg von der Straße und hin in die Logik des Parlamentarismus bewegt. »Wir haben zu viele ehemalige Pasok-Leute in der Partei«, sagt er frustriert und meint damit auf die große Anzahl früherer Funktionäre der Sozialdemokraten, die in den letzten Jahren in die Partei geströmt sind. Für Marios repräsentieren diese Leute Klientelismus, Korruption und die politische Deformation, für die Pasok in die Geschichte eingehen wird. Und jetzt sind sie bei Syriza. »Warum schließt du denn aus, dass sich diese Leute nach links bewegt haben?«, fragt Giorgos, ein Freund und Kollege. Die Unterscheidung zwischen den Arbeiterinnen und Arbeitern, die früher Pasok wählten, einerseits und den Pasok-Karrieristen andererseits ist tatsächlich schwierig in einem Land, wo Patronage-Beziehungen die Politik bestimmen, vor allem in der Provinz. Für einen Großteil der radikalen Linken ist das einer der wichtigsten Gründe, warum sie Syriza mit Skepsis begegnen. Pasokopoiisi, »Pasokisierung«, ist hier ein Schimpfwort. Die Skepsis ist nicht unbegründet. Im Jahr 1981 kamen die Sozialdemokraten an die Macht. Ihr Gründer, der charismatische Andreas Papandreou,

© wikimedia

versprach einen Austritt aus der Nato, die Verstaatlichung von großen Unternehmen und gab sich als großer Freund nationaler Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. »Sozialismus« erschien im damaligen Griechenland als eine reale Möglichkeit. An die Versprechen von Papandreou glaubten viele, auch in der radikalen Linken. Doch unter Pasok trat Griechenland weder aus der EU noch aus der Nato aus. Fortschrittliche Maßnahmen wie der Aufbau eines Wohlfahrtsstaats und die Abkehr vom staatlich sanktionierten Antikommunismus waren ohnehin Teil des Projekts, den griechischen Kapitalismus zu modernisieren. Damit hatte bereits nach dem Ende der Diktatur 1974 die konservative Nea Demokratia begonnen. Vor allem aber ist Pasok keine Partei, die der historischen Linken entstammt. Das unterscheidet sie beispielsweise von der SPD, deren Entstehung unzertrennlich mit der der deutschen Arbeiterbewegung ist. Die Papandreous sind hingegen eine Politdynastie aus großbürgerlichen Kreisen: Georgios war ein bekennender Antikommunist der Nachkriegszeit. Sein einstmals rebellischer Sohn Andreas experimentierte in den 1970ern mit neomarxistischen Dependenztheorien. Dessen Sohn, der letzte Pasok-Premierminister Giorgos, war es wiederum, der im Jahr 2010 die Pleite des Landes ankündigte und die neoliberale Barbarei vorantrieb. Zudem gilt er als besonders USA-nah. Während seiner Regierungszeit kulminierte eine langjährige Entwicklung. Eksynchronismos, »Modernisierung«, war ein Begriff, den Pasok während der Boomzeit Anfang der 2000er propagierte. Die Idee, dass Privatisierungen ein Heilmittel gegen die »Ineffizienz« eines aufgeblähten staatlichen Sektors darstellen, war zeitweise in Griechenland hegemonial, auch unter vielen Arbeiterinnen und Arbeitern. All diese Vorstellungen scheint jetzt die überwältigende Mehrheit der Menschen in Griechenland auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Und darin liegt auch die Besonderheit des Wahlsieges von Syriza: Zum ersten Mal übernimmt eine »echte« Partei der Linken die Regierungsverantwortung. Kein Wunder also, dass im Auto von Dina und Marios, trotz der oft hitzigen Diskussionen über die (mangelnde) Radikalität der Führung um Tsipras, die Partisanenlieder aus der Zeit der deutschen Besatzung und des darauffolgenden Bürgerkrieges zwischen Kommunisten und prowestlichen Royalisten zu hören sind. »Das ist unser Comeback nach 1949!«, kündigt Marios halb im Scherz, halb im Ernst an. Damals zogen sich die letzten Partisanenverbände der Kommunisten über die Grenze nach Albanien zurück. Es folgten zwei Jahrzehnte der Fassadendemokratie, zahlreiche Linke gingen in dieser Zeit ins »innere Exil«, viele wurden hingerichtet. An diese Zeit schloss ein quasifaschistisches Regime an, noch


Massenbewegung oder »europäische Front gegen Merkel«? Oder beides? Das sind die aktuellen Fragen, um die sich die strategische Debatte der griechischen Linken momentan dreht. Es herrscht ein tief verwurzelter Glaube daran, dass es zu Brüchen innerhalb der »Front der Gläubiger« kommt, zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Draghi und Merkel. Manchmal grenzt er schon an Wunschdenken. Doch die Dynamik auf der Straße ist real und von Syriza nicht unbedingt kontrollierbar. »Tsipras wird uns wieder auf der Straße finden, wenn er seine Wahlversprechen nicht hält«, meint Alexandra, eine Aktivistin aus Skouries, ein Ort in Nordgriechenland, wo die Einwohnerinnen und Einwohner seit einigen Jahren gegen den Bau einer gesundheitsgefährdenden Goldgrube durch ein kanadisches Unternehmen kämpfen. Eins ist sicher: Der Wahlsieg ist nicht das Ende, sondern der Beginn eines langjährigen Prozesses. Griechenland liegt nicht weit weg von Deutschland. Es liegt in unserer Hand, den Geist von Athen hierher zu bringen. ■

Oben: Widerstand gegen den Goldabbau in der nordgriechischen Küstenstadt Alexandroupoli im März 2013. Seitdem beschlossen wurde, die Goldförderung im Norden des Landes stark auszubauen, zählen Demonstrationen, Straßenblockaden, Sabotage und kollektiver ziviler Ungehorsam zu den Protestformen der Anwohnerinnen und Anwohner. Unten: Der Journalist und Filmemacher Aris Chatzistefanou sorgte mit seinem Debütfilm »Debtocracy« über die Ursachen der Krise in Griechenland für Aufsehen. Gegenüber unserem Autor warnte er vor den Verbindungen zwischen Polizei und Nazis

TITELTHEMA LINKE HOFFNUNG FÜR EUROPA?

burg im Zentrum Athens. Aris steht Antarsya nahe, dem Wahlbündnis der radikalen Linken. Wie viele Linke innerhalb und außerhalb von Syriza ist er über die Regierungskoalition mit den »Unabhängigen Griechen« nicht besonders glücklich. »Wir müssen schon konstruktiv mit der neuen Syriza-Regierung umgehen. Die werden sicherlich sehr vieles ändern«, stellt er fest. »Es gibt einen ›tiefen Staat‹ in Griechenland, dem das aber nicht gefallen wird.« Der Begriff »tiefer Staat« verweist auf Verbindungen zwischen großen Teilen der Polizei mit Nazis und Kleinkriminellen. Aris hebt die Bedeutung einer Massenbewegung hervor, die notwendig sein wird, um die Regierung vor Angriffen von rechts zu verteidigen. »Leider hat Syriza in den vergangenen Jahren nicht alles getan, was möglich war, um diese Bewegung zustande zu bringen.«

© Aris Chatzistefanou

Am Wahlabend ist endlich klar: Syriza hat gewonnen. Am festen Parteistand von Syriza vor der Universität sammelt sich eine erste Menschenmenge. Anfangs befinden sich darunter viele Vertreterinnen und Vertreter aus dem europäischen Ausland, aus Portugal, Spanien und Italien. Vor der Parteizentrale versammeln sich ebenfalls Schaulustige und die Presse. Ich spreche eine Frau an, Chryssoula heißt sie, und frage nach ihrer Meinung zum Ergebnis. Hat sie Angst vor einem Rausschmiss aus der Eurozone? »Nicht wirklich. Viele Menschen haben Angst davor, aber ehrlich gesagt könnte ich damit leben.« Damit gehört sie zur Mehrheit: Laut Umfragen befürworten 70 Prozent der Bevölkerung eine konfrontative Haltung gegenüber der Troika, auch wenn das einen Ausschluss aus der Eurozone bedeutet. Chryssoula betont gleichzeitig, dass sie die Währungsfrage nicht für die wichtigste hält. Tatsächlich sind in Griechenland die innerlinken Fronten diesbezüglich nicht so verhärtet, wie man es sich oft vorstellt. Was passiert aber, wenn die Troika Griechenland erpresst? »Ich glaube, dass sich Europa ändert«, sagt sie. »Viele Leute begreifen, dass es noch weiter gehen kann.« Später stellt sich heraus: Chryssoula ist keine »normale« Syriza-Unterstützerin. Sie arbeitet bei der Syriza-Büroleitung im griechischen Parlament. »Wir wissen, dass die Deutschen sehr viel arbeiten und in den letzten Jahrzehnten vieles opfern mussten, auch wenn die Medien uns hier ein glückliches Deutschland darstellen. Aber das Programm von Syriza nützt auch ihnen und ganz Europa.« Während der Siegesrede von Tsipras am Propylea-Platz beteuert auch Antonis diesen Punkt. Der Psychologiestudent trägt ein besonders fotogenes Schild mit sich. Auf Deutsch steht darauf: »Das ist eine gute Nacht, Frau Merkel!« »Der Wandel in Europa wird vom europäischen Süden ausgehen«, meint er. »Syriza arbeitet an Bündnissen, zum Beispiel mit Podemos in Spanien. Und auch Frankreich scheint sich zu bewegen. Die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer könnten von einem Europa im Sinne der Syriza profitieren. Wir sind nicht gegen sie.« Die Bitte, in Deutschland nicht nur symbolische Solidaritätsaktionen mit Griechenland zu veranstalten, sondern auch Widerstand gegen Merkels Austeritätspolitik zu organisieren, ist hier keine Besonderheit. Dasselbe sagt auch ein paar Tage später Aris Chatzistefanou, der Macher der Dokumentarfilme »Debtocracy«, »Catastroica« und »Fascism Inc.«, die alle durch Crowdfunding entstanden sind. Für seine Arbeit nimmt Aris große Risiken in Kauf, so war er auch schon inkognito bei den Faschisten der Goldenen Morgenröte unterwegs. Wir treffen uns in einem Café in Exarchia, einer linksradikalen Hoch-

© Joanna / CC BY / flickr.com

willkürlicher und brutaler. Die heutigen Nazis der Goldenen Morgenröte blicken nostalgisch auf diese Epoche zurück.

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TITELTHEMA

Sieben Irrtümer über die Krise in Griechenland Was bringt denn so ein Schuldenschnitt? Und wer soll das am Ende alles bezahlen? Über die Situation in Griechenland werden viele Märchen verbreitet. Ein Faktencheck Von Antonella Muzzupappa und Sabine Nuss ★ ★★

Sabine Nuss Sabine Nuss ist Leiterin des Bereiches Politische Kommunikation bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Herausgeberin von »PolyluxMarx. Bildungsmaterial zur KapitalLektüre«.

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Antonella Muzzupappa Antonella Muzzupappa ist Referentin für Politische Ökonomie an der Akademie für politische Bildung der RosaLuxemburg-Stiftung und ebenfalls Herausgeberin von »PolyluxMarx«.

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»Die deutschen Steuerzahler sollen nicht für die Schulden Griechenlands bezahlen müssen« Zurzeit hat Griechenland 322 Milliarden Euro Schulden. Größte Kreditgeber unter den Euroländern sind Deutschland, Frankreich und Italien. Allerdings stammen die deutschen Kredite nicht aus dem Steueraufkommen. Die Bundesregierung hat sich Geld geliehen und an die »Krisenstaaten« weiter verliehen. Diese entrichten dafür Zinsen. »Der Steuerzahler« hat also noch nichts gezahlt. Und überhaupt: Was nutzt es dem »Steuerzahler«, wenn Griechenlands Pleite nur immer weiter hinausgezögert und das Elend verlängert wird? Und was nutzt es ihm, wenn Griechenland definitiv Pleite geht und die Schulden gar nicht mehr zurückzahlen kann? Nützlich ist das Ganze nur für die Regierungen der Gläubigerstaaten, weil sie damit den Druck auf Griechenland dauerhaft aufrechterhalten können.

»Ein Schuldenschnitt würde doch gar nichts bringen« Ja und Nein. 80 Prozent der Kredite für Griechenland kommen von öffentlichen Geldgebern. Der

Großteil der Schulden – es handelt sich um 142 Milliarden Euro – stammt aus dem Euro-Rettungsfonds (EFSF/ESM). Für diese Kredite werden Zinsen und Rückzahlungen erst ab dem Jahr 2020 fällig. Weitere 53 Milliarden Euro hat Griechenland über bilaterale Kredite von EU-Staaten bekommen, auch da sind die Zinsen relativ gering. Wenn hier Schulden gestrichen werden, schafft das Griechenland in den nächsten Jahren kaum Erleichterung. Allerdings würde ein Schuldenerlass bei den Krediten vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) helfen. Ihnen schuldet Griechenland insgesamt 62 Milliarden Euro. Bereits dieses Jahr werden Zins- und Rückzahlungen über mehrere Milliarden fällig. Die kann sich Athen nicht leisten. Hier würde ein Schuldenschnitt kurzfristig etwas bringen. EZB und IWF dürfen aber laut Statuten die Schulden nicht streichen. Will man diese Statuten nicht ändern, gibt es eine andere Lösung: Die EU-Staaten oder der Euro-Rettungsschirm übernehmen die Schulden von EZB und IWF, streichen Teile (sie dürfen das), senken Zinsen, legen die Schulden still oder koppeln ihre Bedienung an das griechische Wirtschaftswachstum. Ob das passiert, ist eine politische Entscheidung: Indem man die Schulden nicht streicht, kann man den Druck auf Griechenland aufrechterhalten und die Politik des Landes kontrollieren. Denn ohne Schuldenschnitt braucht Griechenland immer neue Kredite von der Europäischen Union. Die erhält es nur, wenn weiter die sogenannten Reformen durchgesetzt werden (Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, Privatisierungen, Entlassungen, Schwächung der Gewerkschaf-


ten, Kürzungen). Damit will die Regierung von Syriza Schluss machen – und genau das erlauben die deutsche Regierung und die Troika (EU-Kommission, IWF, EZB) nicht. Im Gegenteil, sie wollen die »Reformpolitik« europaweit durchsetzen.

»Die Griechen sind faul und machen ständig Urlaub«

»Die Griechen haben sich ein fettes Leben gemacht und jetzt zahlen wir ihnen Luxusrenten« Kanzlerin Merkel fordert: »Es geht auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland«, und »Bild« titelte: »Warum zahlen wir den

»Ihr griecht nix von uns!«: Die Schlagzeilen zu Griechenland nehmen teilweise absurde Formen an. Doch »Bild« treibt nur auf die Spitze, was allgemeiner Tenor in der Berichterstattung ist

TITELTHEMA LINKE HOFFNUNG FÜR EUROPA?

Griechenland befindet sich seit dem Jahr 2008 in einer Rezession und hat bis Ende 2012 ungefähr 19,5 Prozent seiner Wirtschaftskraft verloren. Trotzdem arbeiten die Menschen dort sehr viel. Die Wochenarbeitszeit – abzüglich Mittagspausen – lag vor der Krise laut dem statistischen Amt der EU bei 44,3 Stunden, in Deutschland waren es 41 Stunden und im EU-Durchschnitt 41,7 Stunden. Die französische Bank Natixis kommt für Deutschland auf eine Jahresarbeitszeit von durchschnittlich 1.390 Stunden, in Griechenland sind es 2.119 Stunden. Es ist prinzipiell falsch, die Ursache der Wirtschaftskrise eines Landes im mangelnden Fleiß der Bevölkerung zu suchen. Die Griechinnen und Griechen können nicht einfach mal länger arbeiten, um die Krise zu beenden. Es ist umgekehrt: Wegen der Krise sind viele mittlerweile zum Nichtarbeiten gezwungen. Die offizielle Arbeitslosenrate lag im Jahr 2014 bei 26 Prozent, unter den Jugendlichen war letztes Jahr sogar die Hälfte ohne bezahlten Job. Die Zahl der Staatsbediensteten wurde in den vergangenen Monaten um 83.000 gekürzt. Man sieht: Nicht »Faulheit« schafft Krisen, sondern Krisen vernichten Jobs. Trotzdem behauptet Bundeskanzlerin Merkel: »Wir können nicht eine Währung haben, und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig«. Auch hierbei handelt sich hier um eine Variante des Faulheitsvorwurfs. Doch laut EU-Agentur Eurofound haben griechische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchschnittlich einen Urlaubsanspruch von 23 Tagen im Jahr. In Deutschland sind es durchschnittlich 30 Urlaubstage.

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Griechen ihre Luxus-Renten?« Auch hier hilft ein Blick in Statistiken. Laut OECD gehen in Deutschland Männer im Durchschnitt mit 61,5 Jahren in Rente, in Griechenland mit 61,9 Jahren. Dabei handelt es sich keineswegs um »Luxusrenten«: Die griechische Durchschnittsrente beträgt 55 Prozent des Durchschnitts der Eurozone, im Jahr 2007 lag sie bei 617 Euro. Zwei Drittel der griechischen Rentnerinnen und Rentner müssen mit weniger als 600 Euro im Monat über die Runden kommen. Durch das Spardiktat der Troika gab es auch bei den Renten tiefe Einschnitte. Die Regierung erhöhte das Rentenalter auf 67 und senkte die Pensionen um fast ein Drittel – ein »fettes Leben« sieht anders aus. Die Mehrheit der Menschen in Griechenland ist von Armut bedroht. Nach Angaben des gewerkschaftsnahen Instituts für Arbeit verdient ein Viertel aller griechischen Beschäftigten weniger als 750 Euro im Monat.

»Der griechische Staat ist aufgebläht«

★ ★★ ZUM TEXT Dieser Text ist erstmals im »Neuen Deutschland« vom 9. Februar 2015 erschienen. Wir haben ihn leicht gekürzt und danken Autorinnen und Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung. Die ausführliche Argumentation gibt es als Broschüre: »Schummel-Griechen machen unseren Euro kaputt« (kostenloser Download auf rosalux. de).

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Die griechischen Staatsausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, die Staatsausgabenquote, lagen im Jahr 2008 bei 48 Prozent, die deutsche Quote betrug nur 44 Prozent. Vor der Krise sah die Sache allerdings anders aus: Die griechische Staatsausgabenquote sank zwischen 2000 und 2006 von 47 Prozent auf 43 Prozent. Dies änderte sich erst mit dem Einbruch der Wirtschaft in der Finanzkrise. Für die »Aufblähung« der griechischen Staatsausgaben war also die Rezession verantwortlich, nicht hellenische Verschwendungssucht. Außerdem verzeichnet Schweden seit zehn Jahren Staatsausgabenquoten zwischen 51 und 55 Prozent des BIP – und ist nicht pleite. Und noch ein Wort zum »aufgeblähten« Behördenapparat: In Griechenland sind laut OECD 7,9 Prozent aller Erwerbstätigen Beamtinnen und Beamte. In Deutschland liegt der Wert bei 9,6 Prozent und im Durchschnitt aller Industrieländer bei 15 Prozent.

»Die Griechen sind korrupt« Tatsächlich sind Steuerhinterziehung und Korruption in Griechenland stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Der Anteil der Schattenwirtschaft wird auf rund 25 Prozent der Wirtschaft geschätzt (zum Vergleich: in Deutschland auf etwa 15 Prozent) und die Summe der hinterzogenen Steuern auf 20 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist tatsächlich ein großes Problem. Hin-

terzogene Steuern sind eine Umverteilung vom Staat zum privaten Sektor. Das Geld ist also nicht »weg«. Korruption und Steuerhinterziehung nutzt vor allem den Wohlhabenden und Unternehmen. Konzerne aus Deutschland haben sich an der »SchmiergeldWirtschaft« in Griechenland besonders beteiligt, wie Attac feststellt: »Seit dem Jahr 2008 wurde in mehreren juristischen Auseinandersetzungen dokumentiert, dass die deutschen Unternehmen Siemens, Ferrostaal-MAN und Deutsche Bahn AG in großem Maßstab in Griechenland Politiker einkauften und politische Entscheidungen zu ihren Gunsten ›finanzierten‹.«

»Die Griechen sollten erst einmal selbst sparen, bevor der deutsche Steuerzahler nochmals hilft« Von 2010 bis 2013 haben die verschiedenen Regierungen Griechenlands sechs »Sparpakete« verabschiedet. Opfer dieser Kürzungspolitik ist die dortige Bevölkerung. Wegen der Sparprogramme hat sie seit Anfang des Jahres 2010 durchschnittlich fast 20 Prozent ihres Einkommens verloren. »Kein Industrieland hat in den letzten 25 Jahren sein strukturelles Defizit binnen eines Jahres so stark gesenkt«, sagt selbst die Ratingagentur Fitch. Das angebliche Interesse der »deutschen Steuerzahler« ist die stärkste Waffe der Schuldenschnitt-Gegnerinnen und Gegner. Laut Umfragen sind mehr als die Hälfte der Deutschen gegen einen Schuldenerlass. Aber Umfragen interessieren die Bundesregierung normalerweise auch nicht: Den AfghanistanEinsatz lehnt ebenfalls die Mehrheit ab. Trotzdem hat Berlin Millionen für diesen Krieg anstatt für Kitas ausgegeben. Aber es geht hier auch gar nicht um »Deutschland gegen Griechenland« oder »Frankreich gegen Italien«. Das ist kein Völkerball. Tatsächlich geht es um »arm gegen reich«, um »Lohnabhängige gegen Kapitalbesitzende« – also darum, dass die Ausgaben des Staates die Kapitalbesitzenden unterstützen, statt soziale Maßnahmen zu finanzieren. Die Bevölkerung soll billiger werden, sparen, auf Lohn verzichten, mehr arbeiten, wettbewerbsfähiger werden (siehe »Agenda 2010«), um Investitionen in Europa rentabler zu machen. Die »Euro-Rettung« soll Investitionsrenditen erhöhen. Dafür müssen die einen zahlen und arbeiten, die anderen kassieren. Und das in jedem einzelnen Land. Der alte Spruch »Die Grenze verläuft nicht zwischen Nationen, sondern zwischen oben und unten« gilt nach wie vor. ■


Ein strategisches Problem Der Wahlsieg der griechischen Linkspartei Syriza ist auch ein Sieg aller, die in den letzten Jahren gegen die Kürzungspolitik auf die Straße gegangen sind. Doch der neuen linken Regierung stehen mächtige Gegner gegenüber

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Übersetzung: Rosemarie Nünning

ie historische Bedeutung des Wahlsiegs der radikal linken Partei Syriza in Griechenland ist kaum zu überschätzen. Nicht zum ersten Mal stand die Linke in Griechenland kurz vor der politischen Machtübernahme. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Kommunistische Partei (KKE) aufgrund ihrer entscheidenden Rolle im Widerstand gegen die brutale deutsche Besetzung an die Spitze einer breiten nationalen Koalition gespült. Doch dann griffen erst Großbritannien und später die USA ein, um im Verlauf eines blutigen Bürgerkriegs wieder eine Monarchie zu errichten. Anfang der 1960er Jahre entwickelten sich Studierendenproteste und Arbeiterstreiks zu einer Massenbewegung gegen die Monarchie. Auch diesmal hatte die KKE großen Einfluss auf den Gang der Ereignisse. Im April 1967 ergriff die Armee die Macht, um einen Sieg der Linken zu verhindern. Und nun regiert eine Partei, die aus mehreren Abspaltungen der KKE hervorgegangen ist. Wird das griechische und internationale Kapital dieser linken Regierung diesmal eine Überlebenschance einräumen, statt wie früher linke Bewegungen zu

zerschlagen? »Guardian«-Autor Paul Mason stellte den Sieg Syrizas vor allem als Ergebnis des Charismas, der »Professionalität und Disziplin« des Parteichefs Alexis Tsipras dar. Die Wurzeln sozialer und politischer Erdbeben reichen jedoch viel tiefer. Die griechische Gesellschaft war bereits gebrochen von den Traumata der Besetzung, des Bürgerkriegs und der Diktatur, als sie in die neoliberale Ära eintrat. In den vergangenen dreißig Jahren erlebte sie die schärfsten gesellschaftlichen Kämpfe in Europa, sowohl unter Mitte-links-Regierungen (Pasok) als auch unter Mitterechts-Regierungen (Nea Dimokratia, ND). Sie erreichten in den Jahren 2010 bis 2012 angesichts der Durchsetzung einer brutalen Sparpolitik auf Geheiß der »Troika«, bestehend aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), ihren Höhepunkt. Über dreißig Generalstreiks, Platzbesetzungen und Massenproteste stürzten Griechenland in Turbulenzen. Syriza verdankt ihren Aufstieg von einer eher unbedeutenden zu einer Regierungspartei binnen zwei Jahren diesen Massenbewegungen. Die sozialdemokratische Partei Pasok, die seit den 1980er Jahren die politische Landschaft in Griechenland

Nicht zum ersten Mal stand die Linke vor der Machtübernahme

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Alex Callinicos ist Professor für Europäische Studien am King’s College in London und Autor zahlreicher Bücher, darunter »Die revolutionären Ideen von Karl Marx« (VSA 2011).

TITELTHEMA LINKE HOFFNUNG FÜR EUROPA?

Von Alex Callinicos

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© European Parliament CC BY-NC-ND

Zwischen Konfrontation und Kooperation: Alexis Tsipras (l.) bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz

beherrschte, hat ihre soziale Basis weitgehend verloren. Syriza wurde bei den Wahlen im Mai und Juni 2012 zur wichtigsten Partei der städtischen Arbeiterklasse. Nur aufgrund massiv geschürter Ängste konnte die ND unter Antonis Samaras damals noch einmal stärkste Kraft werden und erneut eine Regierung der Sparpolitik bilden. ★ ★★

Veranstaltung: Zwischen Syriza und Front National: Polarisierung in Europa Mehr Informationen über Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 findest du online unter: www.marxismuss.de

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Seit den 1930er Jahren hat kein entwickeltes kapitalistisches Land mehr ein solches, durch die Sparpolitik erzeugtes, materielles Elend erfahren. Diese Entwicklung ließ das Pendel umso mehr zugunsten der Linken ausschlagen. Hinzu kamen entschlossene Kämpfe, etwa gegen die faschistische Goldene Morgenröte oder Samaras‘ Versuch, den Staatssender ERT zu schließen. Insgesamt erhielt die radikale Linke einschließlich der KKE und der Antikapitalistischen Linken (Antarsya), die über deutlichen Einfluss in der Arbeiterund Studierendenbewegung verfügt, bei den jetzigen Wahlen fast 42,5 Prozent der Stimmen. Syriza trat mit einem Maßnahmenprogramm an, das die schlimmsten Auswirkungen der Sparpolitik rückgängig machen soll. Die neue Regierung steht jedoch vor einem strategischen Problem: Griechenland befindet sich aufgrund der »Absichtserklärungen«, die die diversen griechischen Regierungen in

den Jahren 2010 bis 2012 mit der EU vereinbart haben, in einer Zwangsjacke. Ursprünglich hatte Syriza erklärt, sie wolle diese Absichtserklärungen aufkündigen, die Eurozone aber nicht verlassen. Neuerdings jedoch haben ihre Sprecher – zum Beispiel der neue Finanzminister Janis Varoufakis – dieses Versprechen fallen lassen. Sie betonen stattdessen die Neuverhandlung der Rückzahlungsmodalitäten für die griechischen Schulden. Viele bürgerliche Ökonomen unterstützen diesen Kurs. Allgemein wird anerkannt, dass die Staatsverschuldung mit 175 Prozent des nationalen Einkommens zu hoch ist, um zurückgezahlt zu werden. Das jedoch lehnen EU-Präsident Jean-Claude Juncker, Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere wichtige Personen in der EU strikt ab. Für die deutsche herrschende Klasse ist die Sparpolitik eine Möglichkeit, ihr Wirtschaftsmodell der hohen Exporte bei niedriger Inflation aufrechtzuerhalten. Die kürzlich von der EZB getroffene Entscheidung zur Lockerung der Geldpolitik – faktisch bedeutet sie: es wird Geld gedruckt, um die Wirtschaft der Eurozone zu beleben – war eine politische Niederlage für Merkel. Sie wird besorgt sein, dass ein Zugeständnis an Griechenland ähnliche Forderungen aus anderen europäischen Ländern zur Lockerung der Sparpolitik laut werden lässt.


Die Partei Podemos, der Neuaufsteiger im spanischen Staat, hofft darauf, Syrizas Beispiel folgen zu können. Auch bürgerliche Politiker in Portugal, Italien und selbst Frankreich würden es begrüßen, wenn Deutschlands Kontrolle über die Eurozone geschwächt würde. Die Regierung Tsipras ist also großem Druck von außen ausgesetzt. Wie kann sie dem begegnen? Der marxistische Politologe Stathis Kouvelakis, eine führende Person des linken Flügels von Syriza, hat kürzlich argumentiert, dass »wir in Griechenland die Bestätigung der Gramsci-Poulantzas-Option sehen: die Macht durch Wahlen erringen und gleichzeitig die Gesellschaft mobilisieren«. Weiter erklärte er: »Der Staat muss von innen wie von außen erobert werden, von oben wie von unten.« Nicos Poulantzas, ebenfalls ein griechischer marxistischer Politologe, war Ende der 1970er Jahre ein Verfechter des »Kampfs innerhalb des Staats«. Auf diese Weise würden die »inneren Widersprüche des Staats zugespitzt und zu einer tiefgreifenden Transformation des Staats führen, unterstützt durch Strukturen direkter Basisdemokratie«. Zwei Probleme werden bei einer solchen Strategie aufgeworfen: Als Erstes gibt es Grenzen, was die »inneren Widersprüche des Staats« betrifft. Insbesondere benötigt ein lebensfähiger kapitalistischer Staat den Repressionsapparat – die Armee, Polizei, Sicherheits- und Geheimdienste –, um die bestehende Ordnung aufrechterhalten zu können. Revolutionäre Marxisten wie Antonio Gramsci, Lenin oder Leo Trotzki sind hingegen immer für eine andere Antwort eingetreten: Die einzige Möglichkeit, diesen Zwangsinstitutionen des Staats etwas entgegenzusetzen, besteht darin, dass Arbeiter im Verlauf ihres eigenen Kampfs alternative Formen der Macht aufbauen. Das führt zu einem zweiten Problem: Typischerweise blockieren linke Regierungen diesen Prozess, um ihre eigene Autorität zu erhalten und ihren Verhandlungsspielraum mit der herrschenden Klasse zu erweitern. Zum Beispiel stellte sich die Volksfrontregierung Salvador Allendes in Chile im Vorfeld des Militärputsches im September 1973 gegen die Bildung von »Cordones« – von Aktivisten der Arbeiterklasse geschaffene Koordinationskomitees. Seit Anfang 2012 haben in Erwartung einer Regierung unter Tsipras Streiks und Proteste in Griechenland dramatisch abgenommen. Anhänger Syrizas bliesen im Mai 2013 den landesweiten Lehrerstreik ab, der die Antisparbewegung hätte wiederbeleben

können. Kouvelakis gibt zu: »Wir verfügen über keine starken und stabilen Organisationen der unteren Schichten, mit denen wir in eine langwierige Konfrontation einsteigen könnten.« Hinzu kommt die ungewöhnliche Grundlage dieser neuen Regierung: eine Koalition mit der rechten Partei Unabhängige Griechen (Anel), die ebenfalls die Austeritätspolitik ablehnt. Das lässt eine weitere Demobilisierung erwarten. »Guardian«-Autor Mason hat diese Entscheidung als einen Weg für Syriza gerechtfertigt, »eine stabile Regierung zu bilden«, da ihr zwei Sitze für eine parlamentarische Mehrheit fehlen. Er widerspricht sich jedoch selbst, wenn er darauf hinweist, dass »Syriza sich bei jeder gegen die Sparpolitik gerichteten Maßnahme auf die Unterstützung oder Enthaltung der 15 kommunistischen Abgeordneten stützen kann«. Die Bildung dieser Koalition war nicht nur unnötig, sondern sie brachte eine Partei in die Regierung, die Kouvelakis eine »Rechtspartei« nennt, »eine, die vor allem den ›harten Kern‹ des Staatsapparats schützen will«. Anels Parteiführer Panos Kammenos, bekannt für Homophobie und Antisemitismus, der auch über Verbindungen zu den großen Reedereien verfügt, ist jetzt als Verteidigungsminister Chef eines Teils dieses harten Kerns. Mit ihm wird es sehr viel schwieriger werden, Einheit zwischen den »Urgriechen« und den zugewanderten Arbeitern herzustellen, wie es mit den antirassistischen Kampagnen versucht worden ist. Inzwischen wissen wir, dass es bei der Polizei viele Anhänger der Goldenen Morgenröte gibt. Trotz der Verhaftung ihres Anführers ist die Goldene Morgenröte noch nicht am Ende. Sie ist mit 6,3 Prozent der Stimmen drittstärkste Partei geworden und schnitt damit fast so gut wie im Jahr 2012 ab.

Die Koalition mit Anel war unnötig

WEITERLESEN Colin Barker Mit Nicos Poulantzas den Staat überwinden? Online unter marx21.de marx21.de/04-05-10-derstaat-und-die-linke/

TITELTHEMA LINKE HOFFNUNG FÜR EUROPA?

Syriza ist also mit mächtigen Gegenspielern von außen wie innen konfrontiert. Sie wird diese nicht dank des Charmes ihrer Minister oder ihres Verhandlungsgeschicks überwinden können. Die Stärke der Linken in Griechenland hängt von dem Wiederaufleben und der Ausdehnung der Massenbewegung ab, die sich in den Jahren 2009 bis 2012 Bahn brach. Linke sollten den Sieg der neuen Regierung feiern und die fortschrittlichen Maßnahmen unterstützen, die sie ergreift. Aber die gesamte griechische radikale Linke wird sich daran messen lassen müssen, wie erfolgreich sie die Selbstorganisation, das Selbstbewusstsein und die Schlagkraft der Arbeiterinnen und Arbeiter stärkt. Nur so kann der Sparpolitik ein Ende gesetzt werden. ■

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TITELTHEMA

Merkels Zwickmühle Die Bundesregierung verfolgt in Europa weiter kompromisslos ihre Austeritätspolitik, dabei fürchtet sie eine Pleite Griechenlands genauso wie einen Erfolg der neuen Regierung Von Catarina Príncipe ★ ★★

Catarina Príncipe ist Mitglied des Bloco de Esquerda in Portugal und der LINKEN in Berlin.

★ ★★ ZUM TEXT Dieser Artikel erschien zuerst am 6. Februar im englischsprachigen Onlinemagazin »Jacobin«.

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eutschland hat allen Verhandlungen mit der neuen griechischen Regierung eine Absage erteilt. Die Europäische Zentralbank (EZB) akzeptiert Staatsanleihen aus Griechenland nicht mehr als Sicherheit, weil es angeblich keine Garantie gibt, dass die Regierung den »Anpassungsplan« erfüllen wird. Das bedeutet zwar noch nicht, dass Griechenland sofort aus der Eurozone gedrängt wird, weist aber in diese Richtung. Um die Motive hinter dieser abweisenden Haltung und die verschiedenen Interessen zu verstehen, müssen wir uns die besondere Beziehung Deutschlands zum Euro anschauen. Das erklärte Ziel der Eurozone war es, eine starke Währung zu schaffen, auf deren Grundlage ein einheitlicher europäischer Finanzblock mit den USA und China konkurrieren kann. Doch dieser »einheitliche« Block besteht aus konkurrierenden Nationalstaaten. Und die großen Industrienationen im Zentrum haben ein lebhaftes Interesse daran, die Peripheriewirtschaften in Abhängigkeit zu halten. Mit der Einheitswährung ging eine Abwertung der D-Mark im Verhältnis zu den übrigen Nationalwährungen einher. Das senkte den Wert der Arbeitskraft in Deutschland und damit die Preise für deutsche Industriegüter, die dadurch auf den Weltmärkten konkurrenzfähiger wurden. Die umgekehrt daraus resultierende Überbewertung der Währungen der

Übersetzung: David Paenson südlichen Länder Europas schwächte deren Wirtschaft und schuf zugleich zusätzliche Importmärkte für ausländische Produkte – vor allem aus Deutschland. Deutschland zieht also aus der Mitgliedschaft Griechenlands in der Eurozone einen klaren Vorteil, ein »Grexit«, also der Ausschluss des Landes aus der Währungsgemeinschaft, liegt nicht in seinem wirtschaftlichen Interesse. Nichtsdestotrotz droht Kanzlerin Merkel gerade mit einem solchen Szenario. Wieso? Der Wahlsieg von Syriza und der Aufstieg von Podemos in Spanien bringen die Bundesregierung in eine Zwickmühle. Wenn sie deren Forderungen nach einem Ende der Austeritätspolitik nachgibt, würde sie nicht nur die Stabilität des deutschen Finanzsystems aufs Spiel setzen. Es wäre ein Eingeständnis, dass die Kahlschlagpolitik ein absolutes Desaster ist. Das könnte einen Dominoeffekt in Gang setzen, der linken Kräften mit ihrer Forderung nach einer grundlegenden Neugestaltung der Europäischen Union mehr Auftrieb verschafft. Andererseits würde ein Grexit wahrscheinlich eine Verschärfung der Wirtschaftskrise in Deutschland und damit eine weitere gesellschaftliche Polarisierung nach sich ziehen. Merkel ist sich bewusst, dass in solch einer Situation ein Aufstieg der Linken nur mit einer Stärkung der Rechten zu verhindern ist. In Frankreich, England und Deutschland haben konservative Kräfte


die Oberhand, während die Linke Griechenlands trotz starker gesellschaftlicher Polarisierung bei den Wahlen keine absolute Mehrheit erreicht hat. Auf der anderen Seite des Atlantik hat US-Präsident Obama vorsichtige Unterstützung für die griechische Regierung signalisiert, indem er sagte, die Zeit der Kürzungspolitik in Europa sei vorbei, es müsse jetzt Kurs auf Wachstum genommen werden. Aber was ist Obamas Motivation, eine linke Regierung zu unterstützen? Die USA haben kein Interesse an einer Krise des europäischen Finanzsystems. Das würde die Ziele des transatlantischen Fre i h a n d e ls a bk o m m e n s TTIP gefährden, die wirtschaftliche Position sowohl der USA als auch der EU zu stärken. Zudem wäre, wenn alle anderen Optionen scheitern, die Finanzierung Griechenlands durch Russland möglich. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hat eine Einladung Putins nach Moskau für den kommenden Mai angenommen. Dieses Druckmittel kann Athen in der Hoffnung einsetzen, Deutschland zum Einlenken zu bewegen. Angesichts der Lage in der Ukraine will Obama verhindern, dass Putin einen weiteren Verbündeten auf dem europäischen Kontinent gewinnt, vor allem wenn dieser der EU angehört. Trotzdem wäre es naiv, anzunehmen, dass sich Obama mit einer linken Regierung abfinden könnte, die das Potenzial hat, einen politischen Orkan quer durch Europa zu entfachen. Die Gefahr, die Syriza für die politische und wirtschaftliche Hegemonie des europäischen Kapitalismus darstellt, ist ihm sehr wohl bewusst. Die noch unbeantwortete Frage lautet, ob Obama und Merkel einen Weg finden, um weiteres Wachstum und neue Erfolge der Linken zu verhindern und gleichzeitig Russland aus dem Spiel herauszuhalten. Und hier stellt sich auch die wichtige Frage für die Linke: Wie soll ein Aufstieg der Rechten verhindert werden, der eine viel bessere Lösung für alle beteiligten Kräfte wäre – ausgenommen natürlich der normalen Menschen in Griechenland und Europa.

Mobilisierungen der Bevölkerung brauchen, um standhaft zu bleiben. Die griechische Gesellschaft bleibt tief gespalten und der Sieg der Linken könnte schnell in sein Gegenteil kippen, sollte Syriza ihre Wahlversprechen nicht erfüllen. Weitere Demonstrationen zur Stärkung der Regierung sind geplant. Manche fordern einen Volksentscheid darüber, ob die Regierung die Verhandlungen überhaupt fortsetzen sollte. Weitere Unterstützungsaktionen müssen in den kommenden Wochen und Monaten folgen, um die Bewegung wiederzubeleben und die Verhandlungsposition der Regierung gegenüber ihren Kreditgebern zu stärken. International sind Solidaritätsaktionen ebenfalls notwendig: Demonstrationen, Streiks und Spenden an Solidaritätsorganisationen. Die deutsche Linke steht vor einer klaren Herausforderung: Aktiver Widerstand gegen Merkels Verarmungspolitik ist bitter nötig. Sie darf nicht in die Falle tappen, die eigene Wirtschaft aus Angst vor einer Krise infolge eines Grexit zu verteidigen. Widerstand muss auf allen Ebenen stattfinden. Nur eine organisiert Linke kann den Mythos des Euro entzaubern und der Bevölkerung Europas eine Perspektive bieten. ■

Syrizas Entscheidung, ihr Wahlprogramm nicht um die Frage der Währung und eines Austritts aus der EU herum zu bauen, stärkt hier ihre Position. Sollte Griechenland zu einer Rückkehr zur alten Landeswährung gezwungen werden – was die Löhne weiter fallen ließe – würden die Menschen in Griechenland das den europäischen Eliten und nicht Syriza ankreiden. Anfang Februar kamen 15.000 in Athen zusammen, um die Regierung und ihre Verhandlungsstrategie zu unterstützen. Syriza wird starke

© wikimedia

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Deutschland hat eine besondere Beziehung zum Euro

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Plakat für die Wahlkampagne von Podemos: Die junge Partei ist noch »grün hinter den Ohren«, doch schon jetzt hat sie nachhaltige Spuren in der spanischen Politik hinterlassen. Nun steuert sie sogar in Richtung Regierungsübernahme

Können wir? Der Wahlerfolg der griechischen Syriza zieht ganz Europa in seinen Bann. Und schon wird Podemos in Spanien als Kandidatin für die nächste linke Regierungspartei gehandelt, gerade mal ein Jahr nach ihrer Gründung. Zeit für eine kritische Bestandsaufnahme Von Miguel Sanz Alcántara

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Miguel Sanz Alcántara ist aktiv bei Podemos Berlin und Mitbegründer der Gewerkschaftlichen Aktionsgruppe (GAS) für die Organisierung zugewanderter Beschäftigter.

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m 25. Januar 2015 verfolgen junge Menschen aus Griechenland und Spanien in Berliner Bars gemeinsam bis spät in die Nacht die Berichterstattung über die griechischen Parlamentswahlen. Sie skandieren: »Syriza, Podemos: venceremos!« (»Syriza, Podemos: Wir gewinnen!«). Beide Parteien entfachen große Begeisterung und wecken Erwartungen, die von der EU verordnete Sparpolitik zu beenden. Syriza und Podemos verkörpern die Hoffnung von Millionen von Menschen aus Südeuropa, die seit dem Beginn der Wirtschaftskrise 2008 viel verloren haben. Es ist bemerkenswert, dass Podemos weniger als ein Jahr nach der Parteigründung ernsthafte Aussichten

Übersetzung: Rabea Hoffmann hat, die Parlamentswahlen in Spanien im kommenden Herbst zu gewinnen. Die Partei stützt sich zum einen auf eine breite soziale Basis, die sich im Rahmen der Bewegung 15M (so benannt nach der Besetzung der Puerto del Sol in Madrid im Mai 2011 und der damit ausgelösten sozialen Massenbewegung) formiert hat. Zum anderen hat der Erfolg dieser Bewegung den Wunsch nach politischem Wandel in noch weiteren Teilen der Bevölkerung geweckt. Doch kann Podemos diesen Hoffnungen gerecht werden? Im Laufe des vergangenen Jahres haben sich Struktur und ideologische Ausrichtung von Podemos verändert. Die Partei ist viel weniger horizontal und demokratisch organi-

Podemos ist weniger demokratisch als erwartet


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© Podemos / Miguel Brieva

siert als anfangs erwartet. Auch wenn die Beteiligungsmöglichkeit bei der Aufstellung von Listen und der Vergabe von Führungspositionen viel größer ist als in allen anderen Parteien, kam dies bisher fast ausschließlich der von Generalsekretär Pablo Iglesias und seinem Team geführten Hauptströmung zugute. Das Resultat – Listen und Führungspositionen sind (fast) ausschließlich mit seinen Anhängerinnen und Anhängern besetzt – erinnert kaum noch an den durch Einheit, Zusammenarbeit und Horizontalität geprägten Geist der Anfangsphase. Das liegt daran, dass der Führungsanspruch der Gruppe von Intellektuellen um Pablo Iglesias, (mehrheitlich von der Universität Complutense Madrid) unanfechtbar ist. Im Vorlauf der Parteigründung nutzten Iglesias und seine Gruppe die Aufmerksamkeit der Massenmedien, um Vertreterinnen und Vertreter des politischen und medialen Establishments mit ausgefeilten Argumenten zur besten Sendezeit öffentlich bloßzustellen. So gewannen sie eine Popularität, die es ihnen ermöglichte, die Gründung von Podemos zu steuern. Das zeigt sich besonders an den Regeln für die Besetzung von Parteiposten. Im Mittelpunkt stehen hier nicht unterschiedliche politische Projekte und Organisationsformen, sondern die zur Wahl stehenden Individuen – womit eine ernsthafte Konkurrenz zu Iglesias‘ Team quasi ausgeschlossen ist. Hinzu kommt, dass hauptsächlich nicht in den Zirkeln (Basisgruppen) gewählt wird, sondern per Onlineabstimmung. Viele Mitglieder, die über die Besetzung innerparteilicher Funktionen abstimmen, nehmen nicht an

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den Debatten in den Zirkeln teil und kommen kaum in Kontakt mit Vorschlägen und ideologischen Ausrichtungen, die mit denen von Iglesias‘ Gruppe konkurrieren. Die interne Diversität der Partei schlägt sich weder in der zentralen noch in den dezentralen Führungsebenen nieder. Die Gewinnerinnen und Gewinner rechtfertigen dies damit, dass eine »effiziente« Organisation notwendig sei – im Gegensatz zu einer demokratischeren. In den Worten des Politischen Sekretärs Íñigo Errejóns, »eine ›Wahlkriegsmaschine‹, die siegen kann«.

Iglesias und sein Team haben ein Organisationsmodell geschaffen, in dem jedwede Kritik – und besonders die Forderung nach einer radikaleren und ambitionierteren Politik in Verbindung mit sozialen Kämpfen – als Gefährdung des Wahlsiegs behandelt wird. Carolina Bescansa, die Hauptverantwortliche des Sekretariats für politische und soziale Analyse sagte im Januar, dass es »eine Partei Podemos zum Protestieren und eine zum Gewinnen« gebe. Ihre Podemos – und die von Pablo Iglesias – würde gewinnen. Andere Strömungen, die mit eigenen Listen zu Wahlen um Führungspositionen in der Partei antraten, wollten hingegen »nur protestieren«. Nachdrücklich behauptet die derzeitige Führung zudem, es ginge nicht darum, sich in der gesellschaftlichen Linken oder Rechten zu verorten, sondern einzig um den Konflikt zwischen denen »da oben« und denen »da unten«. Dies wird ausschließlich im Rahmen der institutionellen Politik formuliert, Ziel sei es, dort die Souveränität der einfachen Bürger und Bürgerinnen wiederherzustellen.

Die Partei repräsentiert die Sehnsucht nach Veränderung

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Veranstaltung: Krise in Spanien: Von den Indignados zum Aufstieg Podemos Mehr Informationen über Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 findest du online unter: www.marxismuss.de

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Parallel zur Konsolidierung des homogenen Führungsblocks revidierte Podemos einige ihrer politischen Forderungen. Das Wahlprogramm, mit dem die Partei 1,2 Millionen Stimmen bei den Europawahlen erzielt hat, wurde seiner radikaleren Vorschläge beraubt. Das neue Programm enthält den Entwurf eines Wirtschaftsprogramms, das von den bekannten sozialdemokratischen Intellektuellen Juan Torres López und Vicenç Navarro geschrieben wurde. Diesen Entwurf präsentierte die Führung als »realistisch«, als nötige Anpassung, um bei den Wahlen erfolgreich abzuschneiden. Pablo Iglesias begründete diesen Schritt wie folgt: »Es ist sehr viel einfacher, ein Programm für die Europawahlen aufzustellen, als für die landesweiten Parlamentswahlen, die wir gewinnen wollen.« So wurden Forderungen nach einem allgemeinen Grundeinkommen oder dem Stopp der Schuldentilgung durch solche nach einem höheren Arbeitslosengeld und Neuverhandlungen mit Kreditgeberinnen und Kreditgebern ersetzt. Die Forderung nach der Wiederverstaatlichung strategisch wichtiger Wirtschaftsbereiche ist verschwunden und die geplante Arbeitsgesetzgebung ist sehr viel schwammiger als im Programm für die Europawahl. Die Führung von Podemos versucht damit, ihre soziale Basis auf Bereiche der Mittelschicht auszuweiten, die allzu drastischen Reformen misstrauen. Der herrschenden Klasse soll gezeigt werden, dass es sich um eine »verantwortungsbewusste« Partei handelt, die zu Kompromissen bereit ist – wie auch von Syriza unter Tsipras praktiziert.

Diese eindeutige Ausrichtung gab es vor einem Jahr noch nicht. Damals war Podemos auf die Unterstützung des aktivsten und kämpferischsten Teils der Bewegung 15M und der gesellschaftlichen Linken angewiesen, um das Projekt voranzubringen. Doch je näher die Parlamentswahlen rücken, desto stärker verlagert sich der Fokus auf den Wahlsieg. Aber die Linkswende der spanischen Gesellschaft hat sich erst durch die sozialen Kämpfe und Massenmobilisierungen der Bewegung 15M vollzogen. Die breite Selbstorganisation angesichts der Auswirkungen der Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass Hunderttausende Menschen mit ihren bisherigen Positionen gebrochen haben und nun politische Maßnahmen unterstützen, die eine soziale Transformation möglich machen. Heute vertritt jedoch nur eine Minderheit der sozialen Basis von Podemos die Orientierung auf soziale Bewegungen und Gewerkschaften. Diese Strömung


TITELTHEMA LINKE HOFFNUNG FÜR EUROPA?

entstammt der Bewegung 15M und den sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfen, die dem 15. Mai 2011 vorausgegangen sind. Sie versteht Podemos als Werkzeug für gesellschaftliche Veränderung im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung und will eine Partei, die die Arbeit in politischen Institutionen mit sozialen Bewegungen und Selbstorganisation zusammenbringt und sich nicht nur auf Wahlkampf konzentriert. Die Jahre seit der Entstehung von 15M haben gezeigt, dass Mobilisierungen außerhalb der politischen Institutionen das Potenzial besitzen, die Gesellschaft zu verändern. Beispiele dafür sind die »Plattform der von Hypotheken Betroffenen« (PAH), die mehr Zwangsräumungen durch direkte Blockaden und Proteste verhindert hat als jegliches formelles Vorgehen. Ebenso die »Mareas« (Fluten), eine soziale Bewegung, die von Beschäftigten aus dem Gesundheits- und Bildungsbereich ausging und gegen Privatisierungen und Kürzungen im öffentlichen Sektor gekämpft hat. Schließlich waren da die »Märsche für die Würde«, zu denen unter dem Motto »Brot, Arbeit und ein Dach über dem Kopf« zwei Millionen Menschen nach Madrid gekommen sind – ohne dass eine Partei oder eine der großen Gewerkschaften dazu aufgerufen hatte. Trotz allem ist Podemos nach wie vor ein wichtiges Projekt, das Anlass zur Hoffnung gibt. Allein die Existenz der Partei hat drastische Veränderungen im politischen System Spaniens bewirkt: Der König hat abgedankt, die anderen Parteien haben sich zu mehr Transparenz entschlossen, die Führung der sozialdemokratischen PSOE ist in Rente gegangen, in der Linkspartei Izquierda Unida gibt es Positionsdebatten, welche in der Zukunft zu einer Abspaltung führen könnte, die sich Podemos anschließt. Der Wahlerfolg von Podemos und die steigende Mitgliederzahl haben in großen Teilen der Bevölkerung die Hoffnung auf wirtschaftliche Reformen geweckt – Reformen, die von der Sozialdemokratie schon vor dreißig Jahren als unmöglich abgetan wurden. Das liegt nicht nur am Auftreten der Parteiführung, sondern auch an den Aktivitäten der Mitglieder der Zirkel. Ein großer Erfolg war die von Podemos organisierte Demonstration »Marsch der Veränderung« am 31. Januar. Als mehr als 150.000 Menschen die Straßen von Madrid füllten, war die gleiche Kampfkraft zu spüren wie auf dem Höhepunkt des 15M. Die Demonstration hatte eine klare Botschaft für das politische Establishment und die herrschende Klasse: Podemos ist mehr als ein Parteiapparat. Die Partei strahlt aus und repräsentiert die Sehnsucht nach Veränderung der Bevölkerung. Nun wissen die Wohlhabenden, wenn es nötig ist, kann Podemos sich auch außerhalb der politischen Institutionen durchsetzen. »Tick-tack, tick-tack…«, riefen die Massen in Madrid, um deutlich zu machen, dass ihre Zeit schon fast gekommen ist. ■

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SCHWERPUNKT WEHRET DEN ANFÄNGEN

© Fotomontage marx21

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Begriffsverwirrung Pegida: rechtsextrem oder faschistisch?

Der Westen gegen den Islam? Wir fragten einen Einwanderungsexperten

Nie wieder! Ein jüdischer Student bekämpft Islamhass

Opium des Volkes Die Linke und Religion


Ein Alarmsignal Die Pegida-Aufmärsche sind ein Produkt des antimuslimischen Rassismus der bürgerlichen Mitte und der zunehmenden sozialen Polarisierung in Deutschland. Es ist kein Zufall, dass gerade Sachsen das Epizentrum der Bewegung ist Von Yaak Pabst

E

s sieht so aus, als sei Pegida als Massenbewegung auf der Straße vorerst gestoppt. Das ist vor allem der spontanen Gegenbewegung von Zehntausenden zu verdanken, die sich den »-gida«-Aufmärschen in vielen Städten in den Weg stellten. Auf dem Höhepunkt der Gegenmobilisierungen protestierten bundesweit Hunderttausend Menschen gegen die islamfeindlichen Aufmärsche. Besonders wichtig waren die Gegenproteste in Dresden und Leipzig, an denen jeweils Zehntausende teilnahmen. Bei der Dresdener Kundgebung am 26. Januar fand der Musiker Herbert Grönemeyer erstaunlich klare Worte: »Wenn mal wieder eine religiöse Gruppe für vielschichtigste, teilweise diffuse Befürchtungen als Sündenbock und Zielscheibe ausgemacht wird, ist das eine Katastrophe! Das ist absurd, gemein, zutiefst undemokratisch, unrecht und das geht gar nicht! Dort waren wir schon mal und dort wollen wir nicht mehr hin.« Grönemeyer sprach aus, was bei der Suche nach Gründen für den Aufstieg der Pegida-Bewegung selten genannt wird: Antimuslimischer Rassismus ist in Deutschlands mehrheitsfähig. Seit dem 11. September 2001 stilisieren Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien ebenso wie ein Großteil der Medien »den Islam« als Feindbild, indem sie ihn gezielt mit negativen Schlagworten wie Terrorismus, Frauenunterdrückung, Homophobie oder Antisemitismus in Zusammenhang bringen. Diese gezielt verbreiteten Vorurteile haben über Jahre den Boden bereitet, auf dem Pegida nun wachsen konnte. Die Politprominenz wurde zur Stichwortgeberin für die rassistischen Demonstrationen. Nicht nur einmal waren hier Slogans wie »Lesen sie doch mal Buschkowsky« oder »Sarrazin statt Muezzin« zu hören.

Die Pegida-Aufmärsche waren neben den Pogromen gegen Asylbewerberinnen und Asylbewerber Anfang der 1990er Jahre und den jährlichen Naziaufmärschen in Dresden die größte rassistische Mobilisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte. Auf dem Höhepunkt der Bewegung marschierten über mehrere Wochen Tausende auf den Straßen. Warum war aber gerade in Sachsen die Bewegung so stark? Zahlreiche Medien führten als Argument an, dass der Anteil von nur 0,4 Prozent Muslimas und Muslimen in Dresden es ermögliche, Ängste vor dem vermeintlich Unbekannten zu schüren. Das ist sicherlich richtig, aber nur ein Teil der Erklärung. Denn in anderen Gegenden Deutschlands leben ebenfalls nur wenige Muslimas und Muslime, ohne dass Pegida dort Tausende in ihren Bann ziehen konnte. Dass Sachsen das Epizentrum der Bewegung war, hängt auch mit der Stärke der dortigen extremen Rechten zusammen. In der »Süddeutschen Zeitung« schreibt Heribert Prantl: »Sachsen, einst Wiege der roten Sozialdemokratie, ist heute das konservativste und rechteste deutsche Bundesland.« Auch eine Studie der Technischen Universität Dresden kam im Jahr 2010 zu dem Schluss, dass Sachsen als »Hochburg der NPD und rechtsextremer Strukturen« bezeichnet werden könne. Tatsächlich konnte sich die NPD mehr als ein Jahrzehnt lang in Sachsen über Umfrage- und Wahlergebnisse freuen, die deutlich über fünf Prozent lagen. Im Jahr 2004 zog sie sogar mit einem Rekordergebnis von 9,2 Prozent der Stimmen in den Landtag ein. Bei der letzten Landtagswahl im vergangenen August verfehlte sie zwar mit 4,9 Prozent (81.060 Stimmen) denkbar knapp den Einzug, es fehlten 800 Stimmen. Dafür erzielte aber die AfD aus dem Stand heraus 9,8 Prozent, womit sie in die Nähe des SPD-

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Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21.

SCHWERPUNKT WEHRET DEN ANFÄNGEN

Rassismus gegen Muslime ist mehrheitsfähig

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© Franz Ferdinand Photography / CC BY-ND / flickr.com

Wie hier am 12. Januar in Mainz gingen bundesweit Tausende gegen Pegida und seine lokalen Ableger auf die Straße. In vielen Städten konnten die rassistischen Aufmärsche durch Blockaden im Keim erstickt werden

Ergebnisses kam (12,4 Prozent). Jeder siebte Wähler gab also seine Stimme entweder der nationalistischrassistischen AfD oder den Neonazis von der NPD. Freilich spielte die NPD bei den Aufmärschen in Dresden oder Leipzig nie die erste Geige. Doch Kader der Partei sowie der Kameradschafts- und rechten Hooliganszene waren immer vor Ort und bildeten eine wichtige Stütze für die Bewegung. Das Neue war jedoch, dass die Aufmärsche in Sachsen weit in die Bevölkerung ausgreifen konnten. Was treibt Menschen, unter ihnen ebenso Arbeiterinnen und Arbeiter wie selbstständige Gewerbetreibende, in die Arme einer rassistischen Bewegung? In seinem Artikel »Die große Aggressionsverschiebung« argumentiert der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Schui: »Tatsächlich geht es nicht einfach gegen den Islam. Er ist der Ersatz für den eigentlichen, den objektiven Gegner. Wir haben es hier, so ist zu vermuten, mit einer Verschiebung, auch Aggressionsverschiebung zu tun. Das eigentliche Motiv für die Demonstrationen (…) ist die Vorstellung einer allgemeinen Bedrohung, nämlich durch Arbeitslosigkeit, niedrige Renten, Armut allgemein.« Ein Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung und die gesellschaftliche Struktur in Sachsen belegt diese Einschätzung. Von 1990 bis 2004 galt das Land als das Bayern des Ostens: wirtschaftlich stark, politisch stabil konservativ. Seit der Wende setzten die

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Regierungen des Landes in der Wirtschaftspolitik auf Leuchtturmprojekte. Das bedeutete, dass sie hauptsächlich exportintensive Unternehmen förderten und sich auf bestimmte regionale Zentren konzentrierten. Die Region Dresden sollte sich beispielsweise als internationales Zentrum der Chipproduktion etablieren. Rund 1,7 Milliarden Euro ließ sich der Freistaat die Ansiedlung von Firmen wie AMD, Infineon oder Qimonda im »Silicon Saxony« im Laufe der Jahre kosten. Tatsächlich wurde das Dresdener Umland zu einem der fünf weltweit größten Standorte der Halbleiterindustrie. Doch als es in dieser Branche zu einer Krise kam, führten die rund 750 Mikroelektronik- und IT-Unternehmen mit mehr als 40.000 Beschäftigten Massenentlassungen durch. Die Qimonda-Pleite steht beispielhaft für das Scheitern dieser Wirtschaftspolitik. Trotz der Förderung mit mehreren hundert Millionen Euro mussten die Bosse des Unternehmens im Jahr 2011 Insolvenz anmelden. Die Folge: 2200 der insgesamt 2750 Dresdner Beschäftigten wurden entlassen. Hinter der schönen Fassade des »Silicon Saxony« kam der hässliche Geist des Kapitalismus zum Vorschein. Zwar blieb die Zahl der Beschäftigten seit Beginn der Krise im Jahr 2009 stabil und stieg 2013 sogar leicht auf 1,98 Millionen an. Doch prekäre und nicht existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse (wie Ein-Euro-Jobs, Mini- und Midijobs, Leih- oder Zeitarbeit, Werkvertrags- und Werkvertragsleiharbeit, Scheinselbstständigkeit) prägen immer größere Teile des Arbeitsmarktes. Inzwischen arbeitet etwa ein Drittel der Erwerbstätigen in derartigen Beschäftigungsformen. Gleichzeitig sind immer mehr Jobs befristet (im Jahr 2012: 46 Prozent der Neueinstellungen) und seit Jahren stagnieren die Löhne und Gehälter. Die durchschnittliche Entlohnung liegt in Sachsen mit 2240 Euro brutto unter dem Durchschnitt der ostdeutschen Bundesländer (2350 Euro; im Westen: 3391 Euro). Damit liegt Sachsen sogar noch hinter MecklenburgVorpommern. Sachsen ist zum Armenhaus der Bundesrepublik geworden. Laut »Sächsischer Zeitung« ist hier der Anteil der Geringverdiener im bundesweiten Vergleich »mit am höchsten«. So gehören 330.000 Menschen (23 Prozent) der Vollzeitbeschäftigten zu den Geringverdienern. 18,9 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Laut dem Armutsbericht 2013 gehört Sachsen nach wie vor zu den fünf Bundesländern mit der höchsten Armutsgefährdung. Zugleich ist der Gegensatz zwischen Arm und Reich in Sachsen und speziell in der Region Dresden stark wahrnehmbar. Die Menschen dort empfinden ihn nicht nur als besonders ungerecht, sondern er schürt auch die Verunsicherung. Die Angst vor dem sozialen Abstieg erzeugte bei den Pegida-Teilnehmenden antidemokratische und rassistische Ressentiments.


Aufschlussreich ist das Wahlergebnis der Linkspartei, die in Sachsen die zweitstärkste Partei ist. Bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr rutschte sie von 20,6 auf 18,9 Prozent ab. Die Statistik über die Wählerwanderung zeigt, dass etwa 15.000 ihrer Wählerinnen und Wähler zur AfD wechselten und 2.000 zur NPD. Weitere 13.000 kehrten der Partei den Rücken und gingen ins Lager der Nichtwähler über. Gemessen in absoluten Stimmen erreichte DIE LINKE ihr zweitschlechtestes Landtagswahlergebnis und das drittschlechteste Wahlergebnis im Freistaat überhaupt (ohne Kommunalwahlen). In absoluten Stimmen verlor die Partei seit 1999 insgesamt 170.749 Wählerinnen und Wähler, das entspricht einem Rückgang um mehr als ein Drittel. Der Verlust ist umso dramatischer, als die sächsische LINKE gar nicht an der Regierung beteiligt war, sondern als größte Oppositionspartei agierte. Doch die dortige Parteiführung um Rico Gebhardt ist auf Anpassungskurs und verhielt sich mehr als »Regierung im Wartestand« denn als echte sozialistische Oppositionspartei. In einer Wahlanalyse schreiben Benjamin-Immanuel Hoff und Horst Kahrs: »Gebhardts Wahlstrategie bestand von Beginn an darin, DIE LINKE als ernsthafte Regierungsalternative langfristig zu positionieren. (…) Gleichzeitig vermied die Partei einen Wahlkampf, der darauf abzielte, die Situation des Freistaates in den schwärzesten Farben zu zeichnen«. Auch um das Thema Rassismus machte DIE LINKE im Wahlkampf einen Bogen: Trotz der bekannten Stärke der extremen Rechten und der Hetze der AfD gegen Flüchtlinge und Muslime produzierte sie keine explizit antirassistischen Plakate oder Flugblätter. Stattdessen war die Parteiführung sehr um ein respektables und bürgerliches Ansehen bemüht. Hinzu kommt: Führende Vertreterinnen und Vertreter der sächsischen Linkspartei waren in den vergangenen Jahren an der Durchsetzung der Schuldenbremse beteiligt. Trotz massiver Proteste der Parteibasis stimmten elf der 27 LINKEN-Abgeordneten im sächsischen Landtag einer Änderung der Landesverfassung zu, die die Schuldenbremse verankert und jede Neuverschuldung verbietet. Bereits im Jahr 2006 war die damalige PDS im Dresdner Stadtrat ähnlich gespalten, als es um die Privatisierung des städtischen Wohnungsbestands ging. Letztendlich stimmte die Mehrheit der Fraktion für den Verkauf von 48.000 städtischen Wohnungen an die USamerikanische »Heuschrecke« Fortress Investment Group. Die politische Orientierung auf eine Regierungsübernahme hat dazu geführt, dass DIE LINKE in Sachsen nicht als eine Alternative zu den etablierten Parteien wahrgenommen wird – und sich Zehntausende Wählerinnen und Wähler in den letzten

Jahren von ihr abwandten. Pegida befindet sich zwar im Niedergang, aber die Gefahr ähnlicher Bewegungen von rechts ist nicht gebannt. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Pediga groß gemacht haben, sind noch immer dieselben. Weil im globalen Rahmen das Feindbild »Islam« die Kriege des Westens rechtfertigen soll, wird der Rassismus von oben, die Hetze gegen Muslime weitergehen. Auch wenn die Teilnehmerzahlen an den PegidaAufmärschen zurückgehen, ist davon auszugehen, dass die organisierte Naziszene verstärkt auf Gewalt gegen Muslimas, Muslime und Geflüchtete setzt. Ohnehin ließ sich seit Beginn der Bewegung eine Steigerung fremdenfeindlicher Angriffe um 130 Prozent feststellen. Pegida habe ein Klima entfesselt, das Gewalt will, bewertet der Rechtsextremismusexperte Hajo Funke diese Entwicklung. Die extreme Rechte wird versuchen, an dem Erfolg von Pegida anzuknüpfen. Die Debatte, wie DIE LINKE mit der Post-PegidaSituation umgehen soll, ist in vollem Gange. Volker Külow, Ekkehard Lieberam und Dietmar Pellmann, drei langjährige Parteimitglieder aus Leipzig, haben den lesenswerten Artikel »In die Offensive kommen – Pegida und die Aufgaben der Partei DIE LINKE« verfasst. Sie schreiben: »Wir sind der Überzeugung, dass ohne eine politische Offensive der Linkspartei gegen die wachsenden Kriegsgefahren und gegen die neoliberale Politik ein weiteres Anschwellen reaktionärer Bewegungen zu befürchten ist, egal unter welchem Namen diese Bewegungen künftig auch auftreten werden«. Dieser Einschätzung ist zuzustimmen. Es bedeutet, dass DIE LINKE ihr Profil als Protestpartei nicht weiter aufweichen darf. Anknüpfungspunkte für den Widerstand gegen die neoliberale Umstrukturierung der Gesellschaft gibt es genug – auf kommunaler Ebene der Kampf gegen steigende Mieten, auf Länderebene der Protest gegen Stellenabbau im öffentlichen Dienst oder auf Bundesebene der Widerstand gegen die Aufweichung des Mindestlohns, für gleiche Löhne für Frauen oder gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie bei Amazon oder Burger King. Die LINKE muss auch ihr antirassistisches Profil schärfen. Die Partei braucht Plakate, Flugblätter und Zeitungen gegen die wachsende Islamfeindlichkeit und den Rassismus gegen Flüchtlinge, für Stadtviertel, Betriebe, Schulen und Universitäten. Was DIE LINKE hingegen nicht in die Offensive bringen wird, ist, dem »rechten Wutbürgertum« hinterherzulaufen. Vielmehr muss sie verhindern, dass rechte Bewegungen oder Parteien mit rassistischen Parolen in die Arbeiterklasse ausgreifen und dort DIE LINKE verdrängen. Diese Gefahr ist real: Bei den letzten Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen wählten zusammengerechnet 379.000 Personen die AfD – 51.000 davon hatten zuvor noch für DIE LINKE votiert. ■

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Veranstaltung: Front National und AfD – eine vergleichende Analyse Mehr Informationen über Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 findest du online unter: www.marxismuss.de

SCHWERPUNKT WEHRET DEN ANFÄNGEN

Dass die Rechte in Sachsen für diese Menschen zu einem Anziehungsspunkt wurde, hängt aber auch mit der Schwäche der LINKEN zusammen.

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SCHWERPUNKT

Rassismus in Bewegung Seit dem Aufkommen der Pegida-Demonstrationen wird viel darüber diskutiert, ob sie »rechtspopulistisch«, »rechtsextrem« oder gar »faschistisch« sind. Doch kaum jemand sagt, was mit diesen Begriffen überhaupt gemeint ist Von Jan Maas

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Jan Maas ist Onlineredakteur von marx21.de.

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ordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger sorgte auf der Innenministerkonferenz in Köln mit seiner Äußerung, bei den Pegida-Initiatoren handele es sich um »Neonazis in Nadelstreifen« für großes Aufsehen. Es sei besorgniserregend, dass es »dem organisierten Rechtsextremismus gelingt, Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft, die Angst vor einer Islamisierung haben, dort abzuholen und an den Rand unserer Gesellschaft zu ziehen«, sagte der SPD-Politiker. Vor allem bei seinen Amtskollegen aus der Union stieß die Formulierung »Neonazis in Nadelstreifen« auf Kritik. Die Bewegung zu »stigmatisieren«, sei der »völlig falsche Weg«, sagte etwa Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier. Und auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière mahnte, dass die Sorgen jener Teile der Bevölkerung, die sich »wie Fremde im eigenen Land« fühlten, ernst genommen werden müssten. Zugleich warnte er jedoch auch vor der Gefahr durch »populistische Brandstifter«. Deutlich schärfere Worte wählte hingegen Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn von den Grünen. Wer die Pegida-Bewegung gutheiße, mache sich zum »Wegbereiter von Fa-

schisten und Rechtsradikalen«. Doch trotz der Kontroverse um den Charakter der Pegida-Bewegung macht sich selten jemand die Mühe zu erklären, was mit den verwendeten Begriffen überhaupt gemeint ist. Was unterscheidet »Rechtsextremismus« und »Rechtspopulismus«? Und ist eine solche Unterscheidung überhaupt wichtig? Wann ist eine Bewegung faschistisch und trifft das auf Pegida zu? Hinter den verschiedenen Etiketten verbergen sich unterschiedliche Einschätzungen der Bewegung. Indes ist das Entscheidende nicht, die Bewegung in der einen oder anderen Schublade abzulegen, sondern die gesellschaftliche Dynamik dahinter zu verstehen, um eingreifen zu können. Den Begriff »Rechtsextremismus« definierten führende Sozialwissenschaftler im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2006 wie folgt: »Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in einer Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtferti-


© wikimedia

Pegida-Aufmarsch in Dresden am 25. Januar: In ihrer Mutterstadt hatte die Bewegung mit Abstand die größte Ausstrahlungskraft. Nur ein kleiner Teil der Demonstrierenden kam hier aus der organisierten Naziszene

gung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen.« An dieser Definition gibt es viel zu kritisieren. Der wichtigste Gesichtspunkt, der dabei außen vor bleibt, ist die Frage, ob Menschen diese Einstellungen passiv teilen oder ob sie auch bereit sind, ihre Ansichten aktiv durchzusetzen, und welche Mittel sie dazu gegebenenfalls zu wählen bereit sind. Mit anderen Worten: Sitzen die Rassistinnen und Rassisten nur am Tresen oder jagen sie auch Menschen? Für Menschen, deren Leib und Leben bedroht sind, ein erheblicher Unterschied. Ein wenig klarer in dieser Hinsicht ist das Bundesamt für Verfassungsschutz (BFV). Das BFV sprach bis Mitte der siebziger Jahre grundsätzlich nur von Rechtsradikalismus. Seit 1974 unterscheidet es zwischen »radikalen« Ansichten und »extremistischen«

Taten: »In früheren Verfassungsschutzberichten werden (verfassungsfeindliche) Bestrebungen als ›radikal‹ bezeichnet. Der Begriff ›extremistisch‹ trägt demgegenüber der Tatsache Rechnung, dass politische Aktivitäten oder Organisationen nicht schon deshalb verfassungsfeindlich sind, weil sie eine bestimmte, nach allgemeinem Sprachgebrauch ›radikale‹, das heißt bis an die Wurzel einer Fragestellung gehende Zielsetzung haben. Sie sind ›extremistisch‹ und damit verfassungsfeindlich im Rechtssinne nur dann, wenn sie sich gegen den Grundbestand unserer freiheitlich rechtsstaatlichen Verfassung richten.« Trotz dieser vermeintlichen Trennschärfe hilft es aber nicht, das Begriffspaar »rechtsextrem« und »rechtsradikal« einfach zu übernehmen. Der Begriff des Extremismus hat seine eigene Bedeutung. Er steht für den Versuch, linke und rechte Bewegungen gleichermaßen zur Gefahr für »die Demokratie« zu

SCHWERPUNKT WEHRET DEN ANFÄNGEN

Der Begriff »Rechtsextremismus« hilft nicht weiter

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erklären. Er beinhaltet den Gedanken, dass die Gesellschaft eine »Mitte« habe, in der die vernünftigen Parteien und Ideen von der CSU bis zu den Grünen ihren Platz haben. Dieser parlamentarischen Demokratie stehen angeblich »Extremistinnen und Extremisten« gegenüber, die einen auf der linken und die anderen auf der rechten Seite. Die Extremismustheorie unterschlägt mehreres: zum einen, dass die Gesellschaft vor allem in oben und unten gespalten ist, in Menschen, die ihre Arbeitskraft zu Markte tragen müssen, und Menschen, die diese Arbeitskraft ausbeuten. Zum zweiten verschweigt sie, dass es linken Bewegungen um die Ausweitung der Demokratie, beispielsweise in den Betrieben, geht, während rechte für die Abschaffung jeglicher Demokratie kämpfen. Und zum dritten blendet sie aus, dass es die Parteien der angeblichen »Mitte« selbst sind, die per Gesetz demokratische Rechte aushöhlen und Menschen ausgrenzen.

terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«. Zwar ist es richtig, dass die deutsche herrschende Klasse ab Anfang der 1930er Jahre Hitler unterstützte und dem deutschen Faschismus zur Macht verhalf. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Die deutsche herrschende Klasse unterstützte die Nazis vor allem deshalb, weil diese mit der SA eine mehrere hunderttausend Mann starke Bürgerkriegsarmee kontrollierte, die vor allem gegen die Organisationen der Arbeiterbewegung kämpfte. Deren Macht wollten die Herrschenden brechen, um die Krise zu überwinden. Erst als die Mittel der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre dafür nicht mehr ausreichten, schwenkten die Herrschenden nach und nach zu Hitler um. Die faschistische Massenbewegung selbst dagegen rekrutierte sich bis dahin vor allem aus den Reihen des vom Abstieg bedrohten Kleinbürgertums und der Deklassierten. Die gleichen gesellschaftlichen Wurzeln haben auch AfD und Pegida. Zwar sind sie gegenwärtig nicht faschistisch, aber in beiden Organisationen sind Nazis vertreten – obwohl AfD und Pegida sich Mühe geben, Distanz zu zeigen. Das ist gefährlich, weil sich Faschistinnen und Faschisten als grundsätzliche Systemgegner darstellen und in Krisenzeiten eine radikalisierende Dynamik auslösen können.

Heute beruht Rassismus auf kulturellen Merkmalen

Diese Problematik trifft auf den Begriff des Rechtspopulismus ebenfalls zu. Kritikerinnen und Kritiker werfen vermeintlichen Rechtspopulisten vor, in der Bevölkerung vorhandene rassistische Einstellungen auszunutzen. Allerdings lassen sie dabei außer Acht, dass Kräfte wie Pegida oder die AfD dabei an die menschenverachtende Ausgrenzung von Geflüchteten durch die EU oder auch an Aussagen von Politikerinnen und Politikern der »Mitte« anknüpfen. Schließlich waren es Bundespräsident Joachim Gauck oder Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU), die behaupteten, der Islam gehöre nicht zu Deutschland oder zu Sachsen. Der Begriff »Rechtspopulismus« kritisiert die Form, nicht den Inhalt. Zudem bedeutet die Verwendung des Begriffs »Rechtspopulismus« automatisch, dass man von der Existenz anderer Populismen ausgeht, zum Beispiel der des Linkspopulismus. Dieser Vorwurf ist oft etwa gegen Oskar Lafontaine oder auch gegen Hugo Chávez erhoben worden. Dahinter steht immer der elitäre Vorwurf, die so Kritisierten redeten den Menschen nach dem Mund und versprächen ihnen unrealistische Politik, um gewählt zu werden. Ein weiteres Problem mit dem Begriff des Rechtspopulismus besteht darin, dass er die Rolle von faschistischen Kräften in den fraglichen Bewegungen unterschlägt. Jedoch ist der Begriff Faschismus selbst auch umstritten. Eine unter Linken weitverbreitete Definition stammt von dem Vorsitzenden der stalinisierten Komintern, Georgi Dimitroff. Dieser beschrieb den Faschismus 1935 als »die offene,

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Es bestehen jedoch entscheidende Unterschiede zwischen der AfD und Pegida: Die eine mobilisiert kleinbürgerliche Stimmungen an der Wahlurne, die andere stellt eine kleinbürgerliche Bewegung auf der Straße dar, aber beide Organisationen sind instabil. Um den Kern dessen zu beschreiben, was Pegida ausmacht, eignet sich vor allem der Begriff des Rassismus. Ein verbreiteter Einwand lautet, dass der Begriff untauglich sei, um die aktuelle Hetze gegen den Islam zu beschreiben. Schließlich handele es sich ja hier um keine »Rasse«, sondern um eine Religion. Dazu ist jedoch zunächst einmal zu sagen, dass es Rassen ohnehin nicht gibt. Jede Form von Rassismus beruht auf willkürlich ausgewählten Merkmalen, das einzig Entscheidende ist, dass sie als unveränderbar gedacht werden. Seit dem Holocaust ist der biologisch begründete Rassismus, der vor allem auf körperlichen Merkmalen beruhte, zu Recht in Verruf geraten. Verschwunden ist er aber keineswegs. Allerdings beruht der Rassismus heute eher auf kulturellen Merkmalen, die aber als ebenso unveränderlich gedacht werden. Hieß das Vorurteil früher eher: »Die Schwarzen sind halt so«, heißt es heute eher: »Die Muslimas und Muslime sind halt so.« Fol-


Kathrin Oertel als Rednerin auf der Dresdener Pegida-Demonstration am 5. Januar: Sie gehörte zum »gemäßigten« Flügel des Pegida-Führungskreis und befürwortete eine Hinwendung zur AfD. Nach ihrem Rücktritt aus dem »Orga-Team« gründete sie den Verein »Direkte Demokratie in Europa«, mit dem sie sich »rechts von der CDU positionieren« möchte

Die gesellschaftliche Dynamik hinter solcherlei politischen Umgruppierungen hat der italienische revolutionäre Marxist Antonio Gramsci beschrieben: »An einem gewissen Punkte ihres geschichtlichen Lebens lösen sich die gesellschaftlichen Klassen von ihren traditionellen Parteien. Die traditionellen Parteien in ihrer gegebenen Organisationsform, mit bestimmten, diese Partei bildenden, sie vertretenden und leitenden Menschen, werden nicht mehr als eigentlicher Ausdruck ihrer Klasse oder Klassenfraktion anerkannt.« Mit dem Niedergang der FDP erleben wir bereits die Ablösung einer Klassenfraktion von ihrer traditio-

nellen Partei und die Orientierung eines Teils davon an der AfD. Gramsci schreibt weiter: »Wenn solche Krisen auftreten, so wird die unmittelbare Situation delikat und gefährlich, weil das Feld den Lösungen durch Gewalt und der Tätigkeit dunkler Mächte überlassen wird. Ihr Ausdruck sind die charismatischen oder von der Vorsehung ausersehenen Menschen.« Deutschland scheint von einer solchen Krise noch weit entfernt. Doch sollte es Merkel irgendwann einmal nicht mehr gelingen, die Eurokrise in den Süden zu exportieren, könnte sich das schnell ändern. Pegida und AfD greifen nur die Ausgrenzung von Muslimas und Muslimen auf, die die letzten Regierungen seit mehr als einem Jahrzehnt parallel zum »Krieg gegen den Terror« betrieben haben. Dieses Wechselspiel zwischen dem Rassismus der Herrschenden und neuen Parteien und Bewegungen, die ihn auf die Spitze treiben, wird durch die Diskussion, ob es sich bei Pegida nun um »Rechtspopulismus«, »Rechtsextremismus« oder »Faschismus« handelt, vollkommen verschleiert. Es ist hilfreicher, sich die soziale Basis der Parteien und Bewegungen anzusehen, wenn man ihre Dynamik verstehen will. So rassistisch die antimuslimische Hetze von Teilen der CDU auch ist – die antimuslimische Bewegung auf der Straße in Form von Pegida hat eine neue, gefährlichere Qualität. ■

SCHWERPUNKT WEHRET DEN ANFÄNGEN

Die Tatsache, dass die Herrschenden auch unter sich gespalten sind, erklärt deren unterschiedlichen Umgang mit Pegida. Während ein Teil der CDU offensichtlich bereit ist, ganz gezielt antimuslimische Hetze zu unterstützen, indem er hasserfüllte Vorurteile zu berechtigten Ängsten schönredet, ist ein anderer Teil sich der Tatsache bewusst, dass ein moderner Kapitalismus kontrollierte Einwanderung braucht und dass eine rassistische Bewegung dem entgegen steht. Aus dem gleichen Grund wendet sich ein Flügel der AfD um Ex-BDI-Chef Hans-Olaf Henkel entschieden von Pegida ab, während AfDVorstand Alexander Gauland an Pegida-Demos teilgenommen hat. Der antimuslimische Rassismus dient als sinnstiftendes Element für die im Zuge der Krise vom Abstieg bedrohte und sich radikalisierende Mittelschicht, die sich früher an der FDP orientiert hat. Pegida lenkt diesen Rassismus in eine Bewegung auf der Straße und macht ihn so zu einer realen Bedrohung für Leib und Leben von Muslimas und Muslimen. Wichtige Elemente einer faschistischen Bewegung sind damit in Keimform zwar vorhanden. Aber andere wichtige Elemente wie die paramilitärische Bewaffnung und die Orientierung, die Organisationen der Arbeiterbewegung zu zerschlagen, fehlen dagegen bisher völlig.

© Oertel_blu-news.org CC BY-SA / flickr.com

gen wir beispielsweise Pegida, dann hat eine Kassiererin bei Lidl mehr mit Angela Merkel gemeinsam als mit ihrer muslimischen Kollegin, die vielleicht ein Kopftuch trägt. In Wirklichkeit haben die beiden Kassiererinnen aber das gemeinsame Interesse, nicht ausgebeutet zu werden. Genau das ist die gesellschaftliche Funktion von Rassismus: Teile der Unterdrückten werden ausgegrenzt und andere Teile mit den Herrschenden in einen Topf geworfen. Die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus bringt Verwerfungen mit sich, die zu Herrschaftskrisen führen können, wie gerade in vielen Ländern des europäischen Südens zu beobachten ist. Gerade in solchen Situationen ist es aus Sicht der Herrschenden wichtig, dass die Arbeiterklasse gespalten bleibt und sich nicht gegen sie vereinigt.

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SCHWERPUNKT

»Es wird gezielt eine Feindbildideologie aufgebaut« Der Westen gegen den Islam? Erleben wir gegenwärtig einen »Kampf der Kulturen«, wie ihn der Harvard-Professor Samuel Huntington vor zwanzig Jahren prophezeit hat? Wir haben bei Einwanderungsexperten Werner Schiffauer nachgefragt Interview: Stefan Bornost Der Publizist Hendryk M. Broder behauptet schon lange, der »aufgeklärte Westen« würde in Form des Islamismus mit einer neuen Art von Totalitarismus bedroht, der die liberale Gesellschaft untergräbt. Der Westen wehre sich nicht, sondern mache AppeasementPolitik. Muss man ihm nicht spätestens nach den Anschlägen auf die »Charlie Hebdo«-Redaktion Recht geben? Mit Appeasement-Politik meint Broder ja die zurückhaltende Politik der Westmächte gegenüber Hitler bis 1939. Ich halte die darin angedeutete Gleichsetzung von Faschismus und Islamismus für hochproblematisch. Die Islamisten haben ebensoviel Bezüge zu linken wie zu rechten Bewegungen. Rechts ist der Wertkonservatismus. Aber Elemente wie der Internationalismus, die Betonung der sozialen Gerechtigkeit, die Kritik an Kolonialismus und Imperialismus sind traditionell mit der Linken verbunden. Deshalb sind die islamistischen Gruppen ja auch in vielen arabischen Ländern an die Stelle der Linken getreten. Der Islamismus ist einfach ein neues, modernes Phänomen – da helfen alte Zuschreibungen nicht. Zudem stellt das Bild der AppeasementPolitik die wahren Verhältnisse auf den Kopf: Die muslimische Gemeinde in Deutschland steht unter erheblichem Rechtfertigungsdruck und wird zunehmend von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt.

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Werner Schiffauer

Werner Schiffauer ist Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie und Autor zahlreicher Bücher zu Einwanderungsfragen. Er lehrt an der Europa-Universität in Frankfurt an der Oder.

Das entkräftet das Argument aber nicht, dass der Westen die Aufklärung hatte und die islamische Welt nicht. Unbestreitbar ist die geistesgeschichtliche Entwicklung der Aufklärung in Europa gewesen. Doch es ist sehr problematisch, gesellschaftliche Entwicklungen aus der Geistesgeschichte abzuleiten. Nehmen wir Deutschland. Dass hier die Heimat von Intellektuellen wie Immanuel Kant war, hat doch nicht verhindert, dass mit den Nazis ein Regime an die Macht gekommen ist, was jeden menschlichen Wert mit Füßen getreten hat. Zugespitzt gesagt: Kant hat Hitler nicht verhindert. Genauso wenig führt die Abwesenheit eines Kant in der islamischen Welt direkt in die Diktatur. Wir müssen die Umstände konkret angucken. Die islamische Welt hat in der Tat keine überzeugende Bilanz, was Demokratie angeht. Aber sie ist auch Opfer kolonialer Unterdrückung gewesen – was bis heute fortwirkt. Es ist ja auch nicht so, dass die dortigen Regime alle dem Westen feindlich gegenüber stehen würden. Die Diktaturen in Ägypten oder SaudiArabien werden direkt von der US-Regierung unterstützt. Das lässt sich schwerlich unter Demokratieunfähigkeit der dortigen muslimischen Bevölkerung verbuchen. Anfang der neunziger Jahre schrieb der US-Amerikaner Samuel Huntington ei-


Muslimas aus Hamburg demonstrieren gegen Gewalt: Genau wie die überwiegende Mehrheit der Muslimas und Muslime in Deutschland fordern sie Anerkennung und ein Ende der Diskriminierung . Dass sich kleine Gruppierungen radikalisieren, hat nichts mit dem Islam zu tun

nen Bestseller über den kommenden »Kampf der Kulturen«. Das Politmagazin »Cicero« hat »Huntingtons Prophezeiung« zum Titelthema seiner aktuellen Ausgabe gemacht. Hat sich seine These tatsächlich bewahrheitet? Erleben wir einen Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam? Dieses Bild vom »Kampf der Kulturen« ist falsch und gefährlich. Es behauptet, dass einem einheitlichen Westen ein einheitlicher Islam gegenüberstehe – grundverschieden und unvereinbar. Doch es gibt weder »den Westen», noch »den Islam«. Zahlreiche Mitglieder der letzten US-Regierung, unter anderem ExPräsident George Bush, gehörten fundamentalistischen christlichen Sekten

an, die zum Beispiel die Evolutionstheorie ablehnen und an Schulen verbieten wollen oder den Krieg gegen den Irak als »Kreuzzug« bezeichneten. Die meisten Menschen in Europa finden das eher befremdlich. Bush führte Krieg, Millionen in den USA und Europa demonstrierte dagegen: Der einheitliche Westen ist also eine Konstruktion. Die meisten Menschen hier wären zu Recht beleidigt, mit Bush in einen Topf geschmissen zu werden. Genauso verhält es sich mit dem Islam. Der Islam ist eine Religion und keine Kultur. Länder mit überwiegend islamischer Bevölkerung wie zum Beispiel Iran, Marroko, Indonesien und Ägypten haben eine unterschiedliche Geschichte und unterschiedliche Traditionen.

Ist der »Kampf der Kulturen« also reine Propaganda? Das nun nicht. Selbst wenn ein »Kampf der Kulturen« in der Sache nicht existiert, kann er herbeigeredet werden. Das ist nicht neu. Anfang des zwanzigsten Jahrhundert wurde ja schon mal ein »Kampf der Kulturen« ausgerufen – damals gegen Deutschlands »Erbfeind« Frankreich. Es wurde behauptet, die deutsche Kultur und die französische Zivilisation stünden sich unversöhnlich gegenüber. Die Deutschen bescheinigten sich »Tiefe« und »Innerlichkeit« und unterstellten der Bevölkerung Frankreichs Genusssucht, Oberflächlichkeit und übertriebenen Intellektualismus. Von der Unversöhnlichkeit der Kulturen waren durchaus auch die Intellektuellen überzeugt. Der Hintergrund dafür war damals die Konkurrenz zwischen dem aufstrebenden Industriestaat Deutschland und Frankreich um die vorherrschende Position in Europa. Heute begleitet die Ideologie des »Kampfs der Kulturen« eine aggressive Politik der westlichen Regierungen im Nahen und Mittleren Osten. Solche Feindbildideologien dienen der Selbstvergewisserung. Wenn wir versuchten positiv zu benennen, wofür wir stehen, würden wir unweigerlich scheitern – siehe die Leitkultur-Debatten, die immer wieder aufgewärmt werden und keinen Schritt weiterkommen. In einer solchen Situation kann man es sich einfach machen. Man konstruiert ein stereotypes Bild vom Anderen, der für alles steht, wovon man sich absetzen will: Irrationalität, Fanatismus, Rückständigkeit. Dann kann man sich in die Brust werfen und in schönster Selbstgerechtigkeit behaupten: So sind wir nicht – wir stehen für Fortschritt, Aufklärung und so weiter. Diese Operation erzeugt die Illusion von Gemeinsamkeit, ohne dass man einen Konsens darüber braucht, was das im Einzelnen bedeutet. So haben wir dann wenigstens die Illusion von Identität und Souveränität. Das machen im Übrigen

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© Brainbitch / flicr.com / CC BY-NC

Was Menschen muslimischen Glaubens untereinander verbindet, ist der Bezug auf den gleichen religiösen Text – mehr nicht. Deutsche, die zum Islam konvertieren, haben nicht auf einmal mehr kulturelle Gemeinsamkeiten mit anderen Muslimas oder Muslimen als mit ihren Mitmenschen hier.

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nicht nur wir, die gleiche Operation wird in den islamischen Ländern vollzogen. Beides spielt sich trefflich in die Hände. Eine verbreitete Vorstellung lautet, dass muslimische Einwandererinnen und Einwander veraltete konservative und frauenfeindliche Vorstellungen in eine offene westliche Gesellschaft einführen. Die Folge seien Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen Natürlich wachsen diese Jugendlichen in ihren eingewanderten Familien auf und die hohe Wertstellung der Familie ist auch eine islamische Wertstellung. Nur zu glauben, dass die Werte der Jugendlichen aus dem Ausland hierher importiert werden, ist falsch. Diese Werte sind mehr Ausdruck von sozialen Desintegrationsprozessen als von einer selbstbewussten Kultur. Abgesehen davon geschehen Ehrenmorde unanhängig vom Islam auch in säkularen Familien. Der Islam selbst lehnt Ehrenmorde und Zwangsehen ab. Es gibt für diese Verbrechen keine theologische Begründung. Außerdem muss man zwischen arrangierten Ehen und Zwangsehen unterscheiden. Außerhalb Europas sind die meisten Ehen heute arrangiert, das heißt, Familien verhandeln untereinander über die Hochzeit ihrer Kinder. Die Kinder haben dabei ein Vetorecht. Oft wird diese Aufgabe an die Eltern herangetragen, die Kinder fordern ihre Eltern auf, für sie einen passenden Partner zu finden. Zwischen arrangierter Ehe und Zwangsehe gibt es keine genaue Grenzen, sondern eine Grauzone. In einem Dorf, in dem ich geforscht habe, wurde die Zwangsehe verurteilt. Sie widerspricht dem Prinzip der arrangierten Ehe, nämlich ein neues Mitglied zwanglos in die Familie zu integrieren. Ohne die Vermittlung könnten Spannungen zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter entstehen, darum verhandeln die Familien miteinander, um zu sehen, ob sie miteinander auskommen. Bei einer Zwangsehe würden die Spannungen nur auf ein anderes Feld verlagert werden: Dann kommen die Familien miteinander aus,

aber nicht die Eheleute. Die Integration der beiden Familien scheitert auch so. Eine Ausnahme gab es, als der Vater ein massives Interesse an der Ehe hatte, weil er Geschäftsbeziehungen in die Stadt festigen wollte. Während Zwangsehen abgelehnt werden, ist die Akzeptanz von arrangierten Ehen erstaunlich hoch. In der Migration bricht auch dieses soziale System auf. Das Hauptproblem für Eltern in der Migration ist, dass ihre Kinder ihnen fremd werden, weil sie in fremde Schulen und fremde Kulturen eintauchen. Wenn ich im Iran leben würde und meine Kinder dort in eine Schule geben müsste, hätte ich diese Ängste auch. Ich würde das Interesse der Eltern aber als legitim ansehen.

Ehrenmorde haben nichts mit Religion zu tun

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Ist der Islam eine besonders frauenfeindliche Religion? Ich würde empfehlen, mal zu Frauen hinzugehen, die das Kopftuch tragen und mit ihnen zu reden, oder zu Frauen, die sich jetzt dem Islam zuwenden. Wir reden gerne über diese Frauen, aber viel zu wenig mit ihnen. Sicher ist der Islam eine sehr auf die Familie zentrierte Religion. Unter den Bedingungen der Migration nimmt die Familie aber auch eine besondere Stellung ein, um den Menschen Halt zu geben. Dies hat den Islam übrigens auch für Frauen besonders interessant werden lassen: Gerade für die Frauen der ersten Generation erlaubte der Bezug auf den Islam, die Männer auf ihre Aufgaben gegenüber der Familie zu verpflichten. Vielleicht ist der Blick auf die Männer in diesem Zusammenhang sogar interessanter als der auf die Frauen. Die männlichen Einwanderer haben schlechtere Schulabschlüsse, werden öfter straffällig und haben schlechtere Zukunftsaussichten. Junge Migrantinnen scheinen hier besser klarzukommen. Viele junge Migrantinnen würden hier Karriere machen, wenn man sie denn ließe. Durch das Kopftuchverbot grenzt man gerade die Frauen aus, die ihren Platz nicht an Heim und Herd sehen. Aber die

deutsche Politik sagt ihnen: Euer Platz ist an Heim und Herd oder ihr gebt das Kopftuch auf. Sind die Sorgen vieler Linker vor Frauenunterdrückung und Homophobie denn unbegründet? Natürlich ist es richtig, die Rechte von Frauen und Homosexuellen zu verteidigen. Falsch ist hingegen die Annahme, diese Errungenschaften würden speziell durch »den Islam« bedroht. »Den Islam« gibt es nicht, ebenso wenig wie »den Westen«. Der Islam ist eine Religion und keine Kultur. Was Muslime untereinander verbindet ist die Bezugnahme auf den gleichen religiösen Text, mehr nicht. Der Koran selbst ist, wie die Bibel auch, eine Baustelle aus der alles Mögliche heraus gelesen werden kann, auch die Unterdrückung von Frauen. Christliche Fundamentalistinnen und Fundamentalisten, die Ärzte angreifen, die Abtreibungen vornehmen, berufen sich auf die Bibel. Die überwältigende Mehrzahl der Anhänger des Christentums findet so etwas abscheulich. Die Taliban berufen sich auf den Koran. Die überwältigende Mehrzahl von Muslimas und Muslimen fand die unter den Taliban praktizierte Frauenentrechtung aber schlimm. Beispiel Homophobie: Leider sind sich islamische und katholische Würdenträger, sowie orthodoxe Jüdinnen und Juden einig in der Ablehnung gleichgeschlechtlicher Liebe. Die Diskriminierung von Schwulen und Lesben jetzt »dem Islam« zuzuschreiben ist daher einfach einseitig. Dazu kommt, dass auch von der Linken Phänomene in den großen Topf »Islam« geworfen werden, die dort gar nichts zu suchen haben. Beispiel Ehrenmorde: Das sind fürchterliche Taten, aber sie haben ursächlich nichts mit Religion zu tun. Es gibt in zahlreichen Gesellschaften im Mittelmeerraum Ehrenmorde, in muslimischen, christlichen und orthodoxen. Mit der Vereinfachung vom »Kampf der Kulturen« zwischen »dem Westen« gegen »den Islam« wird gezielt eine neue Feindbildideologie aufgebaut. Diese Ideologie begleitet eine aggressive Politik der westlichen Regierungen im Nahen und Mittleren Osten und dient, in Zeiten sozialer Unsicherheit, der Selbstvergewisserung nach innen. Das sollte die Linke nicht mitmachen. ■


»Nie wieder, egal wen es trifft«

Armin Langer lebt als Jude in Berlin-Neukölln und kämpft gegen antimuslimischen Rassismus. In seinem Gastbeitrag zeigt er, dass die Islamfeindinnen und -feinde von heute ähnliche »Argumente« wie die Antisemiten des 19. Jahrhunderts benutzen

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mmer wieder höre ich von allen Seiten, ob jüdisch oder nicht, dass ich als Jude nicht in der Nähe einer Moschee, schon gar nicht in einem Problemkiez leben könne. Zur »No-go-Area« wurde für mich der Berliner Stadtteil Neukölln erklärt, obwohl ich dort seit einem Jahr gerne und gut wohne. Muslimas und Muslime, Migrantinnen und Migranten schaden meiner körperlichen Unversehrtheit, darf ich immer wieder in Internetforen lesen, in Fernsehbeiträgen hören.

★ ★★ Armin Langer ist Student der jüdischen Theologie in Berlin und Koordinator der SalaamSchalom-Initiative in Neukölln.

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SCHWERPUNKT WEHRET DEN ANFÄNGEN

Doch nicht wir Jüdinnen und Juden müssen im Jahr 2014 Angst haben. Egal wie allgegenwärtig Antisemitismus in Deutschland ist, wir sind nicht mehr die Hauptzielgruppe von Diskriminierung und Hass: Nach der Schoah, einem prägenden Ereignis in der jüdischen Psyche, wurden wir endlich Teil des Mainstreams in

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SCHWERPUNKT Deutschland, in Europa. »Der Jude« ist nicht mehr schwach. Die neuen Juden sind die Muslime, die neuen Jüdinnen die Muslimas. In den meisten Bundesländern ist es nicht erlaubt, Tote den islamischen Ritualen gemäß zu beerdigen. Der Muezzin darf die Gläubigen nicht zum Freitagsgebet rufen. Muslimische Gemeinden sind vom Privileg der Kirchensteuer ausgeschlossen. Es gibt keine muslimische Vertretung in den Rundfunkräten. Und jetzt haben wir noch nicht von alltäglichen Diskriminierungen gesprochen. Ich genieße, kurzum, in Deutschland mehr Rechte als meine muslimischen Freundinnen und Freunde. Trotzdem werde ich, der Jude, noch immer als Opfer behandelt. Uns kommen die Benachteiligungen, vor denen viele muslimische Deutsche stehen, bekannt vor. Einst mussten wir für Anerkennung kämpfen, einst waren viele, zeitweise alle gegen uns, einst war unser Leben in Europa gefährdet. Der Hass gegen uns wurde immer stärker, schließlich wurde unsere Vernichtung minutiös geplant. Zum Glück haben alle Europäerinnen und Europäer aus der Geschichte gelernt, aber ich kann den Unmut nachvollziehen. Es waren schließlich Muslime,

Es ist höchste Zeit für Solidarität unter ehemaligen und aktuell diskriminierten Minderheiten

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Veranstaltung: Islamfeindlichkeit – Rassismus im Gewand der Aufklärung Mehr Informationen über Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 findest du online unter: www.marxismuss.de

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die vom »Nationalsozialistischen Untergrund« in Deutschland ermordet wurden. Wir stehen natürlich nicht vor einem »neuen« Holocaust, aber die NSUMorde haben uns gezeigt, dass bei türkischen und muslimischen Toten so genau nicht hingeschaut wird. Denn – wenn ein Türke stirbt, dann hat’s doch einer aus der Sippe gemacht. Medien, Politik, Polizei und Geheimdienste gingen derweil davon aus, dass da »Dönermörder« ihresgleichen töteten. Klar, Mohammed ist ja per se kriminell, ist halt so bei »denen«. Wer bei Google die Kombination »Muslime sind« eingibt, dem liefert die Suchmaschine folgende Vorschläge für »verwandte Suchanfragen«: 1. gefährlich, 2. intolerant 3. Abschaum 4. Dreck. In Blogs lese ich, dass »Muslime überall mit gleicher Wildheit agieren« oder dass »Muslime schon immer auf einer Mission gewesen sind«. Ich habe dann das Gefühl, dass ich das alles kenne, nur mit »Juden« an Stelle von »Muslime«. Dieses Gefühl ist für mich verstörend. Und glauben Sie mir, dass niemand die Atmosphäre von damals besser nachvollziehen kann als wir Jüdinnen und Juden. Wir saugen diese Sensibilität mit der Muttermilch auf. Jahrhundertelang waren wir fremd in Europa – wir haben es nur dann in die Schlagzeilen geschafft, als es um Ritualmorde, internationale jüdische Ver-

schwörungen und »Judenbolschewismus« ging. Heute, wenn ich während des Frühstücks das Radio einschalte, geht es um jüdische Traditionen und Ikonen. Über Juden und jüdische Kultur wird oft so lobend und freundlich gesprochen, dass es schon nervt. Wenn es aber um den Islam und seine Anhängerinnen und Anhänger geht, handeln die Beiträge fast immer von Terroranschlägen (da kommt der IS einigen wie gerufen), Gewalt (die Salafisten aus Bonn oder die arabische Prügeltruppen in den Berliner Sommerbädern) oder Integrationsdefiziten (Kopftuch). Wir bekommen das Bild einer gewalttätigen Religion geliefert. Warum sollte man die anerkennen? Als es in Berlin, Bremen und anderen deutschen Städten zu antisemitischen Aussagen bei Demonstrationen gegen Israels Krieg kam, waren sie schnell zur Stelle, diejenigen die das Ganze für ihre antimuslimische Hetze genutzt haben. Aus 1000 Demonstrierenden auf der al-Quds-Demonstration sind »alle Muslimas und Muslime«, ist »der Islam« geworden, der uns bedroht, den Antisemitismus importiert. Dabei ist dasselbe passiert, wie jedes Jahr beim alQuds-Marsch: Basierend auf dem Verhalten von 0,0001 Prozent der muslimischen Bevölkerung in


© Gregor Zielke

diesem Land, werden alle zu gefährlichen Islamistinnen und Islamisten, die Synagogen anzünden wollen. So wie im Kommentar des stellvertretenden Chefredakteurs der »Bild am Sonntag« Nicolaus Fest mit dem Titel: »Islam als Integrationshindernis«. Dieser Kommentar ist nur das berühmteste Beispiel für die Instrumentalisierung der Jüdinnen und Juden, um Rassismus zu verbreiten. Ich übertreibe? Keineswegs: Um die vermeintliche Gewalttätigkeit des Islams zu beweisen, zitieren Islamkritikerinnen und -kritiker wie Thilo Sarrazin, Matthias Matussek oder Alice Schwarzer gerne kriegerische Koranverse. Vor siebzig Jahren pflegte die antisemitische Wochenzeitung »Der Stürmer«, kriegerische Verse aus dem Tanach, der jüdischen Bibel, zu zitieren. Damit wollte die Redaktion beweisen, dass Jüdinnen und Juden das Blut der weißen Europäer vergießen wollen. Ihnen wurde vorgeworfen, gegenüber nichtjüdischen Menschen zu lügen, so stehe es im Talmud. Wenn Muslimas und Muslimen pauschal ein Leben in Parallelgesellschaften vorgeworfen wird, ist das nichts anderes als das, was uns vor ein paar Jahrzehnten noch ins Gesicht schlug. Wir dürfen nicht vergessen, zu welchen Tragödien diese Ausgrenzung führen kann. Sie bietet Rassisten den Nährboden, um Schweineköpfe auf Moscheen und Synagogen zu werfen, um unsere Gotteshäuser anzuzünden. Zahlreiche Angriffe auf Muslimas und

Muslime in Deutschland sind Ergebnis dieser Hassreden, wie beim Fall Marwa el-Sherbini vor fünf Jahren in Dresden oder das von Andres Breivik verübte Massaker in Norwegen.Julius und Ethel Rosenberger haben für die Sowjetunion spioniert, also arbeiten alle Jüdinnen und Juden für den Staatskommunismus. Bernard Madoff war Finanzspekulant an der Wall Street, also sind alle Jüdinnen und Juden am Finanzkapitalismus schuld. Und analog dazu sind alle Muslimas und Muslime Terroristen, weil Abu Bakr al-Baghdadi ein Kalifat mithilfe eines heiligen Krieg errichten will. Alle Muslime unterdrücken ihre Frauen weil ein bis drei Ehrenmorde pro Jahr in Deutschland verübt werden. Islamfeindliche Aktivistinnen, Aktivisten und Publizierende sind mir deswegen zu unkreativ. Sie benutzten dieselbe Sprache und ähnliche »Argumente« wie die Antisemiten des 19. Jahrhunderts, die es heute freilich auch noch gibt. Es ist erstaunlich, dass so viele Vertreterinnen und Vertreter des jüdischen Establishments diese Parallelen nicht sehen. Im Gegenteil, sie deklarieren ganze Stadtteile wie Neukölln zur »No-go-Area« – für sich selbst. Dabei wäre es höchste Zeit für ein sozial engagiertes Judentum in Europa. Für Solidarität unter ehemaligen und aktuell diskriminierten Minderheiten. Es ist die Zeit für Jüdinnen und Juden gekommen, nicht mehr nur »nie wieder« zu sagen, sondern »nie wieder, egal wen es trifft«. ■

★ ★★ ZUM TEXT Dieser Artikel ist erstmals im September 2014 in der Tageszeitung »Der Tagesspiegel« erschienen. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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Flashmob in Berlin-Neukölln im Juli 2014: Unter dem Motto »Wir sind keine Feinde – Stoppt die Hetze!« demonstrieren über einhundert Menschen gegen antimuslimischen und antisemitischen Rassismus

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TITELTHEMA

© wikimedia

Wie hältst du´s mit der Religion?

Ein Beitrag über das Verhältnis von Atheismus, Säkularismus und Religionsfreiheit – oder: Warum »Opium des Volkes« eine der am häufigsten falsch zitierten und interpretierten Textstellen des Marx'schen Werkes ist Von Kate Davison

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K Kate Davison war bis 2013 Mitglied im Vorstand der LINKEN in Berlin-Neukölln. Sie wohnt zurzeit in Melbourne, wo sie eine Doktorarbeit in Geschichte schreibt.

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arl Marx war Atheist und Kritiker jeglicher Religion. Einer seiner meistzitierten Aussprüche lautet: »Religion ist das Opium des Volks«. Doch er meinte damit nicht nur – wie oft behauptet –, dass Religion von oben verordnete »Volksverdummung« sei. Es lohnt sich daher, den Absatz genauer zu betrachten: »Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. (...) Der Kampf ge-

gen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks: Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Il-


lusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« Hier konkurrieren zwei Aussagen, die dem realen Doppelcharakter von Religion entsprechen. Einmal dient Religion den leidenden Menschen als Trost, als schmerzlinderndes Betäubungsmittel, andererseits wird sie als eine Form des Protests »gegen das wirkliche Elend« bezeichnet. Marx und Engels waren Anhänger einer materialistischen Weltsicht, die menschliche Handlungen als bestimmende Faktoren des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausmacht. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie einem statischen, unhistorischen Verständnis von Religion als ausschließlich reaktionärer Ideologie im Interesse der herrschenden Klassen anhingen oder dass aus ihrer Sicht religiöse Menschen und religiöse Ideen in bestimmten Epochen nicht auch fortschrittliche und sogar revolutionäre Wirkung haben konnten. Deshalb lehnten sie auch einen militanten Atheismus ab, der das Verbot von Religion als politisches Ziel ausgab. Ihrer Meinung nach würde Religion nicht »abgeschafft«, sondern im Verlaufe der gesellschaftsverändernden Klassenkämpfe von selbst an Bedeutung verlieren und schließlich eines natürlichen Todes sterben. Weil Religion zum einen ein Mittel zur Unterdrückung und zum anderen Ausdruck des Kampfs gegen Ungerechtigkeiten sein kann, konnte die Bibel eine Inspiration für Martin Luther King wie auch für rassistische Ku-Klux-Klan-Mitglieder sein. Unter Berufung auf den Koran (aber auch auf die Bibel) werden Frauen unterdrückt. Gleichzeitig ließen sich die Revolutionärinnen der arabischen Revolution aber auch vom Koran inspirieren. Um zu verstehen, was diese Analyse der Religion als widersprüchliches Phänomen für die praktische Politik von Linken bedeuten kann, lohnt ein Blick in die Geschichte. Die Debatten des 21. Jahrhunderts haben erstaunliche Ähnlichkeiten mit denen im 19. und 20. Jahrhundert. Es ist keinesfalls überraschend, dass der Begriff »Kulturkampf« in letzter Zeit so freizügig in Zeitungen verwendet wird. Ein großer Teil der Rhetorik, die wir in Frankreich zum Thema Kopftuch, in der Schweiz zum Minarettverbot oder in Deutschland zu Salafismus hören, ähnelt der des Kulturkampfs, den Bismarck in den 1870er Jahren führte. Diese staatlich geführte Kampagne zur Verunglimpfung einer Religion zielte auf die Unterdrückung der Religionsfreiheit der katholischen Jesuiten ab.

Wer sich den Wikipedia-Eintrag zum Kulturkampf anschaut und dabei gedanklich das Wort »Katholik« durch »Muslim« ersetzt, wird erkennen, wie sehr sich die Stimmung in der »westlichen Welt« von damals der von heute ähnelt. Im Mittelpunkt von Bismarcks Vorgehen stand das Verbot politischer Äußerungen durch Geistliche von der Kirchenkanzel herab. Aber das war nur eine von zahlreichen Maßnahmen, die sich gegen Katholikinnen und Katholiken wandten und eine allgemeine antikatholische Stimmung in der Gesellschaft schaffen sollten, um die Macht der herrschenden Klasse zu stärken und das neue Deutsche Reich gegen Instabilität abzusichern. August Bebel, der Gründer der Sozialdemokratischen Partei, wandte sich im Jahr 1872 im Reichstag gegen Bismarck und bezog Position gegen ein Verbot des reaktionären Jesuitenordens, des Horts der Gegenreformation und der Gegenaufklärung. Damit stellte er sich gegen die Mehrheit der Liberalen und demokratischen Linken, die Bismarcks Gesetzgebung im Namen der Aufklärung und der Trennung von Staat und Kirche unterstützten. Um dieselbe Zeit kämpfte Engels gegen starke Tendenzen in der Sozialdemokratie, den Kampf gegen Religion ausdrücklich in das Parteiprogramm aufzunehmen. Er hielt dies für einen Fehler, der die Partei von der Mehrheit der gläubigen Arbeiterinnen und Arbeiter abgeschnitten hätte. Schließlich wurde die Position von Marx und Engels im Programm von 1891 übernommen, indem die SPD Religion zur Privatsache erklärte. Die programmatische Festschreibung des Atheismus war damit gescheitert.

Marx und Engels lehnten militanten Atheismus ab

★ ★★ ZUM TEXT Bei diesem Text handelt es sich um eine stark gekürzte Fassung von Kate Davisons Artikel »Atheismus, Säkularismus und Religionsfreiheit – die marxistische Tradition«, der in unserer Theoriezeitschrift theorie21 (Heft 2/2012: Rassismus. Meinungsmacher, Ideologien, Gegenkräfte) erschienen ist. Bestellung unter: info@marx21.de.

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Bismarcks »Kulturkampf« gegen die katholische Kirche macht deutlich, dass Säkularismus immer auch für reaktionäre politische Zwecke instrumentalisiert werden kann. Das zeigt auch die jüngere Geschichte Frankreichs. Das Ideal des Säkularismus wurde dort im letzten Jahrzehnt zunehmend von Rechten benutzt, um eine unerbittliche antimuslimisch-fremdenfeindliche Kampagne zu betreiben. Der britische Autor Jim Wolfreys nennt als Beispiel die Kontroverse um ein städtisches Schwimmbad in Lille im Jahr 2003. In diesem Bad wurden mit der Zustimmung der sozialistischen Bürgermeisterin Martine Aubry getrennte Wassergymnastikkurse für Frauen angeboten. Die Frauengruppe bestand zwar aus Angehörigen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, doch da sich auch Muslimas darunter befanden, wurden die exklusiven Nutzungszeiten für Frauen und der Einsatz

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© Brian Wisconsin / CC BY-NC-ND / flickr.com

»So sieht radikaler Feminismus aus«: Aktivistin auf der »May Day Parade« in Minneapolis im Jahr 2006. Islam und Feminismus widersprechen sich keineswegs – ob mit Kopftuch oder ohne

ausschließlich weiblicher Anleiterinnen als Affront gegen die säkularen Prinzipien der Republik gesehen. Politikerinnen und Politiker der konservativen UMP und andere warfen Aubry vor, die Befindlichkeiten der Muslime bevorzugt zu haben. Schließlich gab die Stadt nach; ein Repräsentant des Rathauses bemerkte, es sei ihre »Pflicht, die Neutralität des öffentlichen Dienstes zu verteidigen, die hier auf dem Spiel steht«. Etwa ein Drittel der Frauen verließ den Kurs. Die Angelegenheit wurde zu einem so gewichtigen Streitthema, dass der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy den Vorgang im März 2012 auf einer seiner Wahlkampfveranstaltungen wieder zur Sprache brachte. Er lieferte ein anschauliches Beispiel dafür, wie republikanische Werte im Dienste eines impliziten Rassismus mobilisiert werden können: »Auf dem Territorium der Republik wollen wir – so leid es uns tut, Madame Aubry – dieselben Öffnungszeiten von Schwimmbädern für Männer wie für Frauen.« Wie Wolfreys darlegt, dienten diese Verweise Sarkozys auf die republikanische Tradition auch dazu, das massive soziale Kürzungsprogramm während der tiefsten Wirtschaftskrise in Europa seit den 1930er Jahren zu übertünchen: »Unfähig, Antworten auf die drängenden großen Probleme der Bevölkerung zu finden, hat sich die republikanische Staatsmacht da-

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für entschieden, sich stattdessen damit zu befassen, was muslimische Mädchen und ihre Mütter auf ihren Köpfen tragen, wie ihr Essen zu etikettieren ist, wo sie beten, und mit wem sie Wassergymnastikkurse machen dürfen.« Als einen der wichtigsten Punkte spricht Wolfreys an, dass sich weite Teile der Linken in der Debatte über den Schleier zu Komplizen Sarkozys machten, indem sie den »Mythos vom fortschrittlichen republikanischen Säkularismus« stützten. Das trug jedoch nur dazu bei, »die diskriminierende Einstellung gegenüber der muslimischen Bevölkerung in Frankreich noch zu verstärken«. Das Ideal des Säkularismus, argumentiert Wolfreys, sei für die französische Linke zum »blinden Fleck« geworden, vor allem wenn es darum geht, dem faschistischen Front National entgegenzutreten. Jean-Luc Mélenchon vom Parti de Gauche (Linkspartei) unterstützte beispielsweise das Kopftuchverbot und kritisierte die antikapitalistische NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste) dafür, dass sie bei einer Kommunalwahl eine kopftuchtragende Kandidatin präsentierte. Noch geschickter als Sarkozy bei der Mobilisierung republikanischer Stimmungen zu eindeutig islamophoben Zwecken ist der Front National, wenn die Partei beispielsweise behauptet, »Säkularismus wird einfacher werden, wenn erst einmal die Einwanderung gestoppt worden ist«, und folgerichtig vorschlägt, ein »Ministerium für Säkularismus und Einwanderung« zu schaffen. Der Front National greife den Säkularismus nur allzu gerne auf, schreibt Wolfreys, »nicht etwa um der Sache selbst willen, sondern weil dies eine Gelegenheit bietet, sich selbst als die eifrigsten aller Säkularisten darzustellen, als diejenigen, die die Autorität der Republik gegen ›Eindringlinge‹ verteidigen werden«. Dies zeige, dass »mit der Zeit solche ›universellen Werte‹ wie Säkularismus in ein nationales Erbe verwandelt werden können und damit Teil der ethnokulturellen Vision eines Guéant, eines Sarkozy oder eines Le Pen werden«. Es ist notwendig, dass Marxistinnen und Marxisten eine fundierte Kritik an Religion und ihrer Funktion im Kapitalismus formulieren. Aber wir müssen auch die Macht antimaterialistischer Ideen akzeptieren, die Menschen daran hindert, ihre Fähigkeit zu erkennen, die »herzlose Welt« des Kapitalismus zu zerstören und sie durch eine Gesellschaft zu ersetzen, in der die Menschen nicht auf ein Himmelreich als Lösung für ihre weltliche Armut warten müssen. Religionskritik bedarf einer Einschätzung der materiellen, geschichtlichen Umstände, auf denen die jeweilige Religion beruht und mit denen sie sich auch ändert. Andernfalls verkommt diese Kritik zu einem dogmatischen Hindernis für unsere Opposition gegen Faschismus, Rassismus und Unterdrückung. Einige Varianten des Islam sind reaktionär, ebenso


© Daniel Rangel / CC BY-NC-ND / flickr.com

Auch im Christentum gibt es zutiefst reaktionäre Strömungen, wie diese Demonstration in den Vereinigten Staaten beweist: »Die USA sind dem Untergang geweiht« und »Gott hasst Obama« steht auf den Plakaten der Christinnen und Christen. Der Aufdruck auf dem Pullover der Demonstrantin wirbt für eine Internetseite mit dem Namen »Gott hasst Schwuchteln«

wie einige Varianten des Christentums. Der HinduNationalismus hat sich in der jüngeren Vergangenheit zum Bollwerk der indischen Rechten entwickelt, während die christliche Pfingstbewegung wesentlich dazu beigetragen hat, dem US-Imperialismus und seinen Kriegen Legitimität zu verleihen. Doch die Funktion und die Stellung des Islam in Deutschland und Europa sollte nicht verwechselt werden mit der Funktion und Stellung des Islam zum Beispiel in SaudiArabien, wo er Staatsreligion ist. Genauso wenig sollte das »christliche Abendland« Europa als idealtypisches Modell eines säkularen Staats missverstanden werden – schon gar nicht Deutschland mit seinem System der Kirchensteuer, von Italien, Frankreich oder Polen ganz zu schweigen. Gefragt, wie sich Sozialistinnen und Sozialisten gegenüber Religion verhalten sollen, berichtete Lenin von einer Gruppe religiöser Arbeiterinnen und Arbeiter, die eine christliche Gewerkschaft gründeten und dann in den Streik traten. Was sollten Marxistinnen und Marxisten tun? Versuchen, die Streikenden vom Atheismus zu überzeugen? Nein, denn »ein Propagandist des Atheismus würde in einem solchen Augenblick und unter solchen Umständen nur dem Pfaffen und dem Pfaffentum Vorschub leisten, die nichts sehnlicher wünschen als eine Aufspaltung der Arbeiter nach dem Glauben an Gott anstatt ihrer Scheidung nach der Streikbeteiligung«. Für alle Marxistinnen und Marxisten ist, so Lenin, die Grundlage der Materialismus, demnach würden sie der Religion feindlich gegenüber stehen. Doch komme es darauf an, dialektischer Materialist und dialektische Materialistin zu sein, also den Kampf gegen die Religion nicht abstrakt zu führen, nicht auf dem Boden einer abstrakten, rein theoretischen, sich stets gleichbleibenden Propaganda, sondern konkret, auf

dem Boden des Klassenkampfs, wie er sich in Wirklichkeit abspielt, der die Massen am meisten und am besten erzieht. Alle Marxistinnen und Marxisten müssen es verstehen, die ganze konkrete Situation zu berücksichtigen. Die Forderung, aktive Linke sollten davon Abstand nehmen, Seite an Seite mit Leuten gegen Nazis zu demonstrieren, deren Ideen in anderen Bereichen reaktionär sind, trägt keinen Deut dazu bei, säkulare Errungenschaften zu verteidigen. Vielmehr schwächt das verbissene Beharren von Linken an dem Ideal von »Säkularismus« in solchen Fällen unsere Fähigkeit, eine Einheitsfront gegen Rassismus aufzubauen und Seite an Seite mit einer Gruppe von Menschen zu stehen, die in Europa als Staatsfeindin Nummer eins angesehen wird. Der französische Marxist Gilbert Achcar bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt: »Islamophobie ist objektiv der beste Verbündete des islamischen Fundamentalismus: Ihr jeweiliges Wachstum bedingt einander. Je mehr die Linke den Eindruck erweckt, dass sie sich der vorherrschenden Islamfeindlichkeit unterordnet, desto weiter entfernt sie sich von der muslimischen Bevölkerung und desto mehr wird sie die Arbeit der islamischen Fundamentalistinnen und Fundamentalisten erleichtern, die dann als die einzige Gruppe erscheinen, die in der Lage ist, dem Protest der jeweiligen Bevölkerung gegen das wirkliche Elend Ausdruck zu verleihen.« Linke müssen daher die Religionsfreiheit aller bedingungslos verteidigen. Andernfalls beteiligen wir uns nicht nur an dieser Form der Unterdrückung, sondern spalten uns von eben jenen Menschen ab, die wir motivieren wollen, gemeinsam mit uns für umfassende – nicht nur religiöse – Freiheit zu kämpfen. ■

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Linke sollten die Religionsfreiheit verteidigen

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WELTWEITER WIDERSTAND

© Roel Wijnants / CC BY-NC / flickr.com

SPANIEN

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In Bilbao gehen Anfang Januar etwa 80.000 Menschen für die Rechte baskischer Häftlinge auf die Straße. Als Sinnbild für die Hoffnung in schweren Zeiten tragen viele von ihnen bunte Lichter bei sich, am zentralen Versammlungsort bilden sie mit den Lichtern gemeinsam das Wort »now« in der Abenddunkelheit. Die Demonstrierenden fordern die sofortige Freilassung aller politischen Aktivistinnen und Aktivisten, die über das ganze Land verteilt in Gefängnissen ihre Strafe absitzen müssen. Unter den derzeit noch 460 politischen Gefangenen befinden sich neben ETA-Anhängerinnen und -Anhängern auch zahlreiche Gewerkschafterinnen, Journalisten und Mitglieder von Jugendorganisationen.


GroSSbritannien

Die englische Linke macht vor, wie Widerstand gegen Islamhass und Rassismus geht – ob an der Universität oder auf der Straße Von Anette Mackin

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twa 400 Antifaschistinnen und Antifaschisten gingen am 5. Februar in Oxford auf die Straße, um Marine Le Pen, Europas bekanntester Faschistin, die Stirn zu bieten. Der berühmte Debattierklub »Oxford Union« hatte die Vorsitzende des Front National (FN) eingeladen, eine Rede über »westliche Werte« zu halten. Doch Protestierende durchbrachen die Absperrungen und blockierten den Haupteingang, so dass Le Pen nur durch einen Seiteneingang in das Gebäude kam und erst mit etwa einer Stunde Verspätung auftreten konnte. Auch die Holocaust-Überlebende Cleo Yvel nahm an dem Protest teil, der von dem Bündnis »Unite against Fascism« (UAF) organisiertem wurde. Als Kind lebte sie im von den Nazis besetzten Frankreich und überlebte die Deportation nur, weil sie versteckt wurde. Cleo betont, wie wichtig es sei, Le Pens Versuchen entgegenzutreten, sich als seriöse Politikerin darzustellen. »Le Pen ist eine Rassistin. Sie ist gegen Zugewanderte, gegen Muslimas und Muslime – so einer sollte man nicht trauen!« Mitglieder diverser Gewerkschaften schlossen sich dem Protest der Studierenden an. »No pasarán« (»Sie werden nicht durchkommen«) und »Le Pen – never again« (»Le Pen – nie wieder«) tönte es durch die Straßen. »Ich bin hier, weil es unglaublich taktlos ist, sie einzuladen«, erklärt die Studentin Eleanor, »besonders nach allem, was in Frankreich passiert«. Mohamed Abbasi, ebenfalls Student, ergänzt: »Ich bin hier um gegen Faschismus und Islamophobie zu protestieren. Oxford ist multikulturell – wir wollen nicht, dass sie hierher kommt und versucht, uns zu spalten.« Le Pen versucht seit Jahren, das Image des FN aufzupolieren. Aber es handelt sich immer noch um eine rassistische Partei, die Islamophobie schürt. Erst kürzlich tauchten Fotos auf, die den Schatzmeister

Axel Loustau beim Hitlergruß zeigen. Frederic Boccaletti, der bei den letzten Wahlen für den FN kandidierte, wurde 2011 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, nachdem er dunkelhäutige Jugendliche mit einer Waffe angegriffen hatte. Nach den jüngsten Vorfällen in Paris sagte Le Pen »die erste unserer Freiheiten, Sicherheit«, sei »durch islamistischen Terrorismus bedroht«. Weyman Benett, Geschäftsführer von UAF, erklärte in seiner Rede: »In Europa sehen wir die dunklen Wolken derjenigen, die wünschen, der Holocaust möge sich wiederholen. Manchmal haben sie neue Ziele, wie etwa Zugewanderte oder Muslimas und Muslime. Aber wenn wir zulassen, dass diese Leute mehr werden, werden sie am Ende kommen, um uns alle zu holen!« Zwei Tage nach Le Pens Auftritt in Oxford marschierte die rechtsextreme English Defence League (EDL) mit 600 Anhängerinnen und Anhängern durch die Stadt Dudley in der Nähe von Birmingham. Die landesweit organisierte Demonstration zielte vor allem darauf ab, Ressentiments gegen einen geplanten Moscheebau in der Stadt weiter anzuheizen. Der vom örtlichen Ableger von UAF organisierte Gegenprotest fand in der Nähe der zentralen Moschee statt, die dortige Gemeinde unterstützte den Protest aktiv und organisierte ein antifaschistisches Treffen. Weyman Bennett, der auch schon in Oxford sprach, erklärte am Ende: »Hier in den West Midlands erinnern sich die Leute an einem Mann namens Mohammed Saleem. Er wurde von einem Nazi umgebracht. Wenn sie sich auf den Straßen organisieren, endet es mit Mord. Unsere Losung ist einfach: nie wieder!« ★ ★★ Anette Mackin schreibt regelmäßig für das englische Magazin »Socialist Review« und die Zeitung »Socialist Worker«, wo dieser Artikel zuerst erschien.

AUSTRALIEN Zweimal binnen kurzer Zeit haben australische Flugzeugpassagiere die Abschiebung von Asylsuchenden verhindert. Im Dezember sollte ein chinesischer Mann, begleitet von zwei Sicherheitsmännern, in einer Air-China-Maschine in sein Heimatland zurückgebracht werden. Bereits beim Einchecken machten Aktivistinnen und Aktivisten die Mitreisenden hierauf aufmerksam. Als der Mann durch den Flur lief und auf seine Handschellen hinwies, weigerten sich mehrere Passagiere, sich hinzusetzen. So erreichten sie letztendlich, dass der Refugee aussteigen konnte und sein Asylantrag nun neu verhandelt wird. Zwei Monate später wurde auf ähnliche Weise die Abschiebung eines Tamilen nach Sri Lanka verhindert.

NORWEGEN Es war der zahlenmäßig größte Streik in der Geschichte Norwegens: Insgesamt 1,5 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter setzten sich Ende Januar gegen ein geplantes »Arbeitsrechtsgesetz« zur Wehr. Das Gesetz sieht die Schaffung von befristeten Jobs, die Verlängerung von Arbeitszeiten sowie die Einschränkung von Gewerkschaftsrechten vor. An den Kundgebungen nahmen alleine in der Hauptstadt Oslo etwa 100.000 Personen teil.

Irland

Läuft bei den Iren! In Dublin, Cork, Letterkenny und weiteren Städten Irlands taten sich insgesamt 40.000 Menschen zusammen, um gegen eine geplante Steuer auf den privaten Wasserverbrauch zu demonstrieren. Eine vierköpfige Familie müsste bis zu 260 Euro mehr im Jahr zahlen. Die Steuer wurde bereits zweimal eingeführt – und nach Protesten wieder abgeschafft. Der neuste Versuch gehört zu den Sparmaßnahmen, die der IWF als Gegenzug für seine Rettungskredite fordert.

Weltweiter Widerstand

»No pasarán«

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INTERNATIONALES

Ferguson ¨ berall ist u Ein kleiner Vorort am Rand von St. Louis wird zum Epizentrum eines Aufstands gegen Polizeiterror. Unsere Autorin erklärt die Wurzeln dieser neuen Bewegung und beschreibt die Herausforderungen, vor der sie steht Von Keeanga-Yamahtta Taylor

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KeeangaYamahtta Taylor ist Lehrbeauftragte am Zentrum für African American Studies der Princeton University.

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eit November vergangenen Jahres beteiligen sich Zehntausende an Protestaktionen gegen den Rassismus, die Brutalität und die Ungerechtigkeit, die zum Wesen des USamerikanischen Justizsystems gehören. Die »Black lives matter«-Bewegung ist erneut ein Beleg gegen die Behauptung, dass die USA ihre rassistische Geschichte längst hinter sich gelassen haben und wir in einer »post-racial society« (einer Gesellschaft, die keine ethnischen Kategorien mehr kennt, Anm. d. Red.) leben. Sie hat das politische Establishment in die Defensive gedrängt und höchste Regierungsvertreterinnen und -vertreter dazu gezwungen, Veränderungen zu versprechen.

– etwa, wie sie einmal für das Servicepersonal gehalten wurden. Solche Kommentare reduzieren den Rassismus zwar auf Unannehmlichkeiten, Vorurteile und Missverständnisse, und ignorieren damit dessen institutionelle Natur. Doch die veränderte Haltung des Präsidenten zu einer solch frühen Phase einer Bewegung ist bemerkenswert. Immer wieder haben in den vergangenen Jahrzehnten politische Ereignisse gezeigt, wie tief Rassenungerechtigkeit in der US-amerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist. Der Aufstand in Los Angeles im Jahr 1992 war bisher das dramatischste Beispiel dafür. Nach der Rebellion herrschte bis Ende der 1990er Jahre große öffentliche Empörung über das weit verbreitete »Racial Profiling« gegen schwarze Männer. Doch das änderte sich infolge der Anschläge des 11. Septembers 2001. Die Vorbereitungen der Regierung Bush auf einen neuen Irakkrieg wurden von einer massiven rassistischen Hetze begleitet. Sie diente auch dazu, das verpönte Racial Profiling wieder salonfähig zu machen, um es im »Krieg gegen Terror« gegen Muslimas und Muslime anzuwenden. Die bis dato wachsende antirassistische Bewegung wurde erstickt von einer Welle des Chau-

9/11 machte das Racial Profiling salonfähig

Präsident Barack Obama verhielt sich in Diskussionen über die anhaltende Benachteiligung von Schwarzen bislang eher zurückhaltend. Manchmal griff er sogar schwarze Gemeinschaften für ihr vermeintlich schlechtes Verhalten und ihr moralisches Versagen an. Doch jetzt hat sich der Ton geändert. Wenige Tage nach den großen Protesten am 13. Dezember gaben er und seine Frau Michelle ein Interview, in dem sie von ihren eigenen Erfahrungen mit Alltagsrassismus berichteten

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Übersetzung: Loren Balhorn


schwarzen Gemeinschaften ideologisch an: Obama beschimpfte Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner für alles Mögliche – sei es, dass sie zu viele Kinder außerhalb der Ehe bekämen oder dass sie ihren Kindern kaltes Hühnchen zum Frühstück servieren würden. Die Botschaft des Präsidenten war eindeutig: Die schwarze Bevölkerung sollte selbst die Verantwortung für die Auswirkungen der schlimmsten Krise seit der Großen Depression von 1929 übernehmen. Doch die im Herbst 2011 einsetzende Occupy-Bewegung brachte die Widersprüche des US-amerikanischen Wegs zur wirtschaftlichen Genesung ans Tageslicht. Sie kontrastierte die grenzenlosen Rettungspakete für große Unternehmen mit dem Elend von Millionen, die unter Arbeitslosigkeit, Wohnungskündigungen und Zwangsräumungen leiden. Mit dieser Fokussierung auf ökonomische Ungleichheit eröffnete Occupy auch neue Räume für Diskussionen über die Lage der schwarzen Minderheit. Im Frühling 2012 demonstrierten schließlich Tausende gegen den Mord an dem unbewaffneten schwarzen Teenager Trayvon Martin. Der Freispruch seines Mörders war auch die Geburtsstunde des kämpferischen Slogans »Black lives matter«. Diese Entwicklungen muss man kennen, um die Ereignisse in Ferguson zu verstehen. Niemand hätte erwartet, dass ein kleiner Vorort am Rand von St.

INTERNATIONALES

vinismus und der Islamophobie. Im darauf folgenden Jahrzehnt nahmen die Proteste langsam wieder zu. Die Widersprüche des Kriegs und die ökonomische Krise bereiteten der Bush-Ära ein Ende. Obama wurde zum ersten afroamerikanischen Präsident gewählt. Dies passierte nicht nur, weil er in seinem Wahlkampf an der Wut auf Bush und dessen Politik anknüpfte, sondern auch, weil er seine Kandidatur als eine Fortsetzung der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 60er Jahre darstellte. Nicht zuletzt deswegen stimmten 95 Prozent aller Schwarzen, die sich an der Wahl beteiligten, für ihn. Trotzdem war er als Präsident ein sehr zurückhaltender Verfechter ihrer Interessen. Das schwarze Amerika befand sich inmitten eines wirtschaftlichen Sturzflugs, konfrontiert mit zweistelligen Arbeitslosenzahlen, wachsender Armut und den katastrophalen Folgen des Zusammenbruchs des Immobilienmarkts. Obama und seine politischen Gefolgsleute – allen voran der bekannte Bürgerrechtler Reverend Al Sharpton – konstatierten, dass der Präsident keine »schwarze Agenda« brauche, da die afroamerikanische Bevölkerung auch von einer Politik des »Aufschwungs für alle« profitieren würde. Die Regierung weigerte sich dementsprechend, Strategien zur Überwindung der strukturellen Ungleichheit zu entwickeln, die dafür verantwortlich ist, dass sich die Krise überproportional stark in schwarzen Wohngegenden auswirkte. Zudem griff sie die

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Louis das Epizentrum eines Aufstands gegen den Polizeiterror in den Vereinigten Staaten werden würde. Nichtsdestotrotz lässt es sich einfach nachvollziehen, warum die Situation in Ferguson explodierte. Die schwarze Bevölkerung wurde nicht nur täglich von rassistischen Polizistinnen und Polizisten belästigt, die Stadtverwaltung finanzierte sich zudem maßgeblich durch Bußgelder auf Bagatelldelikte. Strafzettel sind die zweitgrößte Einnahmequelle der Stadt. Der Gegensatz zwischen einem weißen, zutiefst rassistischen Polizeiapparat und einer mehrheitlich schwarzen Bevölkerung nahm wortwörtlich institutionelle Formen an. Als die Polizei Mike Brown erschoss und seine Leiche über vier Stunden auf der Straße liegen ließ, wurde dieser Polizei- zu einem Lynchmord. Die Wut in Ferguson entzündete das gesamte schwarze Amerika und landesweit kam es zu großen Protesten. Die

Die Polizeigewalt ist integraler Bestandteil des Systems

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Veranstaltung: Nach Ferguson: Wie weiter im Kampf gegen Rassismus Mehr Informationen über Veranstaltung auf dem Kongress MARX IS' MUSS 2015 findest du online unter: www.marxismuss.de

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jungen Protestierenden in Ferguson wurden als »gewalttätig« denunziert, die örtliche Polizei setzte Panzer, Tränengas und schwere Waffen gegen unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder ein. Doch der Protest riss nicht ab und erzwang eine breite öffentliche Debatte über Rassismus, die Polizei und das Rechtssystem. Zugleich machte er aber auch die Spaltung der schwarzen Bevölkerung sichtbar. Das ist wahrscheinlich eines der wichtigsten politischen Resultate dieser Bewegung. Denn es waren nicht nur die Medien, welche die Demonstrierenden als gewalttätig beschrieben, um vom Polizeiterror abzulenken. Auch schwarze Politikerinnen und Politiker und einflussreiche Personen wie Al Sharpton mahnten zur Gewaltlosigkeit und gingen sogar so weit, zwischen »guten« und »schlechten« Protestierenden zu unterscheiden. Auf der Beerdigung von Mike Brown ging Sharpton sogar noch einen Schritt weiter. Er behauptete, dass Schwarze im 21. Jahrhundert die Möglichkeiten, die ihnen offenständen, nicht wahrnehmen würden, weil sie gesellschaftlichen Aufstieg als »nicht schwarz« betrachten würden. Er kritisierte, dass die afroamerikanische Jugend die notwendige Eigenverantwortung für ihre Lage nicht übernähme und stattdessen »ghetto pity parties« (Ghetto-Selbstmitleid-Partys) veranstaltete. Sharptons harsche Worte für die jungen Protestierenden in Ferguson waren weit mehr als nur eine Meinungsverschiedenheit über die richtige Strategie und Taktik der Bewegung. Vielmehr stellten sie einen Versuch dar, die Kontrolle über deren politische Ausrichtung wiederzuerlangen. Obwohl die wenigsten schwarzen Politikerinnen und Politiker sich so

direkt äußerten wie Sharpton, versuchten doch viele, die Energie der Bewegung in den Wahlkampf der Demokraten zu kanalisieren. Doch die Jugendlichen aus der Arbeiterklasse, die die Rebellion vorantreiben, verstanden, dass sie auf der Straße bleiben mussten, um die Bewegung am Leben zu halten. Diese Einsicht erwies sich als entscheidend, als sich das Geschworenengericht im November dagegen entschied, Anklage gegen Browns Mörder Darren Wilson zu erheben. Bundesweit hatten Aktivistinnen und Aktivisten dieses Urteil erwartet und sich wochenlang darauf vorbereitet. Unmittelbar nachdem die Entscheidung gefallen war, ging Ferguson in Flammen auf. Die Polizei ließ das Feuer die Nacht über brennen und lieferte so die passenden Bilder für die hysterische Berichterstattung über die angebliche Gewaltorgie, die von den Protestierenden ausgehe. Nach einigen Tagen ebbte die Bewegung angesichts der unvermeidbaren Enttäuschung, Müdigkeit und Demoralisierung wieder ab. Doch in diese Situation platzte die Entscheidung eines weiteren Geschworenengerichts, einen anderen weißen Polizisten nicht anzuklagen, der einen unbewaffneten Schwarzen getötet hatte. Die Proteste gegen diese Entscheidung im Fall von Eric Garner waren größer und breiter als je zuvor. Am 13. Dezember nahmen unter dem Motto »Black lives matter« etwa 100.000 Menschen an Demonstrationen in New York, Washington und anderen Städten teil. Auf lange Sicht wird die Stärke der Bewegung davon abhängen, ob sie in der Lage ist, nicht nur viele Personen zu Demonstrationen zu mobilisieren, sondern sie als Aktivisten und Organisatorinnen in die Bewegung zu integrieren. Es wird zu einer weiteren Polarisierung innerhalb der antirassistischen Bewegung kommen, weil die konservativen Kräfte darin versuchen werden, die Forderungen auf ein Minimum zu reduzieren, etwa auf die strafrechtliche Verfolgung einzelner Polizistinnen und Polizisten oder kleine Reformen im Polizeiapparat. Doch auch andere Auffassungen über die Aufgaben der Bewegung sind möglich. Beispielsweise ließe sich an Martin Luther Kings Einschätzung aus den späten 1960er Jahren anknüpfen: »Unter diesen schwierigen Bedingungen beinhaltet die schwarze Revolution viel mehr als bloß den Kampf um die Rechte der Schwarzen. Sie zwingt Amerika dazu, sich all seinen zusammenhängenden Problemen zu stellen – Rassismus, Armut, Militarismus und Materialismus. Sie entblößt die vielen Übel, die tief in der Struktur unserer Gesellschaft verwurzelt sind. Sie enthüllt die systemischen anstatt der oberflächlichen Mängel und deutet darauf hin, dass ein radikaler Umbau der Gesellschaft die eigentliche Aufgabe ist, der wir uns stellen müssen.« Das gilt auch heute noch: Es ist unmöglich, die Brutalität der Polizei und


das Unrecht des Justizsystems von der Armut und Unterbeschäftigung innerhalb der schwarzen Gemeinschaften zu trennen. Es ist unmöglich, einen Rückgang der Polizeigewalt zu fordern, ohne die Überbelegung der Gefängnisse, den Drogenkrieg und die ökonomischen Zwänge zu thematisieren, die Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner besonders treffen. Diese Probleme werden sich angesichts der fortdauernden Zerstörung des öffentlichen Sektors, der urbanen Umstrukturierung sowie der schlechten Lage auf dem Arbeitsmarkt noch verschärfen. In diesem Kontext ist das

aggressive Verhalten der Polizei zu einem integralen Bestandteil des Systems geworden. Es dient dazu, die Grenzen zwischen den segregierten weißen und schwarzen Wohngegenden aufrechtzuerhalten und Jagd auf ökonomisch marginalisierte junge schwarze Männer zu machen, die in die Schattenwirtschaft gedrängt wurden. Solange die zerstörerische Sparpolitik fortgesetzt wird, ist nicht zu erwarten, dass die Konfrontationen und Provokationen der Polizei in den schwarzen Gegenden abnehmen werden. Die Fähigkeit der Bewegung, mit den Gewerkschaften – afroamerikanische Arbeiterinnen und Arbeiter haben nach wie vor einen höheren Organisationsgrad als weiße – zusammenzuarbeiten, wird in den kommenden Monaten von großer Bedeutung sein. Die bereits vorhandene Solidarität zwischen der Bewegung der Niedriglohnbeschäftigten und »Black lives matter« hilft, die Verbindungen zwischen öko-

nomischer Ausbeutung und rassistischer Unterdrückung zu verdeutlichen. Eine Entwicklung dieses Kampfes hin zu einem Punkt, an dem sich Arbeiterinnen und Arbeiter in ihren Betrieben für ein Ende der rassistischen Gewalt einsetzen, ist durchaus vorstellbar. Die Bewegung hat großes Potenzial. Sie stellt die weitverbreiteten Vorurteile über die afroamerikanische Bevölkerung in Frage und untergräbt so die rassistische Logik, die den US-amerikanischen Kapitalismus zusammenhält. Obwohl Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der weißen Bevölkerung nach wie vor großes Vertrauen in die Polizei hat, sind ihre Ansichten keineswegs in Stein gemeißelt. Der Schlüssel, um reaktionäre Einstellungen zu transformieren, liegt im politischen Kampf, der die Vorstellung erschüttert, dass Schwarze minderwertig seien und eine solche Behandlung durch die Polizei verdient hätten. Dieser Kampf hat gerade erst begonnen. ■

INTERNATIONALES

Die Empörung über die rassistische Polizeigewalt erfasste die gesamten USA. Der Slogan »Black lives matter« wurde zum Namen einer neuen Bewegung

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BETRIEB & GEWERKSCHAFT

»Uns unterstützen viele, die nicht direkt betroffen sind« In den kommunalen Kitas zeichnet sich eine große Streikbewegung ab. Schon macht in Freiburg ein Solidaritätsbündnis auf die Situation der Beschäftigten aufmerksam. Wir sprachen mit der Aktivistin Songül Baspinar Interview: Daniel Anton Songül, eure Initiative »Mehr wert – Solidaritätsbündnis Sozial- und Erziehungsdienste Freiburg« will die Beschäftigten in ihrer anstehenden Tarifbewegung unterstützen. Was ist die Idee dahinter? Es fing damit an, dass ein Genosse von der LINKEN, der mit mir an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg studiert, auf mich zukam. Dann haben wir uns gemeinsam Gedanken gemacht, wie wir die Beschäftigten unterstützen können. Für mich ist es vor allem interessant, weil ich Kindheitspädagogik studiere und damit später selbst in diesem Bereich beschäftigt sein werde. Durch Praktika in Kitas und anderen Einrichtungen habe ich auch schon erlebt, welche Herausforderungen diese Arbeit stellt. Umso wichtiger ist es mir, mich frühzeitig zu solidarisieren. Politisch ist es für mich auch eine spannende Auseinandersetzung, da die Sozial- und Erziehungsdienste (SuE) leider ein Paradebeispiel für weibliche, prekäre Beschäftigung sind. Wer beteiligt sich denn an dem Bündnis? In erster Linie war es uns natürlich wichtig, die Gewerkschaften, also ver.di und die GEW, anzusprechen. Bei den letzten beiden Treffen konnten wir auch direkt mit Beschäftigten ins Gespräch kommen. Soweit es ihre Zeit zulässt, wollen

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Songül Baspinar

Songül Baspinar studiert Kindheitspädagogik und ist aktiv im Solidaritätsbündnis Sozial- und Erziehungsdienste Freiburg.

sie sich am Bündnis beteiligen. Darüber hinaus sind auch Studierende mit dabei – viele sind direkt durch entsprechende Studiengänge »betroffen«, aber es beteiligen sich auch welche aus ganz anderen Fachrichtungen. Daneben gibt es großen Zuspruch von linken Gruppierungen bis hin zu antifaschistischen Gruppen. Interessant ist, dass viele, die uns unterstützen, eben nicht direkt betroffen sind und trotzdem für und mit den Beschäftigten aktiv werden wollen. Wie haben die Gewerkschaften reagiert? Da gab es große Offenheit und sogar Freude darüber, dass Studierende Solidaritätsarbeit angestoßen haben. Der regionale Fachbereichsleiter arbeitet kontinuierlich im Bündnis mit. Unser nächstes Ziel ist es, auch landesweit den Kontakt zu ver.di herzustellen, um ähnliche Aktivitäten in anderen Städten anzuregen. Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske sagte, dass die Forderungen im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste die höchsten seien, die seine Gewerkschaft jemals aufgestellt hätte. Welche Rolle kann ein Solidaritätsbündnis bei den Auseinandersetzungen einnehmen? Für die SuE-Beschäftigten ist es weitaus schwieriger, ökonomischen Druck durch Streikaktionen auszuüben als zum Bei-


Ob in Kitas, Schulen, Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen – immer häufiger kommt es auch in jenen Bereichen zu Arbeitskämpfen, in denen es unmittelbar um die Arbeit mit Menschen geht. Hier ist die Solidarität der Bevölkerung mit den Streikenden besonders wichtig

Entscheidend ist, die Eltern ins Boot zu holen

spiel in der Metallindustrie. Umso wichtiger ist es, dass wir an die Öffentlichkeit gehen und den politischen Kontext der Tarifbewegung bekannt machen. So können wir dann Druck ausüben. Ich denke, das kann die Beschäftigten sehr bestärken und dazu beitragen, dass sie noch selbstbewusster in die Auseinandersetzung gehen. Gerade die Eltern werden dabei entscheidend sein. Welche Aktionen habt ihr schon gemacht und was ist noch geplant? Uns geht es darum, Bewusstsein für die Situation der Beschäftigten zu schaffen. Wir haben gemeinsam mit Studie-

Und wenn es nun zum Streik kommt: Wie können die Beschäftigten dann unterstützt werden? Ganz genau wissen wir das noch nicht, wir dikutieren im Bündnis noch über verschiedene spannende Ideen. Was aber auf jeden Fall wichtig sein wird, ist die Unterstützung durch die Eltern. Erste Kontakte in diese Richtung haben wir auch schon geknüpft. Das wird bei einem Streik mitentscheidend sein, denn natürlich ist es ein Spagat: Berufstätige Eltern haben zu Recht ein Interesse daran, dass ihre Kinder auch während eines möglichen Streiks betreut werden. Andererseits profitieren auch sie langfristig davon, wenn die Tätigkeit von Erzieherinnen und Erziehern aufgewertet wird und die Betreuung sich verbessert. Bis es zu Aktionen der Beschäftigten kommen kann, sind noch einige Wochen Zeit. Denkst du, in anderen Städten lässt sich noch eine ähnliche Unterstützung wie in Freiburg aufbauen? Ja, auf jeden Fall! Es war schön zu sehen, dass mich vor allem nach der Veröffentlichung des Videoclips viele Leute aus dem SuE-Bereich angesprochen haben. Sie fragen mich zum Beispiel nach Tipps, was sie bei sich vor Ort machen können. Meine Antwort: Geht einfach mal auf die jeweiligen Fachbereichsleiter in den Gewerkschaften zu und versucht, Bündnispartner zu finden. Meine Wunschvorstellung ist, dass wir während der Tarifbewegung eine landes- oder gar bundesweite Vernetzung der Solidaritätsarbeit auf die Beine stellen. ■

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

© Uwe Hiksch / CC BY-NC-SA

renden der Pädagogischen Hochschule in Freiburg einen Videoclip gedreht. Der erklärt mit einem Augenzwinkern, warum es für die gesamte Gesellschaft wichtig ist, dass die Beschäftigung im Sozialund Erziehungsdienst aufgewertet wird – aber er macht auch deutlich: Wir sind solidarisch. Ähnlich ist auch unsere Foto-Solidaritätsaktion angelegt: Wir haben Menschen direkt gebeten, für die Beschäftigten »Gesicht zu zeigen«, und dies mit einer kleinen Botschaft zu verbinden, warum sie die Tarifbewegung unterstützen. Außerdem planen wir eine Unterschriftenkampagne, Infostände und Aktionen vor Betrieben, an der Universität und in der Innenstadt.

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FRAUENTAG

»Kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung« Die Gleichstellung von Frauen ist als Thema im Mainstream angekommen. Rhonda Koch erklärt, warum sich Aktivistinnen und Aktivisten auch theoretisch mit der Frauenunterdrückung beschäftigen sollten und räumt mit dem Vorurteil auf, dass die Frage für den Marxismus eine Nebensache sei Interview: CHRISTINA MÜLLER Frauen haben heute mehr Möglichkeiten, ihr Leben selbst zu bestimmen als je zuvor. Es gibt den rechtlichen Anspruch auf gleichen Lohn, Gesetze gegen sexuelle Belästigung und eine spezielle Förderung in Bereichen, in den Frauen nach wie vor unterrepräsentiert oder benachteiligt sind. Frauen können heute Rechtsanwältin, Chefärztin oder Kanzlerin werden... Nun ja. Es wird zwar die frohe Botschaft verkündet, dass Frauen alle Möglichkeiten offen stehen. Doch hindern strukturelle Formen der Diskriminierung sie daran, diese Möglichkeiten wahrzunehmen. Trotz aller Fortschritte: Noch immer arbeitet die Mehrheit der Frauen für weniger Lohn, noch immer bekommen Frauen deutlich weniger Rente, noch immer werden Frauen sexuell belästigt und als Sexobjekte wahrgenommen, noch immer müssen Frauen in Frauenhäuser fliehen und noch immer stellt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie einen Drahtseilakt dar. Aber vieles, das noch vor ein, zwei Generationen unvorstellbar war, ist heute selbstverständlich. Ich denke da an die steigende Zahl von Studentinnen, die Gleichstellung in der Ehe und die körperliche Selbstbestimmung zum Beispiel durch Verhütungsmittel.

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Rhonda Koch

Rhonda Koch ist Redakteurin von theorie21.

Das stimmt, aber hauptsächlich sind es immer noch Frauen, die für Familie, Kinder und Angehörige sorgen. Die Reproduktionsarbeit lastet zentnerschwer auf ihren Schultern. Dass sich manche verstaubte Stereotypen verändert haben, ist gut. Aber die neuen Frauenbilder sind leider nicht besser. Eine Frau heute soll Super-Mutter, Super-Karrieristin und Super-sexy-Partnerin auf einmal sein. Dieses Rollenbild erzeugt die Illusion von Chancengleichheit und setzt Frauen unter Druck: Wer sich anstrengt, kann alles erreichen. Außerdem schafft das neue Bild allein nicht die realen Zwänge ab, sich für einen traditionellen Frauenberuf zu entscheiden, und es verändert auch nicht die Situation von Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen. In der neuen Ausgabe von theorie21 wird es auch einen Artikel zur veränderten Situation von Frauen heute geben. Was sind eure Befunde? Natürlich hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Im Durchschnitt sind heute fast genauso viele Frauen ins Arbeitsleben eingebunden wie Männer. Die Erwerbstätigkeitsquote von Frauen liegt in Deutschland bei 67 Prozent. Doch wenn wir genauer hinsehen, gibt es eine klare geschlechterspezifische Aufteilung zwischen Teil- und Vollzeit. Frauen ar-


Die neuen Frauenbilder sind leider nicht besser

INFO Frauenrechte verteidigen Bundesweites Vernetzungstreffen zu Vorbereitung der Gegenaktionen zum »Marsch für das Leben« am 19. September: 7. März 2015 | 14 bis 19 Uhr | Vierte Welt | Adalbertstr. 4 |10999 Berlin

beiten viel häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die Folge sind ein höheres Armutsrisiko und eine schlechtere Absicherung. Ungleichheiten im Erwerbsverlauf treten bei der Berufswahl, beim Berufseinstieg, während der Berufstätigkeit und beim Übergang von der Erwerbs- in die Nacherwerbsphase auf. Was sind das für Ungleichheiten? Erschreckend bleibt der Einkommensunterschied. Noch immer liegt die Lohndifferenz in Deutschland bei 22 Prozent. Aber bereits vor dem Eintritt ins Arbeitsleben wirken strukturelle Diskriminierungsmechanismen. Frauen müssen häufiger als Männer ihr Studium wegen ihrer sozialen oder familiären Situation abbrechen. Die traditionellen Rollenbilder befördern zudem eine geschlechts-

Woran liegt das? Gesellschaftliche Produktion und Reproduktion bedingen sich gegenseitig. Reproduktion ist elementarer Bestandteil der Produktion. Das bedeutet im Kapitalismus, dass die Ware Arbeitskraft durch Geburt, Erziehung, Pflege und Versorgung ständig neu geschaffen und erhalten werden muss. Die herrschende Klasse ist auf die kontinuierliche Ersetzung und Erneuerung der Arbeitskräfte angewiesen. Staat und Kapital verfolgen das Ziel, die Reproduktion möglichst kostengünstig zu sichern. Die Reproduktionsarbeit in die Familie zu verlagern, ist für sie eine billige Lösung – Kosten und Aufwand tragen die einzelnen und nicht die Gesellschaft. Das müsste nicht so sein. Es ist genug Reichtum vorhanden, um zum Beispiel Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen wesentlich umfangreicher gesellschaftlich zu organisieren und zu bezahlen als es momentan der Fall ist. Doch dem stehen die Interessen des Kapitals entgegen – die Unternehmer lassen die Frauen lieber unbezahlt arbeiten, als ihre Profite für öffentliche Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Es dient also der Kapitalverwertung, traditionelle Rollenbilder beizubehalten. Nicht ohne Grund findet man die klassischen »Frauenberufe« nach wie vor in der

FRAUENTAG

Mutter, Hausfrau, sexy Partnerin und Karrieristin: Dass Frauen ausschließlich an den Herd gehören, behauptet heute nur noch eine Minderheit. Dennoch lastet nach wie vor der Großteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung auf ihnen, während sie gleichzeitig oft in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten müssen

spezifische Ausbildungs- und Berufswahl. Deshalb werden Frauen nicht nur dazu gedrängt, schlecht bezahlte Berufe im Sozialbereich zu wählen, sondern schließen oft von vornherein die Möglichkeit aus, in einer klassischen Männerdomäne zu arbeiten. Im Arbeitsleben stoßen sie früher oder später an die »gläserne Decke«, oder müssen für den beruflichen Aufstieg mehr leisten als Männer. Durchsetzungskraft, Führungsstärke und die Fähigkeit, mit großem Druck umgehen zu können, sind Eigenschaften, die für den beruflichen Aufstieg wichtig, aber männlich konnotiert sind. Eine Frau muss deshalb nicht nur die üblichen Hürden überwinden, sondern sich zudem gegen vorherrschende Rollenbilder durchsetzen. Es wird immer noch erwartet, dass Frauen und Männer unterschiedlichen Lebensentwürfen folgen. Frauen erfahren Diskriminierungen, sobald sie vom Standardentwurf einer guten, sozialen Frau und Mutter abweichen.

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schlecht bezahlten Reproduktionsarbeit: Kinderbetreuung, Gesundheitssektor, Altenpflege. So werden Frauen entweder an den Herd gebunden oder arbeiten zusätzlich zur Hausarbeit in Niedriglohnsektoren oder mit Teilzeitverträgen. Damit ist dann nicht nur für die Reproduktion gesorgt, sondern es gibt auch billige Arbeitskräfte zur direkten Aneignung von Mehrwert. Du argumentierst aus marxistischer Perspektive. Aber einige Linke beziehen sich auch auf Marx und erklären immer noch, dass Frauenunterdrückung ein

Das trifft sowohl Länder wie Spanien oder Griechenland, die im Rahmen der Austeritätspolitik zur Verarmung der eigenen Bevölkerung gezwungen werden, als auch Deutschland, das von der Krise profitieren konnte. Mit Hilfe der Schreckgespenster Finanz-, Banken- und Schuldenkrise haben die Regierungen drastische Sparmaßnahmen durchgesetzt. Insbesondere im reproduktiven Bereich wurde und wird gespart: Die Reduzierung von Staatsausgaben führt zu Lohnsenkungen, Privatisierung und ausbeuterischer Migrationspolitik. Von all diesen Maßnahmen sind insbesondere die Frauen

Frauenunterdrückung existierte bereits vor dem Kapitalismus »Nebenwiderspruch« sei und daher die Forderungen nach Gleichberechtigung ins Leere zielen. Die Vorstellung vom »Nebenwiderspruch« ist wirklich Quatsch und hat rein gar nichts mit der marxistischen Tradition zu tun, wie ich sie verstehe. Marx ging davon aus, dass die ökonomische Ausbeutung die Ursache für verschiedene Formen von Unterdrückung ist. Gleichzeitig trägt die Unterdrückung dazu bei, das ausbeuterische System aufrechtzuerhalten. Frauenunterdrückung gab es auch schon vor dem Kapitalismus. Sie ist jedoch zur notwendigen Voraussetzung für das Funktionieren kapitalistischer Gesellschaften geworden. Dieses Thema versuchen wir in der neuen Ausgabe von theorie21 genauer zu beleuchten. Dabei beziehen wir uns auf klassische Texte von Marx und Engels selbst, von August Bebel, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin. Aber wir beziehen auch neuere Ansätze von Theoretikerinnen wie Lise Vogel, Silvia Federici, Frigga Haug oder Gabriele Winker mit ein. Diese Traditionen werden wir darstellen, kritisieren und hoffentlich weiterentwickeln. In der letzten Zeit gewinnt die Frauenbewegung wieder an Dynamik. Warum gerade jetzt? Heute muss Frauenunterdrückung auch im Kontext des Neoliberalismus und insbesondere der Politik zur Bewältigung der Wirtschaftskrise betrachten werden. Überall werden Staaten kaputt gespart.

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betroffen. Zum Beispiel arbeiten im Pflegebereich 80 Prozent Frauen. Betrachten wir die Proteste der letzten Jahre etwas genauer, erkennen wir einen markanten Anstieg von Arbeitskämpfen in typischen Frauenberufen. Egal ob in den Sozial- und Erziehungsdiensten, im Einzelhandel oder im Gesundheits- und Pflegesektor, überall sind mehrheitlich Frauen beschäftigt. Eine Sparpolitik, wie wir sie erleben, trifft uns alle, begonnen wird jedoch beim Reproduktionssektor und damit bei den Frauen. Frauen treten also in Arbeitskämpfen stärker hervor. Und wenn sie eine bessere Entlohnung erreicht haben: Ist dann auch Schluss mit der Diskriminierung? Das ist ein wichtiger Punkt. Arbeitskämpfe und Frauenbefreiung stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Es genügt nicht, die Reproduktionsarbeit zu vergesellschaften und die Angestellten fair zu entlohnen. Gleichzeit muss die Reproduktion unabhängig vom Geschlecht als gesamtgesellschaftliche Verantwortung verstanden werden. Erst dann sind wir in der Lage, positive und negative Zuschreibungen aufgrund des Geschlechts aufzuheben. Hier ist die sogenannte Care-Debatte, in der es um die gesellschaftliche Verteilung der Sorgearbeit geht, sehr hilfreich. Darin steckt ein Potenzial, genderpolitische Themen mit einer konkreten Systemkritik zu verbinden. Wir wollen im Theoriejournal die Care-Debatte aufgreifen

und herausarbeiten, wie in dieser Auseinandersetzung die Geschlechterrollen in Frage gestellt werden können. Besonders interessant sind die Erfahrungen aus der Praxis des Arbeitskampfs des Pflegepersonals an der Berliner Charité, die für künftige Kämpfe sehr nützlich sein werden. Erleben wir nicht auch außerhalb des Bereichs der Arbeit wieder eine Zunahme von Vorstößen, Frauen zu unterdrücken? Die neoliberale Politik der Kürzungen im Sozialbereich und der Reprivatisierungen von Reproduktionsarbeit in die Familien muss natürlich ideologisch gestützt werden. Dabei wird die Familie als Fundament der Gesellschaft und damit auch traditionelle Rollenbilder wiederbelebt, um derartige Strategien zu rechtfertigen. Dieser »conservative rollback« (»konser-


© Reporteros Tercerainformacion / CC BY-NC-SA / flickr.com

Demonstration für die Entkriminalisierung von Abtreibungen in Madrid Ende September 2014. Im vergangenen Jahr konnten Massenmobilisierungen die geplante Verschärfung der Abtreibungsgesetze verhindern

Ihr habt euch in der Redaktion ein Jahr lang eingehend mit Fragen der Frauenbefreiung beschäftigt. Warum ist das Thema so wichtig? Für mich stehen drei Punkte im Vordergrund: Erstens ist die Unterdrückung von Frauen einfach eine grundsätzliche Problematik, die uns alle angeht. Zweitens müssen wir beginnen, die Unterdrückung der Frau in unsere Gesellschaftsanalyse zu integrieren und sie nicht zu addieren. Dazu bietet die Theorie der sozialen Reproduktion, die wir im Journal besprechen, einen guten Ausgangspunkt. Und drittens: Wenn die Linke nicht im Hier und Jetzt gegen die Entrechtung, Ausbeutung und Diskriminierung von Frauen kämpft, dann wird sie den Kapitalismus niemals herausfordern können. Deshalb halte ich es mit Rosa Luxemburg, die sagte: »Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus«. Aber sie sagte eben auch: »Kein

Sozialismus ohne Frauenbefreiung«. Ein großer Teil der Lohnabhängigen sind Frauen. Etliche Streikbewegungen der letzten Jahre waren weiblich geprägt – so die Streiks der Kolleginnen und Kollegen der Gebäudereinigung, des Kitapersonals oder die Tarifbewegung im Einzelhandel. Gleichzeitig haben unter dem Stichwort Hashtag »#Aufschrei« Zehntausende Frauen belegt, dass trotz tiefgreifender Veränderungen wahre Gleichstellung noch immer in weiter Ferne liegt. Es tut sich also was in der Frauenbewegung – die Linke muss dort intervenieren. Ich hoffe, dass wir mit der neuen Ausgabe von theorie21 einen Beitrag dazu leisten. ★ ★★ Weiterlesen theorie21 Frauenbefreiung erscheint im April 2015 / 6,50 Euro Bestellbar über www.marx21.de

FRAUENTAG

vatives Zurückschrauben«) war zum Beispiel in Spanien in Form der Forderung eines Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen zu beobachten. Glücklicherweise konnte das Recht auf Abtreibung erfolgreich verteidigt werden. Insgesamt geht es hier um einen Angriff auf elementare Errungenschaften der Frauenbewegung, wie das Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, aber auch um eine Zunahme an Sexismus. Die Medien helfen fleißig mit und zeichnen nach wie vor ein Bild des schwächeren Geschlechts. Auch in Deutschland tritt dieses konservative Gedankengut wieder vermehrt auf. Um nur ein besonders markantes Beispiel zu nennen: Die sogenannten Lebensschützerinnen und Lebensschützer mit ihrem unglaublich reaktionären Frauen- und Familienbild. Hier müssen wir Widerstand leisten.

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MARX21 Online Kein Artikel auf marx21.de wurde jemals so oft angeklickt wie der von Hans Krause über die Anschläge in Paris Lukas Mihr auf unserer Facebook-Seite: Genau wegen solcher Kommentare habe ich aufgehört ein Linker zu sein. 3 ·10. Januar 02:12 Uhr

Pavel Torsten auf unserer Facebook-Seite Ein Dislike für marx21. 8 ·10. Januar 11:00 Uhr

TOP TEN

DEZEMBER/JANUAR Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de

1. Sind wir alle Charlie

(25.118)

Hebdo? 2. Rot-Rot-Grün: Linke Politik unter

Dieter Kaltenhäuser auf unserer Website Ausgezeichnet! Dem ist nichts hinzuzufügen. Großartig! 1·10. Januar 11:12 Uhr

(1804)

Kolin Caggl auf unserer Facebook-Seite Wirklich toller Artikel! 3·10. Januar 11:10 Uhr

Haushaltsvorbehalt 3. Das Problem heißt Rassismus,

(1586)

nicht Salafismus 4. Syriza: Die Stunde der Wahrheit

(1239)

Manuela Schon auf unserer Facebook-Seite Danke für diesen wichtigen Artikel! 2·10. Januar 23:10 Uhr

wird kommen 5. Wie sich LINKE für Flüchtlinge und

(1110)

gegen Nazis engagieren können 6. Europäischer Zentralstaat

(853)

ONLINE ANGEKLICKT

für die Bosse? 7. »Ich bin für die Aufhebung

(775)

des PKK-Verbots« 8. Das Problem heißt Rassismus,

(708)

nicht Islam 9. Atheismus, Säkularismus und

(685)

Religionsfreiheit 10. Politischer Islam – eine

(659)

marxistische Analyse Insgesamt gab es im Dezember 24.018 Aufrufe der Seite marx21.de (im Januar: 53.481 / Stand: 12.2.) 62

Luigi Wolf auf unserer Website Danke, Nils Böhlke für die gute und nüchterne Analyse. Was mir fehlt und was vielleicht andere Genossinnen und Genossen aus Thüringen einbringen könnten, wäre eine Einschätzung über den Zustand »der Zivilgesellschaft« bzw. der Kräfteverhältnisse in Thüringen. 2 ·5. Dezember um 14:16 Uhr

marx21.de bei twitter: ★ plus 37 Follower in den letzten zwei Monaten (3998 Follower insgesamt)

marx21.de bei facebook: ★ plus 104 Fans in den letzten zwei Monaten (3360 Fans insgesamt)


Die Nopegida-Bewegung hat Hunderttausende auf die Straße gebracht – und auch Debatte und Aktivitäten im marx21-Netzwerk entscheidend geprägt

E

s ist der 10. Januar: Unterstützerinnen und Unterstützer des marx21Netzwerks treffen sich in Berlin, die Stimmung ist angespannt. Vier Tage zuvor haben islamistische Attentäter in der Redaktion der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« in Paris ein Blutbad angerichtet – Wasser auf die Mühlen von Pegida und seinen Ablegern. Ein weiterer Aufschwung der Bewegung ist zu befürchten. Schon jetzt bringt sie in Dresden jede Woche Zehntausende auf die Straße und versucht, in Dutzende von Städten zu expandieren. Gleichzeitig keimt Hoffnung – in München kamen vor Weihnachten 20.000 zu einer Gegendemonstration zusammen, die Bereitschaft zu antirassistischem Widerstand ist auch woanders riesig. Was bedeutet diese Situation für DIE LINKE und Die Linke.SDS? Schnell sind sich die Diskutierenden einig, wo es anzusetzen gilt. Es ist wichtig, auf drei Ebenen aktiv zu werden: Erstens darf Pegida auf keinen Fall weiter wachsen. Deshalb setzt sich das marx21-Netzwerk überall für breite Bündnisse gegen die Pegida-Ableger ein. Zweitens müssen wir uns solidarisch mit jenen zeigen, die der rassistischen Bewegung in Dresden entgegentreten – am besten mit einer bundesweiten Mobilisierung, um zu

zeigen, dass Pegida nicht die Straße gehört. Drittens gibt es an den Universitäten großes Interesse an antirassistischen Aktionen, aber noch keinen organisatorischen Rahmen. Deshalb schlagen wir vor, dass Die Linke.SDS die Initiative ergreift und Aktionsgruppen »Studis gegen Pegida« gründet. Als wir auseinander gehen, ist die weitere Entwicklung noch offen – doch was dann geschieht, übertrifft auch optimistische Erwartungen. In Leipzig, Freiburg und Münster gehen Zehntausende auf die Straße, in zahlreichen anderen Städten sind es Tausende. Die Ausdehnung von Pegida scheitert. »Studis gegen Pegida« ist ein großer Erfolg, Hunderte versammelten sich an diversen Universitäten. Auch der Vorschlag einer bundesweiten Demonstration in Dresden findet Anklang. Am 28. Februar werden Nopegida-Aktivistinnen und -Aktivisten gemeinsam mit den Refugees ein Zeichen setzen. Denn auch wenn die Pegida-Bewegung zunächst gebrochen ist – Ressentiments gegen Flüchtlinge, Muslimas und Muslime bestehen weiter. Deshalb will das marx21-Netzwerk in der LINKEN die Diskussion darüber anstoßen, wie eine langfristige Strategie für die antirassistische Arbeit aussehen kann. ■

Baden-Württemberg Julia (Freiburg) | jt.meier@gmx.de Bayern Carla (München) | carla. assmann@gmail.com Berlin / Mecklenburg-Vorpommern Silke (Berlin) | marx21berlin@ yahoo.de Brandenburg Anne (Zossen) | annekathrinmueller@gmx.net Hamburg Christoph (Hamburg) | christoph. timann@googlemail.com Hessen Christoph (Frankfurt) | choffmeier@hotmail.com Niedersachsen / Bremen Dieter (Hannover) | dieter. hannover@email.de Nordrhein-Westfalen Azad (Duisburg) | mail@ azadtarhan.de Rheinland-Pfalz / Saarland Martin (Kaiserslautern) | horsch@ bawue.de Sachsen Einde (Chemnitz) | einde@gmx.de Sachsen-Anhalt Anne (Halle) | anne.geschonneck@ooglemail.com Schleswig-Holstein Mona (Lübeck) | mona-isabell@ mittelstein.name Thüringen Marco (Pössneck) | m21@ celticlandy.de

WAS MACHT MARX21?

Das Problem heißt Rassismus

marx21 vor Ort

Was macht Marx21?

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GESCHICHTE

Ă„sthetik und Widerstand

Er war seiner Zeit voraus und eckte deshalb an. Jetzt hat ein Historiker den sozialistischen Satiriker und Kritiker Rudolf Franz wiederentdeckt Von Ralf Hoffrogge

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demokratischen Presse – wohl wissend, dass er damit nicht nur mit seiner Familie brach, sondern sich auch eine Karriere in den Universitäten des Kaiserreiches versperrte. Denn dort durfte seit der »Lex Arons« von 1898 nicht einmal mehr ein gemäßigt sozialdemokratischer Physiker lehren: Sozialistinnen und Sozialisten waren vom Staatsdienst kategorisch ausgeschlossen, insbesondere in den höheren Bildungsanstalten. Umso wichtiger war das Ringen um eine eigene Bildungskultur der proletarischen Bewegung. Franz, dem als Akademiker in der Arbeiterbewegung durchaus mit Misstrauen begegnet wurde, musste sich lange als freischaffender Journalist durchschlagen. Mehrfach blieb ihm eine Festanstellung als Redakteur verwehrt. Dennoch gelang es ihm durch seine Beiträge, die Theaterkritik der sozialdemokratischen Presse auf ein neues Niveau zu heben. Franz schuf einen Typ von Besprechung, der die Inhalte der Stücke mit den sozialen Verhältnissen abglich. Durch den Bezug auf Alltagserfahrungen machte er die Kritiken auch für jene Arbeiterinnen und Arbeiter interessant, die sich den Eintritt für das Theater nicht leisten konnten – damals die Mehrheit. Franz vertrat mit seinen Interventionen energisch die Forderung, das Proletariat müsse sich die bürgerliche Kultur kritisch aneignen. Er nahm damit Positionen vorweg, wie sie Jahrzehnte später etwa Peter Weiss in seiner »Ästhetik des Widerstands« vertrat: Die antike und bürgerliche Kunst ist mehr als Klassenkunst und Ideologie der Herrschenden. Sie verkörpert in ihren großen Werken auch ein Unbehagen – etwas, das Herbert Marcuse 1964 in seinem Werk »Der eindimensionale Mensch« als »Künstlerische Entfremdung« bezeichnete: »Sie bringt die Bilder von Zuständen hervor, die mit dem bestehenden Realitätsprinzip unvereinbar sind, die aber als Bilder der Kultur erträglich, ja erhebend und nützlich werden.« Marcuse sah diese Funktion der Kunst zwar im Spätkapitalismus am Aussterben, doch in der Hochphase der bürgerlichen Gesellschaft sei sie wirksam gewesen. Rudolf Franz kann als ein Vorläufer der Idee gelten, dass die ästhetischen Ideale und Errungenschaften der Kunst einen Gegensatz zur profanen gesellschaftlichen Realität bilden. Nach dieser Auffassung verkörpern sie etwas allgemein Menschliches und tragen deshalb potenziell eine Utopie der Gleichheit in sich. Die Idee einer Aneignung oder »Aufhebung« der Kunst vergangener Jahrhunderte bedeutete für Franz, heftige Kritik an einer rein agitatorischen »Tendenzkunst« zu üben. Diese vernachlässige die ästhetische Form zugunsten einer

Bürgerliche Kunst ist mehr als Ideologie der Herrschenden

Der Großteil seines Werks blieb jedoch erhalten, einige »Leseproben« hat der Historiker Gerhard Engel seiner jüngst erschienenen Biographie von Rudolf Franz beigefügt. Nicht nur aufgrund des Nachdrucks einiger Perlen politischer Satire ist das Buch lesenswert. Denn Franz‘ Lebensweg ist ein Beispiel für die Brüche in der wechselhaften Geschichte des deutschen Sozialismus und Kommunismus, an denen stets auch Menschen zu Bruch gingen. Sie ist ebenso ein Dokument darüber, wie die Deutsche Demokratische Republik an ihrem Anspruch scheiterte, die Ziele der deutschen Arbeiterbewegung umzusetzen. Sie brachte den Arbeiterinnen und Arbeitern in ihrem Machtbereich die Befreiung von sozialer Not, wenn auch die »soziale Frage« bei Wohnungen und Konsumgütern nicht gelöst wurde. Vor allem aber brachte die DDR nicht jene geistige Befreiung und schöpferische Aneignung des kulturellen Erbes vergangener Jahrhunderte, für die sich Rudolf Franz stets eingesetzt hatte. Im Jahr 1882 geboren und aus dem Bürgertum stammend, hatte er sich bereits im Studium politisiert. Franz promovierte 1907 über den Dramatiker Henrik Ibsen und stellte seine Qualitäten als Literatur- und Theaterkritiker in den Dienst der sozial-

★ ★★

Ralf Hoffrogge ist Historiker und forscht zu Biografien der Arbeiterbewegung. Jüngst erschien von ihm »Werner Scholem – Eine Politische Biographie (1895-1940)« (UVK 2014).

GESCHICHTE

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ast vergessen starb im Oktober 1956 in Leipzig der Literaturkritiker Rudolf Franz. Kein Nachruf rief den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sein Leben in Erinnerung. Obwohl Hermann Duncker, KPD-Mitbegründer und später Hochschulleiter in der DDR, den über Siebzigjährigen schon 1953 als »lebendiges Geschichtsbuch der deutschen Arbeiterbewegung« empfahl, hatte sich niemand die Mühe gemacht, Franz‘ Erinnerungen aufzuschreiben oder seine Sammlung von Schriften und Dokumenten der Bewegung zu sortieren. Rudolf Franz, der schon vor 1914 im Freundeskreis der »Eisbrecher« mit den Gründungsmitgliedern der Spartakusgruppe in kalten Wintern bei heißen Getränken die Fraktionskämpfe der alten Sozialdemokratie diskutiert hatte, in der Weimarer Republik als einer der wichtigsten marxistischen Literatur- und Theaterkritiker hervortrat und eigene Erfolge als Autor bissiger Satiren vorzuweisen hatte, konnte in der DDR kaum noch veröffentlichen. Gleich fünf Manuskripte wurden in seinen letzten Lebensjahren abgelehnt. Nicht einmal seine Leserbriefe an Zeitungen wurden gedruckt – frustriert und zermürbt vernichtete Franz viele seiner Schriften, darunter das Archiv von über tausend Theaterkritiken aus mehreren Jahrzehnten.

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★ ★★ WEITERLESEN

Gerhard Engel Dr. Rudolf Franz 18821956. Zwischen allen Stühlen – Ein Leben in der Arbeiterbewegung edition bodoni Berlin 2013 206 Seiten 18 Euro

sozialistischen Moral. Kunst als bloße Erziehung, die im Grunde der Vermittlung politischer Losungen von der Führung ans Parteivolk diente, konnte Franz nicht gutheißen. Aber auch dem Kunstgeschmack der Basis huldigte er nicht unhinterfragt. Er kritisierte etwa die zeitgenössischen Arbeiterlieder mit ihren zahlreichen Metaphern von Krieg, Kampf und Opfertod als militaristisch. Franz forderte stattdessen eine Entmilitarisierung der Sprache sowie eine neue proletarische Lyrik – ein Auftrag, der erst in der Weimarer Republik von Künstlern wie Bertolt Brecht und Hanns Eisler kongenial umgesetzt wurde. Rudolf Franz gehörte stets dem linken Flügel der Partei an und wurde wegen seiner kritischen Ansichten lange aus der Redaktion der sozialdemokratischen »Bremer Bürgerzeitung« herausgehalten. Erst 1910 bekam er eine feste Stelle als Redakteur. Im ersten Weltkrieg wirkte er im Umfeld der Bremer Linksradikalen, die die Kriegspolitik der Sozialdemokratie radikal ablehnten. Aber auch der Spartakusgruppe stand er nahe. Konsequenterweise trat er 1917 in die USPD als Partei der Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner ein, später in die KPD. Für einige Monate gestaltete Franz das Feuilleton der »Roten Fahne«, anschließend der »Sächsischen Arbeiterzeitung«. In jener Zeit beschäftigte er sich mit dem aufkommenden amerikanischen Kino. Franz bewunderte dessen technische und dramatische Perfektion, die das Publikum in den Bann zog – für ihn eine existenzbedrohende Gefahr für den klassischen Theaterbetrieb. Er erkannte den beträchtlichen »mentalen Einfluss« der Filme, die jedoch durch ihre »Gefühlsduselei« in der Behandlung sozialer Konflikte letztlich Illusionen von Harmonie verbreiteten. Dabei erinnern Franz‘ Ausführungen sehr an die spätere Kritik Bertolt Brechts an der »Überwältigung« des Publikums im Hollywoodkino, das gerade nicht die eigene Reflexion des Gesehenen, sondern die unkritische Identifikation zum Ziel habe. Ein Mechanismus, der im Blockbusterkino bis heute Produktionsschema ist.

Kunst als bloße Erziehung lehnte Franz ab

Franz, der seine Reflexionsfähigkeit nicht auf die Kunst beschränkte, musste anecken in einer KPD, die nach zahlreichen Richtungskämpfen im Zuge der »Bolschewisierung« um das Jahr 1925 zunehmend autoritär geführt wurde und später durch den Prozess der Stalinisierung ihre politische Eigenständigkeit verlor. Er wurde 1926 aus der Partei ausgeschlossen und überlebte mehr schlecht als recht als Sachbearbeiter in einem kommunalen Fürsorgeamt, wo er von 1930 bis 1933 arbeitete. Als Marxist aus dem Staatsdienst entlassen, verbrachte Franz

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anders als viele ehemalige Genossinnen und Genossen nur einige Tage in Haft. Er konnte als Korrekturleser und Mitarbeiter eines Antiquariats die NS-Zeit »überwintern«. Im Jahr der Befreiung 1945 trat Franz wieder in die KPD ein, wirkte als Aktivist der ersten Stunde in einem der selbstorganisierten Antifa-Ausschüsse und wurde 1946 Mitglied der SED. Der geistige Neuanfang im vom NS-Regime nicht nur materiell verwüsteten Deutschland war ihm eine Berufung – mit einer Stelle als Mitarbeiter im Kunstamt der Stadt Leipzig wurde auch ein Beruf daraus. Doch konnte Franz dort, trotz seiner allgemein anerkannten überragenden Kenntnisse, nicht frei wirken. Die von ihm eingeforderten inhaltlichen Diskussionen, etwa anlässlich der Leipziger Goethefeier im Jahr 1949, fanden nicht statt. Aus Rücksicht auf das Bündnis mit den bürgerlichen »Blockparteien« LDP und CDU, die in der Anfangszeit der DDR noch sehr eigenständig agieren konnten, würgten die Verantwortlichen eine kritische Debatte über das Verhältnis von bürgerlicher und sozialistischer Kultur ab. Rudolf Franz gab daraufhin seinen Posten auf. Auch in den letzten sieben Jahren seines Lebens fand er keinen Wirkungskreis. Eine offene und kontroverse Diskussion über die Rolle der Kultur im antifaschistischen Neubeginn war schon in der jungen DDR problematisch. Auch und gerade auf diesem Gebiet wurde ein Neuanfang verpasst. Zumindest im Hauptstrom staatlicher Propaganda siegte jene auf Agitation und Überredung zielende Tendenzkunst, die Franz schon im Kaiserreich kritisiert hatte. Franz‘ Biographie, die Gerhard Engel durch die Regimes Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und DDR hindurch nachgezeichnet hat, erzählt mehr als die übliche »Liniengeschichte« mit den aus anderen Biographien und Gesamtdarstellungen sattsam bekannten Brüchen und Zäsuren der Parteipolitik. Themen wie Ästhetik oder die Spannung zwischen bürgerlichem Erbe und sozialistischer Kultur, Reflexionen über die Rolle des Intellektuellen in einer proletarischen Bewegung, über die gesellschaftliche Rolle des Theaters gehen über die historische Kommunismusforschung hinaus. Das macht Engels Buch auch zu einem Kommentar über Fragen, die in der Literatur- und Theaterwissenschaft, vor allem aber von gesellschaftskritischen Künstlerinnen und Künstlern jeder Generation aufs Neue diskutiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass dort, wo der Historiker Engel sich »Zurückhaltung auferlegt« und nicht in der Literaturwissenschaft wildern möchte, andere diese Aufgabe aufgreifen. ■


Kunst braucht Bewegung In der vergangenen Ausgabe beschrieb unser Autor, wie gesellschaftliche Entwicklungen neue Möglichkeiten und Grenzen für Kunst bestimmen. Im letzten Teil der Serie zeigt er anhand des Beispiels Film, welche materiellen Schranken uns den Zugang zu Kunst verwehren. Doch sie sind nicht unüberwindbar Von Phil Butland Jahrzehnten nicht mehr. In allen Bereichen der Kunst geht der Trend eher in Richtung Ungleichheit. Popmusik etwa erscheint als ein Feld, das offen für alle ist. Aber eine Studie aus dem Jahr 2011 ergab, dass die Mehrheit britischer Musikerinnen und Musiker Privatschulen besucht hat. Aufgrund von hohen Studiengebühren, Niedriglöhnen und Zwangsmaßnahmen für Arbeitslose fehlen Menschen ohne Privatvermögen die Zeit und die Mittel für ihre künstlerische Entfaltung. Diese Entwicklung zeigt sich auch beim Film. In den 1980er Jahren hat die Regierung Reagan in den USA große Filminvestoren durch steuerfreie Subventionen noch weiter begünstigt. Disney konnte seinen Marktanteil in diesem Jahrzehnt verfünffachen. Gleichzeitig sanken die Löhne in der Filmindustrie um 17 Prozent. Nicht nur in den USA wird die Filmindustrie mit Steuerersparnissen geködert. In Großbritannien und Irland werden nicht rückzahlbare Darlehen vergeben, wenn man in den jeweiligen Ländern dreht. Osteuropäische Staaten wie Rumänien, Bulgarien und Ungarn bieten zusätzlich infrastrukturelle Anreize, etwa durch technisch perfekte Studioeinrichtungen. Auch Deutschland, Italien und Frankreich gewähren steigende finanzielle Zuschüsse. Die neuen Finanzierungsmodelle haben Auswirkungen auf die Kunst. Die Kosten für Filmproduktionen steigen ins Unermessliche. Unter Berücksichtigung der Inflation wurden 44 der 50 teuersten Filme aller Zeiten im letzten Jahrzehnt gedreht. Nur einer wurde vor 1995 produziert. Das moderne Hollywood erreichte seinen bisherigen Höhepunkt in den Filmen von Michael Bay. Seine Filmreihe »Transformers« ist ein sinnfreies Feuerwerk an Spezialeffekten, das hauptsächlich der Vermark-

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Phil Butland hat Philosophie und Literatur studiert und schreibt regelmäßig über Kunst und Kultur für marx21. Er ist Gründungsmitglied der Gruppe KünstlerInnen gegen Krieg Berlin.

KULTUR

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ine der ideologischen Grundlagen im Kapitalismus ist die Behauptung, alle hätten die gleichen Chancen. Auch die Diskriminierung von Frauen und nichtweißen Personen sei heutzutage überwunden. Wer keinen Erfolg hat, sei demnach also unbegabt oder faul. Diese Ideologie erstreckt sich auch auf die Kunst. Angeblich beweist die Vergabe des Oscars für die beste Regie an Kathryn Bigelow (2009) und an Steve McQueen (2014), dass Frauen und Schwarze heute im Filmgeschäft gleichgestellt seien. Aber trotz des Erfolgs dieser zwei Personen sind nur sieben Prozent der Regieführenden in Hollywood schwarz und weniger als fünf Prozent weiblich. Die diesjährigen Oscarnominierungen sind so deutlich von weißen Männern dominiert wie seit

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In Prinzip könnte jede und jeder mit billiger Technik einen Film drehen, aber um die Kosten wieder herein zu bekommen, muss man ein Publikum erreichen. Wegen der Konzentration des Kapitals und der Umorientierung staatlicher Förderung ist Film abhängiger als jemals zuvor von seiner Vermarktung, also von der Hollywoodindustrie. Im Kapitalismus ist Film vor allem eine Industrie. Den großen Konzernen im Filmgeschäft geht es darum, Profit zu akkumulieren. Nationalstaaten sehen die Ansiedlung von Filmindustrie als Vorteil in der internationalen Wirtschaftskonkurrenz. Die Filmkunst wird diesen Zielen untergeordnet. Blockbuster mit Produktionskosten von 200 Millionen Euro sind zwar risikoreich, bieten aber hohe Kapitalrenditen. »Avatar – Aufbruch nach Pandora« kostete 237 Millionen Dollar, spielte aber 2.788 Millionen Dollar ein und brachte damit eine Kapitalrendite von sagenhaften 1100 Prozent. Die rekordverdächtigen 150 Millionen Euro Marketingbudget sind ein Ausdruck dafür, dass der Konkurrenzkampf härter geworden ist. Wie jede Industrie ist die Filmindustrie stetigem Wandel unterworfen. Die einschneidendste Veränderung für Hollywood entstand durch die Entwicklung einer neuen Technik: dem Aufstieg des Fernsehens nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Studios in Hollywood reagierten darauf, indem sie zunehmend auf Blockbuster, Spezialeffekte und neue Techniken wie 3D setzten. Zudem haben die Eintrittspreise sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt. Der Dokumentarfilm »Still The Enemy Within« über den britischen Streik der Bergleute von 1984/85 wurde nicht von großen Sponsoren, sondern durch eine Spendensammlung in Gewerkschaften und unter Aktivistinnen und Aktivisten finanziert

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tung im Film gezeigter Produkte dient. Während es immer schwieriger wird, Mittel für innovative Filme zu bekommen, macht sich Konservatismus bezahlt. 31 der 50 teuersten Filme aller Zeiten sind Fortsetzungsfilme. Weitere sechs sind Neuverfilmungen oder Kinoadaptationen von Fernsehserien oder sogar eines Brettspiels (»Battleship«). Drei Viertel der erfolgreichsten Filme sind nur ein Neuaufguss. Oft heißt es, die sinkenden Kosten für technische Ausrüstung bedeuteten für Filmschaffende mehr Unabhängigkeit von Hollywood. Das meistzitierte Beispiel dafür ist Robert Rodriguez‘ Film »El Mariachi«, der nur 7000 Dollar gekostet haben soll. Doch so einfach ist es nicht. Die Version des Films, die dann im Kino lief, hat viel mehr gekostet. Der Columbia Filmverlag gab 200.000 Dollar zusätzlich für einen neuen Schnitt und Millionen für das Marketing aus. Die Botschaft? »Hier ist der 7.000-DollarFilm!« Das konnte nur funktionieren, weil der Markt eben nicht mit Filmen überschwemmt ist, die mit geringen Kosten produziert wurden. Es wäre nicht profitabel, ein Projekt wie »El Mariachi« zu wiederholen. Übrigens hatte Rodriguez‘ neuester Film, »Sin City 2: A Dame to Kill For«, ein Budget von 65 Millionen Dollar.

Wie der Roman in der Frühzeit des Kapitalismus aufkam, so ist der Film das Kind des Industriekapitalismus. Die ersten Filme wurden Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich gedreht. Als der Kapitalismus sich über die Welt ausbreitete, entstanden auch große Filmindustrien wie Bollywood in Bombay (jetzt Mumbai) und Nollywood in Nigeria. Film entspricht nicht dem Klischee vom einzelnen künstlerischen Genie; er ist immer ein kollektiver Prozess. Im Filmabspann wird eine lange Liste von Namen gezeigt, die alle ihren künstlerischen Beitrag zu dem Film geleistet haben. Im Kapitalismus ist diese Arbeit hierarchisch organisiert und prekär. Viele Filmschaffende pendeln zwischen Arbeitslosigkeit und immer schlechter bezahlter Arbeit. Kameraleute in Hollywood verdienen teilweise weniger als 25 Dollar pro Stunde – wenn sie Arbeit finden. Für Schauspielerinnen und Schauspieler ist das Leben noch instabiler: Die Arbeitslosenrate liegt bei 90 Prozent und fast alle sind auf Nebenjobs angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die kapitalistische Gesellschaft mag den Zugang zu Kunst erschweren, trotzdem sind Innovationen im Film möglich. In einer Klassengesellschaft gibt es


immer eine Spannung zwischen den herrschenden Ideen (laut Marx die »Ideen der herrschenden Klasse«) und unserer Alltagserfahrung. Es ist dieser Widerspruch, von dem ausgehend Künstlerinnen und Künstler anspruchsvolle Kunst produzieren. Das gilt auch für den Film. »The Lego Movie« scheint Hollywoods schlimmste Auswüchse zu verkörpern. Der Held ist eine Lego-Bauarbeiterfigur. Die Presseerklärung der Lego GmbH verkündete: »Inspiriert von den zentralen Szenen im Film und mit Lego Minifiguren in der Hauptrolle, wird eine Sammlung von 17 Lego Baukästen die gesamte THE LEGO MOVIE Aktion ins Spielzimmer liefern.« So weit, so schrecklich. Aber der Schurke des Films heißt Lord Business und wird von einer Regenbogenkoalition gestürzt. Die Regisseure Christopher Miller und Phil Lord wollten nach eigener Aussage »einen anti-totalitaristischen Film für Jugendliche« machen. Die Webseite für Filmkritik Vulture nannte den Film »faktisch kommunistisch«. »The Lego Movie« ist nicht sozialistisch – Miller und Lord sind eher libertär und stolz darauf, dass ihre politischen Gegner sowohl links als auch rechts von ihnen stehen. Das Beispiel zeigt jedoch, dass Kapitalismus so profitorientiert ist, dass auch widerständige Filmschaffende Zugang zur Filmindustrie haben, wenn sie genügend zahlungswilliges Publikum anziehen. »Still The Enemy Within«, ein bewegender Dokumentarfilm über den britischen Streik der Bergleute von 1984/1985, wurde nicht durch Hollywood-Millionen finanziert, sondern durch ein CrowdfundingProjekt (eine Spendensammlung), in dem 80.000 Pfund von Gewerkschaften und Aktivistinnen und Aktivisten gesammelt wurden. Weil staatliche Filmförderung Kunst und Kultur nicht um ihrer selbst willen unterstützt, sondern um dem eigenen Land Vorteile in der kapitalistischen Standortkonkurrenz zu verschaffen, sind innovative Projekte zunehmend auf solche Finanzierungsmodelle angewiesen. Es ist eine hervorragende Dokumentation geworden, insofern sind die Geldspenden gut angelegt. Dennoch ist es ein Irrglaube, alternative Finanzierung würde Künstlerinnen und Künstler von den Zwängen kapitalistischer Marktlogik befreien. Sinead Kirwan, Produzentin von »Still The Enemy Within«, bemerkte: »Weil klassische Finanzierung zunehmend gekürzt wird, wenden sich immer mehr etablierte Filmschaffende an Crowdfunding, was unbekannte-

re ausgrenzen kann. Du musst auch einige persönliche Ressourcen haben, bevor du mit Crowdfunding anfängst, weil Geldsammeln ein Vollzeitjob ist.« Das letzte Beispiel ist viel eindeutiger. Alle kennen die Schlüsselszene aus »Spartacus«: Der Sklavenrebell Spartacus soll mit anderen Aufständischen gekreuzigt werden. Römische Soldaten sagen, sie werden alle anderen verschonen, wenn sie Spartacus verraten. Erst ruft einer, dann alle seine Leidensgenossen »Ich bin Spartacus«, um ihre Solidarität mit dem Anführer der Revolte zu beweisen. Weniger bekannt ist die politische Vorgeschichte des Films. Das Drehbuch zu »Spartacus« wurde von Dalton Trumbo geschrieben, einem der »Hollywood Ten«. Das waren zehn Drehbuchautoren, die während der Kommunistenjagd des Senators Joseph McCarthy faktisch Berufsverbot hatten. Sie mussten entweder Pseudonyme benutzen oder Strohmänner beschäftigen, um weiter arbeiten zu können. Doch das Berufsverbot betraf auch andere Filmarbeiterinnen und -arbeiter. Sie hatten kaum eine Möglichkeit, das Verbot zu umgehen und waren zur Arbeitslosigkeit verurteilt – bis zum Dreh von »Spartacus«. Für diesen Film wurden bewusst Technikerinnen und Techniker von McCarthys schwarzer Liste eingestellt und ihre Namen im Abspann gezeigt. McCarthy hatte die Wahl, entweder alle zu verklagen oder aufzugeben. Letztendlich hat die Solidarität gesiegt.

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»Spartacus«, »The Lego Movie« und »Still The Enemy Within« haben alle auf ihre Weise einen wichtigen Beitrag für progressiven und anspruchsvollen Film geleistet. Doch nur »Spartacus« konnte die Kräfteverhältnisse in der Filmindustrie verschieben. Das hat weniger mit der Qualität der Filme zu tun als mit den gesellschaftlichen Bedingungen. »Spartacus« wurde im Jahr 1960 gedreht. Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung war auf dem Vormarsch und viele Filmschaffende waren Teil dieser Bewegung. Sie sahen eine natürliche Verbindung zwischen den drei Kämpfen für Gerechtigkeit, für bessere Arbeitsbedingungen und für bessere Kunst. Die Frage, wer Zugang zu Kunst hat, können wir nicht von einer anderen Frage abkoppeln: Wer hat die Macht in dieser Gesellschaft? Der Kapitalismus erlaubt uns nicht, unser volles Potenzial auszuschöpfen. Aber in unserem Streben, dieses Potenzial zu verwirklichen, können wir sowohl für eine bessere Gesellschaft als auch für bessere Kunst kämpfen. ■

KULTUR

Der Film ist das Kind des Industriekapitalismus

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AUSTELLUNG

West:Berlin – Eine Insel auf der Suche nach Festland | Stiftung Stadtmuseum Berlin

Harald Juhnke mit der Pekingente Seit einiger Zeit ist ein wachsendes Interesse an Westberlin vor dem Mauerfall zu beobachten. Eine Ausstellung versucht sich an einem Rückblick Von Clara Dirksen wicklung der letzten Jahre bewertet: allenthalben angeregte Unterhaltungen. Dieses kommunikative Erschließen der Ausstellung ist allerdings nicht nur bereichernd, sondern auch dringend notwendig. Die Kuratorinnen und Kuratoren der Ausstellung haben nämlich weitgehend darauf verzichtet, für die liebevoll zusammengetragenen Exponate einen Rahmen zu schaffen, in dem auch ein Publikum ohne breites Vorwissen die historischen Zusammenhänge versteht. Insgesamt erscheint Westberlin als ein quasi naturgewachsenes »Biotop«, dessen Eigenarten ausführlich dokumentiert werden. Die Beschilderung der einzelnen Exponate sagt oft nichts über deren Relevanz aus. So wird über eine lebensgroße Pandabärplastik informiert, dass diese die Bärin Tjen Tjen darstellt, welche 1980 dem Berliner Zoo geschenkt wurde und 1984 verstarb. Doch wer nicht jahrzehntelang live in der »Berliner Abendschau« die erfolglosen Bemühungen der Zooleitung mitverfolgen durfte, Tjen Tjens Witwer Bao Bao neue Gefährtinnen zur Nachwuchserzeugung zuzuführen, wird damit wenig anfangen können. Dazu sind die in die Themenräume einführenden Texttafeln bestenfalls dürftig. Manchmal führt ihre Oberflächlichkeit zu einer bedenklichen Reproduktion von Klischees. So heißt es etwa über die Anwerbung von

Arbeitskräften: »Nach dem Mauerbau waren auch Arbeitsmigranten aus dem Süden gekommen. In Quartieren mit bezahlbarem Wohnraum hatten sich die Neubürger eine eigene Welt aufgebaut, was ihre soziale und kulturelle Integration erschwerte.« Dreist verschweigen die Ausstellungsmacherinnen und -macher dabei, dass die »Gastarbeiter«-Politik der Bundesregierung ein wirkliches Ankommen der ausländischen Arbeitskräfte verhinderte und sie zum befristeten Wohnen in Abbruchquartieren verdammte. Über solch eine unreflektierte Präsentation kann die Vielfalt der Ausstellungsstücke nur teilweise hinwegtrösten. Das Wiedersehen mit einem verschollenen inoffiziellen Wahrzeichen der City West – ein Werbeplakat für ein chinesisches Restaurant, auf dem Harald Juhnke über einer Pekingente grient, das vor Kurzem bei Sanierungsarbeiten entfernt wurde – hat mich schon gefreut. Aber über die politischen Bedingungen und den gesellschaftlichen Kontext der Teilstadt muss man sich woanders informieren – oder einfach die anderen Besucherinnen und Besucher ansprechen.■

★ ★★ AUSSTELLUNG | West:Berlin – Eine Insel auf der Suche nach Festland | Stiftung Stadtmuseum Berlin | Noch bis 28. Juni 2015 | Öffnungszeiten: Di, Do-So 10-18 Uhr, Mi 12-20 Uhr | Eintritt 7,00/erm. 5 Euro | Booklet 3 Euro REVIEW

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u schau ma, wat wir allet erlebt ha‘m!« Jeden ersten Mittwoch im Monat ist der Eintritt frei, es ist voll im Berliner Ephraim-Palais. Auch viele ehemalige Westberlinerinnen und -berliner sind gekommen, um sich die Ausstellung »West:Berlin – Eine Insel auf der Suche nach Festland« anzuschauen. Hier, vor den Exponaten, lebt ihre Erinnerung an die verschwundene Teilstadt wieder auf. Mit einem gewissen Stolz kommentiert die eingangs zitierte Dame den ersten Teil der Ausstellung, der mit einem Modell des alten Westberlins und großformatigen Fotos das Thema vorstellt. Siebzehn thematisch gegliederte Bereiche schließen sich an. Unter Titeln, die von »Trennung und Teilung« über »Wir sind wieder wer« bis zu »Kunst im Biotop« reichen, sind neben Fotos und Plakaten auch Filmdokumente und Objekte versammelt. Dank der beengten Räumlichkeiten kann man nicht nur die anderen Besucherinnen und Besucher belauschen, man kommt auch schnell miteinander ins Gespräch. Bereitwillig steuern die ehemaligen Insulanerinnen und Insulaner eigene Erzählungen zu den Exponaten bei und erklären Umstehenden den Kontext. Vor der Karte mit den Grenzübergängen diskutiert eine Zeitzeugin aus Sachsen mit und berichtet von ihrer Wahrnehmung des Mauerbaus. Gemeinsam mit jüngeren Interessierten wird die Stadtent-

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hnlich wie schon in den Zwanzigern ist Berlin heute wieder ein Sehnsuchtsort, wo vieles möglich ist, wo es unzählige Lokale und Bars gibt, wo man die ganze Nacht unterwegs sein kann«, verkündete die 24-jährige Schriftstellerin Rebecca Martin jüngst in der Magazinbeilage der »Zeit«. Auch auf der stadteigenen Website wird das Nachtleben als eines der »aufregendsten der Welt« gepriesen, das Kulturangebot sei »umfangreich genug, um leicht den Überblick zu verlieren«. Freiwillig nach Berlin zu ziehen, ist derart Mainstream geworden, dass es längst angesagt ist, eben nicht dort zu leben: nicht einer von fast 160.000 zu sein, die jedes Jahr neu dorthin kommen. Entscheidet man sich doch dafür, ist nach geglückter Assimilation der Abgrenzungsdruck umso größer und es wird lieber künstlich berlinert, als weiterhin zu »den Zugezogenen« zu zählen. Die Rapper Testo und Grim104 sind als Zugezogen Maskulin dagegen allein wegen des Bandnamens locker eines Bambis für Integration würdig: fremdartig wie ein Stralsunder und ein Friesländer eben sind, so heimisch, wie man mit Verweis auf die Band Westberlin Maskulin – gewissermaßen der Ursprung der Berliner Rapszene – nur werden kann. Das Album »Alles brennt« ist fast durchgehend so pointiert streitsüchtig und mit politischem Zynismus gespickt, dass man ganze Strophen am liebsten auf das nächste Demotransparent pinseln möchte. »Oranienplatz« beispielsweise beschreibt den beschwerlichen Weg eines Flüchtlings über Griechenland (»gespült ins Land der einstmals ewig blühenden Antike/ wo die Morgenröte golden ist, willkommen in der Krise«) nach Berlin (»wo die Samba-Gruppen, Weinkulturen, Karneval zwar klar geht/ doch sich Argwohn in den Blick legt, wenn ein schwarzer Mann im Park schläft«) in das inzwischen geräumte Refugeecamp auf dem Oranienplatz. Das Ins-

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Zugezogen Maskulin | Alles brennt

ALBUM DES MONATS Schluss mit »ruffen Lines« und »tighten Skills«: Zugezogen Maskulin zeigen auf »Alles brennt«, wie präzise beißend deutscher Rap sein kann Von David Jeikowski

★ ★★ ALBUM | Zugezogen Maskulin | Alles brennt | Buback 2015

trumental kratz mit wuchtigem Sub-Bass, abgehackten Roland TR-808-Drums und hallender Klanghölzer-Melodie stark am Subgenre Trap (Hip-Hops neuster Inkarnation) und verleiht dem Ganzen eine passivaggressive Grundstimmung. Nach einer fast nur aus Claps bestehenden Verschnaufpause folgt der Refrain: »Wir haben viel zu viel/ wir haben viel zu viel/ um euch was abzugeben!/«. Immer wieder, damit auch die Letzten das zynische Resümee zur europäischen Grenzpolitik mitbrüllen kann. Musikalisch und Refrain-technisch in die gleiche Kerbe

schlägt »Endlich wieder Krieg«. Das von Verteidigungsministerin und Co. geforderte »Ende der Zurückhaltung« findet hier konkrete Formen: Kriegsbegeisterung vermischt sich mit einem Alltag aus WM-Party-Patriotismus (»Hashtag WW3, sexy Uniform von Adidas/ und das Oranje-Pack kriegt mal wieder auf den Sack«) und Party-Drogenexzessen (»vom Berghain an die Front/ erst wird geballert, dann wird gebombt«), Deutschrapklassiker mit deutschen Großmachtsfantasien (»Wir drehen den Swag auf vom Mars bis an die Memel«). In »Guccibauch« beweisen Zu-

gezogen Maskulin ein für Linke erstaunlich großes Maß an Selbstironie, wenn sich aller Ideologiefestigkeit zum Trotz besagter Luxus-Körperteil, sprich: der Konsumwunsch durchsetzt: »Ich trinke nur Coca Cola – Gewerkschafterblut/ Es gibt kein richtiges im Falschen, deshalb schmeckt’s mir auch so gut«. Der anfängliche Mix aus Autotune-Filter und langgezogenen Synthesizer-Melodien schickt einen irgendwo Richtung Miami Beach und ist nicht ganz einfach zu ertragen, verläuft sich dann aber im Laufe des Liedes. Am Ende tönt es in Chopped-&-Screwed-Manier »Beamer, Benz und Bentley – Lenin, Marx und Engels«, während Miami Beach vollends unter wütenden TrompetenSample-Salven untergeht. Zwei Songs später geht es jener Gattung Gutbetuchter an den teuren Kragen, die sich wochenends bevorzugt in sogenannten Problembezirken vergnügen, um sich montags bei Latte Macchiato vor Bürokolleginnen und -kollegen hiermit zu brüsten: »Agenturensöhne«, wie es so schön im Titel heißt. Dank unerbittlichem Bassgerolle und leider sehr treffender Sinnbilder (»Wir tanzen durch dein’ Kiez, wie deine Eltern durch den Zoo/ Guck mal wie der Penner kotzt – InstagramFoto/«) ein ganz schöner Brecher. Zugezogen Maskulin sind wahrhaftig »Vatermörder«, wie sie es im gleichnamigen Track mit Verweis auf Freud problematisieren. In »Totem und Tabu« beschreibt der Psychoanalytiker den Mord am diktatorischen Vater und die spätere Identifizierung mit ihm als zentrale Quelle der Kultur. Und tatsächlich: vom väterlichen Boombap-Rap ist hier nicht viel übriggeblieben. Kick und Snare werden gnadenlos vom Bass zerquetscht, Vokabeln wie »ruffe Lines, tighte Skills« sind so archaisch geworden wie eine Mammutjagd. Das mag nicht allen Zuhörenden schmecken. Dass Grim104 und Testo mit »Alles brennt« ihren Papi zumindest in puncto Präzision locker unter den Tisch rappen, ist aber mehr als offensichtlich. ■


BUCH

Hao Ren u. a. (Hrsg.) | Streiks im Perlflussdelta. ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken

Roher Reis mit Dieselöl In einem neuen Buch berichten chinesische Arbeiterinnen und Arbeiter eindrücklich von ihren Lebensbedingungen und Arbeitskämpfen. Auch wer schon viele Streikberichte gelesen hat, kann hier noch überrascht werden Von Sarah Nagel übernehmen, mit anderen zu sprechen, sie für den Streik zu organisieren oder wenigstens Vorschläge zu machen.« Viele Personen, die hier zu Wort kommen, erzählen ähnliche Geschichten. Sie sind fast alle junge Wanderarbeiterinnen und -arbeiter, die unter schwierigsten Bedingungen Elektrogeräte montieren, Ladegeräte überprüfen oder Textilien verarbeiten. Aktivistinnen und Aktivisten, die selbst in verschiedenen Betrieben arbeiten, haben die Interviews 2010/11 in den Industriezonen Shenzhen und Dongguan geführt und das Buch in China im Selbstverlag herausgebracht. Damit wollen sie die Streikerfahrungen, die sonst häufig nur mündlich weitergegeben werden, dokumentieren und vor allem anderen Arbeiterinnen und Arbeitern zur Verfügung stellen. Die Berichte sind in Kämpfe gegen Fabrikschließungen, gegen Lohnkürzungen und für Lohnerhöhungen unterteilt, vorab werden sie durch einen kurzen Abriss der politökonomischen Entwicklung Chinas in den gesellschaftlichen Kontext eingeordnet. Im vergangenen Jahr ist die deutsche Übersetzung im Mandelbaum Verlag erschienen und bietet einen spannenden Einblick in Weltmarktfabriken, in denen Beschäftigte oft nicht nur arbeiten, sondern auch wohnen und essen. So erzählt

etwa ein Elektronikarbeiter, wie sich in seinem Betrieb Protest gegen das ungenießbare Kantinenessen entzündete: »Der Reis wurde mit Dieselöl gekocht und schmeckte danach. Einmal war er nicht gar gekocht, und drei oder vier Kollegen aus der Provinz Shaanxi trugen den Topf rüber zum Büro des Direktors. Wir rannten alle hinterher. Im Büro angekommen, kippten die KollegInnen den Reis auf seinen Tisch. Sie beschimpften ihn und riefen, wenn das Essen schon ungenießbar ist, sollten sie es wenigsten gar kochen. Der Direktor kaufte allen eine Packung Fertignudeln.« Das hinderte die Beschäftigten allerdings nicht daran, sich weiter für bessere Bedingungen einzusetzen. So wie hier werden viele Arbeitskämpfe durch eher zufällige Ereignisse ausgelöst, anhand derer sich die angestaute Wut über lange Arbeitszeiten, niedrige Löhne und schlechte Lebensbedingungen entlädt. Eine Akteurin kommt im Buch allerdings fast überhaupt nicht vor: die Gewerkschaft. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter fühlen sich von der staatlichen Einheitsgewerkschaft nicht vertreten. Stattdessen organisieren sie den Widerstand gegen ihre Ausbeutung selbst – und zeigen dabei eine Kreativität und Entschlossenheit, die auch Arbeitskämpfe anderswo inspirieren kann. ■

★ ★★ BUCH | Hao Ren u. a. (Hrsg.) | Streiks im Perlflussdelta. ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken | Übersetzt und herausgegeben von Ralf Ruckus | Mandelbaum Verlag | Wien 2014 | 186 Seiten | 16,90 Euro REVIEW

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ch war damals noch nicht lange in der Fabrik, also unbedarft, voller Energie und leicht zu begeistern. Alle sagten, es ist Streik, also machte ich mit.« Das erzählt eine 1990 geborene Arbeiterin, die mit sechzehn aus dem Dorf in eine der südchinesischen Industriestädte kam. Im Jahr 2007 beteiligte sie sich an einem Streik in ihrer Fabrik. Die Beschäftigten forderten unter anderem eine jährliche Anpassung des Mindestlohns, um die rasant steigenden Lebenshaltungskosten zu bewältigen. Die Nachricht vom Ausstand kursierte per SMS unter den Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich nach und nach anschlossen. Spätabends versuchten sie, spontan eine Autobahn zu blockieren. »Der Streik machte uns Spaß. Wenn sie uns die Straße nicht blockieren ließen, gingen wir halt wieder auf die Wiese und amüsierten uns. Die Manager schickten die Gruppenleiter los, damit sie ihre ArbeiterInnen suchten. Wenn sie uns entdeckten, liefen wir woanders hin. Die Gruppenleiter machten aber sowieso Dienst nach Vorschrift und taten so, als würden sie uns nicht erkennen«. Am Ende wurde der Lohn erhöht und die junge Arbeiterin sagt, sie würde sich nun besser auskennen und sei nicht mehr so leicht übers Ohr zu hauen: »Ich habe auch genug Selbstvertrauen, um die Initiative zu

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Buch Urs Zürcher | Der Innerschweizer

Wetter, Wein und Weltgeschichte Das große Was-wäre-wenn als Roman: Der Schweizer Historiker Urs Zürcher hat die Geschichte der 1980er Jahre neu geschrieben – im wahrsten Sinne des Wortes Von Marcel Bois

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★ ★★ BUCH | Urs Zürcher | Der Innerschweizer | Bilger-Verlag | Zürich 2014 | 720 Seiten | 34,90 Euro

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nfang Oktober 1982, die Vertrauensabstimmung im Bonner Bundestag ist gerade vorbei: »Schmidt bleibt Kanzler«, notiert Ursus in sein Tagebuch. »Die FDP konnte nicht genug Stimmen aufbringen, Kohl sei außer sich, hörte ich im Radio, er hätte sich bereits als Kanzler gesehen.« Es ist nur eine Randbemerkung, doch so langsam dämmert es mir: Der Historiker Urs Zürcher will mit seinem Romandebüt »Der Innerschweizer« eine alternative Geschichte der 1980er Jahre schreiben. Spätestens als Schmidt einige Zeit später an Lungenkrebs stirbt und der SPD-Politiker Björn Engholm sein Nachfolger wird, ist klar: Hier wird ein ganz großes Was-wäre-wenn veranstaltet, eine »Alternativweltgeschichte des Kalten Krieges«, nannte die »Neue Zürcher Zeitung« das Werk. Tatsächlich steht am Ende des Jahrzehnts im wahrsten Sinne des Wortes kein Stein mehr auf dem anderen. Die Hauptfigur Ursus ist ein junger Mann aus der konservativen Innerschweiz. Im Februar 1979 kommt er zum Studium nach Basel und zieht in eine linke Wohngemeinschaft. Es ist die Zeit von Jugendprotesten und Hausbesetzungen. Die linksautonome Bewegung der Schweiz befindet sich auf ihrem Höhepunkt. Den Alltag in der fiktiven Hegenauer Straße dokumentiert Ursus akribisch in seinem Tagebuch. Das Wetter, den ge-

meinsamen abendlichen Wein in der WG-Küche und auch die große Weltgeschichte: Alles hält er mithilfe seiner Schreibmaschine fest. Allein das ist schon ungeheuer lesenswert. Autor Zürcher war selbst in den 1980er Jahren in der »Gruppe für eine Schweiz ohne Armee« aktiv. Auch deswegen gelingt es ihm, ein ebenso authentisches wie augenzwinkerndes Porträt der linken Szene jener Zeit zu zeichnen. Da wird über die Anschaffung des Fernsehapparats genauso leidenschaftlich gestritten wie über die sowjetische Intervention in Afghanistan. Zugleich schildert Zürcher nachvollziehbar den Radikalisierungsprozess seiner Hauptfigur. Ursus ist ein halbwegs unpolitischer Mensch, als er nach Basel kommt. Seine Eltern warnen ihn noch vor seiner neuen Wohnform, schließlich leben ja nur Kommunisten in WGs. Und tatsächlich trifft Ursus in der Hegenauer auf die Aktivistin Kati (»streng maoistisch«) und einen Philosophiestudenten, den alle nur Hegel nennen (»sympathisiert offensichtlich mit der ›vierten Internationale‹«). Er diskutiert viel mit ihnen und nähert sich im Lauf der Zeit ihren Ansichten an. Sie gehen gemeinsam auf Demonstrationen und führen nachts illegale Plakataktionen durch. Doch dann eskaliert einer der Proteste und die Polizei verprügelt Ursus‘ damalige Freundin. Nun ist für den jungen Mann klar: »Hier hilft nur

Widerstand! Widerstand gegen diesen Schweinestaat.« Als Hegels Philosophieprofessor Hans-Joachim Ploetz schließlich die WG einlädt, mit ihm ein »Arbeitspapier Klassenanalyse und Klassenkampf« zu diskutieren, ist auch Ursus dabei: »Ich finde den Text gut«, notiert er. »Im Großen und Ganzen zielt die Sache auf radikale Schritte hin, weil Pragmatismus und Liberalismus auch in ›kritischer Intention‹ (Ploetz) den Kapitalismus nähren statt zu vernichten.« Tatsächlich wird aus dem Diskussionszirkel bald eine militante Aktionsgruppe. Über Monate hinweg planen sie minutiös einen Sprengstoffanschlag auf einen Militärlastwagen. Doch der missglückt – und nun gerät die Welt vollkommen aus den Fugen. Urs Zürcher ist ein beeindruckendes und ebenso kurzweiliges wie tiefsinniges Werk gelungen. Seine fiktive Geschichte der 1980er Jahre beschreibt er so erschreckend real, dass es einen regelmäßig erschaudernd lässt. Nur einmal geht die Phantasie dann doch mit dem Autor durch: Im Sommer 1982 lässt er die Sowjetunion Fußballweltmeister werden. Das nimmt ihm nun wirklich kein Mensch ab. ■


Helmut Dahmer | Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke

BUCH DES MONATS Die Psychoanalyse hat vielfach Eingang in marxistische Gesellschaftstheorie gefunden. Ein Grundlagenwerk über die Möglichkeiten und Gefahren dieser Verbindung ist jetzt in einer erweiterten Neuauflage erschienen Von Volkhard Mosler

★ ★★ BUCH | Helmut Dahmer | Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke | Verlag Westfälisches | Dampfboot | Münster 2013 | 599 Seiten | 39,90 Euro zentrale These und Forderung des Buchs. Ein weiterer Grund, Dahmers Buch — auch selektiv — zu lesen, ist seine kritische Rezeption jener Denkschulen, die eine unzulässige Psychologisierung der Gesellschaftskritik betreiben. Als wichtigste Vertreter sind hier Wilhelm Reich und Erich Fromm zu nennen. Das Kapitel über Wilhelm Reich hätte man der antiautoritären Studierendenbewegung von 1968 zur Pflichtlektüre machen müssen, hätte es damals schon vorgelegen. Reichs Trieblehre stellt nach Dahmer einen Rückfall hinter die Triebtheorie Freuds in einen platten Biologismus dar, wonach die gesellschaftlichen Krankheiten wie Faschismus und Stalinismus als Folge ge-

nital-sexueller Repression erscheinen. Aber auch Fromms weniger sexuell-triebhaft bestimmte Charakteranalyse sei wissenschaftlich und politisch eine Sackgasse: »Fromms Sozialisationstheorie blieb mechanistisch, sie konnte die Entstehung nicht konformer Charaktere nicht erklären.« Fromm unterscheidet verschiedene Charakterdispositionen, unter anderem einen »revolutionären« und einen »faschistischen« (sado-masochistischen) Charakter. Fromms frühe sozialpsychologische Schriften sind in die vom Institut für Sozialforschung in den 1940er Jahren durchgeführte empirische Untersuchung über den »autoritären Charakter« ein-

geflossen. Auch wenn Max Horkheimer und Theodor Adorno solche »psychologisierenden« Interpretationen politischen Handelns und politischer Bewegungen später stark kritisiert haben, fand die Studie in der antiautoritären Studentenbewegung im Sinne einer psychologisierenden Faschismustheorie weite Verbreitung. Im Hinblick auf Dahmers Interpretation der Psychoanalyse kann man sich hingegen fragen, ob er ihr gesellschaftskritisches Potenzial nicht überschätzt. Für ihn bilden Therapeut und Patient in der »Kur« eine Art Partei, die gemeinsam den Kampf gegen ein zu mächtiges und lähmendes Über-Ich führt. In diesem Akt der Befreiung des Ichs stecke eine — ich übertreibe — revolutionäre Kraft. Das kann man so sehen oder auch nicht. Denn erstens entstammt die Kundschaft der Psychoanalyse wegen der hohen Kosten fast ausschließlich einer Mittelschicht, deren revolutionäres Potenzial als ziemlich gering einzuschätzen ist. Zweitens ist es die Pflicht eines guten Therapeuten, die Arbeitsfähigkeit der Patientinnen und Patienten unter gegebenen kapitalistischen Verhältnissen wiederherzustellen. Er würde seinen Beruf verfehlen, wenn er ihnen zum politischen Rebellentum gegen das gesellschaftliche Über-Ich des bürgerlichen Staats verhülfe. Umgekehrt neigt Dahmer zu Pessimismus, was das revolutionäre Potenzial kollektiver Klassenerfahrungen des Proletariats betrifft. Ich kann es ihm nicht verdenken angesichts des Niedergangs der Klassenkämpfe seit Mitte der 1970er Jahre und des Vormarsches neoliberaler Regime, die zwar durch Krisen des Kapitalismus ideologisch erschüttert, aber noch nicht durch einen neuen Aufschwung von Klassenkämpfen gebrochen sind. Aber ein solcher Pessimismus kann übervorsichtig machen. ■

REVIEW

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reilich würden wir, wenn wir Könige wären / Handeln wie Könige, aber indem wir wie Könige handelten / Würden wir anders handeln als wir (Bertold Brecht) Helmut Dahmer ist einigen unserer Leserinnen und Leser als Herausgeber einer kommentierten Ausgabe von Trotzkis Schriften bekannt. Bis heute hat er gewissermaßen zwei Fächer bedient, das des Marxismus sowie das der psychoanalytischen Forschung. Sein im Jahr 1973 erstmals erschienenes Werk über »Libido und Gesellschaft« weist Dahmer als den vielleicht kenntnisreichsten deutschen Theoretiker der verschiedenen auf Freud und die Psychoanalyse sich berufenden Denkschulen aus. Im ersten Kapitel setzt sich Dahmer mit der Entstehung der Psychoanalyse im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts auseinander. Er beschreibt Freuds Theorie über das menschliche Seelenleben sowie die zeitgenössische Kritik an der neuen, therapeutisch ausgerichteten Psychologie. Dabei arbeitet Dahmer den für ihn zentralen Widerspruch in Freuds Lehre heraus: »Das naturwissenschaftliche Selbstmissverständnis der Psychoanalyse machte sie gesellschaftlich blind.« Bis zuletzt habe Freud an diesem Selbstverständnis festgehalten, obwohl er selbst von der Psychoanalyse ausgehend eine Kulturkritik entwickelt habe. Doch beschreibe Freuds Theorie keine im herkömmlichen Sinne naturwissenschaftlichen Tatbestände. Denn die Triade von Es, Ich und ÜberIch sei nicht nur — durch die Libido oder den Lusttrieb — biologischen Ursprungs, sondern zugleich gesellschaftlich vermittelt. Darum müsse die psychoanalytische Schule — entgegen dem Willen ihres Gründers — sich von ihrem falschen Selbstverständnis eines »biologischen Materialismus« trennen und zum historischen Materialismus finden. Diese gesellschaftskritische Wendung der Freud‘schen Theorie ist die

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Mein Lieblingsbuch

m 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler von Reichspräsident Hindenburg zum Kanzler ernannt. Noch am selben Abend feierten die Nazis diese Machtübergabe, indem sie SA-Trupps durch proletarische Viertel marschieren ließen. In Berlin war die Charlottenburger Wallstraße, heute Zillestraße, hinter der Deutschen Oper, eine Hochburg der Arbeiterinnenund Arbeiterbewegung. Als der berüchtigte SA-Sturm Nr. 33 unter Polizeischutz hier einmarschierte, gab es wütende Proteste. Anwohnerinnen und Anwohner warfen Blumentöpfe von den Balkonen. Die SAMänner schossen wild um sich, wobei verirrte Kugeln den Sturmführer Hans Maikowsky und den Polizisten Josef Zauritz töteten. Die Nazis rächten sich für den Widerstand, indem sie etliche kommunistische und sozialdemokratische Oppositionelle aus diesem »roten Kiez« verhafteten, folterten und einige von ihnen ermordeten. Zur Trauerfeier für Maikowsky kamen sogar Hitler und Goebbels. Anschließend wurde die Wallstraße in Maikowskistraße umbenannt, wobei das y im Namen des SA-Führers einem arischer klingenden i weichen musste. Hier hatte der damals 27-jährige Jan Petersen am illegalen Widerstand teilgenommen. Zwei Jahre lang tippte er heimlich an einer Chronik der Auseinandersetzungen, immer einen harmlosen Liebesroman zur Tarnung neben der Schreibmaschine liegend. Nicht einmal seiner Freundin erzählte er davon. Das fertige Buchmanuskript schmuggelte er 1934 unter Lebensgefahr über die tschechische Grenze. Sein Bericht zerstörte die Legende von der allgemeinen Beliebtheit der Nazis. Die Fotos von jubelnden Menschenmassen mit Hitlergruß waren die offizielle Wahrheit – wer im Widerstand war, machte besser keine Fotos. Noch zu Beginn der Naziherrschaft wurde »Unsere Straße« ein weltweiter Erfolg. Es war der einzige antifaschistische Roman, der damals in Deutschland geschrieben

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Von marx21-Leser Oliver Völckers

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es alle einmal gelesen haben sollten? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Unsere Straße« von Jan Petersen

★ ★★ Jan Petersen | Unsere Straße: Eine Chronik | Edition Ost | Berlin 2013 (Erstauflage: Prag 1936) | 340 Seiten | 16,99 Euro

wurde und der Welt eindringlich und authentisch von den Kämpfen berichtete. Das in zwölf Sprachen übersetzte Buch zeigt, dass vielen Linken bereits früh die Bedrohung durch die Nazis klar war. Ihnen galten die Überfälle, Verhaftungen und körperlichen Misshandlungen. Polizei und Justiz standen in der Regel, aber nicht immer, auf Seiten der Nazis. Petersen entwickelte keine Theorie über die Funktion des Faschismus, sondern berichtete von den selbst erlebten Kämpfen. Unter den Bedingungen der Diktatur war er zu größter Vorsicht und zu Misstrauen gezwungen. Nichts war mehr sicher: Wer laut »Heil Hitler« schrie, konnte auch eine Widerständlerin sein, die sich tarnen musste. Wer ein Kommunist zu sein schien, konnte auch ein Spitzel der Gestapo sein. Überleben und politisch arbeiten konnte nur, wem es wie Petersen gelang, dem Unterdrückungsapparat der Nazis zu entwischen. Um andere zu warnen, beschrieb er die Gestapo-Methode des »Eckenstehens«, bei der verhaftete Aktivistinnen oder Aktivisten an öffentlichen Plätzen als Lockvogel dienen mussten. Wenn Bekannte, Verwandte oder Genossen sie freudig begrüßten, waren sie verloren. Petersen beschrieb auch, wie die Gestapo eine scheinbar unpolitische Ausstellung über die Sowjetunion als Falle nutzte, um neugierige Kommunistinnen und Kommunisten zu verhaften. In den 1980er Jahren gehörte ich zu jenen, die im Charlottenburger »Laden Holtzendorffstraße« die Geschichte des Widerstands vor Ort erforschten und mit AntifaVeteranen wie Oskar Hippe und Fritz Teppich sprechen konnten. »Unsere Straße« zeigte mir, wie schwierig und gefährlich es war, sich der Nazidiktatur entgegenzustellen. Doch zugleich macht das Buch Mut, denn unzählige kleine subversive Akte wie die von Jan Petersen streuten Sand in die Maschinerie der Nazis. Zwanzig Jahre lang war das Buch über die heutige Zillestraße vergriffen, jetzt wurde es endlich neu aufgelegt. ■


BUCH

Ralf Hoffrogge | Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895-1940)

Die Geister, die er rief Er kämpfte rücksichtslos für eine radikale Linie der Partei und manövrierte sich so selbst ins Aus. Die Biographie des kommunistischen Funktionärs Werner Scholem bietet neue Einsichten in die Stalinisierung der KPD in den 1920er Jahren Von Sebastian Zehetmair

Damit verpflichtete sich die KPD auf ein rigides ideologisches System des »Marxismus-Leninismus«, das Stalin nach Lenins Tod geschaffen hatte. Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten zur innerparteilichen Diskussion stark eingeschränkt. Dieser Prozess ebnete den Weg für die folgende Stalinisierung, durch die die KPD in völlige Abhängigkeit von der sowjetischen Schwesterpartei geriet. Scholem setzte zwar reihenweise Funktionäre ab und führte einen wütenden Kampf gegen das politische Erbe Rosa Luxemburgs. Doch war er mit seinen »ultralinken« Überzeugungen zu starrsinnig, um die Stalinisierung mitzutragen. Als die Kommunistische Internationale im Jahr 1926 einen Kurswechsel beschloss, wurde er aus der KPD ausgeschlossen. Zwischen 1926 und 1928 arbeitete er in linkskommunistischen Kreisen, die inner- und außerhalb der KPD gegen den Stalinismus kämpften. Hoffrogge argumentiert, dass die »Ultralinken« den Kampf aus drei Gründen verloren. Erstens hielten sie am Mythos des »Marxismus-Leninismus« fest, den sie für das authentische Erbe der russischen Revolution hielten. Weil dieses Dogma keine organisierten innerparteilichen Strömungen zuließ, waren jedoch auch die Möglichkeiten der »Ultralinken« in der KPD eingeschränkt. Zu einem vollständigen Bruch wa-

ren viele von ihnen nicht bereit. Zweitens fürchtete Scholem einen Sieg der »rechten« Strömungen in der Partei mehr als den Stalinismus. Drittens unterschätzten die »Ultralinken« die ideologische Wendigkeit des Stalinismus. Im Jahr 1928 beschloss die Komintern auf Stalins Initiative hin eine neue Linkswendung und die linkskommunistische Opposition spaltete sich, weil ein Teil auf die Rückkehr der Partei zur Politik der Jahre 1924/25 hoffte. Scholem zog sich nach dieser Niederlage ins Privatleben zurück. Als jüdischer Kommunist wurde er dennoch im Frühjahr 1933 verhaftet und verbrachte die letzten sieben Jahre seines Lebens in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Im Jahr 1940 ermordeten ihn die Nazis im KZ Buchenwald. Scholems Biographie bietet einige aufschlussreiche Einblicke in den Prozess der Stalinisierung der KPD. Allerdings wäre eine stärkere Straffung des Buchs wünschenswert gewesen; manche privaten Details aus Scholems Leben sind für eine politische Biographie allzuweit ausgebreitet. Hoffrogge zeigt die hässlichen Seiten des historischen Degenerationsprozesses einer einst stolzen revolutionären Tradition. Dass die Lektüre deshalb nicht immer angenehm ist, kann dem Autor nicht angelastet werden. ■

★ ★★ BUCH | Ralf Hoffrogge | Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895-1940) | UVK | Konstanz 2014 | 496 Seiten | 24,99 Euro

REVIEW

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ls Sohn eines jüdischen Druckereibesitzers schloss sich Werner Scholem im Jahr 1912 der zionistischen Jugendbewegung an, die für einen jüdischen Staat in Palästina eintrat. Doch noch im selben Jahr wechselte er zur SPD. Deren internationalistische Perspektive erschien ihm als der bessere Weg im Kampf gegen den Antisemitismus. Während des Ersten Weltkriegsverließ Scholem die Sozialdemokratie wieder, trat erst in deren Linksabspaltung USPD und dann in die KPD ein. Hier gehörte er als Parteifunktionär und Abgeordneter in Berlin zum äußersten linken Flügel der Partei. Die »Ultralinken« standen den tagespolitischen Kämpfen der Gewerkschaften misstrauisch gegenüber und definierten ihre Politik primär durch die Abgrenzung von der »Einheitsfronttaktik« der Parteimehrheit, die Aktionsbündnisse mit der SPD einschloss. Im »deutschen Oktober« 1923 scheiterte ein Aufstandsplan, in den die KPD große Hoffnungen gesetzt hatte. Die gesellschaftliche Dynamik wandte sich nun zunehmend gegen sie. Die »Ultralinken« wollten daraufhin durch eine Reinigung der Partei vom »Opportunismus« der Revolution zum Sieg verhelfen. Sie stürzten die bisherige Parteiführung und setzten einen Prozess der »Bolschewisierung« in Gang, den Scholem als oberster Organisationsleiter maßgeblich verantwortete.

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BUCH

Isaak Babel | Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen

Der Dichter, der nicht lügen wollte Isaak Babel erlebte begeistert die Russische Revolution mit, wurde ein erfolgreicher Schriftsteller in der jungen Sowjetunion und fiel dann den Stalinschen Säuberungen zum Opfer. Nun sind alle seine Erzählungen in einem Band erschienen Von David Paenson

I

van fasste sich an die Mütze, schob sie zurück und setzte sich. Die Stute schleifte den Hörnerschlitten zu ihm her, streckte die Zunge heraus und wölbte sie zu einem Röhrchen. Das Pferd war trächtig, sein Bauch ragte steil nach beiden Seiten. Spielerisch schnappte die Stute nach der wattierten Schulter ihres Herrn und schüttelte sie. Ivan (…) beugte sich vor, zog die Axt heraus, hielt sie einen Augenblick lang hoch erhoben in der Schwebe und hieb sie dem Pferd auf die Stirn. Das eine Ohr sprang ab, das andere fuhr hoch und legte sich an; aufstöhnend raste die Stute los …« Der Bauer Ivan bringt sein eigenes Pferd um, nachdem ihm der Gerichtsvollzieher verkündet hat, dass er nicht genügend Steuern bezahlt habe und sein Hof nun requiriert und er selbst deportiert würde. Die Erzählung »Kolyvuška« verfasste Isaak Babel im Frühjahr 1930, inmitten der katastrophalen stalinistischen Zwangskollektivierung. Zum ersten Mal bringt der Hanser-Verlag sämtliche Erzählungen des russisch-jüdischen Autors Babel in einer – mit Ausnahme der bereits zuvor veröffentlichten »Reiterarmee« – Neuübersetzung von Bettina Kaibach und Peter Urban heraus. Babels Geschichten umfassen die Zeit seiner Kindheit im ukrainischen Odessa Ende des 19. Jahrhunderts bis zu seiner Hinrichtung durch den rus-

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sischen Geheimdienst Anfang 1940. Er beschreibt in den Monaten unmittelbar nach der Oktoberrevolution die Notlage der Erste-Hilfe-Stationen Petrograds: »Im Büro der Station herrscht großes Schweigen. Es gibt lange Räume, blitzende Schreibmaschinen, Papierstapel, sauber gefegte Fußböden. Dann gibt es noch ein verschrecktes Fräulein, das vor drei Jahren angefangen hat, Papierchen und Kladden vollzuschreiben, und aus reiner Gewohnheit nicht aufhören kann. Dabei würde es nicht schaden, damit aufzuhören, denn die Papierchen und Kladden braucht schon lange keiner mehr. Außer dem Fräulein gibt es niemanden. Das Fräulein ist die Belegschaft.« Der Grund: Es gibt keine Pferde mehr, um an Unfallorte zu eilen, kein Benzin für die Krankenwagen, keine Ärzte. Die Pferde werden alle massenweise geschlachtet, um daraus Pferdefleisch zu machen, während den normalen Schlachtereien die Zufuhr an Tieren vollkommen versiegt ist: »Ich lerne eine furchtbare Statistik kennen. Anstelle von 30–40 Pferden, die früher geschlachtet wurden, kommen jetzt täglich 500–600 Pferde in den Schlachthof. Im Januar kam man auf fünftausend Pferde, im März werden es zehntausend sein. Der Grund: kein Futter.« Es finden sich aber auch Kindheitserinnerungen in dem

Band. So schreibt er über die Zeit »Bei der Großmutter« in ihrer warmen Küche nach der Schule: »Dann hörte mich Großmutter ab. Sie sprach im Übrigen miserabel Russisch, entstellte die Wörter auf ihre eigene, besondere Weise, indem sie die russischen mit polnischen und jiddischen vermischte. Russisch lesen konnte sie natürlich nicht, und das Buch hielt sie verkehrt herum.« Für Babel blieb es ein ewiger Zwiespalt: der Wunsch, ein moderneres Zeitalter zu betreten und die altmodische Welt des ostjüdischen Schtetl endlich hinter sich zu lassen, verbunden mit der tiefen Sehnsucht eben nach dieser für immer verloren gegangen Welt seiner Kindheit. Der Sammelband ist sorgfältigst zusammengestellt und mit einem großzügigen Anhang von fast 200 Seiten versehen, der dem Leser, der Leserin enorm hilft, in die damalige Zeit einzutauchen. Eine faszinierende Lektüre. »Sein Werk wird bleiben«, schrieb einst Marcel Reich-Ranicki über Babel. »Und bleiben wird die Legende (…) vom Dichter, der nicht lügen wollte«. ■

★ ★★ BUCH | Isaak Babel | Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen | Hanser Verlag | München 2014 | 864 Seiten | 39,90 Euro


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kritisieren beispielsweise Titus Engelschall und Elfriede Müller. Peter Ullrich erwidert in der folgenden Ausgabe (Nr. 601, 20.01.2015): Ein »sicheres und sauberes Agieren« sei hier »so schwierig, ja fast unmöglich, wie moralisch sauberes Einkaufen«.

er viel Zug fährt, hat eine Bahncard 50. Doch der DB-Konzern würde die Rabattkarte am liebsten loswerden. Erfolgreich führte er seit dem Jahr 2003 verschiedene Maßnahmen durch, um deren Attraktivität zu senken. Beispielsweise erhöhte er den Preis der Karte um 84 Prozent und führte zahlreiche zusätzliche Rabattangebote ein, die sich nicht mit ihr kombinieren lassen. Mittlerweile ist die Zahl der Kundinnen und Kunden, die die Bahncard 50 nutzen, von drei auf weniger als anderthalb Millionen gesunken. Wie diese Entwicklung mit den Plänen zur Privatisierung der Bahn zusammenhängt, erklärt Verkehrsexperte Winfried Wolf in der Wochenzeitung »Kontext« (Nr. 199, 21.01.2015).

Zahlreiche linke Aktivistinnen und Aktivisten haben ihr Engagement zum Beruf gemacht: Sie arbeiten bei Gewerkschaften, NGOs, parteinahen Stiftungen oder im Wissenschaftsbetrieb. Diesem Phänomen hat die Redaktion der Zeitschrift »analyse & kritik« (Nr. 600, 16.12.2014) einen Schwerpunkt gewidmet. Unter der Überschrift »Der große Ausverkauf« diskutieren verschiedene Autorinnen und Autoren die Probleme, die sich aus diesem Zustand ergeben. »Politische Radikalität äußerte sich bei der Neuen Linken selten am Arbeitsplatz, eher am Bauzaun, im besetzten Haus und auf der Straße«,

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21-Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Publikationen

★ ★★ WEBLINKS Kontext: www.kontextwochenzeitung.de Prokla: www.prokla.de analyse & kritik: www.akweb.de Neues Deutschland: www.neues-deutschland.de Zinn Education Project: http://zinnedproject.org

Wenn in den USA über Muslimas und Muslime gesprochen wird, dann dominieren zwei Themen: einerseits der 11. September 2001, andererseits die »Nation of Islam«, der auch Muhammad Ali und Malcolm X angehörten. Eine andere Sichtweise präsentiert Alison Kyzia in einem Beitrag für das »Zinn Education Project«, eine Internetplattform, die sich in der Tradition des linken Historikers Howard Zinn sieht. Kyzia zeigt, wie vielfältig und umfangreich die Geschichte des Islam in den USA ist und dass diese stark mit dem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit verwoben ist. Sie reicht von einem Sklavenaufstand gegen den Sohn von Kolumbus im Jahre 1522 über den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) und gewerkschaftliche Kämpfe in den 1970er Jahren bis hin zum heutigen Widerstand gegen rassistische Polizeimethoden. ■

REVIEW

Seit Beginn des Arabischen Frühlings vor vier Jahren sind weltweit Massenproteste entflammt. Sie ziehen die Aufmerksamkeit von Aktivistinnen und Aktivisten ebenso auf sich wie die der Wissenschaft. Die Redaktion der Zeitschrift »Prokla« (Nr. 177, Dezember 2014) möchte nun in der aktuellen Ausgabe ausleuchten, inwieweit es sich tatsächlich um eine globale Protestwelle handelt.

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs trat er der Kommunistischen Partei Deutschlands bei. Von 1947 bis 1949 studierte er an der Parteihochschule »Karl Marx« in der sowjetischen Besatzungszone. Bald brach er jedoch mit dem stalinisierten Kommunismus, der ihn trotzdem sein weiteres Leben begleitete. Denn Hermann Weber wurde Kommunismusforscher – und zwar der bedeutendste der alten Bundesrepublik. Am 29. Dezember ist er im Alter von 86 Jahren gestorben. Einen lesenswerten Nachruf hat Karlen Vesper für die Tageszeitung »Neues Deutschland« (06.01.2015) verfasst.

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Š Montecruz Foto / CC BY-SA / flickr.com

Preview


Protest

Gegen die Eröffnung der EZB-Zentrale | Frankfurt am Main, 18. März 2015

»Es gibt nichts zu feiern an Sparpolitik und Verarmung« Die Europäische Zentralbank hat ein neues Hauptquartier. Tausende ungebetene Besucherinnen und Besucher werden im März zur Eröffnungsfeier nach Frankfurt kommen. Wir dokumentieren den Aufruf des Aktionsbündnisses Blockupy Kapitalismus ohne Demokratie, wir wollen Demokratie ohne Kapitalismus! Gleichzeitig müssen wir besonders wachsam sein für die Gefahren des wachsenden Rassismus und den Aufstieg der extremen Rechten, diese hässliche Nebenprodukte der kapitalistischen Krise. Während es die Absicht der Rechten ist, sowohl die Außengrenzen zu verstärken als auch neue Grenzen innerhalb Europas zu errichten, wollen wir im Gegenteil die Mauern der Festung Europas einreißen. (…) In einigen Ländern ist die Zeit der Schockstrategie noch längst nicht vorbei und neue massive Spar- und Kürzungsprogramme sollen durchgesetzt werden. In anderen Ländern haben wir es mit einer neuen Normalität von Unsicherheit und Armut zu tun. In jedem Fall ist klar geworden, dass die Maßnahmen der Krisenpolitik niemals als vorübergehend gedacht waren, sondern fest in den Staaten und den EU-Institutionen verankert wurden. Das hat den Weg bereitet für eine neue Phase, ein neues Gesellschaftsmodell von Prekarität und sehr eingeschränkten sozialen Rechten. Daran werden wir uns jedoch niemals gewöhnen! Deutschland ist eine der treibenden Kräfte hinter dieser Spar- und Austeritätspolitik. Es ist gewissermaßen das Herz der Bestie und das relativ ruhige Auge des Sturms zugleich. Aber auch in Deutschland existieren Angriffe auf soziale Rechte, gibt es wachsende Prekarität und Armut. (…) Aus allen diesen Gründen rufen wir zu einer starken internationalen Beteiligung an den Aktionen am 18. März 2015 in Frankfurt auf. Es wird nicht nur eine ungehorsame Massenaktion am Tag der EZB-Eröffnung geben, sondern eine Vielzahl von Demonstrationen, Blockaden und anderen Aktionen darum herum. Die großen Blockupy-Aktionen 2012 und 2013 waren nur der Anfang. Der Protest und der Widerstand werden nach Frankfurt zurückkehren – stärker in der Zahl und in der Entschlossenheit als zuvor! ■

★★★

Frankfurt am Main, 18. März 2015: Protestaktionen gegen die Eröffnung der EZB-Zentrale | Weitere Informationen und den ungekürzten Aufruf gibt es unter: http://blockupy.org

PREVIEW

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m 18. März 2015 will die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main ihr neues Hauptquartier eröffnen. Für den 185 Meter hohen Zwillingsturm, der mit seinem Sicherheitszaun und Burggraben einer Festung gleicht, wurde die schwindelerregende Summe von 1,3 Milliarden Euro ausgegeben. Diese einschüchternde Architektur der Macht zeigt deutlich die Distanz zwischen den politischen und ökonomischen Eliten und den Menschen. Die Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Abteilungen haben schon mit dem Umzug in das neue Gebäude begonnen. Aber die große Eröffnungsfeier – in Anwesenheit der europäischen Staatschefs und Finanzoligarchen – ist jetzt offiziell für den 18. März angekündigt worden. Es gibt nichts zu feiern an Sparpolitik und Verarmung! (…) Die EZB spielt eine wichtige Rolle in der berüchtigten Troika. Sie ist verantwortlich für brutale Kürzungen, für wachsende Erwerbslosigkeit und sogar für den Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung in Griechenland und anderen EU-Staaten. Zusammen mit der EU-Kommission und dem EU-Rat hat die EZB Sparpolitik, Privatisierung und Prekarisierung gefördert. Sie hat nicht einmal davor zurück geschreckt, gewählte Regierungen zu erpressen, um ihre Angriffe auf die sozialen Rechte der Menschen durchzusetzen. Im Verlauf der Krise wurde aus der EU mehr und mehr ein autoritäres Regime mit einem offensichtlichen Mangel an demokratischer Partizipation. Das mörderische europäische Grenzregime und die fortschreitende Militarisierung sind ebenfalls Teil dieses Prozesses. Sie repräsentieren uns nicht, ja sie wollen uns gar nicht mehr repräsentieren! Die herrschenden Eliten haben uns nichts mehr anzubieten. Aber aus vielen Quellen entstehen dagegen neue Kräfte und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, Solidarität und Demokratie von unten aufzubauen. Sie wollen

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Demonstration | Zentrale Demonstration am Frauen*kampftag

Den ganzen Knoten sprengen Frauen werden in unserer Gesellschaft immer noch unterdrückt. Warum alle, die sich dagegen wehren, am 8. März gemeinsam auf die Straße gehen sollten, erklärt eine Mitorganisatorin der Demonstration Interview: Clara Dircksen

Ich kenne den 8. März noch als Tag, an dem Männer Frauen Blumen mitbrachten. Seit wann ist der »Frauentag« wieder politisch? Eigentlich war der 8. März ein Kampftag für die politische und soziale Gleichstellung von Frauen. Anfang des 20. Jahrhunderts waren vor allem die Forderung nach einem Frauenwahlrecht, aber auch gewerkschaftliche Forderungen wie Arbeiterinnenschutz oder Kinderbetreuung zentral. Während des Ersten Weltkriegs forderte die proletarische Frauenbewegung Frieden und ein Ende der Militarisierung. Später ist der Internationale Frauentag in Deutschland immer mehr zum Tag der Blumen statt des Kampfs geworden ‒ obwohl viele Forderungen der Frauenbewegung noch lange nicht erfüllt sind. Deshalb fanden wir, dass der Frauentag wieder ein Kampftag werden muss. Gab es einen bestimmten Anlass? Zu den uneingelösten Forderungen der Frauenbewegung kam im Zuge der Krise in Europa ein antifeministischer Rollback. Das hat uns im SDS und der Linksjugend [´solid] zum Nachdenken gebracht. Die Versuche, bereits erstrittene Rechte, wie das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, wieder einzuschränken, die fehlende Anerkennung von sogenannten Frauenberufen, aber auch der alltägliche Sexismus waren allgegenwärtig. Auch mit den Verhältnissen innerhalb unserer Verbände waren wir unzufrieden. Es war Zeit, aktiv einzugreifen und etwas zu verändern. Damit sind wir nicht allein. Immer und an vielen Orten findet feministischer Widerstand statt. Doch gab es nur wenig Vernetzung. Das Bündnis für den Frauen*kampftag will diese vielen Aktivitäten zusammenbringen und symbolisch am 8. März auf der Straße sichtbar machen. Zur ersten kämpferischen Demons82

Kerstin Wolter

Kerstin Wolter ist Mitbegründerin des Bündnisses für den Frauen*kampftag am 8. März und Bundesgeschäftsführerin von Die Linke.SDS. ★ ★★ DIE Demonstration Zentrale Demonstration am Frauen*kampftag | 8. März 2015 | Berlin | Rosa-Luxemburg-Platz | 13:00 Uhr

tration nach zwanzig Jahren kamen letztes Jahr in Berlin 5000 Menschen. Wer beteiligt sich an dem Bündnis? Wir sind ein plurales Bündnis aus autonomen Organisationen, Gewerkschaften, Parteien und Einzelpersonen. Den Aufruf haben im vergangenen Jahr über 80 Organisationen und noch mehr Einzelpersonen unterzeichnet. Was sind die zentralen Forderungen? Im Zentrum stehen die Forderungen nach guter Arbeit und gutem Leben (auch durch radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich), nein zum Krieg, für sexuelle Selbstbe-

stimmung und Abschaffung des Paragraphen 218, gegen Homo-, Trans- und Interphobie. Unsere Forderungen sind so vielfältig wie die verschiedenen Widerstandsformen. Es reicht nicht, nur an einem Knoten zu ziehen, sonst zieht sich ein anderer zu. Es geht uns darum den ganzen Herrschaftsknoten zu lösen. Gibt es Verbindungen zu anderen sozialen Kämpfen? Bisher arbeiten wir eng mit dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung zusammen, das die Proteste gegen die Märsche der sogenannten Lebensschützer organisiert. Es gibt einen Austausch mit dem Charité-Bündnis, das in seinen Forderungen nach mehr Pflegepersonal im Krankenhaus auch feministische Anliegen vertritt. Um den 8. März wird es auch Tarifauseinandersetzungen in den Sozial- und Erziehungsdiensten geben. Wir freuen uns, wenn auch hier eine engere Zusammenarbeit entsteht. Gerade am 8. März ist die internationalistische Perspektive für uns zentral. So arbeiten wir eng mit der Internationalistischen Fraueninitiative zusammen, in der sich vor allem kurdische Frauenvereine zusammengeschlossen haben. Und wie geht es weiter? Im letzten Jahr haben wir inhaltliche Projektgruppen gegründet, in denen wir auch zwischen den Frauen*kampftagen zusammenarbeiten. Unser Ziel ist es, den Internationalen Frauentag langfristig wieder als politischen Kampftag zu etablieren. Aber auch ansonsten ist Feminismus ein wichtiges Thema im SDS. Noch im März findet zum Beispiel ein internationaler Kongress zu Marxismus-Feminismus in Berlin statt, an dem wir uns beteiligen. ■


ORGANISIERT VON


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analysiert die Gegner der neuen griechischen Regierung

Magazin für internationalen Sozialismus

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Syriza und Podemos Linke Hoffnung für Europa?

über die neue antirassistische Bewegung in den USA

»Der Innerschweizer« Eine alternative Geschichte der 1980er Jahre

Kerstin Wolter

stellt den Frauen*kampftag vor

Terrorismus Der Krieg der Armen Kitas Wie den Streik der Erzieherinnen unterstützen?

204501 195906

Von Sarrazin bis Pegida: Warum ihr Rassismus gegen Flüchtlinge und Muslime so gefährlich ist – und wie wir ihn stoppen können.

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