marx21 Ausgabe Nummer 41 / 03-2015

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marx21 03/2015 | HERBST | 4,50 EURO | marx21.de

Magazin für internationalen Sozialismus

TTIP Wie wir das Abkommen noch stoppen können

Jonathan Neale

erklärt, warum Kapitalismus und Klimaschutz nicht vereinbar sind

Türkei Warum Erdoğan wieder Krieg gegen die Kurden führt

Rehad Desai

über seinen Film »Miners Shot Down«

Jeremy Corbyn Wie ein linker Außenseiter Labour-Vorsitzender werden konnte

+

Kultur Rocky Horror Picture Show

, n e t s e G e u e N ? e i g e t a r t S e t al

Musik K.I.Z. und der Happy- SteinzeitKommunismus

Österreich 4,70 EURO SCHWEIZ 7,50 CHF

Sieben Thesen über die litik. deutsche Flüchtlingspo

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195906

204501

03

Kitas Wie lässt sich der Streik der Erzieherinnen gewinnen?

Lucia Schnell

fragt, wie es in Griechenland nach der Wahl weitergeht


BERLIN

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Gut 2000 Personen demonstrieren am 19. September gegen den Aufzug von 5000 »Lebensschützern«. Der gespenstisch anmutende Marsch der christlichen Fundamentalisten mit großen weißen Holzkreuzen findet jährlich in Berlin statt. Sie fordern ein totales Abtreibungsverbot, wettern gegen den angeblichen »Genderwahn« und die gleichgeschlechtliche Ehe und wollen anderen ihre ultrakonservativen Vorstellungen von Zusammenleben aufzwingen. Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung und das Bündnis »Marsch für das Leben – What the fuck!« haben dagegen mobil gemacht und können am Ende den Fundamentalistenmarsch erstmals zwei Stunden lang blockieren, trotz großen Polizeiaufgebots und Einsatzes von Pfefferspray. Die Gegenbewegung wächst. Ihre Forderung lautet unter anderem immer noch: Weg mit dem Strafrechtsparagrafen 218! Kein Zwang, freie Entscheidung über das eigene Leben und den eigenen Körper! Der nächste Fundamentalistenmarsch findet am 17. September 2016 statt – bis dahin müssen wir noch mehr werden.


Liebe Leserinnen und Leser,

IN EIGENER SACHE

D

ie Heuchelei könnte kaum größer sein: Während die Bundesregierung an einer drastischen Verschärfung des Asylrechts arbeitet, das die auf Abschreckung ausgerichtete, rassistische Flüchtlingspolitik Deutschlands und der EU weiter zementiert, wird Angela Merkel als »Flüchtlingskanzlerin« gefeiert. In unserem Schwerpunkt ab Seite 20 beleuchten wir die scheinheilige Politik der Großen Koalition. Während sich alle Augen auf die wachsenden Flüchtlingsströme richten, hat Griechenland gewählt. Die Wählerinnen und Wähler haben Alexis Tsipras und seine um ihren linken Flügel bereinigte Syriza in der Regierung bestätigt. Was das für den weiteren Kampf gegen die neoliberale Austeritätspolitik bedeutet, lest Ihr in unserem Thesenpapier auf Seite 20. Auch dem Klassenkampf hierzulande widmen wir uns in dieser Ausgabe wieder ausführlich: Die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst haben sich über die Gewerkschaftsführung hinweggesetzt und ein beeindruckendes Votum für eine Fortsetzung ihres Streiks geliefert. Schon im Oktober könnte es wieder losgehen. Das ist Grund für uns, den bisherigen Verlauf und die Probleme der Auseinandersetzung zu beleuchten. Alles dazu findet Ihr ab Seite 48. Und auch im marx21-Netzwerk ist diesen Sommer einiges passiert: Bei unserer Unterstützerversammlung im September haben wir nicht nur die Weichen für die politische Arbeit im kommenden Jahr gestellt, sondern uns auch Zeit genommen, ausführlich über unsere Publikationen zu diskutieren: die Homepage marx21.de, unser Theoriejournal theorie21, die »marx21 extra«-Flugblätter und natürlich unser Magazin. Hierzu hatten wir im Frühjahr auch eine große Umfrage durchgeführt, an der sich fast 200 Leserinnen und Lesern beteiligten. Vielen Dank dafür! Die Ergebnisse präsentieren wir euch demnächst auf unserer Homepage.

MARX IS' MUSS 2016 4 Tage, 80 Veranstaltungen, 1 Kongress Der Kongress findet nächstes Jahr über Himmelfahrt (05. bis 08. Mai) in Berlin statt. Anmelden kannst du dich ab sofort auf www.marxismuss.de. Mit einer frühzeitigen Anmeldung hilfst du uns dabei, die Kosten für das Werbematerial zu finanzieren. Wir bedanken uns mit einem Frühbucherrabatt.

Begeistert hat uns das große Lob, das Ihr uns ausgesprochen habt. Trotzdem sollte die Umfrage vor allem dazu dienen, unsere Publikationen zu verbessern. Deshalb haben wir den häufig geäußerten Wunsch nach mehr marxistischer Theorie aufgenommen und die Serie »Marx neu entdecken« entwickelt. Sie startet in dieser Ausgabe mit einem Artikel zum marxistischen Geschichtsverständnis. Ihr findet ihn auf Seite 54. Zudem wollen eine Verkaufsoffensive des Magazins starten. Dafür benötigen wir Eure Unterstützung. Wenn auch du Verkäuferin oder Verkäufer des marx21-Magazins werden willst, kannst du ein Weiterverkaufabo für drei Exemplare abschließen. Das geht sowohl online auf www.marx21.de oder per Mail an redaktion@marx21.de. Zuletzt noch eine weitere gute Nachricht: Der Termin für »Marx is‘ Muss 2016« steht. Im kommenden Jahr wird unser Kongress vom 5. bis 8. Mai stattfinden. Die Planung der Veranstaltungen läuft bereits auf Hochtouren. Wenn auch du dabei sein willst, dann melde dich frühzeitig an und wir belohnen das mit einem Frühbucherrabbat. Eure Redaktion

Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post.

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Review: Radikal modern

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Serie »Marx neu entdecken«

54 14 TTIP stoppen: Freihandel und Kapitalismus

AKTUELLE ANALYSE 10

Griechenland: Neue Strategie für den Widerstand gesucht Von Lucia Schnell

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TTIP: »Eine Bande verfeindeter Brüder« Interview mit Jules El-Khatib

Titelthema: Grenzen auf. Bleiberecht für alle!

Internationales 40

Labour-Vorsitz: »Eine Bewegung, um Großbritannien zu verändern« Interview mit Pete Green

Was Linke tun können, um Geflüchteten zu helfen Interviews mit Lucia Schnell, Colin Turner und Irmgard Wurdack

44

Türkei: Eine Frage des Friedens Von Erkin Erdogan

48

Kitas: Neue Freiräume erkämpfen Von Jürgen Ehlers

52

Gebäudereiniger: »Sauberkeit braucht ihre Zeit« Interview mit Petra Vogel

21

Grenzen auf. Bleiberecht für alle! Thesen des Netzwerks marx21

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BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Unsere Meinung

4

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30 Zehn Jahre »Merkeln«: Wie lange ist das noch alternativlos? Kommentar von Hans Krause

Marxisten und Migration: »Die fortschrittliche Bedeutung der modernen Völkerwanderung Von Volkhard Mosler

18

Donald Trump: Der Nicht-Politiker Kommentar von Elizabeth Schulte

34

Ein vorgeschobenes Argument Von Christine Buchholz und Frank Renken

36

Geschichte hinter dem Song: »Fremd im eigenen Land« Von Yaak Pabst

Netzwerk marx21 54

Serie »Marx neu entdecken« Teil 1: Wie funktioniert Geschichte?


44 Türkei: Eine Frage des Friedens

Schwerpunkt: Weltklimagipfel

59 74 Kultur: »Rocky Horror Picture Show«

Schwerpunkt: Weltklimagipfel

GESCHICHTE

Rubriken

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»Klimaschutz bedeutet, die Kürzungspolitik zu beenden« Interview mit Jonathan Neale

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Naomi Klein: Entweder Kapitalismus oder Klimaschutz Von Hubertus Zdebel

NACHRUF

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Briefe an die Redaktion 08 Fotostory 38 Weltweiter Widerstand 65 marx21 Online 78 Review 87 Quergelesen 88 Preview

Hochschule

Arno Klönne: Ein echter Veteran Von Phil Butland

Kultur

Prekäre Bedingungen: Die neoliberale Blaupause zerreißen Von Daniel Anton

74

»Rocky Horror Picture Show«: Ein lustvoller Befreiungsschlag Von Phil Butland

neu auf marx21.de

Imagine Am 8. Oktober wäre John Lennon 75 Jahre alt geworden. Wir werfen einen Blick auf das Leben des unangepassten Musikers. Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

INHALT

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Bürgerrechtsbewegung: Busboykott und Gettokampf Von Michael Ferschke

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 9. Jahrgang, Heft 41 Nr. 3, Herbst 2015 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Print & Online Nora Berneis, Marcel Bois, Clara Dirksen, Martin Haller, David Jeikowski, Ronda Kipka, Hans Krause, Jan Maas, Yaak Pabst (V.i.S.d.P.), Stefan Ziefle Lektorat Marcel Bois, Clara Dirksen, David Paenson, Rosemarie Nünning Übersetzungen David Paenson Layout Georg Frankl, Stefan Karle, Yaak Pabst Covergestaltung Yaak Pabst, Carsten Schmidt Redaktioneller Beirat Stefan Bornost, Christine Buchholz, Michael Ferschke, Werner Halbauer, Christoph Hoffmeier, Rhonda Koch, Sven Kühn, Julia Meier, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Fanni Stolz, Oskar Stolz, Ben Stotz, Anton Thun, Heinz Willemsen, Luigi Wolf Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint viermal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 68 23 14 90 Fax: 030 – 68 22 97 35 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint Anfang Dezember 2015 (Redaktionsschluss: 17.11.)

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I

hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Stefan Ziefle, Redakteur

E

reignisse, die Stefan an der herrschenden Ordnung zweifeln lassen, gibt es in seiner Jugend zur Genüge: vom Reaktorunglück in Tschernobyl über den Börsencrash von 1987, den Golfkrieg 1990 bis hin zu den rassistischen Pogromen von Mölln und Solingen Anfang der 1990er Jahre. Doch mit seiner Einstellung bleibt er an einem elitären Hamburger Gymnasium der Außenseiter. Das ändert sich erst, als Stefan beginnt, Geschichte und Philosophie zu studieren. Gleich im ersten Semester beteiligt er sich am Studierendenstreik und der Besetzung des Philosophenturms der Universität Hamburg. Diese Erfahrung bewegt ihn dazu, sich einer revolutionär-sozialistischen Organisation anzuschließen. Stefans Engagement beschränkt sich nicht auf die Uni: »Ungerechtigkeit jeder Art macht mich wütend. Ob es das Verbot von Pinkelpausen im Betrieb ist, das Abdrängen von Millionen in die Armut, die Bombardierung von Städten, die Zerstörung unserer Umwelt, damit wenige ihre Rendite einfahren können...« Kaum ein Thema, zu dem er sich im Lauf der Zeit nicht einbringt. Als Historiker ist ihm vor allem der Nahostkonflikt ein Anliegen. Bei all diesen Auseinandersetzungen betont er stets, dass die Ungerechtigkeiten eine gemeinsame Ursache haben: den Zwang zur Akkumulation im Kapitalismus. Die Redaktion profitiert vom Erfahrungsschatz des »alten Hasen«. Seit zwanzig Jahren arbeitet Stefan für revolutionäre Publikationen – oft in Vollzeit, immer ehrenamtlich. Auch bei uns sind schon viele Artikel von ihm erschienen, vor allem zu historischen Themen, zu Imperialismus und Krieg oder zu grundsätzlichen Fragen des Marxismus und der Arbeiterbewegung.

Das Nächste Mal: Hai-Hsin Lu


Zum Artikel »Sex & Revolution« von Helmut Dahmer (marx21.de, 06.07.2015) Ich hätte mir eine etwas differenziertere Rezension gewünscht. Beispielsweise finde ich das Gender-Studies-Bashing in dem Buch nicht hilfreich – der Vorwurf der Autorin, dass aus den Gender Studies keine größeren Emanzipationsbewegungen her­ vor­ gegangen sind und eine gewisse Weltfremdheit herrscht (inwieweit die zutrifft, bleibt zu diskutieren), lässt sich auf den Großteil der akademischen Welt ausweiten. Dass die Einführung eines Studien­ fachs wie Gender Studies und die Forschung zu frauenspezifischen Themen ein großer Fortschritt ist, fällt da leider unter den Tisch. Rabea Belli, auf unserer Facebook-Seite

Zum Artikel »Unter falscher Flagge« von Boris Marlow (Heft 2/2015) Die Kritik von Boris Marlow am HitlerStalin-Pakt ist grundsätzlich richtig, insbesondere hinsichtlich des Zusatzabkommens und dessen Ausführung durch die Aufteilung Polens. Allerdings wird die Vorgeschichte ausgeblendet, somit bleiben die sowjetischen Motive unverständlich: Die Sowjetunion war von den Westmächten in den Jahren zuvor systematisch aus der Diplomatie ausgeschlossen worden. An der Münchener Konferenz, wo die mit der Sowjetunion verbündete Tschechoslowakei faktisch an angrenzende Staaten aufgeteilt wurde, durfte keiner ihrer Vertreter teilnehmen. Frankreich und Großbritannien schlossen lieber ein Abkommen mit Mussolini und Hitler, um letzteren zu »beruhigen« und seine Aggression nach Osten zu richten, anstatt ein antifaschistischen Bündnis mit Russland zu schmieden. Die Bildung einer solchen Koalition wurde von der Sowjetunion in den folgenden Monaten trotzdem weiterhin versucht. Moskau führte hierzu Verhandlungen mit Paris und London über ein Bündnis zwischen Frankreich, Großbritannien, der Sow­ jet­union und kleineren Staaten gegen das Dritte Reich. Dieser Versuch scheiterte ergebnislos. Somit war die Sowjetunion man-

gels eines antifaschistischen Verbündeten isoliert. Sie stand vor der Wahl, sich aus der westeuropäischen Diplomatie vollständig herauszuhalten, wobei sie befürchten musste, dass sich Aggressionen Hitlers gen Osten richten würden, oder auf die Angebote Hitlers einzugehen, um sich zumindest temporär Frieden zu sichern. Ohne die Einbeziehung der Isolierung Russlands durch die westlichen kapitalistischen Staaten in die Bewertung des HitlerStalin-Paktes entsteht ein schiefes Bild, welches wir den Totalitarismus-Theoretikern der bürgerlichen Geschichtsschreibung überlassen sollten. André Paschke, Hamburg

Zum Kommentar »Ein Reich in Trümmern« von Marcel Bois (Heft 2/2015) Sind es inzwischen wirklich 89 Prozent der Deutschen, die den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung sehen? Wenn ja, dann ist es eine positive Bilanz. Aber 1945 und auch noch lange Zeit danach sahen große Teile der Bevölkerung dies noch anders. Die Formulierung »Doch die Befreiung von den Nazis war nicht immer gleichbedeutend mit Freiheit« ist etwas irritierend, denn sie beinhaltet genau das, was viele bürgerliche und rechte Politiker immer sagen: Diktaturen (gemeint ist dann die Sowjetunion) können nicht befreien. Aber Deutschland und alle anderen Länder wurden vom Faschismus befreit. Mehr war auch nicht möglich. Kein Land wurde vom Kapitalismus befreit, damit gingen die Klassenauseinandersetzungen anschließend weiter. Und in vielen Ländern musste die Arbeiterbewegung herbe Rückschläge einstecken. Aber in diesem Zusammenhang den 17. Juni 1953 zu erwähnen, halte ich für völlig daneben. Auch wenn Arbeiter daran beteiligt waren, war es doch letztendlich genau wie in Griechenland, Frankreich und Italien nur der Versuch, die alten Machtverhältnisse wiederherzustellen. Leider ist es ihnen schließlich 1989 gelungen, was sie damals nicht geschafft haben. Peter Federl, Xanten

Zum Interview »Griechenland: Der Kampf geht weiter« mit Stathis Kouvelakis (marx21. de, 21.07.2015) Sehr interessanter Artikel. Leider kommt die »Linke Plattform« zu spät und zu zögerlich zu Wort. Viele »Oxi«-Wählerinnen und Wähler unterscheiden nicht zwischen der Führungsgruppe um Tsipras und der Linken Plattform. Sie machen die gesamte Linke für den »Verrat« an den Zielen der Syriza verantwortlich, mit denen die Partei die Januarwahlen gewonnen hat. Je

länger diese Linke Plattform eine radikale Kritik und Distanzierung von den »Usur­ patoren« hinausschiebt, desto mehr wird sich die extrem Rechte als einzige Alter­ native darstellen können. Es bleibt keine Zeit für Gefühlsduseleien. Eine ganz neue linke Gruppierung muss schnell her, um die Massen, die vor kurzem mit »Oxi« gestimmt haben, mitzuziehen und sie nicht den Rechten oder der Depression zu überlassen. Apostolos Papassilekas, auf unserer Facebook-Seite Es fällt mir schwer, dieses Interview, respektive die darin enthaltene Analyse der »Klassenkämpfe in Griechenland« einer zusammenfassenden Einschätzung zuzufüh­ ren. Einerseits ist es das Beste, was ich dies­ bezüglich bis dato zu lesen bekam. Endlich wird Bezug genommen auf die Klassen­ kräfte und die politischen Kräfte, die sich in Griechenland gegenüberstehen. Doch damit beginnt andererseits auch meine Kritik. Die Klassen in Griechenland werden genannt, allerdings nicht ihre Inter­ essen. Und das hat keine nebensächlichen Folgen. So wird zum Beispiel die Rolle des Klerus und des damit verbundenen (halb­ feu­ dalen) Großgrundbesitzes als nahezu nicht relevant heruntergespielt. Dabei hätte hier verdeutlicht werden können, dass in Grie­chen­land nicht mal eine demokratische Revolution zu Ende geführt worden ist. Denn dieser Klerus ist das Krebsgeschwür im Kör­per der Landbevölkerung. Die Rolle des Klein­bürgertums, vor allem des ländlichen, in dieser demokratischen Revolution wird nicht näher untersucht. Ganz deutlich sehen wir am blinden Taktieren von Syriza die verheerende Rolle dieses Kleinbürgertums, wenn es die Rolle der Avantgarde zu spielen versucht. Maßlos in seiner Omnipotenz vermag es nur den Zusammenbruch zu perfektionieren. Herold Binsack, auf unserer Website

Zum Beitrag »Syriza: Nach dem Scheitern des linken Reformismus« von Christine Buchholz und Volkhard Mosler (marx21.de, 01.09.2015) Sozialistische Perspektive der Krisenlösung? Als wenn die einzige Alternative zum Kapitalismus der Sozialismus wäre. Immer noch dieses Schwarzweißdenken zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Weg von alten Denkschablonen, aber dafür braucht es Hirnschmalz. Charles Büttner, auf unserer Facebook-Seite

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

Briefe an die Redaktion

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Carlos Rodríguez-Andes / CC BY-SA / flickr.com

FotoSTORY

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kritisieren sie das neoliberale Freihandelsabkommen, das Ecuador 2014 mit der Europäischen Union geschlossen hat. Die rechtskonservative Opposition versucht, die Proteste für sich zu okkupieren, linke Gewerkschaften jedoch protestieren für das Streikrecht und menschenwürdige Löhne.

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Mitte und rechts: Die Demonstrierenden wollen eine Verfassungsänderung verhindern, die dem Präsidenten Rafael Correa im Jahr 2017 eine weitere Kandidatur ermöglichen würde. Sie richten sich gegen eine Landreform der Regierung, die kleine Pächter zugunsten der Agrarindustrie verdrängt. Außerdem

Carlos Rodríguez-Andes / CC BY-SA / flickr.com

Carlos Rodríguez-Andes / CC BY-SA / flickr.com

Ecuador | Am 13. August erreicht eine landesweite Protest- und Streikbewegung die Hauptstadt Quito. Sie wird von dem indigenen Dachverband CONAIE und den Gewerkschaften koordiniert. Unten links: Trotz teils widersprüchlicher Vorstellungen hat die Bewegung mehrere gemeinsame Forderungen.


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FOTOSTORY

det!«). Sie verlangen, dass die Polizei die Versammlung der Rassisten auflöst. Doch diese lässt die Rechten gewähren. Die »Black Lives Matter«-Bewegung kam im August 2014 auf, nachdem ein Polizist den unbewaffneten schwarzen Jugendlichen Michael Brown in Ferguson (Missouri) erschossen hatte.

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ein positiver Bezug auf die konservativen Südstaaten gemeint ist. Unten links: Unter Polizeischutz marschieren die Rechten mit Flaggen der Konföderation auf. Mitte und rechts: Die Gegendemonstrierenden konfrontieren sie mit Slogans wie »Your Heritage is Hate! Go Away!« (»Euer Erbe ist Hass! Verschwin-

© Stephen Melkisethian / CC BY-NC-ND / flickr.com

© Stephen Melkisethian / CC BY-NC-ND / flickr.com

USA | Am 5. September protestieren Aktivistinnen und Aktivisten der »Black Lives Matter«-Bewegung in der USamerikanischen Hauptstadt Washington gegen einen Aufmarsch weißer Rassisten. Diese haben sich nahe des Kapitols unter dem Titel »Southern Heritage« (»Südliches Erbe«) versammelt, womit

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Aktuelle Analyse

Neue Strategie für den Widerstand gesucht Griechenland hat gewählt, Syriza ist weiterhin Regierungspartei. Doch eine Frage bleibt: Wie kann das Kürzungsdiktat gestoppt werden? Von Lucia Schnell ★ ★★

Lucia Schnell ist Sprecherin der LINKEN in Berlin-Neukölln und Unterstützerin des Netzwerks marx21.

1.

Syriza hat die Wahl gewonnen, weil die Wählerinnen und Wähler die Rückkehr der alten Parteien verhindern wollten. Die griechische Linkspartei Syriza hat die Parlamentswahl am 20. September gewonnen, weil ihre Wählerinnen und Wähler eine Rückkehr der alten Eliten verhindern wollten. Obwohl Ministerpräsident Alexis Tsipras die Umsetzung des Spardiktats der EU zugesagt hat, ist er im Laufe des Wahlkampfs radikaler aufgetreten: Er hat sowohl neue Kämpfe für die Milderung der Maßnahmen als auch harte Verhandlungen für einen Schuldenschnitt versprochen. Um Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen, betonte er zudem, dass das Abkommen mit der EU befristet sei. Er bleibe ein Gegner derjenigen, die ihn zum Abkommen gezwungen haben. Dennoch waren deutliche Unterschiede zu seinen Wahlkampfreden vom vergangenen Winter zu erkennen. Seine Rhetorik richtete sich jetzt weniger gegen die Austeritätspolitik, die Kürzungen und die Privatisierungen als gegen das »alte politische System«, verkörpert vor allem durch den Hauptrivalen, die konservative Nea Dimokratia (ND). Tsipras‘ Strategie, die Wahlen zu gewinnen, bevor die Sozialkürzungen in Kraft treten und die Kritiker in den eigenen Reihen zu schwächen, ist aufgegangen – trotz seiner Kapitulation vor der Troika.

2.

Die Kapitulation der Tsipras-Regierung vor der Troika ist das Ergebnis ihrer politischen Strategie. Syriza hat versucht, die Sparpolitik in Griechenland durch Regierungsübernahme und anschließende Verhandlungen mit der EU zu beenden. Die Regie-

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rung Tsipras wollte um jeden Preis am Euro festhalten. Daher hat sie den Weg der Einigung mit den Institutionen gewählt – und nicht den des Klassenkampfs und der Konfrontation. Diese Strategie ist nicht aufgegangen. Die EU-Institutionen und die europäischen Eliten konnten Athen im Sommer massiv erpressen: Sowohl griechische als auch andere europäische Unternehmen zogen massiv Kapital ab. Die EU verwehrte Griechenland jeden neuen Kredit und die Europäische Zentralbank sperrte Gelder für das griechische Bankensystem. Dem konnte die von Syriza geführte Regierung keine Gegenmacht entgegensetzen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, die EU würde nun bei Nachverhandlungen zu Kürzungsdiktat und Schuldenschnitt nachgeben. Das dritte Sparpaket verbietet ausdrücklich »einseitige Maßnahmen«, also Schritte, die nicht mit den EU-Institutionen abgesprochen und von ihnen abgesegnet sind. Ab Oktober muss Athen Steuern erhöhen, Renten kürzen und Staatseigentum privatisieren. Ferner ist die Regierung gezwungen, den Unternehmen Massenentlassungen zu erleichtern und die Arbeitnehmerrechte einzuschränken. Zudem muss sie einen Nachtragshaushalt für 2015 und den Haushalt für 2016 vorlegen. Sonst droht die Troika damit, die Gelder für November nicht auszuzahlen – und damit einen Staatsbankrott in Kauf zu nehmen.

3.

Debatten über Alternativen sind weiter nötig. Denn die Widersprüche bleiben bestehen. Die europäischen Institutionen werden die griechische Regierung in der Frage der Euro-Mitgliedschaft


© Giannis Angelakis / CC BY-ND / flickr.com

Am 25. Januar 2015, dem Tag als Syriza erstmals die Parlamentswahl gewinnt, spaziert Alexis Tsipras durch die kretische Stadt Chania. Passanten warnen ihn davor, seine Wahlversprechen zu brechen, wenn er erst einmal an der Regierung ist. Er erwidert, er wolle auch anschließend ohne Personenschutz auf die Straße gehen können

weiter erpressen. Daher sind Debatten über Alternativen zur Euro-Politik weiterhin notwendig, selbst wenn eine Rückkehr etwa den nationalen Währungen der 1990er Jahre keine Lösung im Sinne der werktätigen Klassen sein kann. Ein »Grexit«, also der Austritt Griechenlands aus dem Euro, ist zwar eine Voraussetzung für eine sozialistische Perspektive zur Krisenlösung, nicht aber eine hinreichende Bedingung. Notwendig wäre die Kombination von Grexit und einem Kampf für Übergangsforderungen, die die Macht der Banken und des Kapitals in Frage stellen. Solche Forderungen könnten beispielsweise sein: ein Ende der Schuldentilgung, die Verstaatlichung der Banken und Großbetriebe unter Arbeiterkontrolle oder das Verbot von Massenentlassungen.

cken, könnte das eine politisches Fiasko bedeuten. Denn dann dürfte Tsipras sehr schnell in eine Totalopposition gegen das Reformprogramm zurückfallen – mit möglicherweise katastrophalen Folgen nicht nur für die Finanzierung, sondern auch für den sozialen Frieden des Krisenlandes.« Damit trifft die Wirtschaftszeitung einen wahren Punkt. Während die erneute Regierungsübernahme die Syriza-Führung an den bürgerlichen Staat bindet, hätte eine oppositionelle Linkspartei den sozialen Protest gegen das Kürzungsdiktat befördern können. »Regierungsverantwortung« hat in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, dass linke Parteien ihren eigenen Zielen und den Interessen ihrer Anhängerschaft zuwider handeln. Der Grund dafür ist, dass der Staatsapparat nicht neutral und kein Instrument des Klassenkampfs ist. Rosa Luxemburg schrieb bereits im Jahr 1899: »Es ist freilich Tatsache, dass die Sozialdemokratie, um praktisch zu wirken, alle erreichbaren Positionen im gegenwärtigen Staate einnehmen, überall vordringen muss. Allein als Voraussetzung gilt dabei, dass es Positionen sind, auf denen man den Klassenkampf, den Kampf mit der Bourgeoisie und ihrem Staate führen kann. (...) In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auf-

4.

Die Aufgabe der Linken lautet: Opposition statt Regierung. Aus Sicht der Eliten kann eine linke Regierung in Krisenzeiten hilfreich sein, unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen. Beispielsweise sprach sich der Chef des griechischen Industrieverbands im Vorfeld der Wahl für eine große Koalition aus Syriza und den Konservativen aus. Und das unternehmerfreundliche »Handelsblatt« warnte drei Tage vor dem Urnengang: »Sollten die Griechen bei der Wahl Tsipras und die Syriza auf die Oppositionsbank schi-

AKTUELLE ANALYSE

Syriza ist zu einer anderen Partei geworden

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treten.« Auch für Syriza erwies sich der Staatsapparat in der Situation der finanziellen Erpressung nicht als Instrument, um die Kapitalflucht zu stoppen, die Banken zu verstaatlichen oder die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Vielmehr sind demokratische Strukturen notwendig, die den bürgerlichen Staatsapparat ersetzen und die Produktion nach den Bedürfnissen der Menschen reorganisieren können. Diese können aber nur durch eine Massenbewegung entstehen. Kampffelder für Linke im

Viele Syriza-Mitglieder lehnen das Sparpaket weiterhin ab Kapitalismus sind nicht Staatsapparate, sondern Klassenkämpfe. Dort steckt das Potenzial, eine Gegenmacht gegen Banken und Konzerne aufzubauen. Doch die Syriza-Führung hat sich für den gegenteiligen Weg entschieden. Durch die Koalition mit der bürgerlich-nationalistischen Partei Anexartiti Ellines (Unabhängige Griechen, ANEL) hat sie von Anfang an klar gemacht, dass von ihr keine Gefahr für den Staatsapparat ausgeht. Sie hat das Verteidigungsministerium und das Innenministerium an ihren nationalistischen Koalitionspartner und an unabhängige Minister gegeben. Diese sind für die Repressionsorgane Militär und Polizei verantwortlich, deren Aufgabe es ist, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Das erneute Bündnis mit ANEL und deren erhöhter Einfluss in der neuen Regierung signalisieren weitere politische Zugeständnisse in den Bereichen soziale Rechte sowie Einwanderungsund Rüstungspolitik.

5.

Die erzwungene Kapitulation hat verheerende Wirkungen auf die Partei Syriza. Syriza ist mit der Regierungsübernahme zu einer anderen Partei geworden. Zwar gibt es innerhalb der Partei noch Akteure, die den Kurs der Führung kritisieren. Doch hunderte Funktionäre und Amtsträger sowie der Großteil der parteinahen Jugendorganisation haben Syriza nach der Kapitulation vor der der Troika verlassen. Manche haben sich der neuen Partei Laiki Enotita (Volkseinheit, LAE) angeschlossen, doch viele mehr haben sich aus der Politik zurückgezogen. In Syriza fand also ein Wandlungsprozess statt, den auch schon andere linke Parteien erlebt haben, nachdem sie an die Regierung gekommen waren: Das Zentrum verlagert sich auf Regierung und Fraktion, die Partei wird zu einem Anhängsel, das die Regierenden durch vermeintlich lästige Debatten stört. Das ist problematisch, weil die Partei ja gerade entscheidend ist, um gesellschaftliche Verankerung zu erzielen und Kräfteverhältnisse nach links zu verschieben.

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Schon Rosa Luxemburg warnte vor dem Irrtum, »dass man auf dem Weg der Konzessionen die meisten Erfolge erzielt. Nur weil wir keinen Schritt von unserer Position weichen, zwingen wir die Regierungen und die bürgerlichen Parteien, uns das wenige zu gewähren, was an unmittelbaren Erfolgen zu erringen ist. Fangen wir aber an, dem Möglichen unbekümmert um die Prinzipien und auf dem Wege staatsmännischer Tauschgeschäfte nachzujagen, so gelangen wir bald in die Lage des Jägers, der das Wild nicht erlegt und die Flinte zugleich verloren hat.« Die Syriza-Führung hat mit ihrer Strategie die Sparpolitik nicht gestoppt und gleichzeitig das wichtigste Instrument, die Partei, zerrüttet.

6.

Der Bewegungszyklus ist nicht vorbei. Der soziale Bewegungszyklus gegen die Krisenpolitik in Griechenland, der Syriza nach oben brachte, sei schon länger wieder beendet, schreibt Tom Strohschneider im »Neuen Deutschland«. Tatsache ist, dass es noch keine größere verallgemeinerte Bewegung gegen das Memorandum gab, die den Menschen Hoffnung und eine Alternative gegeben hätte. Tatsache ist allerdings auch, dass es zur Zeit der ersten Syriza-Regierung Streiks in den Krankenhäusern gab. Auch die Putzfrauen der Ministerien und die Beschäftigten des staatlichen Senders ERT kämpften weiter, ebenso die Bewegung gegen die Goldmine in Chalkidiki. Zudem streikten im Sommer Eisenbahner und Fluglotsen gegen die geplanten Privatisierungen. Auch die Mobilisierung für das »Nein« beim Referendum war eindrucksvoll. Daran können die sozialen Bewegungen, linken Parteien und Gewerkschaften anknüpfen.

7.

Es gibt ein Potenzial für die Kräfte links von Syriza. Syriza hat bei der Wahl 330.000 Stimmen verloren. Dennoch hat die Enttäuschung mit der Regierung Tsipras nicht dazu geführt, dass die Kräfte, die links von Syriza stehen, nun stärker im Parlament vertreten sind. Bis auf die Kommunistische Partei (KKE) sind alle linken Parteien, die das Memorandum ablehnen, an der Dreiprozenthürde gescheitert. Somit sind auch die ehemaligen SyrizaAbgeordneten, die mit »Nein« stimmten und die Volkseinheit gebildet haben, nicht mehr im Parlament vertreten. Trotzdem hat die Enttäuschung über Syriza den linken Parteien Zulauf beschert. Die Linksabspaltung Volkseinheit, die erstmals antrat, erzielte aus dem Stand 155.000 Stimmen. Auch das antikapitalistische Bündnis Antarsya hat in bescheidenem Maß hinzugewonnen. Die Stimmen für KKE, Volkseinheit, Antarsya und andere linksradikale Parteien summieren sich auf 9,46 Prozent. Das zeigt das Potenzial für die kommenden Kämpfe der Arbeiterbe-


wegung. Es bleibt die Frage einer alternativen politischen Strategie, die die Ablehnung des Sparpakets in praktische Kämpfe umsetzt.

Die griechische Anti-Austeritätsbewegung ist noch nicht geschlagen. Wie hier am 5. September 2015 gehen immer wieder Menschen auf die Straße, um gegen das dritte Memorandum zu demonstrieren

ben ist es, politische Alternativen zu formulieren. Außerdem muss sie dazu beitragen, die Beteiligung der deutschen Gewerkschaften an Blockupy und ähnlichen Solidaritätskampagnen für die Kämpfe in Südeuropa auszuweiten.

10.

DIE LINKE muss sich mit den Grenzen des linken Reformismus auch in Deutschland auseinandersetzen. Die aufgezeigten Grenzen der parlamentarischen Strategie verdeutlichen in Kombination mit der Zuspitzung der Krise der Weltwirtschaft, dass die Frage von Reform und Revolution nicht erledigt ist. Die Linksparteien, die in den vergangenen Jahren in mehreren Ländern entstanden sind, entwickeln sich nicht automatisch in klassenkämpferische Parteien. Revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten arbeiten in jedem Land unter anderen Bedingungen. Die griechische Erfahrung bestätigt dennoch, dass es – auch im Rahmen einer pluralen Linken – notwendig ist, ideologische Unabhängigkeit und Fähigkeit zur Initiative zu bewahren. Deshalb sind wir im Netzwerk marx21 organisiert. ■

AKTUELLE ANALYSE

9.

DIE LINKE in Deutschland steht vor der Aufgabe, die Bundesregierung anzugreifen, soziale Kämpfe hierzulande zu unterstützen und Solidarität mit Kämpfen in Griechenland zu üben. In Deutschland stehen wir vor der Aufgabe, die Solidarität mit dem Widerstand in Griechenland gegen Sozialabbau und Privatisierung zu stärken. Sowohl der Standortnationalismus als auch die Exportorientierung in den deutschen Gewerkschaftsführungen hemmen hierbei. Neben der Unterstützung von Kämpfen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland sollte DIE LINKE die kommenden Blockupy-Proteste stärken und zu ihrer Ausweitung beitragen. Eine ihrer wichtigsten Aufga-

© ΝΑΡ / CC BY-ND / flickr.com

8.

Das Sparpaket kann gestoppt werden. Die neue Syriza/ANEL-Koalition nimmt die Durchsetzung des dritten Sparpakets von einer schwächeren Position aus in Angriff. Die parlamentarische Mehrheit der Regierung ist etwas kleiner als vorher und vor allem anfällig für außerparlamentarischen Druck. Widerstand gegen die Auswirkungen des dritten Sparpakets, gekoppelt mit »Revolten« im Parlament, ist möglich. Dafür sprechen verschiedene Gründe: So ist die Krise innerhalb Syrizas nicht mit dem Austritt der jetzigen Volkseinheit-Mitglieder beendet. Weiterhin lehnen viele Parteimitglieder das Sparpaket ab. Ihr Anteil wird größer werden, wenn die Sparmaßnahmen, Kürzungen und Privatisierungen in ihrer vollen Härte wirksam werden. Zudem hat die Arbeiterklasse, die Syriza unter der Warnung gewählt hat, dass sonst die Rechte zurückkehrt, nun viel weniger Hoffnungen und Illusionen in die Regierung. Es hängt davon ab, wieviel Druck auf der Straße und in Betrieben entsteht. In diesem Zusammenhang ist eine Erfahrung interessant. Es gibt zwei Maßnahmen der bisherigen Regierung Tsipras, die die Troika nicht zu Fall gebracht hat: die Wiedereröffnung der staatlichen Rundfunkanstalt ERT und die Wiedereinstellung einiger Angestellter des öffentlichen Diensts, darunter die kämpferischen Putzfrauen des Finanzministeriums. In beiden Bereichen hat es jahrelange Widerstandsbewegungen und breite Solidarität gegeben. Die Erfahrung kann in den Häfen, bei den Energieversorgern, in den Krankenhäusern und den Schulen wiederholt werden. Solche Kämpfe könnten breite Solidarität von der linken Opposition, aber auch von Teilen der Syriza-Unterstützer gewinnen. Dasselbe gilt für den Kampf gegen die Nazis und die Kampagnen zugunsten der Flüchtlinge und der Migranten.

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Aktuelle Analyse

Das geplante Freihandelsabkommen TTIP dient der Gewinnsteigerung von Konzernen beiderseits des Atlantiks auf Kosten der Menschen weltweit. Journalist und Aktivist Jules El-Khatib erläutert die Ziele und Auswirkungen des Abkommens und zeigt auf, was Widerstand dagegen erreichen kann Interview: Yaak Pabst

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© Stephen Jaffe / CC BY-ND

»Eine Bande verfeindeter Brüder«

Die aufstrebenden Handelsmächte der BRICS-Staaten spielen eine immer wichtigere Rolle auf dem internationalen Parkett: Brasiliens damaliger Präsident Lula da Silva (zweiter von r.) mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (l.), dem ehemaligen niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende (zweiter von l.) und US-Präsident Barak Obama beim G20-Gipfel in Pittsburgh im Jahr 2009

Das momentan von der EU und den USA verhandelte Freihandelsabkommen TTIP stößt auf viel Ablehnung. Im Mittelpunkt der Kritik steht dabei meist die Aufweichung des Verbraucherschutzes. Sind »Chlor-Hühnchen« und Genfood tatsächlich der Kern des Problems? Die Zerstörung der Umwelt, die durch TTIP voranschreiten wird, ist sicherlich eines der Probleme, wobei Chlor-Hühnchen wohl nicht zu den größten Gefahren gehören. Das Abkommen selbst dürfte allerdings massive Auswirkungen auf den Umweltbereich haben.

Jules El-Khatib

Wieso? Unter anderem durch die Einführung von Fracking. Durch den sogenannten Investitionsschutz können Unternehmen Staaten vor Schiedsgerichten verklagen, wenn sie Einschränkungen in ihre Investitionen sehen Genau das könnte zum Beispiel

Jules El-Khatib ist Mitglied im Landesvorstand der LINKEN in NRW, Autor des Onlinemagazins »Die Freiheitsliebe« und Unterstützer von marx21.

beim Fracking, welches in Europa noch verboten ist, geschehen. Was genau sind diese Schiedsgerichte? Ausländische Investoren sollen vor Schiedsstellen gegen Staaten klagen können, wenn ihnen aus Gesetzesänderungen Gewinneinbußen erwachsen könnten. Obwohl allen Unternehmen der ordentliche Rechtsweg offen steht, sollen internationale Investoren zusätzlich Sonderklagerechte erhalten. Die Unabhängigkeit dieser Schiedsgerichte bedeutet vor allem, dass dort von Konzernen bezahlte Juristinnen und Juristen über die Rechtsprechung entscheiden und damit das Kapital direkten Einfluss auf die Entscheidungen nimmt. Was wäre davon betroffen? Einige bekannt gewordene Klauseln der TTIP-Verträge besagen, dass Sektoren,


sche System, dass die »Freiheit«, überall zu handeln und selbst die ökonomisch schwächsten Staaten zur Aufgabe von Zöllen zu zwingen, mit Inbrunst verteidigt wird, während die Möglichkeit, dass jeder Mensch dort leben könnte, wo er für sich die beste Perspektive sieht, als utopische Spinnerei dargestellt wird. Neben der deutlichen Diskrepanz zwischen der Freiheit des Kapitals und der Freiheit der Menschen hat der Freihandel auch klare Auswirkungen auf die Wanderbewegungen. Inwiefern? Viele Menschen, gerade in den Ländern südlich der Sahara, haben immer schlechtere Perspektiven, da sie als Kleinbauern nichtmit den Preisen der Großunternehmen konkurrieren können. Die Folge ist ein direkter Anstieg der Arbeitslosigkeit und damit einhergehend auch die Auswanderung nach Europa. Durch die Freihandelsabkommen werden solche Tendenzen massiv befördert, da die-

Triebfeder ist die Verschärfung der kapitalistischen Konkurrenz Also werden durch TTIP vor allem europäische Schutzstandards aufgehoben? Das Bild von der »guten« EU und den »bösen« USA ist falsch und dient vor allem dazu, von der aggressiven Handelspolitik der Bundesregierung und der EU abzulenken. Die EU versucht in den TTIP-Verhandlungen beispielsweise, die europäischen Banken und Konzerne vor den strengeren US-Finanzmarktregeln zu bewahren. In den sogenannten EPA-Abkommen mit afrikanischen und karibischen Staaten hat sich die EU bereits als rücksichtsloser Hardliner erwiesen: Soziale Sicherheit und Menschenrechte in den betroffenen Staaten wurden systematisch den Interessen europäischer Großunternehmen geopfert. Weltweit sind mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht – das ist die höchste Zahl seit dem zweiten Weltkrieg. Welche Auswirkungen haben Freihandelsabkommen auf die heutigen Flucht- und Migrationsbewegungen? Es ist bezeichnend für das kapitalisti-

se immer eine Gleichheit der Ökonomien und der technologischen Entwicklungsstandards voraussetzen, der aber nicht gegeben ist. Wieso? Für große Industrienationen sind Schutzzölle ein Hindernis, da ihre Unternehmen eine höhere Produktivität haben und sich auf allen Absatzmärkten behaupten können. In Entwicklungsländern sieht das anderes aus: Durch den niedrigeren technologischen Stand und die geringe Produktivität können sie nicht mithalten, weswegen Schutzzölle ein wichtiges Mittel sind, um zu bestehen. Eine Studie aus dem Jahr 2004 hat bei der Untersuchung der Auswirkung von Freihandelsabkommen in 40 Staaten festgestellt, dass die Hälfte der Länder als Resultat von Liberalisierungen eine De-Industrialisierung und steigende Arbeitslosenzahlen verzeichneten. TTIP ist nur ein weiteres Freihandelsabkommen unter vielen. Weltweit gibt es mehr als 500. Welche Bedeutung haben

diese Abkommen für die kapitalistische Wirtschaft? Freihandelsabkommen sind ein wichtiges Instrument der führenden kapitalistischen Staaten, um sich auf dem Weltmarkt besser gegen die internationale Konkurrenz durchsetzen zu können. Die Verschärfung der kapitalistischen Konkurrenz ist die wesentliche Triebfeder für diese Abkommen. Kannst du das genauer erklären? Europa und die USA sehen sich auf dem Weltmarkt mit neuen potenten Konkurrenten konfrontiert. Hierzu gehören in erster Linie die sogenannten BRICS-Staaten, also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Mit ihrer zunehmenden wirtschaftlichen Potenz erarbeiten sich die BRICS-Staaten auch politische und militärische Macht. Das wollen die USA und Europa verhindern. Wie wollen Merkel und Obama das erreichen? Vor dem Hintergrund der jüngsten Weltwirtschaftskrise haben die USA und die EU den Anspruch formuliert, den Weltmarkt künftig stärker für ihr jeweiliges Wirtschaftswachstum nutzen zu wollen. Bereits 2010 proklamierte Barack Obama in seiner Rede zur Lage der Nation, dass die US-amerikanischen Exporte innerhalb der nächsten fünf Jahren verdoppelt und das chronische Defizit im Außenhandel verringert werden solle. Dazu müssten die USA »aggressiv neue Märkte suchen, genauso, wie es unsere Wettbewerber tun«. Zu diesem Zweck verfolgen die USA nicht nur das Freihandelsabkommen TTIP mit Europa, sondern auch die Trans-Pacific Partnership (TPP) mit südamerikanischen und asiatischen Staaten, unter Ausschluss Chinas. Im Rahmen der Wachstumsstrategie »Europa 2020« hat sich die EU vorgenommen, zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Aber für internationale Handelsfragen war doch in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Welthandelsorganisation (WTO) zuständig? Das stimmt. Aber mit dem Machtzuwachs der Schwellen- und Entwicklungsländer haben die EU und die USA größere Schwierigkeiten, die gegensätzlichen Interessen auf einen Nenner zu bringen. Die

AKTUELLE ANALYSE

die einst öffentlich waren und dann privatisiert wurden, nicht wieder verstaatlicht werden dürfen, sobald TTIP in Kraft getreten ist. Das hätte massive Auswirkungen auf alle Kräfte, die dafür kämpfen, die kommunale Energieversorgung wieder in die Kontrolle der Städte und Gemeinden zu überführen. Ein anderes Beispiel sind die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Die USA haben nur zwei der Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation unterzeichnet und weigern sich, gewerkschaftliche Grundrechte wie Kollektivverhandlungen, Koalitionsfreiheit und Vereinigungsrecht vertraglich anzuerkennen. Es könnte daher auch in Europa zu Absenkungen der Standards kommen, weil diese nach TTIP einheitlich sein müssten. Für die organisierte Arbeiterbewegung wäre die Anpassung an die US-Normen ein massiver Rückschritt, weswegen auch der gesamte DGB zur Zentraldemo nach Berlin mobilisiert und sich klar gegen das Abkommen positioniert hat.

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jüngste Welthandelsrunde (Doha-Runde) ist gescheitert. Da sich die WTO nicht länger als alleiniges Mittel zur Durchsetzung US-amerikanischer und europäischer Interessen eignet, schließen Politiker aus den USA und Europa nun auch Verträge abseits des Rahmens der WTO. Wie hilft ihnen TTIP dabei? Durch den Abbau von »Handelshemmnissen« erhoffen sich die Unternehmen in der EU und den USA Kosteneinsparungen in Millionenhöhe. Außerdem entsteht mit TTIP ein riesiger Wirtschaftsblock,

dem Abkommen profitiert, auch die erhofften neuen Arbeitsplätze sind nicht entstanden, einzig die Gewinne stiegen. Die Initiative zu TTIP ging von der USRegierung aus. Warum macht Europa mit? Für Linke sollte klar sein, dass das Freihandelsprojekt voller Widersprüche steckt. Karl Marx nannte die Herrschenden der kapitalistischen Staaten »eine Bande verfeindeter Brüder«. Verfeindet, weil die Herrschenden in ökonomischer und militärischer Konkurrenz um die Auf-

Im Kapitalismus kann es keinen »fairen« Handel geben der den Unternehmen einen größeren »Binnenmarkt« verschaffen soll. Auf die Mitgliedsstaaten der EU und die USA entfällt fast die Hälfte des globalen Bruttoinlandsprodukts, sie bestreiten 30 Prozent des weltweiten Güter- und 40 Prozent des Dienstleistungshandels. TTIP, so die Hoffnung der Kapitalstrategen, soll die Wettbewerbsfähigkeit, also ihre relative Konkurrenzposition gegenüber Unternehmen, die von TTIP nicht erfasst werden, verbessern, weil sie Waren billiger produzieren und anbieten können. Große Konzerne nehmen zudem aktiv Einfluss auf die Ausgestaltung von Produktnormen und andere Vorschriften. Sind diese auf ihre Produktionsanlagen und –bedingungen zugeschnitten, können sie sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Unternehmen sichern. Die arbeitende Bevölkerung kann dabei nur verlieren. Warum? Der Kapitalismus beruht auf der Ausbeutung der Lohnarbeit. Die führenden kapitalistischen Staaten nutzten Freihandelsabkommen, um Arbeitnehmerrechte einzuschränken. Deutlich wird dies unter anderem beim NAFTA-Abkommen, das zwischen den drei nordamerikanischen Staaten USA, Kanada und Mexiko geschlossen wurde. Durch das Abkommen wurden alleine in den USA 700.000 Arbeitsplätze vernichtet, während in Mexiko soziale Standards gesenkt und die Streikrechte eingeschränkt wurden. Die Arbeiterklasse hat in keinem dieser Länder von

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teilung der Welt stehen. Brüder deshalb, weil sie punktuelle Bündnisse schmieden, um ihre Interessen durchzusetzen, und doch alle zusammenstehen, wenn ihr System von unten bedroht wird. Auch die EU und die USA sind Konkurrenten, die sich zu einem übergeordneten Zweck zusammenfinden: Die Wiederherstellung und den Ausbau ihrer wirtschaftlichen Macht. Diese Strategie hat explizit eine machtpolitische Stoßrichtung, wie Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 25. März 2012 offen formulierte: »Nur ein wettbewerbsstarkes Europa hat Gewicht in der Welt.« Was meint Merkel damit? Die USA sind noch immer die bei Weitem größte Militärmacht der Welt. Und die EU braucht die USA, um als Global Player mitzuspielen. Manche Ökonomen behaupten, dass durch Freihandel Kriege verhindert werden könnten. Was ist an dieser These dran? Früher wurde Freihandel häufig auch militärisch durchgesetzt, heute ist das seltener der Fall. Das bedeutet aber nicht, dass der Freihandel Kriege verhindern kann. Dies wird deutlich beim Blick auf die aktuelle Situation: Trotz Globalisierung ist die Welt voller Krieg und Gewalt. Freihandel und Krieg schließen sich nicht aus, sie bedingen einander aber auch nicht. Gemeinsam ist beiden, dass es Mittel der imperialistischen Staaten sind, um ihre Interessen durchzusetzen. Dass Frei-

handel heute im Normalfall nicht mehr militärisch durchgesetzt wird, liegt daran, dass der politische und ökonomische Druck auf die schwächeren Staaten so groß ist, dass diese dem Freihandel in Verhandlungen zustimmen. Diese Durchsetzung von Freihandel kann man durchaus als Teil eines ökonomischen Krieges zwischen wirtschaftlich sehr unterschiedlich starken Staaten sehen. Ein weiteres Argument dafür, dass Freihandel Kriege nicht verhindert, sehen wir unter anderem in Libyen und anderen afrikanischen Staaten. Dort waren wirtschaftliche Gründe entscheidend für die massive Intervention Frankreichs, Großbritanniens und der USA. Dabei ging es nicht primär um Freihandel, sondern um die Sicherung von Ressourcen. Allerdings wurden auch den jeweils betroffenen Staaten nach einiger Zeit Freihandelsabkommen aufgestülpt. Als Alternative zu den Freihandelsbestrebungen der USA haben sich in Lateinamerika neun Staaten, unter ihnen Venezuela und Bolivien, im ALBA-Bündnis zusammengeschlossen. Ist das der richtige Weg, um solidarische Handelsbeziehungen zu erreichen? Nein, denn auch ALBA ist kein Bündnis sozialistischer Staaten, in denen die Bevölkerung über die Geschicke der Gesellschaft entscheidet. Zwar unterscheidet sich der Charakter der ALBA-Staaten klar von dem der USA oder auch der EU; es wird eher auf eine binnenmarktorientierte Wirtschaftspolitik gesetzt, die teilweise im Konflikt mit der US-Hegemonie steht. Das Grundprinzip von ALBA ist aber auch ein anderes: So ist es den Staaten möglich, nicht nur mit Geld für Öl – das Produkt, welches den größten Anteil am wirtschaftlichen Austausch hat – zu bezahlen, sondern auch mit Dienstleistungen oder Waren, was den Einfluss von Wechselkursschwankungen und Inflation verringert. Auch darf ALBA nicht als Freihandelsabkommen verstanden werden, sondern als Zusammenschluss verschiedener Staaten zu einem politischen und wirtschaftlichen Bündnis. Das Prinzip der gegenseitigen Förderung und der Verzicht auf eine Verpflichtung zum Abbau von Schutzzöllen oder der Öffnung des öffentlichen Sektors sind jedoch Fortschritte gegenüber anderen Wirtschaftsabkommen.


Bleiben wir bei den Alternativen zum Freihandel. Mitte der 1970iger Jahre entwickelte sich, inspiriert durch die Dependenztheorien, das Konzept des »Fair Trade«. Ist der sogenannte faire Handel eine Alternative zu den Freihandelsabkommen? Fair Trade ist eine schöne Idee. Es wäre toll, wenn wir alle nur ein wenig bewusster konsumieren müssten und die Welt wäre eine bessere. Doch so funktioniert der Kapitalismus nicht. Erstens verdienen die Arbeitenden auch bei Fair-TradeUnternehmen weniger als sie an Warenwert erschaffen, da der Mehrwert beim Unternehmer bleibt. Somit kann eigent-

Welchen Prinzipien müsste deiner Meinung nach ein globaler Handel folgen? Die entscheidende Frage ist die Systemfrage: So lange die Arbeiterklasse ihre Arbeitskraft verkaufen muss und das Kapital den Mehrwert einstreicht, bedeutet globaler Handel immer, dass davon vor allem das Kapital profitiert. In einer Wirtschaftsordnung, in der der Reichtum einiger weniger auf der Ausbeutung der Mehrheit beruht, kann es keinen wirklich fairen Handel geben. Diesen kann es nur in einer sozialistischen Welt geben. In einer Gesellschaft, in der Arbeitskraft keine Ware mehr ist und jeder nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten leben kann, würde der Handel auch dem Prinzip dienen, das Leben aller zu verbessern, und nicht nur das einiger weniger. Um allerdings vom Hier und Jetzt zu sprechen: Es wäre schon ein enormer

Fortschritt, wenn es keine Handelsabkommen mehr geben würde, die geheime Schiedsgerichte vorsehen, die Staaten zwingen, ihren öffentlichen Sektor zu privatisieren, oder wenn Umwelt und Gesundheit nicht mehr als Ware betrachtet würden. Daher sollte unser Kampf auch einer anderen Wirtschaftsordnung gelten. Wir sollten deutlich machen, dass wir für jegliche Reformen, die das Leben verbessern, streiten, ohne dabei das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft aus den Augen zu verlieren. Als Vorbild für das jetzige TTIP-Abkommen gilt das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI), das Ende der 1990er Jahre verhandelt wurde. Es wurde damals von globalisierungskritischen Gruppen stark kritisiert und auch wegen ihres Widerstands nie beschlossen. Reichen Demonstrationen aus, um Freihandelsabkommen zu stoppen? Massenbewegungen sind mit Sicherheit ein wichtiges Mittel, um TTIP zu verhindern. Ohne massiven Druck wird es keine Erfolge geben, da sich die Sozialdemokratie in den meisten Ländern hinter das Abkommen gestellt hat. In Deutschland ist es unsere zentrale Aufgabe, den Druck auf unsere Regierung zu erhöhen und so dafür zu sorgen, dass die SPD es sich nicht mehr erlauben kann, TTIP zu unterstützen. Der entscheidende Moment dürfte die Massendemonstration am 10. Oktober in Berlin werden, bei der mehr als 80.000 Menschen erwartet werden, die gegen TTIP demonstrieren wollen. Dass überhaupt eine so starke Bewegung möglich ist, liegt einerseits an den Gewerkschaften, die sich durch Druck von der Basis inzwischen klar gegen das Abkommen gestellt haben, wie auch an den lokalen Akteuren, die seit mehr als einem Jahr mobil machen gegen TTIP. Auch DIE LINKE hat durch inhaltliche Arbeit zu den geplanten Freihandelsabkommen wie auch durch eine Beteiligung an den Aktionstagen ein deutliches Zeichen gesetzt. Die Demonstration in Berlin wird vielleicht nicht das Abkommen verhindern, doch sie könnte der Anstoß für weitere Proteste sein und den Druck dadurch so stark erhöhen, dass die deutsche Regierung die Verhandlungen zu TTIP aussetzt und dieses Projekt möglicherweise auch ganz aufgibt. ■

AKTUELLE ANALYSE

© Christian Mang / Campact

Der Widerstand wächst: Unter dem Motto »Zivilgesellschaft macht Dampf gegen den KonzernDeal« protestierte das Bündnis »TTIP unfairhandelbar« am 6. Mai 2014 vor dem Brandenburger Tor in Berlin

lich auch bei Fair Trade nicht wirklich von einem fairen System gesprochen werden, da die Beschäftigten immer noch um Teile des Warenwerts betrogen werden. Wirklich fair wäre es nur, wenn die Fabrik denjenigen gehört, die in ihr arbeiten und diese auch alle den gleichen Anteil am Umsatz bekommen. Der zweite Punkt ist, dass sich nur Wohlhabende Fair-Trade-Produkte leisten können, da auch in Europa durchschnittlich verdienende Arbeiterinnen oder Angestellte wenig ökonomische Spielräume haben und somit keine teuren Produkte kaufen können, auch wenn sie wünschen, dass Arbeiter in anderen Ländern besser bezahlt würden. Der dritte und entscheidende Punkt besteht darin, dass das Fair Trade System kein Widerspruch zum Freihandel ist. Das wird auch daran deutlich, dass die größten deutschen Handelsunternehmen alle Fair-Trade-Produkte führen, sich gleichzeitig aber für Freihandel aussprechen. Fair Trade als solches bedeutet im besten Falle erst einmal nur, dass die Arbeitnehmer in den sogenannten »Entwicklungsländern« etwas besser bezahlt werden. Das Freihandelssystem als solches wird aber nicht angegriffen, da dieses ja vor allem die Liberalisierung der Märkte und die Abschaffung von Zöllen betrifft, nicht aber direkt die Lohnhöhe in einzelnen Unternehmen, auch wenn es häufig in Folge von Freihandelsabkommen zu Lohnsenkungen gekommen ist.

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UNSERE MEINUNG Zehn Jahre »merkeln«

Wie lang ist das noch alternativlos? Von Hans Krause

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ie Wahl ist so gut wie gewonnen. Angela Merkel und die CDU stehen in Umfragen durchschnittlich bei 42 Prozent. Die SPD liegt bei 25. Doch nicht nur die Bundestagswahl 2017 scheint jetzt schon entschieden. Auch in einer ganz anderen Abstimmung ist die Kanzlerin vorn: Bei der Wahl zum »Jugendwort 2015« liegt »merkeln« uneinholbar vor »rumoxidieren« (Bedeutung: chillen) und »Earthporn« (schöne Landschaft). Laut jugendwort.de, der Internetseite, auf der man »voten« kann, ist die Bedeutung von »merkeln«: »keine Entscheidung treffen«. Dass selbst Jugendliche mit der Kanzlerin eine langweilige, aber eher harmlose Zaghaftigkeit verbinden, sagt viel über ihre Strategie des Herrschens aus, aber wenig über ihre tatsächliche Politik. Denn seit 2005 setzt Merkel alles fort, was Gerhard Schröder begonnen hat, und geht noch darüber hinaus. Die Umsetzung von Hartz IV und der Krieg in Afghanistan fallen größtenteils in die Amtszeit Merkels. Die Unternehmenssteuerreform von 2008 war die größte Umverteilung von unten nach oben seit der Wiedervereinigung. Kurz darauf folgte das »Finanzmarktstabilisierungsgesetz«: Die Regierung stellte in der weltweiten Wirtschaftskrise 480 Milliarden Euro für die Rettung von Banken bereit. Auch die Einführung der Rente mit 67 und die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent gehören zu Merkels Politik gegen die Menschen und für die Wirtschaft. Viele Politiker und Journalisten behaupten, dass Merkel all dies umsetzt, ohne dass die Menschen darunter leiden. Doch tatsächlich sind laut Paritätischem Wohlfahrtsverband heute mit 15,5 Prozent mehr Menschen arm als je zuvor in Merkels Amtszeit. Obwohl offiziell »nur« 2,8 Millionen arbeitslos sind, müssen 6,1 Millionen Erwachsene und Kinder von Hartz IV leben.

Merkels Unterschied zu ihren Vorgängern Kohl und Schröder ist, dass sie ihre Politik der sozialen Ungerechtigkeit nicht begründet, sondern sie verschweigt oder leugnet. Während Schröder seinen Krieg gegen Arbeitslose mit Sprüchen wie »Es gibt kein Recht auf Faulheit« aggressiv vorantrieb, sind die berühmtesten Sätze von Merkel: »Das ist alternativlos« und »Deutschland geht es gut«. Zehn Jahre lang hat die Kanzlerin diese Kombination aus harter Politik und leeren Phrasen durchgezogen, ohne ernsthaft herausgefordert zu werden. Doch steckt hinter dieser Strategie auch ein großes Risiko für Merkel. Denn wer Politik nur macht, aber nicht begründet, kann sie auch nicht rechtfertigen, wenn die Menschen eine Alternative finden, für die sie bereit sind, zu kämpfen. Unzufrieden mit Merkels Politik für Banken, Reiche und Konzerne sind bereits Millionen. Eine große Gegenbewegung ist aber noch nicht in Sicht. Doch Erzieherinnen und Lokführer, Angestellte der Deutschen Post und des Krankenhauses Charité in Berlin haben in teils wochenlangen Streiks bewiesen, dass sie nicht mehr bereit sind, jede Arbeitsbelastung und immer niedrigere Löhne hinzunehmen. Gewinnen solche Bewegungen an Stärke, zum Beispiel durch Streiks in der Industrie oder eine LINKE, die für politische Ziele nicht nur steht, sondern auch auf die Straße geht, kann Merkel schnell zur schwächsten Kanzlerin seit vielen Jahrzehnten werden. Denn wer glaubt noch, dass sie »alternativlos« ist, wenn die Alternative in bestreikten und besetzten Betrieben offensichtlich wird?

Angela Merkel setzt fort, was Gerhard Schröder begonnen hat

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★ ★★ Hans Krause ist Redakteur von marx21.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Vorwahlkampf in den USA

Der Nicht-Politiker tend darüber sind, wie wenig die Politik ihnen zu bieten hat; das macht sie empfänglich für Trumps reaktionäre Ideen. Sein Erfolg beweist, wie unwillig die Führungen der Republikaner und Demokraten sind, irgendeine politische Per-

Donald Trump erreicht die weiße Mittelschicht spektive anzubieten. Trump ist beliebt, weil er buchstäblich ein Nicht-Politiker ist: Er war immer Unternehmer, hatte noch nie ein politisches Amt oder Mandat einer Partei. Er redet nicht wie andere Politiker, sondern zeigt ihnen seine tiefe Verachtung. Weil die US-amerikanischen Medien ihn zudem noch mehr in den Vordergrund rücken als es seinen Um-

fragewerten entspricht, erscheint Trump vielen als die einzige Alternative gegen die großen Parteien. Diese wiederum machen es ihm noch leichter, indem sie Kandidaten anbieten, deren Qualifikation hauptsächlich aus ihrer Verwandtschaft mit Ex-Präsidenten besteht: Jeb Bush und Hillary Clinton. Es bleibt Sache von Aktivistinnen und Aktivisten, Trumps Botschaft, die auf Verzweiflung und Hass setzt, etwas entgegen zu setzen und klar zu machen, dass keine der beiden großen Parteien, weder Republikaner noch Demokraten, der Arbeiterschaft etwas zu bieten haben. ★ ★★ Elizabeth Schulte ist Redakteurin der USamerikanischen Website socialistworker.org.

UNSERE MEINUNG

M

it Umfragewerten um 25 Prozent liegt Immobilienunternehmer und Multimilliardär Donald Trump in den USA gegenwärtig weit vor allen Konkurrenten um die Präsidentschaftskandidatur der Republikanischen Partei. So schwammig Trumps politische Meinung ist, so scharf ist sein Rassismus. Im August schlugen zwei Männer in Boston einen obdachlosen Latino zusammen und gaben hinterher bei der Polizei an: »Donald Trump hat Recht, diese ganzen Illegalen gehören abgeschoben.« Trumps Reaktion auf die Nachricht: »Ich kann nur sagen, dass meine Leute sehr leidenschaftlich sind. Sie lieben dieses Land. Sie wollen dieses Land wieder groß machen. Ja, sie sind sehr leidenschaftlich.« Wie ist das möglich? Trump spricht einen Teil der vielen Millionen weißer US-Amerikanerinnen und Amerikaner an, die mit ihrer sozialen Lage unzufrieden und wü-

Von Elizabeth Schulte

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TITELTHEMA Grenzen Auf. Bleiberecht für alle!

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Praktische Solidarität Wie Linke Geflüchteten helfen

Schon vor hundert Jahren Warum Linke für offene Grenzen waren

Fluchtursache: Krieg Wie der Westen das Elend in Syrien verschärft

»Fremd im eigenen Land« Der Song zur Antinazibewegung von 1992


Grenzen auf. Bleiberecht für alle! Die Bundesregierung spielt ein falsches Spiel mit den Hoffnungen von Tausenden, die nach Deutschland wollen. Sieben Thesen zur Flüchtlingskrise Von Netzwerk marx21 grenzung und Diskriminierung von Geflüchteten vor. So will Berlin bestimmten Flüchtlingen keine Bezüge mehr aus dem Asylbewerberleistungsgesetz zur Verfügung stellen. Das heißt, dass für sie nicht einmal ein Platz in einer Unterkunft vorgesehen ist. Der Staat übernimmt dann weder Geldzahlungen noch Sachleistungen oder die medizinische Notversorgung. Nach dem Willen der Bundesregierung sollen die Betroffenen künftig allein Reiseproviant und eine Rückfahrkarte erhalten. Auch für Menschen, die nur geduldet in Deutschland leben, enthält das Gesetz neue Härten, beispielsweise Arbeits- und Ausbildungsverbote für Flüchtlinge, die aus einem angeblich »sicheren Herkunftsland« stammen. Zudem sollen Abschiebungen in Zukunft nicht mehr angekündigt werden müssen. Für die Betroffenen bedeutet dies die ständige Angst davor, dass die Polizei bei ihnen erscheint. Das ist dann auch nachts möglich. So hat die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern Anfang September das Nachtabschiebeverbot aufgehoben. Diese Regelung erschwert es Flüchtlingen und ihren Unterstützerinnen und Unterstützer, die Abschiebungen von Freunden und Bekannten zu verhindern.

Merkel verschärft das Asylrecht

2.

Die Bundesregierung weigert sich, einen grundlegenden Wandel in der Asylpolitik einzuleiten. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zementieren die auf Abschreckung und Abschottung ausgerichtete, rassistische Flüchtlingspolitik. Im Fokus stehen hier die Flüchtlinge vom Balkan. Die derzeitige Flüchtlingspolitik ist nicht neu: Schon seit Mitte der 1990er verschärft die Bundesrepublik kontinuierlich die Asyl- und Flüchtlingspolitik. Erst im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien zu »sicheren Herkunftsstaaten« ernannt. Asylanträge von

TITELTHEMA Grenzen auf. Bleiberecht für alle!

1.

Angela Merkel ist keine »Flüchtlingskanzlerin«, sie betreibt ein falsches Spiel mit den Geflüchteten. Während sich Zehntausende in der Flüchtlingshilfe engagieren, beschließt die Bundesregierung die Verschärfung des Asylrechtes und tritt damit die »Willkommenskultur« mit Füßen. »Wir schaffen das«, »Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze« und »Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land«. Mit solchen Sätzen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise gepunktet. Gemeinhin wird sie als »Flüchtlingskanzlerin« wahrgenommen – etwa vom »Spiegel«, der Ende September »Mutter Angela« auf den Titel hob. Die Kanzlerin setze »ihr ganzes Vertrauenskapital für die Flüchtlinge ein«. Doch mittlerweile wird deutlich, wovor Flüchtlingsinitiativen immer schon gewarnt haben: Die Bundesregierung betreibt ein falsches Spiel mit den Flüchtlingen. Merkels öffentliche Inszenierung ist eine Reaktion auf die ungebrochene Solidarität, die in der Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen herrscht. Laut einer Umfrage des ZDF empfindet die Mehrheit der Bundesbürger (61 Prozent) die neu ankommenden Flüchtlinge nicht als Bedrohung. Zwei Drittel können sich vorstellen, persönlich Asylbewerberinnen und Asylwerber zu unterstützen. Zehntattausende engagieren sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe. Doch während die Kanzlerin so tut, als wolle sie Flüchtlinge in Deutschland weiter mit offenen Armen empfangen, beschließt ihre Regierung die Verschärfung des Asylrechts und tritt damit die »Willkommenskultur« mit Füßen. Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche Maßnahmen zur Entrechtung, Aus-

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Flüchtlingskrise, Rassismus und Kapitalismus Mit über 80 Veranstaltungen bietet MARX IS`MUSS 2016 ein spannendes Programm. Auch das Thema Flüchtlinge und Rassismus wird diskutiert. Jetzt anmelden! www.marxismuss.de

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Flüchtlingen aus diesen Staaten gelten pauschal als »unbegründet«. Die Antragsteller können sofort – ohne Einzelfallprüfung – wieder abgeschoben werden. Jetzt möchte die Union auch Kosovo, Albanien und Montenegro auf die Liste der »sicheren Herkunftsstaaten« setzen. Laut Gesetzgeber findet in diesen Ländern keine politische Verfolgung statt. Aber die Realität sieht ganz anders aus. Beispielsweise gehören mehr als ein Drittel aller Balkanflüchtlinge, die in Deutschland Schutz suchen, der Roma-Minderheit an. Selbst die EU-Kommission hat festgestellt, dass Roma in allen Balkanstaaten diskriminiert werden und dort kein normales Leben führen können. Trotzdem sollen sie nach dem Willen der Bundesregierung so schnell es geht abgeschoben werden – zurück in die Perspektivlosigkeit. Im Kosovo liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 70 Prozent und in Serbien hat fast jeder Zweite keinen Job. Im Sommer hat die Bundesregierung der Errichtung von Sonderlagern für Flüchtlinge vom Balkan zugestimmt. Diese sind so organisiert, dass alle Schritte von der Registrierung bis zur Abschiebung dort durchgeführt werden können. Es ist nicht auszuschließen, dass sie in Zukunft auch für andere Flüchtlinge genutzt werden. Dabei sind die Abschiebezahlen schon in den letzten Jahren massiv gestiegen. 2014 schickte Deutschland 11.000 Menschen zurück. Hinzu kamen 2967 Zurückschiebungen und 3612 Zurückweisungen an der deutschen Grenze, insbesondere an Flughäfen. Im ersten Halbjahr 2015 sind bereits 8178 Asylbewerber abgelehnt worden, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bedeute das einen Anstieg von 42 Prozent. Die Bundesregierung verfolgt also im Umgang mit Flüchtlingen nach wie vor eine Strategie der Abschreckung. Dazu gehört die Unterbringung in Sammelunterkünften, die Asylsuchende ausgrenzt, stigmatisiert und der Gefahr rassistischer Angriffe aussetzt. Durch Arbeitsverbote, die Residenzpflicht oder die entmündigende Versorgung mit Essenspaketen wird den Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben verweigert. Eine Willkommenskultur sieht anders aus.

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Die deutsche Politik ist darauf ausgerichtet, Geflüchtete bereits an den EUAußengrenzen abzuhalten. Im September hat die Bundesregierung die Grenzkontrollen wieder eingeführt. Das zeigt, dass es ihr nicht um das Wohl der Geflüchteten geht. Aber auch die Entscheidung der Kanzlerin von Anfang September, Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, war keine »barmherzige« Geste. Vielmehr erkämpften die Flüchtlinge die temporäre Grenzöffnung selbst. Zu Tausenden widersetzen sie sich der Polizei und erzwangen mit ihrem entschlossenen Handeln den faktischen Kollaps des auf Abschre-

ckung und Abgrenzung ausgerichteten Dublin-Systems. Berlin will diesen Zustand nicht hinnehmen und kämpft mit allen Mittel, die alte Ordnung wiederherzustellen. In diese Richtung zielen verschiedene »Maßnahmen«, die mit der Wiedereinführung der Grenzkontrollen einhergehen sollen: die geplanten EU-Militäreinsätze gegen Schleuser, die Einrichtung von so genannten Hot-Spot-Zentren in den EU-Randstaaten und die Ausweitung der »Drittstaatenregelung«. Die Bundesregierung will, dass Geflüchtete, wie im Dublin-System vereinbart, an den EU-Außengrenzen gesammelt und dort registriert werden. Das harmlose Wort »Hot-Spot-Zentren« verschleiert, dass es sich dabei um Internierungslager in den EURandstaaten handelt. Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen dient nur dazu, andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter Druck zu setzen und die Politik der Abschottung an den Außengrenzen zu stärken. Die Folgen dieser repressiven und rassistischen Politik haben wir in den vergangenen Jahren gesehen: Massensterben im Mittelmeer, größeres Elend in den Flüchtlingslagern und die Bildung eines »Fluchtmarktes«, weil sich der Transport von Menschen über Grenzen zu einem Milliardengeschäft entwickelt hat. Merkels Forderung, Flüchtlinge schon an den Grenzen zu registrieren, lenkt davon ab, dass an der eigentlichen Stelle nicht genug Personal vorhanden ist. Die Zahl der sogenannten Entscheider beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) belief sich im Juli 2015 auf gerade mal 500. Die Bundesregierung hat unter dem Druck der Bewegung angekündigt 450 weitere »Entscheider« einzustellen. Bei zu erwartenden eine Million Flüchtlingen und 240.000 noch nicht bearbeiteten Asylanträgen müssen also 950 Personen über 1,2 Millionen Anträge befinden. Pro »Entscheider«, also pro Mitarbeiter, macht das mehr als 1300 Anträge. Es ist also kein Zufall, dass Asylbewerberinnen und -bewerber in Deutschland so lange warten müssen, sondern politisch gewollt. Verantwortlich sind nicht sie, sondern das Versagen der Bundesregierung, für ausreichend Personal zu sorgen. Statt die Abriegelung der EUAußengrenzen voranzutreiben und Milliarden Euro für Mauern, Zäunen, Überwachung, Grenzkontrollen und einen Militäreinsatz bereitzustellen, sollten legale und sichere Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge geschaffen werden.

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Deutschland und seine Bündnispartner tragen die Hauptverantwortung für die »Flüchtlingskrise«. Eine Ausweitung des »Anti-Terror-Kriegs« und noch mehr Bomben auf Stellungen des »Islamischen Staates« werden die Fluchtbewegung nicht stoppen.


in der Wirtschaft ein Bedarf an neuen Arbeitskräften vorhanden ist. So erklärte das Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit (IZA): »Es gibt keine Anzeichen für eine Zuwanderung in Arbeitslosigkeit oder Armut. Die Arbeitsuchenden, die kommen, finden in der Regel Jobs, ohne einheimische Arbeitskräfte zu verdrängen.« Das erklärt auch, warum die Arbeitslosenzahlen unverändert blieben, obwohl 2012 und 2013 zusammen 770.000 Einwanderer (netto) nach Deutschland kamen. Gäbe es sie nicht, würde ein ökonomischer Druck auf das Lohnniveau nach oben entstehen. Vor diesem Hintergrund befürworten Regierung und Arbeitgeberverbände eine gezielte Zuwanderungspolitik, ähnlich wie in den 1950er und 1960er Jahren, als die Bundesrepublik Anwerbeabkommen für »Gastarbeiter« mit der Türkei, aber auch mit Griechenland, Italien, Jugoslawien, Marokko, Südkorea, Portugal, Spanien und Tunesien abschloss. In einem Kabinettsprotokoll von 1955 hieß es: »Angesichts nahezu erreichter Vollbeschäftigung und sogar drohenden Arbeitskräftemangels plante die Bundesregierung, durch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte dem Arbeitskräftemangel zu begegnen und dadurch gleichzeitig auf künftige Lohnforderungen dämpfend zu wirken«. Auch heute steht dieses Ziel im Vordergrund. Klaus F. Zimmermann, Chef des IZA schreibt: »Deutschland und Europa stehen vor großen demografischen Veränderungen, die zu massiven Schrumpfungs- und Alterungsprozessen führen. Erforderlich ist deshalb eine Offensive Deutschlands, damit im international härter werdenden Wettbewerb um knappe Humankapitalressourcen der durch frühe-

Anfang September: Mehrere tausend Flüchtlinge passieren die Grenze nach Ungarn. Im Auffanglager Röszke herrschen katastrophale humanitäre Zustände

TITELTHEMA Grenzen auf. Bleiberecht für alle!

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Der Bundesregierung und der Wirtschaft geht es nicht um das Wohl der Geflüchteten. Sie wollen die Migration kontrollieren und begrenzen, um sie für ihre wirtschaftlichen Interessen nutzbar zu machen. Die Herrschenden in Deutschland streiten über die richtige Flüchtlingspolitik. Ausgangspunkt hierfür sind die niedrigen Arbeitslosenzahlen und der Mangel an Fachkräften in der Bundesrepublik – und nicht das Elend der Flüchtlinge. Seit einiger Zeit stagnieren in Deutschland die Arbeitslosenzahlen, obwohl

© Fotomovimiento / Roeszke / CC BY-NC-ND

Deutschland ist und war an den Kriegen im Irak (1991 und 2003), in Jugoslawien (1999), in Afghanistan (2001), in Libyen (2011) und in Syrien (seit 2011) direkt oder indirekt beteiligt. All diese Länder liegen in den Regionen, aus denen heute die meisten Flüchtlinge kommen. Deutschland ist zudem der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Im Jahr 2014 erteilte die Bundesregierung Genehmigungen für die Ausfuhr von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern im Gesamtwert von 6,5 Milliarden Euro. Deutschland ist außerdem treibende Kraft der europäischen Liberalisierungspolitik in Osteuropa, unter der vor allem die Ärmsten der Armen leiden. Mit Bekämpfung der Fluchtursachen hat diese Politik nichts zu tun, sondern sie dient dem Bestreben, im Windschatten der USA zu globaler Geltung zu gelangen. Roderich Kiesewetter, Obmann der Unionsfraktion im Auswärtigen Ausschuss, unterstrich dieses Ansinnen wie folgt: »Politische Wirkung werden wir nur entfalten können, wenn wir die Sprache der Region sprechen, also auch militärische Mittel ergänzend zu diplomatischen Initiativen einsetzen.« Der CDU-Außenpolitiker will Bundeswehr-Tornados in den Irak und nach Syrien schicken. Das ist nichts anderes als die Forderung nach aktivem Einstieg in die Luftbombardierungskoalition. Die USgeführte Kriegsallianz hat das Elend in der Region massiv verschärft. Seit einem Jahr kommen zu den Bomben des Assad-Regimes auch US-geflogene Angriffe hinzu. Diese verstärken die Fluchtbewegung nur noch, da mit jeder Bombe Menschen getötet und Infrastruktur vernichtet werden. Mittlerweile gibt es rund zwölf Millionen syrische Flüchtlinge, davon sitzen knapp fünf Millionen in den Anrainerstaaten fest. Ursprünglich hatten sie gehofft, bald nach Syrien zurückzukehren. Aber der sich hinziehende Krieg ohne Aussicht auf ein Ende treibt nun Hunderttausende weiter. Eine Außenpolitik, die zunehmend auf Aufrüstung und Kriegseinsätze setzt, heizt Konflikte an, die Millionen Menschen in die Flucht treiben. DIE LINKE fordert zu Recht, alle Auslandseinsätze zu beenden, die Aufrüstung aufzugeben und die Rüstungsexporte zu stoppen.

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re Versäumnisse verursachte Rückstand aufgeholt und neuen Herausforderungen Stand gehalten werden kann. Die Zunahme der EU-Binnenmigration nach Deutschland darf nicht den Blick dafür verstellen, dass die Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten faktisch keine nennenswerte Größenordnung erreicht. Aus der aktuell eher hohen Zahl von EU-Zuwanderern zu schließen, sie würden einen etwaigen Fachkräftebedarf von vornherein vollständig abdecken, wäre ebenso falsch wie anzunehmen, sie würden in der großen Mehrheit dauerhaft in Deutschland bleiben und auch künftig in großer Zahl ins Land kommen.«

Es gibt keine natürliche Grenze der Einwanderung Das Ziel war also damals wie heute, eine nach den Interessen des Kapitals gerichtete, kontrollierte Vergrößerung des Pools an Arbeitskräften. Wirtschaftsverbände und Bundesregierung möchten ein System etablieren, das ihren Interessen nach Arbeitskräften entspricht. In diesem Zusammenhang sind auch die Forderungen von Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn nach Aussetzung des Mindestlohns für Flüchtlinge zu verstehen. Sein Argument lautet: Die Asylsuchenden seien zwar »jung und arbeitswillig«, aber eben auch »schlecht qualifiziert und haben Sprachprobleme«. Aus diesem Grund werde Deutschland »viel Geld aufwenden müssen«, um sie »auszubilden und einzugliedern«. Doch der Ifo-Präsident will diesen Menschen trotzdem eine Chance geben, nicht zuletzt, damit »sie alle einen Beitrag zum Sozialprodukt erarbeiten« könnten und »damit einen Teil der Kosten decken, die ihr Lebensunterhalt verursacht.« Hier zeigt das Bürgertum sein Menschenbild: Kommen kann, wer nützlich ist. Nützlich für die Kapitalakkumulation, versteht sich. Zudem sind billige Arbeitskräfte ein brauchbares Instrument, um Belegschaften zu spalten und zu erpressen. Linke sollten entschieden gegen das Bild von »guten« und »schlechten«, von »echten« und »falschen« Flüchtlingen auftreten. Um Flüchtlinge vor Lohndumping zu schützen, muss der Mindestlohn verteidigt werden und auch ihnen eine soziale Mindestsicherung von 500 Euro garantiert werden.

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Linke sollten sich gegen jegliche Einwanderungskontrollen wenden und für den gemeinsamen Widerstand von Deutschen und Migranten auftreten. Es gibt keine »Grenzen der Aufnahmekapazitäten«. Nicht Flüchtlinge oder Zuwanderer plündern die Sozialkassen, sondern Reiche und Konzerne. Die Aufgabe von Linken ist es, jetzt offensiv die soziale Frage in die Flüchtlingsdebatte einzubringen.

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Anders als die LINKEN-Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger, hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow die Wiedereinführung der Grenzkontrollen Mitte September durch die Bundesregierung verteidigt. Das sei »eine Notmaßnahme«, die er als solche akzeptiere, sagte er der »Thüringer Allgemeinen«. Auch der saarländische Fraktionsvorsitzende Oskar Lafontaine gab gegenüber der »Saarbrücker Zeitung« an, er halte Grenzkontrollen »für unvermeidlich in der jetzigen Situation«. Die Frage ist allerdings: Warum eigentlich? Kontrollen, Stacheldraht und Mauern haben noch nie verzweifelte und entschlossene Menschen daran gehindert zu fliehen. Sie verstärken nur das Elend der Geflüchteten und nutzen den Schleusern. Denn die verdienen umso besser, je besser Grenzen bewacht sind. Wer den Schleusern das Handwerk tatsächlich legen will, muss ihnen die Geschäftsgrundlage entziehen, also die Grenzen Europas und Deutschlands öffnen. Lafontaines Argument für die Grenzschließung ist, dass die »Willkommenskultur« gefährdet sei. Seiner Meinung nach sei diese in Deutschland nur dann aufrechtzuerhalten, »wenn die Bevölkerung den Eindruck hat, es geht noch einigermaßen geregelt zu und die Politik hat das Ganze noch im Griff«. Doch zu viele Flüchtlinge gefährden keineswegs »Willkommenskultur«. Natürlich versuchen Neonazis und andere rechte Kräfte zu hetzen und die Situation auszunutzen. Aber sie werden nicht durch die Grenzschließung oder andere Einwanderungskontrollen bekämpft. Die Zunahme rechter Gewalt und rassistischer Mobilisierungen gegen Flüchtlinge existierte ja schon vor der temporären Grenzöffnung. Wenn Linke sich der Forderung nach Einwanderungskontrollen anschließen, machen sie einen großen Fehler: Denn hinter der Grenzschließung steht die Annahme, dass die Aufnahmekapazitäten in Deutschland begrenzt seien. DIE LINKE sollte hingegen betonen, dass die Bundesregierung mit ihrer Politik der Abschreckung und Umverteilung von unten nach oben die »Willkommenskultur« mit Füßen tritt. Sie wird ihrer Verantwortung nicht gerecht und ruht sich auf dem Engagement von Tausenden ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern aus. Jahrelang blieb die Bundesregierung trotz steigender Flüchtlingszahlen untätig und sorgte nicht für ausreichend Wohnraum, für genügend Schul- und Kitaplätze, für eine Gesundheitsversorgung und Zugang zu Arbeit. Die Probleme der Kommunen bei Aufnahme und Unterbringung von asylsuchenden Menschen lassen sich lösen, wenn endlich mehr Geld und Personal zur Verfügung gestellt wird. Doch auch hier versagt die Bundesregierung, denn die angekündigten sechs Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe reichen bei weitem nicht aus. Darüber hin-


haltsüberschuss von 21 Milliarden Euro erwirtschaftet. Die derzeitige Debatte über die angeblichen Grenzen der Aufnahmekapazitäten soll von der tatsächlich seit Jahren stattfinden Ausplünderung der öffentlichen Haushalte ablenken. Die Zukunft der öffentlichen Daseinsvorsorge ist tatsächlich bedroht – allerdings nicht durch die Flüchtlinge, sondern durch Reiche, Konzerne und ihre Regierungen. In ihrem Zehnpunkteplan zur Flüchtlingskrise fordert DIE LINKE richtigerweise, jetzt massiv in Sozialwohnungen, Schulen, Kitas und Krankenhäuser sowie in Studien- und Arbeitsplätze zu investieren. Das ist die richtige Antwort auf das Versagen der Bundesregierung.

Frankfurt am Main: Am Hauptbahnhof heißen hunderte freiwillige Helfer die ankommenden Flüchtlinge willkommen, verteilen Getränke und Lebensmittel

aus weigert sich Finanzminister Schäuble überhaupt mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Die sechs Milliarden Euro sollen nur fließen, wenn an anderer Stelle gekürzt wird. Diese Politik greift der LINKEN-Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi zu Recht an: »Als im Bundestag 480 Milliarden Euro binnen einer Woche für die Rettung der Banken beschlossen wurden, war von einem Sparpaket nicht die Rede. Jetzt vermittelt die Bundesregierung hingegen den Eindruck, dass die Bürgerinnen und Bürger wegen der vielen Flüchtlinge sparen müssten, schürt damit Ängste und erleichtert es den Rechtsextremisten, ihre Hassparolen wirksam zu verbreiten. Statt mit dem Finger nach unten zu zeigen, sollte die Bundesregierung endlich die Einnahmen des Bunds stärken und für eine gerechte Besteuerung sorgen.« Schon jetzt könnte Berlin sofort mehr Geld zur Verfügung stellen. Denn es ist offensichtlich vorhanden: Im März bewilligte die Bundesregierung der Bundeswehr beispielsweise neue Kampfhubschrauber im Wert von 8,7 Milliarden Euro. Zudem haben Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungen im ersten Halbjahr einen gemeinsamen Haus-

TITELTHEMA Grenzen auf. Bleiberecht für alle!

© Franz Ferdinand Photography / CC BY-NC / flickr.com

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So wichtig die praktische Solidarität mit Flüchtlingen ist: Die Solidaritätsbewegung muss sich auch gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung richten. DIE LINKE sollte jetzt die Initiative für einen gesellschaftlich breit aufgestellten außerparlamentarischen Protest ergreifen, um die Merkel-Regierung zu einer Kursänderung in der Flüchtlingsfrage zu zwingen. Die Hilfsbereitschaft vieler Menschen für Flüchtlinge in Deutschland ist ungebrochen und ein mächtiges Zeichen der Solidarität. Doch die individuelle Tat kann die strukturellen Probleme nicht lösen, die sich aus der restriktiven und rassistischen Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ergeben. Eigentlich müssen staatliche Institutionen die Ressourcen für eine andere Flüchtlingspolitik zur Verfügung stellen. Schon vor Monaten machten Flüchtlingsorganisationen detaillierte Vorschläge, um die Bedingungen für Flüchtlinge in Europa und Deutschland zu verbessern. Diese reichten von der Wiedereinführung der Seenotrettung über die Streichung der Visumspflicht bis zur Forderung nach Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetz und der Residenzpflicht. Eine umfassende Lösung wird nur politisch erzwungen werden können. Parteien, Gewerkschaften, Flüchtlingsinitiativen müssen den Druck auf die Bundesregierung erhöhen. Denn von alleine werden Merkel & Co. wenig ändern. DIE LINKE kann hierbei eine wichtige Rolle spielen und die Initiative ergreifen, gemeinsam mit anderen den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen und außerparlamentarischen Protest zu organisieren. Kürzlich schrieb Jakob Augstein in einem »Spiegel«Artikel: »Was in Deutschland jedoch fehlt, ist ein positiver Populismus von Links, der die demokratischen und sozialen Rechte der normalen Leute gegenüber Eliten und Oligarchen artikuliert – und der diese Aufgabe nicht den Rechten überlässt.« Populismus von Links? DIE LINKE könnte das: Grenzen auf für Menschen in Not – Geld her für Flüchtlinge und Soziales. Millionäre besteuern! ■

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M U , N E N N Ö K N U WA S L I N K E T N E F L HE U Z N GEFLÜCHTETE

TITELTHEMA

ei lfen. Wir haben mit dr he zu n te te ch flü Ge um sind allerorten aktiv, n und wie sie die Solibe ha t leb Mitglieder der LINKEN er sie as w , en isten darüber gesproch Aktivistinnen und Aktiv rstützen daritätsbewegung unte Interviews: Jan Maas

»Der Staat kann Wohnraum beschlagnahmen«

Lucia Schnell

ist Sprecherin der LINKEN in BerlinNeukölln.

L

ucia, DIE LINKE in Neukölln fordert im Zusammenhang mit der steigenden Zahl von Geflüchteten Wohnungen für alle. Woher sollen diese Wohnungen so schnell kommen? Reiner Wild vom Berliner Mieterverein schätzt, dass es in Berlin bis zu fünftausend nicht verkaufte Eigentumswohnungen gibt oder solche in Gebäuden, die auf eine Luxussanierung warten. Also Spekulationsobjekte. Das Berliner SozialgipfelBündnis aus Sozialverbänden, Gewerkschaften und Mieterverein hat bereits gefordert, diese Wohnungen für Geflüchtete und Geringverdienende zu beschlagnahmen. Kann der Staat einfach Wohnraum beschlagnahmen? Ja, er kann. Das hat er in den 1990er Jahren auch schon getan, als viele Menschen vor dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien geflohen sind. Damals sind un-

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ter anderem noch nicht bezogene, aber fertige Hotels beschlagnahmt worden. Im Jahr 2014 standen 907 Millionen Quadratmeter Büroflächen in Berlin leer. Außerdem hat der Bund eine Menge Immobilien in Berlin, die auf Leerstand überprüft werden können. Die Grünen haben bereits einen Antrag auf Beschlagnahmung von Wohnraum in die Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung eingebracht. Wir bereiten einen entsprechenden Antrag in Neukölln vor. Bis jetzt bewegt der Berliner Senat sich nicht. Wie wollt ihr ihn dazu bringen? Indem zwei Bewegungen zusammenkommen: die Solidarität mit den Geflüchteten und die Bewegung für bezahlbaren Wohnraum. In den letzten Jahren haben Geflüchtete zunächst auf dem Kreuzberger Oranienplatz campiert und dann eine leer stehende Schule besetzt. Viele Menschen haben das unterstützt, Schüler sind in einen Solidaritätsstreik getreten. In diesem Frühling hat die Initiative für einen Mietenvolksentschied die erste Hürde für ein Gesetz genommen, das den Senat zwingen soll, für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen. Wir können an diese Erfolge anknüpfen. Der Mietenvolksentscheid wird vielleicht gar nicht stattfinden, weil der Senat auf die Initiative zugegangen ist. Nimmt euch das nicht den Wind aus den Segeln? Im Gegenteil, das zeigt, dass wir einen wunden Punkt getroffen haben. Es ist ein Riesenerfolg, wenn der Senat jetzt einige Verbesserungen für Mieter umsetzt. Aber

damit ist der Mietenvolksentscheid als Ganzes noch lange nicht umgesetzt. Der Senat hat noch keine einzige neue Sozialwohnung gebaut, und die Mieten steigen auch noch weiter. Wenn bezahlbarer Wohnraum in der Vergangenheit bereits knapp war und jetzt zusätzlich Geflüchtete nach Berlin kommen, besteht nicht die Gefahr, dass Menschen gegeneinander ausgespielt werden? Die Gefahr besteht. Aber wir sind der Meinung, dass Wohnraum für alle geschaffen werden kann, wenn die Reichen dafür bezahlen. Außerdem versuchen wir, Gewerkschaften, Sozialverbände und Mietervereine mit ins Boot zu holen und so der Spaltung entgegenzuwirken. ■


men. Der Staat dagegen hat anfangs so gut wie nichts organisiert außer natürlich den Polizeieinsatz. Es gab sogar kurzzeitig den Versuch, die Hilfswilligen zu entfernen. Es fand dann wohl angesichts der großen Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ein Sinneswandel statt. Selbst in den offiziellen Lagebesprechungen waren wir vertreten.

Colin Turner

ist Mitglied der LINKEN und ein Sprecher der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer am Münchener Hauptbahnhof.

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olin, der Münchener Hauptbahnhof war für anderthalb Wochen ein zentrales Drehkreuz für die Ankunft und Verteilung von Menschen auf der Flucht. Wie hast du das Verhältnis von staatlicher und privater Hilfe vor Ort wahrgenommen? Die ersten, die sich zum Hauptbahnhof aufgemacht haben, waren mehrheitlich Leute, die schon in der Geflüchtetenhilfe aktiv waren. Sie haben sich spontan entschlossen zu helfen und die Situation war entsprechend chaotisch. Die meisten Spenden zur Erstversorgung kamen von Privatpersonen, teils aber auch von Geschäften – palettenweise Essen von Dönerläden zu Beispiel. Ehrenamtliche haben die Verteilung in die Hand genom-

Wie bewertest du die große ehrenamtliche Hilfsbereitschaft? Ich finde es gut, dass sich so viele Leute beteiligen, weil das auch eine gewisse Öffentlichkeit herstellt und eine gewisse Kontrolle des staatlichen Umgangs mit den Geflüchteten. Außerdem führt die Einbindung der Bevölkerung dazu, dass mehr Menschen ein aktives Verhältnis zu Geflüchteten haben. Aufgrund der Abschottung durch das Dublin-System kannten viele Geflüchtete bisher nur aus den Medien. Das hat sich jetzt geändert. Andererseits haben wir als Ehrenamtliche schon von Anfang an gefordert, dass der Staat bestimmte Leistungen übernehmen muss. Zufällig eintreffende Nahrungsmittelspenden dürfen keine Dauerlösung sein. Es ist Aufgabe der Regierung von Oberbayern, die Erstversorgung zu gewährleisten. Inzwischen klappt das auch besser, aber wir mussten immer wieder Engpässe in der staatlichen Versorgung mit Spenden überbrücken. Was denken die Ehrenamtlichen, wie der Staat mit den Geflüchteten umgehen soll? Nachdem die ersten größtenteils politisch Aktive waren, haben wir jetzt eine

sehr vielfältige Gruppe von der Hausfrau bis zum Händler. Wir sind politisch nicht immer einer Meinung und sind stolz darauf, überparteilich und überkonfessionell zu sein. Bei uns arbeiten Menschen sowohl aus der muslimischen als auch der katholischen wie auch der jüdischen Gemeinde mit oder eben auch ich als Atheist. Die Schließung der Grenze zu Österreich lehnen wir genauso ab wie das Aufhalten der Menschen in Ungarn. Wir sind alle der Meinung, dass das keine Lösung ist. Wir haben uns auch gemeinsam dagegen gewehrt, dass Ministerpräsident Seehofer behauptet hat, die Grenze sei auch zu unserem Schutz geschlossen worden. Wir wollen nicht als Ausrede herhalten. Kritisch betrachten wir ebenfalls, das Drehkreuz München wegen des Oktoberfestes zu schließen. Drehkreuze in der Provinz bedeuten weniger Öffentlichkeit und sie sind schwieriger mit Ehrenamtlichen zu unterstützen. Aufgrund unserer Erfahrung der letzten Wochen trauen wir dem Staat nicht zu, die Versorgung dort selber gut sicher zu stellen. Darüber, wie es jetzt weitergeht, müssen wir diskutieren. Du bist auch Mitglied der LINKEN. Was ist aus Deiner Sicht jetzt nötig? Ich habe den Eindruck, die meisten Menschen gehen aufgrund von Äußerungen beispielsweise von Angela Merkel davon aus, dass die Geflüchteten, die das wollen, auch hier bleiben können. Und sie finden das wohl auch richtig, sonst hätten wir nicht Tausende registriert und selbst nach drei Wochen täglichen Zulauf von Personen, die mit anpacken wollen. Das bedeutet, dass die Bundesregierung eine echte Willkommenskultur schaffen muss. Das bedeutet, die Grenzen wieder zu öffnen und koordinierten Transport von den europäischen Außengrenzen direkt nach Deutschland. Das bedeutet eine menschenwürdige Unterbringung einschließlich Versorgung und Hilfen zur Integration. Wir brauchen zum Beispiel einen neuen sozialen Wohnungsbau, um der Konkurrenz unter den Menschen um Wohnraum entgegenzuwirken. Nicht zuletzt bedeutet das auch, endlich das unmenschliche und unsoziale Dublin-System zu beseitigen und den Geflüchteten wieder die freie Entscheidung zu geben. ■

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»Ein aktives Verhältnis zu Geflüchteten«

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»Wir übernehmen keine Aufgaben des Staates«

Irmgard Wurdack

ist aktiv in der LINKEN und im antirassistischen Bündnis Berlin-Neukölln.

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rmgard, in Berlin sind in den ersten neun Monaten des Jahres mehr als 20.000 Geflüchtete angekommen. Wie reagiert der Bezirk Neukölln, in dem du aktiv bist? In Neukölln soll jetzt eine zweite reguläre Unterkunft gebaut werden. Bisher gibt es eine. In der geplanten Unterkunft soll es Platz für 300 Menschen geben. Auf dem Gelände ist außerdem eine Kita geplant, die für alle zugänglich sein soll. Der Betreiber verfolgt nach eigenen Angaben ein integratives Konzept und will vermeiden, dass die Unterkunft wie so oft als Fremdkörper im Kiez wahrgenommen wird. Zugleich ist er jedoch durch die Tagessätze, die der Staat pro Person zahlt, extrem eingeschränkt, denn diese dienen der Abschreckung und nicht der Integration. Wie sind die Geflüchteten in Neukölln untergebracht, solange gebaut wird? Derzeit sind rund 250 Menschen in zwei so genannten Notunterkünften unterge-

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bracht. Eine der Notunterkünfte besteht aus Containern, die einmal als Ersatzklassenzimmer für eine Schule mit Raumnot gedient haben. Dort leben rund 100 Leute mit bis zu 15 Personen in einem Raum. Die Menschen haben keinerlei Privatsphäre und keinen angemessenen Gemeinschaftsraum. Die zweite Notunterkunft ist in einer Turnhalle, in der derzeit 150 Menschen leben. Weitere solche Notunterkünfte sollen demnächst entstehen. Du bist aktiv in dem antirassistischen Bündnis Neukölln. Wie geht ihr mit dieser Situation um? Wir haben eine AG Flucht und Asyl gegründet, sobald die Pläne für die zweite reguläre Unterkunft bekannt geworden sind. Es haben sich etwa fünfzig Personen dafür gemeldet. Diese AG hat dann eine öffentliche Informationsveranstaltung organisiert, auf der sich noch einmal über fünfzig Personen eingetragen haben, die helfen wollen. Als in der Zwischenzeit die Notunterkünfte eingerichtet worden

sind, haben wir angefangen, die Menschen dort zu unterstützen. Wir haben zum Beispiel Deutschkurse und Sprachcafés organisiert, Kinderbetreuung sowie Begleitung für Behördengänge oder Arztbesuche und bei der Wohnungssuche. Wäre es nicht Aufgabe des Staats, beispielsweise Deutschkurse zu organisieren? Wir hatten eine Diskussion im Bündnis über die Grenzen unserer Hilfe. Wir übernehmen keine Aufgaben, die Aufgabe des Staates oder des Betreibers sind, die also in den Tagessätzen enthalten sind. Wir helfen nicht dabei, Wäsche zu waschen und wir holen auch keine Brötchen. Wir sehen unseren Job darin, ein nachbarschaftliches Miteinander herzustellen. Lässt sich die Grenze zwischen ehrenamtlicher Hilfe und staatlichen Aufgaben immer so klar ziehen? Ja. In einer akuten Notsituation hat uns ein Betreiber gebeten, bei der Essensaus-


Mobilisieren die Nazis in Neukölln denn gegen die Unterkünfte? Wir hatten in letzter Zeit keine erneuten Übergriffe in Neukölln. Das werten wir auch als Erfolg früherer erfolgreicher Proteste gegen Neonazi-Kundgebungen. Bisher kamen dort immer mehr Menschen als zu den Nazis. Einmal haben wir auch ein Picknick mit Anwohnern und Geflüchteten vor der betreffenden Unterkunft organisiert.

Du bist auch in der LINKEN aktiv. Welchen speziellen Beitrag kann sie leisten? Wir haben zum Beispiel dafür argumentiert, neben der bloßen Hilfe auch Flyer im Kiez zu verteilen, die darüber aufklären, wo die Menschen herkommen und warum. Das führt dann zu Themen wie Kriegen und Waffenexporten und zur Verantwortung der Bundesregierung. Außerdem setzen wir uns dafür ein, dass wir als Bündnis die Proteste gegen die Verschärfung des Asylrechts unterstützen. Viele Ehrenamtliche sehen diesen Widerspruch: Wir bemühen uns um eine echte Willkommenskultur, und gleichzeitig schränkt die Regierung das Asylrecht ein. Auch einfach nur nach außen zu treten und sichtbar zu werden ist wichtig. Wir haben zum Beispiel ein Sommerfest gefeiert. Das mag auf den ersten Blick unpolitisch wirken, aber es holt die Geflüchteten aus der Isolation und überwindet Schranken. ■

Titelthema Grenzen auf. Bleiberecht für alle!

gabe zu helfen. Wir haben dann eine Frist von anderthalb Wochen gesetzt. Wenn die zugewiesenen Mittel nicht ausreichen, um genug Leute anzustellen, dann muss der Betreiber eben Alarm schlagen. Wir helfen gerne bei der Öffentlichkeitsarbeit. Wir haben auch schon Missstände wie die Unterbringung in den Containern an die Öffentlichkeit gebracht. Wir verteidigen zwar die Sammelunterkünfte gegen Angriffe von Nazis, aber eigentlich brauchen die Menschen richtige Wohnungen.

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»Die fortschrittliche Bedeutung der modernen Völkerwanderungen« Die Arbeiterbewegung diskutierte bereits vor hundert Jahren über Einwanderung. Marxistinnen und Marxisten traten damals für offene Grenzen ein. Sie hatten gute Gründe ★ ★★

Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

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Von Volkhard Mosler

igration bis hin zu Wanderungen ganzer Stämme hat es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben. Häufig waren es Naturkatastrophen oder andere natürliche Schranken der Lebensmittelproduktion, die Gruppen von Menschen zwangen, ihre angestammten Lebensräume zu verlassen, in der Hoffnung, in anderen Regionen bessere Überlebenschancen zu finden. Im modernen Kapitalismus sind es Kriege kombiniert mit nationaler, ethnischer und religiöser Unterdrückung und große, anhaltende Wirtschaftskrisen Kapitalismus gewesen, die Menschen in großen Zahlen zur Flucht und Emigration zwangen. Umgekehrt hat der Heißhunger der Kapitalisten nach billiger Lohnarbeit ,dazu geführt, Menschenmassen aus rückständigen Regionen und Ländern in neuen Ballungszentren und Wachstumsregionen anzulocken, oft über Kontinente hinweg.

50 Millionen Menschen haben Europa vor 1914 verlassen

Es gab bedeutende Migrationsschübe über den Atlantik von der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Die ungleichmäßige Entwicklung des Kapitalismus führte zur Verarmung und Vertreibung von Massen von Landarbeitern in Europa, die für das explosive Wachstum des Kapitalismus in Nord-

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und Südamerika gebraucht wurden. Zwischen 1870 und 1914 verließen 50 Millionen Menschen Europa, von denen zwei Drittel in die Vereinigten Staaten auswanderten, die übrigen nach Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika, Argentinien und Brasilien. Mit der Krise des Weltkapitalismus nach dem Ersten Weltkrieg gingen diese Ströme zurück. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg brauchten die entwickelten kapitalistischen Wirtschaften, allen voran in Europa, die Migration und sie warben aktiv Arbeitskräfte an. Während Großbritannien, Frankreich und die Niederlande diese aus ihren alten Kolonien heranzogen, rekrutierten sie andere Staaten aus der südöstlichen Peripherie Europas, der Türkei und Nordafrika. Westdeutschland unterschrieb Vereinbarungen mit Italien (1955 und 1965), Griechenland und Spanien (1964), Marokko (1963), Portugal und der Türkei (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Der Beginn der Rezession im Jahr 1973 markierte das Ende der offensiven Anwerbepolitik und in den 1980er traten europaweit repressive Migrationsgesetze in Kraft. Im Zentrum der Einwanderungspolitik der führenden kapitalistischen Staaten stand dabei immer das Ziel, die Migration zu kontrollieren, um sie für die wirtschaftlichen Interessen des jeweiligen Landes nutzbar zumachen.


eine mächtige Waffe, mit der die herrschende Klasse in der modernen kapitalistischen Gesellschaft versucht, Migration für ihre Interessen zu steuern. Auch die Debatte, wie die Linke mit dem Thema Migration umgehen soll, ist nicht neu. Bereits 1913 schrieb der russische Revolutionär und Marxist Wladimir I. Lenin einen kleinen Aufsatz zum Thema »Arbeitsmigration und Kapitalismus«. Darin heißt es: »Der Kapitalismus hat eine besondere Art der Völkerwanderung entwickelt (...) Es besteht kein Zweifel, dass nur äußerstes Elend die Menschen veranlasst, ihre Heimat zu verlassen, und dass die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenloser Weise ausbeuten.« Lenin sah darin auch „ die Chance des internationalen Klassenkampfes, der internationalen Verbrüderung und Durchmischung von Ethnien unterschiedlicher Herkunft und Tradition: » ... nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen.« Der Kapitalismus selbst sei es, der so dazu beitrage, »die nationalen Schranken und Vorurteile zu durchbrechen«. Als Lenin dies schrieb, konnte er auf eine lange Diskussion in der Arbeiterbewegung seiner Zeit zurückgreifen. Auf den Kongressen der II. Internationale hatten sich in Amsterdam (1904) und in Stuttgart (1907) ein linker, revolutionärer Standpunkt und ein

Wandgemälde des mexikanischen Künstlers Diego Rivera im »Detroit Institute of Arts« aus dem Jahr 1933: Der multiethnische Charakter der Arbeiterschaft der Ford-Werke war ein wichtiger Aspekt in der Kunst Riveras während seiner Schaffensphase in der amerikanischen Metropole. Für den Marxisten bedeutete das Zusammenkommen von Menschen unterschiedlichster Herkunft in den modernen Fabriken auch die Möglichkeit des gemeinsamen Kampfes

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© Diego Rivera: The Detroit Industry Murals / wikimedia

Deutschland war, mit den USA, Vorreiter in der Entwicklung solcher Kontrollen. Im deutschen Kaiserreich wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg ein repressives System der Einwanderungskontrolle eingeführt: Das »Modell Saisonarbeit«. In seinem Buch »Normalfall Migration« schreibt der Autor Klaus J. Bade: »Es ging darum, den nötigen Arbeitskräftezustrom aus dem östlichen Ausland nicht zur Einwanderung geraten zu lassen, sondern in den Bahnen transnationaler Saisonwanderung zu halten und dabei insbesondere die Auslandspolen scharf zu überwachen.« Ergebnis war das seit Anfang der 1890er-Jahre in Preußen entwickelte und 1907 abgeschlossene System der restriktiven Ausländerkontrolle mit dem »Legitimationszwang« und dem »Rückkehrzwang« in der winterlichen »Karenzzeit«. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutete es, dass sie als ausländische Arbeitskräfte eine »Legitimationskarte« besitzen mussten. Diese waren auf ein Jahr befristet und galten nur für einen Arbeitgeber. Wurden Beschäftigte »kontraktbrüchig«, drohte den Menschen die Ausweisung und der Eintrag in eine Fahndungsliste. Diese Politik entsprach dem saisonalen Arbeitskräftebedarf der Gutsherren und wurde auch mit Polizeigewalt durchgesetzt: 1906 blieben nur 7 Prozent der Beschäftigten ganzjährig in Preußen. Der Kern des preußischen Modells war das »Rotationsprinzip«. In dem Buch »Die ungewollte Einwanderung. Rotationsprinzip und Rückkehrerwartung in der deutschen Ausländerpolitik« beschreibt Cord Pagenstecher, das Ziel dahinter: »Es [Das Rotationsprinzip] beruht auf der Annahme, dass zwar die Anwesenheit einer 'industriellen Reservearmee' zeitweise nötig ist, diese aber aus immer wieder neu rotierenden 'Gastarbeitern' bestehen kann; die einzelnen Zugewanderten sind auf ihren Arbeitsplätzen ersetzbar. Je nach Konjunktur kann das Aufnahmeland ihre Zahl beliebig vergrößern oder verkleinern und verfügt damit über einen flexiblen Konjunkturpuffer. Zudem immigrieren immer nur Arbeitskräfte ohne ihre Familien; diese – und mit ihnen die direkten und indirekten Reproduktionskosten – verbleiben im Herkunftsland.« Dieses Prinzip liegt den meisten Einwanderungskontrollen zugrunde. In Westdeutschland setzte es die Bundesregierung, während der Anwerbung von »Gastarbeitern« in den 1950er und 1960er Jahren um. In dieser Zeit reisten 14 Millionen Menschen nach Westdeutschland ein und 11 Millionen im Sinne des ursprünglich angestrebten Rotationsmodells wieder aus. Auch heute zielt die Einwanderungspolitik im Kern darauf ab, den Arbeitskräftemangel bestimmter Industriezweige ausgleichen zu können und damit auch die Ausbeutung von billiger Arbeit zu erleichtern. Einwanderungskontrollen sind also nicht nur dafür eingeführt worden, um Migranten und Flüchtlinge abzuweisen. Sie sind auch

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rechter, reformistischer Standpunkt in der Frage von Einwanderungsbeschränkungen gegenübergestanden. Der rechte Flügel trat für eine Begrenzung der Zuwanderung aus ökonomisch rückständigen Ländern und Kulturen ein. Er begründete dies im Namen der Verteidigung des »Fortschritts« und des erreichten Lebensstandards der Arbeiter der fortgeschritteneren Industrieländern. Auf dem Amsterdamer Kongress wurde eine Entscheidung vertagt, der Stuttgarter Kongress entschied drei Jahre später klar für eine Politik der offenen Grenzen und gegen jede Beschränkung der Freizügigkeit, indem er sich gegen »die Ausschließung bestimmter Nationen und Rassen von der Einwanderung« wandte. Zugleich wurde die »Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen oder sie ihnen erschweren,« gefordert. Die deutsche Marxistin Clara Zetkin schrieb über die Beschlüsse von Stuttgart: »Der Kongress hat hier, im Sinne und Geiste der deutschen Gewerkschaften und ihrer Praxis entsprechend, die Solidarität der Klasse als eines großen Weltbundes des Proletariats aller Rassen und Nationen hochgehalten...«. Karl Liebknecht, der damals als sozialdemokratischer Abgeordneter des preußischen Landtages und als Rechtsanwalt häufig mit dem Ausländerrecht zu tun hatte, überschrieb seinen Rückblick auf den Kongress mit: »Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung!« »Die völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in Bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande« sei »die erste Voraussetzung dafür, dass die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein.« Die Beschäftigung mit der sogenannten „Wanderungsfrage“ sei »ein Ruhmesblatt für den Internationalen Kongress.« In der theoretischen Zeitschrift der SPD »Die Neue Zeit« hieß es in einem Grundsatzartikel zur Frage von Einwanderungskontrollen: »Durch Solidarität, durch Unterstützung der Zurückgebliebenen, nicht durch Exklusivität, durch Abschließung und Niederhaltung dieser kann ein vorgeschrittenes Proletariat sich behaupten. Wo es unter dem Einfluss kurzsichtiger Zünftlerei der letztern Methode verfällt, macht sie früher oder später bankrott und wird sie von vorneherein eines der verderblichsten Mittel zur Lähmung des proletarischen Emanzipationskampfes.« Umgekehrt kritisierten die Vertreter des rechten Flügels den Beschluss von Stuttgart. Beide Richtungen

gingen von der Gefahr aus, dass Einwanderung von den Kapitalisten dafür missbraucht wird, einmal erkämpfte soziale Standards zu unterlaufen. Aber der linke, marxistische Flügel lehnte es ab, diese Gefahr mit Hilfe von Polizei und Justiz zu bekämpfen, weil er sich darüber im Klaren war, dass diese für die Arbeiterklasse keine Bündnispartner im sozialen Befreiungskampf sind. Sie schlugen stattdessen eine gesetzliche, für alle Beschäftigten verbindliche Verkürzung des Arbeitstages, Einführung von Mindestlöhnen, strenge Aufsicht über die Wohnverhältnisse und die »weitestgehende Erleichterung der Naturalisation« (Einbürgerung) vor. Außerdem sollten die »Gewerkschaften aller Länder« den einwandernden Arbeitern den Eintritt erleichtern. Mit dem endgültigen Sieg des rechten Flügels in der SPD 1914 gerieten die Beschlüsse von 1907 rasch in der Versenkung. In einem Aufsatz »Die Einwanderung Ausländischer Arbeiter und die Gewerkschaften« schrieb August Ellinger in den »Sozialistischen Monatsheften« 1917: »Die deutschen Gewerkschaften müssen (...) die Arbeitereinwanderung auf Grund der vorhandenen Bedürfnisse verlangen.« Das entspräche zwar nicht der »Stuttgarter Resolution, aber es entspräche »dem was nach Lage der Verhältnisse notwendig ist«. Durch die »schrankenlose Einfuhr ausländischer Arbeitskräfte« werde die Arbeitslosigkeit im Land vermehrt. An die Stelle des Kampfs um die gesetzliche Arbeitszeitverkürzung tritt die Forderung nach kontrollierter Einwanderung nach »Bedarf«, an die Stelle der Internationalismus tritt ein engstirniger, »zünftlerischer« Nationalismus.

Begrenzung der Migration nutzt dem Kapital

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Dies zeigte sich überdeutlich auf dem ersten großen »Weltwanderungskongress« in London 1926, zu dem sowohl der Internationale Gewerkschaftsbund wie auch die 1923 wieder gegründete Sozialistische Arbeiterinternationale (SAI) aufgerufen hatten. In einem Bericht heißt es: „In der Frage der Freizügigkeit war eine einheitliche Auffassung nicht zu erzielen. Die nordamerikanischen Gewerkschaften hätten erst gar keine Vertreter geschickt. Die Arbeiterschaft von Ländern mit einem höheren Lebensstandard fühlten sich bedroht durch den »Zustrom kulturell tiefer stehender Rassen und Massen.« Insofern ist es nicht verwunderlich, dass der Kongress sich darauf beschränkte, »das zur Verhandlung stehende Problem nach allen Seiten hin zu beleuchten.« Die neuere Geschichte Deutschlands zeigte vor allem nach 1945, dass es keine natürliche »Aufnahmefähigkeit« einer Gesellschaft gibt. Vielmehr war die Bereitschaft Einwanderer aufzunehmen, immer


SPD und Gewerkschaften haben nie wieder zum Internationalismus des Stuttgarter Kongresses von 1907 zurückgefunden. Gleichwohl wurden die Gewerkschaften zum Sammelpunkt von Arbeitern zahlreicher Nationalitäten. In den Jahrzehnten des »Wirtschaftswunders« der Nachkriegszeit hat der DGB bei den Verhandlungen über die Anwerbeabkommen durchgesetzt, dass die »Gastarbeiter« nach dem Inlandsrecht Sozialleistungen beziehen. Die diskriminierenden Bestimmungen des Ausländerrechts und des Arbeitsförderungsgesetzes haben sie jedoch nicht angefochten. Migranten wurden

wie Frauen häufig schlechter entlohnt, machten die »Drecksarbeit« und erhielten erst nach zehnjährigem Aufenthalt ein uneingeschränktes Bleiberecht. Als es 1973 zu einer Welle von spontanen Streiks von angelernten und ungelernten Arbeitern kam, in denen Migrantinnen und Migranten eine führende Rolle spielten, verhängte die SPD-FDP-Regierung unter dem Vorwand einer möglichen Krise einen allgemeinen Anwerbestopp für ausländischen Arbeitskräfte. Die Streikwelle vom Sommer 1973 hatte gezeigt, dass die ausländischen Arbeiter nicht mehr bereit waren, sich schrankenlos ausbeuten zu lassen. Die Gewerkschaften haben damals den Anwerbestopp unterstützt. Eugen Loderer, der damalige IGMetall-Vorsitzende, hielt »den Anwerbestopp für sinnvoll zum Schutz der deutschen und ausländischen Arbeitnehmer.« In Wirklichkeit diente er lediglich dazu, die Angst unter den ausländischen Arbeitern zu schüren, um ihren aufkeimenden Kampfeswillen ab zu töten. Denn die Angst vor der jederzeitigen Ausweisung wurde umso größer, da eine Rückkehr nach Westdeutschland nicht mehr möglich war. Der Anwerbestopp hatte auch den paradoxen Effekt, dass bei der Krise 1974/75 die meisten arbeitslosen Ausländer in Deutschland blieben, weil sie befürchten mussten, dass sie aufgrund des Aufnahmestopps keine Arbeitserlaubnis mehr erhalten würden, wenn sie nach vorübergehender Abwanderung wieder zurückkehren wollten. Ein Jahr später verhängte die Bundesregierung für zahlreiche Kreise und Stadtgebiete mit hohem Ausländeranteil eine Zuzugs- und Umzugssperre für ausländische Arbeiter. 1975 wurde Ausländern, deren Kinder im Heimatland lebten, das Kindergeld drastisch gekürzt. Es kam in mehreren Städten zu Demonstrationen, auch diese wurden vom DGB nicht unterstützt. Die Kohl-Regierung (CDU/CSU-FDP) von 1982 konnte nahtlos an der ausländerfeindlichen Politik der SPD-FDP-Regierung ansetzen. Mit dem Rückkehrprämiengesetz 1983 erpresste sie hunderttausende türkische Arbeiterinnen und Arbeiter, »freiwillig« in das Heimatland zurückzukehren. Deutsche Betriebsräte wirkten auf die ausländischen Kollegen ein, diese Abfindungsprämie anzunehmen. Die Geschichte der Einwanderungspolitik nach 1945 zeigt, dass Einwanderungsbeschränkung durch das Ausländerrecht und das Arbeitsrecht im Wesentlichen dazu gedient haben, deutsche und ausländische Lohnabhängige gegeneinander auszuspielen, um beide Gruppen besser ausbeuten zu können. Deshalb sollten sich Linke heute im Sinne des Stuttgarter Sozialistenkongresses von 1907 für eine vollständige Bewegungsfreiheit der Arbeiterklasse einsetzen und mit Karl Liebknecht sagen: »Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung!« ■

TITELTHEMA Grenzen auf. Bleiberecht für alle!

stark davon abhängig, ob Politiker und Medien gesagt haben, dass die Einwanderung erwünscht sei oder nicht. Bei Kriegsende 1945 kamen Menschen aus den bisherigen deutschen Ostgebieten und aus Rumänien, Jugoslawien und der Tschechoslowakei als Vertriebene in die vier Besatzungszonen. Bei der ersten Volkszählung nach dem Krieg (1946) wurden 9,7 Millionen Flüchtlinge im verkleinerten und stark zerstörten Deutschland gezählt. Bei einer Gesamtbevölkerung von 65,9 Millionen waren das 15 Prozent. Dazu kamen noch einmal über 5 Millionen »Evakuierte«, die noch während des Krieges ihre Wohnungen verloren hatten. Im späteren Westdeutschland waren 1945 41 Prozent aller Wohnungen zerstört. Die Flüchtlinge und die Ausgebombten wurden »einquartiert«, leerstehender Wohnraum wurde bis in die letzte Kammer genutzt, Notbaracken wurden gebaut. Es gab große Spannungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Neid und Missgunst beherrschte die Stimmung unter den «Alt-Bewohnern«. Aber Medien und Politische Parteien und auch die Militärbehörden haben diesen Spannungen damals geschlossen entgegengewirkt. Ein anderes Beispiel sind die »Aussiedler«: Einwanderer deutscher Abstammung aus der Sowjetunion, Kasachstan und Polen. In den 80er und 90er Jahren stieg ihre Zahl stark an. Sie betrug in den 5 Jahren von 1988 bis 1992 1,5 Millionen und lag damit höher als die Zahl der Asylsuchenden (1,2 Millionen) im gleichen Zeitraum. Sie wurden im Vergleich zu Asylsuchenden bevorzugt behandelt und erhielten Erstausstattungen, Eingliederungshilfen, Bildungsund Sprachangebote. Ein drittes Beispiel sind die Flüchtlinge aus der ehemaligen DDR. Nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze 1989 und der Vereinigung 1990 kam es zu einer drastischen Ost-Westwanderung. Über 3 Millionen ehemalige Bewohner der DDR siedelten über in die »alten« Bundesländer. Auch dieser innere Migrationsprozess verlief weitgehend spannungsfrei. »Das Boot« war immer nur dann »voll«, wenn es sich um Flüchtlinge und Migranten aus anderen »Kulturkreisen« handelte. Hier zeigt sich der nationalistische Charakter der deutschen Einwanderungspolitik.

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TITELTHEMA

Ein vorgeschobenes Argument Zu den Hauptursachen für die Massenflucht nach Europa gehören die Bürgerkriege in Syrien und im Irak. Doch die militärische Intervention der USgeführten Allianz ist keine Lösung, sondern Teil des Problems Von Christine Buchholz und Frank Renken ★ ★★

Christine Buchholz ist verteidigungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE und Mitglied des Verteidigungsausschusses im Bundestag.

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Frank Renken ist Mitglied im Ortsvorstand der LINKEN in Berlin-Friedrichshagen. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag.

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und die Hälfte der Menschen, die in diesem Jahr nach West- und Nordeuropa fliehen, stammt aus Syrien. Das nutzen die Regierungen Frankreichs und Russlands aus, um nach den USA nun ihrerseits Truppen und Kampfflugzeuge zu schicken. Sie geben vor, dass die Beteiligung am Bombenkrieg gegen den »Islamischen Staat« (IS) helfen würde, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Das ist ein vorgeschobenes Argument. Der IS ist eine Terrororganisation, vor der Menschen innerhalb Syriens fliehen. Er ist aber nicht die Hauptursache für die derzeitige Fluchtbewegung von Syrerinnen und Syrern nach Europa. Die Flucht auf der Route über die Türkei, Griechenland und den Balkan hat eingesetzt, nachdem der IS in Nordsyrien bereits zurückgedrängt wurde. Der IS kontrolliert keinen Grenzübergang zur Türkei mehr, seit die kurdischen Volksverteidigungseinheiten im Sommer Tall Abyad eroberten und weit nach Süden vorstoßen konnten.

9000 Schulen zerstört. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist völlig unterfinanziert. Von den gut acht Milliarden Dollar, die es für die Notversorgung der syrischen Flüchtlinge in Libanon, Jordanien, Türkei und Nordirak veranschlagt, standen im Sommer 2015 nicht einmal ein Drittel durch die so genannte internationale Gemeinschaft bereit. Würden die Milliarden, die das US-amerikanische Militär und andere in die Kriege im Mittleren Osten gesteckt haben, den Menschen über Einrichtungen wie das UNHCR zugutekommen, dann würde das viel Leid lindern. Die großen Lager sind entstanden, nachdem die syrische Armee im Sommer 2012 dazu überging, verloren gegangene Städte und Gemeinden systematisch aus der Luft zu bombardieren. Dieses Bombardement hält bis heute an und ist für einen Großteil der rund 250.000 Toten verantwortlich. Hinzu kommt, dass das syrische Regime und seine Verbündeten Orte wie das Palästinenserlager Jarmuk über Monate aushungerten und austrockneten. Sobald es ihnen möglich war, flohen die Menschen aus diesen Orten, so dass in den umkämpften Gebieten viele Stadtteile zu Geisterstädten mutierten.

Der Bürgerkrieg kann nicht von außen beendet werden

Die unmittelbare Ursache für die Fluchtbewegung nach Europa über die Balkanroute ist die Hoffnungslosigkeit, die sich in den Flüchtlingslagern in Syrien und in seinen Nachbarländern breitgemacht hat. Es gibt mittlerweile rund 12 Millionen syrische Flüchtlinge, davon sitzen knapp 5 Millionen in den Anrainerstaaten fest. Ursprünglich hatten sie gehofft, bald nach Syrien zurückzukehren. Aber der sich hinziehende Krieg ohne Aussicht auf ein Ende treibt nun Hunderttausende weiter. Viele entschließen sich zur Fortsetzung der Flucht nach Europa, um ihren Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Laut Kinderhilfswerk UNICEF wurden in Syrien etwa

Ungeachtet der Intervention ausländischer Mächte in den Konflikt handelt es sich bei dem Krieg in Syrien um einen echten Bürgerkrieg, der nicht durch Großmächte am grünen Tisch über die Köpfe der Bevölkerung hinweg geregelt werden kann. Assads Regime hat Syrien in den Abgrund gerissen. Eine tragfähige Lösung ist nicht mit dem Regime denkbar. Eine von außen aufgezwungene Lösung, die das Regime stabilisiert, wird nur weiteren Widerstand


Der syrische Diktator Assad stand in den Jahren 2011 und 2012 vor dem Sturz durch eine revolutionäre Massenbewegung. Die Repression des Regimes und die Intervention der Regionalmächte, allen voran der Golfstaaten und des Irans, haben die revolutionäre Bewegung abwürgen können. Ungeachtet dessen gibt es immer noch Menschen und Aktionen in Syrien und Irak, die die herrschende Ordnung und den Hass zwischen den Glaubensgemeinschaften in Frage stellen. So kam es im Sommer 2015 im Irak ausgehend von Basra zu einer Massenbewegung, die alle größeren Orte in dem von der Zentralregierung kontrollierten Gebiet erfasste, auch Bagdad. Letztlich kann nur eine Wiederbelebung der demokratischen Massenbewegungen in der Region eine Perspektive für Frieden und soziale Gerechtigkeit bieten. ■

Oben: Ein Soldat montiert auf dem Flugzeugträger USS George H. W. Bush lasergelenkte Bomben für den Einsatz in Syrien und Irak. Unten: Ein Poster mit dem Emblem des Islamischen Staats ziert eine Hauswand in Syrien. Die schwarze Flagge ist zu einem angsteinflößenden Symbol geworden

TITELTHEMA Grenzen auf. Bleiberecht für alle!

terstützung der Zentralregierung in Bagdad selbst. Die Bundesregierung versucht in den Konflikten des Mittleren Osten sicherzustellen, dass Deutschland zugleich als Waffenexporteur profitiert, seine militärische Interventionsfähigkeit erweitert und durch diplomatische Initiativen führend tätig ist. Alle drei Bereiche stehen nicht in einem Widerspruch zueinander, sondern dienen dem Bestreben, im Windschatten der USA zu globaler Geltung zu gelangen.

© wikimedia

Der IS stammt nicht aus Syrien, sondern aus dem benachbarten Irak. Er ist ein Produkt der US-Invasion von 2003. Die US-Besatzer und ihre britischen Verbündeten haben Gegner verschleppt und gefoltert. Sie haben im Irak ein politisches System entlang ethnisch-konfessioneller Linien etabliert. Die korrupte schiitische Elite um Ministerpräsident Maliki grenzte Sunniten systematisch aus und festigte ihre Herrschaft mit Methoden, die jenen des gestürzten Saddam-Regimes nicht nachstanden. In diesem Klima gelang es dem Vorläufer von IS, »Al-Qaida im Irak«, den Krieg gegen die Besatzer zu einem Krieg gegen alle Schiiten zu machen. Die seit einem Jahr von den USA angeführte Kriegsallianz gegen den IS, an der sich auch Deutschland beteiligt, nährt diese Politik der Abschottung und des Hasses zwischen Sunniten und Schiiten. Sie stützt mit Luftbombardements das irakische Regime von Haidar al-Abadi, der sich nur durch den Einsatz schiitischer Milizen halten kann. Die Befreiung von Ortschaften vom IS endete in ethnischen Säuberungen durch diese schiitischen Milizen, in Enthauptungen sunnitischer Bauern, in Plünderungen und Niederbrennen. Die Fortsetzung des sogenannten Anti-Terror-Kriegs facht den Terror an und stärkt auf beiden Seiten jene Kräfte, die den blinden Hass gegen andere Glaubensrichtungen schüren. Die Bundesregierung unterstützt die von den USA geführte Kriegskoalition. Sie hat tonnenweise Waffen an die korrupte kurdische Regionalregierung im Irak und deren bewaffnete Kräfte, die Peschmerga, geliefert. Nun spricht Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen von einer verstärkten Un-

© U.S. Department of Defense Current Photos / CC BY-NC-ND / flickr.com

hervorrufen, aber auch Terrorakte gegen diese äußeren Mächte. Seit einem Jahr kommen zu den Bomben des Regimes Assad auch US-geflogene Angriffe hinzu. Dieses Luftbombardement ist einzig dazu geeignet, die Fluchtbewegung zu verstärken, da mit jeder Bombe Menschen getötet und Infrastruktur zerstört wird. Nach einem Angriff am 30. April 2015 auf das syrische Dorf Bir Mahli räumte das Pentagon offiziell ein, zwei Zivilisten getötet zu haben. Eine Menschenrechtsgruppe zählte 64 Opfer. Das ist einer der wenigen Fälle, die in der amerikanischen Fachpresse bekannt wurden. In den deutschen Medien wird noch nicht einmal die Frage nach möglichen zivilen Opfern gestellt. Die Vorstellung, dass Angriffe aus der Luft den Widerstand dschihadistischer Gruppen brechen könnten, wird nicht nur durch das einjährige Bombardement in Syrien und Irak widerlegt. Dagegen sprechen auch alle Erfahrungen des Kriegs in Afghanistan. Nach dem offiziellen Abzug der westlichen Kampftruppen sind die Taliban stärker denn je, ohne dass sich die soziale Lage für die Mehrheit der Menschen verbessert hätte, und ohne dass elementare demokratische Rechte garantiert wären.

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Geschichte hinter dem Song

Advanced Chemistry »Fremd im eigenen Land«

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m Herbst 1992 wird die Heidelberger HipHop-Crew Advanced Chemistry deutschlandweit bekannt. Kurz nach den rassistischen Pogromen in Rostock-Lichtenhagen veröffentlichen sie ihre Single »Fremd im eigenen Land«. Die Mischung aus offensiver, wütender persönlicher Erzählung und radikaler politischer Stellungnahme gegen die herrschenden rassistischen Zustände trifft einen Nerv und der Song wird zum Geburtshelfer für Rap in deutscher Sprache. Zu Beginn der 1990er Jahre steckt die konservative Regierung unter Kanzler Helmut Kohl in einer tiefen Krise. Hunderttausende in Ostdeutschland werden durch die Politik der Privatisierung in die Armut getrieben. Von dem CDU-Wahlkampfversprechen der »Blühenden Landschaften« bleiben nur industrielle Ruinen. Im Jahr 1992 sind erstmals in der Nachkriegsgeschichte mehr als drei Millionen Menschen ohne Arbeit. Die Kosten der Wiedervereinigung werden auf die Bevölkerung in Ost und West abgewälzt. Um von ihrer unpopulären neoliberalen Politik abzulenken, initiiert die Regierung Kohl eine rassistische Kampagne gegen Flüchtlinge. Am 16. August 1991 schreibt die »Wirtschaftswoche«: »So konnte es wirklich nicht mehr weitergehen: Alle Welt redete nur noch von Inflation und Rezession, höheren Steuern (...) Die Wähler wandten sich in Scharen der Opposition zu (...) Es musste etwas geschehen (...) Und es geschah: Bundesinnenminister Schäuble schob ein neues Thema ins Rampenlicht der Öffentlichkeit: Die Asylantenfrage«. Im Fadenkreuz der Christdemokraten befindet sich Artikel 16 des Grundgesetzes. Ihr Ziel: die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Unterstützt von den Medien sprechen Unions-Politiker vom »offenkundigen Asylmissbrauch« und fordern »entschlossene Maßnahmen gegen den Zustrom von

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Von Yaak Pabst

Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlingen«. Springers »Bild« titelt am 2. April 1992 unter der Dachzeile »Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?«, in fetten Lettern: »Fast jede Minute ein neuer Asylant«. Kanzler Kohl will wegen der angeblich steigenden Zahl von Asylbewerbern sogar den »Staatsnotstand« ausrufen. Auch prominente SPD-Vertreter wie der nordrhein-westfälische SPD-Fraktionschef Friedhelm Farthmann hetzen mit: »Gegebenenfalls Überprüfung nur durch einen Einzelrichter, am besten an Ort und Stelle, dann an Kopf und Kragen packen und raus damit.«

eingeschlossen sind. Nur weil die Eingesperrten sich selbst befreien können, wird niemand getötet. Die Polizei, die Stadt, das Land und die Bundesregierung überlassen den Neonazis das Feld – nicht nur in Rostock. Allein im Jahr 1992 werden 2639 gewalttätige Übergriffe von Faschisten registriert. Zwei Jahre zuvor waren es gerade einmal 309. Nur zwei Monate nach den Krawallen in Rostock verüben Neonazis einem Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln. Dabei verbrennen ein zehn- und ein vierzehnjähriges Mädchen sowie ihre Großmutter. Nazis töten in dem Jahr insgesamt 27 Menschen – so viele wie nie zuvor. Dass in diesem Klima auch die SPD ihre ursprüngliche Position der strikten Ablehnung einer Asylrechtsänderung über Bord wirft, hinterlässt nicht nur unter Migranten ein Gefühl der Ohnmacht. Obwohl 200.000 Menschen unmittelbar vor dem SPD-Sonderparteitag im November 1992 gegen die Zustimmung zum Asylkompromiss demonstrieren, setzt sich der rechte Parteiflügel durch. Am 6. Dezember 1992 beschließt der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von CDU, FDP und SPD die Abschaffung des individuellen Grundrechts auf Asyl.

Die von oben dirigierte »Asylflut«- Kampagne ermutigt die Nazis, in die Offensive zu gehen. In Rostock-Lichtenhagen kommt es im August 1992 zu den schwersten rassistischen Ausschreitungen seit Bestehen der Bundesrepublik. Über mehrere Tage greifen hunderte Neonazis die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern an. Sie grölen, sie prügeln, sie zündeln: »Jetzt werdet ihr geröstet«, »Ausländer raus«, »Sieg Heil« und »Wir kriegen euch alle«. Unter dem Beifall von 2000 Anwohnern steckt der Mob ein Hochhaus in Brand, in dem 100 Vietnamesen und einige Deutsche

Der Song »Fremd im eigenen Land« ist eine Kampfansage gegen diese rassistischen Zustände. Torch, einer der Rapper der Band »Advanced Chemistry«, ist damals 21 Jahre alt. Rückblickend erzählt er: »Noch während wir im Studio waren, gab es die rassistisch motivierten Anschläge in Rostock. Daraufhin haben wir im Studio den Nachrichtensprecher live aufgenommen und als Intro eingebaut.« Den Text hatte die Band schon zwei Jahre zuvor geschrieben. Im Fokus stehen Erfahrungen einer ganzen Generation von Migrantenkindern: Rassismus, Polizeibrutalität, Armut, Arbeitslosigkeit, die Einseitigkeit der

Die von oben dirigierte »Asylflut«Kampagne ermutigt die Nazis, in die Offensive zu gehen


Vorstadttreffs. Der Mitmach-Charakter dieser multiethnischen Subkultur zieht besonders die Kinder aus Einwandererfamilien an. Neben Advanced Chemistry sind es Bands wie Fresh Family, Microphone Mafia oder die Rapperin Cora E, die die Szene mitprägen. Durch die Veranstaltungen bilden sich Netzwerke, die Community wächst. Doch zuerst wird fast nur in englischer Sprache und über die Beats der Vorbilder aus den USA gerappt. Advanced Chemistry brechen das Tabu, als Rapper Torch beginnt, während der Jams auf Deutsch zu freestylen. Das Publikum ist begeistert und schnell spricht sich der Name der Band innerhalb der Szene herum. Doch den ersten Charterfolg mit Rap in deutscher Sprache landen im Sommer 1992 Die Fantastischen Vier mit ihrem Party-Song »Die Da!«. Obwohl ihnen der Rückhalt innerhalb der Szene fehlt, bekommt die Band einen Major-Plattenvertrag. Die Pioniere der Vorstädte sehen sich ihrer Musikkultur beraubt. Im Gegensatz zu den unpolitischen Stuttgarter Spaßrappern ist der Song »Fremd im eigen Land« kein netter Radiosong. Torch erinnert sich: »Der Song war wirklich polarisierend. Aber den Leuten hat das alles aus der Seele gesprochen, sie sind scheinbar so sehr auf den Text angesprungen, dass sie überall bei den Radiosendern angerufen und das Teil in die Hörercharts gewählt haben.«

Medien. Die fünf Gründungsmitglieder von Advanced Chemistry wissen, wovon sie sprechen. Torch (Frederik Hahn), Toni L. (Toni Landomini), Linguist (Kofi Yakpo), Gee-One (Gonzales Maldonado) und DJ Mike MD (Michael Jean Pierre Dippon) sind fast alle Kinder von Migranten. In ihrem Song schlagen sie zurück: »Ich habe einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf, / doch mit italienischer Abstammung wuchs ich hier auf. / Somit nahm ich Spott in Kauf / in dem meinigen bisherigen Lebensablauf. / Politiker und Medien berichten, ob früh oder spät / von einer ›überschrittenen Aufnahmekapazität‹. / Es wird einem erklärt, der Kopf wird

einem verdreht, / dass man durch Ausländer in eine Bedrohung gerät (…) / Kaum einer ist da, der überlegt, auf das Wissen Wert legt, / warum es diesem Land so gut geht, / das der Gastarbeiter seit den 50ern unentwegt / zum Wirtschaftsaufbau, der sich blühend bewegt, / mit Nutzen beitrug und noch beiträgt, / mit einer schwachen Position in der Gesellschaft lebt, / in Krisenzeiten die Sündenbockrolle belegt (...) / Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land / Kein Ausländer und doch ein Fremder.« Advanced Chemistry gründen sich 1987 in Heidelberg. Gemeinsam mit anderen HipHop-Begeisterten treffen sie sich bei Hip-Hop-Jams in den Jugendzentren und

★ ★★ Yaak Pabst ist Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.

GESCHICHTE HINTER DEM SONG

Eine Momentaufnahme des massivsten ausländerfeindlichen Übergriffs der Nachkriegsgeschichte zeigt das abscheuliche Gesicht des Pogroms: Harald Ewert steht volluriniert vor dem Rostocker Sonnenblumenhaus und hebt den Arm zum Hitlergruß

Mit dem Lied inspiriert Advanced Chemistry eine neue Generation von Rappern, die Rap auf Deutsch als die Stimme der Stimmlosen weiterentwickeln. Deutlichstes und spektakulärstes Beispiel für diese Entwicklung ist der Zusammenschluss von heute 90 Künstlerinnen und Künstlern in den Projekten Brothers Keepers (BK) und Sisters Keepers (SK). Anlässlich der Ermordung des Mosambikaners Alberto Adriano durch Nazis im Jahr 2000 veröffentlichen sie die Single »Adriano (Letzte Warnung)«, die auf Platz 4 der Charts klettert. Im Refrain heißt es: »Und was wir reichen sind geballte Fäuste und keine Hände / Euer Niedergang für immer.«

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WELTWEITER WIDERSTAND

© Roel Wijnants / CC BY-NC / flickr.com

Israel

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Ende Mai finden sich in Jerusalem etwa tausend Protestierende – darunter vor allem junge, spärlich bekleidete Frauen – zum sogenannten »Slutwalk« durch die heilige Stadt zusammen. Ziel der aus Kanada kommenden Bewegung ist es, ein Zeichen gegen eine weltweite »Rape culture« und im Speziellen das »victim blaming« zu setzen – die Argumentation, Frauen trügen durch aufreizende Kleidung und Verhalten eine Mitschuld an Vergewaltigungen. Über eine besondere Frauenfeindlichkeit in Israel herrscht unter den Teilnehmerinnen Uneinigkeit. Im August fand in Tel Aviv ein weiterer »Slutwalk« statt.


IndIen

Ein klares Signal Die indische Regierung greift die Gewerkschaften an – diese reagieren mit einem der größten Generalstreiks der Geschichte Von Jules Jamal El Khatib

Brasilien

öffentlichen Verkehrssystems. Unterstützung erhalten sie hierfür und auch für den Generalstreik von der größten linken Partei, der CPI (Kommunistische Partei Indiens). Deren Generalsekretär Sudhakar Redd erklärte: »Der Streik war ein großer Erfolg und mobilisierte deutlich mehr als erhofft. Es war eine der größten Aktionen der Arbeiterklasse und ist ein starkes Signal gegen die arbeiterfeindlichen Gesetze der indischen Regierung.« Infolge des Streiks standen in vielen Bundesländern Busse, Eisbahn und Häfen still, wie auch Nähereien und kleine Zulieferunternehmen. Dass der Ausstand starke wirtschaftliche Folgen hatte, verdeutlicht ein Statement des Arbeitgeberverband Indiens Assocham: »Der Streik der Gewerkschaften verursachte 250.000 Millionen Rand (ungefähr 3,7 Milliaren US-Dollar) Verlust.« Die Gewerkschaften haben damit ein klares Signal gegen die Kürzungspolitik gesetzt. Ob ein eintätiger Generalstreik allerdings ausreicht, um die Regierung von ihrer arbeitnehmerfeindlichen Politik abzubringen, darf bezweifelt werden.

150 Millionen streiken gegen Privatisierung

★ ★★ Jules Jamal El Khatib ist Mitbegründer des Internetportals »Die Freiheitsliebe« und Mitglied des nordrhein-westfälischen Landesverbandes der Partei DIE LINKE.

Im südbrasilianischen São Bernardo de Campo wehrte sich Ende August die gesamte Belegschaft gegen den Autohersteller Daimler. Dieser hatte vorgesehen, 1500 Mitarbeiter zu entlassen – die Arbeiter antworteten mit Streik und Demonstrationen mit teilweise 10.000 Teilnehmenden und zwangen den Konzern so zu einem Kompromiss. Inspiriert hierdurch sind Ford-Beschäftigte im selben Ort nun ebenfalls gegen Entlassungen in den Streik getreten.

Malaysia Unter dem Namen »Bersih« (Malaiisch für »sauber«) sind Ende August zum vierten Mal NGOs und Oppositionsparteien auf die Straße gegangen, um für »saubere« Wahlen, sowie den Rücktritt des derzeit mit Korruptionsvorwürfen belasteten Premierministers Najib Razak zu demonstrieren. Laut Veranstalter beteiligten sich insgesamt 500.000 Personen, fast alle von ihnen in den inzwischen zum Markenzeichen gewordenen gelben T-Shirts.

Japan

Nie wieder Krieg! In Dublin, Cork, Letterkenny und weiteren Städten Irlands taten sich insgesamt 40.000 Menschen zusammen, um gegen eine geplante Steuer auf den privaten Wasserverbrauch zu demonstrieren. Eine vierköpfige Familie müsste bis zu 260 Euro mehr im Jahr zahlen. Die Steuer wurde bereits zweimal eingeführt – und nach Protesten wieder abgeschafft. Der neuste Versuch gehört zu den Sparmaßnahmen, die der IWF als Gegenzug für seine Rettungskredite fordert.

Weltweiter Widerstand

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ehn indische Gewerkschaftsdachverbände und ihre Mitgliedsgewerkschaften riefen für den 2. September zu einem Generalstreik auf. Mit 150 Millionen Beteiligen war es einer der größten Generalstreiks in der Geschichte. Die Ursache des Streiks lag in der neoliberalen Politik der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) und ihres Finanzminister Arun Jaitley begründet. Ein Ziel des Streiks war es, Privatisierungen im Eisenbahnsektor und Gesundheitssystem zu verhindern, die die Regierung vereinfachen wollte. Doch der Ausstand war keineswegs nur rein defensiver Natur. Er stellte auch ein Signal für eine deutliche Erhöhung des indischen Mindestlohns auf landesweit einheitlich 15.000 Rupien (ca 230 Euro) dar. Derzeit beträgt dieser 5.000 bis 9000 Rupien, je nach Bundesstaat. Die Regierung hatte eine Erhöhung bisher abgelehnt. Gleichzeitig griff sie die Gewerkschaften an, indem sie die Organisierung in Kleinbetrieben durch eine Erhöhung der Mindestmitgliederzahl für Gewerkschaften erschweren wollte. Die Gewerkschaften wollen diese und weitere Gesetze verhindern. Stattdessen weiteren Privatisierungen fordern sie eine Verbesserungen des staatlichen Gesundheitssystems und einen Ausbau des

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INTERNATIONALES

»Eine Bewegung, um Großbritannien zu verändern« Der Sozialist Jeremy Corbyn ist neuer Vorsitzender der britischen Labour-Partei. Wie das möglich wurde und was es für den Klassenkampf bedeutet, erklärt Pete Green von Left Unity im marx21-Gespräch Interview: Hans Krause Jeremy Corbyn wurde am 12. September zum Vorsitzenden der Labour-Partei gewählt. Was bedeutet das für Großbritannien? Diese Wahl führt zu einer Veränderung der politischen Diskussion von historischer Bedeutung.

PETE GREEN

Warum das? Corbyn ist seit Jahrzehnten ein Sozialist und Basisaktivist. Er ist der am weitesten links stehende Vorsitzende seit Gründung der Partei 1900. Wie konnte Corbyn Vorsitzender werden? Labour hatte letztes Jahr beschlossen, den Vorsitzenden künftig von den Parteimitgliedern wählen zu lassen. Das sollte den Einfluss der Gewerkschaftsmitglieder verringern, die in Großbritannien traditionell über den Labour-Vorsitzenden mitentscheiden und deren Abstimmung bisher zu einem Drittel ins Ergebnis einfloss. Ein weiteres Drittel entstand durch die Abstimmung der Labour-Abgeordneten und nur ein Drittel durch die Abstimmung der Parteimitglieder. Doch dann hat Corbyn kandidiert … Ja. Er ist seit 1983 Abgeordneter und ex-

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Pete Green aus London ist einer der vier Sprecher von Left Unity, einer britischen Linkspartei mit etwa 2000 Mitgliedern.

tremer Außenseiter in der Labour-Fraktion. Corbyn hat seitdem über fünfhundertmal gegen die Mehrheit der Fraktion gestimmt, vor allem gegen die LabourRegierung von Tony Blair. Als Corbyn im Juni seine Kandidatur als Vorsitzender bekannt gab, habe ich auf einer Veranstaltung gesagt, dass er nicht die geringste Chance habe. Warum lagst du so falsch? (lacht) Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass meines Wissens alle anderen Linken und Rechten auch falsch lagen. Um zu kandidieren waren 35 Unterstützungsunterschriften von Abgeordneten notwendig, aber Corbyn hatte in der Fraktion nur etwa 20 Unterstützerinnen und Unterstützer. Aber weil ihm niemand eine Chance gab, haben weitere Abgeordnete für ihn unterschrieben, die eigentlich einen anderen Kandidaten unterstützten, aber eine breitere Diskussion ermöglichen wollten. Wie war dieser überraschende Wahlausgang möglich? Wir haben alle weit unterschätzt, wie viele Menschen bereit sind, für die Hoffnung auf linke Politik aktiv zu werden. Als Corbyn seine Kandidatur bekannt gab, hat-


© Ciaran Norris / CC BY-NC / flickr.com

Unten: Erste Amtshandlung: Als frischgewählter Vorsitzender der Labour-Partei tritt Corbyn bei einer Demonstration gegen die Asylpolitik der britischen Regierung auf

Wir haben unterschätzt, wie viele Menschen bereit sind, für linke Politik aktiv zu werden

Das ist unglaublich. Ja. Und 120.000 weitere haben sich als »Unterstützer« von Labour registrieren lassen. Dadurch konnten sie für einen einmaligen Beitrag von rund vier Euro an der Wahl des Vorsitzenden teilnehmen. Und 190.000 weitere haben sich bei ihrer Gewerkschaft für die Teilnahme an der Wahl registrieren lassen. Insgesamt sind also in drei Monaten etwa 410.000 Menschen aktiv geworden. Die allermeisten von ihnen, um den offen als Sozialist auftretenden Corbyn zum Vorsitzenden von Labour zu wählen. Wie hat die bisherige Labour-Führung darauf reagiert? Panisch, hysterisch, verzweifelt. Ein Abgeordneter schlug vor, die Wahl abzubrechen. Ungefähr 4000 Registrierungen wurden abgelehnt, mit der Begründung, die Leute würden in Wahrheit andere Parteien unterstützen. Unter anderem hat Labour dem Regisseur Ken Loach, dem Gewerkschaftsvorsitzen-

den Mark Serwotka und dem Fernsehkabarettisten Mark Steel die Registrierung verweigert. Warum interessieren sich so viele dafür, wer Vorsitzender von Labour ist? Das lässt sich am besten verstehen, wenn man die Politik der Regierung der Conservative Party, der Torries, betrachtet. Der Schwesterpartei der CDU? Ja. Aber die von ihr geführte britische Regierung unterscheidet sich von der deutschen. Premierminister David Cameron und seine Minister arbeiten an der umfassendsten Zerstörung des Sozialstaats aller Zeiten. Schlimmer als unter Margaret Thatcher in den 1980er Jahren? In gewisser Hinsicht schon. Thatchers Mission bestand darin, die große Macht der britischen Gewerkschaften zu brechen und das ist ihr gelungen. Natürlich gab es auch Kürzungen, aber der Sozialstaat wurde nicht grundsätzlich angegriffen. Und Cameron … … will den britischen Sozialstaat zerschlagen und die Gesellschaft etwa nach

INTERNATIONALES

© David Holt / CC BY-SA / flickr.com

Oben: Kein Stuhl bleibt leer – Jeremy Corbyn spricht im August 2015 im Gewerkschaftshaus der Industriestadt Coventry zu Unterstützerinnen und Unterstützern

te Labour etwa 200.000 Mitglieder. Seitdem sind 100.000 weitere beigetreten. Von ihnen haben 80 Prozent für Corbyn gestimmt, ebenso wie die Hälfte der Stammmitglieder.

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© Adam Forsythe-Cheasley / flicker.com

Eine Pappfigur des britischen Premierminister David Cameron im englischen Bristol: Sie ist übersät mit Zetteln, auf denen Beschimpfungen und politische Forderungen wie ein Stopp von Privatisierungen und Sozialabbau zu lesen sind

dem Vorbild der USA umbauen. Ein Beispiel: Cameron hat 2012 eine sogenannte Sozialleistungsbegrenzung eingeführt. Seitdem kann jede Familie pro Jahr umgerechnet maximal 36.000 Euro an Sozialleistungen bekommen.

Was sagt Labour dazu? Obwohl Labour seit 2010 in der Opposition ist, haben sie für die »Sozialleistungsbegrenzung« und viele andere Kürzungen gestimmt – außer Corbyn und wenigen anderen natürlich.

Was bedeutet das? Dass du keinen Cent Hilfe bekommst, wenn die Grenze erreicht ist, egal was passiert. Die Familie bekommt ein drittes Kind? Pech gehabt, du hast die Grenze erreicht. Deine Wohnung ist abgebrannt und du hast kein Geld für Möbel? Pech gehabt, du hast die Grenze erreicht. Du wohnst in London, wo die Miete 60 Prozent höher ist als im Durchschnitt Großbritanniens? Pech gehabt, du hast die Grenze erreicht.

Trotzdem hoffen jetzt so viele auf Labour? Ja, weil es wegen des Mehrheitswahlrechts kaum möglich ist, eine neue parlamentarische Partei zu gründen. In Großbritannien kann es kaum eine grüne oder linke Partei geben wie in Deutschland. Selbst die rechte UK Independence Party hat nur einen Abgeordneten, obwohl sie bei der letzten Wahl 13 Prozent der Stimmen bekommen hat.

Was sind die Folgen? Zum Beispiel, dass arme Familien massenhaft gezwungen sind, London zu verlassen und in Vororte zu ziehen. Wir nennen es »soziale Säuberung« in Anlehnung an »ethnische Säuberungen« in Kriegen. Cameron führt einen sehr offenen Klassenkampf gegen Menschen mit wenig Einkommen. Seine Regierung ist fanatisch marktliberal und will staatliche Unterstützung für sozial Schwache so weit wie möglich senken.

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Das sagt nichts über Labour aus. Nein. Aber deswegen blieb die einzige Hoffnung vieler Linker, dass Labour ihr soziales Gewissen wiederfindet. Dafür gab es die letzten Jahre keine Anzeichen, aber die Kandidatur von Corbyn hat diese Hoffnung neu erweckt. Jetzt sind mehr Linke in Labour organisiert als in irgendeiner anderen Partei. Ob uns das gefällt oder nicht. Kann Corbyn als Labour-Vorsitzender linke Politik machen?

Er allein sicher nicht. Viele Rechte inund außerhalb der Partei werden ihn bekämpfen. Aber wenn Corbyn die Mitgliedschaft wirklich einbindet und auch Linke außerhalb von Labour mobilisiert, können wir alle gemeinsam einiges verändern. Kann eine sozialdemokratische Partei ihre Basis aktivieren? Wenn sie will schon. Und Corbyn muss es tun, sonst ist er verloren. Die Demokratisierung der Partei, das Entwickeln einer echten Diskussion über politische Ziele und Aktionen, waren eines der wichtigsten Versprechen seiner Wahlkampagne. Auch deshalb sind so viele Leute eingetreten. Corbyn kann die Parteibasis kaum ignorieren. Sonst ist er bald wieder weg vom Fenster. An welchen Fronten wird Corbyn jetzt kämpfen? Er hat seine Prioritäten in der Wahlkampagne festgelegt. Eine wichtige Aufgabe ist der Kampf gegen die Kürzungspolitik. Ich denke, Corbyn wird weiterhin streikende Beschäftigte besuchen, für ihre Ziele argumentieren und vor allem bei Konflikten im öffentlichen Dienst Labour zur Unterstützung mobilisieren.


Was plant die Regierung hier? Der Entwurf des neuen »Gewerkschaftsgesetzes« der Regierung sieht unter anderem vor, dass bei der Urabstimmung über einen Streik 40 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder für den Streik stimmen müssen, damit er begonnen werden kann. Das würde viele Streiks unmöglich machen, weil die Wahlbeteiligung bei Urabstimmungen oft gering ist. Corbyn hat angekündigt, dagegen aktiv zu werden.

2003 eine Million Menschen gegen den Krieg in Irak demonstriert. Der Widerspruch zwischen der Politik der Regierung und der Einstellung eines großen Teils der Bevölkerung ist enorm. Das ist eine Tragödie, aber auch eine Chance für eine neue linke Bewegung, die von Corbyn an der Spitze von Labour entscheidende Unterstützung bekommen kann. Schließlich war er bis jetzt Vorsitzender der großen »Stop the war«Kampagne und unterstützt beispielsweise ausdrücklich den Kampf der Palästinenser gegen die israelische Armee und Regierung. Aber auch der Widerstand gegen ein Großbritannien ohne Atomwaffen … … wird riesig sein. Wegen der Atombomben hat Cameron gleich nach Corbyns

Corbyn muss die Labour-Basis aktivieren, sonst ist er verloren Welche Themen hat er noch? Corbyn hat in der Wahlkampagne gesagt, dass für ihn der Kampf gegen die Modernisierung der britischen Atombomben große Bedeutung hat. Das klingt nicht nach einem großen Thema … … ist es aber in Großbritannien sehr wohl. Die britische Armee besitzt vier U-Boote mit jeweils 16 Interkontinentalraketen, von denen jede 12 atomare Sprengköpfe mit einer Sprengkraft von jeweils bis zu 100.000 Tonnen TNT verschießen kann. Das sind die mörderischsten Waffen der Welt, und die Regierung plant nicht etwa die Abrüstung, sondern die Modernisierung ihrer Atombomben für umgerechnet 34 Milliarden Euro nach heutiger Schätzung. Aber würden viele Briten etwas dagegen tun? Ja. Die britische Armee ist bei allen Kriegen und Bombardements immer der wichtigste Verbündete der USA. In Afghanistan und Irak, später in Libyen und jetzt in Syrien stellt Großbritannien immer die zweitgrößte Zahl an Soldaten und Waffen. Und der Widerstand dagegen … … war riesig. In London hatten im Jahr

Wahl geschrieben, Labour sei jetzt eine »Bedrohung unserer nationalen Sicherheit«. Auch die große Mehrheit der Labour-Abgeordneten ist für die Modernisierung der Waffen. Aber andererseits hat zum Beispiel die Scottish National Party auch deshalb 56 von 59 schottischen Wahlkreisen gewonnen, weil sie für die Abrüstung der Atombomben ist, die ja in Schottland stationiert sind. Das wird ein Kampf, den wir durchaus gewinnen können. Was ist seit Corbyns Wahl passiert? Die ersten Signale sind hoffnungsvoll. Seine erste »Amtshandlung« als LabourVorsitzender bestand darin, unter lautem Jubel auf einer Demonstration mit 100.000 Teilnehmenden für die Aufnahme von Flüchtlingen zu sprechen. Vor allem aber sind seit seiner Wahl noch einmal Zehntausende Labour beigetreten. Es ist eine Massenbewegung, um Großbritannien zu verändern. Muss Corbyn sich nicht anpassen? Es ist klar, dass er eine linke Regierung nur mit großen Schwierigkeiten führen könnte. Aber das ist auch nicht sein einziges Ziel. Labour ist in der Opposition und die nächsten Wahlen sind voraussichtlich 2020. Corbyn hat seine Standpunkte als

Abgeordneter über 30 Jahre nicht aufgegeben. Warum sollte er es jetzt als Parteivorsitzender mit 66 Jahren tun? Zumindest gibt es keinen zwingenden Grund dafür. Aber Corbyn hat Leute vom rechten Parteiflügel in sein »Schattenkabinett« genommen Richtig. Das hat er getan, um nicht einen offenen Krieg in der Partei zu beginnen, der jetzt niemandem nützen würde. Diese Leute werden ihn unter Druck setzen. Sie wollen insbesondere die Atombomben behalten. Bedeutend ist aber auch die Nominierung von John McDonnell als Schattenschatzkanzler (entspricht dem deutschen Finanz- und Wirtschaftsminister; Anm. d. Red.), traditionell der zweitwichtigste Posten in Labour. Warum? McDonnell ist ein langjähriger Aktivist, der den Kapitalismus überwinden will. Kürzlich hat er im Fernsehen gesagt: »Ich glaube nicht, dass Veränderung vom Parlament kommt, oder von oben. Veränderung kommt von unten. Eine der Rollen, die ich spielen kann, ist es, die Debatte über die potenziellen Alternativen anzuregen. Wir haben immer gesagt: ›Eine andere Welt ist möglich‹, und ich glaube daran.« Sollen alle Linke in Großbritannien jetzt Labour beitreten? Viele haben es schon getan. Labour ist jetzt gleichzeitig die Partei der Blair-Anhänger und die größte linke Organisation des Landes. Ich denke, Labour ist der Ort, wo in der nächsten Zeit am meisten linke Aktivitäten organisiert werden. Und davon sollten sich auch revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten nicht abschneiden. Wie kann das funktionieren? Ich werde im November auf der Konferenz von Left Unity vorschlagen, dass wir uns als unabhängige Partei auflösen und als sozialistisches Netzwerk in- und außerhalb von Labour neugründen. Ich denke, nur so können wir wieder Kontakt zu den Leuten kriegen, die uns verlassen haben, um Labour beizutreten. Das wird kontrovers sein, aber wir müssen diese Diskussion jetzt führen. ■

INTERNATIONALES

Was halten die Gewerkschaften von Corbyn? Mehrere wichtige haben seine Wahl unterstützt, darunter Unite, die größte britische Gewerkschaft mit 1,4 Millionen Mitgliedern. Corbyn ist einfach ihre beste Chance, die starke Beschränkung des Streikrechts zu verhindern.

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Eine Frage

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des

Friedens Neuwahlen und Krieg gegen die kurdische Befreiungsorganisation PKK: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will mit allen Mitteln seine Macht behaupten. Ein Blick auf die erneute Eskalation des Konflikts

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Erkin Erdoğan ist aktiv bei der LINKEN und der HDP in Berlin.

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E

Von Erkin Erdoğan

s zeichnet sich eine neue Ära in der türkischen Politik ab: Bei der Parlamentswahl am 7. Juni konnte die neue Linkspartei HDP 13 Prozent der Stimmen für sich verbuchen, die Zehnprozenthürde überwinden und in die Nationalversammlung einziehen. Diese Entwicklung hat das Gleichgewicht zwischen den herrschenden Parteien empfindlich gestört, ebenso das System, das die vergangenen Jahre das Land geprägt hat. Die regierende AKP und Präsident Recep Tayyip Erdogan reagierten auf den Wahlsieg der HDP mit Konfrontation: Sie kündigten die Friedensverhandlungen mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK auf und setzten für den 1. November Neuwahlen an. Das bedeutet: Diese Wahlen werden in einer Situation

Erdogan reagiert auf den Wahlerfolg der HDP mit Krieg


© Rebecca Harms / CC BY-SA

Es ist gerade einmal zweieinhalb Jahre her, dass Vertreter der türkischen Behörden eine Nachricht des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan an die Newroz-Feier in Diyarbakir, der größten kurdischen Stadt der Türkei, überbrachten. Öcalan rief darin einen Waffenstillstand aus und erklärte,

dass es für die kurdische Freiheitsbewegung an der Zeit sei, sich in eine entmilitarisierte, demokratische Bewegung zu verwandeln, die mit dem türkischen Staat über die Rechte der Kurden verhandeln sollte. Der daraufhin einsetzende Friedensprozess hatte seitdem seine Höhen und Tiefen. Nichtsdestotrotz erreichte er einen Punkt, an dem beide Seiten zu einer Pressekonferenz im Dolmabahçe-Palast, der ehemaligen Residenz der türkischen Herrscher, zusammenkamen, um die bei den Verhandlungen getroffenen Abkommen zu verkünden. Jetzt hat Erdogan eine plötzliche Kehrwende vollzogen. Der entscheidende Faktor war der Aufstieg der HDP. Sie konnte ihr Wahlergebnis mit einem Programm für Frieden und Demokratie verdoppeln,

Ein Mädchen steht auf einem maroden Balkon in der südostanatolischen Stadt Cizre. Hier leben überwiegend Kurdinnen und Kurden. Im Hintergrund sind Einschusslöcher zu erkennen, die von den immer wieder aufflammenden Kämpfen mit dem türkischen Militär zeugen INTERNATIONALES

stattfinden, in der in den kurdischen Gebieten das Kriegsrecht gilt. Angesichts der ökonomischen und politischen Stabilität, die in den vergangenen Jahren die Türkei prägten, geht die herrschende Klasse ein enormes Risiko ein. Doch die Führung der AKP hat schon lange das Gefühl für rationale Entscheidungen verloren, wenn es um Themen geht, die ihren Herrschaftsbereich betreffen.

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während die AKP neun Prozentpunkte verlor und – noch bedeutender – damit ihre absolute Mehrheit im Parlament. Vor allem in den Städten mit hohem kurdischem Bevölkerungsanteil sank die Stimmenanzahl der AKP deutlich. Die Spannungen nahmen bereits im Vorfeld der Wahl zu. Zunächst beschuldigte Präsident Erdogan die Regierung um Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, dass sie ihn nicht über die Details des Dolmabahçe-Abkommens informiert habe. Das entspricht zwar nicht der Wahrheit, stellte aber einen Versuch dar, sich während des Wahlkampfs von Öcalan, der PKK und der HDP zu distanzieren. Gegenüber den Kurden verfolgte die AKP die Strategie, sie in Unterstützer des »Terrors« und Unterstützer des Establishments zu spalten. Der Streit zwischen den beiden Parteien eskalierte während der großen Wahlkampfveranstaltungen. Erdogan berichtete der Presse, dass gegenwärtig keine Verhandlungen mit der PKK stattfänden und der Friedensprozess eingefroren sei. Sein Kalkül war vermutlich, eher die Situation kontrolliert zu verschärfen als den Friedensprozess als Ganzes zu zerstören. Dies ging seit April dieses Jahres mit einer strikten Isolationshaft Öcalans einher. Viele Türkinnen und Türken glaubten, dies seien taktische Züge, um Stimmen aus dem konservativen Lager zu gewinnen. Aber es war mehr als das. Die Wahlergebnisse vom Juni stellten einen riesigen Erfolg für die HDP dar. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei ist es einer radikal-linken Partei – die sich aus der kurdischen Freiheitsbewegung und anderen Teilen der Linken zusammensetzt – gelungen, die Zehnprozenthürde zu überwinden, die nach dem Militärputsch von 1980 eingeführt wurde, um radikale Parteien aus dem Parlament fernzuhalten. Die kurdische Seite konnte mit diesem Ergebnis im Rücken ihre Verhandlungsposition deutlich verbessern.

darin, attraktiver für türkische Nationalisten zu werden. In der Vergangenheit hat die Partei diese Taktik bereits sehr erfolgreich umgesetzt. Als im Juli im kurdischen Suruç ein Selbstmordattentäter, offiziell vom Islamischen Staat (IS), 34 junge linke Aktivistinnen und Aktivisten ermordete, missbrauchte Erdogan diese Tragödie, um einen neuen Bombenkrieg gegen den IS zu beginnen, aber vor allem gegen die PKK im Kandilgebirge. Mit einem neuen Krieg gegen die Kurden will die Regierungspartei um Stimmen bei den Nationalisten werben. Den Süden Kurdistans zu bombardieren, erforderte die Zustimmung der USA, besonders im Hinblick auf den Krieg gegen den IS. Die PKK ist eine der wichtigsten Kräfte, um den Vormarsch des IS zu bremsen. Ihre syrische Schwesterpartei Demokratische Union (PYD) ist die wichtigste politische Strömung in Rojava und deren bewaffneter Arm, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), konnte herausragende Erfolge feiern, wie etwa die Verteidigung von Kobane. Ankara erlaubte den USA, türkische Stützpunkte für die Luftschläge gegen den IS in Syrien zu nutzen. Daher konnte die türkische Regierung im Gegenzug die USA relativ leicht von der Bombardierung der Kurden überzeugen. Auf der Grundlage dieses Deals definierten die USA die jüngsten türkischen Luftschläge auf kurdisches Gebiet als Akt der Selbstverteidigung. Auf die Bombardierung folgte die massenhafte Kriminalisierung von HDP-Unterstützerinnen und Unterstützern. Ganz plötzlich befand sich die Türkei in einem neuen Krieg gegen die Kurden. Die HPG (Volksverteidigungskräfte), der militärische Arm der PKK, reagierte relativ vorsichtig auf diese Entwicklung. Sie zerstörte mancherorts türkische Militärinfrastruktur und führte Operationen gegen türkische Bodentruppen aus, aber in keinem vergleichbaren Verhältnis zur Gegenseite. Nach türkischen Angaben starben 400 PKK-Mitglieder bei den Luftschlägen. Zudem nahm die türkische Luftwaffe auch Zivilisten ins Visier, zum Beispiel in Zergele im Kandilgebirge, wo zehn Zivilisten starben und vierzehn verwundet wurden. Das kleine Dorf wurde praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Darüber hinaus beschoss die türkische Luftwaffe auch eigenes Gebiet. »Cobra«-Helikopter bombardierten Varto, eine Stadt in der Provinz Muş, da es dort Massenaufstände gegeben hatte. Die politische Antwort der kurdischen Bewegung war es, in einigen Städten die Autonomie auszurufen. Bislang haben drei Städte und acht Bezirke diesen Auf-

Die Bundesregierung steht fest an der Seite ihres Nato-Partners Türkei

Für die AKP war von Anfang an klar, dass sie keine Koalition mit der säkularorientierten kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) eingehen wollte, auch wenn große Teile der Bourgeoisie ein solches Bündnis favorisiert hätten. Erdogans Ziel ist es vielmehr, bei den Neuwahlen wieder eine Mehrheit der AKP im Parlament zu gewinnen, die ihr die Macht gibt, Verfassungsänderungen zu beschließen. Dazu muss sie den Stimmanteil der HDP wieder unter zehn Prozent drücken. In der Denkweise der AKP besteht der einfachste Weg, Stimmen zu gewinnen,

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ruf befolgt. Sie werden zum Teil militärisch von der HPG geschützt. Mit der Einbindung der Massen in den Kampf gegen die Luftschläge und den Krieg war es für die kurdische Freiheitsbewegung wieder einmal möglich, Sympathien in der ganzen Türkei zu gewinnen. Cemil Bayık, ein führender Politiker der PKK, spricht davon, dass sich ihre Organisation das Recht auf Vergeltungsschläge gegen die Türkei vorbehält. Auf der anderen Seite ist sich die PKK sehr wohl bewusst, dass den Kurden eine Verschärfung des Konflikts nichts bringt. Sie verlangen eine Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Öcalan.

Die Bundesregierung steht offensichtlich fest an der Seite ihres Nato-Partners Türkei. Kein Wunder, denn die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern erreichten im vergangenen Jahr einen Höhepunkt. Die Exporte von Deutschland in die Türkei umfassten ein Volumen von 24,1 Milliarden Dollar. Die Investitionen deutscher Unternehmen in der Türkei haben sich im Vergleich zu den Vorjahren vervierfacht. Ohne die politische und militärische Unterstützung durch westliche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA wäre die jahrzehntelange Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung überhaupt nicht möglich gewesen. Die Bundesregierung hilft der Türkei militärisch, indem sie eine Raketenstaffel der Bundeswehr im Land unterhält und im großen Stil Waffen exportiert. Gegen-

wärtig existieren Verträge über die Lieferung von U-Booten in den Jahren 2015 bis 2020 sowie von Leopard-Panzern und anderen Militärfahrzeugen. Zudem unterstützt die Bundesregierung die türkische Regierung politisch, indem sie weiterhin am Verbot der PKK festhält und so die in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden stigmatisiert und kriminalisiert. Das Verbot muss fallen. Denn es ist nichts anderes als ein Instrument der Repression. Es stellt einen Versuch dar, eine große, hier lebende Minderheit einzuschüchtern sowie einen Keil zwischen die türkischen und kurdischen Zuwanderer zu treiben und Solidarität zu erschweren. Erst kürzlich nutzte ein deutsches Gericht das PKK-Verbot, um Ahmet Celik, einen Politiker des Demokratischen Gesellschaftszentrums der KurdInnen in Deutschland (Nav-Dem), zu verurteilen. Es ist heuchlerisch, wenn Außenminister Steinmeier die Türkei vor einer weiteren Eskalation der Gewalt warnt, während sein eigenes Land kurdische Politiker inhaftiert. Bei der türkischen Parlamentswahl hat die HDP unter den 1,4 Millionen türkischen Staatsbürgern in Deutschland als zweitbeste Partei abgeschnitten. Eine aktivere Unterstützung durch DIE LINKE in Deutschland könnte ihr helfen, eine größere Bekanntheit zu erlangen – was gleichbedeutend wäre mit einer größeren Bekanntheit der LINKEN. ■

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Die Manöver Erdogans zielen in erster Linie auf die HDP. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass der Druck auf die Partei im Vorfeld der Neuwahlen zunehmen wird. Ihre Führung hat daher mehrfach betont, dass sie für Frieden steht. Unter dem Namen »Friedensblock« hat die HDP vor allem im Westen der Türkei Friedensbündnisse aufgebaut, um zu verhindern, dass sich dieser Krieg weiter ausbreitet. Selahattin Demirtas, stellvertretender Vorsitzender der HDP, hat sich im Namen seiner Partei von allen Gewalttaten distanziert. Damit reagierte er auf den Versuch, die HDP der Teilnahme an dem Konflikt zu beschuldigen. Um Kriegsverbrechen der Türkei zu dokumentieren, entsandte die Partei eine Delegation nach Kandil und wandte sich an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, um ein Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Internationalen Strafgerichtshof einzuleiten. Demirtas stellte die Agenda der AKP als eine Strategie bloß, das Land niederzubrennen und damit die absolute Macht zu erlangen. Daher ist der Kampf für Frieden und eine Stärkung der HDP bei den kommenden Wahlen entscheidend für die türkische Linke. Das Ziel der HDP ist es, sich auf 20 Prozent zu verbessern. Laut einigen Meinungsumfragen liegt sie bei ungefähr 15 Prozent. Das zeigt, dass eine aktivistische Friedenspolitik breite Unterstützung erfährt.

PKK-Kämpfer im irakischen Distrikt Sindschar: Im Sommer 2014 fliehen Tausende hier lebende Jesiden vor dem »Islamischen Staat«. Die PKK und ihre syrische Schwesterorganisation YPG kämpften daraufhin einen Korridor frei, der den Eingeschlossenen die Flucht aus dem Gebirge nach Syrien ermöglicht

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Betrieb & Gewerkschaft

Neue Freiräume erkämpfen Mit der klaren Ablehnung des Schlichtungsergebnisses haben die Streikenden im Sozial- und Erziehungsdienst ein deutliches Zeichen gesetzt. Noch im Oktober könnte weiter gestreikt werden. Um den Arbeitskampf zum Erfolg zu führen, müssen jedoch dringend Lösungen für die bisherigen Probleme gefunden werden VON Jürgen Ehlers

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JÜRGEN EHLERS ist Mitglied der LINKEN in Frankfurt am Main und aktiv in der AG Betrieb und Gewerkschaft. Er gehört zu den Begründern des MaredoSolidaritätskomitees.

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in Bild mit großer Symbolkraft haben einige Tageszeitungen während der ersten Arbeitskampfphase im Sozial- und Erziehungsdienst veröffentlicht. Zwei Demonstrationszüge begegnen sich: Auf der einen Seite der Straße streikende Bedienstete der Post und auf der anderen die streikenden Beschäftigten im Sozialund Erziehungsdienst. Die Demonstranten winken sich zu und es ist zu sehen, dass es ihnen offensichtlich guttut, für einen kurzen Augenblick das Gefühl zu haben, mit dem eigenen Kampf nicht allein zu sein. In beiden Kämpfen konnten die Arbeitgeber ihre unnachgiebige Haltung aufrechterhalten, weil der ökonomische Druck nicht stark genug war oder sogar ganz fehlte. Während es bei der Post zu einem massiven Einsatz von Streikbrechern kam, war im Sozial- und Erziehungsdienst von Anfang an klar, dass dort überhaupt kein ökonomischer Druck entfaltet werden kann, weil mit dem Ausfall der sozialen Dienstleistungen für den Arbeitgeber keine Umsatzeinbußen verbunden sind. Im Gegenteil: Sie sparten sogar Lohnkosten. Während des unbefristeten Streiks im Mai waren es nach Aussage der Vereinigung Kommunaler Arbeitgeber etwa 80 Millionen Euro. Daher war es besonders wichtig, politischen Druck zu erzeugen. Es war auch klar, dass es ein harter Kampf werden würde, weil viele Kommunen finan-

ziell mit dem Rücken zur Wand stehen und höhere Personalkosten nur tragen können, wenn sie zusätzliche Mittel erhalten. Daher hatte der Konflikt von Anfang an eine hohe politische Brisanz. Ein Erfolg im Sozial- und Erziehungsdienst würde außerdem die Begehrlichkeiten anderer, ebenfalls unterbezahlter Berufsgruppen im öffentlichen Dienst, wie etwa der Pflegekräfte, wecken. Diese befürchteten Effekte haben die harte Haltung der Arbeitgeberseite noch verstärkt.

Die Kolleginnen haben die Streikkonferenzen genutzt

Der Arbeitskampf bei der Post ist beendet. Der Konflikt im Sozial- und Erziehungsdienst geht jedoch nach der Ablehnung des Schlichtungsergebnisses durch die Mitgliedschaft in die zweite Runde. Daher ist es wichtig, Bilanz zu ziehen, um daraus Perspektiven für das weitere Vorgehen zu entwickeln. Der Kampf für eine Aufwertung im Sozial- und Erziehungsdienst ist in der Öffentlichkeit auf große Sympathie gestoßen, weil er eine unzufriedene Grundstimmung bei vielen Menschen trifft. Das ist an Informationsständen auf der Straße deutlich zu spüren gewesen. Gleichzeitig wird von Bildungspolitikern pausenlos die hohe Bedeutung der frühkindlichen Bildung betont, ohne den Erzieherinnen und Erziehern dafür eine entsprechende finanzielle Anerkennung zukommen zu lassen. Die Nachfrage nach Fachpersonal zur Kinderbetreuung übersteigt deutlich das Angebot. Das ist zu-


© Jonas Priester / CC BY-ND / flickr.com

nächst eine gute Voraussetzung für eine Aufwertung. In den Ballungszentren werden deswegen mancherorts übertarifliche Zulagen gezahlt oder sogar Eingruppierungen in höhere Lohngruppen vorgenommen. Gemessen an den steigenden Anforderungen und wachsenden Erwartungen der Eltern, die alle Kolleginnen zu spüren bekommen, ist die Bezahlung dennoch viel zu niedrig und liegt beispielsweise deutlich unter der von Grundschullehrern. Das ist sowohl der Grund für den Fachkräftemangel als auch dafür, dass Männer in diesem Beruf so selten vertreten sind. Ohne eine Aufwertung wird sich auch die allgemeine Arbeitssituation nicht verbessern. Die Personaldecke bleibt weiterhin viel zu dünn und der Ausfall einer Kollegin hat sofort eine Mehrarbeit der anderen zur Folge, was wiederum den Krankenstand in die Höhe treibt – ein Teufelskreislauf. Der jetzige Kampf für eine Aufwertung hat damit auch einen sehr engen Bezug zum Arbeitskampf des Jahres 2009 in den Kitas. Auch damals ging es um die Eingruppierung von Erzieherinnen und um die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen. Die Streikbeteiligung war sehr hoch und der Kampf zog sich mehrere Wochen hin. Mit dem Ergebnis waren viele Mitglieder unzufrieden, da lediglich die Abwertung korrigiert wurde, die beim Wechsel vom Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) eingetreten ist. Der Bundesvorstand von ver.di hat in der Vorbereitung des jetzigen Kampfes dem Rechnung getragen. Zum einen ist die Streiktaktik geändert worden: Der Wechselstreik ist durch einen Vollstreik ersetzt wor-

den, um die Mobilisierung zu erleichtern und in der Öffentlichkeit aktionsfähiger zu werden. Zum anderen sind Streikdelegiertenkonferenzen eingerichtet worden, um Entscheidungsprozesse zu demokratisieren – ein echtes Zugeständnis an die Basis als Reaktion auf die Kritik in der Vergangenheit. Damit wurde eine Entwicklung eingeleitet, die die Ablehnung des Schlichtungsergebnisses entgegen der Empfehlung des Bundesvorstands zum bisherigen Höhepunkt hatte. Der politische Druck, der in der ersten vierwöchigen Arbeitskampfphase im Sozial- und Erziehungsdienst erzeugt worden ist, hat jedoch bei Weitem nicht ausgereicht. Die Arbeitgeber konnten den Streik mit dem Hinweis auf die leeren Kassen in vielen Kommunen einfach aussitzen. Mit jedem weiteren Streiktag stieg nicht nur die Erwartung an ein Verhandlungsergebnis, sondern auch die Verunsicherung bei den Beschäftigten. Die Frage nach den weiteren Perspektiven des Arbeitskampfs stellte sich immer bohrender, ohne dass die Diskussion darüber von der Gewerkschaft organisiert worden wäre, obwohl sich in den Reihen der Streikenden erste Verschleißerscheinungen bemerkbar machten. Eine an der Gewerkschaftsbasis organisierte Diskussion über die Frage, wie es weitergehen soll, verbunden mit Vorschlägen für eine Handlungsperspektive, um mehr politischen Druck aufzubauen, gab es nicht. Stattdessen wurden auf den täglichen Zusammenkünften vor allem Aktionen in der Öffentlichkeit besprochen und organisiert und auf den Mitgliederversammlungen blieb es bei Berichten von den Streikdelegiertenkonferenzen. Diese boten die

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Die Empörung auf die Straße tragen: Streikende Beschäftigte der Sozial- und Erziehungsdienste demonstrieren am 28. Mai in Frankfurt am Main

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Chance zum Meinungs- und Erfahrungsaustausch, die auch rege genutzt wurde, es gingen jedoch keine Impulse für eine Diskussion über die weitere Perspektive des Streiks von ihnen aus. Bis zum Anrufen der Schlichtung waren die Delegiertenkonferenzen fest in der Hand des ver.di-Bundesvorstandes. Das änderte sich schlagartig, als sich herausstellte, dass die Gewerkschaftsführung bereits ihre ganz eigenen Konsequenzen aus der starren Haltung der Arbeitgeber gezogen hatte und sich auf das von deren Verband angestrebte Schlichtungsverfahren einließ, ohne sich darüber vorher mit den Mitgliedern zu beraten. Es zeigte sich, dass sich die Erwartungen der Gewerkschaftsbasis an die innergewerkschaftliche Demokratie während des vierwöchigen Streiks verändert hatten. Die lebhaften Diskussionen auf den Mitgliederversammlungen waren zu diesem

Unter den Beschäftigten hat ein Emanzipationsprozess stattgefunden Zeitpunkt von einer Mischung aus Wut über die eigene Führung und Ratlosigkeit über das weitere Vorgehen geprägt. Die aufgebrachte Stimmung an der Basis drängte jene lokalen Gewerkschaftssekretäre, die keine eindeutige Haltung entwickelten, in die Defensive. Sie standen nun zwischen Bundesvorstand und Mitgliederschaft. Die ver.di-Führung war verärgert, weil es ihren Sekretären nicht gelang, die Schlichtung als alternativlos zu verkaufen. Die Mitgliederschaft hingegen hegte den Verdacht, dass die mittlere und untere Führungsebene ein mit Frank Bsirske abgekartetes Spiel durchsetzen wollte, um das Ende des Arbeitskampfs einleiten zu können. Die Friedenspflicht während des mehrwöchigen Schlichtungsverfahrens ließ befürchten, dass die Mobilisierung in eine Demobilisierung umschlagen würde. Eine deutliche Abkühlung der Kampfbereitschaft war zunächst auch die Folge. Versuche, während der laufenden Schlichtung diese durch Aktionen in der Öffentlichkeit zu beeinflussen, die wegen des ausgesetzten Streiks nach Feierabend stattfinden mussten, scheiterten. Die Beteiligung der Mitglieder blieb weit hinter den Erwartungen der Gewerkschaftssekretäre zurück. Doch diesen Rückzug ausschließlich als Zeichen der Demoralisierung zu werten, wäre zu einfach. Vielmehr sahen viele Mitglieder zu Recht einen Unterschied darin, ob es bei ihrem Engagement um ein Kräftemessen oder um reine Symbolik geht. Bei den Aktionen während der Schlichtung, die wie eine klassische Tarifrunde hinter verschlossenen Verhandlungstüren stattfand, konnte es sich nur um Symbolik handeln. Das Kräftemessen fand zu die-

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sem Zeitpunkt am Verhandlungstisch statt. Das Ergebnis der Schlichtung fiel so mager aus, dass selbst jeder vorsichtige Versuch des Bundesvorstands, es der eigenen Basis schmackhaft zu machen, als Provokation gewertet wurde. Die Mischung aus Wut über die eigene Führung und Ratlosigkeit über das weitere Vorgehen war plötzlich wieder da. Bsirskes Plan, das Verhandlungsergebnis auf einer bundesweiten Streikdelegiertenkonferenz absegnen zu lassen, um dann über eine Urabstimmung unter den Mitgliedern die satzungsgemäß notwendige Zustimmung von nur 25 Prozent zusammenzubekommen, scheiterte. Stattdessen beschlossen die Delegierten eine »aufsuchende« Mitgliederbefragung bei Mitgliederversammlungen und in Einrichtungen anstelle einer postalischen Befragung. Deren eindeutiges Ergebnis, knapp 70 Prozent lehnten den Schlichterspruch ab, hat nicht nur die Führung, sondern auch die Basis überrascht. Denn sowohl bei der Streikbeteiligung als auch beim Engagement im Streik hat es große regionale Unterschiede gegeben. Doch die Befürchtung, dass über eine aufsuchende Mitgliederbefragung, bei der die Abstimmung geheim an einer Wahlurne erfolgt, die im Streik Passiven gegen die Aktiven der Empfehlung der Führung folgen, hat sich nicht bewahrheitet. Dieses Signal sollte allen Mut machen. Es hat ein kleiner Emanzipationsprozess stattgefunden, auf dem aufgebaut werden kann. Der Ablehnung des Schlichterspruchs liegen zwei unterschiedliche Motive zugrunde. Bei den einen ist es der Wille weiterzumachen. Aber es gibt auch die Unentschlossenen, die zunächst nur den Wunsch haben, wenigstens ein selbstbewusstes Zeichen zu setzen, um den Konflikt erhobenen Hauptes zu verlassen. Ob es gelingt, die Unentschlossenen zu gewinnen, hängt davon ab, mit welchem Ergebnis vor allem folgende drei Punkte diskutiert werden: Wie kann es gelingen, die eigene Basis für den Arbeitskampf zu vergrößern? Wie können die Eltern für eine intensivere Unterstützung gewonnen werden? Und wie kann der fehlende ökonomische Druck auf die Arbeitgeber durch politischen Druck ersetzt werden? Die Auseinandersetzungen zwischen Führung und Basis während des Arbeitskampfs haben gezeigt, dass die Basis die Streikdelegiertenkonferenzen, die ursprünglich lediglich zur Streikmobilisierung dienen sollten, immer mehr zur Mitentscheidung nutzte. Die damit verbundenen Chancen sind aber bisher nur im Ansatz erschlossen worden. Die Basis verweigerte der Führung die Gefolgschaft, ohne eigene Vorstellungen über den weiteren Weg zu entwickeln. Es fehlt ein Netzwerk aus gewerkschaftlichen Aktivistinnen und Sozialisten, das in der Lage ist, anhand einer kritischen Einschätzung der Situ-


DIE LINKE sollte für diese Idee im Allgemeinen und Konkreten werben. In der Auseinandersetzung über die weiteren Perspektiven im Kampf der Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst sollten wir die versäumten Chancen durch die fehlende Verknüpfung mit dem Poststreik erwähnen, aber nicht dabei stehen bleiben. Darüber hinaus sollten wir anbieten, die aktive Solidarität anderer Beschäftigungsgruppen zu gewinnen. Das können die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sein, die von einer erfolgten oder drohenden Privatisierung betroffen sind, das können Pflegekräfte aus Krankenhäusern sein oder die angestellten Lehrerinnen und Lehrer, die immer nur befristet beschäftigt werden und bei der letzten Tarifrunde der

Länder wieder zu kurz gekommen sind. Wir sollten auch dafür werben, dass sich Basisstrukturen bilden, die den dringend notwendigen, von Bernd Riexinger erwähnten »kollektiven Diskussions- und Lernprozess« initiieren. Dieser kann darauf vorbereiten, sich neue Freiräume in der Organisation zu erkämpfen und bereits vorhandene besser zu nutzen und abzusichern. Das muss in den einzelnen Betrieben geschehen, unterstützt durch die örtlichen Arbeitsgemeinschaften Betrieb & Gewerkschaft der LINKEN, bis hin zu den regionalen und bundesweit organisierten Konferenzen unter dem Motto »Erneuerung durch Streik«. Eine Gewerkschaft kann nur unter engen rechtlichen Bedingungen zu Solidaritätsstreiks aufrufen. Dennoch ist diese Forderung ein richtiges Anliegen und zudem ein wichtiger Grund, gewerkschaftliche Basisstrukturen zu schaffen, die frei von diesen rechtlichen Beschränkungen sind. Eine Solidarisierung von unten sieht nämlich anders aus: Busfahrpläne können durcheinandergeraten, weil die Ausfahrt vom Depot in Absprache mit den Fahrern von Erzieherinnen blockiert werden. Oder eine große Zahl von U-Bahn-Fahrern meldet sich plötzlich krank, sodass es zu großen Behinderungen im Berufsverkehr kommt. Das ist im Augenblick noch Zukunftsmusik. Gegenwärtig besteht die reale Gefahr, dass der vom ver.diBundesvorstand vorgeschlagene Weg für eine Fortsetzung des Kampfes in einer Niederlage mündet. Denn die Auseinandersetzung soll auf jeden Fall noch in diesem Jahr beendet werden, weil die Gewerkschaftsführung eine Überschneidung mit der Anfang 2016 beginnenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst verhindern möchte. Zudem soll es keine Fortsetzung des Vollstreiks geben, sondern einzelne Kitas sollen im Wechsel nach einer kurzen Vorwarnzeit für die Eltern den Betrieb schließen. Die Kombination aus diesen beiden Vorgaben – Befristung und Begrenzung des Kampfes – sind nicht geeignet, die vielen ratlosen und deswegen verunsicherten Mitglieder erneut zu mobilisieren. Trotzdem entwickeln die aktivsten Mitglieder verschiedene Aktionsvorschläge, um die Öffentlichkeit zu erreichen. Deren erfolgreiche Umsetzung kann aber nur gelingen, wenn sich viele der noch unentschlossenen Beschäftigten dafür gewinnen lassen. Es muss jetzt eine Diskussion mit der Mitgliedschaft geführt werden, in der eine ehrliche Bilanz der letzten Wochen und Monate gezogen wird, mit dem Ziel, die nächsten Schritte so zu planen und vorzubereiten, dass sie geeignet sind, mehr politischen Druck zu erzeugen. Das ist die Voraussetzung, um die Mitglieder erneut zu motivieren. DIE LINKE sollte die geplanten Aktionen tatkräftig unterstützen, um damit den Grundstein für weiterführende Diskussionen zu legen. ■

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

ation Vorschläge zum weiteren Vorgehen zur Diskussion zu stellen. So könnte eine Streikführung von unten organisiert werden. Bernd Riexinger, der früher selbst Geschäftsführer von ver.di in Stuttgart war, hat sich in einem Artikel für die Tageszeitung »junge Welt« mit der Frage beschäftigt, »was sich aus der Erfahrung der jüngsten Streikbewegung lernen lässt«. Er meint, dass es entscheidend sein wird, den gewerkschaftlichen Kampf zu politisieren und den Sektionalismus in der Gewerkschaftsbewegung zu überwinden: »Die Entwicklung gemeinsamer Interessen und Forderungen unterschiedlicher Streikbewegungen kann nicht durch Appelle zur Einheit befördert werden, sondern nur durch kollektive Diskussions- und Lernprozesse der Beschäftigten. Diese können nur entstehen, wenn die Gewerkschaften daran arbeiten, über Grenzen von Organisation und Sektoren hinweg konkreten Austausch zu fördern und verschiedene Streiks zu gemeinsamen Aktionen zusammenzuführen.« Eine große Chance für einen gemeinsamen Kampf ist mit dem Ende des Poststreiks ungenutzt geblieben. Eine Unterstützung der Streikposten vor den Verteilerzentren der Post durch die Streikenden aus den Kitas wäre einem politischen Paukenschlag gleichgekommen. Damit hätte sich nicht nur der ökonomische Druck auf die Post AG schlagartig erhöht, sondern von dieser Solidarisierung wäre auch ein starkes politisches Signal ausgegangen. Nach einer Begründung für einen gemeinsamen Kampf hätte nicht lange gesucht werden müssen. Seit der Privatisierung der Post geht es dort nur noch um Profit, der durch Lohndrückerei gesteigert werden soll. Möglichst viele Arbeiten werden in Tochtergesellschaften ausgegliedert, die keinem oder einem schlechteren Tarifvertrag unterliegen. Die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen und die Schuldenbremse im Zusammenhang mit der Unterfinanzierung der öffentlichen Hand, sind zwei Seiten derselben Medaille. Dieser politische Aspekt gehört neben den Forderungen nach einer Aufwertung ins Zentrum der Auseinandersetzung.

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Betrieb & Gewerkschaft

»Sauberkeit braucht ihre Zeit« Die Beschäftigten der Gebäudereinigungsbranche haben mit ihrem Streik 2009 gezeigt, dass sie die Arbeitsverdichtung und Kettenbefristungen nicht mehr kampflos hinnehmen. Nun stehen die Zeichen wieder auf Arbeitskampf. Wir sprachen mit der Gebäudereinigerin und freigestellten Betriebsrätin Petra Vogel Interview: Daniel Kerekeš Momentan laufen die Tarifverhandlung im Gebäudereinigungshandwerk. Worum geht es euch konkret? Zum einen geht es natürlich um höhere Löhne für die 550.000 Beschäftigten unserer Branche. Wir fordern für die unterste Lohngruppe 80 Cent mehr in der Stunde und für die höheren Lohngruppen eine Erhöhung um 6,4 Prozent. Außerdem verlangen wir endlich konkrete Schritte zur Angleichung des Lohnniveaus in Ostund Westdeutschland. Bisher erhalten die Beschäftigten im Osten nur den Mindestlohn von 8,50 Euro, während es im Westen 9,55 Euro in der Stunde sind. Neben der Frage besserer Löhne geht es uns aber auch um ein sofortiges Ende der Arbeitsverdichtung. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass wir seit Jahren zwei Hauptforderungen haben: Erstens »Sauberkeit hat ihren Preis«, weshalb wir einen bundesweiten Mindestlohn von zehn Euro fordern. Und zweitens »Sauberkeit braucht ihre Zeit«, weshalb wir gegen eine weitere Arbeitsverdichtung kämpfen. Wie äußert sich die zunehmende Arbeitsverdichtung in eurem Beruf? Wir fordern ein Ende dessen, was wir als »Turbo-Putzen« bezeichnen. Das bedeutet konkret, dass die Fläche, die in einer vorgegebenen Zeit gereinigt werden muss, nicht weiter durch die Arbeitgeberseite erhöht werden darf. Das ist nämlich gängige Praxis und führt dazu, dass eine ausgehandelte Lohnsteigerung faktisch keine mehr ist, weil im Gegenzug deutlich mehr geputzt werden muss. Eine Be-

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Petra Vogel

Petra Vogel ist Betriebsratsvorsitzende einer Servicegesellschaft für die Reinigung in Krankenhäusern in Bochum.

schäftigte hat zum Beispiel drei Stunden Zeit eine Krankenhausstation zu reinigen. Wird der Lohn dann um 50 Cent je Stunde erhöht, reagiert der Arbeitgeber darauf, indem er ihr weitere 50 qm Putzfläche zuweist. Das »Turbo-Putzen« hat dadurch in den letzten Jahren immer mehr zugenommen. Die Arbeitgeber behaupten, dass es so etwas wie »Turbo-Putzen« nicht gäbe. Lügen sie? Natürlich gibt es das »Turbo-Putzen«. Das erleben mindestens drei Viertel der

Beschäftigten tagtäglich. Oft geht das damit einher, dass Beschäftigte in andere Objekte versetzt werden und die verbliebenen Kolleginnen und Kollegen das nun offene »Revier« mitputzen müssen. Als ich vor 28 Jahren in der Gebäudereinigung angefangen habe, habe ich in der normalen Unterhaltsreinigung im Krankenhaus gearbeitet. Da habe ich zwischen 140 und 160 qm in der Stunde geputzt. Mittlerweile sind es 250 bis 300 qm pro Stunde, die eine Kollegin oder ein Kollege dort putzen muss. Und damit ist nicht nur der Boden gemeint, sondern auch Fenster, Fensterbänke, Nasszellen, Duschen, Toiletten, Stühle, Tische und so weiter. Es gibt eine von der IG BAU in Auftrag gegebene Studie, welche untersucht hat, wie viel Putzfläche ein Mensch mittleren Alters ohne nennenswerte Erkrankungen schafft. Damals hat der Arbeitgeberverband versucht die Veröffentlichung der Studie zu verhindern, denn das Ergebnis war, dass heutzutage Raubbau an unserer Gesundheit betrieben wird. Seid ihr bereit für eure Forderungen zu streiken? Ich muss keinen Streik haben, aber inzwischen haben wir drei Verhandlungsrunden hinter uns. Jetzt haben die Arbeitgeber endlich ein Angebot vorgelegt. Das beinhaltet jedoch noch viel zu wenig. Sie bieten nur drei Prozent – sowohl im Osten als auch im Westen – und das bei 26 Monaten Laufzeit. Das bedeutet also lediglich eine Lohnerhöhung von 1,3 Prozent pro Jahr – ein Hauch von Nichts. Gleich-


zeitig behaupten die Arbeitgeber, dass sie überhaupt kein Mandat hätten, über die zunehmende Arbeitsverdichtung zu verhandeln. Darüber müsse in den Landesinnungen verhandelt werden. Aber selbst wenn das so ist, müssten die Arbeitgeber dort jetzt aktiv werden. Wir hoffen, dass bei der vierten Tarifrunde, die nun im Oktober in Essen stattfindet, ein besseres Angebot zustande kommt, das auch eine Regelung zur Arbeitsverdichtung und zur Angleichung der Löhne im Osten enthält. Falls nicht, sind wir aber auch bereit zu streiken.

Der Streik 2009 war der erste bundesweite Arbeitskampf der Gebäudereinigerinnen und Gebäudereiniger in der Geschichte der Bundesrepublik. Obwohl der gewerkschaftliche Organisa-

tionsgrad in der Branche damals unter zehn Prozent lag, waren die Kolleginnen und Kollegen erfolgreich. Wie habt ihr das geschafft? Wir haben damals in einem zweiwöchigen Arbeitskampf eine deutliche Lohnerhöhung und eine höhere Anerkennung unseres Berufsstandes erstreikt. Vor allem aber haben wir bewiesen, dass wir kämpfen können. Die Arbeitgeber haben nicht mit unserer guten Mobilisierung der Basis gerechnet. Zudem standen Presse und Bevölkerung hinter uns. Das hat uns sehr geholfen. Mittlerweile sind aber auch viel mehr Kolleginnen und Kollegen in der Gewerkschaft organisiert. Wir sind seit 2009 von 42.000 auf heute 61.000 Mitglieder gewachsen. Das ist für mich der beste Beweis, dass sich der Streik gelohnt hat. Und in den aktuellen Tarifverhandlungen spürt man, dass wir an Stärke und Selbstbewusstsein gewonnen haben. Dennoch stehen wir natürlich bei der Organisierung der Kolleginnen und Kollegen immer wieder vor Problemen: Sprachbarrieren oder auch Angst sind Motive, nicht aktiv zu werden. Aufgrund der vielen befristeten Arbeitsverträge in unserer Branche trauen sich sehr viele Kolleginnen und Kollegen nicht, ihren Mund aufzumachen, weil ihr Vertrag sonst einfach

nicht verlängert wird und sie ohne Job dastehen. Das macht in vielen Betrieben die Arbeit der Betriebsräte fast unmöglich. Es gibt Firmen, in denen drei Viertel der Angestellten befristet beschäftigt sind. Wie kann man euch in eurer Tarifbewegung unterstützen? Die nächste Verhandlungsrunde findet am 13. Oktober in Essen statt. Dort sind vor dem Verhandlungsort Aktionen geplant. Für die Kolleginnen und Kollegen wäre es klasse, wenn so viele Aktivistinnen und Aktivisten wie möglich dort ihre Unterstützung demonstrieren. Es muss zudem viel Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden. Wir müssen unsere Forderung überall hintragen und klar machen, dass unsere Arbeit mehr wert ist. DIE LINKE sollte vor Ort den Kontakt zu den Sekretärinnen und Sekretären der IG BAU suchen und sich mit ihnen absprechen, wie eine weitere Unterstützung aussehen könnte. Das kann von der Teilnahme an Gewerkschaftskundgebungen bis hin zur Gründung von Solidaritätskomitees, wie sie in Berlin an den Universitäten während des Streiks 2009 existierten, reichen. Die Solidarität und Unterstützung aus der Bevölkerung war damals ein wichtiger Faktor. Daran wollen wir anknüpfen.■

BETRIEB & GEWERKSCHAFT

Die überwiegende Teil der Beschäftigten im Reinigungsbereich ist weiblich und viele haben einen Migrationshintergrund. Welche Auswirkungen hat das auf die Ziele und die Strategie der Gewerkschaft? Ungelernte Reinigungskräfte, bei denen es sich zumeist um Frauen handelt, sind für die Arbeitgeber natürlich praktisch. Sie sind günstiger und werden meist nur in Teilzeit angestellt. Ihre Arbeit wird überhaupt nicht angemessen gewürdigt. Deshalb geht es uns auch nicht nur um mehr Geld, sondern um ein Ende der Stigmatisierung, im Sinne »das sind doch nur Putzfrauen«. Wir putzen ja nicht einfach so, sondern nach einem bestimmten Plan. Man muss wissen, wo welche Putzmittel eingesetzt werden dürfen, die Keimbelastung in Krankenhäusern muss beachtet werden und vieles mehr. Wir fordern daher auch eine Anerkennung unserer Qualifizierung und unseres Berufsstandes. Der hohe Anteil von Migrantinnen und Migranten in unserem Gewerbe stellt uns als Gewerkschaft vor zusätzliche Herausforderungen. Einige von ihnen sprechen die Sprache nicht sehr gut, was dazu führt, dass sie ihre Rechte nicht wahrnehmen und einfordern. Deshalb ist es besonders wichtig, dass wir auch sie für eine gewerkschaftliche Organisierung gewinnen. Im Streik 2009 schickte die IG BAU Dolmetscherinnen und Dolmetscher mit zu den Streikaktionen. So konnten wir auch diejenigen ansprechen, die kein Deutsch verstehen.

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MARX

Wie funktioniert Geschichte? Der Name marx21 ist Programm: Wir halten den Marxismus nicht für eine Theorie aus der Mottenkiste. Im Gegenteil: Marxistische Theorie hilft uns, die moderne kapitalistische Welt des 21. Jahrhunderts zu verstehen und zum Besseren zu verändern. In einer neuen Serie wollen wir die Grundlagen des Marxismus darstellen. Wir beginnen mit der marxschen Auffassung von Geschichte.

D

ie am weitesten verbreitete Geschichtsauffassung ist zugleich auch die kindischste: Geschichte wird als Ergebnis des Handelns großer Männer (in Ausnahmefällen auch großer Frauen) betrachtet, von Königen und Politikern, Generälen und Geistlichen, Künstlern und Filmstars. Eine derartige Geschichtsauffassung kann bis in die Antike oder auch zu den Chronisten des Mittelalters zurückverfolgt werden, die über die Taten der Monarchen und der Adligen, ihre Feste, Kriege und Ehebrüche berichteten. Im Fernsehen und in den Schlagzeilen der Regenbogenpresse wird uns mit modernster Technik immer noch diese Auffassung aufgetischt. Es hat aber immer Menschen gegeben, die sich mit dieser oberflächlichen Geschichtsauffassung nicht zufrieden gaben und die hinter dem Ablauf der Geschehnisse eine grundlegendere Gesetzmäßigkeit am Werk zu sehen glaubten. Im Mittelalter führte die ideologische Vorherrschaft der Kirche dazu, dass diese Gesetzmäßigkeit in religiöse Begriffe gefasst wurde. Im Handeln von Männern und Frauen sah man das Werk göttlicher Vorsehung. Während die Menschen ihre eigenen Wünsche und Interessen verfolgten, verwirklichten sie unbewusst den göttlichen Plan für das Universum. Mit seiner Vorstellung von Geschichte als Prozess, durch den der absolute Geist zur Selbsterkenntnis kommt, war Hegel der letzte große christliche Philosoph. Die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts führte zu einer weltlichen

Auffassung von Geschichte, in der Gott keine Rolle mehr spielte. Trotzdem sah die Aufklärung in der Geschichte ein Muster, nämlich den »Fortschritt des menschlichen Geistes«. Geschichte war die Erzählung von der wachsenden Macht der Vernunft, ihres ständigen Kampfs mit dem Aberglauben und ihres schrittweisen, aber unvermeidlichen Sieges. Diese Auffassung war zugleich idealistisch, weil sie Ideen für den Motor geschichtlichen Wandels hielt, und optimistisch, weil sie dem Glauben anhing, die Gesellschaft schreite im Zuge der zunehmenden Aufklärung der Menschen stetig voran. Das Geschichtsbild der Aufklärung erschien im 18. und 19. Jahrhundert weitgehend plausibel, da zumindest die westliche Welt ungebrochenen materiellen und wissenschaftlichen Fortschritt erlebte. Heute überzeugt das nicht mehr: Im 20. Jahrhundert häuften sich die Katastrophen – es gab zwei zerstörerische Weltkriege, den Horror der nationalsozialistischen Konzentrationslager und den Schrecken der Zwangsarbeitslager des stalinistischen Russlands sowie das obszöne Nebeneinander von westlicher Überflussgesellschaft und massenhaftem Hungertod in der »Dritten Welt«. Der technische Fortschritt hat sich derart beschleunigt, dass unsere Kontrolle über die Natur gerade in den vergangenen Jahrzehnten gewaltige Sprünge gemacht hat. Doch das Ergebnis dieses Fortschritts kann genauso gut die Vernichtung der Menschheit, sogar der Erde selbst sein, sei es durch zerstörerischen Raubbau an der Natur oder technisch perfekte Massenvernichtungswaffen.

Marx geht vom Handeln aus, nicht vom Denken

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und Fähigkeiten und noch bessere Werkzeuge. Und in neuerer Zeit gibt es die fabrikmäßige Produktion – für die wiederum die Natur die Rohstoffe zur Verfügung stellt und die Menschen ihre Arbeitskraft. Dabei verwenden wir immer ausgefeiltere Werkzeuge wie Maschinen und Computer. In diesen Beispielen können wir drei Bestandteile ausmachen. Erstens gibt es die »Natur«, die Tiere, die gejagt werden, den Samen, der ausgesät wird, den Boden, auf dem er wächst, die Rohstoffe, die in den Fabriken verarbeitet werden. Zweitens gibt es die menschliche Arbeit. Und drittens gibt es Werkzeuge, ob nun Jagdspeere, Pflüge oder Computer. Marx ordnete diese Bestandteile in zwei Kategorien. Der Arbeitsprozess, sagt er, besteht aus zwei Grundelementen, der menschlichen Arbeitskraft und den Produktionsmitteln. Die Produktionsmittel teilt er wiederum in zwei Bestandteile auf: den Boden und die Rohstoffe, die zu neuen Produkten verarbeitet werden – diese nennt er »Arbeitsgegenstände« – und die Werkzeuge, die wir benutzen – diese nennt er »Arbeitsmittel«. Diese Werkzeuge, sagt Marx, sind das entscheidende Element im Arbeitsprozess. Das, was die menschliche Arbeit zustande bringen kann, hängt von den Werkzeugen ab, die ihr zur Verfügung stehen. Die Organisation des Arbeitsprozesses, zum Beispiel die Arbeitsteilung, ist an sich noch nicht konstituierend für das Wesen der zu untersuchenden Gesellschaft. Zwischen einer Brandrodungslandwirtschaft »primitiver« Gesellschaften und einer modernen Fließbandproduktion liegen Welten. Den Unterschied macht vor allem die wissenschaftliche und technische Entwicklung. Sie erlaubt uns heute, viel volkommenere Arbeitsmittel zu benutzen. Damit sind materielle Bedingungen für den Arbeitsprozess vorgegeben – unabhängig davon, welche sozialen Beziehungen die am Arbeitsprozess Beteiligten untereinander eingehen. Um beispielsweise ein Auto zu produzieren, müssen wir über die technischen Fähigkeiten und die wissenschaftlichen Kenntnisse verfügen, die notwendig sind, um einen Verbrennungsmotor zu konstruieren; wir müssen Metall bearbeiten, um die Karosserie zu bauen, Gummi zapfen und in Reifen verwandeln, Benzin herstellen, das das Auto mit Energie versorgt. Diese Fähigkeiten sind historische Errungenschaften, die die wachsende Macht der Menschen über die Natur zeigen. Sie werden in einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft genauso wie im Kapitalismus gebraucht. Der Arbeitsprozess spiegelt also immer die Entwicklung der Technik in einer Gesellschaft wider, welche von unserem theoretischen Wissen und unseren praktischen Fertigkeiten abhängt. Verbesserungen im Arbeitsprozess erlauben es uns, die gleiche Menge von Bedarfsgegenständen mit einer geringeren Menge Arbeit zu produzieren. Deshalb reduzieren technische

MARX NEU ENTDECKEN

NEU

Es überrascht nicht, wenn viele Leute angesichts dieser Widersprüche jegliche Gesetzmäßigkeit der Geschichte in Abrede stellen. Für sie ist Geschichte ein sinnloses Chaos schrecklicher Ereignisse – »eine Abfolge von Notständen«, wie es der liberale britische Historiker Herbert Fisher einmal formulierte. »Die Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich zu erwachen versuche«, schrieb James Joyce und sprach damit vielen aus der Seele. Es war in diesem schrecklichen Jahrhundert verlockend, jeden Versuch, die Welt zu verändern, aufzugeben und in persönlichen Beziehungen oder Erfolgen Zuflucht zu suchen – Talent und wirtschaftliches Potenzial vorausgesetzt. Die Geschichtstheorie von Karl Marx ist ein Angriff sowohl auf den oberflächlichen Optimismus der Aufklärung als auch auf die modernere Auffassung von Geschichte als reinem Chaos. Für Marx hat die Geschichte eine Gesetzmäßigkeit, doch diese besteht nicht im »Fortschreiten des menschlichen Geistes«. Marx’ Ausgangspunkt ist nicht das Denken, sondern »die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten«. Schon in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 hat Marx die Menschen zuerst als Produzenten definiert. Ihre Produktion habe zwei Aspekte: einen materiellen und einen gesellschaftlichen. Erstens wirken die Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf die Natur ein und gestalten sie dabei um. Zweitens ist Produktion ein gesellschaftlicher Prozess, in dem Menschen zur Herstellung der benötigten Güter zusammenarbeiten. Dabei treten die Beteiligten immer in gesellschaftliche Beziehungen miteinander, bei denen es vor allem um die Kontrolle des Produktionsprozesses und die Verteilung der Produkte geht. Marx sprach in Bezug auf den ersten Aspekt von Produktivkräften, und in Bezug auf den zweiten von Produktionsverhältnissen. Die Beschaffenheit der Produktivkräfte in einer bestimmten Gesellschaft hängt vom »Arbeitsprozess« ab, wie Marx es nennt, durch den die Menschen auf die Natur einwirken und sie umgestalten. Er schreibt: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.« Beginnen wir mit einem groben Umriss, wie die Menschen ihre Bedürfnisse zu befriedigen begannen. Die ersten Menschen lebten von der Jagd – dazu brauchten sie ihre eigene Kraft und Geschicklichkeit sowie Waffen, scharfkantige Stöcke oder Steine, die sie vorfanden, oder Speere und Äxte, die sie herstellten. Dann begannen die Menschen, den Boden zu bearbeiten und Nahrung anzupflanzen – wieder benötigten sie ihre eigene Kraft

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Verbesserungen für die Menschheit potenziell die Last der materiellen Produktion. Zugleich machen sie uns weniger abhängig von unserer natürlichen Umwelt. Sie vergrößern unsere Kontrolle über die Natur. Heute hängen Knappheit oder Überfluss nicht mehr davon ab, ob der Sommer gut oder schlecht war. Marx glaubte, dass diese Entwicklung der Produktivkräfte kumulativ sei. Anders gesagt, die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften einer Gesellschaft bilden die Grundlage, auf der nachfolgende Gesellschaften aufbauen können. Marx argumentiert, dass dies ein Prozess ist, der

Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen

sich durch die ganze menschliche Geschichte fortsetzt, von der neolithischen Revolution, in der die Menschen erstmals begannen, Land zu bebauen, zu ernten und Haustiere zu halten, bis zur industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Entwicklung der Produktivkräfte ist eine notwendige Bedingung für jede Verbesserung unseres Lebens. Auch in einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft wird der Arbeitsprozess die »ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens« sein. Doch kann die Entwicklung der Produktivkräfte allein den historischen Wandel und die geschichtliche Entwicklung nicht erklären. Die Erweiterung unserer wissenschaftlichen Kenntnisse und unserer praktischen Fertigkeiten findet nicht isoliert statt von der Art und Weise, wie wir den Gebrauch der Produktivkräfte organisieren, von den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen. Um zu begreifen, was Marx mit Produktionsverhältnissen gemeint hat, müssen wir verstehen, dass die Produktion in doppelter Hinsicht gesellschaftlich ist. Zum einen ist Arbeit notwendigerweise eine gesellschaftliche Tätigkeit, weil sie von der Zusammenarbeit mehrerer Individuen abhängt, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollen. So gesehen sind die Beziehungen zwischen den Individuen durch die materiellen Beschränkungen, auf eine bestimmte Art zu produzieren, vorgegeben. Die Verteilung der Aufgaben auf die Produzenten hängt von der Art des gegebenen Arbeitsprozesses und den Fertigkeiten der Individuen ab. Aber es gibt noch eine zweite gesellschaftliche Seite der Produktion, in der die Produktionsmittel – die Werkzeuge und die Rohstoffe –das entscheidende Element sind. Marx schreibt: »Welches immer die gesellschaftlichen Formen der Produktion, Arbeiter und Produktionsmittel bleiben stets ihre Faktoren (…). Damit überhaupt produziert werde, müssen sie sich verbinden. Die besondere

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Art und Weise, worin diese Verbindung bewerkstelligt wird, unterscheidet die verschiedenen ökonomischen Epochen der Gesellschaftsstruktur.« Marx betont, dass wir die Produktion und deshalb auch die Gesellschaft, in der sie stattfinde, nicht verstehen können, wenn wir nicht untersuchen, wer die Produktionsmittel kontrolliert. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens kann, nachdem die primitivsten Formen der Landwirtschaft überwunden sind, kein Arbeitsprozess mehr ohne Produktionsmittel stattfinden. Selbst die Brandrodungslandwirtschaft ist von einem relativ freien Zugang zu Boden abhängig.

Zweitens liefert die Verteilung der Produktionsmittel den Schlüssel zur Teilung der Gesellschaft in Klassen. Denn es gibt keine dem Arbeitsprozess innewohnende Notwendigkeit, wonach die Produzenten, also diejenigen, die die tatsächliche Arbeit leisten, auch über die Produktionsmittel, die Werkzeuge und Rohstoffe, mit denen sie arbeiten, verfügen müssen. Klassen entstehen, wenn die »unmittelbaren Produzenten« von den Produktionsmitteln getrennt werden, die in das Monopol einer Minderheit übergehen. Die Trennung findet erst statt, wenn die Produktivkräfte ein gewisses Niveau erreicht haben. Bei der Betrachtung des Arbeitstags in der Klassengesellschaft unterscheidet Marx zwei Bestandteile. Im ersten verrichtet der unmittelbare Produzent notwendige Arbeit. Mit anderen Worten, die Arbeiterin, der Arbeiter produziert die notwendigen Lebensmittel, um sich selbst und die Angehörigen am Leben zu erhalten. (Im Kapitalismus produziert der Arbeiter nicht seine tatsächlichen Existenzmittel, jedoch ihren Gegenwert in Form anderer Güter, für die er mit Geld bezahlt wird. Die grundlegende Beziehung ist aber dieselbe.) Während des zweiten Teils des Arbeitstags verrichtet der Produzent Mehrarbeit. Das Produkt dieser Stunden eignet sich nicht die Person an, die die tatsächliche Arbeit geleistet hat, sondern der Besitzer der Produktionsmittel. Das geschieht im Austausch dafür, dass dem Arbeiter das Privileg eingeräumt wird, diese Produktionsmittel zu benutzen, damit er die Arbeit verrichten kann, ohne deren Produkte sie oder er zugrunde gehen würde. Marx schreibt dazu: »Überall, wo ein Teil der Gesellschaft das Monopol der Produktionsmittel besitzt, muss der Arbeiter, frei oder unfrei, der zu seiner Selbsterhaltung notwendigen Arbeitszeit überschüssige Arbeitszeit zusetzen, um die Lebensmittel für den Eigner der Produktionsmittel zu produzieren, sei dieser Eigentümer nun


Verfügungsgewalt (genauer: faktischer Besitz) über die Produktionsmittel ist nicht notwendigerweise dasselbe wie rechtliches Eigentum. In dieser Frage befand sich Marx an der Seite der materialistischen bürgerlichen Philosophen wie Thomas Hobbes, »die die Macht als die Grundlage des Rechts betrachteten. (…) Wird die Macht als die Basis des Rechts angenommen, wie es Hobbes etc. tun, so sind Recht, Gesetz pp. nur Symptom, Ausdruck anderer Verhältnisse, auf denen die Staatsmacht beruht.« Die Unterscheidung zwischen Produktionsverhältnissen und den rechtlichen Eigentumsformen ist sehr wichtig. Einige Menschen glauben, dass der Kapitalismus an die Existenz einzelner Kapitalisten gebunden ist, die die Produktionsmittel besitzen und kontrollieren. Nach ihrem Dafürhalten zeigt deshalb der Aufstieg der modernen

Kapitalgesellschaften, in denen Spitzenmanager als Angestellte der Firma mit bestenfalls einigen Aktien im Eigenbesitz die Geschäfte führen, dass wir nicht länger im Kapitalismus leben. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Die Klassengesellschaft wird durch den faktischen Besitz der Produktionsmittel durch eine Minderheit bestimmt, nicht durch die rechtlichen Formen, in die diese Machtverhältnisse gekleidet sind. Die Produktionsverhältnisse einer Klassengesellschaft sind »nicht die von Individuum zu Individuum, sondern die von Arbeiter zu Kapitalist, von Pächter zu Grundbesitzer etc.« Für Marx waren diese auf Ausbeutung beruhenden Klassenverhältnisse der Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft: »Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschaftsund Knechtschaftsverhältnis. (…) Es ist jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten – ein Verhältnis, dessen jedesmalige Form stets naturgemäß einer bestimmten Entwicklungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher ihrer gesellschaftlichen Produktivkraft entspricht –, worin wir das innerste Geheimnis (…) der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion (…) finden.« Aus diesen Gedanken folgen die berühmten ersten Sätze des Kommunistischen Manifests: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen (…). Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltung des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.« Heute ist dieser Gedanke bis zu einem gewissen Grad anerkannt, selbst von bürgerlichen Historikern. Deshalb ist es schwer zu begreifen, wie revolutionär er 1848 war. Vor dieser Zeit wurde Geschichte überwiegend über (und für) die Menschen an der Spitze der Gesellschaft geschrieben, oder es wurde der edle Vormarsch der Vernunft nachgezeichnet. Jetzt hatte Marx die entscheidende Rolle der arbeitenden Massen in allen großen geschichtlichen Umwälzungen zutage gefördert. Diejenigen, die heute Geschichte »von unten« schreiben, machen dies im Schatten von Marx’ Aussage, dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. ■

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atheniensischer Aristokrat, etruskischer Theokrat, römischer Bürger, normännischer Baron, amerikanischer Sklavenhalter, walachischer Bojar, moderner Landlord oder Kapitalist.« Deshalb beruht die Klassengesellschaft auf Ausbeutung, also auf Aneignung der Mehrarbeit durch eine Minderheit, die über die Produktionsmittel verfügt. In den frühen Phasen der menschlichen Entwicklung, im »Urkommunismus«, wie Marx es nennt, in dem die Produktionsmittel im Besitz der Gemeinschaft waren, gab es allerdings nur wenig oder keine Mehrarbeit. Nahezu der ganze Arbeitstag war mit notwendiger Arbeit ausgefüllt, um die Grundbedürfnisse der Gesellschaft zu decken. Dank der Fortschritte in den Produktionstechniken wurden die Menschen allmählich in die Lage versetzt, mehr zu produzieren als notwendig ist, um sie bloß am Leben zu erhalten. Dieses Mehrprodukt war jedoch viel zu klein, um den Lebensstandard von allen deutlich zu verbessern. Stattdessen eignete eine Minderheit es sich an, die aus verschiedenen Gründen, wie größere Tüchtigkeit oder politische Macht, die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel erlangte. So entstanden Klassen. Friedrich Engels stellte das wie folgt dar: »Alle bisherigen geschichtlichen Gegensätze von ausbeutenden und ausgebeuteten, herrschenden und unterdrückten Klassen finden ihre Erklärung in derselben verhältnismäßig unentwickelten Produktivität menschlicher Arbeit. Solange die wirklich arbeitende Bevölkerung von ihrer notwendigen Arbeit so sehr in Anspruch genommen wird, dass ihr keine Zeit zur Besorgung der gemeinsamen Geschäfte der Gesellschaft – Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Rechtsangelegenheiten, Kunst, Wissenschaft, etc. – übrigbleibt, solange musste stets eine besondere Klasse bestehn, die, von der wirklichen Arbeit befreit, diese Angelegenheit besorgte; wobei sie denn nie verfehlte, den arbeitenden Massen zu ihrem eignen Vorteil mehr und mehr Arbeitslast aufzubürden.«

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© Carlos Latuff

Schwerpunkt Klimagipfel

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Kapitalismus vs. Klima Das neue Buch von Naomi Klein


»Klimaschutz bedeutet, die Kürzungspolitik zu beenden« Die Regierungen der Industrieländer werden nichts dafür tun, die drohende Klimakatastrophe abzuwenden. Aufhalten kann sie nur eine breite Bewegung von unten. Jonathan Neale erklärt, warum sich gerade Gewerkschaften jetzt für den Umweltschutz einsetzen müssen

Ein Hauptziel des diesjährigen G7-Gipfels in Elmau war der Klimaschutz. Die beteiligten Regierungen beschlossen, die weltweiten Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 um 70 Prozent zu reduzieren. Bis zum Jahr 2100 soll die Weltwirtschaft überhaupt kein Kohlenstoffdioxid (CO2) mehr erzeugen. Damit zeigten sich Greenpeace und Germanwatch zufrieden. Bist du auch zufrieden? Nein, überhaupt nicht. Warum nicht? Wenn ich verspreche, dass zu irgendeinem Zeitpunkt in der fernen Zukunft irgendwelche anderen Menschen etwas tun werden, dann kostet mich das gar nichts. Die G7 haben nicht gesagt, dass sie aufhören werden, fossile Brennstoffe zu verbrennen. Aber gerade das müssten sie sagen – und tun. Vom Weltklimagipfel in Paris im Dezember erwarten die G7 ein Protokoll, das den Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur auf zwei Grad Celsius begrenzt. Hältst du das für glaubwürdig? Nein, weil es kein Protokoll geben wird, das die Menge der Emissionen beschränkt. Ich glaube, die Vereinbarung von Paris wird bedeuten, dass die globalen CO2-Emissionen im kommenden Jahr höher sein werden als in diesem Jahr. Und im Jahr darauf werden sie noch höher sein. Und im Jahr 2030 werden sie höher sein als im Jahr 2029. Das wissen

Übersetzung: Einde O’Callaghan

Jonathan Neale

Jonathan Neale arbeitet in der britischen Kampagne gegen den Klimawandel mit und ist Mitbegründer der Initiative »1 Million Climate Jobs«, die inzwischen von einigen britischen Gewerkschaften unterstützt wird (www.climatechange-jobs.org). Er ist Autor zahlreicher Bücher, unter anderem von »Stop Global Warming, Change the World« (Bookmarks 2008), und lehrt kreatives Schreiben an der Bath Spa University.

wir, weil die Vereinigten Staaten und China schon im Frühjahr eine Vereinbarung über ihre Emissionen unterschrieben haben. Wenn wir die CO2-Emissionen der USA und Chinas zusammenzählen, kommen wir auf fast die Hälfte der weltweiten Emissionen. Und ihre Vereinbarung besagt, dass diese bis ins Jahr 2030 weiter wachsen werden. Erst dann, so versprechen sie, sollen sie wieder sinken, so dass die Emissionen der USA und Chinas 2040 oder 2045 wieder zurück auf dem heutigen Niveau sein sollen – was bereits viel zu hoch ist. Sie lügen und verbergen es mit dem Trick, dass sie eine Zieltemperatur formulieren, anstatt zu sagen: »Wir werden die CO2Emissionen verringern. Wir werden die Emissionen anderer Treibhausgase auch verringern. Und wir werden sofort damit anfangen.« Was würde es denn überhaupt für die Erde und ihre Bewohner bedeuten, wenn die weltweite Durchschnittstemperatur um zwei Grad ansteigt? Das weiß niemand genau. Aber wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir wohl irgendwann mit einer Reihe von Rückkopplungen konfrontiert werden, die den Klimawandel beschleunigen. Und wenn der Klimawandel außer Kontrolle gerät, wird das innerhalb des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems geschehen, in dem wir jetzt leben – das ist der Kapitalismus. In diesem System werden Naturkatastrophen zu

SCHWERPUNKT Klimagipfel

Interview: Jan Maas

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menschlichen Katastrophen. Beispielsweise wird in vielen Teilen der Erde der Regen ausbleiben, während es in anderen zu viel und zur falschen Zeit regnen wird, so dass die Bauern das Wasser nicht nutzen können. Es wird dazu führen, dass es überall weniger Nahrungsmittel geben

Zustandekommen einer Vereinbarung zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen. Zunächst wollten Obama und viele andere zwar ein Folgeabkommen nach Kyoto, aber im Jahr 2009 änderten sie ihre Meinung. Ich glaube, der Grund für ihren Sin-

Die Regierungen wollen den Ausstoß von CO2 nicht begrenzen wird und sie teurer sein werden, während in einigen Gebieten Hunger herrschen wird. Ein anderes Beispiel: Wir haben jetzt schon Klimaflüchtlinge. Aber in Zukunft könnte es Hunderte Millionen von Klimaflüchtlingen geben. An den Grenzen oder auf dem Meer durch die Marine wird man sie aufhalten – und man wird sie töten, wenn sie versuchen, über die Grenzen zu gelangen. Auch die Unterdrückung innerhalb der Staaten wird zunehmen. Wenn man sich vorstellt, dass große Teile von New York oder Shanghai unter Wasser stehen, werden die Menschen sehr wütend sein. Die Mächtigen werden sich von der Armee verteidigen lassen, mit Panzern auf der Straße. Sie werden sehr grün klingen: »Wir haben die Erde missbraucht. Wir haben zu viele Ressourcen verbraucht. Wir müssen alle Opfer bringen.« Aber damit meinen sie, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Opfer bringen muss und nicht sie selbst. Ein Paris-Protokoll wäre ja nicht das erste Dokument zum Klimaschutz. Woran sind vergleichbare Vereinbarungen seit dem Kyoto-Protokoll gescheitert? Im Jahr 2009 fand ein Klimagipfel der UN in Kopenhagen statt. Am letzten Tag flog US-Präsident Barack Obama ein und traf sich mit Chinas Präsidenten. Sie verfassten eine dreiseitige Vereinbarung, die das Kyoto-Protokoll ersetzen sollte. Dann trafen sie sich mit den Regierungschefs von Südafrika, Indien und Brasilien. Und diese fünf Männer unterzeichneten eine Vereinbarung, die besagte, dass jedes Land so viel emittieren dürfe, wie es wolle. Alle anderen Länder außer Bolivien stimmten ihr zu. Aber das war kein Scheitern – es war genau das, was diese Regierungen wollten. Sie verhinderten absichtlich das

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neswandel war die Finanzkrise von 2008. Nach ihrem Ausbruch war die Konkurrenz zwischen den Ländern, die Konkurrenz zwischen den Konzernen einfach zu groß. General Motors, seit 40 Jahren der größte Industriekonzern der Welt, ging Pleite. Ganze Länder standen vor dem Bankrott. In dieser Situation wollte niemand Geld für Klimaschutz ausgeben, aus Furcht, im globalen Wettbewerb ins Hintertreffen zu geraten. Was wäre für einen effektiven Klimaschutz nötig? Das ist sehr einfach. Wir hören auf, Kohle, Öl und Gas zu benutzen. In einem Land nach dem anderen fangen wir an und treffen darüber Vereinbarungen zwischen den Ländern. Das wird etwa 20 Jahre dauern. Dafür müssen wir zwei Sachen tun: Erstens müssen wir die Energiequellen wechseln. Zweitens müssen wir effizienter werden. Die wichtigste Maßnahme ist, von Privatautos auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Und wir können alle Gebäude dämmen und renovieren, so dass sie viel weniger Energie verbrauchen. Gleichzeitig müssen wir die Verwendung von fossilen Brennstoffen mit wenigen Ausnahmen verbieten. So können wir die Emissionen um 90 bis 95 Prozent verringern. Schätzungsweise braucht es weltweit 20 Jahre lang die Arbeitskraft von rund 150 Millionen Menschen, um die nötigen Umbaumaßnahmen durchzuführen Aber die Regierungen müssen die Menschen für diese Jobs jetzt einstellen. Und sie müssen jetzt damit anfangen, die Verwendung von fossilen Brennstoffen zu reduzieren, und sie dann verbieten. Sie müssen es wollen – obwohl es das Ende der Konzerne bedeutet, die fossile Brennstoffe fördern und mit ihnen handeln.

Viel heiße Luft: In den letzten Monaten seiner Amtszeit entdeckt US-Präsident Barack Obama (3. Puppe von l.) den Klimaschutz wieder. Bei Amtsantritt im Jahr 2009 hatte er die grüne Wende propagiert. Doch dann veränderte sich fast nichts an der US-amerikanischen Umweltpolitik

Und wie können wir das erreichen? Das ist leicht und schwer zugleich: Wir bauen eine Bewegung auf, die groß, stark und breit genug ist, die Regierungen dazu zu zwingen oder sie durch andere Parteien, andere Systeme zu ersetzen, falls sie sich weigern. Wir brauchen dazu eine Bewegung vom Ausmaß der antikolonialen Befreiungsbewegungen oder der Gewerkschaftsbewegung in Europa auf ihrem Höhepunkt. Das ist absolut möglich, aber es ist nicht leicht. Wir leben in einer Zeit, in der die meisten Menschen glauben, man könne die Welt nicht verändern. Das ist der große Triumph des Neoliberalismus, dass die Herrschenden uns glauben gemacht haben, wir seien hilflos. Aber wenn wir aufhören, hilflos zu sein, können wir es schaffen.


Im Vorfeld des Weltklimagipfels hat auf Einladung des internationalen Gewerkschaftsbunds ein Klimagipfel für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter stattgefunden. Warum sollten ausgerechnet sie sich für den Klimawandel interessieren? Zuallererst weil Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter Menschen sind. Der Klimawandel hat lebenswichtige Auswirkungen auf alle Lebensformen auf der Erde, auch auf die Menschen. Gewerkschaften wurden ursprünglich von Menschen aufgebaut, denen die Zukunft der Erde am Herzen lag. Sie haben sie nicht gegründet, weil sie dachten, dass sie eine Lohnerhöhung von sieben Prozent brauchen, sondern weil sie glaubten, dass eine andere Welt möglich sei: Sie sahen die Gewerkschaftsbewegung als Teil

Wie können Gewerkschaften das Thema Klimaschutz angehen? Umweltschützerinnen und Umweltschützer haben oft nicht die richtige Herangehensweise im Kampf gegen den Klimawandel. Bislang haben die meisten von ihnen behauptet, dass wir ihn dadurch aufhalten können, dass wir Opfer bringen. Aber das stimmt nicht. Wir müssen die Emissionen um mehr als 90 Prozent verringern, aber wir können nicht den durchschnittlichen Lebensstandard um 90 Prozent kürzen.Außerdem geht es nicht um Opfer. Es geht um Investitionen in Klimaschutz. Das ist für uns alle, für die arbeitende Bevölkerung, für die Menschen mit Kindern, Freunden und Geschwistern, die eine Arbeit brauchen, ein Gewinn. Es ist das Ende der Kürzungspolitik. Und wenn eine soziale Bewegung für ein Ende der Kürzungspolitik kämpfen wird, dann sind das die Gewerkschaften. In Deutschland wird das meiste CO2 von Kraftwerken, dem Verkehr und der Industrie ausgestoßen. Daran hängen viele Arbeitsplätze. Was sagst du Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, die Angst um Arbeitsplätze haben? Wir sagen Folgendes: Wir versprechen euch neue Jobs, zum gleichen Lohn und mit derselben Anerkennung. Ich bin Teil der »Climate Jobs Campaign« in Großbritannien, die von der Hälfte der britischen Gewerkschaften unterstützt wird. Ähnliche Kampagnen für Klima-Arbeitsplätze mit sehr starker Unterstützung der Gewerkschaften gibt es auch in Norwegen und Südafrika. Neue Kampagnen entwickeln sich in Kanada, im Bundesstaat

New York in den USA und im französischen Teil des Baskenlandes – und natürlich hoffen wir auf mehr. Diese »Climate Jobs«-Kampagnen sind auf dem Klimagipfel der Gewerkschaften vertreten. Zusammen mit dem internationalen Gewerkschaftsbund sind wir Teil des Organisationsteams. Es soll ein Treffen von Menschen werden, die begeistert und leidenschaftlich sind, mit Aktivistinnen und Aktivisten, die entschlossen sind, »Climate Jobs«-Kampagnen auf der ganzen Welt aufzubauen. Deren Botschaft lautet überall: Wenn du deinen Job verlierst, versprechen wir dir einen neuen. Ohne dieses Versprechen spaltet man die Gewerkschaften, die Gemeinden, die Länder, man spielt Teile der Arbeiterklasse gegeneinander aus. Aber um es halten zu können, muss es staatliche Programme geben. Eine letzte Frage: Wie können Aktivistinnen und Aktivisten aus Deutschland sich in die Proteste gegen den Weltklimagipfel einbringen? Das Bündnis in Frankreich und andere Organisationen rufen zum Beginn des Klimagipfels weltweit zu Demonstrationen auf. Zu diesem Termin für den Klimaschutz auf die Straße zu gehen, ist das Wichtigste. Wir werden in London eine sehr große Demonstration haben. Wir wollen solche Demonstrationen in Hauptstädten überall auf der Welt, etwa in Berlin, Rom, Athen, Nairobi, Johannesburg, Buenos Aires, Caracas und so weiter. Wir glauben, dass diese Proteste sehr viele Menschen anziehen können. In Großbritannien gab es im Laufe des letzten Jahres zwei Demonstrationen, eine mit 40.000 Teilnehmenden und eine mit 25.000. Dieses Mal werden noch mehr Leute auf die Straße gehen. Im September letzten Jahres gingen 300.000 bis 400.000 Menschen in New York für den Klimaschutz auf die Straße. Die zweite Sache ist, im Anschluss an die Demonstration nach Paris zu kommen. Dort findet ein viertägiger öffentlicher Gegengipfel statt. Danach müssen wir zurück nach Hause fahren und uns für »Climate Jobs«-Kampagnen in jedem Land einsetzen. Aber noch wichtiger sind zurzeit die Kämpfe gegen die Fossilbrennstofffirmen – zum Beispiel gegen Fracking oder weitere Kohleförderung. ■

SCHWERPUNKT Klimagipfel

© Oxfam Italia / CC BY-NC-ND / flickr.com

des Kampfs für ein ganz anderes Gesellschaftssystem. Einige waren Kommunistinnen, einige waren Sozialdemokraten, einige waren Anarchistinnen, aber sie glaubten an eine Alternative. Die Gewerkschaften sind entscheidend für einen erfolgreichen Kampf gegen den Klimawandel. Denn die Umweltbewegung besteht heute hauptsächlich aus wohlhabenden Weißen, die im globalen Norden wohnen. Sie ist vielleicht stark genug, um die Wale zu retten, aber sie ist nicht stark genug, um den Klimawandel zu stoppen. Wir brauchen eine viel größere Bewegung und die Gewerkschaften sind die größten sozialen Bewegungen, die wir haben.

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SCHWERPUNKT

Entweder Kapitalismus oder Klimaschutz Ohne einen grundlegenden Wandel der Wirtschaftsweise ist das Klima nicht zu retten, argumentiert die kanadische Aktivistin und Autorin Naomi Klein in ihrem Buch »Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima« Von Hubertus Zdebel

★ ★★

Hubertus Zdebel ist Bundestagsabgeordneter und Obmann der Fraktion DIE LINKE im Umweltausschuss des Bundestags. Er unterstützt das Netzwerk marx21.

N

aomi Klein ist es gelungen, einen systemkritischen Beitrag zur Klimadebatte in der breiten Öffentlichkeit zu platzieren. Ihr neuestes Werk fand Beachtung in den großen deutschen Tageszeitungen, in Rundfunk und Fernsehen. Für einen Einstieg in den Klimadiskurs bietet die Lektüre detailreiche Fakten über die Folgen des menschengemachten Klimawandels sowie über seine Verursachung durch die massive Rohstoffausbeutung im Zuge kapitalistischen Wirtschaftens. Klein enthüllt den immensen Einfluss und Lobbyismus der Fossilindustrie und zeigt die weitreichenden Verstrickungen auf, die zwischen staatlichen Behörden und den Energie- und Rohstoffkonzernen herrschen. Darüber hinaus weist sie anhand vieler statistischer Belege nach, dass marktorientierte Instrumente, wie etwa der weltweite Emissionshandel, als Beiträge zum Klimaschutz allesamt sang- und klanglos gescheitert sind. Kleins Buch liefert damit insgesamt eine Abrechnung mit dem neoliberalen Dogma der freien Märkte.

Eine Abrechnung mit dem neoliberalen Dogma der freien Märkte

Zugleich richtet sich ihr Buch gegen die Idee eines »Grünen Kapitalismus«, der zufolge der Klimawandel durch Marktmechanismen gestoppt werden könne und sich an der herrschenden Wirtschaftsordnung mitsamt ihrem Expansionsdrang nichts grundlegend ändern müsse. Klein schlussfolgert dagegen, dass es »radikale[r] Veränderungen auf gesellschaftlicher ebenso wie auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene« bedarf. Großen Raum in ihrer Betrachtung nehmen daher die weltweit statt62

findenden Klimakämpfe mit ihren kreativen Formen des zivilen Ungehorsams ein, die in den letzten Jahren, auch angesichts des Booms von Fracking und Teersandförderung, stark zugenommen haben. Das Verdienst von Kleins Streitschrift liegt darin, die überaus engagierte und stärker werdende Klimabewegung umfassend zu würdigen und anschaulich zu machen, dass die Klimafrage im Wesentlichen eine soziale Frage ist. Deshalb ist für ein umfassendes Verständnis des Klimawandels, wie Klein ganz richtig feststellt, das Verhältnis von Besitzenden und Nicht-Besitzenden in den Blick zu nehmen. Dieser entscheidende Aspekt wird in der öffentlichen Debatte und insbesondere von der herrschenden Politik noch viel zu häufig ausgeblendet. Klein widmet sich der sozialen Frage in Form einer Kritik des Neoliberalismus. Sie zeigt, welche zerstörerischen Auswirkungen die Deregulierungen, Privatisierungen und das Zurückdrängen des öffentlichen Sektors in den letzten Jahrzehnten nicht nur auf die Lebensstandards der Menschen, sondern auch auf das Klima hatten. Die sich gegen Mensch und Natur gleichgültig zeigende rücksichtslose Rohstoffausbeutung hat sich durch die Ausweitung der Märkte weltweit massiv verschärft. Anders als Naomi Klein nahelegt, ist diese Entwicklung aber nicht allein auf die »Exzesse der Superreichen« und das Wirken einer »größenwahnsinnigen Elite« zurückzuführen. Damit geht sie der Sache nicht wirklich auf den Grund und erfasst nicht die vom Kapitalismus erzeugten Systemzwänge, die sich


★ ★★ Buch | Naomi Klein | Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima. | S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2015 | 704 Seiten | 26,99 Euro (Hardcover)

Wie Naomi Klein in ihrem Buch aufzeigt, duldet der Klimawandel kein weiteres Hinauszögern des sozialökologischen Umbaus. Bereits im Hier und Jetzt, also innerhalb des Kapitalismus, gibt es Spielräume für Veränderungen. Ein wirksamer und nachhaltiger Klimaschutz ist allerdings nur jenseits des Kapitalismus, und zwar auch jenseits seiner staatlich regulierten Form, zu haben. An dieser Perspektive hapert es zwar, dennoch möchte ich das Buch wärmstens empfehlen, weil Naomi Klein neben wertvollen Fakten auch zahlreiche Argumente und Ansätze für eine antikapitalistisch orientierte Kritik und Praxis der Klimabewegung bietet. ■

Naomi Klein bei der Verleihung der World Rainforest Awards 2011 in San Francisco

SCHWERPUNKT Klimagipfel

Doch die herrschende Politik – und das gilt trotz Energiewende auch für die deutschen Bundesregie-

rungen der letzten Jahre – schöpft die Möglichkeiten staatlicher Regulierung und Steuerung nicht aus, sondern zeigt sich stattdessen weiter stramm marktgläubig. Beispielsweise lässt sich der verzögerte Kohleausstieg in Deutschland nicht durch Sachzwänge rechtfertigen, sondern ist eindeutig durch die Profitinteressen der großen Energiekonzerne zu erklären. Die Antikohleproteste in Garzweiler im vergangenen August haben gezeigt, wie eng verflochten die Staatsmacht und der RWE-Konzern bei der Durchsetzung der Konzerninteressen zusammenarbeiten. Der staatlich durchgesetzte Atomausstieg hingegen hat unter Beweis gestellt, dass sehr wohl eine stärker am Allgemeinwohl orientierte Steuerung der Energiepolitik möglich ist.

© Rainforest Action Network / Eric Slomanson / CC BY-NC / flickr.com

auf das Verhalten der Menschen in ganz bestimmter Weise auswirken. Im Vorwort zur ersten Auflage seiner »Kritik der politischen Ökonomie« betont Karl Marx sehr richtig, nicht »den einzelnen verantwortlich machen« zu wollen »für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag«. Klein blendet aus, dass die Profitmaximierung zum Kapitalismus dazugehört. Anhäufung von Kapital und nicht etwa die Bedürfnisbefriedigung der Menschen ist der Zweck jeglicher kapitalistischer Produktion. Für eine konsequent antikapitalistische Perspektive hätte Klein zusätzlich das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Lohnarbeit ins Visier ihrer Kritik nehmen müssen. Und dennoch bietet Kleins Analyse durchaus Anknüpfungspunkte für eine radikal-linke Politik. Denn vergeblich sind die Auseinandersetzungen um eine stärkere staatliche Regulierung der freien Märkte nicht. Zwar lässt sich der Zweck Profitmaximierung im Kapitalismus nicht ausschalten, aber der öffentliche Sektor unterliegt zumindest nicht in gleicher Weise dem Profitdruck wie die privaten kapitalistischen Unternehmen. Durch eine Rückeroberung und Ausweitung des öffentlichen Sektors, etwa durch Rekommunalisierung und Dezentralisierung der Energieversorgung, wie Klein sie auch fordert, kann die Politik Einfluss nehmen.

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MARX21 Online Stathis Kouvelakis beschreibt im Interview die turbulenten Entwicklungen in Griechenland Niklas Geißler auf unserer Facebook-Seite Tsipras hat immer noch hohe Zustimmungswerte. 0 · 21. Juli um 17:05 Uhr Apostolos Papassilekas auf unserer Facebook-Seite Ein Ja, das stimmt. Darüber kann man nur spekulieren – genauso wie zum Beispiel über die Beliebtheit der Merkel-Regierung hier, die ihre neoliberale Agenda durchzieht und trotzdem beim »Volk« sehr beliebt ist. 0 · 21. Juli um 20:19 Uhr

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IInsgesamt gab es im August 21.454 Aufrufe der Seite marx21.de (40.488 im Juni / 35.839 im Juli) 64

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diesem Nein kein Ja machen« 10. Leo Trotzki: Die Feder

Lydia Makhloufi auf unserer Facebook-Seite Bin selber enttäuscht. Andererseits ist es auch leicht (zu leicht), gemütlich vorm heimischen PC zu sitzen und uns darüber zu mokieren, was Alexis Tsipras doch für ein Weichei ist. Können wir wirklich so sicher sein, an seiner Stelle mehr Rückgrat bewiesen zu haben? 0 · 14. Juli um 01:09 Uhr

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Wladek Flakin auf unserer Facebook-Seite Schade, dass fast niemand von der Linken Plattform von Syriza gegen das neue Memorandum gestimmt hat. 0 · 11. Juli um 12:37 Uhr


Hochschule

Die neoliberale Blaupause zerreißen Mit der Kampagne »Das muss drin sein« möchte DIE LINKE der Zunahme prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen entgegentreten. Ihr Studierendenverband hat sich vorgenommen, das Thema an die Unis zu tragen. Doch um Schlagkraft zu entwickeln, bedarf es einer Zuspitzung Von Daniel Anton Seligkeit aufrechterhalten wird. Hartz IV bedeutete nicht nur die Demontage des sozialstaatlichen Gedankens und systematische Lohndrückerei, sondern war auch neoliberale Blaupause für den Rest Europas. Gelogen ist, dass die Menschen in Deutschland die Sparmaßnahmen nicht zu spüren bekämen: Seit zwanzig Jahren gibt es de facto keine Reallohnerhöhungen mehr und jeder dritte Beschäftigte arbeitet in atypischen Verhältnissen. Leiharbeit, Werkverträge, Befristung, unbezahlte Praktika und 450-Euro-Jobs sind mittlerweile nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Prekäre Arbeits- und damit verbunden prekäre Lebensverhältnisse sind seit Jahren auf dem Vormarsch. In jedem Märchen steckt aber auch immer ein Quäntchen Wahrheit. So kann die Bundesregierung durchaus behaupten, dass es in Deutschland in den letzten Jahren keine krassen, komprimierten Kürzungen mit sichtbaren sozialen Einschnitten und Entlassungen, wie etwa in Irland, Spanien, Italien und Griechenland, gegeben hat. Mit einer aggressiven Exportstrategie gegenüber dem restlichen Europa wusste man dies zu verhindern. Die Methode der Krisenbewältigung in der Bundesrepublik unterscheidet sich aber bei genauerem Hinsehen nicht wirklich von der Austeritätspolitik im Rest Europas. Die Zauberwörter

Deutschland ist keine Insel der Glückseligen

Deutschland erscheint dagegen als der Fels in der Brandung und die vermeintliche Insel der Glückseligen. So liest sich jedenfalls das Narrativ der deutschen Bundesregierung. Wie jedes gute Märchen lebt aber auch diese Erzählung von Auslassungen und Lügen. Wahr ist, dass die Auftragsbücher des Exportweltmeisters nach wie vor gut gefüllt sind und die Arbeitslosigkeit auf vergleichsweise niedrigem Niveau stagniert. Weggelassen wird dabei jedoch, mit welchen Mechanismen diese deutsche

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Daniel Anton ist aktiv bei Die Linke.SDS an der Universität Freiburg.

Hochschule

D

ass die Nachbeben der Finanzkrise weiter intensiv an den Grundüberzeugungen der bürgerlichen Ökonomen rütteln, liegt bei der anhaltenden globalen Krisenstimmung auf der Hand. Der minimale Aufschwung im Euro-Raum hat diese Bezeichnung eigentlich nicht verdient. Während die Ökonomen fieberhaft nach Erklärungen suchen, hat die permanente kapitalistische Krise massive Auswirkungen auf Millionen von Menschen. In den Ländern Südeuropas liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei bis zu fünfzig Prozent und Griechenland steckt inmitten einer humanitären Krise, wie man sie in Europa für nicht mehr möglich gehalten hat. Trotzdem lautet die Antwort der Herrschenden überall auf dem Kontinent weiterhin: »Austerität«.

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heißen hierzulande »Schuldenbremse« und »schwarze Null«. Während man Vermögende und die sprudelnde Wirtschaft weiterhin schalten und walten lässt, dienen diese Schlagwörter als Totschlagargument für jegliche öffentliche Investition. Dazu gehört zum Beispiel der Unwille der öffentlichen Arbeitgeber, Erzieherinnen und Sozialarbeiter besser zu entlohnen, Lehrerinnen mit festen Verträgen einzustellen oder der Arbeitsverdichtung in der Kranken- und Altenpflege durch ausreichend Personal entgegenzusteuern. Das Mantra der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft lautet, »uns« gehe es gut, da »wir« Zurückhaltung ausüben. Dass diese Zurückhaltung aber prekäre Bedingungen für Millionen bedeutet, während die Gewinne der Konzerne und Banken Rekordsummen erreichen, wird verschwiegen.

auszubilden. Die Regelstudienzeit für den Bachelor beträgt lediglich drei Jahre. Das Studieren scheint damit für viele auch erst einmal einfacher und attraktiver geworden zu sein. In ganz Deutschland strömten zum Wintersemester 2014/2015 etwa 2,6 Millionen Menschen an die Hochschulen. Doch die Massenuniversität bedeutet keineswegs »Bildung für alle«, sondern ist in Kombination mit der strukturellen Unterfinanzierung eher eine Art Massenabfertigung für schlecht bezahlte Facharbeitskräfte. Diese Entwicklung führt zu einer ganzen Reihe von Problemen, welche die große Mehrheit der Studierenden auf die ein oder andere Weise betreffen. Für viele ist es eine Kombination unterschiedlichster Probleme. So hält etwa der Bau von Studierendenwohnheimen durch die Städte keineswegs mit der ständig steigenden Zahl an Studierenden mit. Das führt zu einer zunehmend prekären Wohn- und Mietsituation. In den großen Universitätsstädten beträgt der Anteil des Gesamteinkommens, der für die Miete draufgeht, bis zu fünfzig Prozent. Und auch bei der finanziellen Unterstützung Studierender zieht sich der Staat immer weiter zurück. Für den durchschnittlichen Studierenden wurde das Gesamteinkommen im Jahr 2014 gerade einmal zu 16 Prozent durch das BAföG gedeckt, 48 Prozent waren elterliche Unterstützung und 26 Prozent eigener Verdienst. Beim eigenen Verdienst sind sich Studierende verständlicherweise für kaum einen Billigjob zu schade, und die Wirtschaft nimmt das wiederum gerne an. Die Deutsche Post erdreistete sich sogar während des Poststreiks ganz offen Studierende für die Dauer des Konflikts als Streikbrecher anzuwerben. Gleichzeitig ist durch die kürzere Studienzeit und die »Verschulung« des Studiums die Arbeitsbelastung und der Stress enorm gestiegen. Ein Bachelorstudium ist auf 40 Wochenstunden ausgelegt, was jedoch an der sozialen Realität eines Großteils der Studierenden vorbeigeht. Mittlerweile sind bundesweit über zwei Drittel aller Studentinnen und Studenten auf einen Nebenjob angewiesen. Durchschnittlich gehen Studierende zusätzlich zum Vollzeitstudium 13,5 Stunden in der Woche einer Erwerbsarbeit nach. Gleichzeitig lebt über ein Viertel von ihnen von weniger als 600 Euro im Monat. Die Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichen Studie der Techniker Krankenkasse sind dementsprechend dramatisch. Demnach leidet etwa die Hälfte aller Studierenden in Deutschland unter Dauerstress. Jeder fünfte gibt als Hauptsorge finanzielle Probleme

Studierende leiden auch unter hohen Mieten, Befristung und Leiharbeit

Doch nicht nur die lohnabhängig Beschäftigten, sondern auch Studierende sind in zunehmendem Maße von Prekarität betroffen. Denn in die Reihe der »Notwendigkeiten« für die Einhaltung von »Schuldenbremse« und »schwarzer Null« fällt auch die strukturelle Unterfinanzierung der Hochschulen. Auch hier handelte es sich in den letzten Jahren meist nicht um drastische Kürzungen auf einen Schlag, wie etwa in Sachsen-Anhalt, wo im Jahr 2014 innerhalb kürzester Zeit mehrere für »unrentabel« befundene Institute geschlossen werden sollten und über tausend Studienplätze in Gefahr waren. Stattdessen läuft es meist auf subtilere Art in Form eines sukzessiven Kürzungsprogramms ab. Aber auch das ist messbar und für die Betroffenen deutlich spürbar. Ein Paradebeispiel ist Baden-Württemberg: Innerhalb Deutschlands ist das Bundesland, neben Bayern, am besten aus dem kurzen Tal der Krise entkommen. Wenn auch die Automobilund Maschinenbauindustrie für einige Zeit auf Kurzarbeit und »Abwrackprämie« setzen musste, hat man heute wieder, zumindest auf dem Papier, historisch niedrige Arbeitslosenzahlen und ein »zufriedenes Ländle«. Und dennoch, verglichen mit dem Jahr 2000, gibt Baden-Württemberg heute unter einer grün-roten Regierung pro Studierendem bis zu 2500 Euro weniger im Jahr aus. Das hat System und folgt der neoliberalen Logik der Umgestaltung des Hochschulwesens. Die Einführung des Bachelor- und Master-Systems im Zuge der Bologna-Reformen verfolgte das Ziel, möglichst günstig und in kurzer Zeit mittelmäßig qualifizierte Facharbeiterinnen und Facharbeiter

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an. Zwanzig Prozent leiden unter handfesten Depressionen und anhaltenden Angstzuständen. Doch trotz der zunehmend prekären und nicht selten krankmachenden Bedingungen ist nach dem großen Erfolg der Bildungsstreikbewegung, die ab 2009 in ganz Deutschland die allgemeinen Studiengebühren zu Fall brachte, der studentische Protest an den Universitäten eher verhalten. Die subjektive Wahrnehmung der Studierenden ist mehrheitlich nicht, Teil einer prekarisierten Masse zu sein. Stattdessen wähnt man sich während der extrem kurzen Regelstudienzeit mit seinen prekären Verhältnissen in einer Art »Übergangsphase« und hofft mit dem Abschluss auf das Licht am Ende des Tunnels.

verankerter Teil der Praxis. In Leipzig gelang es, Streikende von Amazon für eine Kundgebung an den Campus zu holen, in Berlin schaffte es die »Studentische Aktion Berliner Arbeitskämpfe«, zusammen mit den Beschäftigten Flashmobs im Einzelhandelsstreik zu organisieren, in Freiburg half der SDS, ein Bündnis von Studierenden und Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst aufzubauen. Als sozialistischer Akteur ist es die Aufgabe von Organisationen wie dem SDS, immer wieder diese Verbindungen herzustellen. Und diese sind nicht so abstrakt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. So wird eine Aufwertung im Sozial- und Erziehungsdienst mit demselben Argument abgelehnt wie eine bessere Finanzierung der Hochschulen. Warum also nicht ein gemeinsamer Kampf der Studierenden und der Beschäftigten gegen das ewige Sparargument? In den kommenden Monaten wird zudem der mögliche Arbeitskampf der Gebäudereinigerinnen und Gebäudereiniger das Potenzial bieten, gemeinsam zu kämpfen, statt sich spalten zu lassen. Die Universitäten sind der größte Abnehmer von Diensten der Gebäudereinigerkonzerne. Dieser Streik wird teils direkt an der Hochschule ausgetragen werden. Und auch die Flüchtlingsfrage spielt hier eine Rolle. Von Arbeitgeberseite wird bereits vorgeschlagen, den Mindestlohn zu senken, um »Flüchtlinge schnell in Arbeit zu bekommen«. Der SDS kann hier eine entscheidende Rolle spielen, wenn er den Spaltungsmechanismen der Herrschenden entgegenwirkt, die Probleme an der Universität nicht vereinzelt betrachtet und für eine gemeinsame Handlungsperspektive von Arbeiterklasse und Studierenden wirbt. Nur so können wir die Universität zu einem stressfreien Ort machen und für ein selbstbestimmtes Studium und Leben kämpfen. ■

Rechts: Im Rahmen der bundesweiten »Das muss drin sein«-Kampagne unterstützte der SDS der Berliner HumboldtUniversität die Streiks der Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer

Hochschule

Die Kampagne des Hochschulverbands Die Linke.SDS, »Stress an der Uni? Stress die Uni!« versucht, mit dieser Problematik umzugehen. Bei der Mehrzahl der fünf Themen (»Mietwahnsinn stoppen«, »Für ein Studium ohne Geldsorgen«, »Gegen Leistungsterror und psychischen Druck im Studium«, »Gegen Befristung und Lohndumping an der Uni« und »Bildungsproteste und Arbeitskämpfe zusammenbringen«) wird es erst einmal die Aufgabe sein, sie am Campus zu skandalisieren und darüber zu informieren. Denn das deutsche Krisenmärchen hat vor den Universitäten natürlich nicht Halt gemacht und die formulierten Punkte werden von vielen Studierenden nicht als Konstante oder gar systematisches Problem wahrgenommen. Überfüllte Studienpläne sowie gesteigerter Leistungs- und Konkurrenzdruck tragen zu einer isolierten Einzelperspektive bei, in der häufig nur noch die Hürden des eigenen Fortkommens registriert werden. Die Sicht auf eine strukturelle und damit alle betreffende Dimension geht dabei oft verloren. Die Aufgabe des SDS ist es daher auch, die Studierenden und ihre Probleme aus der Vereinzelung zu holen und sie für eine kollektive linke Organisierung zu gewinnen. Um wirklich Mobilisierungspotenzial zu entfalten, bedarf es jedoch einer Zuspitzung der Kampagne entlang konkreter sozialer Auseinandersetzungen. Da die Probleme der Studierenden untrennbar mit denen der arbeitenden Bevölkerung zusammenhängen, müssen diese Problem und Verhältnisse auch gemeinsam bekämpft werden. Arbeiterinnen und Arbeiter leiden genau wie die Studierenden unter hohen Mieten, unter Befristung und Leiharbeit. Der Spruch »Gemeinsam Kämpfen, gemeinsam gewinnen« hört sich zunächst höchst abstrakt an. Aber der SDS hat in den vergangenen Semestern mehrfach bewiesen, dass er die konkrete Verbindung zwischen Studierenden und Arbeiterklasse ziehen kann. Die Solidaritätsarbeit bei Streiks ist im Verband kein unumstrittener, aber dennoch ein in den letzten Jahren zunehmend

Links: Streikbrecher? Nicht mit uns! Studentische Solidaritätsaktion an der Universität Hamburg mit den kämpfenden PostBeschäftigten

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GESCHICHTE

Busboykott und Gettokampf Vor sechzig Jahren weigert sich eine Frau, ihren Sitzplatz im Bus herzugeben. Der Kampf gegen die Rassentrennung in den USA nimmt daraufhin an Fahrt auf. Doch die BĂźrgerrechtsbewegung hat keine Antwort auf die soziale Diskriminierung der Schwarzen Von Michael Ferschke

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tels, Restaurants und Theater, in denen Weiße verkehrten, nicht mehr besuchen. Auch das Wahlrecht wurde den Schwarzen schrittweise wieder entzogen. Die lange Expansions- und Wachstumsphase des Kapitalismus seit Ende der 1930er Jahre veränderte die Lebenssituation der Schwarzen in den USA nachhaltig. Angetrieben von technologischen Fortschritten in der Landwirtschaft und der Konzentration von industrieller Produktion und Verwaltung fand eine massive demographische Verschiebung statt. Alleine in den Jahren von 1956 bis 1967 stieg die Arbeitsnachfrage außerhalb des Agrarsektors in den Vereinigten Staaten um 25 Prozent – das entspricht einem Zuwachs um 13 Millionen Jobs. Mehr und mehr Schwarze verließen das Land, wo sie als Farmarbeiter oder Hausangestellte gearbeitet hatten, und zogen in die Städte, um dort neue Jobs in der Industrie zu übernehmen. In den 1960er Jahren lebte erstmals auch im Süden die Mehrheit der Schwarzen in städtischen Gebieten, im Norden waren es bereits über 90 Prozent. Aus diesen sozialen Veränderungen speiste sich die Dynamik der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre – sie verbesserten die Ausgangsbedingungen für einen kollektiven Kampf der Schwarzen gegen den Rassismus. Im Süden forderte die Bürgerrechtsbewegung zunächst die formale Gleichstellung durch die Abschaffung der Rassentrennung und die Wiedereinführung des Wahlrechts. Die Welle von Gettoaufständen in den amerikanischen Großstädten warf schließlich auch ein Schlaglicht auf die drastische soziale Diskriminierung der Schwarzen in ganz Amerika.

© wikimedia / Library of Congress, Prints & Photographs Division

Martin Luther Kings Strategie hatte eine zentrale Schwäche

Die Bürgerrechtsbewegung begann als Kampf gegen den institutionalisierten Rassismus in den früheren Sklavenhaltergesellschaften des Südens der USA. Dort wurde schon wenige Jahre nach der Niederlage im Bürgerkrieg (1865) alles darangesetzt, den Schwarzen die errungenen Freiheiten zu nehmen, um die Herrschaft der weißen Großgrundbesitzer wieder herzustellen. In einigen Südstaaten stellten die Schwarzen die Bevölkerungsmehrheit und drohten, mit dem gewonnenen Wahlrecht politisch die Oberhand zu gewinnen. Überall im Süden entstanden rassistische Terrororganisationen wie der Ku-Klux-Klan, um die Schwarzen aus dem öffentlichen Leben zu drängen und sie davon abzuhalten, ihr Wahlrecht auszuüben. Sie peitschten »aufmüpfige« Schwarze aus, verstümmelten sie und hängten sie auf. Die Rassisten verwüsteten Felder und setzten Häuser in Brand. Schon bald wurden »Mischehen« verboten und ab 1875 wurde durch die »Jim Crow«-Sondergesetze die Rassentrennung verordnet. Mit diesen Gesetzen wurden unter anderem getrennte Räume, Toiletten und Sitzplätze auf Schiffen, Bahnen sowie auf öffentlichen Plätzen vorgeschrieben. Die privilegierten Plätze waren den Schwarzen verwehrt. Die Schulen wurden nach Hautfarbe getrennt. Schwarze durften Ho-

In den 1950er Jahren bauten schwarze Aktivisten und liberale Weiße unter Führung des Predigers Martin Luther King ein Bürgerrechtsbündnis gegen die eklatante Unterdrückung der Schwarzen auf. Kings Strategie zielte auf ein Zusammenspiel von schwarzem Mittelstand und Demokratischer Partei ab. Mittels spektakulärer gewaltfreier Aktionen sollte die Unterstützung der demokratisch geführten Bundesregierung erwirkt werden, damit diese sowohl die rassistische Gesetzgebung als auch die dazugehörige Alltagspraxis von Behörden und Bewohnern der Südstaaten zu Fall bringen würde. In der Tat war der Kampf für Gleichberechtigung im Süden mit unerbittlichen physischen Auseinandersetzungen verbunden. Die Kombination aus dem Prinzip der Gewaltlosigkeit und der Hoffnung auf die Unterstützung durch die Staatsmacht des Nordens war dabei eine zentrale Schwäche von Kings Stra-

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Michael Ferschke ist Mitglied der LINKEN in Berlin und hat Nordamerikastudien studiert.

GESCHICHTE

E

in Bus in Montgomery, Alabama am 1. Dezember 1955. Die vorderen vier Reihen sind für Weiße reserviert – afroamerikanische Passagiere dürfen sie nicht benutzen, selbst wenn sie leer bleiben. Der hintere Teil, der ihnen vorbehalten ist, ist meist überfüllt. Außerdem gibt es einen mittleren Abschnitt, den schwarze Personen benutzen dürfen. Allerdings ist eine komplette Reihe zu räumen, sobald auch nur ein weißer Passagier in dieser Reihe sitzen will (um die Trennung aufrechtzuerhalten). Heute tritt genau dieser Fall ein. Ein weißer Fahrgast verlangt die Räumung der reservierten Sitzreihe. Einige Personen machen den Platz frei, doch die damals 42-jährige Näherin und Bürgerrechtsaktivistin Rosa Parks weigert sich, da sie nicht die übrige Fahrt hindurch stehen will. Der Busfahrer ruft daraufhin die Polizei und Rosa Parks wird wegen Störung der öffentlichen Ruhe verhaftet, angeklagt und zu einer Strafe verurteilt. Dieser bewusste Akt des zivilen Ungehorsams, der von Martin Luther King und anderen öffentlichkeitswirksam skandalisiert wurde, gilt als einer der Auslöser für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, welche in den Folgejahren wichtige Erfolge im Kampf gegen den Rassismus erzielte.

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© wikimedia / Warren K. Leffler / Library of Congress,

Schwarzen als Wähler in Mississippi im Jahr 1964 – dem »Mississippi Freedom Summer«. Etwa eintausend vorwiegend weiße Aktivistinnen und Aktivisten waren aus dem Norden angereist – unter ihnen viele der späteren führenden Figuren der Studentenbewegung. Doch gleich zu Beginn der Kampagne ermordeten Rassisten drei von ihnen in der Nähe von Philadelphia. Während der folgenden zwei Monate töteten Gegner der Bürgerrechtsbewegung drei weitere Menschen, verprügelten etwa achtzig und verübten Brandanschläge auf 53 Kirchen und 30 andere Gebäude. Meist kamen nach solchen Gewalttaten die Rassisten ungeschoren davon, während die Polizei die Bürgerrechtler kriminalisierte. Dies führte in den Reihen der Aktivsten zu Enttäuschung und Verbitterung gegenüber der Demokratischen Regierung – gerade weil der Justizminister Robert F. Kennedy für die Wahlregistrierungsaktivitäten Unterstützung durch die Bundesbehörden zugesagt hatte. Diese schauten jedoch häufig nur tatenlos zu, wenn örtliche Polizeikräfte gegen die Bürgerrechtler vorgingen. Angesichts solcher Erfahrungen stellten viele Aktivisten auch das von Martin Luther King erhobene Prinzip der Gewaltlosigkeit in Frage.

Beim »Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit« (1963) hielt Martin Luther King seine »I Have a Dream«Rede

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tegie. Denn wo diese Unterstützung durch die Bundesregierung ausblieb, riskierten die Bürgerrechtsaktivisten Leib und Leben. Ein Beispiel hierfür stellte die 1961 gestartete Kampagne zur Desegregation der Buslinien in den Südstaaten der USA, die »Freedom Rides« (Freiheitsfahrten), dar. Schwarze und weiße, vorwiegend studentische Aktivisten fuhren mit den GreyhoundLinienbussen durch die Südstaaten, um dort ein Zeichen gegen die Rassendiskriminierung zu setzen. Die teilnehmenden Aktivistinnen und Aktivisten stießen jedoch im Mai 1961 in Alabama auf wütende Mobs weißer Rassisten und wurden brutal zusammengeschlagen. Noch drastischere Ausschreitungen gab es bei den groß angelegten Aktionen zur Registrierung der

Dennoch übten die entschiedenen Mobilisierungen der Bürgerrechtsbewegung einen solchen Druck auf die amerikanische Regierung aus, dass bis Mitte der 1960er Jahre die formale Rassentrennung in den Südstaaten durch diverse Gleichstellungsgesetze beendet wurde. Durch die formalrechtliche Gleichstellung verbesserte sich jedoch nur für einen Teil der schwarzen Bevölkerung die Lebenssituation ausreichend. Am meisten profitierte die schwarze Mittel- und Oberschicht, weil sich für sie nun Wege zur politischen Integration eröffneten – unter anderem in der Demokratischen Partei. Die Probleme der schwarzen Arbeiterklasse, der Niedrigverdienerinnen und der Arbeitslosen waren allerdings weniger in der fehlenden juristischen Gleichstellung als vielmehr in der dramatischen sozialen Ungleichheit verwurzelt. Im Jahr 1966 betrug das Durchschnittseinkommen einer schwarzen Familie nur 58 Prozent des durchschnittlichen Familieneinkommens einer weißen. Das zeigte sich besonders in Großstädten wie Detroit, Los Angeles, New York oder Washington. Die Mehrheit der Schwarzen lebte dort weiterhin de facto in Segregation: in vorwiegend von Schwarzen bewohnten ärmlichen Wohngegenden, mit vorwiegend von Schwarzen besuchten schlecht ausgestatteten Schulen. Bestenfalls bekamen sie schlecht bezahlte Jobs mit lausigen Arbeitsbedingungen. Über 25 Prozent der schwarzen Jugendlichen waren Arbeitslos. Diese Jugendlichen waren zudem ständig Schikanen durch die weiße Polizei ausgesetzt. Die Wut über diese Zustände entlud sich ab 1964 jähr-


lich in einer Welle von Gettoaufständen. Die konkreten Auslöser waren zumeist brutale Polizeiübergriffe auf schwarze Jugendliche. Die heftigsten Auseinandersetzungen fanden im Sommer 1967 in Detroit statt: ganze Häuserblocks standen in Flammen und die Armee marschierte mit Panzern und Hubschraubern ein. Vierzig Menschen wurden getötet – hauptsächlich durch die Armee. Es gab 2250 Verletzte, 4000 Menschen wurden verhaftet. Die von Martin Luther King geschmiedete Koalition zerbrach an der Frage der sozialen Diskriminierung der Schwarzen. Ein Teil der schwarzen Mittelschicht zeigte sich mit den erreichten Erfolgen zufrieden und hatte kein Interesse an weiteren Mobilisierungen. Die weißen Liberalen aus der Demokratischen Partei wandten sich ebenso ab, weil sie nicht bereit waren, dem Kapital die Reichtümer abzutrotzen, die für die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit nötig gewesen wären. Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Analyse der Gettoaufstände von 1968 schlug als Konsequenz Investitionen in Höhe von 30 Milliarden Dollar vor: für Sozialprogramme, Wohnungen und Schulen. Der demokratische Präsident Lyndon B. Johnson erklärte daraufhin, dass der Kongress Mittel in solcher Höhe nicht bewilligen würde. Gleichzeitig ließ Johnson den Krieg in Vietnam immer weiter eskalieren. King sprach sich erstmals 1967 öffentlich gegen diesen Krieg aus. Er verknüpfte diese Position mit der sozialen Frage, indem er thematisierte, dass Milliarden Dollar in einen unsinnigen Militäreinsatz verheizt würden, während zu Hause das Geld für nötige Sozialprogramme fehle. Bereits ein Jahr zuvor hatte der Schwergewichts-Boxweltmeister Muhammad Ali die Verbindung zwischen dem Krieg und der Unterdrückung der schwarzen

Dieser Kampf ist heute nicht weniger aktuell oder notwendig als Ende der 1960er Jahre. Die Situation der Schwarzen in den USA hat sich, auch unter einem schwarzen Präsidenten, nicht grundlegend verbessert. Nach wie vor leidet die schwarze Bevölkerung unter eklatanter Unterdrückung und wird sozial gegenüber Weißen benachteiligt: durch deutlich geringere Einkommen, durch eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeits- und eine fast dreimal höhere Armutsrate. Die Gettoisierung in heruntergekommenen Wohnvierteln mit schlechten Schulen, hohen Verbrechensraten und Drogenproblemen ist die Folge. Die Unterdrückung der Schwarzen verdeutlicht sich auch in dem Fakt, dass in US-amerikanischen Gefängniszellen mehr junge Schwarze leben als in Wohnheimen der Colleges. Die Zahl der Schwarzen in den Gefängnissen hat sich im letzten Vierteljahrhundert vervierfacht. Gut vierzig Prozent der Häftlinge sind Schwarze, der Bevölkerungsanteil der Schwarzen liegt aber nur bei dreizehn Prozent. Der brutalste Ausdruck des weiterhin vorherrschenden Rassismus: Schwarze in den USA sterben einundzwanzigmal häufiger durch Polizeikugeln als Weiße. Die zumeist weißen Täter werden dafür jedoch so gut wie nie bestraft. Gegen diese Polizeigewalt formiert sich unter der Losung #Black Lives Matter seit fast einem Jahr eine neue Bewegung. Sie steht vor der Aufgabe, das zu vollenden, wofür Rosa Parks und viele andere vor und nach ihr gekämpft haben. ■

GESCHICHTE

© wikimedia / Marion S. Trikosko / Library of Congress,

Martin Luther King (l.) und Malcolm X beim Besuch der Parlamentsdebatte über das Bürgerrechtsgesetz 1964. Es war das einzige Treffen der beiden. Es dauerte nur eine Minute

Bevölkerung in den USA gezogen, als er die Einberufung zur Armee mit den Worten verweigerte: »Kein Vietnamese hat mich je ›Nigger‹ genannt«. Als deutlich wurde, dass die Demokraten Martin Luther King weder in seiner Ablehnung des Vietnamkriegs noch im Kampf für soziale Gleichheit unterstützen würden, versuchte dieser, eine neue Bewegung von unten aufzubauen. Nun wurde er zu einer Bedrohung für die Herrschenden, weshalb diese das FBI auf ihn ansetzten. Die Suche nach Bündnispartnern führte King im April 1968 nach Memphis, wo 1300 schwarze Müllarbeiter für die Anerkennung ihrer Gewerkschaft kämpften. Zu seiner Rede versammelten sich 15.000 Menschen. King machte zuerst klar, dass der Kampf um Gleichberechtigung mit der Umverteilung des Reichtums verbunden sei. Dann empfahl er den Zuhörern, dass sie in einem gemeinsamen Streik ganz Memphis lahm legen sollten. Die Aktion wurde für den 8. April geplant. Am 4. April wurde King in Memphis auf dem Balkon seines Hotels erschossen. Nach der Ermordung Kings kam es zu den schwersten Gettorevolten der US-Geschichte, mit Aufständen in über einhundert amerikanischen Städten. Leider hatte King keine politische Partei im Rücken, die den Kampf für soziale Gleichheit auch nach seiner Ermordung organisiert weiter führen konnte.

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NACHRUF

Ein echter Veteran Arno Klönne ist tot. Die deutsche Linke hat einen klugen Kopf und unermüdlichen Aktivisten verloren, marx21 einen Wegbegleiter der ersten Stunde Von Stefan Bornost ★ ★★

Stefan Bornost war von 2007 bis kurz vor Arno Klönnes Tod leitender Redakteur von marx21.

★ ★★ WEITERLESEN Einen Überblick über die knapp vierzig Artikel, die Arno Klönne für marx21 verfasst hat, gibt es auf unserer Website: marx21.de/arno-kloenneer-wird-fehlen.

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S

ommer 2007: Hektische Betriebsamkeit in der marx21-Redaktion. Die erste Ausgabe unseres Magazins war gerade erfolgreich produziert, jetzt ging es um die Zukunft der Publikation, genauer gesagt um die Frage, wen wir als zukünftige Autoren gewinnen könnten. Eine von vielen Ideen: Wie wäre es, wenn Arno Klönne regelmäßig über Sternstunden und Debatten der Arbeiterbewegung schreibt? Ein Anruf und ein bündiges, freundliches Gespräch folgten. Vier Wochen später kam der erste, auf Schreibmaschine abgefasste Text von Arno aus unserem Faxgerät. Viele weitere sollten in den nächsten acht Jahren folgen.

gewählten Umständen. Konsequenz seiner Forschungen war ein unermüdlicher politischer und damit verbundener kultureller Aktivismus. Bis 1960 war Arno SPD-Mitglied, trat dann aber aus Kritik an Herbert Wehners Pro-Nato-Kurs aus. Der Wiedereintritt folgte, doch in der Bundes-SPD wurde er fortan nur widerwillig toleriert. In den 1960ern war Arno einer der Sprecher der Ostermarschbewegung. Im Jahr1961 gründete er gemeinsam mit den Liedermachern Dieter Süverkrupp und Gerd Semmer den Verlag und das Plattenlabel »pläne«. Der Name ging zurück auf eine antifaschistische Zeitung des Jugendwiderstands in den Dreißigerjahren. Das Label versuchte eine professionelle Vertriebsstruktur für linke politische Lieder auf die Beine zu stellen, die erste LP hieß »Lieder des europäischen Widerstandes gegen den Faschismus«.

Politische Praxis statt Oppositionskonsum

Das machte uns ein bisschen stolz. Denn Arno war ein echter Veteran der deutschen Linken, seine Biografie spiegelt deren Wechselfälle. Geboren 1931 in Bochum, hatte Arno Klönne ab Anfang der 1950er Jahre in Marburg und in Köln studiert – Geschichte, Soziologie und Politik. Er promovierte bei Wolfgang Abendroth über die Hitlerjugend. Das Thema »Jugend im Dritten Reich« blieb sein Forschungsschwerpunkt, insbesondere der bis dato wenig bekannte Jugendwiderstand von Gruppen wie den »Edelweißpiraten« oder dem jüdischen »Schwarzen Fähnlein«. Seine Bücher hierzu sind bis heute Standardwerke, ebenso wie seine Überblickswerke zur Geschichte der deutschen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Sein Blickwinkel war der eines »Sozialismus von unten«. Ihn interessierte, wie Menschen selbst ihre Geschichte machen, wenn auch unter nicht selbst-

Der politische Aufbruch von 1968 stellte einen Einschnitt dar. Zugleich war er eine Chance, zwei verschiedene Elemente zusammenzubringen, nämlich die Offenheit der Jugend für radikale sozialistische Politik mit den guten sozialistischen Traditionen, die den Nationalsozialismus überlebt hatten. Dieses Projekt ging Arno an. Im Jahr 1968 machten er, Christel Beilmann, Andreas Buro und Klaus Vack den »Vorschlag einer autonomen Organisierung um eine sozialistische Publikation und ein Büro«. Seine Mitstreiter kannte er aus der »Kampagne für Demokratie und Abrüstung – Ostermarsch der Atomwaffengegner«.


Im Gründungsaufruf von 1969 schrieben sie: »So wenig eine geschlossene, vereinheitlichte Organisation den gegenwärtigen Bedürfnissen der formellen und informellen sozialistischen Gruppierungen in der Bundesrepublik entsprechen würden, so sehr besteht doch andererseits objektiv und subjektiv das Bedürfnis nach einer gesicherten und beständigen Kommunikationsstruktur unter den Sozialisten und sozialistischen Gruppen und Clubs in der Bundesrepublik (…) In der gegenwärtigen Situation scheint es uns möglich und dringend notwendig, zwei Instrumente einer kontinuierlichen Kommunikation zu schaffen: 1) eine allgemein zugängliche, nicht auf Oppositionskonsum, sondern auf politische Praxis gerichtete sozialistische Zeitung, 2) ein zentrales, nicht als politische Führungsinstanz, sondern als Dienstleistungsstelle operierendes Sozialistisches Büro.« Das Sozialistische Büro lancierte zwei Publikationsprojekte. Die Zeitung »links« startete 1969 mit einer Auflage von 8000 Exemplaren, die bis 1974 auf 15.000 erhöht werden konnte. Allein 9000 Abonnenten hatte die Zeitung. Das zweite Periodikum hieß »express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit«, das linken Gewerkschaftern, Betriebsräten und Vertrauensleuten ein Sprachrohr für oppositionelle und organisationskritische Meinungen sein sollte. Wie viele der Organisationen der Neuen Linken zerfiel auch das Sozialistische Büro aufgrund einer Kombination von ungünstigen Rahmenbedingungen und politischen Differenzen, die »links« wurde 1997 eingestellt.

Debatten und Verabredungen abseits der Parteipolitik. Wahlauftritte haben nur Sinn, wenn sie soziale Bewegung zum Ausdruck bringen. Parteistrukturen sind nur dann vor Entdemokratisierung einigermaßen geschützt, wenn sie in Anregung und Kritik außerparlamentarischer Akteure einbezogen sind.« Diese Haltung bewahrte er sich bis zu seinem Tod mit 85 Jahren am 4. Juni dieses Jahres. Regelmäßig fragte er fast beiläufig am Rande von Artikelbesprechungen, wie wir von marx21 die Entwicklung der Linkspartei sehen. Ihm selbst gefiel daran vieles nicht. Er sah zu Recht eine zu große Konzentration auf Parlament und Wahlen. Bewegung und Selbstorganisation spielten ihm eine zu kleine Rolle in der neuen Linken. Den Kampf um deren Ausrichtung kann er nun nicht mehr führen. Doch seine Artikel, Bücher und Reden bleiben wichtig für jeden, der dies tut. ■

Obwohl er Pfeife rauchte, war Arno Klönne nie ein klassischer Intellektueller, sondern stets auch Aktivist und Verfechter außerparlamentarischer Aktionen

NACHRUF

Im Jahr 2004 endet schließlich auch Arnos Weg in der SPD, er trat endgültig aus. Im selben Jahr gründete er die Demokratische Initiative Paderborn, eine freie Wählergemeinschaft, der aus dem Stand der Einzug in den Rat der Stadt gelang. Kurze Zeit später entstand auch die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) als Reaktion auf die verheerende Agenda-2010-Politik des sozialdemokratischen Kanzlers Gerhard Schröder. Damit begann ein Prozess, der im Jahr 2007 in der Gründung der Partei DIE LINKE mündete. Arno stand dem positiv gegenüber. Er hatte aber schon zu viel an problematischer linker Organisierung gesehen und erlebt, um nicht von Anfang an einen anderen politischen Charakter einzufordern. Er schrieb: »Wahlen sind nur eine Methode, um sich politisch einzumischen. Es wäre ganz falsch, wenn die Debatte über eine neue Partei davon ablenken würde, dass andere Formen politischen Engagements, zum Teil gerade erst wieder entdeckt, zu nutzen und weiterzuentwickeln sind: außerparlamentarische Aktionen und Bündnisse, Initiativen für direkte Demokratie (Bürgerbegehren und Abstimmungen), solide Infrastrukturen für politische

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Kultur

Der britische Schauspieler Tim Curry wurde mit der Rolle des exzentrischen Wissenschaftlers Frank N. Furter in der »Rocky Horror Picture Show« weltberühmt

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Ein lustvoller Befreiungsschlag Seit vierzig Jahren läuft die »Rocky Horror Picture Show« in den Kinos der Welt. Die einfache Botschaft des schrägen Musicals ist auch heute noch aktuell. Aber das ist nicht der einzige Grund, es sich mal wieder anzuschauen Von Phil Butland (und hetero-)sexuellen Sex, Mord und Kannibalismus. Am Ende verwandelt sich das Schloss in ein Raumschiff, das zurück zum Planeten Transsexuell in der Galaxie Transsilvanien fliegt. Genauso wie in den parodierten Science-Fiction-Filmen ist auch hier die Handlung weder plausibel noch sonderlich aussagekräftig. Die wichtigste Botschaft findet sich kompakt im Titel eines Lieds des Musicals: »Don‘t dream it be it« (»Träume es nicht, sei es einfach«). Dabei geht es nicht nur um eine entspannte Haltung zu Sex und Drogen. Der Film appelliert an das Publikum, sich zu allen Themen eine eigene Meinung zu bilden.

Zunächst war der Film ein Flop

Rocky Horror ist ein Musical, eine Komödie und eine Parodie der Science-Fiction-Filme der 1950er Jahre – viele von ihnen werden im Eröffnungslied »Science Fiction Double Feature« genannt. Diese Streifen wurden in der Hochphase des Kalten Kriegs gedreht, ihre bösen Wissenschaftler und grässlichen Außerirdischen symbolisierten die Bedrohung durch den Kommunismus. Doch im Jahr bevor Rocky Horror anlief, wurde die Watergate-Affäre um den US-amerikanischen Präsidenten Richard Nixon aufgedeckt. Daran erinnert der Film, indem in einer der ersten Szenen im Radio von Nixons Rücktritt berichtet wird: Es war längst nicht mehr so klar, woher die Bedrohung kommen würde. Der Film erzählt die Geschichte eines frisch verlobten Paars, Brad Majors (Barry Bostwick) und Janet Weiss (Susan Sarandon). Die beiden scheinen noch die konservativen fünfziger Jahre zu repräsentieren. Nachdem ihr Auto eine Panne hat, landen sie im Schloss von Dr. Frank N. Furter (Tim Curry), einem »süßen Transvestiten aus Transsexuell in Transsilvanien«. Dort findet gerade ein Fest statt und Frank und seine Gäste beginnen rasch, das spießige Paar zu korrumpieren. Dazu gibt es ein bisschen homo-

In den frühen 1970er Jahren war diese Botschaft Dynamit. Das Musical, auf dem der Film basiert, feierte im Jahr 1973 in London Premiere, gerade sechs Jahre nachdem dort Homosexualität und Schwangerschaftsabbrüche legalisiert worden waren. Schwule und Lesben hatten erste Siege im Kampf gegen Unterdrückung zu verzeichnen, aber die Erfahrung der Mehrheit der LGBT-Leute war immer noch von Angst und Isolation geprägt. Frank N. Furter stand mit seinem Auftritt in Korsett und Strapsen für viele, die anders dachten und aussehen wollten und sich vorher nie auf einer Leinwand repräsentiert sahen. Für Aktivistinnen und Aktivisten wie James Michael Nichols, die für LGBT-Rechte kämpften, bildete Rocky Horror »einen Anlaufpunkt und schuf eine Gemeinschaft für viele junge Homosexuelle und Menschen, die sich fühlten, als passten sie einfach nicht ins Bild«. Die Nebendarstellerinnen und -darsteller im Film fand der Regisseur Jim Sharman über eine Agentur namens »Ugly« (»häßlich«). Sie vermittelte Schauspielerinnen und Schauspieler, die nicht wie Foto-

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Phil Butland hat Philosophie und Literatur studiert und schreibt regelmäßig über Kunst und Kultur für marx21. Er ist Gründungsmitglied der Gruppe KünstlerInnen gegen Krieg Berlin.

KULTUR

A

m 14. August 1975 startete »Rocky Horror Picture Show« in den Kinos in Großbritannien. Allerdings ohne großen Erfolg. Auch in den USA war der Film zunächst ein Flop. Erst ein Jahr später entwickelte sich Rocky Horror in Mitternachtsvorstellungen zum Publikumsmagnet – besonders in Gegenden, wo es eine LGBT-Szene (das Kürzel steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender, Anm. d. Red.) gab, und in Studentenstädten wie Austin, Texas. Heute ist der Film der fünftprofitabelste aller Zeiten: Er spielte schon 140 Millionen US-Dollar ein.

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modelle aussahen. Nicht nur Schwule und Lesben konnten sich also angesprochen fühlen, sondern alle, die von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden. Die wachsende LGBT- und Frauenbewegung der 1970er Jahre beeinflusste auch ansonsten die zeitgenössische Populärkultur – von Lou Reeds »Walk on the Wild Side« (1972) über die transsexuellen Schauspielerinnen Holly Woodlawn und Candy Darling bis zum Album »The Man Who Sold the World« (1970), mit einem Foto des bisexuellen Sängers David Bowie in einem Kleid auf der Plattenhülle. Glam Rock, der gängige Geschlechterrollen in Frage stellte, führte die Hitlisten an. Diese Musikrichtung ebnete den Weg für den ein paar Jahre später aufkommenden Punk. Musicals – bis dahin die Domäne einer verklemmten Mittelschicht – waren auch Teil der sexuellen Revolution. In dem Musikfilm »Cabaret« spielte Liza Minelli eine sexuell aktive Varietésängerin, das Hippiemusical »Hair« war berühmt für seine Nacktszenen, »Jesus Christ Superstar« (1971) brachte die Prostituierte Maria Magdalena auf die Bühne. Selten waren diese Musicals explizit politisch, aber sie bereiteten den Boden, auf dem Rocky Horror gedeihen konnte. Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass mit der Parole »selbst entscheiden« auch die Bewertung von Kunst gemeint war. Rocky Horror fördert die Abschaffung der künstlichen Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur.

lutionären russischen Regisseurs Sergei Eisenstein und Cruella De Vil aus dem Disney-Zeichentrickfilm »101 Dalmatiner«. Dr. von Scott ist ein zweiter Dr. Seltsam und zudem bedient sich die Geschichte – genauso wie der im Eröffnungslied genannte Film »Alarm im Weltall« – freimütig bei Shakespeares »Der Sturm«.

Der Film ist ein kollektives Erlebnis

Dabei geht es nicht nur um die Begeisterung für sogenannte B-Movies. In Franks Schloss hängen schlechte Reproduktionen von berühmten Kunstwerken (»American Gothic«, »Mona Lisa«, Michelangelos »David«). Manche Kritikerinnen und Kritiker interpretieren das als Zeichen für Franks schlechten Geschmack oder dafür, dass er als Außerirdischer keine Ahnung von Kunst hat. Aber Franks chaotische Ausstattung ist viel lebendiger als das, was man in bildungsbürgerlichen Wohnungen oder in Galerien zu sehen bekommt: Wir sollten uns zu der Kunst bekennen, die uns gefällt, statt immer dem Urteil von Experten zu folgen. Der Film erzeugt eindrucksvolle ästhetische Effekte, indem er mit demselben Dekor und Budget wie BMovies arbeitet – mit der Ausstattung in Primärfarben ähnelt er vor allem der Fernsehserie »Batman« aus den 1960er Jahren. Das bedeutet aber nicht, dass er sich gegen klassische Kunst positioniert. Der Drehbuchautor Richard O‘Brien beschrieb Frank als eine Mischung aus »Iwan der Schreckliche« des revo-

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Insgesamt beruht der Erfolg des Films hauptsächlich auf seinem Humor, den eingängigen Melodien und der hervorragenden darstellerischen Leistung der Schauspielerinnen und Schauspieler – allen voran Tim Curry als Frank und der jungen Susan Sarandon als Janet. Die beinahe universell gültige Botschaft, eigene Entscheidungen zu treffen – ob bei Kunst, Mode oder Sexualität – bedeutet, dass der Film mit jeder heranwachsenden Generation ein neues Publikum ansprechen kann. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, inwiefern Rocky Horror noch Relevanz besitzt. Die sogenannte Homoehe ist inzwischen in vielen Ländern eingeführt (wenn auch noch nicht ganz in Deutschland) und Szenen, die damals schockierten, sind heute überall im Internet und sogar tagsüber im Fernsehprogramm zu sehen. Im Jahr 1975 war die Rocky Horror Picture Show einzigartig. Ist sie heute noch etwas Besonderes? Zunächst muss man sich vor Augen führen, dass auch jetzt noch Zehntausende in Paris gegen die Homoehe oder Tausende in Berlin gegen das Recht auf Abtreibung demonstrieren. Frömmlerinnen und Frömmler machen mobil und allein, dass Rocky Horror weiter läuft, ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die unsere Selbstbestimmung beschneiden wollen. Frank N. Further, der trägt, was er will, und schläft, mit wem er will, ohne sich dafür zu entschuldigen, ist aber auch in der Kunst immer noch eine Seltenheit. In den letzten vier Jahrzehnten haben LGBTLeute und andere gemeinsam gekämpft und viel gewonnen. Aber immer noch sieht man viel zu wenige Schwule, Lesben und Transgender auf der Leinwand, deren Geschichte nicht voller Elend ist. Rocky Horror zeigt, dass wir lustvoll und offen unsere Sexualität feiern und dabei gegen Ungleichheit kämpfen können. Allerdings läuft Rocky Horror im Jahr 2015 nicht ohne Probleme. Neuerdings gibt es bedauerlicherweise Kritik, die behauptet, der Film und das Musical seien transphobisch, weil die Mehrheit der Transgender ganz anders als Frank sind – richtig, geht aber am Thema vorbei: es handelt sich nicht um


Rechts: Kultposter zum Film aus dem Jahr 1975

einen Dokumentarfilm –, oder weil ein unsympathisches Publikum angezogen würde (auch teilweise richtig, dazu später mehr). Außerdem haben die Eigentümer der Rechte am Film und am Stück immer wieder versucht, ihre künstlerische Vision weiter auszubeuten. So etwa bei der Neuinszenierung des Musicals im Jahr 2000: Zusätzlich zu den 80 Dollar für die Karte sollten Besucherinnen und Besucher 10 Dollar für »Requisitenpakete“ ausgeben. Damit sollten sie für die Mitspielmöglichkeiten des Publikums

© Wikimedia

Oben: Der Schauspieler D. Garrett Gafford als Frank N. Furter (l.) und seine Kollegin Terri Hardin in der Rolle der Magenta: Beide treten in der »Rocky Horror Show« auf, als diese 1978 im »Tiffany Theater« am Sunset Strip in Hollywood aufgeführt wird

Das klingt jetzt alles furchtbar, aber jedes Wochenende in irgendeinem heruntergekommenen Kino in New York oder im Sommer im Freiluftkino in BerlinWedding sieht es ganz anders aus: Dort kann man noch kreatives Zusammenspiel erleben, wenn das Publikum in einer Mischung aus Film und Theater mit der Leinwand interagiert – etwas, zu dem zeitgenössisches Kino kaum die Möglichkeit bietet. Der Film ist ein kollektives Erlebnis und nicht etwas, das man allein in der Dunkelheit konsumiert. Darüber schrieb Jonathan Rosenbaum schon 1980 in der Filmzeitschrift »Sight and Sound«: »Vielleicht das Interessante am Kult um die Rocky Horror Picture Show ist, dass er – wie ein verwunschenes Haus – das Kino als Gemeinschaft wachruft und auf seltsame Weise wieder zum Leben erweckt. Solches Kino gab es einst in den USA, als Hollywood seine Blütezeit erlebte. Damals war ein Kinobesuch automatisch ein soziales Ereignis, die sprichwörtliche ›night at the movies‹, und sogar eine kollektive Form der Selbstdarstellung – ein Moment, in dem es erhebend war, und nicht etwa peinlich, neben anderen Leuten in der Dunkelheit zu sitzen.« In einer Zeit, wo das Kino überwiegend von Computeranimationen und den explodierenden Kosten der Trickeffekte bestimmt wird, kann es sehr erfrischend sein, Filme zu sehen, deren Wert in ihrem Inhalt und der Schauspielerei liegt. Umso besser, wenn sie zudem die Botschaft von sexueller Selbstbestimmung und Anerkennung verbreiten – wie es die Rocky Horror Picture Show seit vierzig Jahren tut. ■

KULTUR

© Wikimedia

ausgerüstet werden. Die ritualisierten Zuschauerreaktionen sind eigentlich Teil der gewachsenen Fankultur in den Mitternachtsvorstellungen: Das Publikum spricht und singt mit und wirft an bestimmten Stellen etwa mit Mehl oder Toastbrot. Weil nicht genug Leute die Pakete kauften, bezahlte das Theater Schauspieler, die getarnt im Publikum saßen und von den Requisiten Gebrauch machten. Die einst spontanen Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer werden wohl auch noch von anderer Seite instrumentalisiert. Das Pärchen Brad und Janet wurde bei ihrem ersten Auftritt als »Arschloch« und »Schlampe« beschimpft. Zugegebenermaßen problematisch, aber man konnte das als Wut gegen den kleinbürgerlichen Konservatismus der beiden verstehen. Jetzt mehren sich Klagen, die Mitternachtsvorstellungen der kleinen Kinos würden in manchen Städten von Sexisten in Besitz genommen, die dort frauenfeindliche Beleidigungen grölen. Anderswo ist das freie Mitspielen zur öden Pflicht geworden. Besonders in Theatern, wo die Karten am teuersten sind und das Publikum am weitesten von der Zielgruppe der Außenseiter entfernt ist, wird die innovative Verkleidung zur düsteren Uniform. Wo den Zuschauenden die eigenen Gedanken fehlen, werden sie von den Theaterbetreibern mitgeliefert.

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© Heinrich Kuhn/Sabine Krüger, Repro: Isabell Kanthak

Review


Ausstellung Radikal modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre | Berlinische Galerie– Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur

Blick zurück auf die Stadt von morgen Trister Plattenbau und hässliche Betonklötze – die Architektur der Nachkriegsmoderne genießt keinen guten Ruf. Eine Ausstellung über das Bauen im geteilten Berlin der 1960er Jahre zeigt die Planungen einer Epoche, die sich im Aufbruch wähnte Von Clara Dircksen sucher selbst den Versuch einer Zuordnung nach Ost und West unternehmen. Aber auch in der Gestaltung von Repräsentationsbauten wiesen der marktwirtschaftlich und der staatskapitalistisch organisierte Teil der Stadt verblüffende Parallelen auf. Schön zeigt sich das in der Gegenüberstellung von Europa-Center – einem Eikaufszentrum nach US-amerikanischem Vorbild – im »Schaufenster des freien Westens« und »Haus des Lehrers«, einem Vorzeigeprojekt des vermeintlich real existierenden Sozialismus. Weithin sichtbare Scheibenhochhäuser mit ergänzenden Flachbauten galten hüben wie drüben als Inbegriff der Modernität und damit als adäquater Ausdruck des jeweiligen politischen Systems. Mit verspielteren, beinahe skulpturalen Bauten wie der »Großgaststätte Ahornblatt« oder der Philharmonie entwickelten Architekten die strenge Formensprache der klassischen Moderne in beiden Teilstädten weiter. Die Leichtigkeit der Gebäude spiegelt die Aufbruchstimmung jener Jahre wider. Architektur und Städtebau sollten jedoch nicht nur Symbol der herrschenden Ordnung sein, sondern galten Planern und Politikerinnen als Mittel, die Gesellschaft neu zu gestalten. Der utopische Gehalt des Bauens schlug sich unter anderem in einer maßlosen Verkehrsplanung nieder. Fotos und Pläne

von gigantischen Straßenbauprojekten bezeugen die Begeisterung für technischen Fortschritt und Beschleunigung. Steigende Motorisierung stand dabei auch für eine stetig wachsende Wirtschaft: »Überholen, ohne einzuholen« hieß es auf der einen, »Freie Fahrt für freie Bürger« auf der anderen Seite. Die Ausstellung zeigt auch den Protest von Architektinnen und Stadtbewohnern gegen solche radikalen Modernisierungsprojekte. Denn auf dem Weg in eine bessere Zukunft für alle erschienen die Altbauquartiere mit ihrer gewachsenen Sozialstruktur als Hindernis und wurden abgerissen: Die 1960er waren das Jahrzehnt der Kahlschlagsanierung. Heute hingegen sind selbst ehemals triste Arbeiterquartiere aus dem 19. Jahrhundert gefragte Wohnviertel und die zukunftsgläubigen Konstruktionen der 1960er Jahre sollen verschwinden. Ironie der Geschichte? Oder steckt hinter stadtplanerischer Zerstörungswut doch mehr als wechselnde Moden? Solche Fragen stellt die Ausstellung leider nicht. Überhaupt erfährt man fast nichts über den gesellschaftlichen Kontext der Pläne und Bauwerke; die wenigen erklärenden Texte sind inhaltlich dürftig. Den Blick für die ästhetischen Qualitäten der geächteten Baukunst schärft »Radikal modern« jedoch allemal. ■

★ ★★ Ausstellung- Radikal modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre | Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur noch bis 26. Oktober 2015 Mittwoch bis Montag 10-18 Uhr (Dienstag geschlossen) | Eintritt: 8 Euro, ermäßigt 5 Euro, jeden 1. Montag im Monat: 4 Euro

REVIEW

Ü

ber dem architektonischen Erbe der jüngeren Vergangenheit hängt nicht nur in Berlin die Abrissbirne. Dies gilt besonders für Bauwerke aus der DDR. Bekanntestes Beispiel ist der Palast der Republik, welcher dem Imitat eines preußischen Monarchenschlosses geopfert wurde. Doch auch im ehemaligen Westen sind Gebäude der Nachkriegsmoderne stets in Gefahr, dem nächstbesten »Aufwertungsprojekt« weichen zu müssen. Die Ausstellung »Radikal modern« soll hingegen zu einer Neubewertung der Architektur der 1960er Jahre beitragen. Zu diesem Zweck trug die Kuratorin der Berlinischen Galerie eine Vielfalt sehenswerter Exponate zusammen. Sechs thematische Schwerpunkte ordnen die Skizzen, Modelle, Fotos und Collagen. Zugleich verfolgen die Macherinnen und Macher der Schau den Anspruch zu zeigen, wie sich die Baukunst in beiden Teilen Berlins über die Mauer hinweg einander annäherte – aller gegenteiligen Propaganda zum Trotz. Dies gelingt mitunter sehr gut. Besonders der Wohnungsbau ähnelt sich derart, dass einem die einseitige Assoziation der »Platte« mit der DDR unerklärlich erscheint. Anhand einer Zusammenstellung von 43 Fassadenausschnitten können Besucherinnen und Be-

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m Oktober 2011 besuchte der Philosoph Slavoj Žižek die Occupy-Wallstreet-Bewegung in New York. Umringt von den Protestierenden sprach er von den Vorstellungen einer gerechteren Welt und wie diese durch neoliberale Ideologie korrumpiert und letztlich limitiert würden. Er führte aus, dass es dank Hollywood-Filmen heutzutage einfach sei, sich das Ende der Welt vorzustellen: »einen Asteroiden, der alles Leben zerstört und so weiter«. Jedoch: »das Ende des Kapitalismus – das könnt ihr euch nicht vorstellen«.«. Die Berliner Gruppe K.I.Z. durchschlägt diesen gordischen Knoten, indem sie unter dem Begriff »Welt« einfach statt unseres physischen Heimatplaneten die jeweilige (sozioökonomische) Lebensrealität der Menschen versteht. Bedenkt man, wie sehr unser Alltag von Marktmechanismen durchdrungen ist, so lässt sich kaum leugnen, dass mit dem Zusammenbruch des Kapitalismus auch diese »Welt« erst mal zusammenbricht. Wenn die drei Rapper plus DJ ihr Album also »Hurra die Welt geht unter« nennen, bedeutet das ohne große Interpretations-Verrenkungen: Hurra, der Kapitalismus geht unter! Gleich im zweiten Track »Geld« geht es dann um dessen »vertrackten Kern«: In loser Folge zählen die Jungs einige Absurditäten aus dem Leben der Superreichen (»Meine Frau ist 20 Jahre jünger / sieht aus wie 30 Jahre jünger«) und Bettelarmen auf (»Vor ’nem prallgefüllten Schaufenster an Hunger krepieren / wegen bedrucktem Papier«), was ein Publikum in guter alter Calland-Response-Manier jedes Mal mit »das ist Geld!« kommentiert. Der groovende FunkBass und die dezente Synthie-Melodie im Hintergrund erinnern in ihrer betonten Lockerheit an die ungelenken Hip-Hop-Versuche weißer Mittelstandskids Anfang der Neunziger. Den Impuls, schön peinlich mitzuschunkeln,

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K.I.Z.| Hurra die Welt geht unter

ALBUM DES MONATS Das mittlerweile fünfte K.I.Z.-Album ist eine eigenwillige Tragödie mit origineller Katharsis: eine Bombe, die den HappySteinzeit-Kommunismus herbeiführt Von David Jeikowski

★ ★★ ALBUM | K.I.Z. | Hurra die Welt geht unter | Vertigo Berlin (Universal Music) 2015 vermiesen einem dierealistischen Sinnbilder zum Glück gehörig. Das Lied »Glücklich und Satt« bietet solide Beobachtungen aus einem der gern berappten sozialen Brennpunkte und begeistert vor allem deshalb, weil es so ohne Verherrlichung oder Belehrung auskommt. Ein Beispiel: »Die Nachbarin kriegt von ihrem Typen auf die Schnauze / (...) Ich seh’ sie 100-Kilo-LidlTüten stemmen /
 eigentlich müsste sie ihn verprügeln können«. Was sich hier schon als Wut auf die sozialen Missstände und deren Akteure ankündigt, eskaliert im darauffolgenden Song »Boom Boom Boom«

völlig. Gnadenlos wird zusammengetrieben und im Refrain abgeschlachtet, was die hiesige Mitte der Gesellschaft so an Hässlichkeiten zu bieten hat: von Klassismus (»Vor der Glotze, sauer auf die ScheißSozialschmarotzer / anstatt auf den Chef«), über Alltagsrassismen (»Denkt ihr, die Flüchtlinge sind in Partyboote gestiegen / mit dem großen Traum, im Park mit Drogen zu dealen?«), bis hin zum wiederentdeckten Nationalstolz (»Du und dein Boss / haben nichts gemeinsam bis auf das DeutschlandTrikot«). Den Refrain bildet eine autogetunte Anlehnung an den Trash-Hit der Band Ven-

ga Boys. Anstelle des anzüglich gemeinten »Boom, Boom, Boom, Boom / I want you in my room« bohrt sich »Boom, Boom, Boom, Boom / Ich bring euch alle um« als Ohrwurm in die Gehör­gänge. Am Ende ist man fast etwas enttäuscht, dass sich die RAF vor zwanzig Jahren aufgelöst hat Aber genau wie damals lassen sich die Umstände nicht mit ihren Repräsentanten über den Haufen schießen und so tun sich hinter dem Leichenberg bloß weitere menschliche Abgründe auf: Arschkriecher, die nachts zu Vergewaltigern werden (»Ariane«), Kleinkinder, die sich für die Geburt in solch eine Welt rächen (»Käfigbett«) und eine »Rummel-Bums-Disko«, in der Refugees, misshandelte Kinder und Angehörige von Demenz­ kranken gemeinsam alles vergessen wollen. Höchste Zeit, dass diese Welt endlich untergeht. Genau das geschieht dann im letzten und Titel-Track des Albums. Wenn auch nicht grade streng marxistisch herbeigeführt – revolutionäres Subjekt ist hier eine nicht näher erläuterte »Bombe vor zehn Jahren«– sind auf den Trümmern der alten Welt doch so einige Elemente verwirklicht, die Karl und Konsorten für den Kommunismus vorschwebten. Bevor im Refrain ein letztes Mal die Apokalypse abgefeiert wird, fragt ein Kind »Wieso soll ich dir etwas wegnehmen, wenn wir alles teilen?« Trotz diabetogener Kitschigkeit läuft es einem kalt über den Rücken. Zweifellos ist »Hurra die Welt geht unter« ein ungewöhnlich ernsthaftes Album geworden, beinahe jedes Lied thematisiert die soziale Ungerechtigkeit und deren Folgen. Über die Lösung dieser Probleme lässt sich genauso vortrefflich streiten wie über die eigene Rolle hierbei. Dank Platz 1 in den Albumcharts und Musikvideos mit durchschnittlich vier Millionen YouTube-Aufrufen finden diese Diskussionen aber endlich auch außerhalb von Kapital-Lesekreisen statt. ■


BUCH

John Bellamy Foster | Frieden zwischen Mensch und Natur - Die ökologische Revolution.

System- statt Klimawandel Schon Karl Marx sah den Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der Menschen und der Zerstörung der Natur. In seinem neuen Buch verfolgt John Bellamy Foster diesen Gedanken weiter und sieht nur eine Möglichkeit zur Rettung des Planeten Von Peter Oehler Doch dies, kritisiert Foster, würde die Tretmühle kapitalistischer Produktion nicht antasten. Er hingegen tritt für eine ökologische Revolution ein, die den Einsatz für Nachhaltigkeit mit dem für Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit verbindet. Dabei zeigt er auf, dass sich ökologische und soziale Aspekte gegenseitig bedingen und eine Lösung nur in der Überwindung der kapitalistischen Produktion und der Abschaffung von Privateigentum an der Natur liegen kann. Der zweite Teil, »Die Marxsche Ökologie«, stellt Marx‘ Überlegungen zur Stoffwechselbeziehung zwischen Mensch und Erde dar. Diese Beziehung habe einen irreparablen Bruch durch die kapitalistisch organisierte Landwirtschaft erfahren. Dies habe nicht nur den Menschen von seiner Umwelt entfremdet, sondern dazu geführt, dass gleichermaßen die Böden ausgelaugt und die Städte verschmutzt werden. Hauptprinzip einer vernünftigen Landwirtschaft war für Marx dagegen das »Gesetz der Rückgabe«: Es besagt, dass alle organischen Abfälle wieder zurück auf die Felder müssen. Marx war also nicht nur ein Kritiker der Großindustrie, sondern auch der Großlandwirtschaft, beide darin vereint, »den Boden und den Arbeiter auszulaugen«. Damit nahm er die Idee der »nachhaltigen Entwicklung« voraus, wie sie von den Vereinten Nationen 1987 definiert wurde. Ebenso erkannte er bereits die

Probleme, die im Rahmen der Globalisierung immer drängender werden: den ökologischen Imperialismus, also die Ausplünderung der Peripherie zum Nutzen des Zentrums, und den »Fluch der Ressourcen«, der gerade Länder, die reich an natürlichen Ressourcen sind, durch deren Förderung oft in Armut, Korruption und Bürgerkriege absinken lässt. Der dritte Teil, »Ökologie und Revolution«, zeigt Zukunftsperspektiven auf. Zur Lösung der ökologischen Krisen plädiert er für einen »großen Übergang« zum Sozialismus. Darunter versteht er nicht nur ein verändertes Wirtschaften, sondern die Demokratisierung der Gesellschaft von unten. Hierbei spricht er den Gesellschaften an der Peripherie eine Vorreiter­ rolle zu – denn, wie die Arbeiter in dem bekannten Zitat von Marx, seien sie nun jene, die nichts mehr zu verlieren haben. Als Einstieg in die Frage nach dem Zusammenhang von ökologischen Krisen und Kapitalismus, sowie der Überwindung von beidem, würde ich jedes von Fosters Werken wärmstens empfehlen. ■ .

★ ★★ BUCH | John Bellamy Foster | Die ökologische Revolution. Frieden zwischen Mensch und Natur | Laika Verlag | Hamburg 2014 | 358 Seiten | 28 Euro

REVIEW

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ohn Bellamy Foster bezeichnet sich selbst als ökologischen Sozialisten, ist Professor für Soziologie und Chefredakteur der unabhängigen sozialistischen Zeitschrift »Monthly Review« in den USA. Drei seiner zahlreichen Bücher sind mittlerweile im Laika Verlag auf Deutsch erschienen: »Der ökologische Bruch« (zusammen mit Brett Clark und Richard York, 2011), »Was jeder Umweltschützer über den Kapitalismus wissen muss« (zusammen mit Fred Magdoff, 2012) und nun »Die ökologische Revolution«. Bei diesem Buch handelt es sich um eine Zusammenstellung von 14 Artikeln, die zuvor in der »Monthly Review« erschienen sind. Es gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil, »Die planetarische Krise«, liefert eine Bestandsaufnahme. Der Autor konstatiert, dass »sich die sprichwörtliche ›kreative Zerstörung‹ des Kapitalismus in eine zerstörerische Kreativität verwandelt hat, die sowohl die Menschheit als auch jedes andere Leben in Gefahr bringt.« Zur Lösung dieses Problems wird häufig eine »grüne« industrielle Revolution gefordert, »die versucht, die Grundlage für eine nachhaltige kapitalistische Entwicklung fast vollständig durch technologische Mittel wie effizientere Energiesysteme zu schaffen«, was selbst viele Umweltschützer für ausreichend halten.

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Buch

Keith Lowe| Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950

Nach der Apokalypse Die Nazis legten Europa in Schutt und Asche. Ein neues Buch bietet einen transnationalen Überblick über die Verwüstungen – und zeigt, dass der Zweite Weltkrieg im Mai 1945 längst noch nicht vorbei war Von Bernd Hüttner

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n vielen Passagen dieses Buches kommen sich Lesende vor wie in einem Film aus der »Mad Max«-Trilogie oder dem postapokalyptischen Roman »Die Straße« von Cormac McCarthy: Gewalt, Hass und Tod sind allgegenwärtig, es herrscht Faustrecht. Vertreibung, Hunger, Naturaltausch und Vergewaltigung bestimmen die Lebenswelt der Menschen. Dies ist aber keine Fiktion, sondern das wirkliche Europa. Der britische Historiker Keith Lowe weist darauf hin, dass heute noch Millionen Menschen leben, die diese Zeit als Kinder erlebt haben (von der transgenerationellen Weitergabe der traumatischen Erlebnisse ganz abgesehen). Lowe schildert in 28 Kapiteln eindrücklich die Verwüstungen, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte. Nur einige Beispiele: Mindestens zwanzig Prozent des Wohnraums im Deutschen Reich wurde zerstört. In Griechenland sind von den 410.000 im Krieg ums Leben gekommenen Personen 250.000 verhungert. Bei Kriegsende wurden 300.000 jüdische KZ-Insassen befreit. Ebenso viele sind noch in den letzten Monaten des Kriegs umgebracht worden. Alleine in Berlin wurden 110.000 Frauen vergewaltigt. Elf Millionen deutsche Soldaten gerieten in Kriegsgefangenschaft, je ein Drittel unter britische, russische und ame-

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rikanische. Von denen in russischer Gefangenschaft starb über ein Drittel, in den anderen Lagern dagegen nur ein Tausendstel. Lowe beschreibt den Zeitraum von 1943 bis etwa 1950, beginnt also mit der Landung der Alliierten in Italien und der Befreiung Griechenlands. Für ihn – wie für viele der damals Handelnden – war der Zweite Weltkrieg nicht mit dem 8. Mai 1945 zu Ende. Vertreibungen, bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und die Debatten um den Umgang mit Kollaboration gewannen durch das Kriegsende erst an Fahrt. Lowe argumentiert, der Zweite Weltkrieg sei kein klar konturierter Konflikt zwischen genau abgrenzbaren Parteien (Nazis/ Alliierte) gewesen. Dies belege etwa die Geschichte Italiens, der baltischen Länder oder die Kollaboration in Frankreich. Dem industriellen Töten der deutschen Einsatzgruppen und in den Konzentrationslagern widmet er nicht übermäßig viel Raum. Er berichtet aber über die Reaktionen der alliierten Streitkräfte, als sie die Lager erreichten. Dort fanden die Befreier die materiellen Hinterlassenschaften der ermordeten Menschen vor. Solche Berge von Schuhen oder Brillen veranschaulichen die Dimension der Schoah, zynisch gesagt, besser als die nackte Zahl der Toten. Viele politische Bewegungen und Akteure in Ländern in Ost und West webten eilig und fleißig an einem Diskurs über

die Nation und die nationale Einheit mit – eine Einheit, die verdeckte, dass es eben nicht nur Widerstand, sondern auch viel Kollaboration gegeben hatte. Nun sollte Versöhnung durch Verdrängung stattfinden. Die überlebenden Jüdinnen und Juden störten da nur. Sie stellten durch ihre Existenz die Mythen der nationalen, gegen Deutschland gerichteten Einheit in Frage und riefen vielen ihr Versagen ins Gedächtnis. Lowe verfällt nun nicht in einen totalitarismustheoretisch aufgeladenen »Die Gewalt hat niemand verschont«-Duktus. Er identifiziert nationalistische Mythen, auch die der Sieger, und ebenso den Unterschied zwischen dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis und der – teilweise rassistischen, wenn nicht antisemitisch begründeten – Gewalt der Sowjetunion sowie verschiedener Bürgerkriegsparteien. Wer sich von der Darstellung der Gewalt nicht abschrecken lässt, wird viel Neues über das Europa der letzten Kriegsjahre und der folgenden Wirren erfahren. Ein Jahrzehnt, in dem die Bevölkerung vieler Länder ihre Toten zählte und die europäischen Juden und Jüdinnen ihre Überlebenden. Ein Personen- und Sachregister macht Lowes Buch darüber hinaus zu einem nützlichen Nach­ schlagewerk. ■

★ ★★ BUCH | Keith Lowe | Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 19431950 | Klett-Cotta | Stuttgart 2014 | 526 Seiten | 26,95 Euro


Lars Geiges, Stine Marg, Franz Walter | Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?

BUCH DES MONATS Pegida ist die größte rassistische Mobilisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wer sind die Leute, die an den Aufmärschen teilnehmen? Eine neue Studie hat genau das untersucht Von Carolin Hasenpusch

★ ★★ BUCH | Lars Geiges, Stine Marg, Franz Walter| Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Transcript | Bielefeld 2015 | 208 Seiten | 19,99 Euro

(noch) gut geht. Auch die Frage, weswegen sie protestieren, wird im Buch intensiv behandelt. Themen wie die Unzufriedenheit mit der Politik und den Medien (»Volksferne der Politiker«), Sachsen als »das besondere Zuhause« sowie das (vermeintliche) »Diktat der political correctness« werden von den Befragten genannt. Sie betonen, dass ihre Anliegen sehr breit sind und nicht auf »Islam« und »Islamisierung« reduziert werden können. Dennoch fällt auf, dass gerade hier eine enorm hohe Übereinstimmung vorherrscht und »die Befragten ein überaus hohes Maß an Redebereitschaft zeigten.« Letztlich übertrugen sie alle die Problemlagen in verschie-

den starker Ausprägung auf »den Islam« und »Muslime«. »Der Islam« wird dabei nicht als eine Religion wahrgenommen, sondern als geschlossene Denkweise, »Kultur« und auch »politische Ideologie«. Dementsprechend nehmen PegidaDemonstrierende Personen mit muslimischen Glauben oder Menschen, von denen sie annehmen, dass sie diese Glaubensrichtung haben, als eine homogene, geschlossene Gruppe wahr, die nicht zu »ihren« Wertevorstellungen passt. Dieses rassistische Weltbild wird in der Studie vielschichtig und differenziert dargestellt ohne es zu relativieren oder abzuschwächen. Dies ist eine besondere Stärke des Bu-

ches, zeigt es doch im Detail, dass Rassismus Teil der »Mitte der Gesellschaft« ist und kein Randphänomen. Ressentiments sitzen tief und wurden über Jahrzehnte verinnerlicht. Eine andere Erkenntnis der Studie ist, dass Bewegungen nicht automatisch dezidiert links und emanzipatorisch sind. Auch Pegida müsse als Teil der Zivilgesellschaft gesehen werden, als eine Form »APO von rechts«, so die Autorin und die Autoren. Die Stärke des Buchs ist aber auch seine Schwäche. Es ist primär deskriptiv; eine tiefe politische Analyse und eine Einordnung in politische Kontexte gibt es nicht. Dabei ist es bei Pegida doch auch gerade wichtig zu verstehen, wie das Feinbild »der Muslime« und der »Wirtschaftsflüchtlinge« entstehen konnte. Auch die Verbindung zum organisierten rechten Spektrum und die Offenheit »nach rechts« werden nicht näher betrachtet. Dies ist eine große Lücke. Denn auch wenn Pegida möglicherweise bald ganz verschwunden sein sollte: Die Auffassungen ihrer Protesttragenden leben fort, können sich jederzeit neu zusammensetzen und reaktiviert werden. Auf erschreckende Weise wird dies in diesem Sommer bei den dramatisch zunehmenden Anschlägen und Hasstiraden gegen Geflüchtete deutlich. Solcher Hass entsteht nicht »aus dem Nichts«, der Boden hierfür wurde auf unterschiedliche Weise in den letzten Jahren bereitet. Pegida und die aktuellen Gewalttaten konnten daraus wachsen. Um mehr über Pegida zu erfahren und die Komplexität der Demonstrationen zu verstehen, eignet sich das Buch gut. Wer eine politische Analyse und konkrete Handlungsmöglichkeiten erhofft, dem ist hiermit nicht geholfen. Letztlich ist es eine sozialwissenschaftliche Studie und keine marxistische Analyse. ■

REVIEW

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ngefangen mit knapp 350 Personen in Dresden, konnten die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung Europas« (Pegida) binnen weniger Wochen auf zeitweilig 25.000 Demonstrierende anwachsen und sich bundesweit ausbreiten. Das ist eine Massenbewegung; die größte rassistische Mobilisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wie konnte dies passieren? Wer geht zu den Aufmärschen und welche Ideologien werden dort vertreten? Genau mit diesen Fragen beschäftigt sich das Buch »Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?«. Die Politikwissenschaftler Lars Geiges, Stine Marg und Franz Walter haben hierfür PegidaAufmärsche in Dresden und Leipzig beobachtet, Interviews, Gruppendiskussionen und eine Onlineumfrage durchgeführt. Die Personen hinter Pegida (wie Lutz Bachmann, Kathrin Oertel und Co.) finden ebenso Beachtung wie der Medienumgang im In- und Ausland mit der Bewegung – alles mit dem Ziel, eine umfangreiche Darstellung dieser Aufmärsche zu präsentieren. Dies ist dem Autorenteam sehr gut gelungen. Besonders der empirische Teil, in dem es sozioökonomische Daten von Pegida mit denen von No-Pegida-Teilnehmenden verglichen hat, ist beeindruckend umfangreich. Soetwas gab es bis zum Erscheinen des Buches noch nicht. Das dort skizzierte Bild ist ein ähnliches wie das, was uns bei Wahlanalysen zur AfD präsentiert wird: Personen, die zu Pegida gehen, sind tendenziell männlich, mittleren Alters und vollerwerbstätig. Fast die Hälfte hat einen Hochschulabschluss oder einen anderen akademischen Titel. Gut ein Fünftel bezieht ein monatliches Netto-Einkommen von mehr als 3000 Euro und zwei Drittel stufen ihre persönliche Lage als gut bis sehr gut ein. Laut der Studie sind es also nicht die »sozial Abgehängten«, die auf die Straße gehen, sondern diejenigen, denen es

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Mein Lieblingsbuch

ie Erwartungen waren hoch an den Debütroman von Marcus Staiger, seines Zeichens Journalist, Fassadenkletterer, Möchtegern-Ringer, Entdecker der Band K.I.Z., Co-Autor von Bushido und Gründer von »Royal Bunker«, dem ersten bedeutenden RapLabel in Deutschland. Staiger ist bekannt für seine unerwarteten Wendungen. So wandelte er sich, während er als Journalist für das »Vice«-Magazin an einer Reportage über den 1. Mai in Kreuzberg arbeitete, vom hippen, SPD-wählenden Bauchlinken zu einem kämpferischen Linksradikalen. Mit seinem häufig provokanten Auftreten hat er sich jedoch weder in der Musikszene noch in seinem politischen Umfeld nur Freunde gemacht. Mit »Die Hoffnung ist ein Hundesohn« hat er alle Erwartungen und Befürchtungen übertroffen. In kontrafaktischer Manier schuf Staiger einen Roman, der im Jahr 2012 im Berlin eines Deutschlands spielt, das immer noch geteilt ist. Aufstrebende Demokratiebewegungen im Jahr 1989 in Leipzig waren von der DDR-Regierung niedergeschossen worden. In Westdeutschland werden Ausländer in Ghettos zusammengepfercht, abgeschottet und gegen Bezahlung in den Osten abgeschoben. Helmut Kohl ist immer noch Kanzler und sein Innenminister Ronald Kotsch (ehemaliger hessischer Ministerpräsident) hat ihm eine rechtskonservative Alleinherrschaft beschafft. Totale Überwachung und Unterdrückung sind der Normalzustand. as als zynische Dystopie daherkommt, hat erschreckende Parallelen zur heutigen Situation. Etwas schmunzeln musste ich aber dennoch, wenn die Nachfolgeorganisation der Jungen Union als faschistischer Kampfverband beschrieben wird, der Hip-Hopper und Punks verprügelt. Fünf Protagonistinnen und Protagonisten erleben ein Wochenende, das die politische Situation grundlegend aufwühlt. Beginnt das Ganze noch recht

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Von marx21-Leser Tilman von Berlepschs

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es alle einmal gelesen haben sollten? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Die Hoffnung ist ein Hundesohn« von Marcus Staiger

★ ★★ Marcus Staiger | Die Hoffnung ist ein Hundesohn | MFM Entertainment | Frankfurt 2014 | 320 Seiten | 19,90 Euro

harmlos mit Beziehungstrennungen und Versuchen, diese zu verarbeiten, »staigern« sich die Protagonisten schnell in ihre vermeintlich hoffnungslosen Situationen hinein und entführen uns in die Ostberliner Technoszene und in Neuköllner Shisha-Bars. Derweil bringen ein rassistischer Mord und massenhafte Abschiebungen Kreuzberg und Neukölln zum Explodieren. Der GhettoAufstand, angeführt von einer mafiösen arabischen Großfamilie, trifft am Neuköllner Hermannplatz auf Panzer. Die Protagonisten finden sich mitten in diesem Strudel wieder – auf verschiedenen Seiten der Barrikaden. Interessant ist hier die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Führung und Basis des Aufstands. Nur so viel sei verraten: Staiger hat Rosa Luxemburg gelesen und verarbeitet. Die »Hoffnung«, die Basis könnte die Führung hinwegfegen, bleibt für ihn ein »Hundesohn«. Zwischendurch werden die Leserinnen und Leser immer wieder durch fiktive Wikipedia-, Geschichtsbuch- oder Zeitungsartikel über die politische Rahmenhandlung ins Bild gesetzt. Ansonsten ist die Sprache des Buches sehr hart. Lange Dialoge in authentischem »Azzlack«-Straßen-Slang wechseln sich ab mit expliziten Schilderungen von Sex und sogar einer Vergewaltigung. Staiger versetzt sein Publikum in eine Welt, die schwer einzuordnen ist. Für einen Politthriller zu klassenbewusst, für einen Jugendroman zu brutal, für einen Pop-Roman zu politisch und für Erotikliteratur zu gewalttätig. Wer mit politischer Provokation, Sex, Gewalt und Drogen nichts anfangen kann, sollte das Buch lieber liegen lassen. Wer das aushält und akzeptiert, dass dies alles Teil unserer Lebensrealität ist, kann das kurzweilige Werk in vollen Zügen genießen. Denn eins zeigt Staiger deutlich: Das Leben ist schmutzig. ■


BUCH

Christoph Jünke | Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert

Bewegung an den Rändern Jenseits von Stalinismus und Sozialdemokratie: Der Historiker Christoph Jünke präsentiert die spannende Geschichte sozialistischen Eigensinns Von Marcel Bois

bei einen weiten Bogen von der Novemberrevolution des Jahres 1918 über die linken Neuformierungsprozesse in der Nachkriegsbundesrepublik bis hin zur neuen Linkspartei des frühen 21. Jahrhunderts. Fast immer geht es dabei um »Strömungen und Individuen, die einen ›Dritten Weg‹ suchten, (…) jenseits von sozialdemokratischem ›Revisionismus‹ und kommunistischem ›Dogmatismus‹«. Zu nennen sind die Austromarxisten Max Adler und Otto Bauer, der Trotzkist Jakob Moneta oder die von 1986 bis zum Jahr 2000 existierende Vereinigte Sozialistische Partei. Gemeinsamer Nenner seiner Aufsätze sei »das traurige Schicksal der sozialistischen Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts«, schreibt Jünke. In diesem Zusammenhang beleuchtet er auch die Entwicklung der Zeitschrift »Konkret« und der beiden Alt68er Oskar Negt und Bernd Rabehl, die sich alle weit von ihren ursprünglich linken Haltungen entfernt haben: Während die »Konkret« zum Sprachrohr des antideutschen Zynismus wurde, verwandelte sich der Philosoph Negt in einen kritiklosen Verteidiger der Schröderschen Agenda 2010 und der ehemalige SDSler Rabehl driftete gar ins deutschnationale Lager ab. Ansonsten behandelt der Autor jedoch vor allem Versuche, einen lebendigen und undogmatischen Marxismus zu bewah-

ren. Den roten Faden macht hier Jünkes Orientierung auf einen »sozialistischen Humanismus« aus. Wie schon in seinen Arbeiten über den Linkssozialisten Leo Kofler, dem auch hier ein Aufsatz gewidmet ist, zeigt er ein ums andere Mal auf, dass im Zentrum linker Politik der Mensch stehen muss – beispielsweise in dem Beitrag über den britischen Historiker E.P. Thompson, der Kritik am Stalinismus als »Revolte gegen die Inhumanität« bezeichnete. Jünke präsentiert in seinem Band »Gelegenheitsarbeiten« der vergangenen zwanzig Jahre, die größtenteils schon veröffentlicht sind. So stehen leicht verständlich geschriebene Texte neben Aufsätzen, die ursprünglich für wissenschaftliche Sammelbände verfasst wurden und dementsprechend einige Vorkenntnisse verlangen. Zudem ist Jünkes »rotes 20. Jahrhundert« leider ausschließlich männlich. Kein einziger der insgesamt 19 Aufsätze ist einer linken Dissidentin gewidmet. Wer darüber jedoch hinwegschauen kann, den erwartet ein wunderbarer und lesenswerter Spaziergang durch eine weitgehend vergessene Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. ■

★ ★★ Christoph Jünke | Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert | Laika Verlag | Hamburg 2014 | 320 Seiten | 21 Euro

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ieses Leben ist »wie gemacht für die moderne Kulturindustrie«. Hier wird alles geboten: eine Hauptfigur, die »mal im Kollektiv und mal allein Revolution und Konterrevolution durchlebt; eine Person, die das Gefängnisleben in verschiedenen Gesellschaftssystemen und namhafte wie namenlose Zeitgenossen in den verschiedenen Ecken der alten Welt kennenlernt; ein Mann der intellektuelle Salondebatten wie der alternativen Kommune­experimente und eine Geschichte von großer Politik und kleinen Freunden, mit viel Psychologie, Existentialismus und Geheimdienstatmosphäre – Graham Greene trifft George Orwell, Leo Trotzki trifft Joseph Stalin, Forrest Gump trifft James Bond.« Die Rede ist von dem Schriftsteller, Journalisten und linken Antistalinisten Victor Serge. Trotz bester Voraussetzungen ist seine Biografie bislang nicht vom Kulturbetrieb gewürdigt worden – im Gegenteil: Selbst die westdeutsche Linke hat ihn weitgehend ignoriert. Nicht so Christoph Jünke: Es sind Figuren wie Serge, die der Bochumer Historiker nun mit seinem Band »Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert« dem Vergessen entreißen möchte. In seinem Buch versucht Jünke, die Geschichte des Jahrhunderts »von den Rändern« der sozialistischen Bewegung aus zu betrachten. Er spannt da-

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BUCH

Florian Butollo | The End of Cheap Labour? Industrial Transformation and »Social Upgrading« in China

Das Ende vom Billiglohnparadies? Chinas wirtschaftlicher Erfolg beruht auf der schlechten Bezahlung der Arbeitskräfte. Nun stößt das Modell auf seine Grenzen. Von einem Umbau der Produktion sollen auch die Arbeiterinnen und Arbeiter profitieren Von Alexander Schröder

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ade in China« steht noch immer für billige Spielzeuge, T-Shirts oder Lampen, die den Weltmarkt überschwemmen. Drei Jahrzehnte lang konnte »die Werkbank der Welt« Kapitalisten weltweit mit enormen Wachstumsraten, gewaltigen Profiten und niedrigen Löhnen beeindrucken. Nun aber verlagert das internationale Kapital die Produktion in Länder, wo Arbeitskraft noch schlechter bezahlt wird. Chinas Status als Billiglohnland kann nur auf Kosten des Binnenmarkts und der Stabilität aufrechterhalten werden. Denn während die Exportwirtschaft noch immer von niedrigen Löhnen abhängig ist, kann sich der Binnenmarkt nur entwickeln, wenn die Löhne steigen. Zudem destabilisieren Proteste der »Billiglohn-Sklaven« das Modell. Eine Besserstellung der Arbeiterinnen und Arbeiter erscheint alternativlos. Die Parteiführung in Peking hat darauf reagiert und setzt neben Wirtschaftsförderung in den ärmeren Provinzen auch auf High-Tech-Produktion. Doch wie erfolgreich ist dieser Umbau wirklich? In seinem Buch »The End of Cheap Labour?« widmet sich der Soziologe Florian Butollo dieser Frage, indem er den Zusammenhang von technischen Neuerungen und der Aufwertung von Arbeit in der Tex-

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til- und LED-Industrie im südchinesischen Perlflussdelta analysiert. Anders als andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geht Butollo nicht davon aus, dass die industrielle Modernisierung notwendigerweise zu einer Verbesserung des Status der Arbeitskräfte führt, etwa durch eine bessere Ausbildung, Entlohnung oder anderweitige soziale Absicherung. Im Rahmen seiner Forschungen stellte sich in der Tat heraus, dass auf technische Neuerungen nicht automatisch ein soziales »Upgrading« der Beschäftigten folgt. Im Gegenteil kann technische Aufwertung sogar zu schlechterer Bezahlung, höherem Arbeitsaufwand oder Arbeitsplatzverlust führen, wie die Untersuchung zeigt. Eine drastische Polarisierung der Arbeitsverhältnisse in Bezug auf Lohnzuwachs, Qualifizierung und Arbeitsbedingungen prägt alle untersuchten Unternehmen: Einerseits gibt es in eine erhöhte Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften, die bessere Arbeitsbedingungen haben. Andererseits erfuhr aber nur ein sehr geringer Teil der Arbeitskräfte eine spürbare Besserstellung. Die qualifizierte »Arbeiteraristokratie«, wie Lenin sie nannte, bleibt eine winzige Schicht mit tendenziell städtischer Herkunft. Schlecht bezahlte und gering qualifizierte Wanderarbeite-

rinnen und -arbeiter vom Land bilden in beiden Branchen immer noch die große Mehrheit. Butollo resümiert: »Die Resultate der empirischen Untersuchung zeigen daher im Detail das Scheitern des sozialen ›Upgrading‹ von Produktionsarbeiterinnen und -arbeitern im Perlflussdelta. Industrielles ›Upgrading‹ führt nicht zu qualitativen Verbesserungen in Bezug auf Fähigkeiten und Ausbildung, Entlohnungssystem oder Arbeitsbedingungen.« Auch wenn der Autor seine Ergebnisse keineswegs auf sämtliche Branchen oder Betriebe verallgemeinert, verstärken diese Beispiele Zweifel an einer reibungslosen Transformation des arbeitsintensiven und exportorientierten chinesischen Modells. Eine Lösung der sozialen Widersprüche ist nicht in Sicht. »Made in China« wird daher weiterhin mit Billiglohn-Sklaverei in Verbindung gebracht werden müssen. Butollos Studie ist absolut lesenswert, aber aufgrund der speziellen Thematik eher etwas für ökonomisch interessierte Sinologen oder Arbeitssoziologinnen. Zudem ist das Buch bislang nur auf Englisch erhältlich. Um den chinesischen Staatskapitalismus zu verstehen, eignet sich als Einstieg auch »Chinas Kapitalismus« von Tobias ten Brink.■

★ ★★ BUCH | Florian Butollo | The End of Cheap Labour? Industrial Transformation and »Social Upgrading« in China | Campus Verlag | Frankfurt und New York 2014 | 400 Seiten | 39,90 Euro


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bdalli, der größte Flohmarkt in Amman, auf dem sich selbst die ärmsten Jordanierinnen und Jordanier Kleidung leisten können, muss einer teuren Shopping-Mall weichen. Ava Matheis und Maximilian Ellebrecht beschreiben auf der Website der Zeitschrift »Zenith« (18.05.2105), »wie Ammans Luxusträume Jordaniens Gesellschaft spalten«. Es wird deutlich: Liberalisierung bringt Gentrifizierung mit sich – auch in arabischen Metropolen. Doch hinzu kommt ein besonderer Faktor: Extreme Ungleichheit, Verdrängung und hohe Arbeitslosigkeit treiben zunehmend arme Jordanierinnen und Jordanier aus den ländlichen Gegenden in die Arme des IS, den sie als letzte Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft oder auch einfach nur als Arbeitgeber sehen. Dieser Artikel beleuchtet den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Dschihadismus von einer ungewohnten Perspektive aus, die sich durchaus auf andere arabische Länder verallgemeinern lässt.

Rentabilität (oder eben der Profitrate) für die Bundesrepublik Deutschland seit 1970 untersucht – und zeigt, dass der Altmeister tendenziell recht hat. Denn auch Weiß kommt zu dem Ergebnis, dass die Rentabilität langfristig rückläufig ist. Sein Artikel trägt den Titel: »Sachkapitalrenditen im historischen Vergleich – Deutschland im Abwärtstrend?«

Eine Streikwelle? In Deutschland? Was lange als Widerspruch in sich galt, schien in diesem Frühjahr plötzlich Realität zu sein: Bei der Bahn und in den Kitas, bei der Post und bei Amazon, in der Berliner Charité und bei Lufthansa: Fast überall wurde gestreikt. Florian Wilde, Referent für Gewerkschaftspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung, geht in der neusten Ausgabe von »Rosalux« (Nr. 2/2015) der Frage nach, ob der Eindruck stimmt, dass sich Deutschland in eine »Streikrepublik« verwandelt.

Als Anfang des 20. Jahrhunderts die Arbeiterinnen und Arbeiter in den USA das Streiken lernen, ist eine junge Frau mittendrin: Elizabeth Gurley Flynn. Wer die Songs von Joe Hill kennt, dem ist sie als »Rebel Girl« ein Begriff. Benjamin Silverman stellt in einem kurzen Artikel auf der US-amerikanischen Website socialistworker.org (7. August 2012) ihr spannendes Leben vor. Im Jahr 1890 geboren, wird sie schon als Teenagerin zu einer zentralen Aktivistin bei der Sozialistischen Partei und bei den Industrial Workers of the World (IWW). Sie organisierte beispielsweise den legendären »Brot und Rosen«-Streik von Textilarbeiterinnen im Jahr 1912. Der Artikel gibt zugleich einen knappen Einblick in die Stärken und Schwächen der IWW. ■

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21-Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Publikationen

★ ★★ WEBLINKS Zenith: www.zenithonline.de Rosalux: www.rosalux.de WSI-Mitteilungen: www.boeckler.de/index_wsi-mitteilungen.htm analyse & kritik: www.akweb.de Socialist Worker: http://socialisworker.org

REVIEW

Eine zentrale Größe kapitalistischer Ökonomien ist die Profitrate. Schon Karl Marx beobachtete deren tendenziellen Fall. Nun hat der Ökonom Thomas Weiß in den gewerkschaftsnahen »WSI-Mitteilungen« (04/2015) die Entwicklung der

An Bahnhöfen, Fähren oder direkt an den Grenzen: Tausende unterstützen in den vergangenen Wochen in Deutschland ankommende Flüchtlinge. Doch sieht man einmal von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow ab, suchte man hier staatliche Repräsentanten vergeblich. Das hat System, meinen Johanna Bröse und Sebastian Friedrich in der Monatszeitschrift »analyse & krtik« (Nr. 607, 18. August 2015). Die Unterstützung der Flüchtlinge werde immer weiter ins Private abgewälzt. Zugleich, so argumentieren sie in ihrem lesenswerten Beitrag weiter, erreiche die neoliberale Vereinnahmung der Flüchtlingshilfe derzeit ungeahnte Ausmaße.

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Preview


Film | »Miners Shot Down« | Regie: Rehad Desai

»Ungleichheit erzeugt Gewalt« Der vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilm »Miners Shot Down« über das blutige Ende eines Bergarbeiterstreiks in Südafrika läuft im November in Hamburg und Berlin. Regisseur Rehad Desai will die Hintergründe des Massakers verständlich machen Interview: Clara Dircksen

Was passierte danach? Als Reaktion auf das Massaker überzog eine riesige Welle wilder Streiks das Land. Die Mehrheitsgewerkschaft NUM verlor über ein Drittel ihrer Mitglieder an eine kämpferischere Gewerkschaft. Diese startete einen fünfmonatigen Streik für dieselben Forderungen der Bergleute von Marikana und erreichte einen Teilsieg. Eine richterliche Untersuchungskommission wurde eingerichtet. Doch stellte sie nach zweijähriger Beweisaufnahme fest, dass niemand für das Massaker verantwortlich gemacht werden könne. Dieser Persilschein für die Verantwortlichen sorgte bei zivilgesellschaftlichen Gruppen, der unabhängigen Presse und Gewerkschaften, die nicht mit der regierenden Partei ANC verbunden sind, für Empörung. Zivilklagen gegen die Polizei werden noch verhandelt. Wie kamst du zu dem Entschluss, »Miners Shot Down« zu drehen? Als Künstler fühle ich mich verpflichtet, Position zu beziehen, wenn normale

Rehad Desai

Rehad Desai ist Historiker, Filmemacher und politischer Aktivist. Im Jahr 1990 kehrte er aus dem politischen Exil in seine Heimat Südafrika zurück. Dort gründete er die Filmproduktionsfirma Uhuru Productions. Er führte bei mehr als zwanzig politischen Dokumentarfilmen Regie.

★ ★★ FILMVORFÜHRUNGEN Vorführungen des Films, englisches Original mit Untertiteln anschließend Diskussion mit dem Anwalt Jim Nicholl, der die Bergleute und ihre Hinterbliebenen vertritt Samstag, 14. November, 18. Uhr, Hamburg im Rahmen des Filmfestivals Augenblicke Afrika Studiokino, Bernstorffstraße 95 www.augen-blicke-afrika.de Sonntag, 15. November 2015, 16 Uhr, Berlin Karl-Liebknecht-Haus, Luxemburg-Saal eine Veranstaltung der LINKEN-LAG International

Menschen gezwungen sind, sich der militärischen Macht des Staats zu stellen. Außerdem empfinde ich das Massaker als Betrug der regierenden ANC an genau den Leuten, die sie an die Macht gebracht

haben. Zwar ist es der Regierung gelungen, die Armut zu verringern, aber dafür ist Südafrika jetzt eins der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit. Ungleichheit ist genauso entmenschlichend wie Armut, aber sie erzeugt zudem Verachtung und Gewalt. Diese Gewalt zeigte ihre Fratze beim Blutbad an den Bergleuten. Was ist dein Hintergrund als Filmemacher? Ich bin seit fast vierzig Jahren revolutionärer Sozialist. Weil mein Vater wegen seiner politischen Aktivitäten im ANC verfolgt wurde, wuchs ich in England auf und kehrte 1990 nach Südafrika zurück. Ich mache Filme, weil ich glaube, dass diese Kunstform auf besondere Weise Erkenntnisse ermöglicht. Filme können Raum für Realitäten und Fragestellungen eröffnen, die tiefgreifende Bewusstseinsveränderungen erzeugen und damit den Anstoß zu politischem Aktivismus geben können. Was erwartet das Publikum in »Miners Shot Down«? Der Film ist ein Politthriller und spielt in Echtzeit, dabei haben wir aber viele Originalaufnahmen verwendet. Für das Drehbuch habe ich eng mit Anwaltsteams, der Unterstützerorganisation »Marikana Support Campaign« und den verhafteten und verletzten Bergarbeitern zusammengearbeitet. Was kann man hier tun, um sich mit dem Kampf der Bergleute und ihrer Hinterbliebenen für Gerechtigkeit solidarisch zu zeigen? Wir wünschen uns, dass alle sozialistischen und progressiven Kräfte den 16. August als internationalen Gedenktag unterstützen. Mehr Informationen gibt es auf der Webseite der Unterstütungskampagne (marikanajustice.co.za), der Filmhomepage (minersshotdown.co.za) oder unserer Facebookseite. ■

PREVIEW

Am 16. August 2012 tötete die Polizei im südafrikanischen Marikana 34 streikende Bergarbeiter. Sie verletzte und verhaftete zudem Hunderte. Wie kam es dazu? Die Bergleute legten die Arbeit nieder, nachdem das Britische Montanunternehmen Lonmin monatelang nicht auf ihre Forderung nach einer Lohnerhöhung eingegangen war. Die regierungsnahe Gewerkschaft NUM (National Union of Mineworkers) verweigerte den Streikenden die Unterstützung. Als diese daraufhin vor das Gewerkschaftsbüro zogen, wurden sie von NUM-Offiziellen beschossen und zwei der Protestierenden starben. In den nächsten Tagen eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen Bergarbeitern und Polizei und gipfelten im »Massaker von Marikana«, bei dem die Polizei mit Maschinengewehren in die Menge der Streikenden schoss.

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FILM & AUSTELLUNG

Pop-Art-Künstler David Hockney

Was bleibt von der Boheme? David Hockney war Teil der wilden Kunstszene der 1960er Jahre. Doch anders als die Pop-Art-Künstler entwickelt er bis heute neue Ausdrucksformen. Ein Dokumentarfilm zeigt sein Werk und dessen Hintergrund Von Phil Butland

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★★★

FILM | Hockney | Regie: Randall Wright | Großbritannien 2014 | 113 Minuten | Arsenal Filmverleih | Filmstart: 15. Oktober 2015 AUSSTELLUNG | Von Hockney bis Holbein: Die Sammlung Würth in Berlin | MartinGropius-Bau, Berlin | Noch bis 10. Januar 2016

90

leichzeitig mit dem deutschen Kinostart von Randall Wrights Dokumentarfilm »Hockney« läuft die Ausstellung »Von Hockney bis Holbein« im Berliner Martin-Gropius-Bau. Die Aufmerksamkeit hat der leider unterschätzte Künstler aus Nordengland unbedingt verdient. Der Film besteht hauptsächlich aus Interviews. Manche sind langweilig, andere liefern interessante kritische Analysen. Nichts aber ist erhellender als die ruhigen Momente, in denen David Hockney selbst seine Ideen und ihre Verwirklichung vorstellt. Einige seiner berühmtesten Gemälde zeigen Swimming Pools in Los Angeles und ihre Besitzer. Vielleicht liegt es an den knalligen Farben dieser Bilder, dass der Künstler häufig mit der Pop-Art-Bewegung um Andy Warhol in Verbindung gebracht wird. Aber während Warhol und Konsorten das Konsumdenken feierten, blieb Hockney immer skeptisch. Im Film beschreibt der Kunsthändler John Kasmin: »David ist sich im Klaren darüber, dass sich alles sofort teuer verkauft, sobald er es signiert. Er will aber keine Maschine sein, die Objekte von hohem Kaufwert produziert.« Wie sein Vorbild Picasso verharrt auch Hockney nicht bei einer künstlerischen Ausdrucksform. Neben Gemälden schuf er zahllose Zeichnungen, Kulissen für Opern und Fotocollagen. Er bediente sich auch diverser neue Technologien wie Faxgeräte oder Smartphones. Moden lehnte er ab: Als Kritiker darauf beharrten, dass Kunst etwas repräsentieren müsse, begann er, beliebige farbige Linien in seine Zeichnungen einzufügen. Diese Linien repräsentieren sich selbst und sonst nichts. Die Interviews im Film stammen aus verschiedenen Epochen und zeigen die Veränderung in Hockneys Methoden. Eins aber blieb konstant: sein Versuch, Kunst zu schaffen, die mehr leistet, als einen Augenblick der Wirklichkeit zu reproduzieren. Collagen sind sein Versuch, die Unzulänglichkeit der

Fotografie zu überwinden, welche er als zu kurzlebig empfindet. Die Vielfalt von Fotografien einer Collage ermöglichen für ihn »die Zeit und die Illusion von Raum« zu erzeugen, die Einzelaufnahmen nicht bieten können. Seine Vision erläutert Hockney anhand eines seiner bekanntesten Gemälde mit dem Titel »Bigger Splash«. Es zeigt den Moment, in dem ein Schwimmer in einen Pool springt. Farbe und Komposition übermitteln aber mehr als nur diesen Moment. Im Gegensatz dazu fehle den meisten Fotografien die notwendige Perspektive – sowohl wörtlich als auch metaphorisch. Der Film hat etwas von einem Nachruf auf den mittlerweile fast 80-jährigen Hockney. Er feiert sein Leben als Schwuler in den 1960er Jahren, obwohl Homosexualität damals illegal war: »Ich war Teil der Boheme. Und die ist tolerant.« Zugleich wird der Tod der Boheme betrauert – viele ihrer Vertreter wurden Opfer der Aids-Epidemie der 1980er Jahre. Der Künstler selbst erscheint auch in den jüngsten Interviews sehr lebendig, aber es drängt sich die Frage auf, ob seine Zeit nicht vorbei ist. Während der Kunstmarkt aktuell von den nichtssagenden »Young British Artists« wie Damien Hirst dominiert wird, ist es erfrischend, einem Künstler zuzuhören, der sich ernsthafte Gedanken macht. Eine von Hockneys Anekdoten beginnt so: »Im Jahr 1962 war ich bei einer Demo auf dem Trafalgar Square und beschloss, in die Nationalgalerie zu gehen, um mir die Fresken anzuschauen...« Ein andermal feiert er mit seiner Familie aus der Arbeiterklasse. Mit ihr fühlt er sich genauso wohl wie mit den Künstlerinnen und Tänzern der Boheme. Dank stetig steigender Studiengebühren in Großbritannien ist es heutzutage sowieso fraglich, wie lange die Boheme Arbeiterkindern wie Hockney noch zugänglich ist. Umso wichtiger ist es, jetzt sein Leben und Werk zu würdigen.■


, EN H E T S ER V T L E W DIE . n r e d n ä r e v u z ie s m u Mit unserem marx21-Magazin wollen wir eine laute Stimme gegen den neoliberalen Mainstream in der deutschen Presselandschaft und für eine revolutionäre Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus schaffen. Kein Wunder also, dass wir dabei auf keine Unter-

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marx21 Lucia Schnell

fragt, wie es in Griechenland nach der Wahl weitergeht

Jonathan Neale

erklärt, warum Kapitalismus und Klimaschutz nicht vereinbar sind

Rehad Desai

über seinen Film »Miners Shot Down«

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Magazin für internationalen Sozialismus

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03/2015 | HERBST | 4,50 EURO | marx21.de


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