marx21 Ausgabe Nummer 42 / 04-2015

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marx21 04/2015 | Winter | 4,50 eUrO | marx21.de

Gisela Notz

über vergessene Frauenaktivistinnen

magazin für internatiOnalen SOzialiSmUS

terror in Paris Warum Rassismus und Krieg nicht die Antwort sein dürfen

sameh Naguib

analysiert die Lage in Ägypten fünf Jahre nach der Revolution

Winfried Wolf

syrien Bomben schaffen keinen Frieden

erklärt, warum der VW-Skandal so alltäglich ist

sachsen-Anhalt Linke Haltelinien statt Kuschelkurs

Warum der Aufstieg der Alternative für Deutschland so gefährlich ist und wie er gestoppt werden kann.

204501

Nazis?

195906

AfD: Die neuen

Buch Wolfgang Schorlaus neuer Roman über den NSU-Skandal

4

Podemos Die spanische Linke zwischen Aufbruch und Ausverkauf

Kultur Kaveh: Hip Hop gegen den Strom

Österreich 4,70 eUrO schWeiZ 7,50 chF

Weltwirtschaft Zombie Business

+

01

Prostitutionsdebatte Die repressiven Gesetze abwehren


HAMBURG

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CC BY -NC-S A / flic

kr.com

Am 14. November gehen etwa fünftausend Menschen in der Hansestadt auf die Straße, um gegen die Asylpolitik der Bundesregierung und des Bürgermeisters Olaf Scholz zu demonstrieren. Zum Protest rief das Bündnis »Recht auf Stadt – Never Mind the Papers« auf, dem Geflüchtete, Studierende, Gewerkschaftsmitglieder, Schülerinnen und Schüler angehören. Unter dem Motto »Refugees Welcome heißt gleiche Rechte für alle!« fordern die Demonstrierenden lautstark die menschenwürdige Unterbringung der täglich neu ankommenden Geflüchteten. Zudem machen sie Senat und Behörden für die jetzigen Missstände verantwortlich. Es ist nur eine Demonstration von vielen, die bundesweit jede Woche stattfinden. Sie illustrieren eindrucksvoll, dass relevante Teile der Bevölkerung die Abschottungspolitik der europäischen Eliten ablehnen.


Liebe Leserinnen und Leser,

IN EIGENER SACHE

D

ie gesellschaftliche Polarisierung in Deutschland spitzt sich weiter zu: Während die große Solidaritätswelle mit den Geflüchteten nicht abebbt, werden die Rassisten immer selbstbewusster. Neben der Pegida-Bewegung mobilisiert neuerdings auch die AfD zu Aufmärschen und Kundgebungen. Erste Wahlumfragen sehen sie bundesweit mittlerweile als drittstärkste Partei. In dem hasserfüllten Klima, das Rassisten vom rechten Rand und aus der gesellschaftlichen Mitte schüren, kommt es fast täglich zu Angriffen auf Geflüchtete oder ihre Unterkünfte. Die Bedeutung des Kampfs gegen rechts ist so akut wie seit Jahren nicht mehr. Ab Seite 22 analysieren wir daher die aktuelle Lage, beleuchten die Entwicklungen der AfD und befassen uns mit Strategien, die Gefahr von rechts zu stoppen. Keine zwei Wochen vor Drucktermin dann die schreckliche Nachricht: Terroristen töten in Paris 130 Menschen. Während die Stimmungsmacher in Politik und Medien sofort versuchen, einen Bezug zu den Geflüchteten herzustellen, verhängt Frankreich den Notstand und weitet seine Luftangriffe in Syrien aus. Warum genau das den Islamischen Staat jedoch nur noch stärker machen wird, könnt ihr auf unseren Sonderseiten nachlesen (ab Seite 8). In einem weiteren Schwerpunkt widmen wir uns dem fünften Jahrestag der arabischen Revolte. Vordergründig scheinen die Revolutionen im Nahen Osten und Nordafrika endgültig im Blut ertränkt worden zu sein, doch unsere Interviewpartner aus Ägypten und Syrien erklären, dass die Wurzeln des Arabischen Frühlings noch fruchtbar sind. Entschuldigen müssen wir uns bei einigen Gewinnerinnen und Gewinnern der Buchprämie, die wir für die Teilnahme an unserer Leserinnen- und Leserumfrage ausgelobt haben. Leider haben wir noch nicht alle Bücher versenden können. Das holen wir umgehend nach.

MARX IS' MUSS 2016 4 Tage, 80 Veranstaltungen, 1 Kongress Der Kongress findet über Himmelfahrt (05. bis 08. Mai) in Berlin statt. Anmelden kannst du dich ab sofort auf www.marxismuss.de. Mit einer frühzeitigen Anmeldung hilfst du uns dabei, die Kosten für das Werbematerial zu finanzieren. Wir bedanken uns mit einem Frühbucherrabatt.

Übrigens: Wenn ihr noch auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken seid: Auf Seite 70 stellen unsere Redakteurinnen und Redakteure ihr persönlichen Tipps vor. Eine gute Idee ist auch ein marx21-Geschenkabo. Alle Infos dazu gibt es auf unserer Website marx21.de. Bei der Produktion dieses Hefts hatten wir wieder einmal tatkräftige Unterstützung von einer Praktikantin. Hai-Hsin Lu hat gleich mehrere Artikel beigesteuert: Von ihr stammen das Fotofeature auf der gegenüberliegenden Seite, die Fotostories auf den Seiten 12 und 13 und ein Kommentar zum Widerstand gegen TTIP. Mehr über HaiHsin erfahrt ihr in der Rubrik »Betriebsversammlung« auf Seite 6. Zuletzt noch eine traurige Nachricht: Völlig unerwartet ist am 6. November unser Genosse Ergün Bulut verstorben. Einen Nachruf von Christine Buchholz findet ihr auf Seite 59. Eure Redaktion

Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post.

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Fotostory: Südafrika

Kultur: Wolfgang Schorlau Sonderseiten: Terror in Paris 08 Der Krieg, den der Westen begann Von der marx21-Redaktion

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66 22 Titelthema: Kampf gegen Rechts 21 TTIP: Nicht auf den Lorbeeren ausruhen Kommentar von Hai-Hsin Lu Titelthema: Kampf gegen Rechts

Schwerpunkt: Fünf Jahre Arabellion 47

Was vom Arabischen Frühling übrig blieb Von Stefan Ziefle

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Ägypten: »Es ist schlimmer als unter Mubarak« Interview mit Sameh Naguib

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Syrien: »Bomben schaffen keinen Frieden« Interview mit Joseph Daher

Aktuelle Analyse 14

Weltwirtschaft: Zombie Business Von Thomas Walter

16

VW-Skandal: Wenn sich der Rauch verzieht Von Winfried Wolf

23 Die rechte Gefahr Thesen des Netzwerks marx21 28 Das Boot ist nie voll Von Hans Krause und Yaak Pabst 32

AfD: Die Maske des Konservatismus Von Volkhard Mosler

Unsere Meinung 20

Prostitutionsdebatte: Die repressiven Gesetze abwehren Kommentar von Rosemarie Nünning

36 Arbeiterbewegung gegen Hitler: Gespalten in den Untergang Von Marcel Bois 41

4

Rock Against Racism: Aus der linken Ecke ausgebrochen Von Phil Butland und Rosemarie Nünning

Neues aus der LINKEN 55 Sachsen-Anhalt: Haltelinien statt Kuschelkurs Von Vincent Streichhahn


62 Podemos: Zwischen Aufbruch und Ausverkauf

Schwerpunkt: Fünf Jahre Arabellion

46 74 Kaveh: Hip Hop gegen den Strom

Netzwerk marx21

RADIKALE DENKERINNEN

Rubriken

59 Ergün Bulut: Du fehlst uns, compañero! Nachruf von Christine Buchholz

62 Ernesto Laclau und Chantal Mouffe: Aufbruch und Ausverkauf Von Miguel Sanz Alcántara, Rabea Hoffmann und Ronda Kipka

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Briefe an die Redaktion 12 Fotostory 44 Weltweiter Widerstand 58 marx21 Online 72 Review 82 Preview

MARX IS‘ MUSS 2016: »Wir wollen diskutieren, wie eine bessere Welt aussehen kann« Interview mit Fanni Stolz

Kultur 66

Wolfgang Schorlau: Finden und Erfinden Von Lisa Hofmann

70 Geschenktipps der marx21-Redaktion neu auf marx21.de

Linker Aufbruch? Am 20. Dezember wird in Spanien gewählt. Wir liefern die Hintergründe. Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

INHALT

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 9. Jahrgang, Heft 42 Nr. 4, Winter 2015/16 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Print & Online Marcel Bois, Frieda Dietrich, Clara Dirksen, Martin Haller, Rabea Hoffmann, David Jeikowski, Ronda Kipka, Hans Krause, Hai-Hsin Lu (Praktikantin), Jan Maas, Yaak Pabst (V.i.S.d.P.), Stefan Ziefle Lektorat Marcel Bois, Clara Dirksen, Brian E. Janßen, Mona Mittelstein, David Paenson, Rosemarie Nünning, Carsten Schmidt Übersetzungen David Paenson, David Maienreis, Rosemarie Nünning Layout Yaak Pabst, Carsten Schmidt, Caroline Tovar Covergestaltung Yaak Pabst Redaktioneller Beirat Stefan Bornost, Christine Buchholz, Michael Ferschke, Werner Halbauer, Christoph Hoffmeier, Rhonda Koch, Sven Kühn, Julia Meier, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Fanni Stolz, Oskar Stolz, Ben Stotz, Anton Thun, Heinz Willemsen, Luigi Wolf Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint viermal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 68 23 14 90 Fax: 030 – 68 22 97 35 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 3. März 2015 (Redaktionsschluss: 15.02.)

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hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Hai-Hsin Lu, Praktikantin

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s gibt Dinge, die sind fast überall ein Problem – zum Beispiel die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern. Dies fiel Hai-Hsin schon während ihrer Schulzeit auf, die sie in Dortmund, Taipeh und Wien verbrachte. Um die Gründe der Frauenunterdrückung besser zu verstehen, besuchte sie später an der Universität Seminare im Fachbereich Geschlechterstudien. Seit dem Jahr 2011 studiert Hai-Hsin in Berlin Kultur- und Medienwissenschaft. Angeregt von Theorien des Queerfeminismus setzte sie sich allgemein mit Mechanismen der Diskriminierung und Unterdrückung auseinander. Dabei boten für sie auch Alltagserfahrungen als nicht-weiße Frau Anlässe, über Rassismus und Identitätspolitiken nachzudenken. Politisch aktiv wurde sie als Unterstützerin der Geflüchteten, die die Gerhard-HauptmannSchule in Berlin-Kreuzberg besetzt hatten. Im Juni letzten Jahres beteiligte sie sich an einer zehntägigen Blockade, um die Räumung der Schule zu verhindern. »Diese Erfahrung hat mich sehr geprägt«, berichtet Hai-Hsin, »zum ersten Mal habe ich massive Polizeigewalt und eine frustrierende Hilflosigkeit erlebt. Seitdem beschäftige ich mich auch außerhalb der Uni viel mit Politik.« Auch hier gehören Theorie und Praxis für sie zusammen: Neben ihrem Engagement beim Kälteschutz im Mehringhof möchte Hai-Hsin an Lesekreisen zu linker Literatur teilnehmen. Mit dieser Einstellung war ihre Praktikumsbewerbung für die Redaktion natürlich ein Glücksfall. Ein Kommilitone hatte ihr das marx21-Magazin empfohlen. Seit Oktober berichtet Hai-Hsin nun schon für uns von Demonstrationen, arbeitet an der Homepage mit und schreibt Artikel. Zum Beispiel die Fotostory auf S. 12

Das Nächste Mal: Hans Krause, redakteur


noch in Zeitungen abgebildet werden. So verkürzt dargestellt kann aber schnell der missverständliche Eindruck entstehen, dass jüdische Frauen gegen den arabischen Teil der Bevölkerung auf die Straße gehen. Silke Stöckle, Berlin

Zu den Thesen »Grenzen auf! Bleiberecht für alle!« des Netzwerks marx21 (Heft 3/2015)

Zum Heft 3/2015 Schön, dass es marx21 gibt. Euer Heft lese ich unregelmäßig, aber durchaus gern. Die Beschäftigung mit mir nicht so gut bekannten Positionen wie denen Gramcis oder auch Koflers erweitert den Horizont durchaus. Allerdings, wenn es tatsächlich zum Austausch zwischen marxistischen Positionen anregen will, so fehlen eindeutig die Ansichten von anderen renommierten zeitgenössischen Marxisten der Bundesrepublik wie Josef Schleifstein, Franz Garnreiter, Klaus Wagener und Conrad Schuhler oder auch der ehemaligen DDR wie Jürgen Kuczinski – die vielleicht der Ausrichtung von marx21 nicht ganz so nahe liegen. Fehlen sollten sie aber auf keinen Fall. Ich bin mal gespannt, ob ihr auch solche zu Wort kommen lassen werdet. Robert Ryzek, per E-Mail Ich habe von der letzten Ausgabe zum ersten Mal seit Jahren auf Kundgebungen und Veranstaltungen insgesamt gut ein Dutzend Exemplare verkauft. Das liegt daran, dass sie mir den Eindruck vermittelte, die Autorinnen und Autoren kämpften wirklich mit dem Stoff, über den sie schrieben. Man muss die Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität darstellen. Das macht die Lektüre spannend. David Paenson, Frankfurt

Zur Rubrik »Weltweiter Widerstand« (Heft 3/2015) Dass auch in Jerusalem und Tel Aviv Slutwalks stattfanden und die israelische Gesellschaft krass sexistisch ist, sollte bei marx21 einen Platz finden – aber bitte nicht durch ein ganzseitiges Foto mit Frauenoberkörper im BH und lediglich zwei Sätzen Text. So wird das Thema stark verkürzt und es hat den Anschein, die Redaktion hätte hauptsächlich nach einem »schönen« Foto gesucht. Es gibt viel zum Thema zu sagen, begonnen damit, dass Frauen teilweise weder in der Werbung

Es ist wahr, dass Angela Merkel zu Unrecht zur »Flüchtlingskanzlerin« hochgejazzt wurde. Dennoch gibt es einen Aspekt, der in der marx21-Analyse zu kurz kommt: Merkel hat in ihrer Regierungszeit aufgeheizte Debatten, rassistische Zuspitzungen und den damit einhergehenden verschärften Nationalismus möglichst schnell wieder abgewürgt und so sowohl Parteien als auch Medien in Schach gehalten, um geräuschlos technokratisch regieren zu können. Die Zeit der relativen Ruhe an der ideologischen Front ist nun aber vorbei. Der rechte Flügel der Union, angeführt von Thomas de Maizière, Horst Seehofer und Wolfgang Schäuble, rebelliert offen gegen Merkels Regierungsführung. Die anhaltende, von der Linken bisher nicht zurückgedrängte rassistische Straßenmobilisierung, der Zulauf zu einer AfD, die dabei ist, sich als neue NPD anzubieten, hat die Dämme bei den Konservativen brechen lassen. Sie hecheln den neuen Nazis und Rassisten hinterher, in dem Glauben, diesen das Wasser abgraben zu können. Dabei nehmen sie in Kauf, Wasser auf die Mühlen der Ultranationalisten zu gießen und das Wirtschaftsprojekt EU mit zu gefährden. SPD und Grüne laufen im Windschatten mit. Dazu kommt eine gewisse Unzufriedenheit in Wirtschaftskreisen, dass Merkel die Beschäftigten nicht stärker in die Mangel genommen hat. Deshalb machen sie Merkel sogar für eine angebliche »Sozialdemokratisierung« der CDU verantwortlich. Es spricht vieles dafür, dass in den kommenden Wahlkämpfen ein scharfer und rassistischer Ton angeschlagen werden wird, der organisierten Rassisten und Nazis zu noch mehr Popularität in frustrierten Schichten der Gesellschaft verhelfen wird. Auch können wir damit rechnen, dass die Daumenschrauben im sozialen und Lohnbereich angezogen werden. Dafür muss die Linke sich wappnen. Sie muss in Programmatik und Praxis gegen Sozialabbau kämpfen. Auch darf sie keine Zugeständnisse an Rassisten machen. Vielmehr muss sie Rassismus aktiv bekämpfen und insbesondere die reaktionären Straßenbewegungen stoppen. Rosemarie Nünning, Berlin

Zum Interview »Eine Bewegung, Großbritannien zu verändern« mit Pete Green (Heft 3/2015) Das Interview liest sich gut. Es gibt die Stimmung wieder, die die Wahl von Jeremy Corbyn zum Labour-Vorsitzenden mit sich gebracht hat. Es ist richtig, dass wir diese als Sieg für die ganze Linke feiern, die Hoffnung auf mehr macht. Allerdings weist das Interview analytisch einige Fehler auf. Es bleiben offene Punkte, die zur weiteren Begleitung des Themas einladen: 1. Es werden enorme Illusionen in die Möglichkeiten geschürt, die ein einziger Mann an der Spitze einer Partei hat, ohne die Natur dieser Partei und des Parteiapparates zu diskutieren. 2. Green spricht von notwendiger Mobilisierung, um den Widerstand der Rechten zu brechen. Unklar bleibt, wie diese aussehen soll oder kann. Am Ende bleibt die Parole stehen: Auflösung von Left Unity, alle rein in Labour, von dort kämen nun alle wichtigen Initiativen. Diese Orientierung könnte bedeuten, sich nun vor allem auf die Auseinandersetzungen innerhalb von Labour zu konzentrieren. Das wird zu einem Abnutzungskrieg führen, der die linken Kräfte aufzureiben droht. Mich erinnert das stark an die Situation nach 1969 in der SPD und bei den Jusos. Sie begann mit enormen Hoffnungen und endete mit der Ablösung Willy Brandts durch Helmut Schmidt. 3. Im Interview wird die Perspektive auf die Wahl 2020 ausgegeben, wenn auch nur indirekt. Doch besteht durchaus die Gefahr, dass die Aufbruchsstimmung in eine reine Wahlbewegung kanalisiert werden wird. 4. Green rechtfertigt jetzt schon die Einbindung von rechten LabourAbgeordneten in Corbyns Schattenkabinett – anstatt diese als Beispiel dafür zu nehmen, wie begrenzt die Möglichkeiten einer linken Führungsfigur in einer rechts-reformistischen Partei sind. 5. Es ist problematisch, einen Text zu Corbyn zu bringen und die jüngsten Erfahrungen mit Syriza vollständig auszublenden. Es stellt sich der Linken in Europa die Frage: Wie häufig müssen Fehler gemacht werden, damit wir daraus lernen? Insgesamt gesehen ist es richtig, dass wir uns auf die Seite der Corbyn-Unterstützer stellen. Etwas zusätzliche Analyse hätte aber gut getan. Frank Renken, Berlin

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

Briefe an die Redaktion

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SONDERSEITEN / Terror in Paris

Der Krieg, den der Westen begann Der Terroranschlag von Paris war ein grausames Verbrechen. Doch er ist die Folge der Kriege, welche Frankreich, die USA und andere Staaten im Nahen Osten führen

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Von DER MARX21-REDAKTION

ie fliegen Tausende Meter über dem Boden und steuern ihre Bomben mit Lasern ins Ziel. Die »Rafale«- und »Mirage«-Kriegsflugzeuge der französischen Armee töten anders als die Attentäter von Paris. Doch was sie tun, ist kein bisschen weniger menschenverachtend und mörderisch. Eine Rafale kann 9000 Kilogramm Bombenlast tragen und von ihren Stützpunkten in Jordanien und vom Flugzeugträger »Charles de Gaulle« jederzeit jeden Ort in Syrien und Irak angreifen. Die französische Regierung hat ihre Mordmaschinen schon lange vor den Pariser Anschlägen intensiv genutzt. Seit ihre Luftwaffe im September 2014 im Nahen Osten stationiert wurde, flog sie 271 Angriffe in Syrien und Irak, durchschnittlich mehr als vier pro Woche. Die französischen Bombardierungen sind nur ein Bruchteil des Terrors, den die angeblich freie und friedliche Welt seit Jahren über den Nahen Osten bringt. Das nichtkommerzielle Projekt »airwars.org« zählt seit August 2014 mehr als 8300 Luftschläge der USA, Großbritanniens, Frankreichs und anderer Nato-Staaten in Syrien und Irak, bei denen insgesamt 29.000 Bomben abgeworfen wurden.

Hollandes Mordmaschinen töten Zivilisten

Doch können diese Bomben tatsächlich mit den Pariser Selbstmordattentaten des Islamischen Staats (IS) verglichen werden? Leider ja. Denn auch wenn Politiker und Medien uns mit der Parole »Krieg ge-

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gen den IS« glauben machen wollen, bei den Angriffen stürben nur dschihadistische Kämpfer, ist das Gegenteil der Fall. Wie in jedem Krieg sterben auch beim »Krieg gegen den IS« überwiegend Zivilistinnen und Zivilisten. Nach einer Zählung von »airwars.org« haben die führenden Nato-Staaten und Russland durch ihren »Krieg gegen den IS« seit August 2014 zwischen 653 und 932 Zivilisten ermordet. Die Journalisten haben dabei nur Fälle berücksichtigt, die von mindestens zwei verschiedenen Quellen erwähnt wurden, die nicht als Sprachrohr irgendeiner Kriegspartei bekannt sind. Da umfassende Recherchen in Kriegsgebieten unmöglich sind, liegt die tatsächliche Opferzahl höchstwahrscheinlich deutlich höher. Rechtfertigt dieser Krieg die Attentate von Paris? Keinesfalls. Mit einem Gewehr in die Zuschauermenge eines Konzertes zu feuern, bleibt ein bestialischer Massenmord, egal, was davor geschehen ist. Doch zeigt ein Vergleich mit den Kriegen im Nahen Osten, dass der Islamische Staat nicht der Erfinder einer Kriegsstrategie ist, die den Tod von Tausenden Unschuldigen beinhaltet. Dabei ist es nur ein kleiner Unterschied, dass der IS in Paris möglichst viele Menschen töten wollte und die Nato Zivilisten »versehentlich« umbringt. Wenn die zerfetzten Körper der Kinder, Eltern oder besten Freunde vor einem liegen, ist es unerheblich, ob sie absichtlich ermordet wurden oder weil vielleicht


ein militärisches Ziel in der Nähe war. Dass die Verstärkung der Bombardierungen den Islamischen Staat zerstören wird, ist nicht zu erwarten. Im Oktober dieses Jahres erklärte das US-Verteidigungsministerium in einem denkwürdigen Bericht, dass der IS vor Beginn der US-Angriffe 2014 aus 20.000 bis 30.000 Kämpfern bestand. Seitdem habe die USA und ihre Verbündeten etwa 20.000 von ihnen getötet – und der IS bestehe heute immer noch aus 20.000 bis 30.000 Kämpfern. Der »Krieg gegen den Terror« produziert mehr Terrorismus, statt ihn einzudämmen. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 haben westliche Armeen Afghanistan und Irak militärisch erobert und besetzt. Außerdem haben sie mit Drohnen Pakistan, Jemen, Somalia und den Sudan bombardiert. Zudem hat insbesondere die US-Regierung Hunderte Muslime ohne Gerichstverfahren in den Gefängnissen von Abu Ghraib, Guantanamo und anderswo inhaftiert und gefoltert. Die Folge waren mehr Selbstmordattentate gegen nordamerikanische und europäische Einrichtungen in Afghanistan, Irak und anderen muslimischen Ländern als je zuvor. Das konservative Washingtoner Magazin »Foreign Policy« schrieb: »Mehr als 95 Prozent aller Selbstmordattentate sind eine Reaktion auf fremde Besatzung. (…)Während die Vereinigten Staaten Afghanistan und Irak, mit einer Gesamtbevölkerung von rund sechzig Millionen Menschen, besetzten, sind die Selbstmordanschläge weltweit dramatisch gestiegen – von etwa 300 (1980 bis 2003) auf 1800 (2004 bis 2009). Über neunzig Prozent aller Selbstmordattentate sind antiamerikanisch. Die große Mehrheit der Selbstmordattentäter stammt aus Regionen, die durch ausländische Truppen bedroht sind.« ge im Nahen Osten führt, bisher keine dschihadistischen Anschläge gegeben. Dagegen hat sich der IS zur Sprengung des russischen Flugzeugs in Scharm al-Scheich im Oktober bekannt und den Anschlag ausdrücklich mit dem Beginn der russischen Bombardierungen in Syrien begründet. Wer Terrorismus und IS bekämpfen will, muss deshalb die imperialistischen Kriege beenden. Ebenso wichtig ist der Kampf gegen die weit verbreitete Diskriminierung von Muslimas und Muslimen in Europa. Denn die bisher identifizierten Attentäter von Paris waren weder Iraker noch Syrer sondern französische und belgische Muslime, die nur einige Monate in Syrien gekämpft hatten. Auch der angebliche Drahtzieher der Attentate, Abdelhamid Abaaoud, den die französische Polizei am 18. November in Saint-Denis erschossen hat, stammte aus Brüssel. Laut seiner Schwester hasste er schon als Jugendlicher die Polizei, weil sie ihn immer wieder wegen Kleinigkeiten festgenommen hat: Schlägereien, Trunkenheit in der Öffentlichkeit oder weil er sich

Schwer bewaffnete Soldaten malen ein Peace-Zeichen auf eine Hauswand: Mit seiner Street Art protestiert der Künstler Banksy gegen die Kriege im Nahen Osten, bei denen die Armeen der vermeintlich freien und friedlichen westlichen Welt Hunderttausende ermordete

Sonderseiten Terror in Paris

Doch wie kann der Terrorismus wirksam bekämpft werden? Im Bekennerschreiben für die Pariser Attentate steht ein Satz, den die kommerziellen Medien nur wenig zitiert haben: »Frankreich und alle, die seinem Weg folgen, müssen wissen, dass sie die Hauptziele des ›Islamischen Staates‹ bleiben, (…) weil sie den Kreuzzug anführen, (…) weil sie sich damit brüsteten, den Islam in Frankreich zu bekämpfen und Muslime auf dem Boden des Kalifats anzugreifen mit ihren Flugzeugen, die sie (…) in Paris nicht schützen konnten.« Auch wenn große Teile des Textes Propaganda sind, zeigt diese Stelle doch, dass der IS die französische Hauptstadt nicht wegen ihres angeblich lockeren Lebensstils, sondern wegen der französischen Kriege in Syrien, Irak und anderen muslimischen Ländern als Ziel ausgewählt hat. Das sofortige Ende aller Nato-Kriege im Nahen Osten würde Attentate in Europa nicht mit hundertprozentiger Sicherheit verhindern, aber deutlich unwahrscheinlicher machen. Beispielsweise hat es in einem großen Land wie China, das keine Krie-

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SONDERSEITEN / Terror in Paris weigerte, Polizisten seinen Ausweis zu zeigen. Dabei hätten die Polizisten ihn mehrfach misshandelt. Sein Hass auf den Staat sei Abaaouds wichtigste Motivation gewesen, in den Krieg zu ziehen. Im Jahr 2010 musste er wegen eines Überfalls ins Gefängnis und traf dort Salah Abdeslam, einen der späteren Attentäter von Paris. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde Abaaoud zum religiösen Fanatiker. Die Botschaft der IS-Rekrutierer im Gefängnis sei: »Du hast keine andere Möglichkeit als zu kämpfen, weil du Teil einer von der Gesellschaft diskriminierten Gruppe bist. Du verteidigst lediglich dich selbst«, erklärt Alain Grignard, Islamismusexperte der belgi-

»Nicht in meinem Namen«: Eine Muslima aus Belgien protestiert nach den Attentaten von Paris dagegen, dass ihre Religion mit Terrorismus gleichgesetzt wird. Weltweit beteiligen sich Zehnttausende Gläubige an der Aktion und lassen sich mit dem Plakat in der Hand ablichten

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schen Polizei. Die Diskriminierung von Muslimas und Muslimen in Europa entschuldigt keine Terroranschläge auf unschuldige Menschen in Bars und Cafés. Einige der Opfer waren muslimische und schwarze Pariserinnen und Pariser, die wahrscheinlich ebenso unter rassistischer Diskriminierung zu leiden hatten. Doch zeigen Geschichten wie die von Abaaoud, dass rassistische Unterdrückung zu Radikalisierung führen kann. In Belgien ist die Arbeitslosenquote unter Muslimen mehr als doppelt so hoch wie unter der übrigen Bevölkerung. Studien haben gezeigt, dass Bewerbungen für Arbeitsplätze und Wohnungen häufig nicht einmal gelesen werden, wenn der Absender einen arabischen Namen trägt. Mehr noch als in Deutschland hat der belgische Staat diskriminierende Verordnungen erlassen. So ist es verboten, verschleiert das Haus zu verlassen. Die Geldstrafe dafür beträgt 150 Euro. Eine Umfrage in Brüssel ergab, dass von 110 befragten Schulen nur acht ihren Schülerinnen erlauben,

ein Kopftuch zu tragen – und das in einer Stadt, in der ein Viertel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund aus einem muslimischen Land hat. Im Jahr 2005 wurden zwei Brüsseler Lehrerinnen entlassen, weil sie darauf bestanden, das Kopftuch zu tragen. Die rechtsradikale Partei »Vlaams Belang« brachte damals ein Gesetz für ein öffentliches Kopftuch-Verbot ins Parlament ein und löste damit eine landesweite Diskussion über angeblichen »muslimischen Fanatismus« aus. Doch nicht nur in Belgien wird »der Islam« gezielt als neues Feindbild aufgebaut. In ganz Europa verbreiten Politiker und Medien seit Jahren das Bild eines »Kampfs der Kulturen« zwischen »dem Westen« und »dem Islam«. Dabei bringen sie den Islam gezielt mit negativ besetzten Motiven wie Terrorismus, Frauenunterdrückung, Homophobie oder Antisemitismus in Zusammenhang. Werner Schiffauer, Vorsitzender des Rats für Migration und Professor für Sozialanthropologie, meint: »Das Bild vom ›Kampf der Kulturen‹ ist falsch und gefährlich. Diese Ideologie begleitet eine aggressive Politik der westlichen Regierungen im Nahen und Mittleren Osten und dient, in Zeiten sozialer Unsicherheit, der Selbstvergewisserung nach innen. Das sollte die Linke nicht mitmachen.« Jetzt fordern Politikerinnen und Politiker, dass die Attentate von Paris und anderswo nicht einfach so hingenommen werden dürften. Doch die meisten ihrer Vorschläge sind absolut untauglich, um die wirklichen Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen. Beispielsweise sprechen sich Politiker auch hierzulande nun für den Ausbau von Polizei und Geheimdiensten aus, obwohl deren Machenschaften seit Jahren gegen deutsche Gesetze verstoßen. Ohnehin gehören die Sicherheitsgesetze in Deutschland bereits jetzt zu den schärfsten in der EU. Schon nach dem 11. September 2001 nutzte der damalige sozialdemokratische Innenminister Otto Schily die Gunst der Stunde und peitschte zwei »Sicherheitspakete« durchs Parlament. Seitdem haben die Behörden ein riesiges Arsenal an Möglichkeiten: Vom großen Lauschangriff bis zur Rasterfahndung. Besonders betroffen sind Menschen ohne deutschen Pass. Der Terrorismusverdacht kann für eine Ausweisung ausreichen. Eine rechtliche Überprüfung muss nicht abgewartet werden. Das heißt: Die Unschuldsvermutung gilt für Zugewanderte nicht mehr. Vor einigen Wochen ist sogar die Datenvorratsspeicherung eingeführt worden. Doch die Datensammelwut schützt vor Terrorismus nicht und führt zu absurden Situationen. Laut der American Civil Liberties Union (ACLU) haben die USA eine Million Menschen auf die Liste der Terrorverdächtigen gesetzt. Monatlich kämen 20.000 neue Namen hinzu, berichtete die Organisation und berief


sich dabei auf das US-Justizministerium. So gilt laut ACLU der sozialistische Präsident Boliviens, Evo Morales, als Terrorverdächtiger. Dem zum Islam konvertierten Sänger Cat Stevens ist die Einreise in die USA verweigert worden. Selbst Säuglinge würden bei Kontrollen festgehalten, wenn sie dieselben Namen wie Verdächtige tragen. Gleichzeitig ständen auch Tote weiter auf der Liste. Die Internationale Juristenkommission untersuchte in einer dreijährigen Studie in vierzig Ländern den Effekt von Antiterrormaßnahmen. Die Bilanz ist verheerend: Es sei zu Folter, willkürlichen Inhaftierungen, unfairen Prozessen, langer Haft ohne Prozess, zu einer Militarisierung der Justiz und zu Straffreiheit für schwere Menschenrechtsverletzungen in vielen Teilen der Welt gekommen. Die Autoren des Berichts, zu denen auch der Schweizer Strafrechtler und Ersatzrichter am Uno-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien, Stefan Trechsel, gehört, rufen dazu auf, den Begriff »Krieg gegen Terror« aufzugeben, den Präsident Bush nach dem 11. September 2001 propagierte. Das beunruhigende Fazit des Berichts lautet: »Außerordentliche Maßnahmen, die gegen den Terrorismus gerichtet sind, sickern bereits in den Normalbetrieb des Staats und das alltägliche Justizsystem ein. Mit langfristigen Konsequenzen für den Rechtsstaat und die Achtung von Menschenrechten.«

demokratische Grundrechte abgeschafft, beispielsweise das Versammlungsrecht. Doch damit nicht genug: Die Behörden können nun Wohnungsdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss durchführen, die persönliche Bewegungsfreiheit durch Hausarrest auch in der Nacht einschränken, Internetseiten sperren und willkürlich Ausgangssperren für ganze Stadtviertel verhängen. Wer meint, diese Beschlüsse würden nur gegen Terroristen eingesetzt, irrt. So hat die französische Regierung bereits erste Massenproteste verboten. Parallel zum Weltklimagipfel der Vereinten Nationen, der vom 30. November bis 11. Dezember in Paris stattfindet, wurden ursprünglich Tausende Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt erwartet. Es sollte die größte globale Zusammenkunft zivilgesellschaftlicher Gruppen des Jahres werden. Für die Demonstrationen zu Beginn und zum Ende des Gipfels wurde ursprünglich mit bis zu 300.000 Menschen gerechnet. Doch nun dürfen sie nicht stattfinden.

Den »Kampf gegen den Terror« nutzen viele Regierungen als Begründung, um Bürgerrechte einzuschränken. »Die Gefährdung der Verfassung geht vom Staat aus«, leiten die Herausgeber ihr Vorwort zum Grundrechte-Report 2015 ein. Der von acht Bürgerrechtsorganisationen herausgegebene Report zieht eine kritische Bilanz des Umgangs mit den Bürger- und Menschenrechten in Deutschland im Jahr 2014. Die Informatikerin und Datenschutz-Expertin Constanze Kurz erklärte, der Report »macht deutlich, dass durch technisierte Ausspähung und Überwachung immer hemmungsloser in die Grundrechte eingegriffen wird. (...) Der nicht nennenswert kontrollierte geheimdienstliche Komplex unterminiert weiterhin Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bis zur Unkenntlichkeit (…) Es steht leider zu erwarten, dass wir auch 2015 noch tiefer in die Abgründe der Überwachung blicken müssen.« Auch in Frankreich hat die Einschränkung der Bürgerrechte nicht für mehr Sicherheit gesorgt. Trotzdem verhängte die sozialdemokratische Regierung nun sogar einen dreimonatigen Ausnahmezustand. Mit dem Beschluss werden

Geschlossene Grenzen, scharfe Kontrollen an Flughäfen oder patrouillierende Polizisten und Soldaten sind ein weiterer Puzzlestein in einem rassistischen Gesamtbild, in dem junge Menschen, deren Großeltern nach Europa eingewandert sind, behandelt werden, als hätten sie kein Recht hier zu sein. In Frankreich haben gerade 800 Hausdurchsuchungen und über hundert Verhaftungen von überwiegend unschuldigen Muslimen ihnen nur bestätigt, dass sie von dieser Gesellschaft niemals eine faire Chance bekommen werden. Der einzig erfolgversprechende »Kampf« gegen den Terrorismus ist die imperialistischen Kriege im Nahen Osten zu beenden. In diesen Kriegen geht es nicht um »westliche« Werte wie Demokratie oder Frauenrechte. Es geht um Öl, Profite und geostrategische Machtpolitik. Krieg und Terror sind zwei Seiten derselben Medaille: Mehr Krieg führt zu mehr Terror, was wiederum zu mehr Krieg führt. Dieser Teufelskreis kann durchbrochen werden – aber bestimmt nicht durch Waffenexporte, militärische Ausbildungsmissionen oder die Unterstützung von Luftangriffen gegen Städte und Dörfer. Statt Hasskampagnen und Generalverdacht gegen den Islam muss die Regierung allen Jugendlichen gleiche und gute Chancen von Bildung und Ausbildung geben. Das würde dem IS wirklich schaden. Es würde seine Chancen verringern, Anhänger unter jungen Muslimen zu finden. Es ist die Aufgabe der Partei DIE LINKE und aller Linker sich für eine solche Perspektive einzusetzen. ■

Sonderseiten Terror in Paris

Die Gefährdung der Verfassung geht vom Staat aus

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FotoSTORY

© Alle Bilder: Adolfo Lujan / CC BY-NC-ND / flickr.com

SPANIEN | Auch im vermeintlich gleichberechtigen Europa sind Machokultur und die dazugehörige Gewalt an Frauen nach wie vor relevante Themen. Ein Drittel der Frauen in der EU sind von häuslicher und sexualisierter Gewalt

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betroffen. Unten links: Eine halbe Million Menschen tragen am 7. November in der spanischen Hauptstadt Madrid den Protest auf die Straße. Mitte: Zahlreiche feministische Gruppierungen rufen zum Protest auf: »Stoppt Frauenmorde!«,

»Kein einziges Opfer zulassen!« und »Machokultur tötet!« gehören zu den Hauptparolen. Unten rechts: Viele Demonstrantinnen und Demonstranten tragen die Farbe Lila als Zeichen feministischer Solidarität.


© Vark1 / flickr.com

FOTOSTORY

eine komplette Abschaffung der Studiengebühren fordern. Unten rechts: Am 26. Oktober kulminieren die landesweiten Proteste in einer Demonstration in Pretoria. Es ist die größte Bewegung an den südafrikanischen Hochschulen seit dem Ende der Apartheid im Jahr 1994.

© Tony Carr / CC BY-NC / flickr.com

Proteste stattfinden. Unten links: Von den erhöhten Studiengebühren sind vor allem schwarze Studierende betroffen. Die Einkommensunterschiede zwischen der schwarzen und der weißen Bevölkerung sind nach wie vor gravierend. Oben: Auch werden Stimmen laut, die

© Vark1 / flickr.com

© Sloetry / flickr.com

SÜDAFRIKA | Bis zu einer Woche dauern die Proteste, mit denen südafrikanische Studierende der drohenden Erhöhung von Studiengebühren begegnen. In Johannesburg blockieren sie den Eingang zur Universität, während an zehn weiteren Bildungseinrichtungen ebenfalls

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Aktuelle Analyse

Zombie Business Die Wirtschaftsweisen verbreiten gute Stimmung, doch die ökonomische Entwicklung steht auf tönernen Füßen. Warum Angela Merkels Krisenrezepte die Wirtschaft kein zweites Mal retten werden, erklärt unser Autor Von Thomas Walter ★ ★★ Thomas Walter ist Ökonom und Mitglied der LINKEN in Berlin.

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m neunten Jahr nach Ausbruch der »Großen Rezession« in den USA 2007 arbeiten die Zentralbanken weltweit immer noch im Krisenmodus. Sie kaufen in großem Umfang Schuldscheine, also Schulden von Staaten und Firmen, auf, um Regierungen und Konzerne mit Geld zu versorgen. Dieses Vorgehen heißt »Quantitative Easing«, kurz QE, offiziell auf Deutsch auch »quantitative Lockerung«. Die Zentralbanken übernehmen mit diesen Schulden aber auch das Risiko eines Zahlungsausfalls. Das kann den Zentralbanken insofern egal sein, als sie ihr eigenes Geld drucken. Kritiker befürchten aber, dass private Banken so ihre Verluste auf den Staat und damit auf die Allgemeinheit abwälzen. Neben dem QE greifen die Zentralbanken durch ihre Leitzinsen ein, die nun schon länger fast Null oder gar negativ sind. Banken können sich also bei der Zentralbank Geld leihen und müssen dafür fast keine Zinsen zahlen. Umgekehrt bekommen sie auf ihre Einlagen bei den Zentralbanken keine Zinsen oder müssen sogar Strafzinsen dafür zahlen. Bislang scheint so ein weiterer schwerer Einbruch wie 2009 verhindert worden zu sein. Die Zentralbanken als »lender of last resort« (»wer in letzter Not – den Banken – noch Geld leiht«) stellten eine gewisse

Absicherung für Finanzgeschäfte her und stabilisierten so bislang die Ökonomie. Doch Wirtschaftsjournalisten befürchten, dass es trotzdem wieder zu einer akuten Krise kommen könnte wie zuletzt 2009. Damals ging das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um fünf Prozent zurück – der größte Einbruch seit dem Zweiten Weltkrieg. Eigentlich hätte man erwarten können, dass das exportabhängige Deutschland von der letzten Krise stark getroffen würde. Zunächst war das auch so: Die Exporte brachen ein, im Ausland angelegtes Finanzvermögen ging verloren. Es kam dann aber doch anders. Wegen seiner langjährigen Exporterfolge galt Deutschland in der weltweiten Rezession für internationales Kapital als sicherer Hafen. Die Bundesregierung konnte sich auf den Kapitalmärkten problemlos verschulden. Sie bekam dank der negativen Zinsen sogar noch Geld dafür. So konnte sie die Staatsverschuldung praktisch kostenlos erhöhen und damit die Krise überbrücken. Berlin legte damit Konjunkturprogramme und Kreditprogramme für Unternehmen auf. Mit dem Kurzarbeitergeld rettete die Regierung Belegschaften über die Krise. Die Arbeitslosigkeit stieg in Deutschland letztlich nicht, umso mehr aber in Ländern wie Griechenland oder Spanien.


Einen Teil der Krisenlasten wälzte die Regierung auf die Beschäftigten ab. Das Kurzarbeitergeld wurde zum Teil von den Beiträgen der Arbeiterinnen und Arbeiter selbst, zum Teil durch einen Bundeszuschuss über Steuern finanziert. Es glich die Einkommensverluste der Arbeitnehmer nicht völlig aus. Die Regierung Schröder hatte schon vor Jahren dafür gesorgt, dass kommende Krisen leichter auf die Arbeiterklasse überwälzt werden können. So wurden Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, deren große Zahl Gerhard Schröders »Arbeitsmarktreformen« erst möglich gemacht haben, als »Puffer« für die Dauer der Krise entlassen. Die Altersvorsorge hat die Regierung Schröder mit der Riesterrente zum Teil den Finanzmärkten anvertraut. Wertverluste auf den Finanzmärkten gehen auch zu Lasten von Rentenansprüchen aus diesen privaten (aber staatlich geförderten) Rentenversicherungen. Die wegen der Krise niedrigen Zinsen führen dazu, dass Sparprogramme für die Altersvorsorge kaum mehr etwas abwerfen.

Euro druckt, kann auch zwei Billionen drucken oder drei. So werden eine akute Krise und Firmenpleiten hinausgeschoben. Firmen, die in einer akuten Krise pleitegingen, können Dank Staatshilfe als »Zombies« überleben. Sie belasten aber die Wirtschaft mit ihren niedrigen Profitraten und sind Teil der Überakkumulation. Das Ergebnis ist Stagnation. Auch wenn die Weltwirtschaft weiterdümpelt, droht eine Ausweitung der Ideologiekrise. Der Kapitalismus braucht den Anschein, als ob Märkte sich automatisch regulieren. Je länger und je stärker der Staat die Wirtschaft durchpäppeln muss, desto mehr wird die Marktideologie brüchig. Marx hat einst in seiner Fetischtheorie beschrieben, dass kapitalistische Wirtschaften den Anschein erwecken, als würde es sich um naturgesetzliche Prozesse handeln. Dieser Anschein ist eine wichtige ideologische Stütze für kapitalistische Herrschaftsansprüche. Wenn der Staat andauernd eingreift, verfliegt dieser naturgesetzliche Anschein.

Derzeit streiten die Experten, wie lange Regierungen und Zentralbanken einen stärkeren Einbruch verhindern können. Weltweit sind die Profitraten, ganz gemäß dem marxschen Gesetz von deren tendenziellem Fall, sehr niedrig. Weil die Zinsen nicht dauerhaft größer sein können als die Profitraten, sind auch sie derzeit sehr niedrig. Diejenigen, die Geld verdienen, finden keine gewinnversprechende Anlagemöglichkeit. Die Konzerne mögen zwar noch Gewinne machen. So verdiente der US-Ölmulti Exxon, wie die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« berichtete, »nur vier Milliarden Dollar in drei Monaten«. Aber sie können diese Profite wegen der allgemein schwachen Profitraten nicht profitabel weiterinvestieren. Besorgniserregend ist auch, dass das QE, das schließlich das Drucken riesiger Geldmengen bedeutet, zu keiner Inflation führt. Offensichtlich verhindern die niedrige Auslastung der industriellen Kapazitäten und die schwache Lohnentwicklung, beides Krisensymptome, Inflation selbst bei diesen riesigen Geldimpulsen. Die Zentralbanken wollen aber eine leichte Inflation, damit es zu keinem allgemeinen Sinken der Preise, zu keiner Deflation, kommt. Das könnte nämlich eine neue Weltwirtschaftskrise à la 1929 bedeuten. Können die kapitalistischen Staaten, die untereinander auch in Konkurrenz stehen, weiterhin einen Wirtschaftsabsturz verhindern, wenn sie schon keine nachhaltige Erholung erreichen? Wer eine Billion

Die wirtschaftliche Krise wird mit den Staatseingriffen sichtbar politisch. Damit ist DIE LINKE gefordert. Dies erscheint umso wichtiger, als langsam erste Forderungen für neue Kürzungen am Sozialstaat aufkommen. So verweist die sogenannte Gemeinschaftsdiagnose der großen Wirtschaftsinstitute in ihrem Herbstgutachten 2015 darauf, dass sich die »Leistungsausweitungen« von Arbeitsministerin Andrea Nahles in der gesetzlichen Rentenversicherung bis 2030 auf 170 Milliarden Euro summieren. Wohl angesichts der Banken und Konzerne als andauernde »Sozialfälle« sind offene Angriffe auf den Sozialstaat noch rar, auch wenn der Chef des Bundes der Deutschen Industrie (BDI) kürzlich die Bevölkerung auf eine Rente mit 85 einstimmen wollte. In Großbritannien fordert derweil der neue linke Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn angesichts des QEProgramms von der britischen Zentralbank ein »QE for the people« (»Geld der Zentralbank für die Menschen«). Das kann auch für DIE LINKE ein Vorbild sein. Wenn schon Geld in die Wirtschaft gepumpt wird, dann sollen es nicht die Banken, sondern die Bevölkerung bekommen. Schon der englische Ökonomen John Maynard Keynes forderte eine im Krisenfall »einigermaßen umfassende Sozialisierung der Investitionen«. Wenn die privaten Konzerne mit ihren Investitionen Überakkumulation oder Profitratenfall auslösen und daher nicht mehr investieren können oder wollen, müssen demokratisch legitimierte Organe die Entscheidungen für die Wirtschaft fällen. DIE LINKE sollte angesichts von Stagnation und Krise ihre Vision einer besseren Welt offensiv vertreten. ■

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Bei »MARX IS` MUSS 2016« hast du die Möglichkeit, über weitere ökonomische Themen zu diskutieren. Sebastian Dahlhaus wird eine marxistische Analyse zu Finanzmärkten und Realwirtschaft geben, die sich speziell an Einsteigerinnen und Einsteiger richtet. Kommt vorbei, stellt Fragen und diskutiert mit! Mehr Informationen findest du auf marxismuss.de.

AKTUELLE ANALYSE

© Künstler: Rallito X Foto: Dr Case / flickr.com / CC BY-NC

Weltweit sind die Profitraten sehr niedrig

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Aktuelle Analyse

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Es ist millionenfacher Betrug: Volkswagen hat die Abgastests von Dieselmotoren manipuliert. Diese Vorgänge sind genauso skandalös wie alltäglich Von Winfried Wolf

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Die Führung des Volkswagenkonzerns musste eingestehen, weltweit bei rund elf Millionen Diesel-Pkw der Konzernmarken VW, Audi, Seat und Skoda eine spezifische Software zur »Abgas-Nachbehandlung« so programmiert zu haben, dass deren Motoren bei Schadstoffmessungen auf dem Prüfstand auf einen spezifischen Fahrmodus schalten. In diesem Testbetriebmodus werden deutlich niedrigere Abgasemissionen gemessen als im normalen Fahrbetrieb. So neu ist die Grundidee nicht. Als am 3. März 2009 in Köln das Historische Archiv in einer gewaltigen UBahn-Baugrube versank, war der zugrundeliegende Skandal nur etwas banaler. Bis zu 80 Prozent der Stahlbewehrung, die zur Sicherung der Grube erforderlich gewesen wäre, waren nicht verbaut worden – zum profitablen Frommen der beteiligten Baufirmen. Doch auch der VW-Abgasskandal ist so speziell nicht. Wer einen neuen Pkw kauft, weiß, dass das Auto mindestens 25 Prozent, oft 50 Prozent mehr Sprit verbraucht als offiziell angegeben. Aber auch die spezifische Betrugssoftware von VW dürfte eher langweiliger Standard als VW-Innovation sein. So konnte man vor eineinhalb Jahren im Blatt »Autobild« lesen: »Um den Verbrauch [eines Autos] auf dem Prüfstand zu messen, muss vorher der Fahrwi-

Die Bundesregierung wusste von dem Betrug derstand ermittelt werden. Dazu werden Fugen abgeklebt, Spiegel demontiert (…) Klimaanlagen werden ausgebaut (…) Dazu erkennen Steuergeräte, wenn eine Messfahrt vorliegt. Die Autos sind inzwischen auf diese Minimal-Last hin konstruiert« (14. Februar 2014). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das Umweltinstitut International Council on Clean Transportation (ICCT), das den großangelegten VW-Betrug aufdeckte, seit Frühjahr 2014 den Diesel-Pkw-Betrug in öffentlich nachvollziehbarer Form dokumentierte (beispielsweise mit Berichten in der »Süddeutschen Zeitung« vom 30. Mai und 31. Dezember 2014). Damals interessierte sich niemand für diese Botschaften. Eben weil man davon ausging, dass es sich um den klassisch kapitalistischen Betrug handeln würde. Heute interessiert sich auch – bislang – niemand dafür, dass die ICCT-Forscher John German und Peter Mock im Oktober 2014 explizit darauf verwiesen, dass bei ihren Untersuchungen »die Abgaswerte von VW (…) nicht einmal die

Neuwagen des VWWerks in Emden: Rund 6,7 Milliarden Euro haben die Wolfsburger bislang für den Rückruf jener elf Millionen Autos zurückgestellt, die vom Abgasskandal betroffen sind. Analysten schätzen die Gesamtkosten auf bis zu 42 Milliarden Euro

AKTUELLE ANALYSE

m VW-Skandal gibt es immer neue Steigerungen. Der Konzern nahm Ende September eine Rückstellung in Höhe von 6 Milliarden Euro vor, um die Kosten für den Skandal abzudecken. Mitte Oktober war die Rede von Gesamtkosten in Höhe von »bis zu 42 Milliarden Euro«. Sollte dieser Betrag tatsächlich fällig werden, so könnte dies selbst einen Weltkonzern wie VW existenziell gefährden. Blicken wir etwas hinter die Kulissen, die in der bürgerlichen Öffentlichkeit hin und hergeschoben werden, mit dem Effekt, dass die Sicht auf den Kern der Dinge versperrt wird. Dies soll auf drei Ebenen erfolgen: erstens hinsichtlich des Grundcharakters des Vorgangs; zweitens die Behauptung betreffend, die »starre Hierarchie« bei VW sei »schuld« am Skandal; und drittens hinsichtlich des privaten Großaktionärs bei VW.

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schlimmsten« waren (»Süddeutsche Zeitung«, 26. September 2015). Auch ist nachgewiesen, dass die Bundesregierung zugibt, seit rund einem Jahr darüber informiert zu sein, dass die realen Abgasemissionen von DieselPkw deutscher Hersteller deutlich über den offiziellen Grenzwerten liegen. In einem an die Europäische

Die Macht von Einzelpersonen bei VW ist beispiellos

Matthias Müller ist seit dem Rücktritt von Martin Winterkorn im September neuer Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG. Trotz seiner Ankündigung, einen neuen Führungsstil zu etablieren, wird sich nichts an der grundsätzlich hierarchischen Ausrichtung des Konzerns ändern

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Kommission gerichteten Schreiben der Berliner Regierung vom 18. August 2015 – also vor Dieselgate! – heißt es: »Belastbare Indizien, dass die realen durchschnittlichen NOx-Emissionen auch von derzeit auf den Markt kommenden Euro-6-Diesel-Pkw erheblich höher sind als der einzuhaltende Grenzwert (80 mg/km), liegen erst seit Herbst 2014 vor.« Es geht in diesem Schreiben ersichtlich nicht um die Modelle eines spezifischen Autokonzerns. Laut diesem Brief der deutschen Regierung an die EU-Oberen lag der gemessene NOx-Schadstoffausstoß bei den zur Debatte stehenden Diesel-Pkw im Durchschnitt sechsmal höher als nach Grenzwert gestattet. Das entspricht dem unteren Wert dessen, was in der ICCT-Studie für die VW-Diesel-Modelle ermittelt wurde. Bilanz: Es mag bei VW-Dieselgate Besonderheiten geben. Grundsätzlich handelt es sich jedoch um den Normalfall kapitalistischen Betrugs zur Erzielung maximalen Profitrats. In aller Munde ist jetzt, der VW-Konzern sei zu starrhierarchisch organisiert. Inzwischen werden Lockerungsübungen empfohlen. Der neue VW-Chef Matthias Müller formulierte am 15. Oktober vor hunderten VW-Managern in Leipzig: »Ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass wir künftig anders, nämlich auf Augenhöhe zusammenarbeiten.« Das ist natürlich lächerlich. Aus zwei Gründen: Zum einen, weil gleichzeitig argumentiert wird, die Konzernspitze – der Ex-VW-Chef Winterkorn, der ExPorsche Chef Müller, inzwischen neuer VW-Chef, der Ex-VW-Finanzchef Pötsch, inzwischen neuer VW-Aufsichtsratschef – hätte von der Installation der Betrugssoftware nichts gewusst. Das sei irgendeine subalterne Gruppe von »Ingenieuren« gewesen. Was nun, mag man fragen? Hieß es nicht immer, Winterkorn und Piëch würden »jede Schraube in einem Pkw« kennen – also auch die bewusste Software-Stellschraube? Die Forderung nach einem Abbau von Hierarchie und einem Management »auf Augenhöhe« ist dann vor allem deshalb lächerlich, weil sich Kapitalismus und Demokratie grundsätzlich ausschließen. Alle großen Konzerne und insbesondere die erfolg-


Das Kapitalverhältnis ist letzten Endes auf Privateigentum zurückzuführen. Das gilt auch für den aktuellen Kapitalismus, der erheblich vom Finanzsektor bestimmten wird. Auch Finanzkonzerne wie Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften und »klassische« Finanzinstitute sind letzten Endes in der Hand einzelner Privatleute oder Familien oder Gruppen von privaten Kapitaleignern. Bei VW liegt der Fall nochmals eindeutiger und gewissermaßen »persönlicher«. Bereits vor Dieselgate kontrollierte Ferdinand Piëch zusammen mit seinem Vetter Wolfgang Porsche etwas mehr als 50 Prozent des VW-Kapitals. Nun verlor Piëch im April 2015 einen konzerninternen Machtkampf. Scheinbar, muss man hinzufügen. Damals schrieb Piëchs Biograf Wolfgang Fürweger: »Es wird einer auf der Strecke bleiben – und das wird nicht Ferdinand Piëch sein.« Tatsächlich fand in den letzten Wochen das statt, was Piëch im April verlangt hatte: Winterkorn wurde gefeuert; der ehemalige Porsche-Chef Müller wurde VW-Chef. Sofort nach Winterkorns Abgang »ließ sich Ferdinand Piëch direkt nach Wolfsburg fahren«, um dort »zahlreiche Gespräche über die Zukunft des Konzerns« zu führen, schrieb »Bild« am 28. Septem-

ber. Dabei hat Piëch aktuell im Konzern kein einziges Amt. Er ist »nur« und vor allem der entscheidende Großaktionär. Bilanz: Mit Dieselgate konnte Piëch seine jahrzehntelange Herrschaft bei VW auch im operativen Geschäft zurückgewinnen. Woran sich die Frage anschließt: Könnte es gar Piëch gewesen sein, der zum neuen VW-Großskandal beitrug? Vordergründig hieße das, dass er sich damit ins eigene Fleisch geschnitten hätte, da die VW-Aktien massiv an Wert verloren. Es sei denn, Piëch hätte in der neuen VW-Krise selbst als Käufer agiert. Just so war es. Ende September – also als nach Dieselgate die VW-Aktien massiv an Wert verloren hatten! – stockten Piëch und Porsche ihren »Anteil an Europa größtem Autobauer Volkswagen weiter auf«, wie die »Stuttgarter Zeitung« am 28. September berichtet. Sie erwarben vom japanischen Suzuki-Konzern 1,5 Prozent Stammaktien der Volkswagen AG (Suzuki und VW waren längere Zeit verflochten). Piëch und Porsche konnten dabei den Deal »außerbörslich« realisieren, das Aktienpaket also direkt von Suzuki erwerben – womit sie sich nicht des Insiderhandels schuldig machen. Die Beteiligung der Porsche Holding, die weitgehend von Ferdinand Piëch und seinem Vetter Wolfgang Porsche kontrolliert wird, am Weltkonzern VW stieg ausgerechnet mit Dieselgate auf 52,5 Prozent der Stammaktien. Es gibt keinen anderen deutschen Großkonzern, in dem die Macht von Einzelpersonen derart groß ist wie bei VW. Auch dies ist ein Ergebnis des Großskandals. ■ ANZEIGE

★ ★★ ZUM TEXT Dieser Artikel erschien erstmals in der »SoZ – Sozialistische Zeitung« (November 2015). Wir danken Redaktion und Autor für die freundliche Abdruckgenehmigung.

★ ★★ Winfried Wolf ist Chefredakteur der Zeitschrift »Lunapark21«. Zusammen mit Bernhard Knierim hat er das Buch »Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform« (Schmetterling-Verlag 2014) veröffentlicht.

Kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun:

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XXI. Internationale

Rosa Luxemburg Konferenz

9.1.2016 | Urania-Haus, Berlin, An der Urania 17, 10787 Berlin Die Konferenz wird unterstützt von mehr als 30 Organisationen und Gruppen.

n www.rosa-luxemburg-konferenz.de

n www.jungewelt.de

AKTUELLE ANALYSE

reichen Autokonzerne sind im Endeffekt extrem hierarchisch aufgebaut – auch wenn das gelegentlich durch »Gruppenarbeit« und »flache Hierarchien« (auf mittleren und unteren Ebenen) verschleiert wird. Der Ex-Daimler-Chef Jürgen Schrempp herrschte ebenso diktatorisch wie es Piëch bei VW tat und weiterhin tut (siehe unten). Der aktuelle DaimlerChef Dieter Zetsche agiert vergleichbar, wenn auch eher smart. Sergio Marchionne ist ein Feudalfürst im Fiat-Chrysler-Konzern. Eine vergleichbare Konzerndiktatur gibt es bei Toyota. Geradezu extrem hierarchisch sind die Konzernstrukturen bei Suzuki. Und wenn einmal ein Topmanager aus der Schule plaudert, wie konkret die großen Entscheidungen in Konzernen fallen, dann klingt das so: »Eines Tages befahl mir Henry, einen leitenden Angestellten zu entlassen, der seiner Ansicht nach ›eine Schwuchtel‹ war. ›Das ist doch lächerlich‹, sagte ich. ›Der Mann ist ein guter Freund von mir. Er ist verheiratet und hat ein Kind.‹ ›Wirf ihn raus‹, wiederholte Henry (…) ›Schau ihn doch an. Seine Hosen sind zu eng. Er ist schwul (…) Er hat ein feminines Gehabe.‹ Ich musste schließlich einen guten Freund degradieren.» So der Bericht von Lee A. Iacocca, dem langjährigen Chrysler-Boss, in seinem Buch »Eine amerikanische Karriere« über seine Zeit bei Ford. Der zitierte »Henry« Ford galt damals wie heute als Idealtyp eines erfolgreichen Unternehmers. Bilanz: Strikte Hierarchie ist die Basis des Kapitalverhältnisses. Demokratie und Kapitalherrschaft sind antagonistische Gegensätze.

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UNSERE MEINUNG Prostitutionsdebatte

Die repressiven Gesetze abwehren Von Rosemarie Nünning

W

ie polarisiert die Diskussion über käuflichen Sex ist, zeigte sich vor zwei Jahren: Alice Schwarzer, Herausgeberin der feministischen Zeitschrift »Emma«, hatte einen »Aufruf gegen Prostitution« verfasst, auf den umgehend ein »Aufruf für Prostitution« aus dem Sexgewerbe folgte. Schwarzer lehnt die liberale Prostitutionsgesetzgebung aus dem Jahr 2002 ab und befürwortet die Bestrafung von Freiern nach dem »schwedischen« oder »nordischen Modell«. Auf der anderen Seite fasste im August dieses Jahres eine internationale Konferenz von Amnesty International (AI) einen Beschluss für die Entkriminalisierung von Prostitution zum Schutz der Sexarbeiterinnen und -arbeiter. Es folgte ein Aufschrei der französischen und skandinavischen Sektion von AI ebenfalls mit der Forderung, dem »nordischen Modell« zu folgen. Dieses »Modell« ist allerdings heftig umstritten. Die Befürworter behaupten, Prostitution sei dadurch in der schwedischen Öffentlichkeit geächtet und habe sich mindestens halbiert. In einem Regierungsbericht von 2010 heißt es dagegen, Prostitution sei »zumindest nicht angestiegen«, und die Uno warnt vor einer Kriminalisierung, weil Sexarbeit dadurch in den Untergrund getrieben werde und damit höhere Risiken auch für die Gesundheit der Betroffenen berge. Inzwischen liegt ein Arbeitspapier aus dem Bundesfamilienministerium vor, das die Erfassung aller in der Prostitution Tätigen vorsieht und eine extreme Ausweitung polizeilichen Kontrollrechts, den Bruch des Datenschutzes und die Aufhebung der Unverletzlichkeit der Wohnung enthält. »Emma« begrüßt diesen Rückfall in schlimmstes preußisches Polizeiunwesen und beklagt noch, dass sich CDU/CSU bisher nicht mit repressiveren Maßnahmen durchsetzen konnten. Die Linksfraktion im Bundestag bezog im Dezember 2014 Stellung mit

einem etwas zu liberalen Ton, da sie ebenfalls Hilfe zur Professionalisierung forderte. Niemand sollte sich prostituieren müssen, stattdessen muss es mehr Hilfen zum Ausstieg geben. Prostitution ist bei einem Frauenanteil von über 80 Prozent zudem immer noch unmittelbarer Ausdruck von Frauenunterdrückung – die »auf den Leib geschriebene Ausbeutung«, wie Friedrich Engels es nannte. Richtigerweise wendet sich die Fraktion vor allem aber gegen Sondergesetze und Kriminalisierung. Diese Positionierung wollen Akteurinnen und Akteure innerhalb und außerhalb der LINKEN nun mit dem Aufruf »LINKE für eine Welt ohne Prostitution« zugunsten des »nordischen Modells« zu Fall bringen. Eine italienische linke Soziologin und Forscherin über Prostitution meint dazu: Der »Krieg gegen Drogen« treffe als Erstes die Drogenabhängigen. Der Ruf nach einer »Welt ohne Prostitution« stelle ohne eine gesellschaftliche Revolution vor allem einen Angriff auf Prostituierte dar. Das heißt, wir müssen gemeinsam an allererster Stelle die repressiven Gesetze abwehren, die die Bundesregierung vorbereitet! Sie sind ein Instrumentarium, das Prostituierte in Illegalität und Gefahr drängt, statt sie zu schützen, und weit über das Feld der Prostitution hinausreicht. Wir sollten es mit Engels halten, der 1893 an August Bebel schrieb: »Solange Prostitution nicht ganz abschaffbar, ist nach meiner Ansicht vollständige Befreiung der Mädel von aller Ausnahmsgesetzgebung für uns erstes Gebot. (…) Wir haben vor allen Dingen die Interessen der Mädel selbst, als Schlachtopfer der heutigen Gesellschaftsordnung, ins Auge zu fassen und sie vor dem Verlumpen möglichst zu schützen – wenigsten nicht durch Gesetze und Polizeischweinereien sie direkt zur Verlumpung zu zwingen.«

Schutz vor Polizeischweinereien ist Gebot

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★ ★★ Rosemarie Nünning ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Kreuzberg.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Widerstand gegen Freihandelsabkommen

Nicht auf den Lorbeeren ausruhen politische Entscheidungsprozesse intervenieren zu können, ja, zu müssen. Jetzt kommt es darauf an, die Demonstrierenden, die durchaus unterschiedliche Beweggründe für ihre Teilnahme hatten, zur weiteren Vernetzung zu ermuntern.

Die Bewegung braucht ein klares linkes Profil Der Protest darf nicht mit einer zwar beeindruckenden, aber einmaligen Aktion enden. Um weiterhin ein aktionsfähiges Bündnis aufrechtzuerhalten, braucht die Bewegung ein klares linkes Profil. Im Vorfeld der Demonstration wurden Vorwürfe laut, der Widerstand sei von rechts ge-

steuert, verbreite antiamerikanische Ressentiments und beruhe auf stumpfem Nationalismus. Immerhin riefen auch Pegida-Gründer Lutz Bachmann und die NPD zum Protest gegen TTIP auf. Diese Diffamierungsversuche zielen darauf ab, die Bewegung zu schwächen. Dagegen hat sich das Bündnis zu Recht deutlich positioniert. Für die Freihandelsbefürworter steht viel auf dem Spiel – sie werden nicht zögern, das Anti-TTIP-Bündnis auch in Zukunft anzugreifen. Der Widerstand muss weitergehen.

★ ★★ Hai-Hsin Lu arbeitet als Praktikantin in der marx21-Redaktion und engagiert sich gegen Rassismus und Frauenunterdrückung.

UNSERE MEINUNG

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ie Demonstration gegen TTIP und CETA am 10. Oktober in Berlin war ein unerwartet deutliches Signal der Bevölkerung an die Regierung. Nach Angaben der Veranstalter gingen bis zu einer Viertelmillionen Menschen gegen die geplanten transatlantischen Freihandelsabkommen auf die Straße. Es war der größte Protest, den die Bundesrepublik seit Jahren gesehen hat. Dieser Tag war von großer Bedeutung: Menschen, die sich informieren, mobilisieren und anschließend geschlossen gegen politische Intransparenz, Umweltzerstörung und den Abbau der Rechte von Arbeitnehmenden demonstrieren. Doch das genügt nicht. Es gilt, die Energie dieses Moments in längerfristige Arbeit zu überführen. Ein breites Bündnis aus 170 Organisationen hat die Massendemonstration auf die Beine gestellt. Darin zeigt sich die Überzeugung vieler Menschen, aktiv in

Von Hai-Hsin Lu

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TITELTHEMA Kampf gegen Rechts

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Das Boot ist nie voll Argumente fĂźr offene Grenzen

Die neuen Nazis? Wie sich die AfD radikalisiert

Gespalten in den Untergang Die Linke in der Weimarer Republik

Cooler Antifaschismus Wie Musiker gegen Nazis kämpften


Die rechte Gefahr Warum die Asylpolitik der Bundesregierung Pegida, AfD und NPD stärkt – und wie wir die Rassisten trotzdem stoppen können. Sechs Thesen zum Kampf gegen rechts Von Netzwerk marx21 vergangenen Monaten Flüchtlingsunterkünfte am häufigsten im Westen und Süden des Landes. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wieder Menschen durch rassistische Gewalttäter ermordet werden.

2.

Die AfD ist durch ihren Rechtsruck zum Kristallisationspunkt der Neuformierung einer rechten, offen rassistischen Szene geworden. Es droht eine »neue NPD«, die jedoch weit ins bürgerliche Lager ausgreift. In der AfD sammeln sich Nationalisten, Rassisten und Faschisten. Sie verfolgen das Ziel, die diversen bisher eher auseinanderstrebenden Teile des rechten Spektrums in einer neuen Partei zu bündeln und diese zum parlamentarischen Erfolg zu führen, um damit die rechte Bewegung auch außerhalb der Parlamente zu stärken. Noch agiert die AfD zwar nicht als offen faschistische Partei. Doch nach der Abspaltung des wirtschaftsliberalen Flügels um Bernd Lucke versucht sie sich als Sammelbecken der gesamten außerparlamentarischen, rassistischen Bewegung zu etablieren – offenbar mit Erfolg: Anfang November kam sie erstmals seit ihrer Gründung in einer bundesweiten Umfrage auf zehn Prozent. Laut AfD-Pressesprecher Christian Lüth gewinnt die Partei zurzeit jeden Monat 150 neue Mitglieder. Anfang Oktober konnte sie 18.468 Mitglieder und Förderer verzeichnen. Sie hat damit die Verluste nach dem Spaltungsparteitag von Essen schon fast wieder wettmachen können. In den kommenden zwei Jahren stehen acht Landtags- und eine Bundestagswahl an. Gemäß aktuellen Umfragen könnte die AfD am Ende des Jahres 2017 Fraktionen in dreizehn Landesparlamenten und dem Bundestag stellen. Damit verbunden wären enorme staatliche Mittel, die sie zum Parteiaufbau nutzen könnte. Zur Strategie der Partei gehört neuerdings auch, den »Kampf um die Straße« zu führen. So hat die AfD in ihrer »Herbstoffensive« erstmals zu Kundgebungen und Straßenmobilisierungen unter dem Motto »Asylchaos und Eurokrise stoppen«

TITELTHEMA KAMPF GEGEN RECHTS

1.

Die Polarisierung in Deutschland nimmt zu: Einerseits engagieren sich Zehntausende für Flüchtlinge und gegen Rassismus, anderseits ebben die rechten Straßenmobilisierungen nicht ab. In deren Windschatten entlädt sich die schlimmste Welle rassistischer Gewalt seit Jahren. Pegida, AfD und NPD mobilisieren gegen Flüchtlinge, Muslime und Menschen mit Migrationshintergrund. Im Sommer dachten viele, Pegida hätte sich schon auf den Müllhaufen der Geschichte verabschiedet, doch Politiker und Medien haben mit ihren Lügen über die angebliche »Jahrhundertwelle an Flüchtlingen« und »beschränkte Aufnahmekapazitäten« den Neonazis und Rassisten neuen Zulauf beschert. Aus den Worten von vielen werden Taten von einigen: Alleine bis Anfang November dieses Jahres gab es laut Bundesregierung die traurige Rekordzahl von 690 gegen Asyl-Unterkünfte gerichtete Straftaten. Besonders häufig finden Brandstiftungen auf geplante und schon existierende Flüchtlingswohnheime statt. Das zeigt: Wir haben es mit einem Aufschwung an rassistischen Mobilisierungen zu tun. Doch es handelt sich keineswegs um spontane Proteste. Den organisatorischen Kern bilden lokale Nazistrukturen. Proteste gegen Flüchtlinge gibt es beispielsweise besonders häufig dort, wo die NPD oder die AfD im Stadt- oder Gemeinderat sitzt. In Sachsen hält die NPD seit den letzten Kommunalwahlen fast sechzig Mandate, unter anderem in Dresden, Heidenau und Freital. Allein bis Ende August zählte die AmadeuAntonio-Stiftung in diesem Bundesland 61 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und 32 tätliche Übergriffe auf Geflüchtete. Doch die Gefahr von rechts und die Gewalt gegen Flüchtlinge gehen nicht nur von Sachsen oder Ostdeutschland aus. Dort ist lediglich das Zentrum einer sich bundesweit formierenden rassistischen Bewegung. Auch in den alten Bundesländern gibt es ein gewaltbereites rechtes Milieu, das sich zunehmend bestärkt fühlt. Tatsächlich brannten in den

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© James Rea / CC BY-NC-ND / flickr.com

Alexander Gauland, AfD-Landesvorsitzender in Brandenburg, bei einer Demonstration in Berlin am 7. November. In seiner Rede verglich er die Geflüchteten mit jenen »Barbaren«, die den Untergang des Römischen Reichs herbeiführten

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aufgerufen. Insgesamt konnte sie mehrere Tausend Menschen mobilisieren, darunter auch hunderte organisierte Nazis. Auch das rassistische und ausländerfeindliche Profil der Partei hat die neue Führung um Frauke Petry weiter geschärft. Wohin die Reise gehen kann, verdeutlicht der Landesverband Thüringen. Dessen Sprecher und Fraktionsvorsitzender im Landtag, Björn Höcke, hat beste Kontakte zur Neonaziszene. Zudem ist er Mitinitiator einer »Erfurter Resolution«, in der die AfD zur »Bewegung unseres Volkes gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte (Gender Mainstreaming, Multikulturalismus, Erziehungsbeliebigkeit usf.)« und zur »Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands« stilisiert wird. Seit Mitte November mobilisiert der Landesverband Thüringen Tausende zu Parteikundgebungen in Erfurt, bei denen Höcke als Hauptredner fungiert. Mit seinem provozierenden Auftritt bei der ARD-Fernsehsendung »Günther Jauch« wurde er bundesweit bekannt und entwickelt sich seitdem zunehmend zum Wortführer seiner nach rechts steuernden Partei. Der Vorsitzende der Gesellschaft für deutsche Sprache, Peter Schlobinski, betont zwar, dass man nicht die gesamte AfD über einen Kamm scheren dürfe: »Doch einzelne Mitglieder pflegen eine auffällige Nazi-Rhetorik. Der Rhythmus, das sprachliche Diktum, die Emotionalisierung – es gibt einiges, was stark an die NSDAP-Sprache angelehnt ist.« Zu diesen Mitgliedern gehört neben Höcke auch Markus Frohnmaier, Bundesvorsitzender der Jugendorganisation Junge Alternative (JA). Von ihm

stammen Sätze wie: »Ich sage diesen linken Gesinnungsterroristen, diesem Parteienfilz ganz klar: Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk und nur für das Volk gemacht – denn wir sind das Volk, liebe Freunde.« Der Dynamik nach Rechtsaußen setzt auch die Bundesvorsitzende Frauke Petry nichts entgegen. Im Gegenteil: Sie förderte die Annäherungen der AfD an Pegida, an die rechte Hooligan-Szene und an andere organisierte Rechtsradikale. Zudem stützte sie sich im innerparteilichen Machtkampf gegen Lucke auf den Höcke-Flügel. Ehemalige Mitglieder der Republikaner und anderer faschistischer Organisationen, die in anderen AfD-Landesverbänden aufgrund ihrer braunen Herkunft nicht aufgenommen wurden, kamen über Petrys sächsischen Landesverband in die AfD. Der frühere Europaabgeordnete und stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende HansOlaf Henkel bezeichnet seine ehemalige Partei heute als eine Art »NPD-light, vielleicht sogar identisch mit der NPD«. Dem WDR sagte er: »Wir haben ein richtiges Monster erschaffen.« Vergangene Versuche, rechts von der Union eine Partei mit Masseneinfluss aufzubauen, sind vor allem durch antirassistische und antifaschistische Massenmobilisierungen gegen die entsprechenden Parteien gescheitert. Seit der Wiedervereinigung waren das die NPD, die Republikaner, die Deutsche Volksunion (DVU), die Schill-Partei in Hamburg und die diversen, vor allem in Westdeutschland starken Pro-Parteien. Aber jetzt besteht die Gefahr, dass die AfD zu einer neuen Nazipartei heranwächst, die weit ins bürgerliche Lager ausgreift. Wir müssen diese Gefahr erkennen und ernst nehmen.

3.

Die extreme Rechte profitiert von der unsozialen und rassistischen Politik der etablierten Parteien. Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist real. Doch versuchen die Eliten, den daraus resultierenden Frust auf Flüchtlinge, Muslime oder vermeintliche »Sozialschmarotzer« umzulenken. Die rechte Szene kann sich darauf verlassen, dass sowohl die Medien als auch Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien Rassismus schüren. Im Fadenkreuz stehen dabei vor allem Geflüchtete und Muslime. Die politische Mitte bedient eine »Das Boot ist voll«-Rhetorik, um ihre Maßnahmen gegen Geflüchtete zu rechtfertigen. Innerhalb nur eines Monats beschloss die Bundesregierung zwei tiefgreifende Verschärfungen des Asylrechts. Ein Argument dafür war, ein Anstieg der Flüchtlingszahlen sei Wasser auf die Mühlen der Rassisten, Flüchtlingsgegner und Rechtsradikalen. Das ist eine fatale politische Logik. Denn wenn Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien Verständnis für die »Sorgen« und »Ängste der Men-


schen« vor mehr Flüchtlingen zeigen, stärken sie letztendlich die offen rassistischen Kräfte. Anstatt ihnen argumentativ den Wind aus den Segeln zu nehmen, machen sie sich zu deren Stichwortgebern. Wenn in den Medien davon die Rede ist, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippen würde, ist das falsch. Wenn überhaupt, dann wurde sie gekippt. Denn rassistische Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen lassen sich nicht aus individuellen, psychosozialen Verhaltensmustern erklären. Sie sind keine natürlichen Abwehrreaktionen auf die Gefährdung der Privilegien der Mehrheitsgesellschaft. Rassismus ist eine Herrschaftsideologie, die von der bürgerlich-kapitalistischen Klasse und deren Thinktanks, Medien und Politikerinnen und Politikern produziert und verbreitet wird. So ist es auch kein Zufall, dass gerade der antimuslimische Rassismus in den letzten Jahren massiv zugenommen hat. Wenn Pegida und die AfD heute vor einer angeblichen »Islamisierung« warnen, folgen sie nur konsequent dem Rassismus gegen Muslime, den ein Thilo Sarrazin salonfähig gemacht hat. Rassismus dient den Herrschenden dazu, ihre Klasseninteressen zu legitimieren und die große Mehrheit der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen zu spalten. So nutzt die Politik momentan die rechte Bewegung und die »Sorgen der Bürger« als Begründung für ihre striktere Abschottungs- und Abschiebepolitik. Auch versucht sie, von bestehenden sozialen Problemen und vom Klassenkampf abzulenken. Kaum jemand spricht gegenwärtig mehr von den kriminellen Spekulationsgeschäften der Banken und den milliardenschweren Steuergeschenken an die Verursacher der Krise. Doch es ist offen, ob sich rassistische Ideologien als Werkzeug der Herrschaftssicherung bewähren. Um wirksam zu sein, müssen sie von der Bevölkerung angenommen werden. Rassistische Vorurteile können nicht einfach erfunden werden. Sie sind wie jede Ideologie bei ihrer Verbreitung auf Anknüpfungspunkte in der realen Welt angewiesen. Während der Asylflutkampagne der frühen 1990er Jahre konnten sich die Produzenten der sorgsam inszenierten »Das Boot ist voll«- Argumentation beispielsweise darauf berufen, dass die Zahl der Arbeitslosen zu diesem Zeitpunkt auf vier Millionen angestiegen war und dass in Ostdeutschland binnen kürzester Zeit achtzig Prozent der gesamten industriellen Arbeitsplätze abgewickelt worden waren. Fünfundzwanzig Jahre später sind die offiziellen Arbeitslosenzahlen zwar auf einem historischen Tiefstand, doch die Armut hat in Deutschland trotzdem stark zugenommen. Millionen erhalten Löhne, die kaum zum Überleben reichen. Hunderttausende sind trotz eines Jobs auf

zusätzliche Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Die Schere zwischen arm und reich ist in Deutschland mittlerweile so groß wie in kaum einem anderen Industrieland. Dennoch sind nicht in erster Linie Arbeitslose und Geringverdiener anfällig für rassistische Ideologien. Vielmehr sehen Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler bei Pegida vor allem Mittelschichtsangehörige mit Abstiegsängsten am Werk. Die soziale Krise, die durch die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte hervorgerufen wurde, bildet hier den Nährboden, auf dem der Rassismus gedeihen kann. Die Angst des Mittelstandes vor dem sozialen Abstieg ist real, doch ihr wachsender Hass auf »Sozialschmarotzer« ist irrational und kann sie vor dem Abstieg nicht retten.

Rassismus ist Herrschaftsideologie

TITELTHEMA KAMPF GEGEN RECHTS

4.

Um die rechte Gefahr zu stoppen, fordern Medienvertreter, Politikerinnen und Politiker, dass Justiz und Polizei schärfer durchgreifen. Doch der Staatsapparat ist ungeeignet, Rassismus und Naziterror zu bekämpfen. Vielmehr ist er Teil des Problems. »Herr Staatsanwalt, übernehmen Sie!«, forderte kürzlich die »Bild«-Zeitung. Auf einer Doppelseite waren unter dem Titel »Der Pranger der Schande« Hasskommentare und Gewaltaufrufe gegenüber Flüchtlingen, Muslimen und Andersdenkenden aus Facebook und Twitter abgedruckt. Bundesinnenminister Thomas de Maizière begleitete die Aktion mit einem Gastkommentar. Abgesehen davon, wie scheinheilig es ist, dass ausgerechnet »Bild« und de Maizière die Hetzer an den Pranger stellen, wird der Ruf nach dem Staat das Problem der rassistischen und faschistischen Gefahr nicht lösen. Spätestens seit den NSU-Morden wissen wir, dass der Staat nicht nur auf dem rechten Auge blind ist – oder zumindest sehr schlecht sieht – sondern dass staatliche Organe wie der Verfassungsschutz die rechten Strukturen auch aktiv unterstützen. Es ist kein Zufall, dass staatliche Stellen nur 75 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 zählen, antifaschistische Initiativen dagegen von mindestens 178 ausgehen. Der Ruf nach Polizei und Justiz verkommt noch mehr zur Farce, wenn man bedenkt, dass die Staatsorgane wesentlich intensiver mit der Verfolgung von Antifaschistinnen und Antifaschisten beschäftigt sind als mit dem Kampf gegen Nazis. Am 7. November marschierte die AfD beispielsweise durch die Berliner Innenstadt – und die Polizei setzte Schlagstöcke und Pfefferspray ein, um die Rassisten ungestört zur Endkundgebung zu eskortieren. 79 Gegendemonstranten wurden festgenommen.

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Im Jahr 2011 blockierten Tausende in Dresden erfolgreich den bis dato größten Naziaufmarsch Europas. Daraufhin stürmten am Abend maskierte Polizisten in Kampfmontur das Pressezentrum des Blockadebündnisses. Die Staatsanwaltschaft leitete 351 Verfahren gegen Blockierer ein. All das zeigt: Der Staatsapparat ist kein verlässlicher Bündnispartner im Kampf gegen Rassismus und Nazis. Mehr noch: Die Forderung nach einem entschlossenen staatlichen Durchgreifen gegen rechts kann sich leicht in ihr Gegenteil verkehren. Denn ideologischer Ausgangspunkt für die staatliche Extremismusbekämpfung ist das Konstrukt einer »de-

Rassistische Aufmärsche müssen blockiert werden mokratische Mitte der Gesellschaft«, die gleichermaßen von links und rechts bedroht wird. Diese These verschleiert jedoch nur, dass es der Linken, im Gegensatz zu den Nazis, um eine Ausweitung der Demokratie und Menschenrechte geht. Hinzu kommt, dass die Vertreter dieser angeblich »demokratischen« Mitte immer wieder aufs Neue Rassismus schüren.

5.

DIE LINKE muss in der jetzigen Situation ihr antirassistisches und antikapitalistisches Profil schärfen. Sie sollte jetzt die Initiative für einen gesellschaftlich breit aufgestellten außerparlamentarischen Protest ergreifen, dessen Hauptforderung lautet: »Flüchtlinge willkommen, keine Stimme den Rassisten«. »Der Tisch für die Flüchtlinge muss von den Reichen gedeckt werden«, fordert Oskar Lafontaine und verlangt eine höhere Besteuerung von Millionären. Damit benennt er einen zentralen Punkt: DIE LINKE muss verdeutlichen, dass die Debatte über die vermeintlichen Grenzen der Aufnahmekapazitäten von der seit Jahren stattfinden Ausplünderung der öffentlichen Haushalte ablenken soll. Macht sie das nicht, wird sie das Feld den Rechten überlassen. Auf keiner Pegida-Demo fehlen die Klagen über zu niedrige Renten, kaputte Schulen und fehlende Kitaplätze. Wenn DIE LINKE gegen die Rassisten und Nazis gewinnen will, muss sie auch den Widerstand gegen die neoliberale Umstrukturierung der Gesellschaft stärken und sich für ein grundlegend anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem einsetzen. Jakob Augstein fordert in dem »Spiegel«Artikel »Demonstriert lieber gegen die Banken« richtigerweise: »Was in Deutschland jedoch fehlt, ist ein positiver Populismus von links, der die demokratischen und sozialen Rechte der normalen Leute gegenüber Eliten und Oligarchen artikuliert – und der

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diese Aufgabe nicht den Rechten überlässt.« Populismus bedeutet allerdings nicht, rechte Forderungen zu übernehmen, wie Lafontaine es macht. Beispielsweise verlangt er eine Grenzschließung und eine Obergrenze der Flüchtlingszahl. Doch Linke sollten entschieden gegen das Bild von »guten« und »schlechten«, von »echten« und »falschen« Flüchtlingen und der angeblichen »Grenze der Aufnahmefähigkeit« in Deutschland auftreten. Richtig sind hingegen Lafontaines Forderung, dass DIE LINKE die soziale Frage in die Flüchtlingsdebatte einbringen sollte. Um Flüchtlinge vor Lohndumping zu schützen, muss der Mindestlohn verteidigt werden und auch Flüchtlingen eine soziale Mindestsicherung von 500 Euro garantiert werden. DIE LINKE tut also gut daran, in der jetzigen Situation ihr antirassistisches und antikapitalistisches Profil zu schärfen. Es ist an der Zeit, dass sie die Initiative für einen gesellschaftlich breit aufgestellten außerparlamentarischen Protest ergreift, dessen Forderung lautet: »Flüchtlinge Willkommen, keine Stimme dem Rassismus«.

6.

Der weitere Aufstieg der extremen Rechten kann durch Konfrontation verhindert werden: auf der Straße, im Wahlkampf und in den Parlamenten. Dafür sind breite und zugleich entschlossene Bündnisse nötig, unter Beteiligung von SPD, Grünen, Gewerkschaften sowie muslimischen, jüdischen und christlichen Verbänden und anderen gesellschaftspolitischen Gruppen. Die Rechtsextremen und Rassisten müssen bei jedem öffentlichen Auftritt merken, dass große Teile der Bevölkerung nicht nur ihre Inhalte ablehnen, sondern auch bereit sind, sich ihnen aktiv in den Weg zu stellen. Wenn die Rechten nicht marschieren können, entmutigt man vor allem ihr Umfeld, das durch machtvolle Aufmärsche und Kundgebungen beeindruckt werden soll. Es gibt zwei wichtige Voraussetzungen, um rassistische Kundgebungen und Aufmärsche erfolgreich zu verhindern: Erstens massenhafte Aufklärung über deren menschenfeindlichen Ziele und zweitens breite Gegenmobilisierungen und Blockaden. So konnten beispielsweise noch in Dresden in den Jahren 2010 bis 2013 die größten Naziaufmärsche Europas empfindlich geschwächt und schließlich sogar verhindert werden. Tatsächlich hat es in der Vergangenheit immer wieder erfolgreiche antirassistische und antifaschistische Mobilisierungen gegeben: Als Pegida im vergangenen Jahr versuchte, sich über Dresden hinaus auszubreiten, hat die antirassistische Gegenbewegung das verhindert. In München, Stuttgart, Leipzig und anderen Städten demonstrierten mehrfach Tausende gegen die entsprechenden Pegida-Ableger und blockierten deren Demonstrationswege.


Sozialdemokratie vor 1933 auf diese Art des »staatsgläubigen« Antifaschismus gesetzt. Sie vertraute auf Justiz, Polizei und Armee zur Verhinderung der Nazidiktatur und sie ist damit gescheitert. Die Vertreter dieses »staatsgläubigen« Antifaschismus bauen zwar oft gesellschaftlich breite Bündnisse auf, um Demonstrationen gegen Nazis und Rassisten zu organisieren. Doch diese Kundgebungen finden dann meist fernab der Aufmarschroute der Nazis und Rassisten statt. Beide dargestellten Aktionsformen sind nicht geeignet, die rechte Gefahr zu stoppen. Wir brauchen breite und entschlossene Bündnisse, die Nazis und Rassisten den Weg durch die Innenstädte und Migrantenviertel versperren. Das Potenzial hierfür ist durchaus vorhanden. Zuletzt demonstrierten 10.000 Menschen in Köln gegen Hogesa, in Erfurt nahmen rund 6000 an der Kundgebung des »Bündnis für Mitmenschlichkeit« teil und in München konnten rund 3000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfolgreich den Aufmarsch des lokalen Pegida-Ablegers blockieren. Laut einer Forsa-Umfrage machen sich 74 Prozent der Bevölkerung große oder sehr große Sorgen über die dramatische Zunahme von rassistischer Gewalt. Die Linke muss versuchen, diese Millionen auf die Straße zu mobilisieren, um ein weiteres Erstarken der rassistischen Massenbewegung in Deutschland zu verhindern. ■

Jecken gegen rechts: Als die »Hooligans gegen Salafisten« (Hogesa) am 25. Oktober ihren ersten Jahrestag mit einem Großaufmarsch durch Köln begehen wollten, stellte sich ihnen ein breites Bündnis in den Weg. Überall in der Stadt gab es Gegenproteste. Laut Veranstaltern kamen knapp 20.000 Menschen

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Auch an vielen anderen Orten konnten sich breite und entschlossene lokale Bündnisse etablieren, welche die Aufbaubemühungen der rassistischen Rechten empfindlich störten. Doch diese Tradition der antifaschistischen Bündnisarbeit droht vielerorts verlorenzugehen, wie sich beispielsweise im Europawahlkampf des vergangenen Jahres zeigte. Damals versuchten Antifa-Gruppen durch die Kampagne »Nationalismus ist keine Alternative!« die Ausbreitung der AfD zu verhindern. Die daran beteiligte Frankfurter Gruppe kritik&praxis schrieb später: »Die Parteien der ›Mitte‹ sind für rechte Positionen offen; insbesondere dann, wenn sie von rechts unter Druck geraten. Es wäre deshalb falsch, im Falle der AfD zu versuchen, ein breites Bündnis zu schließen, das sich zum Ziel setzt, die so genannte ›Mitte der Gesellschaft‹ gegen rechts zu verteidigen.« Diese Haltung ist auf der radikalen Linken weit verbreitet: Weil sie – meist berechtigte – Kritik an Gewerkschaften, der Sozialdemokratie oder den Grünen haben, weigern sich Aktivistinnen und Aktivisten, mit diesen Organisationen gemeinsam zu protestieren. Wir teilen diese Positionierung nicht. Denn es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen den Parteien der bürgerlichen Mitte und Faschisten oder Parteien wie der AfD, die das Potenzial haben, sich in faschistische Parteien zu verwandeln. CSU-Mann Seehofer und Höcke von der AfD eint ihre menschenfeindliche Abweisung von Flüchtlingen. Aber Seehofer versucht, mit seiner Stimmungsmache die AfD in den Parlamenten klein zu halten. Er organisiert keine rassistische Massenbewegung auf Straßen und Plätzen, die zum Sprungbrett für die Formierung einer neuen faschistischen Rechten werden kann. Die Linke muss sich gegen alle Formen des offenen und verstecken Rassismus abgrenzen. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir den Kampf gegen die Gefahr einer aufkommenden neuen faschistischen Rechten durch falsche politische Ausgrenzungen schwächen. Demonstrationen, die sich rassistischen Massenbewegungen in den Weg stellen, aber relevante gesellschaftliche Kräfte ausschließen, bleiben in der Regel klein. Sie können ohne weiteres von der Polizei aufgelöst werden. Das Ergebnis ist, dass die rassistische Rechte marschiert und die Zeitungen am nächsten Tag über die angeblich »gewalttätigen« Antifaschisten berichten. Dieses Vorgehen ähnelt der »ultralinken« Haltung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) der frühen 1930er Jahre, die sich weigerte, gemeinsam mit der SPD gegen die immer stärker werdenden Nazis zu kämpfen. Doch gerade das Ende der Weimarer Republik zeigt, wie notwendig ein gemeinsamer Kampf aller Antifaschisten gegen die aufkommende rechte Gefahr ist. Der andere, entgegengesetzte politische Fehler besteht darin, darauf zu hoffen, dass der bürgerliche Staat den Aufstieg der Rechten verhindert. Beispielsweise hat die

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Das Boot ist nie voll Die Bundesregierung verschärft das Asylrecht, obwohl es für Einheimische und Geflüchtete genügend gute Arbeit und Wohnungen gäbe. Wir erklären, warum die Parole von der »begrenzten Aufnahmefähigkeit« Deutschlands falsch ist Von Hans Krause und Yaak Pabst

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Hans Krause ist Redakteur von marx21.

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Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21.

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on CSU-Hardliner Horst Seehofer über Bundespräsident Gauck bis hin zu SPDChef Gabriel: Es vergeht kein Tag, an dem Politikerinnen und Politiker nicht vor den »Grenzen der Aufnahmefähigkeit« in Deutschland warnen. Doch der deutsche Staat ist einer der reichsten der Welt. Politiker sprechen trotzdem von der angeblichen »Grenze der Aufnahmekapazität«, weil sie diesen Reichtum nie für die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung eingesetzt haben und es auch weiter nicht tun wollen. Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor, in den Städten fehlt es an bezahlbarem Wohnraum, die Schulen und Hochschulen haben zu wenig Lehrpersonal und sind mangelhaft ausgestattet. Es gibt zu wenig Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas; Bibliotheken, Schwimmbäder und andere kommunale Einrichtungen sind von Schließung bedroht. Diese Missstände bestehen seit Jahren und waren keineswegs unvermeidlich: Die Steuereinnahmen des Staats sprudeln. Der Haushaltsüberschuss lag laut Statistischem Bundesamt im ersten Halbjahr 2015 bei 21 Milliarden Euro. Aus der europäischen Schuldenkrise ergaben sich laut dem Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle für den Bundeshaushalt seit 2010 Einsparungen von rund 100 Milliarden Euro. Als in der Krise im Jahr 2008 die

Banken vor dem Zusammenbruch gerettet wurden, beschloss der Bundestag innerhalb einer Woche ein Rettungspaket von fast 500 Milliarden Euro. Die Beschwörung einer angeblich »beschränkten Aufnahmekapazität« soll von der seit Jahren stattfindenden Ausplünderung der öffentlichen Haushalte ablenken. Die Zukunft der staatlichen Daseinsvorsorge ist tatsächlich bedroht, allerdings nicht von Geflüchteten, sondern von Reichen, Banken, Konzernen und ihrer Regierung.

Geflüchtete sind keine Täter, sondern Opfer von Gewalt

Der Staat gibt Milliarden Euro für Dinge aus, die keinem Menschen nützen, und senkt Steuern für die Reichsten der Reichen. Politiker stellen die Verschuldung der Städte und Gemeinden oft als unabänderlich dar. Tatsächlich ist sie durch die Steuergesetze der Bundes- und Landesregierungen bewusst herbeigeführt und kann jederzeit verändert werden. Im September beschloss die Regierung, dass der Bund den Ländern für jeden Geflüchteten 670 Euro im Monat zahlt. Das ist natürlich viel zu wenig, um den Eingewanderten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Doch beweist dieser Beschluss, dass die Bundesregierung den Städten und Gemeinden jederzeit helfen kann, wenn sie nur will. Angeblich fehlt den Städten das Geld, um Geflüchtete unterzubringen. Aber gleichzeitig hat die Bun-


Zudem könnte die Regierung Immobilienkonzerne und Hausbesitzerinnen und -besitzer zwingen, leerstehende Wohnungen günstig zu vermieten. Wohnungen gibt es genug: In Deutschland stehen etwa 1,8 Millionen leer. Hinzu kommen Millionen Zweitund Drittwohnungen, die kaum genutzt werden. Auch leerstehende Büroflächen könnten teilweise

ohne großen Aufwand in Wohnungen umgewandelt werden. Während Asylsuchende durchschnittlich vier Quadratmeter Wohnraum erhalten, werden alleine in der »Bürostadt« Frankfurt 1,8 Millionen Quadratmeter Büroflächen nicht genutzt. Der Leerstand ist ein Hauptgrund, warum die Mieten in Großstädten in den letzten zehn Jahren so schnell gestiegen sind wie nie zuvor. Denn immer größere Immobilienkonzerne beherrschen den Markt und verknappen künstlich das Angebot, um mit den Mieten größtmöglichen Profit zu machen. Ein weiterer Grund für die hohen Mieten ist, dass der Staat immer weniger günstige Wohnungen anbietet. Die Zahl der Sozialwohnungen in Deutschland ist zwischen 2002 und 2013 von etwa 2,5 auf 1,5 Millionen gesunken. Wenn das Vermieten von Wohnungen und das Festlegen der Preise immer öfter Konzernen überlassen werden, steigen die Mieten – unabhängig davon, wie viele Geflüchtete nach Deutschland kommen. Eine alternative Politik würde leerstehende Gebäude und Wohnungen beschlagnahmen und ein umfassendes bundesweites Sofortprogramm für sozialen Wohnungsbau in Mischnutzung für Geringverdiener, Familien und Geflüchtete auf den Weg bringen. Nur wenn Einwanderer und Einheimische sich gemeinsam für die Rückkehr zum öffentlichen sozialen Wohnungsbau einsetzen, haben wir eine Chance auf sinkende Mieten. Auch Arbeit gäbe es genug in Deutschland – für Geflüchtete und Einheimische. Doch während Millionen Menschen über Stress und Arbeitsverdichtung klagen, weigern sich die Arbeitgeber, neue Vollzeitstellen einzurichten. Stattdessen laden sie den Beschäftigten Überstunden auf. In keinem anderen europäischen Land müssen Beschäftigte mehr unbezahlte Überstunden leisten als in Deutschland. Laut einer Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) wurden im vergangenen Jahr knapp 1,4 Milliarden Überstunden geleistet. Das allein entspricht nach Angaben der Bundesregierung rund 730.000 Vollzeitarbeitsplätzen. Statt immer mehr Überstunden brauchen wir eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. In Kitas, Schulen, Altersheimen und Krankenhäusern fehlt es sowieso an gutem und angemessen bezahltem Personal. Mit einem staatlichen Programm für mehr Arbeitsplätze könnten Hunderttausende Geflüchtete und Einheimische dort beschäftigt werden. Statt einer Senkung des Mindestlohns brauchen wir einen öffentlichen Beschäftigungssektor für tariflich bezahlte und sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Die Arbeitgeber wollen die Geflüchteten als billige Arbeitskräfte missbrauchen.

Deutschland könnte Millionen Flüchtlinge aufnehmen und hat dies in der Vergangenheit auch mehrfach getan. »Das Boot« war immer nur dann »voll«, wenn es sich um Migranten aus anderen Kulturkreisen handelte. Hier zeigt sich der nationalistische Charakter der deutschen Einwanderungspolitik

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desregierung für 2016 mit 34,2 Milliarden Euro den höchsten Verteidigungshaushalt seit 1990 beschlossen. Zudem haben Merkel und ihre Minister mit der Unternehmenssteuerreform erst im Jahr 2008 das größte Steuergeschenk seit 25 Jahren an die Wirtschaft gemacht. Würden heute noch dieselben Steuergesetze gelten wie vor 20 Jahren, würde der Staat jedes Jahr etwa 50 Milliarden Euro mehr Steuern einnehmen, und zwar von Reichen, Banken und Konzernen. Städte und Gemeinden wurden in den letzten Jahren von CDU, SPD, Grünen und FDP ruiniert und könnten jederzeit wieder mit mehr Geld ausgestattet werden.

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Um sie und Einheimische vor Lohndumping zu schützen, muss der Mindestlohn verteidigt und auf zehn Euro angehoben werden. Statt Hartz IV für Einheimische und Sachleistungen für Geflüchtete sollte die Bundesregierung eine sofortige Mindestsicherung von 1050 Euro ohne Sanktionen einführen, für Menschen, die nicht von ihrer Arbeit leben können. Kitas, Schulen und Hochschulen müssen umgehend für geflüchtete Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene geöffnet werden, für Sprachkurse müssen mehr Lehrende eingestellt werden, Bildungsabschlüsse in den Herkunftsländern müssen anerkannt werden. Viele stellen sich aber die Frage, ob Deutschland überhaupt in der Lage ist, Millionen Geflüchtete aufzunehmen. Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass dies durchaus möglich ist. Bereits im 19. Jahrhundert wanderten Hunderttausende Menschen aus Polen und Italien ins Deutsche Kaiserreich ein, allein ins Ruhrgebiet etwa 300.000 damals sogenannte Ruhrpolen. Niemand würde heute Menschen, die Nowak, Kowalski oder Schimanski heißen, für Ausländer halten. Auch beim deutschen Basketballspieler Dirk Nowitzki vermutet man keinen Migrationshintergrund. Doch all diese Namen sind polnischen Ursprungs und mit den Jahren zu »deutschen« Namen geworden. Vor allem die jüngere Geschichte nach 1945 zeigt, dass es keine natürliche »Aufnahmefähigkeit« einer Gesellschaft gibt. Nach Kriegsende kamen Menschen aus den vorherigen deutschen Ostgebieten und aus Rumänien, Jugoslawien und der Tschechoslowakei als Vertriebene in die vier Besatzungszonen. Bei der ersten Volkszählung nach dem Krieg im Jahr 1946 wurden 9,7 Millionen Geflüchtete im verkleinerten und stark zerstörten Deutschland gezählt. Bei einer Gesamtbevölkerung von 65,9 Millionen machten sie 15 Prozent aus. Dazu kamen noch einmal über 5 Millionen »Evakuierte«, die noch während des Kriegs ihre Wohnungen verloren hatten. Im Gebiet des späteren Westdeutschlands waren 41 Prozent aller Wohnungen zerstört. Die Geflüchteten und die Ausgebombten wurden bei anderen Leuten »einquartiert«, leerstehender Wohnraum bis in die letzte Kammer genutzt und Notbaracken gebaut. Es gab große Spannungen zwischen Einheimischen und Geflüchteten. Neid und Missgunst beherrschte die Stimmung unter den «Alt-Bewohnern«. Aber Medien und politische Parteien und auch die Militärbehörden haben diesen Spannungen damals geschlossen entgegengewirkt. Ein anderes Beispiel sind die sogenannten Aussied-

ler: Einwanderer deutscher Abstammung aus der Sowjetunion, Kasachstan und Polen. In den 1980er und 1990er Jahren stieg ihre Zahl stark an. Zwischen 1988 und 1992 kamen rund zwei Millionen Menschen. Damit war die Zahl der »Aussiedler« höher als die Zahl der Asylsuchenden (1,2 Millionen) im gleichen Zeitraum. Sie wurden im Vergleich zu Asylsuchenden bevorzugt behandelt und erhielten Erstausstattungen, Eingliederungshilfen, Bildungs- und Sprachangebote. »Das Boot« war immer nur dann angeblich »voll«, wenn es sich um Geflüchtete und Migranten handelte, denen kein deutscher Pass zugestanden wurde. Hier zeigt sich der nationalistische und rassistische Charakter der deutschen Einwanderungspolitik. Derzeit schüren Medien Angst vor gewaltbereiten Geflüchteten, als Anlass werden unter anderem Schlägereien in Flüchtlingsunterkünften genommen. Doch schuld an der Gewalt sind die menschenverachtenden Erstunterkünfte in Sporthallen, ehemaligen Baumärkten und anderen leerstehenden Gebäuden. Dort haben die Menschen keinerlei Privatsphäre und stehen unter ständiger Beobachtung: beim Umziehen, beim Waschen, bei jedem Gespräch und jeder Berührung. Mit so vielen Menschen in einer Halle ist es immer laut. Es gibt viel zu wenige Toiletten und Duschen und die medizinische Versorgung ist miserabel. Außerdem haben Geflüchtete in den Unterkünften keinerlei Recht auf Mitbestimmung. Sie können noch nicht mal gemeinsame Forderungen aufstellen wie Schülerinnen und Schüler oder Gefängnisinsassen. In Flüchtlingsheimen gibt es keine Beiräte, keine Sprecherinnen und Sprecher, keinen Einfluss. Diese von der deutschen Regierung herbeigeführten Umstände sind die Grundlage für Wut, Frustration und Aggressionen. Sie führen zu Verbrechen, die immer passieren, wenn Menschen in großer Zahl unter unmenschlichen Bedingungen zusammengepfercht werden. Als 2005 der Hurrikan »Katrina« halb New Orleans überschwemmte, sperrte die US-Armee 20.000 Geflüchtete ins Football-Stadion der Stadt. Nach etwa einer Woche waren zwei Menschen an Krankheiten gestorben und einer hatte Selbstmord begangen. Zudem gab es zahlreiche Berichte von Zerstörungswut, Schlägereien und Vergewaltigungen. Gleichzeitig ist die Berichterstattung in den Medien irreführend. Denn überwiegend sind Geflüchtete Opfer von Gewalt und nicht Täter. Fast jede Nacht gibt es Anschläge auf Geflüchtete oder Flüchtlingsunterkünfte – die rassistischen Angriffe sind im Ver-

9,7 Millionen Geflüchtete lebten nach 1945 in Deutschland

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Das Thema Flucht und Migration wird einen Schwerpunkt von »MARX IS` MUSS 2016« bilden. Bei über hundert Veranstaltungen werden wir uns neben anderen Themen auch intensiv mit Fragen zu Migration, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit befassen. Mehr Informationen findest du auf marxismuss.de.

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© Bundesarchiv / Bild 183-2003-0703-500 / CC BY-NC / Wikimedia

können die Verfahren länger als ein Jahr dauern. Das Gesetz sieht ebenso vor, Geflüchteten kein Geld mehr zu geben. Statt der 143 Euro Taschengeld, die sie bisher erhalten, müssen die Behörden ab jetzt Naturalien oder Gutscheine verteilen. Der bürokratische Aufwand ist immens. Die ohnehin schon überlastete Verwaltung muss ab jetzt für Zehntausende Geflüchtete Dinge des täglichen Lebens wie Seife, Shampoo, Zahnpasta und Kleidung einkaufen, zum Flüchtlingslager transportieren, verteilen und ausrechnen, wie viel Geld ihnen dann noch zusteht. Das ist viel teurer und aufwändiger als bisher und die Menschen dürfen nicht mehr selbst entscheiden, was sie brauchen. Außerdem kann die Polizei Abschiebungen künftig ohne Ankündigung erzwingen. Die Geflüchteten werden dann von Polizisten zu Hause überfallen, festgenommen und mit Gewalt in ein Flugzeug gesetzt. Abschiebungen können künftig nicht mehr sechs Monate ausgesetzt werden, zum Beispiel wegen schwerer Krankheit, sondern nur noch drei. Die geplanten Maßnahmen werden die Integration von Geflüchteten massiv erschweren. Das Gesetz stellt die Weichen auf Ausgrenzung und Abwehr und ist mit der Achtung von Menschenrechten nicht vereinbar. ■

★ ★★ ZUM TEXT Eine längere Fassung dieses Artikel steht online auf http://marx21. de/asylrecht-das-bootist-nie-voll/

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Das neue »Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz« enthält keinerlei Maßnahmen zur Beschleunigung von Asylverfahren, beziehungsweise nur solche zur beschleunigten, pauschalen Ablehnung der Bewerberinnen und Bewerber. Stattdessen wird Geflüchteten das Leben noch schwerer gemacht. Die Einstufung von Albanien, Mazedonien und Kosovo als »sichere Herkunftsländer« wird von Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl als falsch angesehen. Amnesty International berichtet immer wieder von Folter und Misshandlungen in albanischen Gefängnissen. Roma werden dort massenhaft aus ihren Siedlungen vertrieben. Rudko Kawczynski vom »Rom und Cinti Union e.V.« kritisierte in der »taz«: »Es ist ein Anti-Roma-Gesetz«. Geflüchtete aus »sicheren Herkunftsstaaten« müssen künftig bis zum Ende ihres Asylverfahrens in Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben, in denen kein menschenwürdiges Leben möglich ist. Nach wie vor

© Wikimedia / CC BY-NC

gleich zu den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Statt den Geflüchteten demokratische Mitspracherechte einzuräumen, werden Flüchtlingsunterkünfte immer öfter von privaten Sicherheitsfirmen überwacht, die mit der Situation überfordert sind – erinnert sei hier an den Skandal im letzten Jahr, bei dem der Wachschutz in mehreren Asylunterkünften in Nordrhein-Westfalen Geflüchtete drangsaliert und gedemütigt hat. Erst wenn die Massenunterkünfte aufgelöst werden und alle Einwanderer eine menschenwürdige Wohnung bekommen, ist diese Gefahr gebannt.

Oben: Deutsche Kinder kommen im August 1948 mit einem Transport aus Polen in einem kleinen Ort in Westdeutschland an. Trotz der Zerstörungen durch den Krieg konnten Millionen Menschen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs aufgenommen werden. Unten: Vertriebene Sudetendeutsche auf der Flucht im Jahr 1945

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Die Maske des Konservatismus Die neue Führung der AfD um Frauke Petry hat den wirtschaftsliberalen Flügel aus der Partei gedrängt. Nun versucht sich die Partei als Sammelbecken der gesamten rechtsextremen Szene zu etablieren. Dabei setzt sie auf eine bewährte Strategie Von Volkhard Mosler ★ ★★

Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

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ans-Olaf Henkel ist aus der AfD ausgetreten. Nun bezeichnet der ehemalige stellvertretende Vorsitzende die Partei unter der neuen Führung von Frauke Petry als »NPD light«. Der Weg der AfD hin zu einer neuen Nazipartei sei »unaufhaltsam«. Auch der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bezeichnet die AfD als »offen rechtsradikale« Partei, welche die Sprache der NSDAP pflege. Dass die NPD in der Tradition von Hitlers Nazis steht, ist unbestritten. Doch gilt das wirklich auch für die AfD? Was unterscheidet überhaupt eine faschistische von einer rechtspopulistischen Partei? Jede politische Partei beruft sich auf bestimmte historische Traditionen, aus denen sie möglicherweise auch hervorgegangen ist. Der Faschismus in Deutschland ist untrennbar mit dem Nationalsozialismus der NSDAP und dem Namen Adolf Hitler verbunden – ein Dilemma, mit dem die Neugründungen faschistischer Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg umgehen mussten. Ein offenes Bekenntnis zur Nazitradition wäre politischer Selbstmord gewesen. Die Verbrechen von Auschwitz stehen ei-

nem solchen Vorhaben wie riesige Mahnmale im Weg. Insofern überrascht es wenig, dass die beiden erfolgreichsten faschistischen Parteien der Bundesrepublik schon im Namen ein Scheinbekenntnis zur Demokratie tragen: die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) und die Republikaner. Faschisten in Deutschland sind gezwungen, sich mit ihrer eigenen ideologischen Tradition auseinanderzusetzen, und das führt sie immer wieder in Konflikt mit ihrem vermeintlichen Bekenntnis zu Demokratie und Republik. Früher oder später werden in solchen Parteien Stimmen laut, die den Holocaust verharmlosen oder leugnen. Oder es melden sich diejenigen zu Wort, die endlich Schluss machen wollen mit der seit 1945 andauernden »Umerziehung des deutschen Volks« durch die Besatzungsmächte.

Nazis wollen die Schmuddelecke verlassen

Das Versteckspiel faschistischer Parteigründer hat in der Vergangenheit durchaus funktioniert: Immer wieder ging die Öffentlichkeit der Mimikry der Nazis auf den Leim. Als ein Jahr nach Kriegsende ehemalige Funktionäre der NSDAP die Deutsche Reichspartei (DRP) gründeten, gaben sie sich scheinbar »anti-


gen NPD waren auch die Republikaner unter ihrem ersten Vorsitzenden Franz Handlos, einem ehemaligen Bundestagsabgeordneten der CSU, eine Sammlung von nationalkonservativen und faschistischen Zirkeln. Letztere stammten aus der abgewirtschafteten NPD, Erstere vor allem aus der CSU und der CDU. Im Jahr 1985 kam es zur Spaltung der Republikaner. Handlos und ein Kreis ehemaliger enttäuschter CSU-Mitglieder zogen sich zurück. Franz Schönhuber, der sich 1981 in seinem Buch »Ich war dabei« öffentlich zu seiner SS-Vergangenheit bekannt hatte, übernahm mithilfe von ehemaligen NPD-Mitgliedern die Führung der Partei und bestimmte fortan deren Kurs. Er distanzierte sich zwar von den »Ewiggestrigen« der NPD, was ihn aber nicht daran hinderte, mit gestandenen Nazikadern aus der NPD in der neuen Partei zusammenzuarbeiten. Die Parallelen zur Entwicklung der AfD sind nicht zu übersehen. Die Spaltungen von DRP (1949), NPD (1967), Republikanern (1985) und AfD (Essener Parteitag, 2015) folgten einem einheitlichen Muster: Nazis suchten zunächst das Bündnis mit »seriösen« politischen Kräften aus dem nationalkonservativen Lager, um aus der Schmuddelecke herauszukommen. In den beiden letzten Fällen nutzten sie Rechtsabspaltungen der Union, um sich das Schild des respektablen

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Auch beim Kongress »MARX IS` MUSS 2016« werden wir uns mit der AfD auseinandersetzen. Beispielsweise wird ein Podium die Frage diskutieren, wie wir AfD, Pegida und Co. stoppen können. Mehr Informationen findest du auf marxismuss.de.

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faschistisch«. In ihrem Programm von 1946 hieß es: »Wir bekämpfen auf das Stärkste die nationalsozialistische Staats- und Weltanschauung (...) in der Erkenntnis, dass jede Form des Faschismus ihrem Wesen und Ursprung nach schlechthin undeutsch ist.« Auch die 1964 aus der DRP hervorgegangene NPD bekannte sich in ihrem ersten Parteiprogramm von 1967 offiziell zur parlamentarischen Demokratie. In einer internen Verordnung untersagte der Parteivorstand den Mitgliedern Äußerungen, die als antisemitisch interpretiert werden könnten. Damit hatte die NPD in der politischen Öffentlichkeit zunächst Erfolg. Selbst liberale Zeitungen wie »Die Zeit« bescheinigten ihr, keine Nachfolgepartei der NSDAP zu sein. Zugleich schlug die CSU unter Franz Josef Strauß gegenüber der NPD dieselbe Taktik ein wie Seehofer heute gegenüber der AfD: Er versuchte, sie rechts zu überholen. Als die NPD durch den Widerstand der Studentenbewegung, nach verschiedenen Wahlniederlagen Ende der 1960er Jahre und noch einmal Ende der 1970er Jahre nach antifaschistischen Kampagnen wie »Rock gegen rechts« in eine schwere Krise stürzte, spaltete sich ein Teil der Partei ab und gründete in den 1980er Jahren die Republikaner. Ähnlich wie beim Entstehen der NPD sollte eine »verbrauchte« faschistische Partei durch eine respektablere Neugründung ersetzt werden. Ähnlich wie bei der jun-

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len Kräften. CSU-Mann Seehofer argumentiert hier mitunter ähnlich wie die Sprecher des rechten Flügels der AfD. Aber Seehofer organisiert keine rassistischen Massendemonstrationen gegen Flüchtlingsunterkünfte. Außerdem will er die nächsten Wahlen

NationalKonservatismus umhängen zu können. Mit dieser Strategie gelang es den Republikanern im Jahr 1989, zwei beachtliche Wahlerfolge zu erzielen. Sowohl bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin als auch bei der Europawahl gewannen sie mehr als sieben Prozent der Stimmen. Erst im Anschluss konnten Aktivistinnen und Aktivisten eine erfolgreiche antifaschistische Gegenmobilisierung initiieren. Voraussetzung hierfür war eine jahrelange ge-

Der Faschismus hat kein für ihn typisches Programm

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duldige Aufklärung über den faschistischen Kern der Republikaner. Selbst das hinderte den Politikwissenschaftler Claus Leggewie und den SPD-Vordenker Peter Glotz nicht daran, die Partei vom Makel des Faschismus freizusprechen. Schon Anfang der 1930er Jahre waren die bürgerlichen Verharmloser den Legalitätsschwüren der Faschisten auf den Leim gegangen. Sie tun es bis heute. Der deutsche Faschismus nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt unweigerlich immer wieder zurück zum Nationalsozialismus: zu seiner Verteidigung, seiner Beschönigung, seiner Verherrlichung, mal offener, meist kryptisch-verdeckt, in Andeutungen. Allerdings hat der Faschismus – auch das zeigt seine Geschichte – kein für ihn typisches Programm. Jeder Versuch, ihn rein programmatisch zu fassen, muss daher scheitern. Seine Ideen wechseln von Land zu Land und von Epoche zu Epoche. Der einzige durchgehende rote Faden ist ein fanatischer Nationalismus, der seine Rechtfertigung aus der angeblichen Überlegenheit des eigenen Volkes oder der eigenen »Rasse« bezieht. Viel wichtiger jedoch als dieses oder jenes ideologische Moment ist – und das unterscheidet ihn von allen rechtskonservativen und reaktionären (»populistischen«) Parteien – seine Methode der Machtausübung. Der Faschismus zielt darauf, eine Massenbewegung aufzubauen, die stark genug ist, die Arbeiterbewegung, ihre Organisationen und die Institutionen der bürgerlichen Demokratie zu zerschlagen. Dabei stützt er sich wesentlich auf die von der Krise des Kapitalismus bedrohten Mittelschichten (heute »Wutbürger« genannt). Er bedient sich antikapitalistischer Parolen, sein Tatendrang entlädt sich aber gegen Minderheiten wie Juden, Muslime, Flüchtlinge, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung oder Homosexuelle. Naziparteien unterscheiden sich also nicht durch ihre rassistische Ideologie von anderen Parteien. Im Gegenteil: Diese teilen sie durchaus mit konservativen und sogar libera-

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Björn Höcke spricht bei einer AfDVeranstaltung im Oktober in München über das »Asylchaos«. Sein provozierender Auftritt in der ARDTalkshow »Günther Jauch« verhalf dem Vorsitzenden des Thüringer Landesverbands zu bundesweiter Bekanntheit und machte ihn zur Frontfigur des profaschistischen Flügels seiner Partei

gewinnen und weiter mithilfe der Parlamente in Bayern und Berlin herrschen, nicht diese zerschlagen. Weder die NPD noch die Republikaner oder gegenwärtig die AfD haben eigene Stoßtrupps für den Straßenkampf aufgebaut. Das gilt auch für den Front National in Frankreich oder die FPÖ in Österreich. Insofern unterscheiden sich diese Parteien vom »klassischen« Faschismus in Deutschland, Italien und Spanien unter Hitler, Mussolini und Franco. Aus diesem Grund haben liberale und linke Theoretiker in den vergangenen Jahrzehnten den Front National, die FPÖ oder aber auch die NPD als nichtfaschistische Parteien analysiert. Würde man dieser Sichtweise folgen, gäbe es in Europa zurzeit nur in Griechenland und in Ungarn faschistische Parteien (Goldene Morgenröte, Jobbik). Nur sie haben in


werter nationalkonservativer Vordenker – die AfD zu erobern. Prototypen dieser neuen »Führer« der AfD sind die Vorsitzenden der Landesverbände Thüringen und Nordrhein-Westfalen, Björn Höcke und Marcus Pretzell. Sie verlangen den Schießbefehl gegen Flüchtlinge an Europas Grenzen und sprechen von Flüchtlingen als »Kanaken«. Ihre Reden gleichen Aufrufen zu Morden, Brandanschlägen und fremdenfeindlichen Pogromen. Doch die Geschichte zeigt, dass die Fraktionsstreitigkeiten über die Zukunft der AfD keineswegs beendet sind. Als die Republikaner in den Jahren 1989 und 1990 auf eine breite antifaschistische Bewegung trafen und ihre Umfragewerte vorübergehend sanken, kündigte ihr Vorsitzender Schönhuber den Parteiausschluss von 300 ehemaligen NPD-Mitgliedern an. Deshalb ist es höchste Zeit, der AfD die nationalkonservative Maske abzureißen, sie als Partei zu entlarven, die sich auf dem Weg zu einer faschistischen Organisation befindet, und sie entsprechend zu bekämpfen. Der Transformationsprozess schreitet schneller voran, als es noch vor einem Jahr zu erwarten war. Das liegt nicht zuletzt daran, dass mit Pegida und den daraus folgenden rassistischen Massenmobilisierungen eine Bewegung entstand, die den profaschistischen Kräften in der AfD den Boden bereitete. Dementsprechend ist es auch kein Zufall, dass Höcke als Erster die Gelegenheit ergriff, es in Erfurt Pegida nachzumachen. Die rassistische Massenbewegung wirkt auf die internen Kräfteverhältnisse der AfD wie ein Brandbeschleuniger. Deshalb muss sie gestoppt werden. ■

Aufmarsch der AfD in der bayerischen Kleinstadt Freilassing am 17. Oktober 2015. Viele der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, passieren den Ort an der österreichischen Grenze. Mithilfe von Lügen über angebliche Vergewaltigungen durch Geflüchtete versucht die lokale AfD hier Ängste zu schüren

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Deswegen war auch nicht die NPD, sondern die AfD in der Lage, im Herbst dieses Jahres in Thüringen und Berlin zur politischen Speerspitze einer neuen Welle rassistischer Massendemonstrationen gegen Flüchtlinge zu werden. Vor über einem Jahr, im September 2014, analysierten wir in marx21 noch: »Die AfD ist (aber) keine faschistische Partei. Sie kann jedoch zum Sammelpunkt der Nazis werden.« Mit dem Sturz und anschließenden Rückzug des wirtschaftsliberalen Flügels um den früheren Parteivorsitzenden Bernd Lucke beim Essener Parteitag im Juli steht einer Kaperung der AfD durch faschistische Kader nichts mehr im Weg. Angeführt von Alexander Gauland hat sich der profaschistische Flügel in mehreren Landesverbänden durchsetzen können. Gauland stammt politisch aus der hessischen CDU. Unter der Führung von »Stahlhelmern« wie Alfred Dregger und Walter Wallmann hatte dieser Landesverband stets ein offenes Ohr für den völkisch-sudetendeutschen Witikobund und andere faschistische Kaderschmieden. In den 1980er Jahren arbeitete Gauland als Staatssekretär von Ministerpräsident Walter Wallmann. Damals scheiterte er mit dem Versuch, ein ehemaliges Mitglied des Witikobunds zum Ministerialrat für Kirchenfragen zu machen. Diese Affäre verarbeitete später der Schriftsteller Martin Walser in seinem Roman »Finks Kriege« (1996). Gauland verstand sich und versteht sich noch immer als Vermittler zwischen den »Stahlhelmern« in der CDU und den faschistischen »Eliten«. Die faschistische Rechte ist also gerade dabei, unter Gaulands Protektion – er gilt mit seiner über 40-jährigen CDU-Mitgliedschaft immer noch als ehren-

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der Tat SA-ähnliche Kampfgruppen aufgebaut. Aber mit einer solchen engen Auffassung des Faschismus würden wir es uns zu einfach machen. Republikaner und NPD besaßen zu ihren Hochzeiten einen handlungsfähigen Saalschutz, der aus Rücksicht auf die Öffentlichkeit und ein mögliches Parteiverbot nicht uniformiert auftrat. Zudem existieren neben diesen Parteien durchaus Stoßtrupps in Form der »freien Kameradschaften«. Diese sind zwar formell unabhängig, stehen aber oft als Schlägertrupps bei Demonstrationen und Massenveranstaltung bereit. Die FPÖ ist eng mit organisierten deutsch-nationalen Burschenschaften verzahnt, die sich auf der Straße behaupten wollen. Schließlich sind sich die führenden Vertreter der Nazis bewusst, dass eine zu frühe Offenlegung ihres gesamten »Programms« kontraproduktiv wäre im Sinne der »ursprünglichen Akkumulation« ihrer späteren Massenbewegung. Die Maske des Konservatismus ist in dieser Etappe unverzichtbar. Einzig die NPD hat in Deutschland diese Maske fallen lassen – mit entsprechenden Folgen, nämlich der weitgehenden politischen Isolation.

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Gespalten in den Untergang Schon einmal war die deutsche Linke mit einer rassistischen und reaktionären Massenbewegung konfrontiert: Am Ende der Weimarer Republik bekämpften sich ihre Parteien lieber gegenseitig als die immer stärker werdenden Nazis Von Marcel Bois

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Marcel Bois ist Historiker und Autor von »Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik« (Klartext 2014).

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eschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich. An diesen Ausspruch von Mark Twain muss ich in letzter Zeit immer wieder mal denken. Als Historiker beschäftige ich mich mit den 1920er und 1930er Jahren. Da bleibt es nicht aus, dass sich mir Vergleiche mit dieser Epoche aufdrängen, wenn ich das politische Tagesgeschehen verfolge. Keine Frage: Deutschland war damals eine noch sehr junge und fragile parlamentarische Demokratie. Die Geflüchteten waren keine Muslime aus Syrien, sondern Juden aus Galizien. Und die Weltwirtschaftskrise traf die Weimarer Republik Ende der 1920er Jahre ungleich härter als die heutige Krise die Berliner Republik. Und dennoch sind die Parallelen erschreckend: Es war damals ein gefährliches Gemisch aus Krise, Elend und Massenradikalisierung, das die Nazis an die Macht brachte und Europa schließlich in den zweiten großen Krieg binnen einer Generation stürzte, zur Verfolgung und Unterdrückung Millionen Andersdenkender führte und in den industriellen Massenmord an den europäischen Juden, den Holocaust, mündete.

Genau wie heute standen damals am Anfang der Entwicklung eine kleine rechte Partei und eine rassistische Massenbewegung auf der Straße. Auch hier ist klar: Frauke Petrys AfD hat bislang einen anderen Charakter als Adolf Hitlers NSDAP, es gibt deutliche Unterschiede zwischen der Pegida und der SA, der Sturmabteilung der Nazis. Trotzdem birgt die AfD das Potenzial, sich in eine faschistische Partei zu verwandeln. Deshalb müssen wir verhindern, dass sie weiteren Zulauf bekommt. Dazu lohnt es sich, die Strategien der damaligen Linken genauer zu betrachten. Denn auch wenn Geschichte sich nicht wiederholt: Lernen kann man aus ihr.

Die Wirtschaftskrise war der Nährboden der Nazis

Die NSDAP erlebte in den Jahren vor Hitlers Machtübernahme einen rasanten Aufstieg. Mitverantwortlich dafür war die Weltwirtschaftskrise: Die Auswirkungen des Börsenkrachs an der New Yorker Wall Street im Oktober 1929 waren in Deutschland besonders verheerend. Große und kleine Firmen gingen bankrott, erhebliche Teile des Mittelstands stürzten in Armut. Auch die Lebenssituation der Bauern verschlechterte sich, da die Preise für landwirtschaft-


rororganisationen der Nationalsozialisten wurden zum Auffangbecken für Arbeitslose. Hier fanden sie eine soziale Heimat, Kameradschaft und ein neues Machtgefühl. Der Rassismus und Antisemitismus der Nazis erlaubte es ihnen, sich über Menschen zu erheben, die angeblich noch unter ihnen standen: Juden, Ausländer, Homosexuelle. Zudem versprach die NSDAP eine radikale Alternative zum Weimarer Staat. Gerade »die jungen und die Dauer-Arbeitslosen« waren, so Klönne »von Verzweiflung und Ungeduld bestimmt; ihnen konnte man nicht mit einer ›langfristigen Perspektive‹ kommen, sondern sie wollten Arbeit und Brot, hier und jetzt.« Die NSDAP versprach Abhilfe für ihre Not in kürzester Frist. Auf diese Weise wuchs die SA binnen weniger Jahre auf 400.000 Mitglieder.

Anfang der 1930er Jahre: Einer von sechs Millionen Arbeitslosen in Deutschland sucht während der Weltwirtschaftskrise verzweifelt nach Anstellung TITELTHEMA KAMPF GEGEN RECHTS

Die Arbeitslosen und die Mittelschichten traf die Krise am härtesten. Aus diesen beiden Gruppen rekrutierte sich größtenteils die Anhängerschaft der Nationalsozialisten. Für die Mittelschichten, also vor allem Handwerker, Kleinunternehmerinnen, mittlere Beamte und Geschäftsinhaberinnen, war die Krise deshalb so schlimm, weil sie von zwei Seiten unter Druck standen. Sie »sahen oder fühlten sich gleichermaßen bedroht von der zunehmenden Konzentration des industriell-gewerblichen oder handelskapitalistischen Besitzes auf der einen, wie von den Ansprüchen der gut organisierten Industriearbeiterschaft auf der anderen Seite«, schrieb der Soziologe Arno Klönne. Die sowohl gegen das Großkapital als auch gegen die organisierte Arbeiterschaft gerichtete Demagogie der Nationalsozialisten fiel hier auf fruchtbaren Boden. Die Situation der Arbeitslosen war noch verzweifelter: Da alle sozialen Sicherungssysteme zusammengebrochen waren, bedeutete arbeitslos zu sein oft, den Kampf ums schiere Überleben führen zu müssen. Gleichzeitig gab es angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen kaum Hoffnung, bald wieder in Lohn und Brot zu stehen. Die SA und andere Ter-

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liche Produkte sanken. Die Zahl der Arbeitslosen wuchs bis Anfang 1933 auf etwa sechs Millionen. Im März 1930 trat mit der Großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Kanzler Hermann Müller die letzte demokratisch legitimierte Regierung zurück. Wenige Tage später ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg das erste Präsidialkabinett, eine Regierung, die über keine parlamentarische Mehrheit verfügte. Der neue Kanzler Heinrich Brüning regierte mit Hilfe von Notverordnungen, mit denen er die Gesetzgebungstätigkeit des Parlaments umgehen konnte. Er und sein Nachfolger Franz von Papen zerschlugen große Teile des Sozialstaats. Sie halbierten das Arbeitslosengeld und beschränkten dessen Bezugsdauer auf sechs Wochen. Die Fürsorge bezahlte nur noch die Miete und eine warme Suppe aus der Notküche. Auch die Renten und Pensionen wurden gekürzt, die Verbrauchssteuern und Zölle auf Lebensmitteleinfuhren jedoch erhöht. In den Städten herrschte Hunger. Zugleich bliesen die Unternehmer zum Generalangriff auf diejenigen, die noch Arbeit hatten. Sie kündigten Tarifverträge, kürzten Löhne und schafften den Achtstundentag ab. Die Regierung beförderte diese Entwicklung im Jahr 1932 durch die faktische Abschaffung der Tarifautonomie und des Streikrechts. Ziel der Kürzungen war es, deutsche Produkte auf dem Weltmarkt günstiger verkaufen zu können und so die Wirtschaft anzukurbeln. Doch da alle Industriestaaten die gleiche Politik betrieben, kam es zu keinem Aufschwung. Lediglich die Armut stieg immer weiter.

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Aber mit der Wirtschaftskrise erstarkte nicht nur die extreme Rechte. Vielmehr bewirkte sie eine politische Polarisierung: Auch die Linke gewann an Bedeutung. So bescherte die erste Wahl nach Beginn der Krise der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) einen Stimmenzugewinn von 1,3 Millionen. Von 1928 bis 1932 wuchs die Zahl der KPD-Mitglieder von 100.000 auf eine Viertelmillion. Wie stark die

Der Widerstand braucht eine Einheitsfront Linke noch kurz vor dem Sieg der NSDAP war, zeigt sich auch daran, dass bei den letzten freien Wahlen im November 1932 die beiden Parteien der Arbeiterklasse, SPD und KPD, zusammen mehr Stimmen als die Nationalsozialisten erhielten. Unter den deutschen Unternehmern herrschte Angst vor einem Erstarken der Arbeiterbewegung. Sie befürchteten eine Wiederholung der Ereignisse von 1918, als eine Massenbewegung der Arbeiter und Soldaten den Kaiser gestürzt und Deutschlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg beendet hatte. Dagegen versprachen die Nazis, die Interessen der Wirtschaft mit aller Gewalt durchzusetzen. Bei einer Spendensammlung für die NSDAP unter Industriellen zeigte der SS-Führer Rudolf Hess Fotos von großen Demonstrationen mit roten Flaggen. »Hier, meine Herren, haben sie die Kräfte der Zerstörung, die eine gefährliche Bedrohung für ihre Büros, ihre Fabriken, all ihren Besitz darstellen«, so Hess. »Auf der anderen Seite formieren sich die Kräfte der Ordnung; mit einem fanatischen Willen, den Geist des Aufruhrs auszurotten.« Auf diesen Bildern sahen die Wirtschaftsbosse marschierende SS- und SAMänner. »Jeder der kann, muss etwas geben, damit er nicht alles verliert, was er hat«, forderte Hess. Ein ehemaliger hochrangiger Nationalsozialist beschrieb diese Szene in seinen Memoiren: »Zwar waren keineswegs alle Kapitalisten hellauf von den Nazis begeistert. Ihre Skepsis war aber nur relativ. Sie endete, je mehr klar wurde, dass nur Hitler in der Lage war, die Arbeiterbewegung restlos zu zerschlagen.« Die Führung der SPD ahnte, welche Gefahr von der NSDAP ausging. Dennoch war sie nicht in der Lage, diese angemessen zu bekämpfen. In der zweifelhaften Hoffnung, den Nationalsozialisten den Weg an die Macht auf legalem Wege zu versperren und die Weimarer Demokratie am Leben zu erhalten, verfolgte die Partei eine Politik des »kleineren Übels«: Sie unterstützte die Kandidatur des erzkonservativen Hindenburg bei der Reichspräsidentenwahl 1932 und tolerierte das autoritäre Prä-

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sidialkabinett der Kanzlers Heinrich Brüning sowie dessen Politik des Sozialabbaus. So duldete sie viele Maßnahmen, die ihrem politischen Programm und den Interessen ihrer Anhängerschaft zuwiderliefen. Im Jahr 1932 zeigte sich die Schwäche der sozialdemokratischen Strategie besonders deutlich. Bis zu diesem Zeitpunkt stellte die SPD die Regierung von Preußen, des größten Lands im Deutschen Reich. Am 20. Juli setzte Kanzler Franz von Papen diese Regierung kurzerhand ab. Genau für einen solchen Fall hatte die SPD bereits 1931 die Eiserne Front – eine bewaffnete Arbeitermiliz – gegründet. Aber nun verzichtete die Parteiführung darauf, zum Widerstand aufzurufen. Stattdessen mahnte sie zu Ruhe und Zurückhaltung. Auch die Gewerkschaften hielten sich zurück. Viele Gewerkschaftsführer waren SPD-Mitglieder. Sie unterstützten die »Politik des kleineren Übels« und glaubten ebenfalls, die Nationalsozialisten auf verfassungsmäßigem Wege aufhalten zu können. Dementsprechend riefen sie nicht zum Generalstreik gegen den Staatsstreich in Preußen auf. Der spätere NS-Propagandaminister Joseph Goebbels erkannte hingegen sehr genau die Bedeutung der Ereignisse des 20. Juli. Einen Tag später notierte er in seinem Tagebuch: »Die Roten sind besiegt. Ihre Organisationen leisten keinen Widerstand. (...) Die Roten haben ihre große Stunde verpasst. Die kommt nie wieder.« Tatsächlich wendeten sich bei der Reichstagswahl am 31. Juli eine halbe Million Wählerinnen und Wähler enttäuscht von der SPD ab. Die einzige Arbeiterorganisation, die auf außerparlamentarischen Widerstand gegen die Nazis setzte und gleichzeitig in Opposition zu dem Sozialabbau der Regierung stand, war die Kommunistische Partei. Aber auch sie versagte. Sie war nicht in der Lage, eine klare Analyse des Phänomens Faschismus zu liefern, obwohl sie den italienischen Faschismus unter Benito Mussolini bereits vor Augen hatte. Daher verkannte sie die Gefahr, die von den Nazis für die deutsche Arbeiterbewegung ausging. Geradezu inflationär verwendete das Zentralkomitee der Partei den Begriff »Faschismus«. Seiner Meinung nach war er in Gestalt der von Reichspräsident Hindenburg eingesetzten Präsidialkabinette bereits seit 1930 an der Macht. Überhaupt bezeichnete die KPD-Führung alle anderen Parteien als »faschistisch«: »Kampf gegen den Faschismus heißt Kampf gegen die SPD, genauso wie es Kampf gegen Hitler und die Brüningparteien heißt.« Ihre Haltung zum Nationalsozialismus übernahm die KPD aus Moskau, wo die Parole vom »Sozialfaschismus« ausgegeben worden war. Demnach waren Faschismus und Sozialdemokratie »keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder«, wie Stalin einst schrieb. In der tiefen Krise der Weltwirtschaft sei die Sozialdemokratie der »Hauptfeind«, da sie die Ar-


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rik führte sie sogar zur zeitweiligen Kooperation mit den Ultrarechten. So unterstützte sie 1931 einen von Nationalsozialisten und Deutschnationalen initiierten Volksentscheid gegen die sozialdemokratisch geführte preußische Landesregierung. In der kommunistischen Bewegung bildete sich eine Opposition, die diese Haltung scharf kritisierte. Als Theoretiker sind hier vor allem Leo Trotzki und August Thalheimer hervorzuheben. Thalheimer gehörte zu den Gründern der »rechtsoppositionellen« KPO (Kommunistische Partei Deutschlands-Opposition), die sich im Jahr 1929 von der KPD abspaltete. Trotzki war einer der führenden Köpfe der Russischen Revolution von 1917, unterlag aber später in den Fraktionsauseinandersetzungen mit Stalin und führte nun die internationale Linke Opposition an. Zu dieser Zeit lebte er bereits auf der türkischen Insel Prinkipo im Exil. Er beschäftigte sich sehr intensiv mit dem Aufstieg von Hitlers Partei und kritisierte die Positionen der KPD zum Faschismus. Der Aufschwung des Faschismus könne nur durch »einen umfassenden und planmäßigen Generalangriff« der Arbeiterklasse verhindert werden, betonte Thalheimers Partei. Notwendig sei eine Politik der Einheitsfront. Auch Trotzki war dieser Ansicht, schließlich seien beide Arbeiterparteien gleichermaßen von den Nationalsozialisten bedroht. Deshalb sei die Sozialfaschismusthese falsch. Solange die KPD nicht zur Einheitsfront bereit sei, könnte sie auch nicht die Anhänger der SPD erreichen: »Eine solche Position – bloßes Geschrei und steriler Linksradikalismus – versperrt der Kommunistischen Partei von vornherein den Weg zu den sozialdemokratischen Arbei-

Ein SA-Aufmarsch im Jahr 1932 in Hessen. Die Nationalsozialisten stehen kurz vor der Machtübernahme

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beiterklasse vom Kampf gegen den Kapitalismus abhalte. Dementsprechend lehnte die deutsche Parteiführung jegliche Zusammenarbeit mit der SPD ab – auch gegen die Nationalsozialisten: »Die Sozialfaschisten wissen, dass es für uns mit ihnen kein gemeinsames Zusammengehen gibt. Mit der Panzerkreuzerpartei, mit den Polizeisozialisten, mit den Wegbereitern des Faschismus kann es für uns nur Kampf bis zur Vernichtung geben.« Bei einem Großteil der Mitglieder fielen solche verbalradikalen Phrasen auf fruchtbaren Boden, denn die KPD wurde immer mehr zur Partei der Arbeitslosen. Im Herbst betrug der Anteil lohnabhängig Beschäftigter an der Gesamtmitgliederschaft nur noch elf Prozent. Immer weniger Kommunistinnen und Kommunisten arbeiteten also gemeinsam mit SPDAnhängern in den Betrieben. Stattdessen sahen sie lediglich die Folgen der »Politik des kleineren Übels« oder mussten erleben, wie auf Befehl des sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Karl Friedrich Zörgiebel am 1. Mai 1929, dem Berliner »Blutmai«, eine Arbeiterdemonstration niedergeknüppelt wurde. Hinzu kam, dass auch die SPD-Führung keinerlei Bereitschaft zeigte, gemeinsame Sache mit den Kommunisten gegen die Nazis zu machen. Vielmehr war deren Politik von einem starken Antikommunismus geprägt, teilweise setzte sie KPD und Nazis gleich. So erklärte der Parteivorsitzende Otto Wels im Sommer 1931 beim Leipziger Parteitag: »Bolschewismus und Faschismus sind Brüder.« Trotzdem konnte die KPD denjenigen, die von Sozialabbau betroffen waren, keine Alternative zur Politik der Sozialdemokratie anbieten. Im Gegenteil: Ihre hauptsächlich gegen die SPD gerichtete Rheto-

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tern.« Das Einheitsfrontangebot dürfe sich nicht nur an die Parteibasis, sondern müsse sich auch an die Führungsebene der SPD wenden. Eine reine Einheitsfront »von unten« könne keinen Erfolg haben, prophezeite Trotzki. Die überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiterinnen und Arbeiter wolle zwar gegen den Faschismus kämpfen – aber selbstverständlich zusammen mit ihrer Parteiführung. Wichtig sei zunächst, die größtmögliche

Das Rollbergviertel in Berlin-Neukölln nach dem Blutmai 1929. Mit massiver Polizeigewalt wurden die Arbeiterproteste auseinander geschlagen - es gab 33 Tote und fast 200 Verletzte

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Aktionseinheit innerhalb der Arbeiterklasse herzustellen. In der gemeinsamen Aktivität könnten die Kommunistinnen und Kommunisten dann beweisen, dass sie am konsequentesten den Faschismus bekämpfen: »Wir müssen den sozialdemokratischen Arbeitern helfen, in der Praxis (…) zu überprüfen, was ihre Organisationen und Führer wert sind, wenn es um Leben und Tod der Arbeiterklasse geht.« Die Einheitsfront müsse vor allem in der Aktion stattfinden, nicht durch gemeinsames Vorgehen im Parlament. Das Bündnis dürfe nur um einen zentralen Punkt herum – in diesem Fall den Kampf gegen den Faschismus – aufgebaut werden. Dabei müsse die Kommunistische Partei ihre politische und organisatorische Eigenständigkeit behalten. Die Losung laute: »Getrennt marschieren, vereint schlagen! Sich nur darüber verständigen, wie zu schlagen, wen zu schlagen und wann zu schlagen! (…) Unter einer Bedingung: man darf sich nicht die eigenen Hände binden!« Trotzkis und Thalheimers Einheitsfrontforderungen trafen eine weit verbreitete Stimmung unter Arbeiterinnen, Arbeitern und Intellektuellen. Angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung war der Wunsch nach Einheit groß. So richteten im Vorfeld der Reichstagswahl 1932 dreiunddreißig bekannte Persönlichkeiten einen »dringenden Appell« an SPD und KPD, »endlich einen Schritt zu tun zum Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront, die nicht nur für

die parlamentarische, sondern auch für die weitere Abwehr notwendig sein wird.« Unterzeichnet war das Papier unter anderem von Albert Einstein, Erich Kästner, Käthe Kollwitz und Heinrich Mann. Tatsächlich bildeten Kommunisten und Sozialdemokraten vielerorts lokale Antifa-Bündnisse. Diese breiteten sich zwar nicht flächendeckend aus und das Zustandekommen gemeinsamer Aktivitäten war auch stark von regionalen Gegebenheiten abhängig, aber es handelte sich durchaus um ein Massenphänomen. Dennoch kam es zu keinem reichsweiten Bündnis. Zu groß war die gegenseitige Ablehnung der beiden Parteiführungen. Zudem war die Kommunistische Partei mittlerweile nahezu vollständig auf den Kurs Stalins eingeschwenkt. Alle oppositionellen Gruppen waren bereits aus Partei verdrängt oder ausgeschlossen und die wichtigen Funktionärsposten mit Personen besetzt, welche die Linie der stalinisierten Kommunistischen Internationale vertraten. Selbst wenn es Unmut an der Basis gab, bestimmten sie letztendlich die Politik der KPD. Und die lautete: Sozialfaschismusthese bis zum Untergang. Als Reichspräsident Hindenburg Hitler schließlich am 30. Januar 1933 zum Kanzler ernannte, waren Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter kampfbereit. Proteste überzogen das Land, Delegierte aus Fabriken trafen sich in Berlin, um die Kampfaufrufe der SPD-Führung entgegenzunehmen. Diese argumentierte aber erneut für Zurückhaltung. Auch der stellvertretende Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds sagte: »Wir wollen uns den Generalstreik als äußerste Eventualität aufheben.« Theodor Leipart, der Vorsitzende des Gewerkschaftsbunds, fügte hinzu: »Es bedarf keiner Hervorhebung, dass die Gewerkschaften zu dieser Regierung in Opposition stehen. Das kann und wird sie aber nicht daran hindern, die Interessen der Arbeiterschaft auch gegenüber dieser Regierung zu vertreten (...). Organisation, nicht Demonstration: das ist die Parole der Stunde.« Einzig die KPD rief an diesem Tag zum Generalstreik auf und forderte nun auch die anderen Arbeiterorganisationen zu einer Einheitsfront »gegen die faschistische Diktatur der Hitler-Hugenberg-Papen« auf. Doch nur in einigen kleineren Orten wie Lübeck kam es zu solchen Bündnissen. Insgesamt konnten die Kommunisten an diesem Tag nur wenig Einfluss auf die organisierte Arbeiterbewegung nehmen. Zu sehr hatten sie sich in den Jahren zuvor mit ihrer Politik isoliert. Danach war es zu spät: Binnen weniger Monate zerschlug die Regierung Hitler die stärkste Arbeiterbewegung der Welt. KPD, SPD und Gewerkschaften wurden verboten und ihre Mitglieder fanden sich nun Seit an Seit in den ersten Konzentrationslagern des neuen Regimes wieder. ■


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Aus der linken Ecke ausgebrochen Als Reaktion auf wachsenden Rassismus und den Aufstieg von Naziparteien gründeten britische Musikerinnen und Musiker in den 1970er Jahren Rock Against Racism. Und plötzlich war es cool, gegen Nazis zu kämpfen Von Phil Butland und Rosemarie Nünning die Parole der faschistischen Partei National Front (NF), dass Großbritannien »weiß bleiben« müsse. Später behauptet Clapton, er sei bei dem Auftritt betrunken gewesen, distanziert sich aber nicht von seinen Äußerungen. Im selben Jahr soll David Bowie auf dem Londoner Bahnhof Victoria den Hitlergruß gezeigt haben. In einem Interview mit dem »Playboy« schwadroniert der Musiker: »Ich glaube, Großbritannien täte ein faschistischer Führer gut. Adolf Hitler war einer der ersten Rockstars.« Unterdessen verzeichnet die NF große Wahlerfolge: fast zwanzig Prozent der Stimmen in Leicester und 5,7 Prozent bei den Londoner Kommunalwahlen. In Blackburn erhalten zwei Naziorganisationen 38 Prozent der Stimmen. Der Wahlerfolg der NF wird von rassistischen Angriffen begleitet. Am 4. Juni 1976 ermorden Rassisten in London den 18-jährigen Gurdip Singh Chaggar. John Kingsley Read von der NF merkte dazu an: »Einen haben wir erwischt, jetzt sind es noch eine Million.« Angesichts dieser Stimmung waren Claptons und Bowies Äußerungen hochgefährlich. Der Fotograf Red Saunders verfasste zusammen mit Gleichgesinnten einen offenen Brief an Clapton: »Komm schon Eric, gib es zu: Die Hälfte deiner Musik ist schwarz. Du bist der größte Kolonialist der Rockmusik. Wir wollen eine Bewegung gegen die rassistische Giftmusik ins Leben rufen (…) wir fordern Unterstützung für Rock gegen Rassismus. P. S. Wer erschoss den Sheriff, Eric? Du warst es todsicher nicht!«

David Bowie meinte, Hitler sei einer der ersten Rockstars

Am 5. August 1976 steht in Birmingham aber zunächst ein Kulturereignis an: Eric Clapton gibt ein Konzert. Der ehemalige Gitarrist von bekannten Bands wie The Yardbirds und Cream hat soeben eine Coverversion von Bob Marleys »I Shot the Sheriff« herausgebracht. Eine hervorragende Gelegenheit, schwarze Musik in dieser Multikultistadt zu feiern. Clapton betritt die Bühne. Er sagt, das Land werde von Schwarzen überrannt und Powell solle Ministerpräsident werden, damit England nicht zu einer »schwarzen Kolonie« werde. »Wir sollten die Ausländer rausschmeißen, die Kanaken, die Neger!« Er ruft

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Phil Butland ist aktiv in der LINKEN in Berlin und Mitbegründer der Landesarbeitsgemeinschaft Internationales. In den 1990er Jahren organisierte er Konzerte für eine lokale Gruppe der Anti-Nazi-League in Großbritannien.

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Rosemarie Nünning ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Kreuzberg und aktiv in den Bündnissen für sexuelle Selbstbestimmung und gegen die AfD.

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irmingham 1976: Die zweitgrößte Stadt Großbritanniens hat einen relativ hohen Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund. Rassistische Vorfälle sind nicht selten. Im Jahr 1964 führte Peter Griffiths von der Konservativen Partei im Stadtteil Smethwick Wahlkampf mit der Parole: »Willst du einen Neger zum Nachbarn, wähle Labour!« Während seine Partei landesweit große Verluste erlitt, gewann Griffiths deutlich vor dem LabourKandidaten. Vier Jahre später trat Enoch Powell, Parlamentsabgeordneter der Tories, in Birmingham auf. Er beschwor »Ströme von Blut« herauf, wenn Schwarze weiterhin unkontrolliert einwanderten. Im Jahr 1976 sitzt Powell immer noch im Parlament, jetzt für eine ultrareaktionäre nordirische Partei.

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Der Brief wird in mehreren Zeitungen und Musikzeitschriften veröffentlicht und Rock Against Racism (RAR) ins Leben gerufen. Drei Monate später findet das erste RAR-Konzert mit der Sängerin Carol Grimes in Ostlondon statt, wo die NF besonders aktiv ist.

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Saunders und Co haben Glück, dass sie ihre Kampfansage gerade 1976 machen, dem Geburtsjahr des

Protestzug der AntiNazi League auf dem Londoner Trafalgar Square am 30. April 1978. Die Demonstration und das anschließende Rock-AgainstRacism-Konzert im Victoria Park stellen die Höhepunkte der Bewegung dar

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Punk. Zum silbernen Thronjubiläum der Queen im Jahr 1977 steht »God Save the Queen« von den Sex Pistols auf Platz zwei der Charts. In dem Song bezeichnet die Band Großbritannien als »faschistisches Regime«. Mit seiner »Drei-Akkorde-Musik« war Punk etwas, das Jugendliche aus der Arbeiterklasse selbst machen konnten. Punk war aber auch eine politische Reaktion. Im Jahr 1974 wurde eine Labour-Regierung gewählt, die versprach, »die Reichen wie eine Zitrone auszupressen«. Zwei Jahre später verfolgte sie eine rigide Sparpolitik und bereitete damit Margaret Thatcher den Boden. Die Regierung griff Gewerkschaften an und die Arbeitslosigkeit stieg. Die Enttäuschung über Labour führte den Punk allerdings nicht automatisch nach links. Sid Vicious und Siouxsie Sioux trugen regelmäßig T-Shirts mit Hakenkreuzen, um zu schockieren. In »Anarchy in the UK« lautete die Botschaft der Sex Pistols: »Saufen! Zerstören!« Andere Punks sangen über Langeweile und Zukunftslosigkeit. Rock Against Racism impfte dem Punk Hoffnung ein, wie Roger Huddle, einer der Organisatoren, später sagte: »Ohne RAR wäre Punk nur Nihilismus gewesen.« Die RAR-Konzerte brachten Musiker verschiedener Herkunft zusammen. Frauen waren als führende Musikerinnen beteiligt. Einer der aktivsten Musiker bei RAR war Tom Robinson, der mit »Glad to be Gay« die Rechte von Homosexuellen auf die Ta-

gesordnung setzte. Rock Against Racism sollte dem Rassismus auf kultureller Ebene etwas entgegensetzen. »Wir wollen rebellische Musik, Straßenmusik, Musik, die den Leuten die Angst voreinander nimmt. (…) Musik, die den wirklichen Feind benennt. Rock gegen Rassismus«, hieß es in der ersten Ausgabe des eigens gegründeten Musikmagazins, in dem es auch Tipps für politischen Aktivismus gab. Mit RAR wurde es cool, antirassistisch zu sein und sich mit Aufklebern, Buttons und Plakaten dazu zu bekennen. Noch aus den entlegensten Orten riefen Leute an und fragten, wie sie Mitglied werden konnten. Die große Wirkung von RAR wäre aber ohne die Gründung der Anti-Nazi League (ANL) im August 1977 kaum denkbar gewesen. Die ANL entstand aus der »Schlacht von Lewisham«, einem Nordlondoner Stadtbezirk mit einem hohen Anteil schwarzer Einwohner, in dem Nazis regelmäßig aufmarschierten. Mitgliedern der Socialist Workers Party (SWP) gelang es zusammen mit Jugendlichen aus dem Viertel, alten Antifaschistinnen und Gewerkschaftern, durch Polizeiketten zu brechen und den Marsch der Nazis zu sprengen. Das war ein Bruch mit der üblichen Strategie der Linken, einer direkten Konfrontation aus dem Weg zu gehen und vom Staat das Verbot von Naziaufmärschen zu fordern, oder Gegendemonstrationen zwar zur selben Uhrzeit, aber an einem anderen Ort zu organisieren. Die ANL wies auf die Bedeutung der Naziaufmärsche für den Aufbau einer terroristischen Straßenbewegung hin, die eine Gefahr für Migranten, Gewerkschafterinnen, Linke, Homosexuelle und religiöse Minderheiten darstellt. Dem »kleinen armseligen Menschen die stolze Überzeugung« einbrennen, »als kleiner Wurm dennoch Glied eines großen Drachens zu sein«, nannte es Hitlers Propagandaminister Goebbels. Die ANL machte auch klar, dass es bei dem organisierten Zusammenstoß mit Naziaufmärschen nicht um Schlachten einer kämpferischen Avantgarde gehen konnte, sondern dass eine Massenbewegung aufgebaut werden musste. Sie bestand darauf, in den Mittelpunkt den Kampf gegen die organisierten Faschisten zu stellen und nicht allgemein gegen Rassismus. Auf diese Weise war es möglich, Leute mit einzubeziehen, die vielleicht rassistische Vorurteile hegten, aber Bündnispartner im Kampf gegen Nazis waren. Das galt auch für den Umgang mit LabourWählerinnen und -Mitgliedern, welche die ANL trotz der Rolle der Labour-Regierung mit ansprach. Deswegen war die ANL immer eine breite Organisation. Zu ihren Mitgliedern gehörten Fußballtrainer Brian Clough, Boxer Henry Cooper und Abgeordnete wie Neil Kinnock, später Chef der Labour Party. Gleichzeitig arbeitete die ANL eng mit RAR zusammen. Presse und Politiker versuchten, die ANL als linke Hooligans darzustellen, nicht besser als die Nazis. Diese Hetze verfing aber bei vielen nicht,


zum Beispiel »Kick it like Beckham« gedreht hat. In den 1970er Jahren war sie Schülerin und wohnte über dem Londoner Laden ihrer Eltern. Die Familie musste jederzeit fürchten, dass ein rassistischer Schläger den Laden betreten könnte. Gurinder schlich sich im Jahr 1978 auf ein RAR-Konzert und sah einen Park voller Leute. In diesem Moment erkannte sie, dass sich »in Großbritannien etwas für immer verändert hatte. Vor Rock Against Racism war es offenbar okay, Rassist zu sein. Aber RAR machte plötzlich die Vielen sichtbar, die gegen Rassismus waren und ein anderes Großbritannien wollten.« Rock Against Racism und die Anti-Nazi League wurden zum Vorbild für die Initiative Rock gegen rechts in Westdeutschland, die seit dem Jahr 1979 erfolgreich gegen die NPD vorging. Angesichts der verstörenden Straßenaufmärsche organisierter Nazis und Rassisten in den vergangenen Monaten, ihrer Angriffe auf Flüchtlinge und des Rechtsrutsches bei den bürgerlichen Parteien gibt es für uns viel von Rock Against Racism und der AntiNazi League zu lernen. Die Linke muss eine große Antinazibewegung auf die Beine stellen, die es sich zur Aufgabe macht, die Faschisten zu stoppen. Damit sollte auch eine kulturelle Bewegung verbunden werden, die alle sichtbar macht, die meinen, dass es nicht okay ist, Rassist zu sein. ■

Poster der Anti-Nazi League für das legendäre Konzert im Victoria Park 1978. Es spielten unter anderem The Clash, Patrick Fitzgerald, X-RaySpex,Tom Robinson Band und Steel Pulse

TITELTHEMA KAMPF GEGEN RECHTS

RAR und die ANL konnten bedeutsame Erfolge verbuchen: Bei der Parlamentswahl im Jahr 1979 kandidierte die National Front nur in der Hälfte aller Wahlbezirke und bekam 0,6 Prozent der Stimmen. Bei einer Gerichtsverhandlung behauptete der NFFührer Martin Webster, dass er vor 1977 auf dem Weg zum Amt des Ministerpräsidenten gewesen sei. Dann sei plötzlich die ANL überall aufgetaucht und habe es der NF unmöglich gemacht, ihre Mitglieder auf die Straße zu bringen. Webster gab zu, dass die ANL (zusammen mit RAR) hauptverantwortlich für ihre Niederlage war. Im Jahr 1981 organisierte RAR ein letztes großes Festival. Fünf Jahre lang hatten sie Konzerte und Festivals mit Punkbands wie The Clash, Reggaemusikern wie Steel Pulse, neuen Ska-Musik-Gruppen wie The Specials und alten Rockern wie Alex Harvey veranstaltet. Diese Musiker – und ihre Fans – haben einen entscheidenden Beitrag zur Zurückdrängung der organisierten Nazis geleistet. Später haben Andere Musik und Politik miteinander verbunden. Manche Beitrage verdienen Anerkennung – die Unterstützung von Rage Against The Machine für die antikapitalistischen Proteste von Seattle zum Beispiel, oder Steven Van Zandts Artists Against Apartheid. Seit dem Jahr 2002 gibt es die Initiative »Love Music Hate Racism«, die sich in die Tradition von RAR stellt und Konzerte gegen rechts organisiert. Bei anderen war das Ergebnis eher zweifelhaft. So boten Live Aid und Live 8 für die verhungernde Bevölkerung in Afrika dem Steuersünder Bono die Plattform, um öffentlich George W. Bush in den USA und Tony Blair in Großbritannien zu loben, die mit ihrer Politik für diese Katastrophen verantwortlich waren. Das letzte Wort über RAR gebührt Gurinder Chadha. Heute ist sie eine erfolgreiche Filmregisseurin, die

© Curmo / flickr.com

weil ihr Lieblingsfußballer oder Lieblingsmusiker auch ANL-Mitglied war. Für die ANL war es wichtig, über die linke Szene hinaus auszugreifen und Musiker zu gewinnen, deren Fangemeinde problematisch war. Dazu gehörte zum Beispiel Jimmy Pursey von Sham 69 – eine Band aus der Arbeitsklasse, die unerwünschten Zuspruch von manchen Nazigruppen erhielten. Vor dem RAR-Karneval in Ostlondon im Jahr 1978 bekam Sham 69 Morddrohungen und sagte die Teilnahme ab. Pursey blieb dabei, sang mit der Reggaegruppe Aswad und hielt eine inspirierende Rede gegen Rassismus. Diese Zusammenarbeit von weißen und schwarzen Musikern war eine Strategie von RAR. Bei jedem Konzert war der Hauptakt eine schwarze Reggaegruppe, auch wenn berühmtere Punkbands vorher spielten. Bob Marley lebte damals in London und sang über eine »Punky Reggae Party«. The Clash spielte die Reaggaetitel »Police and Thieves« und »Armagideon Time«.

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WELTWEITER WIDERSTAND

Taiwan Am 31. Oktober zieht die jährliche LGBT-Parade unter dem Motto: »Gegen Altersdiskriminierung – Raus aus dem Kleiderschrank, für mehr Selbstbestimmung« durch Taipeh. Der Kleiderschrank steht für die Unterdrückung von nicht-heteronormativen Sexualitäten und die daraus resultierende Selbstverneinung. Mit geschätzten 78.000 Teilnehmern ist die Parade die größte, die je in Asien veranstaltet wurde. Parteien, soziale Organisationen und vor allem junge Aktivistinnen und Aktivisten fordern selbstbestimmte Sexualität und die Inklusion von homosexuellen Menschen mit Behinderung. Außerdem machen sie auf die Stigmatisierung von Sexualität im Alter aufmerksam. Mit kreativen Verkleidungen und bunten Regenbogenfahnen setzen die Demonstrierenden ein starkes Zeichen für mehr Vielfalt. 44


Spanien

Anerkennung statt Almosen In Barcelona haben Straßenhändler eine Gewerkschaft gegründet. Sie kämpfen für die Legalisierung ihrer Arbeit, gegen Rassismus und Polizeigewalt Von Mela Theurer flikte zwischen Polizei und Straßenhändlern von der Migrantenvereinigung »Espacio del Inmigrante« (Raum der Immigranten). Mehr als hundert Gruppen aus sozialen Bewegungen sind mit der Volksgewerkschaft assoziiert. Unter großer medialer Beachtung präsentierte diese ihre Sprecherinnen und Sprecher. Sie gehören alle der senegalesischen Community an. »Die Tür ist aber für alle Nationalitäten offen«, betont Diop, »schließlich sitzen wir alle im selben Boot«. Neben der Forderung nach einer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für die Händler schlägt die Gewerkschaft die Vergabe von Verkaufslizenzen vor. »Raus aus der Illegalität!«, lautet das Motto. »Ich bin wie die meisten von uns nicht hierhergekommen, um auf der Straße zu verkaufen. Doch ohne Papiere gibt es keine Aufenthalts- und keine Arbeitserlaubnis«, beklagt Diop. Die Gewerkschaft setzt zudem auf Aus- und Weiterbildung und hofft auf die Unterstützung des Rathauses. »Wir haben fast alle eine Ausbildung. Könnten wir in unseren Berufen als Handwerker oder Mechaniker arbeiten, würde sich das Thema der Straßenverkäufer von selbst lösen«, ist Diop überzeugt. »Doch solange wir hier stehen müssen, wollen wir anerkannt sein, und dafür kämpfen wir.« Er ist optimistisch: »Mit unserer Organisierung haben wir einen längst überfälligen wichtigen Schritt aus der Vereinzelung getan. Jetzt heißt es kämpfen, um unsere Rechte durchzusetzen.« ★ ★★ Mela Theurer lebt in Barcelona und schreibt regelmäßig für die Tageszeitung »junge Welt«. Dort erschien am 3. November 2015 auch eine längere Fassung dieses Artikels. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung.

Brasilien Unter großer Unterstützung der Bevölkerung haben im Bundesstaat São Paulo Schülerinnen und Schüler sowie Studierende bis Redaktionsschluss vierzig öffentliche Schulen besetzt. Auslöser der Proteste sind die Bildungsreformpläne des derzeitigen Gouverneurs Alckmin. Sie sehen unter anderem die Schließung von 93 Schulen vor. Für die Protestierenden handelt es sich hierbei vor allem um ein Sparpaket: Sie fürchten Lohnkürzungen für Lehrende und überfüllte Klassen.

GRIECHENLAND »Diktyo Spartakos«, ein linkes Netzwerk innerhalb der griechischen Armee, richtete sich mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, um sich gegen den Einsatz gegen Zugewanderte und Asylsuchende zu wehren. Bislang haben Soldaten aus über fünfzig Einheiten das Papier unterzeichnet.

AFGHANISTAN

Protest in Zeiten des Kriegs In der afghanischen Hauptstadt Kabul fanden im November gleich mehrere große Demonstrationen statt. So gingen Mitte des Monats Tausende auf die Straße, um ein Zeichen gegen Taliban und IS zu setzen. Sie protestierten aber auch gegen die Regierung, die dem Terror gegen die schiitische Minderheit oft tatenlos bis wohlwollend zusieht. Auslöser für weitere Demonstrationen waren die Steinigung einer angeblichen Ehebrecherin und die hohe Arbeitslosigkeit. An allen Protesten nahmen besonders viele Frauen teil.

Weltweiter Widerstand

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itten auf Barcelonas Edeleinkaufsmeile, dem Passeig de Gracia, steht Pape Diop an seinem Arbeitsplatz. Er verkauft auf der Straße Trikots des FC Barcelona. Im Jahr 2009 kam der Senegalese nach Barcelona. Seit zwei Wochen ist er Präsident und einer von acht Sprechern der neugegründeten Volksgewerkschaft der Straßenhändler. Während unseres fünfzehnminütigen Gesprächs müssen Diop und seine Kollegen zweimal ihre Bündel schnüren und in die U-Bahn flüchten, da Polizeipatrouillen im Anmarsch sind. »Wenn uns die Polizei erwischt, nimmt sie uns unsere Ware weg. Das ist unser Eigentum, das wir rechtmäßig gekauft haben«, erklärt Diop. Trotz der Polizeipräsenz zeigen sich Diop und seine Kollegen wenig aufgeregt, denn in den vergangenen Wochen hat sich die Situation merklich entspannt. Das war jedoch auch unter dem seit vier Monaten regierenden Linksbündnis und dessen Bürgermeisterin Ada Colau nicht immer so. Häufig kam es zu Aggressionen und rassistischem Verhalten der Stadtpolizei. Nach einer Knüppeljagd der Beamten, die von den Händlern mit Steinwürfen beantwortet wurde, erklärte Colau schließlich, die rote Linie in Sachen Polizeigewalt sei überschritten. Verhandlungen im Rathaus zwischen der Volksgewerkschaft und den Polizeigewerkschaften konnten das angespannte Klima entschärfen. Für Diop ist die neugegründete Gewerkschaft eine große Errungenschaft. Er erhofft sich von der Organisierung eine Stärkung der Arbeits- und Aufenthaltsrechte für die unter prekären Bedingungen lebenden und arbeitenden Händler. Den entscheidenden Anstoß zu ihrer Gründung gaben die schwelenden Kon-

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Schwerpunkt Fünf Jahre Arabellion

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Ägypten

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Syrien

»Schlimmer als unter Mubarak«

»Bomben schaffen keinen Frieden«


Was vom Arabischen Frühling übrig blieb Als sich der Nahe Osten vor fünf Jahren in Aufruhr befand, verbanden Millionen in der Region damit die Hoffnung auf ein besseres Leben und das Ende der Unterdrückung. Die Bilanz heute hingegen ist ernüchternd: Es gibt neue Diktaturen und Bürgerkriege. Wie konnte es so weit kommen?

m 17. Dezember 2010 zündete sich der Straßenhändler Mohammed Bouazizi in einer tunesischen Kleinstadt an. Die Verzweiflung über seine hoffnungslose wirtschaftliche Lage trieb ihn dazu. Schon zuvor hatten Unterdrückte in den arabischen Ländern zu dramatischen Maßnahmen gegriffen. Doch Bouazizis Tod löste eine Protestwelle aus, an deren Ende der langjährige Diktator Zine El Abidine Ben Ali und seine engsten Vertrauten am 14. Januar 2011 in Panik aus dem Land flohen. Beflügelt von den Protesten in Tunesien gingen im Januar Millionen in Ägypten auf die Straße, wo schließlich am 11. Februar ein weiterer langjähriger Diktator floh: Hosni Mubarak. In den darauffolgenden Monaten kam es in fast allen arabischen Ländern zu Protesten. Unter dem Slogan der Revolution in Tunesien und Ägypten – »Das Volk will den Sturz des Regimes« – gab es Demonstrationen in Algerien, Bahrain, Jemen, Jordanien, Kuwait, Libyen, Libanon, Marokko, Syrien. Im Südirak trat der Gouverneur von Basra aufgrund der Proteste zurück. Ein Leben in Würde und Freiheit schien in greifbarer Nähe zu sein. Die Arabellion inspirierte auch Menschen in anderen Teilen der Welt. Bewegungen wie Occupy Wall Street in den USA oder 15. Mai in Spanien bezogen sich positiv vor allem auf die Revolution in Ägypten und die Massenproteste auf dem Freiheitsplatz in Kairo. Doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht. Warum, zeigt ein Blick auf die Ursachen des Arabischen Frühlings und auf die Reaktionen darauf.

Bei allen Unterschieden zwischen den Ländern lassen sich wichtige Gemeinsamkeiten der Aufstände in der arabischen Welt beobachten. Zum Ersten hatten kleine Cliquen korrupter Despoten über Jahrzehnte die Länder beherrscht. Sie konnten für sich und ihre Entourage unvorstellbare Reichtümer abzweigen, die meist auf Schweizer Bankkonten landeten. Die Diktatoren stützten sich auf umfassende Sicherheitsapparate, die oft von westlichen Staaten ausgerüstet und ausgebildet worden waren, und die rigoros gegen die eigene Bevölkerung vorgingen. »Würde« war deswegen eines der Schlüsselwörter der Aufstände, weil die Proteste auch die Überwindung der Angst vor dem Staatsapparat mit sich brachten. Zum Zweiten begannen alle Staaten der Region nach Beginn der Finanzkrise durch den Zusammenbruch der US-amerikanischen Bank Lehman Brothers im Jahr 2008 mit drastischen Kürzungsmaßnahmen. Sie verschärften in erster Linie die ohnehin massenhafte Armut. Selbst die Ölförderländer auf der Arabischen Halbinsel und Libyen setzten angesichts gesunkener Ölpreise auf neoliberale Kürzungspolitik, jedenfalls im Hinblick auf den Sozialstaat, nicht bezüglich des Luxuskonsums der herrschenden Eliten.

Ein Leben in Würde und Freiheit schien greifbar

Vor diesem Hintergrund entstanden dynamische Massenbewegungen, welche die Herrschenden in der Region und weltweit zunächst überraschten und schockierten. Doch schon nach wenigen Monaten passten sie ihre Strategien an die veränderten Bedingungen an. Diktatoren, die noch nicht gestürzt waren, nutzen die Schwächen und Spaltungen in den

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Stefan Ziefle ist Redakteur von marx21.

SCHWERPUNKT Fünf Jahre Arabellion

A

Von Stefan Ziefle

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Bewegungen zum Machterhalt. Syriens Diktator Baschar al-Assad zum Beispiel zog die Armee aus den kurdischen Siedlungsgebieten seines Landes zurück. Er hoffte darauf, dass die Spaltung zwischen Arabern und Kurden es ihm ermöglichen würde, sich auf den Kampf gegen die arabischen Aufständischen zu konzentrieren. Und tatsächlich: Die Angst vor einer Abspaltung der kurdischen Gebiete lähmte Teile der arabischen Bewegung und verhinderte ein gemeinsames Vorgehen. In Libyen, wo die Proteste sich an sozialen Fragen entzündet hatten, ermöglichten Differenzen zwischen einzelnen Stämmen und Regionen, den Aufstand in einen Bürgerkrieg zu verwandeln. Von dieser Spaltungspolitik machte aber nicht nur der Diktator Muammar al-Gaddafi ausgiebig Gebrauch. Libyen, zwischen den beiden Ländern mit der stärksten und bis dahin erfolgreichsten Bewegung gelegen, spielte eine zentrale Rolle bei dem Versuch der Eliten, die Revolution einzudämmen. Vor allem die Herrscher der Regionalmacht Saudi-Arabien suchten verzweifelt nach einer Lösung. Zu einer offenen Konterrevolution fühlten sie sich nicht in der Lage, deshalb versuchten sie eine Strategie der tödlichen Umarmung. Diese bestand darin, ausgewählte, besonders konservative Teile der Opposition mit Geld, Waffen und Personal zu unterstützen. Sie lieferten so viel, dass diese Gruppen eine führende Rolle in der Opposition spielen, aber nicht genug, dass diese den Bürgerkrieg gegen das Regime gewinnen konnten. So veränderte sich der Charakter der Bewegung von einer Revolution von unten gegen oben hin zu einem Krieg zwischen Stämmen und Regionen. Die Intervention der Golfstaaten und schließlich der Nato ermöglichten den militärischen Sieg einer von außen abhängigen Fraktion über das Regime. Doch sie löste keines der sozialen und politischen Probleme. Libyen zerfällt seitdem in einem Kreislauf religiös-sektiererischer Gewalt. Libyen ist kein weiteres Tunesien oder Ägypten geworden, sondern ein abschreckendes Beispiel für die Unterdrückten in aller Welt: Das passiert mit euch, wenn ihr euch erhebt! In Ägypten dagegen haben die Eliten deutlich länger gebraucht, die Kontrolle wiederzuerlangen. Auf dem Höhepunkt der Bewegung solidarisierten sich die einfachen Soldaten und Polizisten mit dem Aufstand. Der Generalstab beschloss in dieser Situation, die Seiten zu wechseln, um die Kontrolle über die Armee zurückzugewinnen. So musste Mubarak gehen, aber der Unterdrückungsapparat blieb intakt. Angriffe von reaktionären Gruppen auf die Minderheit der Kopten lieferten schließlich den Vorwand, die Sicherheitskräfte wieder funktionstüchtig zu machen. Auch die US-amerikanische Regierung passte ihre Politik an. Sie begann den Dialog mit den Muslim-

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brüdern, die als stärkste politische Kraft aus der Revolution hervorgingen. Einerseits sagte die Regierung von Präsident Barack Obama diplomatische Anerkennung und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu, anderseits koppelte sie Hilfskredite des IWF an harte Kürzungsprogramme, deren Umsetzung die Unterstützung für die Muslimbrüder untergraben würde. Gleichzeitig weiteten die USA die Militärhilfen an Ägypten aus. Das oberste Ziel aller Beteiligten war es, die Revolutionen zu erwürgen, die Dynamik zu brechen – mit allen erforderlichen Mitteln. Das ist ihnen gelungen. Doch keiner der ausländischen Staaten konnte dabei die Kontrolle über die Vorgänge gewinnen, auch nicht die USA als stärkster Akteur. Soziale Bewegungen lassen sich nie zu hundert Prozent kontrollieren. Aber aufgrund der Politik des Teilen und Herrschens gleicht die Entwicklung in der Region einer Tragödie. Die Linken in der Region waren nicht in der Lage, sie zu verhindern. Das liegt auch an ihren politischen Traditionen. Arabische Linke aus der Schule des panarabischen Nationalismus in Syrien hatten zum Beispiel kein Verständnis für die kurdischen Autonomiebestrebungen, die eine Folge ihrer nationalen Unterdrückung sind. So wurden aus einer Bewegung gegen das Regime zwei territorial getrennte Bewegungen, die sich gegenseitig misstrauten. Viele Linke wollten zudem aufgrund eines falsch verstandenen Säkularismus nichts mit religiösen Menschen zu tun haben. Das ist besonders problematisch, wenn die große Mehrheit der Bevölkerung sich mit islamischen Parteien identifiziert – nicht, weil Religion ihr Handeln bestimmen würde, sondern weil diese Parteien für eine Tradition des Widerstands gegen die Diktatur standen, wie die Muslimbrüder in Ägypten. So blieb einerseits die ideologische Führung dieser Partei über ihre Anhänger unangefochten und andererseits die Bewegung für Umverteilung und Demokratie gespalten. Viele Linke in Ägypten gingen sogar noch einen Schritt weiter. Sie hofften, den Staatsapparat und seine Unterdrückungsorgane für die Revolution gewinnen zu können und stellten sich hinter die brutale Repression gegen die Muslimbrüder. Sie mussten erkennen, dass sie selbst die nächsten auf der Liste waren, nachdem Muslimbrüder zu Hunderten ermordet und Tausende eingesperrt worden waren. Diejenigen Kräfte in der Linken, die eine politische Alternative zu linkem Nationalismus und falsch verstandenem Säkularismus hätten anbieten können, waren zu wenige und konnten keinen ausreichenden Einfluss in den Bewegungen gewinnen. Dies weist auf die Aufgabe des Tages hin: Aus den Fehlern lernen und revolutionäre Organisationen aufbauen. Denn die Wurzeln des Arabischen Frühlings sind noch fruchtbar. ■


Graffiti der Künstlerin Salma Samy in der MohamedMahmoud-Straße in Kairo. Hier kam es während der Revolution zu schweren Zusammenstößen. Die Bilder erzählen von der Gewalt und stellen die politischen und sozialen Forderungen dar

»Es ist schlimmer als unter Mubarak«

© Salma Samy / CC BY-NC-SA

Der Arabische Frühling zeigte sich nirgends in einer so starken Bewegung wie in Ägypten. Nun stehen die Revolutionäre von 2011 jedoch vor einem Scherbenhaufen. Weshalb, erklärt der ägyptische Sozialist Sameh Naguib

Sameh, im Jahr 2011 stürzte eine Massenbewegung euren Diktator Husni Mubarak. Wie ist das Leben in Ägypten fünf Jahre später? Die Situation heute ist weitaus schlimmer als vor der Revolution von 2011. Das Regime von al-Sisi ist repressiver und gewalttätiger und für politische Oppositionelle gibt es heute weniger Raum als in irgendeiner früheren Phase, einschließlich der Jahre unter dem Diktator Mubarak. In den drei Jahrzehnten, die Mubarak an der Macht war, wurden 30.000 politische Verhaftungen gezählt. Seit Abd alFattah al-Sisi im Juli 2013 gestützt auf das Militär putschte, sind schätzungsweise 50.000 Menschen aus politischen Gründen eingesperrt worden. Ähnlich sehen die Verhältnisse in Bezug auf spurlos Verschwundene (allein in diesem Jahr waren es etwa tausend) und außergerichtliche Hinrichtungen von oppositionellen Aktivistinnen und Aktivisten aus. Auch Folter und Vergewaltigung im Gefängnis, auf

Übersetzung: David Maienreis

Sameh Naguib

Sameh Naguib ist ein ägyptischer Sozialist. Er wird beim Kongress »MARX IS' MUSS 2016« sprechen.

Polizeirevieren und in illegalen Verwahrungslagern hat beispiellos zugenommen. Es ist heute tatsächlich schlimmer als unter Mubarak? Ich will bestimmt nicht das Regime Mubaraks verteidigen. Denn es war brutal, autoritär, korrupt und setzte extreme neoliberale Maßnahmen um. Es stürzte die Mehrheit der Bevölkerung in Armut, während gleichzeitig die reichste Gruppe monopolistischer Milliardäre in der Geschichte des Landes entstand. Ich will nur das Wesen des gegenwärtigen Regimes verdeutlichen: Wir erleben nicht einfach die Restauration des alten Regimes, sondern gegenwärtig sollen die Massen für ihre Revolution bestraft werden. Das Gefühl von Befreiung und das Selbstvertrauen, das sie entwickelt haben, soll gebrochen werden. Was wir erleben, ist eine vollständige Konterrevolution und nicht einfach eine Wiederherstellung des alten

SCHWERPUNKT Fünf Jahre Arabellion

Interview: Stefan Ziefle

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Bei den Protesten in Januar und Februar 2011 wurde große Hoffnung in die Armee gesetzt. Protestierende kletterten auf Panzer und sangen. Wo steht das Militär heute? Das stimmt so nicht. Die Menschen warteten darauf, was die Armee tun würde, nachdem die Polizei geschlagen war. Die ägyptische Armee besteht zum größten Teil aus Wehrdienstpflichtigen. Die meisten Soldaten stammen aus Arbeiterfamilien. Den Generälen war es damals einfach nicht möglich, diesen Soldaten den Befehl zu geben, auf die Protestierenden zu schießen. Das hätte zu Meutereien geführt. Daher erklärten die Generä-

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© Hossam el-Hamalawy / CC BY-NC-SA / flickr.com

Regimes.Während der achtzehn Tage, in denen Mubarak gestürzt wurde und Millionen Menschen die großen öffentlichen Plätze in Ägypten besetzen, herrschte ein Gefühl beispielloser Hoffnung und Zuversicht. Kein Polizeirevier blieb unversehrt, kein Büro der Regierungspartei überstand den Protest. Kein Polizeiauto war zu sehen und kein Polizist wagte es, sich in Uniform zu zeigen. Formen direkter Demokratie bildeten sich heraus und wir begannen die Wohnquartiere zu verteidigen. Die größten Streikbewegungen der Geschichte des Landes brachen aus und brachten Tausende unabhängige Gewerkschaften hervor. Die heutige Lage könnte sich nicht drastischer von dieser Zeit unterscheiden. Der Tahrirplatz, das Symbol und Epizentrum der Revolution, ist in ein riesiges Polizei- und Armeelager verwandelt worden. Panzer, Stacheldraht, Informanten und Polizeischläger stehen an allen Ecken und auf den Dächern sind Scharfschützen postiert. Bei dem ersten Zeichen einer Demonstration sind sie bereit einzuschreiten. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst und Anspannung, aber auch wachsende Wut und Frustration sind zu spüren. In den vergangenen Monaten hat es im ganzen Land äußerst mutige Demonstrationen von Oberschülerinnen und -schülern gegeben, einen großen Streik in der größten Textilfabrik des Landes in Mahalla und in Kafr al-Dawar im Nildelta. Außerdem demonstrieren Unterstützerinnen und Unterstützer der Muslimbruderschaft wöchentlich. All dies geschieht jedoch unter viel schwierigeren und gefährlicheren Umständen als jemals zuvor.

Tahrir-Platz in Kairo im Januar 2011: Ein Mädchen sitzt auf einem Panzer der ägyptischen Armee und hält ein Schild mit der Aufschrift »Ägypten ist frei«

le öffentlich ihre Neutralität, während sie gleichzeitig Teile der verbliebenen Polizei und die Schlägern des Regimes mit Munition und Logistik unterstützten. Sie distanzierten sich geschickt von Mubarak, obwohl sie zum Kern seines Herrschaftsapparats gehörten. Angehörige der Mittelschicht und der Muslimbruderschaft gaben sich deshalb der Illusion hin, dass sich Mubaraks Armee hinter die Revolution gestellt habe. Der Fortgang der Geschichte hat gezeigt, welch großer Irrtum das war. In den Monaten nach dem Februar 2011 wuchs der Zorn auf die Armeeführung rasch. Bei den großen Platzbesetzungen wurden Forderungen gegen die Herrschaft der Armee immer lauter.

Es gab den Ruf nach Revolutionstribunalen gegen Mubaraks Generäle. Die Muslimbruderschaft und manche der mit ihnen verbündeten Salafisten unterstützten aus opportunistischen Gründen die Armeeführung, weil sie darauf hofften, sich die Macht mit dem Militär teilen zu können. In den Jahren vor der Revolution gab es beeindruckende Arbeitskämpfe, meist in den Textilfabriken im Norden. Was war deren Einfluss auf die Revolution? In den Jahren 2004 bis 2006 gab es mehrere Streikbewegungen. Sie nahmen ihren Ursprung in den großen Textilfabriken in al-Mahalla al-Kubra und breiteten


Obwohl die Arbeiterbewegung so wichtig für den Sturz Mubaraks war, scheinen die Parteien, die mit ihr verbunden sind, am wenigsten Zulauf gehabt zu haben. Warum konnte die Muslimbruder-

derschaft vom »Tag der Wut« am 28. Januar bis zum Sturz Mubaraks wesentlich an dem Kampf beteiligt. Jetzt ist die Muslimbruderschaft extremen Unterdrückungsmaßnahmen ausgesetzt. Ihr Führungspersonal sitzt im Gefängnis, hunderte ihrer Aktivisten wurden umgebracht. Wie konnte es dazu kommen? Nun, die ägyptische Revolution hatte das Pech, zweimal verraten zu werden: zuerst von der Muslimbruderschaft, die sich nach Mubaraks Sturz mit der Militärführung verbündete. Zugleich führte sie, sobald sie an der Regierung war, den neoliberalen Kurs Mubaraks fort. Die Revolution wurde dann ein zweites Mal verraten, als der Großteil der säkularen Opposition – Linke, Liberale und Nationalisten – sich mit Flügeln des alten Regimes, der Armee und der Polizei verbündeten, um die Muslimbruderschaft zu bekämpfen. Die Zugeständnisse der Muslimbruderschaft an das alte Regime

Die Angst vor dem Staatsapparat war weg schaft, die kaum an den Kämpfen beteiligt war, danach zur stärksten Kraft werden? Zunächst einmal stimmt es nicht, dass keine mit der Arbeiterklasse verbundene Partei im Verlauf der Revolution gewachsen ist. Die Gruppe Sechster April (benannt nach dem Streik in Mahalla an diesem Tag; Anm. d. Red.) und die Revolutionären Sozialisten konnten sehr schnell viele Mitglieder gewinnen. Aber sie waren noch kleine Organisationen, während die Muslimbruderschaft im ganzen Land bereits über Massenorganisationen verfügte. Sie stellte zur Zeit der Revolution tatsächlich die einzige oppositionelle politische Kraft mit einer Massenbasis dar. Daher ist es nur logisch, dass sie der Gewinner der Bewegung war. Es stimmt auch nicht, dass sich die Muslimbrüder nicht an den Kämpfen beteiligt hätten. Sie gehörten in den Jahren 2004 bis 2007 zu den treibenden Kräften der Bewegungen für Demokratie und gegen Mubarak. Und obwohl ihre Führung den Aufruf zum 25. Januar 2011 nicht mittrug, waren die Jugendlichen der Muslimbru-

und den Staatsapparat und der Verrat der säkularen Opposition desorientierten und entmutigten viele, die ihre Hoffnung in die Revolution gesetzt hatten. Das bot der Militärführung zusammen mit den Geheimdiensten und dem Sicherheitsapparat die Gelegenheit zur Konterrevolution. Wie wichtig sind die Parlamentswahlen? Gibt es linke Parteien, die weiter für die Ziele der Revolution einstehen? Wenn du die jüngste Wahl meinst: Die war eine völlige Farce. Mehr als die Hälfte der neugewählten Abgeordneten stehen mit Mubaraks Nationaldemokratischer Partei in Verbindung, die restlichen mit den Geheimdiensten oder sie gehören Parteien an, die Geschäftsleute aus dem Umfeld al-Sisis gegründet haben. Kein Mitglied und kein Unterstützer der Muslimbruderschaft durfte bei der Wahl antreten. Kein Mitglied und kein Unterstützer der unabhängigen oder sozialistischen Organisationen, die auf irgendeine Weise mit der Revolution zu tun hatten, zog auch nur eine Kandidatur in Erwä-

gung. Das gegenwärtige ägyptische Parlament sieht aus wie die Volkskammer der DDR, nur dass es keine klar definierte Einheitspartei an der Spitze gibt. Was erwartest du für die nähere Zukunft? Ich glaube nicht, dass sich die gegenwärtige Lage dauerhaft aufrechterhalten lässt. Die Wirtschaftskrise vertieft sich. Sogar die Geldzuschüsse aus Saudi-Arabien versiegen, weil der Ölpreis sinkt. Das Regime hat eine Reihe von milliardenschweren Megaprojekten angestoßen, an denen, nebenbei erwähnt, deutsche Firmen massiv beteiligt sind. Alle strukturellen Probleme, die durch Mubaraks autoritären Neoliberalismus geschaffen wurden und zur Revolution führten, verschärfen sich immer weiter. Dasselbe Bündnis aus Polizei- und Armeegenerälen, europäischen und amerikanischen Konzernen und ägyptischen Multimilliardären wie zu Mubaraks Zeiten regiert weiterhin das Land. Seine Vertreter sind durch und durch korrupt und werden vor Strafverfolgung geschützt. Das hat verheerende Folgen, wie man an dem Anstieg terroristischer Anschläge, dem Verfall des ägyptischen Pfunds und dem Zusammenbruch des öffentlichen Dienstes sehen kann. Auf der anderen Seite hat die Revolution das Bewusstsein von Millionen Menschen verändert. Sie haben viel über Streiks, Organisierung und Straßenkämpfe gelernt. Sie haben Selbstvertrauen und Widerstandswillen gewonnen. Das sollte uns trotz allem optimistisch stimmen, wenn wir an die Zukunft denken. Es ist nie nötiger gewesen als jetzt, sich organisatorisch auf die Kämpfe der Zukunft vorzubereiten. Die revolutionäre Linke muss, so schwierig die Bedingungen auch sind, ihre Verantwortung wahrnehmen. Sie muss sich in der Gesellschaft verankern und Kader in der Arbeiterbewegung aufbauen, aber auch unter Studierenden, Frauen und den unterdrückten Minderheiten. Das bedeutet, dass die internationale Linke in der Verantwortung steht, Solidarität mit den Menschen in Ägypten und ihrem Widerstand gegen die brutale Militärdiktatur al-Sisis zu leisten. Dass er ohne größeren Protest Deutschland, Frankreich und Großbritannien besuchen kann, ist eine Schande. Wir haben noch viel Arbeit vor uns. ■

SCHWERPUNKT Fünf Jahre Arabellion

sich schnell auf alle Branchen des verarbeitenden Gewerbes und des Dienstleistungssektor aus, sogar auf den öffentlichen Dienst. Das waren die größten Streiks, die das Land je gesehen hatte. Im Jahr 2008 kam es dann fast zu einem Aufstand in Mahalla, dem Zentrum der Textilindustrie. Mehr als 150.000 Menschen demonstrierten. Sie boten der Polizei die Stirn und beseitigten alle Symbole, die für Mubarak und seine Regierungspartei standen. Der Aufstand konnte nur mit Gewalt niedergeschlagen werden. Diese Streiks und Massendemonstrationen waren wesentlich für die Revolution von 2011. In gewisser Hinsicht waren das die Generalproben, bei denen Selbstvertrauen entwickelt und Erfahrung für die spätere Revolution gesammelt wurde.

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»Bomben schaffen keinen Frieden« Die USA, Frankreich und verbündete Regierungen führen in Syrien erfolglos Krieg gegen den IS. Warum die einzige Hoffnung auf Frieden weiterhin der Aufstand der Syrer ist, erklärt unser Gesprächspartner Joseph Daher Interview: Hans Krause Es scheint, der Bürgerkrieg in Syrien besteht aus einer nicht enden wollenden Reihe von Blutbädern. Ja. Jede Woche findet irgendwo in Syrien ein Massenmord statt, meistens weil das Regime von Assad Wohngebiete bombardiert. In den vergangenen Wochen sind auch noch die Gräueltaten des russischen Militärs hinzugekommen. In den Gebieten unter seiner Kontrolle übt der Islamische Staat (IS) ebenfalls massive Repression aus und begeht Massenmorde. Gibt es auch demokratische Kräfte? Sicher, aber sie sind stark geschwächt im Vergleich zu 2011, als der Aufstand begann. Es gibt bewaffnete Organisationen wie die kurdische PYD oder die Kräfte der arabischen Freien Syrischen Armee sowie auch zivilgesellschaftliche Gruppen. Wofür kämpfen die? Nach wie vor für die ursprünglichen Ziele der Revolution: Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und gegen religiöses Sektierertum. Sie stemmen sich gegen die doppelte Konterrevolution des Regimes von Assad auf der einen und der islamischen Fundamentalisten auf der anderen Seite. Die Bundesregierung sagt, der wichtigste Schritt zur Beendigung des Kriegs sei der Kampf gegen den Islamischen Staat. Stimmt das? Die große Mehrheit der Menschen in Syrien wäre sehr glücklich, wenn der Islamische Staat über Nacht verschwände, denn er ist eine ultrareaktionäre und barbarische Organisation, tötet und terrorisiert Bevölkerungsgruppen aller Religionen

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Übersetzung: David Paenson

Joseph Daher

Joseph Daher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Lausanne und Autor des Blogs syriafreedomforever.wordpress.com. Er wird auf dem Kongress »MARX IS' MUSS 2016« zur aktuellen Lage in Syrien sprechen.

und Ethnien. Um den Krieg zu beenden, muss allerdings auch die Hauptursache angepackt werden, und die ist die syrische Regierung, die die meisten Morde, Vertreibungen und Zerstörungen zu verantworten hat. Der IS ist nicht die Hauptursache des Kriegs? Der IS konnte sich in Syrien erst im Herbst 2013 etablieren. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR hatte aber schon zuvor erklärt, dass über zwei Millionen Syrer aus dem Land fliehen mussten. 97 Prozent von ihnen lebten in den Nachbarländern. Dazu kamen weitere 4,25 Millionen Binnenflüchtlinge. Diese Statistiken wurden bereits am 27. August 2013 vom »UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs« veröffentlicht. Zusammengenommen ergab das weit über sechs Millionen Vertriebene. Was waren die Gründe dafür? Verantwortlich dafür, dass so viele Menschen fliehen, ist das von der Regierung organisierte systematische Töten, das Bombardement und die Repression, worunter große Teile der syrischen Bevölkerung leiden müssen. Das ist die Strafe für den Aufstand gegen Tyrannei und Barbarei. Stimmt das auch noch, seitdem sich der IS in Syrien eingerichtet hat? Ja, unbedingt. Schauen wir uns an, was in den ersten sechs Monaten dieses Jahres passiert ist: Die Hubschrauber des Regimes warfen 10.423 Fassbomben auf verschiedene Landesteile ab. Die regierungstreuen Kräfte waren in dieser Zeit


© Freedom House / CC BY / flickr.com

»Wir werden Assad zur Rechenschaft ziehen; egal wie viele Leben es kostet, egal wie viel Leid es noch bringt.« Das Foto wurde am 1. Februar 2013 in der nordsyrischen Stadt Kafranbel von Oppositionellen aufgenommen, die ein Zeichen ihrer Entschlossenheit im Kampf gegen das Regime setzen wollten führer diverser reaktionärer islamischer Kräfte entlassen, während zugleich demokratische Aktivisten und Aktivistinnen verhaftet, gefoltert und unterdrückt wurden. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass Assad vor allem demokratische und progressive Aktivisten sowie die Freie Syrische Armee ins Visier nahm und heute noch nimmt, während er dem IS freien Lauf lässt. Wo liegen die Wurzeln des IS? Der Islamische Staat ist die direkte Folge der US-amerikanischen Invasion in den Irak und der damit einhergehenden Zerstörung staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen. Der Besetzung des Lands war bereits ein Jahrzehnt menschenfeindlicher Sanktionen vorausgegangen, durch die eine Million Menschen starben und vier Millionen Menschen vertrieben wurden. Die US-Besatzungspolitik ist die Ursache des gegenwärtigen Debakels. Dazu gehören die rücksichtslose Unterdrückung jeglicher Opposition gegen die US-Besatzung, die Durchsetzung einer neoliberalen Agenda und die Knebelung der

unabhängigen Gewerkschaftsbewegung, ferner die Zerstörung von staatlichen Einrichtungen und die Etablierung eines politischen Systems auf Grundlage konfessioneller und ethnischer Spaltung – ähnlich wie im Libanon. Wie kommt es, dass Menschen dem Islamischen Staat folgen? Unter Assad haben die Menschen immer ein Leben in bitterer Armut geführt. Schon vor dem Bürgerkrieg lebten 30 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und weitere 30 Prozent nur knapp darüber. Die Jugendarbeitslosigkeit lag bei 50 Prozent und Millionen hausten in Slums. Es war vielen klar, dass nur eine radikale Wende in Wirtschaft und Politik eine Lösung sein kann, und dementsprechend waren sie auf der Suche nach neuen Ideen. Wenn sich in einer solchen Situation der Islamische Staat als bedeutende Organisation mit dem Versprechen radikaler Veränderung darstellt, kann er Tausende Kämpfer trotz seines menschenfeindlichen Kriegs und seiner Politik rekrutieren.

SCHWERPUNKT Fünf Jahre Arabellion

für fast 90 Prozent aller getöteten Zivilisten verantwortlich. Das sind mehr als siebenmal so viele wie der IS. Im März 2015 haben Menschenrechtsorganisationen die Gräueltaten des Regimes untersucht: Seit dem Beginn des Aufstands wurden fast 13.000 Gefangene zu Tode gefoltert. Weitere Zehntausende darben in den Gefängnissen und Tausende sind verschwunden. Barbarei hat viele Gesichter. Das des Assad-Regimes ist das schlimmste. Assad und seine Verbündeten, der Iran, Russland und die libanesische Hisbollah, sind für die Mehrheit der mehr als 250.000 Toten und der mittlerweile zehn Millionen Flüchtlinge im In- und Ausland seit dem Beginn des Aufstands verantwortlich. Hinzu kommt, dass die Regierung selbst direkt zu der Entwicklung des IS und der übrigen reaktionären islamistischen Kräften beitrug, als sie notorische Verbrecher aus den Staatsgefängnissen entließ, die dann führende Positionen in diesen Strukturen einnahmen. Im Zug verschiedener Amnestien gleich zu Beginn des revolutionären Prozesses wurden die An-

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Wollen die USA Assad stürzen? Seit Beginn des Aufstands haben weder die USA noch andere Nato-Kräfte zu irgendeinem Zeitpunkt das Ziel verfolgt, den syrischen Revolutionären zu helfen oder das Regime zu stürzen. Die imperialistischen Großmächte USA und Russland und die regionalen kapitalistischen Mächte wie die Türkei, Saudi-Arabien und der Iran haben bei aller Rivalität untereinander das gemeinsame Interesse, Revolutionen zu verhindern oder niederzuschlagen. Das Beispiel Syrien ist absolut lehrreich: Die vielen gemeinsamen Friedensinitiativen verfolgten ausnahmslos das Ziel, eine Vereinbarung zwischen Assad und einer mit den Nato-Staaten und den Golf-Monarchien verbundenen Fraktion der syrischen Opposition herzustellen. Ist das Regime von Assad nicht ein traditioneller Gegner der US-Herrschaft im Nahen Osten? Keinesfalls. Im Jahr 1976 intervenierte es im Libanon, um den palästinensischen Widerstand und progressive Bewegungen dort zu zerschlagen und rechtsextremistischen Kräften zur Macht zu verhelfen. Assad beteiligte sich auch an dem von den USA angeführten Bündnis im Krieg gegen den Irak 1991. Seine Armee gesellte sich zum US-amerikanischen »Krieg gegen den Terror« in den Jahren nach 2001. Und so weiter. Wie viele andere Diktatoren des Nahen Ostens unterhielt Assad Bündnisse mit verschiedenen imperialistischen Regierungen, während er Volksbewegungen im Land mit tödlicher Gewalt niederschlug. Wäre unter Assad nicht zumindest eine Rückkehr zu den friedlichen Zeiten vor dem Bürgerkrieg denkbar? Auch vor dem Beginn der Revolution im März 2011 herrschte kein wirklicher Frieden in Syrien. Seit dem Machtantritt von Assads Vater Hafis al-Assad im Jahr 1970 hat das Regime permanent Krieg gegen das eigene Volk geführt: mit schärfster Unterdrückung, mit dem Versuch, die Menschen entlang konfessioneller und ethnischer Linien zu spalten, durch Verarmung der großen Mehrheit der Bevölkerung, mit Korruption und vor allem durch die neoliberale Politik, die Baschar al-Assad seit seinem Machtantritt im Jahr 2000 verfolgt.

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Die syrische Bevölkerung setzte den revolutionären Prozess im März 2011 in Gang, um eben dieser Wirklichkeit der tagtäglichen Unterdrückung ein Ende zu setzen und endlich in Freiheit und Würde leben zu können. Es geht nicht darum, jede Lösung für ein Ende des Kriegs von der Hand zu weisen. In der Tat haben die Menschen in Syrien viel zu viel gelitten und die meisten wünschen sich eine Übergangsperiode auf dem Weg zu einem demokratischen Syrien. Aber eine »realistische Lösung«, von der Staatsvertreter und Analysten so gern reden, muss Assad und andere blutbefleckte Kriminel-

Revolutionen sterben nicht, auch wenn sie massakriert werden

le seines Regimes mittel- und langfristig ausschließen, weil sonst der militärische Konflikt nur fortgesetzt wird. Assad und seine Partner müssen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, ebenfalls die Kräfte der islamistischen Fundamentalisten und anderer Gruppen. Außerdem kann es nur zu einer grundlegenden Veränderung kommen, wenn nicht nur Assad, sondern ebenfalls die Beamten, welche die Sicherheitsdienste, die Armee und verschiedene weitere Staatsbehörden kontrollieren, gestürzt werden. Wie realistisch ist das? Die demokratischen und progressiven Kräfte sind erheblich geschwächt, aber sie sind noch vorhanden und kämpfen in verschiedenen Regionen für die ursprünglichen Ziele der Revolution. Es gibt beispielsweise Basisgruppen in Aleppo und der ländlichen Umgebung, in der Region um Idlib und in der Umgebung der Hauptstadt Damaskus. Sie haben in der Vergangenheit gegen das Regime gekämpft, ihre Regionen von Assads Herrschaft befreit und stemmen sich heute

gegen die verschiedenen Kräfte der islamistischen Fundamentalisten. Im Sommer 2015 fanden in der Region um die Stadt Sweida, die mehrheitlich von Drusen bewohnt wird, mehrere Proteste gegen die Politik des Regimes und die mangelhaften städtischen Dienstleistungen statt. Es gab Demonstrationen und Proteste nach der Ermordung von Scheich Wahid Bal'ous, einem für seine Gegnerschaft zu dem Regime und den Kräften der islamistischen Fundamentalisten bekannten Drusen. Er wurde zusammen mit zwanzig weiteren Personen Opfer eines Bombenattentats in Dahret al-Jabal. Demonstranten versammelten sich vor verschiedenen Regierungsgebäuden und rissen die Statue des früheren Diktators Hafis al-Assad nieder. Wer war Scheich Wahid Bal'ous? Eine sehr beliebte Persönlichkeit unter der drusischen Bevölkerung. Er führte die Bewegung »Scheichs für Würde« an, eine Gruppierung, die sich dem Schutz der Drusen in der Provinz verschrieben hat und auch gegen den Islamischen Staat und Dschabhat al-Nusra kämpft. Wahid Bal'ous setzte sich auch dafür ein, dass Armeerekruten aus Sweida nicht außerhalb ihrer, unter der Kontrolle des Regimes und von drusischen Milizen befindlichen Provinz zum Einsatz kommen. Nur wenige Tage vor seinem Tod hatten protestierende Einwohner von Sweida grundlegende Leistungen wie Wasser und Strom eingefordert. Der Scheich unterstützte diese Proteste. Die wichtigste Aufgabe für Internationalisten auf der ganzen Welt ist nach wie vor die Unterstützung dieser Inseln der Hoffnung, die es heute noch gibt und die sich zur Wehr setzen, die sich aus verschiedenen demokratischen und progressiven Bewegungen zusammensetzen und alle Seiten der Konterrevolution zurückzuschlagen versuchen. Sie sind es, die die Träume und die Ziele der Anfangszeit der Revolution wachhalten: Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und die Ablehnung jeglichen Sektierertums. Wie es ein Revolutionär in der Stadt Zabadani auf einem Plakat schrieb: »Revolutionen sterben nicht, auch wenn sie massakriert werden. Sie sind der fruchtbare Boden, der neues Leben hervorbringen wird.« ■


NEUES AUS DER LINKEN

© Jakob Huber

Keine Aktion ohne Fraktion: Mandatsträger der LINKEN waren bei den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt dabei – auch sie landeten später teilweise im Polizeikessel

Haltelinien statt Kuschelkurs Im März 2016 sind Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt. DIE LINKE will mit Wulf Gallert den zweiten linken Ministerpräsidenten nach Bodo Ramelow in Thüringen stellen. Doch diese Orientierung ist problematisch

I

n Sachsen-Anhalt beginnt der Wahlkampf. Parteichefin Birke Bull und Spitzenkandidat Wulf Gallert werben dafür, dass DIE LINKE ab März mitregiert. Ihr wesentliches Argument ist, dass die Partei so am besten einen Beitrag zur Verbesserung der Lebenslage der lohnabhängig Beschäftigten, der Rentnerinnen und Rentner und der Jugendlichen leisten kann. Doch es gibt gute Gründe, am Gelingen dieses Vorhabens zu zweifeln. Nach mehr als neun Jahren Große Koalition steht das Land wirtschaftlich schlecht da. Sachsen-Anhalt liegt mit einem Wirtschaftswachstum von 0,4 Prozent bundesweit an letzter Stelle. Das durchschnittliche Arbeitseinkommen ist das zweitniedrigste in Deutschland. Außerdem wuchs im vergangenen Jahr in allen Bundesländern die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse, nur in Sachsen-Anhalt sank sie um 6400. Auch im Bildungswesen sieht es schlimm aus: Jede zehnte Stunde Fachunterricht fällt inzwischen aus. Mittlerweile bekommen Schülerinnen und Schüler

in manchen Fächern keine Noten mehr, weil nicht genügend Unterricht stattgefunden hat. Nach einer Prognose des Kultusministeriums werden im Jahr 2017 mindestens 948 Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen aus Altersgründen aus dem Dienst ausscheiden. Doch bisher plant die Landesregierung, höchstens 350 neue Lehrerinnen und Lehrer einzustellen. Die sachsen-anhaltinische LINKE will diese Zustände verbessern. In dem gerade beschlossenen Landtagswahlprogramm ist die Messlatte klar formuliert: Die Partei will mindestens 14.300 Vollzeitstellen schaffen, es sollen mehr Lehrkräfte eingestellt werden als in Rente gehen. Im Hochschulbereich will die Linkspartei die Kürzungen der Landesregierung in zweistelliger Millionenhöhe zurücknehmen und den Hochschulen ein »auskömmliches und verlässliches Grundbudget zu Verfügung stellen«. Der Niedriglohnpolitik will DIE LINKE dadurch begegnen, dass öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die mindestens zehn Euro pro Stunde zahlen.

Neues aus der LINKEN

Von Vincent Streichhahn

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Das Landtagswahlprogramm weist also in eine sozialere Richtung, aber die politischen Spielräume in Sachsen-Anhalt sind äußerst klein. Seit 2011 haben alle Regierungen in Deutschland mit der Schuldenbremse zu kämpfen. Sie verbietet Bund, Ländern und Kommunen neue Schulden aufzunehmen. Dies kombiniert mit den Steuersenkungen für Unternehmer und Reiche, die insbesondere die Regierung Schröder (1998-2005) durchgeführt hat, führt zu einer desaströsen finanziellen Lage vieler Länder und Kommunen. Keine Landesregierung kann sich von diesen »Sachzwängen« befreien. Das bekommt auch Ministerpräsident Bodo Ramelow in Thüringen zu spüren. Auch Sachsen-Anhalt ist massiv von der knappen Kassenlage betroffen. Jährlich muss das Land auf 200 Millionen Euro verzichten, weil Bundes- und EU-Zuschüsse sinken. Zwar gäbe es durchaus die Möglichkeit zu kleineren sozialen Verbesserungen: Beispielsweise wurden durch die Übernahme der BAföG-Kosten von Seiten des Bundes für das Land etwa 30 Millionen Euro frei, welche die gegenwärtige Landesregierung nicht in den Hochschulbereich fließen lässt. Dennoch würden die Spielräume auch unter einer rot-roten Koalition sehr eng bleiben, weil wesentliche Stellschrauben im Bereich der Steuerpolitik vom Bund gedreht werden müssen. Die Große Koalition auf Bundesebene wird absehbar keine Schritte in Richtung Umverteilung unternehmen. Entlastungen für Sachsen-Anhalt sind daher nicht in Sicht. Eine rot-rote Regierung hätte also nicht mehr Geld zur Verfügung als die gegenwärtige Koalition. Sie könnte höchstens an der einen oder anderen Stelle Budgets umschichten – doch die Fortführung des Sparkurses wäre unvermeidbar, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht grundlegend ändern.

le der Parteibasis durchgesetzt. Diese SPD stellt der LINKEN nun Bedingungen für eine Koalition: Sie müsse stärkste Kraft werden und dementsprechend den Ministerpräsidenten stellen. Mit einer konkreten Koalitionsaussage geht die Sozialdemokratie aber nicht in den Wahlkampf – nicht zuletzt, weil DIE LINKE bei einer Umfrage im März auf 26 Prozent kam und damit fünf Prozentpunkte vor der Sozialdemokratie lag. Die Spitze der LINKEN schont die SPD, um ihre mögliche Koalitionspartnerin nicht zu verschrecken. Die Koalitionsabsage der Sozialdemokraten vor den Bundestagswahlen 2013 dürfe man ihnen, so warnt Bull, nicht aus »Eitelkeit und Trotz« nachtragen. Auch beim Landesparteitag der LINKEN im Oktober wurde die Zurückhaltung der Partei deutlich: Durch die gesamte Debatte zog sich das Argument der Finanzierbarkeit und zwängte alle politischen Forderungen in das Korsett der Schuldenbremse. Dementsprechend bekennt sich die Partei in ihrem Landtagswahlprogramm zum Schuldenabbau, auch wenn dieser »so gestaltet werden« solle, »dass Spielräume für Neueinstellungen in den Schulen, bei der Polizei und im Landesdienst sowie wichtige Investitionen möglich bleiben«. Die Forderung nach einem kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) wurde zur Forderung nach einem kostengünstigen ÖPNV zurückgeschraubt. An vielen Stellen macht das Programm den Eindruck, auf radikale Forderungen zu verzichten, um »regierungsfähig« zu sein. Zu befürchten ist, dass weitere Projekte aus dem Programm während der Koalitionsverhandlungen unter den Tisch fallen. Wie weit solche »Kompromisse« am Verhandlungstisch gehen können, zeigen die Erfahrungen von anderen linken Regierungsbeteiligungen.

Wulf Gallerts Anbiederung an die SPD schwächt DIE LINKE

★ ★★

Unter dem Titel »Opposition ist Mist? Bilanz der linken Regierungsbeteiligung in Thüringen und Brandenburg« wollen wir beim Kongress »MARX IS` MUSS 2016« mit Mitgliedern der LINKEN über Regierungsbeteiligung diskutieren. Sichere dir jetzt den Frühbucherrabatt. Mehr Informationen findest du auf marxismuss.de.

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Die SPD, potenzielle Koalitionspartnerin der LINKEN in Sachsen-Anhalt, stellt diese Bedingungen nicht in Frage. Sie hat noch jede Kürzung mitgetragen. Ihrem Jugendverband, den Jusos in Halle, untersagte die Mutterpartei sogar, Fahnen zu einer Demo gegen die Kürzungen mitzubringen. Der über die Landesliste Sachsen-Anhalt gewählte Burkhard Lischka war als innenpolitischer Sprecher der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion maßgeblich an der Asylgesetzverschärfung von Anfang Juli beteiligt. Die SPD-Parteivorsitzende von Sachsen-Anhalt, Katrin Budde, hat sich beim SPD-Konvent im Juni für die Vorratsdatenspeicherung stark gemacht und sie gegen den Widerstand weiter Tei-

Bull hofft, die SPD nach links drängen zu können. Doch dieses Vorhaben ist in der Vergangenheit schon häufiger gescheitert, beispielsweise in Brandenburg, wo DIE LINKE seit dem Jahr 2009 zusammen mit der SPD regiert. Hier konnte die Partei zwar einige positive Reformen durchsetzen, wie die Einführung des Wahlrechts ab 16 Jahren, die Einstellung von mehr Lehrkräften, eine Verbesserung der Kitabetreuung oder die Einführung eines Mindestlohns bei öffentlichen Aufträgen. Doch im Gegenzug zu diesen Verbesserungen musste DIE LINKE viele bittere Pillen schlucken: Sie hat die öffentlichen Investitionen gesenkt und Millionen Euro an die Banken zurückgezahlt. Trotz Steuermehreinnahmen und einer besseren Finanzierung


einen starken Betriebsrat möglich. DIE LINKE begleitete die Proteste durch ihre Teilnahme und dadurch, dass linke Kommunalpolitiker Druck auf die Aufsichtsräte der Sparkasse ausübten. Seit 2013 gingen Studierende und Kulturschaffende mehrmals gemeinsam gegen Kürzungen auf die Straße. Ihre Demonstrationen erreichten Teilnehmerzahlen von bis zu 10.000. Mit ihrem Abwehrkampf konnten sie zumindest einen Teilerfolg erringen. Doch die Beteiligten hätten sich hier mehr Unterstützung von der LINKEN gewünscht. Denn diese begleitete die Proteste lediglich rhetorisch im Parlament. Gerne ließen sich ihre Spitzenpolitiker zudem bei den großen Demonstrationen in der ersten Reihe ablichten. Wenn DIE LINKE in eine Regierung eintritt, wird sie sich entscheiden müssen, ob sie Rücksicht auf ihre Koalitionspartnerin nimmt oder Protestbewegungen gegen Sozialkürzungen unterstützt. Ich meine: Anstatt an der Seite der SPD den Elendsverwalter zu geben, kommt es darauf an, außerparlamentarischen Widerstand aufzubauen und Druck auf die Regierung auszuüben. DIE LINKE in Sachsen-Anhalt muss viel stärker in solche Kämpfe eingreifen und zum Motor der außerparlamentarischen Bewegung werden. Es bleibt daher zu hoffen, dass die Partei ein starkes Wahlergebnis einfährt und dann selbstbewusst gegenüber der SPD auftritt, ihrem Wahlprogramm treu bleibt und klare rote Haltelinien formuliert: keine Privatisierungen, kein Sozialabbau, keine Verschlechterung der Aufgabenerfüllung des öffentlichen Diensts und keine Abschiebungen. Ansonsten verliert sie ihren Daseinszweck. ■

Wulf Gallert, Kandidat der LINKEN für das Amt des Ministerpräsidenten in Sachsen-Anhalt, bei einer Parteiversammlung am 14. November

★ ★★ Vincent Streichhahn ist Mitglied der LINKEN in Halle und aktiv bei Die Linke.SDS

Neues aus der LINKEN

Es komme darauf an Verantwortung zu übernehmen, lautet eine oft bemühte Rechtfertigung für Regierungsbeteiligungen. Doch Verantwortung ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit Ministerposten, sondern könnte auch heißen, soziale Kämpfe für bessere Lebensverhältnisse zu organisieren. Hierfür gab es in Sachsen-Anhalt in den vergangenen Jahren genügend Gelegenheiten. Die Beschäftigten des Sparkassen-Callcenters »S-Direkt« in Halle streikten 2012 erfolgreich für einen Tarifvertrag, ganze 117 Streiktage lang. Das war nur durch die Unterstützung von ver.di, einer ständigen Kommunikation untereinander, starke Betriebsgruppen und

© DIE LINKE Sachsen-Anhalt / CC BY / flickr.com

können einige Kommunen keinen Haushalt aufstellen. An den Hochschulen hat DIE LINKE die Beibehaltung von Rückmeldegebühren mitgetragen und die Zusammenlegung zweier Hochschulen trotz des massiven Protests der Studierenden beschlossen. Zudem hat die rot-rote Regierung den Stellenabbau im öffentlichen Dienst fortgeführt und das Pensionsalter von Beamten angehoben. Wirtschaftsminister Ralf Christoffers von der LINKEN hat sich für die umweltschädliche Vergrabung von Kohlendioxid im Boden starkgemacht – gegen den Protest vieler Gemeinden und Parteigliederungen. Zudem stimmte DIE LINKE der Ausweitung des von Vattenfall betriebenen Braunkohle-Tagebaus in Welzow zu. Das widersprach nicht nur ihrem Parteiprogramm für eine soziale Energiewende, sondern auch den Forderungen aus dem Landtagswahlkampf von 2009 (»Konsequent gegen neue Tagebaue«). Nicht von ungefähr hat die Partei in den Braunkohlegebieten im Süden Brandenburgs mit elf bis dreizehn Prozentpunkten überdurchschnittlich viele Stimmen verloren. Aber auch landesweit hat sie ihr Ziel verfehlt, zum ersten Mal in ihrer Geschichte trotz einer Regierungsbeteiligung stabil zu bleiben. Stattdessen sank ihr Stimmenanteil bei der Landtagswahl im Jahr 2014 von 27,2 auf 18,6 Prozent. Rund 115.000 ehemalige LINKE-Wähler blieben zu Hause, 20.000 wählten diesmal die AfD. Auch in Sachsen-Anhalt besteht die Gefahr, dass die AfD auf der Welle der rassistischen Hetze gegen Flüchtlinge in den Landtag gewählt wird. DIE LINKE kann mit antirassistischen und sozialen Argumenten sowie durch praktische Solidarität mit den Flüchtlingen einen wichtigen Beitrag dazu leisten, das zu verhindern. Die Erfahrung der Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen sollte uns eine Lehre sein. Dort hat ein auf Regierungsbeteiligung ausgerichteter, moderater Wahlkampf der AfD das Feld der Opposition gegen die »etablierten« Parteien überlassen. Antirassistische und antikapitalistische Plakate der LINKEN gab es dort nicht. Im Ergebnis verlor die Partei auch in Thüringen 16.000 Wählerinnen und Wähler an die AfD.

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MARX21 Online Yaak Pabst beantwortet die wichtigsten Fragen zur Flüchtlingskrise. Online auf marx21.de. Martina Kelm via facebook: Endlich mal Klartext – ich kann das Geschwafel und die gegenseitigen Schuldzuweisungen dieser sogenannten Politiker von CDU, CSU und SPD nicht mehr hören. 1 · 4.September 08:22 Uhr

TOP TEN

AUGUST/SEPTEMBER/ OKTOBER Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de

1. Die Fluchtursachen bekämpfen,

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nicht die Flüchtlinge 2. Leo Trotzki:

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Die Feder 3. Türkei: Die Taktik Erdogans

Alban Werner via facebook: Na dann können wir alle beruhigt sein. Kapazitätsprobleme? Gibt es nicht! Arbeitsplätze für die Geflüchteten, um verschärfte Niedriglohnkonkurrenz zu verhindern? Völlig zweitrangig! Bekämpfung der Fluchtursachen? Darüber redet man gefälligst nicht! Unzureichender Wohnraum? Steckt die Leute einfach in leere Bürogebäude! Konfliktpotential unter den Geflüchteten? Alles bürgerliche Propaganda! Gesetzgebung zur Regulierung von Einwanderung? Per se reaktionär! Alles liegt nur am Hauptwiderspruch! Ist alles ein Klacks, wir müssen nur wollen! *Sarkasmus off* 0 ·17. Oktober 19:12 Uhr

(1119)

und die PKK 4. Asylrecht:

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Das Boot ist nie voll 5. Griechenland:

(964)

Der Kampf geht weiter 6. Grenzkontrollen sind

(913)

keine Lösung 7. Flüchtlinge: Grenzen auf!

(909)

Bleiberecht für alle! 8. Filmkritik: »Straight Outta

★ minus 21 Follower in den letzten zwei Monaten (4019 Follower insgesamt)

(708)

marx21.de bei facebook:

(683)

Schwein geschlachtet« Insgesamt gab es im Oktober 25.035 Aufrufe der Seite marx21.de (21.454 im August / 25.749 im September) 58

ONLINE ANGEKLICKT

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islamischen Terrorismus? 10. Zweiter Weltkrieg: »Das falsche

Rene Wolf via facebook: Wozu braucht der Mensch ein »Bleiberecht«, wenn er nun mal da ist, wo er gerade ist? Klar, das ist wieder eine finanzielle Frage. Auf Dauer hat nur Bleiberecht, wer für seine Bleibe blecht. 0 ·6. Oktober 12:43 Uhr

marx21.de bei twitter:

Compton« 9. Was sind die Ursachen des

Frederik Blauwhof via facebook: Danke für die schnelle Stellungnahme 3 ·16. September 16:01 Uhr

★ plus 44 Fans in den letzten zwei Monaten (3794 Fans insgesamt)


NACHRUF

Du fehlst uns, compañero! Am 6. November ist unser Genosse Ergün Bulut völlig unerwartet verstorben. Wir verlieren einen unermüdlichen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit ompañera!« grüßte mich Ergün immer, strahlte über das ganze Gesicht und fragte, wie es mir ginge. Mit ihm verband mich ein langer gemeinsamer politischer Weg. Mitte der 1990er Jahre wurde Ergün in Frankfurt bei der Gruppe Linksruck aktiv. Er arbeitete damals als Zusteller bei der Post. Ich erinnere mich, wie er von den Folgen der Postprivatisierung berichtete. Den Druck und die Schikane konnte er nicht ertragen. Er organisierte sich im Betrieb als Gewerkschafter und Sozialist. Schließlich wurde ihm gekündigt und er war längere Zeit erwerbslos. Als im Jahr 2004 die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) entstand, war Ergün sofort zur Stelle und baute die neue Linkspartei mit auf. Ergün war da. Nie in der ersten Reihe, nie laut. Aber immer da. Auf Versammlungen, bei Infoständen, Steckaktionen und auf Demonstrationen. Ergün verkörperte den Kampf um soziale Gerechtigkeit gleichermaßen wie für internationale Solidarität. Ich erinnere mich besonders an zwei Demonstrationen, bei denen wir im vergangenen Jahr gemeinsam waren: Zum einen war das ein Protest in Solidarität mit dem kurdischen Widerstand in Kobane und gegen das PKK-Verbot. Ergün ging der Kampf in Kobane sehr nah. Er trug ein großes Plakat gegen das PKK-Verbot. Zum anderen nahmen wir an einer Kundgebung von Beschäftigten der Sozial- und Erziehungsdienste im Offenbacher Büsingpark teil. Zuvor hatten wir gemeinsam hunderte Süßigkeiten mit Solidaritätsgrüßen für die Erzieherinnen beklebt und waren zusammen zur Kundgebung gelaufen. Sein Platz war unter den Streikenden. Die Auseinandersetzung mit dem revolutionären Marxismus hat ihn geprägt. Ergün las, fragte und diskutierte. Für die Geschichte des Films interessierte er sich besonders. Und er arbeitete in seinem Umfeld politisch. Er suchte die Diskussion mit Kolleginnen und Kollegen, brachte ihnen linke Zeitungen und Materialien – und brachte sie mit zu Veranstaltungen. Er war zudem ein unglaublich netter Mensch: offen, herzlich, hilfsbereit und positiv denkend. Seit einigen Monaten arbeitete Ergün als Wahlkreismitarbeiter für die hessische Landtagsabgeordnete Barbara Cardenas. Diese Arbeit hat ihm großen Spaß gemacht. Am Freitag, den 6. November, ist Ergün völlig unerwartet an Herzversagen gestorben. Wie alle, die ihn kannten und ihm öfter begegneten, kann ich immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr da ist. Du fehlst uns, compañero! ■

NACHRUF

C

Von CHRISTINE BUCHHOLZ

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Was MACHT MARX21?

»Wir wollen diskutieren, wie eine bessere Welt aussehen kann« Vier Tage, hundert Veranstaltungen, ein Kongress: Auch im Jahr 2016 lädt das Netzwerk marx21 wieder zum Kongress »MARX IS‘ MUSS«. Wir sprachen mit der Organisatorin Fanni Stolz Fanni, du organisierst den Kongress »MARX IS‘ MUSS«. Als Linke können wir uns ja manchmal vor Veranstaltungsangeboten kaum retten … Das stimmt, aber »MARX IS‘ MUSS« ist in jedem Jahr mein persönliches Highlight! Warum? Wir erleben gegenwärtig eine extrem polarisierte gesellschaftliche Situation: Auf der einen Seite gibt es Hunderttausende, die in Deutschland Sicherheit suchen und breite Solidarität erfahren. Auf der anderen Seite nehmen leider auch rassistische Vorurteile und rechte Gewalt zu. Gruppen und Bewegungen wie die AfD und Pegida erhalten starken Zulauf. In dieser Situation wollen wir uns darüber austauschen, wie eine andere, bessere Welt aussehen könnte. Es ist noch gar nicht lange her, da war Griechenland das bestimmende Thema. Wir gehen davon aus, dass wir über ganz grundsätzliche Punkte diskutieren müssen, um die Gesellschaft verstehen zu können. Deswegen bieten wir auf dem Kongress ein spannendes und umfangreiches Programm mit über hundert Veranstaltungen an. Dazu laden wir Aktivistinnen und Aktivisten, Experten und Expertinnen sowie linke Prominente ein. Auch bemühen wir uns um internationale Gäste, beispielsweise aus den USA oder dem Nahen Osten. Wir nehmen uns Zeit, über historische Themen zu reden, aktuelle Debatten marxistisch zu betrachten und basierend

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Fanni Stolz

Fanni Stolz gehört dem Organisationsteam an, das »MARX IS‘ MUSS 2016« vorbereitet.

Theorie kommt im politischen Alltag oft zu kurz

darauf strategische Diskussionen zu führen. Zu unserem Kongress kommen Besucherinnen und Besucher aus dem ganzen Bundesgebiet, zum Teil sogar aus den europäischen Nachbarländern. Zwischen grundlegenden Debatten und strategischen Diskussionen schaffen wir Platz für einen Praxisaustausch. Und zu guter Letzt ist es immer schön, bei dem Kongress neue Gesichter kennenzulernen und alte Bekannte wiederzutreffen. Wie spiegelt sich das im Programm wider? Den Schwerpunkt legen wir auf zwei große Themenblöcke: einen zu Austerität und Klassenkämpfen in Griechenland und im restlichen Europa sowie einen zum Kampf gegen Rassismus. Die Zunahme rechter Gewalt ist erschreckend. Pegida, NPD, AfD und ihr Gesinnungsumfeld wollen die aktuelle Situation für sich ausnutzen. Im kommenden Jahr stehen einige Landtagswahlen an. Es ist möglich, dass die AfD in weitere Parlamente einzieht. Wie soll die Linke darauf reagieren? Wie kann die rassistische Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und der Europäischen Union gestoppt werden? Auch wenn das keine einfachen Diskussionen werden, freue ich mich darauf, sie beim »MARX IS‘ MUSS« zu führen. Ebenso freue ich mich auf andere Themen, die schon seit Jahren eine wichtige Rolle bei unserem Kongress spielen – etwa Frauenbefreiung marxistisch zu betrachten und zu verstehen. Für mich als Studen-


© David Paenson

Kein Stuhl blieb leer: Spannende und kontroverse Debatten lockten dieses Jahr 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Kongress »MARX IS' MUSS«

Es gibt auch einen Seminartag. Was passiert da? Der Seminartag existiert nun schon seit mehreren Jahren. Wir haben einfach bemerkt, dass die Aneignung von Theorie in unserem politischen Alltag oft zu kurz kam. Wir sind davon überzeugt, dass man die Welt verstehen muss, um sie zu verändern. Deshalb bieten wir zu acht verschiedenen klassischen marxistischen Themenfeldern Seminare an: von der Kritik der Ökonomie über Philosophie bis hin zu Staat und Revolution. Dabei nehmen wir uns den ganzen ersten Kongresstag Zeit, Texte zu lesen, zu verstehen und diese untereinander zu diskutieren. Das kommt gut an: Im vergangenen Jahr nahmen über 350 Personen am Seminartag teil. Vorbereitet wird der Tag von den Studierenden

des Netzwerks marx21. Aber keine Sorge: Natürlich sind alle herzlich willkommen, auch diejenigen, die nicht studieren. Im Frühjahr werden die Seminartexte in Form kleiner Broschüren auf unserer Website erscheinen. Wie kann man den Kongress unterstützen? Indem man sich früh anmeldet! Jede frühe Anmeldung hilft uns bei der Planung – und wird mit einem Frühbucherrabatt belohnt. Wir freuen uns natürlich über

jeden und jede, der oder die uns bei der Mobilisierung helfen möchte. Es nützt uns auch, wenn ihr an der Universität, im Betrieb, im lokalen LINKE-Büro oder in Kneipen und Cafés »MARX IS‘ MUSS«Flyer und Plakate auslegt. Gerne schicken wir Interessierten Mobilisierungsmaterialien. Meldet euch einfach bei uns unter: mim@marx21.de. Außerdem könnt ihr unsere Website besuchen, »gefällt mir« auf unserer Facebook-Seite klicken und sie mit euren Freundinnen und Freunden teilen. ■

InFO PREISE Frühbucherrabatt: Berufstätige: 40,00 Euro Ermäßigt: 20,00 Euro Soli Ticket: 60,00 + X Euro* *Spendenquittungen auf Anfrage erhältlich

ANMELDUNG Anmedlung und alle Infos zu neuen Veranstaltungen, neuen Referentinnen und Referenten sowie aktuelle Interviews gibt es auf facebook/MarxIsMuss oder auf der Website des Kongresses: www.marxismuss.de

Was macht marx21?

tin ist der Kongress auch deshalb so spannend, weil marxistische Grundlagen an den Universitäten kaum mehr angeboten werden. Das ganze Programm wird übrigens im Januar auf www.marxismuss.de erscheinen.

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SERIE »RADIKALE DENKERINNEN«

Kundgebung von Podemos im März 2014 in der andalusischen Stadt Málaga

Aufbruch und Ausverkauf Die Spitze der spanischen Linkspartei Podemos orientiert sich an den Theorien von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Doch deren Strategie ist kein guter Ratgeber für die politische Praxis Von Miguel Sanz Alcántara, Rabea Hoffmann und Ronda Kipka

S

panien steht kurz vor der Parlamentswahl: Am 20. Dezember wird sich zeigen, ob die junge Partei Podemos eine Mehrheit erlangen kann. Zwischenzeitlich stand sie in Umfragen bei rund 28 Prozent. Seit der Europawahl 2014, bei der sie aus dem Stand 1,2 Millionen Stimmen (rund acht Prozent) und damit fünf Sitze gewann, hat sich ihr Charakter jedoch deutlich verändert. Der Ursprung von Podemos liegt in der Bewegung 15M. Diese ist nach dem 15. Mai 2011 benannt, an dem Aktivistinnen und Aktivisten landesweit zent-

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Der Einfluss der Parteibasis ist zurückgegangen


Mittlerweile spiegelt sich diese Mobilisierung aber nicht mehr in der Politik der Parteiführung wider. Besonders deutlich wird das an deren aktuellen Forderungen. So spricht der Generalsekretär Iglesias nicht mehr von Schuldenschnitt und finanzieller Mindestsicherung für alle. Außerdem behauptet er, Podemos sei weder rechts noch links. Vielmehr gehe es darum, als »anständige Menschen« die Politik zu verändern und die Bedürfnisse der Bevölkerung gegen die korrupte »Kaste« der spanischen Eli-

Laclaus und Mouffes Theorie gründet auf einer Kritik an jener Auslegung des Marxismus, wonach die Ökonomie stets die Gesellschaft determiniert. Doch sie gehen noch weiter und stellen grundsätzlich die Existenz von Klassen infrage: Jede Art von Identität sei nur temporär und könne nie vollständig fixiert werden. Nach dieser Logik sind der Kampf gegen ökonomische Ausbeutung und jener gegen politische Unterdrückung nicht miteinander verbunden. Die Linke müsse sich also von der »alten« Klassenpolitik verabschieden und stattdessen klassenübergreifende Bündnisse eingehen. Denn die Arbeiterklasse spiele keine zentrale Rolle mehr und Klassenkampf sei nur einer von vielen gesellschaftlichen Widersprüchen. »Es gibt sicherlich kein Proletariat mehr«, sagte Chantal Mouffe einst in einem Interview mit der »taz«, »aber es gibt ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich nicht vom Modernisierungskurs der Sozialdemokratie angesprochen fühlen. Diese Menschen fühlen sich bedroht von der neoliberalen Globalisierung.« Mit solchen Ansichten schwammen Laclau und Mouffe im linken Mainstream. Seit den 1980er Jahren erlebte die Linke den Rückgang der Arbeiterbewegung und das Aufkommen von neuen sozialen Bewegungen. Mouffe und Laclau kritisieren mit ihren Ansichten eine Auslegung des Marxismus, wie sie vor allem die »realsozialistischen« Staaten vertraten. Dort wurde die Rolle der Wirtschaft überbetont und nahezu alle gesellschaftlichen Phänomene »ökonomistisch«

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Miguel Sanz Alcántara ist Mitglied von Podemos Berlin und Mitbegründer der Gewerkschaftlichen Aktionsgruppe (GAS) für die Organisierung zugewanderter Beschäftigter.

Rabea Hoffmann ist Redakteurin von marx21 und aktiv bei Die Linke.SDS Berlin.

Ronda Kipka ist Redakteurin von marx21 und Mitglied des Bundesvorstands von Die Linke.SDS. Dieses Jahr studierte sie mehrere Monate in Córdoba, Spanien.

Radikale Denkerinnen

© Cyberfrancis / CC BY-NC-ND / flickr.com

rale Plätze besetzten und Protestcamps errichteten. Sie kritisierten das Parteiensystem Spaniens und forderten »echte Demokratie«. Als die regierungs- und eigentlich auch parteienkritische Bewegung zunehmend abflaute, beschloss ein Kreis von Akademikern um den Politikwissenschaftler Pablo Iglesias die Gründung eines politischen Projekts, um mit dem Slogan »Ihr repräsentiert uns nicht« bei der Europawahl im Mai 2014 anzutreten. Das Besondere war dabei nicht der mögliche Wahlerfolg, sondern die Mobilisierung Tausender, die in ganz Spanien über 900 Basiszirkel gründeten. Zur ersten landesweiten Versammlung kamen über 8000 Menschen. Es entstand etwas, wovon viele Linke lange geträumt hatten: eine Partei mit einer breiten und aktiven Basis.

te durchzusetzen. Die Parteibasis hat dramatisch an Einfluss verloren. Carolina Bescansa aus der Parteiführung erklärte kürzlich in einem Interview, es gäbe »ein Podemos, um zu protestieren, und ein anderes, um zu gewinnen«. Das war ein deutlicher Seitenhieb gegen die Bemühungen des aktivistischen Kerns von Podemos, den basisdemokratischen und radikalen Charakter der Partei zu erhalten. Die Parteispitze hat zurzeit nur ein Ziel: Wahlen zu gewinnen. Ihr Hauptreferenzpunkt für diese Strategie ist die postmarxistische Theorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Ernesto Laclau, geboren 1935 in Buenos Aires, politisierte sich in der Jugendorganisation der Sozialistischen Partei Argentiniens und in der Studierendenbewegung. Von 1969 bis zu seinem Tod im Jahr 2014 lebte er in Europa, überwiegend in Großbritannien. Nach der Errichtung der argentinischen Militärdiktatur im Jahr 1976 rückte er zunehmend von seiner marxistischen Überzeugung ab und begründete zusammen mit der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe den sogenannten Postmarxismus. Ihr gemeinsames Werk »Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus« aus dem Jahr 1985 ist eine der bekanntesten Schriften dieser theoretischen Richtung.

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erklärt. Dementsprechend basiert die postmarxistische Theorie darauf, lediglich eine Karikatur des klassischen Marxismus zu kritisieren. Solchen Vorstellungen widersprach jedoch schon Friedrich Engels: »Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate (...) Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu DogPablo Iglesias‘ Fernsehsendungen verhelfen ihm und seiner Partei Podemos zu großer Bekanntheit. »Fort Apache« ist im Gegensatz zur Talkshow »La Tuerka« eher in Monologform gehalten. Iglesias erörtert und kommentiert hier bestimmte Themen

Ronda und Miguel werden auch bei »MARX IS` MUSS 2016« zu Podemos sprechen. Unter anderem werden sie eine kritische Bilanz der Parlamentswahl ziehen, die bis dahin stattgefunden hat. Auch zu anderen linken Parteien und Bewegungen in Europa wird es Veranstaltungen auf unserem Kongress geben. Mehr Informationen findest du auf marxismuss.de.

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Gramsci war es wichtig, eine Gegenhegemonie zum bestehenden kapitalistischen System zu entwickeln. Laclau und Mouffe hingegen geht es darum, »einen Diskurs zu konstruieren«, der verschiedene Gesellschaftsschichten einschließt, weit über die Arbeiterklasse hinaus. Unter Diskurs verstehen sie eine reine Artikulationspraxis, also hauptsächlich Sprache und Auftreten. Ihrer Meinung nach gestalten Diskurse gesellschaftliche Verhältnisse. Somit findet politische Betätigung innerhalb sogenannter diskursiver Felder statt. Hegemonie besteht für sie darin, einen Diskurs herzustellen, der Ziele enthält, denen sich

Viele Aktive wenden sich von Podemos ab

mensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form.« ★ ★★

behaupten heute noch, dass wir eine Revolution wie die Sowjetrevolution brauchen. Aber wenn wir etwas von dieser Erfahrung lernen, der tragischen Erfahrung des real existierenden Sozialismus, dann ist es doch genau das, dass diese Strategie, einen kompletten Neustart zu wagen, nicht funktioniert.«

Bei der Entwicklung ihrer Theorien beziehen sich Laclau und Mouffe unter anderem auf den italienischen Marxisten und Mitbegründer der italienischen kommunistischen Partei Antonio Gramsci und dessen Hegemoniebegriff. Gramscis Konzept der sozialistischen Hegemonie sieht vor, dem kapitalistischen Staat nicht nur im direkten Angriff auf die Staatsmacht, sondern auch auf ideologischer Ebene entgegenzutreten. Das begründete er unter anderem mit dem widersprüchlichen Bewusstsein der Unterdrückten. Laclau und Mouffe reduzieren seine Theorie jedoch auf den ideologischen Kampf gegen die herrschende Klasse. Dabei klammern sie dieses widersprüchliche Bewusstsein ebenso aus wie die revolutionäre Prämisse, die Gramscis Werk prägte. Das Resultat ist folgendes: Sah der klassische Marxismus seine Aufgabe im Kampf gegen den bürgerlichen Staat, so wollen Mouffe und Laclau den Kampf um den Staat führen. »Es reicht nicht aus, zu sagen, dass wir das Ende des Kapitalismus wollen«, erklärte Mouffe. »Ich denke, dass es entscheidend ist, sich mit den bestehenden Institutionen auseinanderzusetzen und dies bedarf eines langen Prozesses. Einige in der Linken

verschiedene soziale Gruppen anschließen. Es geht also mehr um Identitäts- und sprachliche Zuschreibungen als um ein Erkennen des Klassenkonflikts. In seinem Buch »On Populist Reason« (etwa: Populistisch Argumentieren) aus dem Jahr 2005 beschreibt Laclau, wie aus den unterschiedlichen Forderungen verschiedener gesellschaftlicher Bereiche ein politisches Subjekt, »das Volk«, geformt werden soll. Dafür müssen diese Forderungen in ein gemeinsames, begrenztes Feld zusammengeführt werden. Ebenso muss ein »Außen«, ein Feind jenseits der Grenze dieses Feldes, definiert werden. Dabei zeichnet sich das »Innen«, also das Volk, nicht durch konkrete Inhalte aus, sondern vor allem durch die Abgrenzung zum »Außen«. Die Podemos-Führung beispielsweise bedient sich dafür des Begriffs »Kaste«, der die kleine herrschende Elite Spaniens beschreiben soll. Für ein solches Vorhaben werden »leere Signifikanten« benötigt. Dabei geht es im Wesentlichen darum, bestimmte Forderungen auszuwählen und diese für ein Ziel, zum Beispiel Parlamentswahlen, zu nutzen. Ein Beispiel für einen solchen »leeren Signifikanten« sei die Forderung »Land, Brot und Frieden« aus der Russischen Revolution von 1917. Jenseits seiner konkreten Bedeutung transportierte dieser Slogan verschiedene Kritikpunkte am Zarismus. Die »leeren Signifikanten« formuliert in Laclaus Theorie jedoch nicht die Bevölkerung, sondern sie werden von In-


tellektuellen und der Parteiführung nach einer Analyse der gesellschaftlichen Stimmungen entwickelt. Intellektuelle und eine starke Führung spielen also eine Schlüsselrolle für das jeweilige politische Projekt, da sie die Diskurse und die ideologische Ausrichtung bestimmen und planen. Damit das politische Subjekt (»das Volk«) sich nicht auflöst, brauche es eine charismatische Führung, die die Sehnsüchte und Leidenschaften der Massen mobilisieren und symbolisch repräsentieren kann. Laclau und Mouffe blenden die Möglichkeit einer demokratischen Bewegung »von unten« aus, womit sie sich ebenfalls gegen den klassischen Marxismus positionieren. »Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein«, schrieben hingegen Marx und Engels. »Wir können also nicht zusammengehn mit Leuten, die es offen aussprechen, dass die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien und erst von oben herab befreit werden müssen durch philanthropische Großund Kleinbürger.« Laclau und Mouffe landen schlussendlich bei genau solch einem Sozialismus »von oben«, den sie beim »orthodoxen Marxismus« und Stalinismus noch kritisiert hatten.

retische Schwachstelle der Theorie von Laclau und Mouffe auf: Der bewusst mehrdeutig konstruierte Diskurs lässt Anschlussmöglichkeiten nach rechts offen. Es bleibt die Frage, was nach den Wahlen passiert. Die Erfahrungen von Syriza und anderen linken Partei lassen daran zweifeln, dass sich durch Regierungsübernahme antineoliberale Politik durchsetzen lässt. Die Lähmung der Basis veranlasste bereits viele linke Aktivistinnen und Aktivisten, sich von Podemos abzuwenden und neue Parteien zu gründen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens Metroscopia entspricht das Wählerprofil von Podemos auch nicht dem oft vermittelten Bild junger, systemkritischer Menschen: 66 Prozent der Wähler sind älter als 35 Jahre. Im Sommer sind die Umfragewerte der Partei auf unter 18 Prozent gesunken. Laclaus und Mouffes Strategie führt nicht zu einer Veränderung des kollektiven Bewusstseins. Die marxistische Tradition sieht hingegen den Kampf in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen als Mittel an, um mit der herrschenden Ideologie zu brechen und somit Klassenbewusstsein zu schaffen. Diskurse allein, ohne konkrete Kämpfe und ein gemeinsames revolutionäres Projekt, reichen nicht aus. ■

Sevilla im Mai 2011: Die Hände der Protestierenden sind in den Himmel gestreckt. Überall in Spanien besetzen Aktivistinnen und Aktivisten zentrale Plätze und errichteten Protestcamps. Sie kritisieren das Parteiensystem des Landes und fordern »echte Demokratie«. Die Bewegung 15M mobilisierte Hunderttausende, auch die Partei Podemos hat hier ihre Ursprünge

Radikale Denkerinnen

Die Führungsspitze von Podemos folgt explizit der Theorie Laclaus und Mouffes. In der Praxis drückt sich das darin aus, dass die Partei ihr linkes Programm zunehmend aufgeweicht hat, um die Anschlussfähigkeit an weitere Bevölkerungsschichten zu erhöhen, selbst wenn diese zum Teil gegensätzliche Interessen haben. Es ist schwierig, die Arbeiterinnen und Arbeiter, die aus der 15M-Bewegung stammen (und auf der Straße Slogans wie »Unsere Lösung ist, Banker ins Gefängnis zu stecken« riefen), mit »ehrlichen Geschäftsleuten« zusammenzubringen. Doch genau das ist das Ziel der Podemos-Führung. Diese Herangehensweise ist wenig geeignet, eine Bewegung mit klaren Zielen aufzubauen, die in der Lage ist, massenhaft Menschen zu mobilisieren und soziale Rechte zu erkämpfen. Sie soll lediglich dazu dienen, mehr Stimmen bei Wahlen zu bekommen. Die fortschreitende Entmachtung der Basiszirkel (als Orte sozialer Selbstorganisierung und Debatten) ist Teil dieser Strategie. Das Ganze mündet in Unbestimmtheit, mehrdeutigen Diskursen und der Verschleierung von Klassenwidersprüchen. Doch selbst das erklärte Ziel, Stimmgewinne zu erzielen, stößt an seine Grenzen. Denn die konservativ-liberale Partei Ciudadanos (Bürger) wendet erfolgreich ähnliche Strategien wie Podemos an und fischt dabei in denselben Gewässern: Teilen der verarmten Mittelschichten. Forderungen nach Wiederherstellung der Demokratie oder dem Kampf gegen die Korruption können auch von einer Partei wie Ciudadanos genutzt werden. Das zeigt eine theo-

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KULTUR

Wolfgang Schorlaus Kriminalromane über den Privatdetektiv Georg Dengler gehören zu den erfolgreichsten in Deutschland. Die Bücher behandeln brandaktuelle Themen: Im Neuesten soll der Ermittler das Rätsel um den NSU lösen Von Lisa Hofmann

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B

eate Zschäpe kündigt an, im NSU-Prozess umfassend auszusagen. In der gleichen Woche erscheint der neue Roman »Die schützende Hand« des Stuttgarter Autors Wolfgang Schorlau. Der Krimi dreht sich um den Nationalsozialistischen Untergrund und die Verstrickungen staatlicher Stellen und Geheimdienste in die Machenschaften der Zwickauer Terrorzelle sowie die rechte Szene in Deutschland. Der ehemalige BKA-Zielfahnder Georg Dengler, dessen Broterwerb als Privatdetektiv mehr schlecht als recht läuft, erhält von einem anonymen Anrufer einen neuen Auftrag: Er soll herausfinden, wer die zwei Mitglieder des NSU, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, in ihrem Wohnmobil erschossen hat. Auf der Suche nach einer Antwort gerät Dengler in einen Fall, in dem Sicherheitskräfte jahrelang gegen die Opfer und nicht gegen die Täter ermittelten, staatliche Stellen Akten geschreddert haben und die Grenzen zwischen Verfassungsschutz und rechter Szene fließend zu sein scheinen. Mit jedem weiteren Detail, das der Detektiv zu Tage fördert, stellt sich

Schorlau ist auch selbst politisch aktiv immer stärker die Frage, ob es sich bei den Ermittlungspannen lediglich um Behördenversagen handelt, oder ob jemand eine schützende Hand über die Mörder hält und versucht, staatliche Verwicklungen zu verschleiern.

KULTUR

Wie in den vorherigen sieben Kriminalromanen um den Privatdetektiv Georg Dengler greift Schorlau auch in seinem neuen Buch wieder ein aktuelles politisches Thema auf und bezieht eine klare Position. Immer wieder versucht er dabei, die verschiedenen Facetten zweifelhaften staatlichen Handelns zu verdeutlichen: »Wozu ich beitragen kann, ist, eine gesellschaftliche Atmosphäre zu schaffen, in der sich Menschen dafür interessieren, dass etwas nicht stimmt, und welche verschiedenen Sichtweisen es gibt.« So beschäftigt sich Schorlau in seinem ersten Roman »Die blaue Liste« mit der Abwicklung der DDR, alternativen Eigentumsformen für Produktionsmittel und der Frage, wer den Präsidenten der Treuhandanstalt, Detlev Rohwedder, erschossen hat. Daneben thematisiert der Roman zwei weitere ungeklärte Ereignisse aus der Zeit der deutschen Wiedervereinigung, den Tod des RAF-Terroristen Wolfgang Grams in Bad Kleinen und den Absturz der Lauda-Air-Ma-

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schine am 26. Mai 1991. Die folgenden Romane drehen sich um Lynchjustiz in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, die Privatisierung von Wasser, die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan, das Attentat auf das Münchner Oktoberfest, das skrupellose Agieren der Pharmakonzerne und die Arbeitsbedingungen in der Massentierhaltung. Anders als die meisten Krimiautoren wählte Schorlau als Hauptfigur keinen Polizisten, sondern einen Privatdetektiv. Dies ermöglicht dem Autor, einen kritischen Blick auf das Handeln von Polizei und Geheimdiensten zu werfen und seinen Protagonisten auch gegen sie ermitteln zu lassen. Auch in der Biografie des Privatermittlers Dengler spiegelt sich diese Funktion wider und ist ein wichtiger Erzählstrang der Rahmenerzählung, die die einzelnen Kriminalromane miteinander verbindet. Im Verlauf der acht Krimis erfahren die Leserinnen, dass Georg Dengler Mitarbeiter des Bundes-

Das Ziel: Machenschaften von Polizei und Geheimdiensten aufdecken kriminalamts in Wiesbaden war, bis es dort bei dem Terroranschlag auf einen Bankmanager, der stark an das Attentat auf Alfred Herrhausen erinnert, zu Ungereimtheiten kam. Seitdem misstraut Dengler Geheimdiensten und Polizei und versucht, deren dunkle Machenschaften aufzudecken. In »Die schützende Hand« erfährt Georg Dengler, dass sein ehemaliger Gegenspieler beim BKA, Harry Nopper, jetzt Vizepräsident des Thüringer Verfassungsschutzes ist. Dies bringt den Privatdetektiv dazu, mit vollem Einsatz in diesem Fall zu ermitteln und der Frage nachzugehen, von wem die Neonaziszene in Thüringen aufgebaut wurde. Dabei gerät Dengler immer tiefer in ein Geflecht aus Neonazis und Verfassungsschutz. Für die Hintergrundrecherche seiner Romane arbeitet Schorlau eng mit politischen Aktivistinnen und Aktivisten zusammen. Zum Teil ist er ist selbst in Bewegungen aktiv. In seinen Romanen verkörpert Denglers Sohn Jakob die Rolle des politischen Aktivisten. »Der zwölfte Tag« zeigt Jakob als Teil einer Gruppe, die sich für Tierrechte einsetzt und versucht, Tiere aus Massentierhaltung zu befreien. In »Die letzte Flucht« beteiligt er sich an den Protesten gegen Stuttgart 21. Zusammen mit seinem Vater erlebt er am »schwarzen Donnerstag« im Schlosspark die gewaltsame Eskalation der Polizei. Der Autor ist selbst aktiver Gegner des Bauprojektes S21, hat ein Buch zu diesem Thema herausgegeben und sich am Widerstand gegen den Bahnhofsumbau beteiligt.

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Wolfgang Schorlau politisierte sich während der 68er-Bewegung. Damals machte er eine Ausbildung als Großhandelsfachmann in Freiburg. Er schloss sich der Lehrlingsbewegung an und kam dort mit den Ideen von Karl Marx in Berührung. Sehr früh schon hatte er eine Begeisterung für das Lesen entwickelt. Während seiner Kindheit als einer von drei Söhnen einer alleinerziehenden Mutter und später im Waisenhaus waren Bücher für ihn ein Mittel, der düsteren Realität zu entkommen. »Lesen war für mich immer eine Reise in eine andere Welt, eine Flucht aus der Wirklichkeit, auch und gerade im Waisenhaus«, erinnert sich Schorlau. Von einem Tag auf den anderen gibt Wolfgang Schorlau seine gesicherte berufliche Existenz als Manager einer Softwarefirma auf und beginnt mit weniger als 10.000 Euro Rücklage auf dem Konto, Bücher zu schreiben. Anfangs verkauften sie sich nur schleppend, aber mittlerweile gehören sie zu den erfolgreichsten Kriminalromanen in Deutschland. Der Autor erhielt verschiedene Krimipreise und sein Roman »Die letzte Flucht« wurde bereits verfilmt. Die Romane von Wolfgang Schorlau sind nicht nur spannend, sondern bieten auch sehr gut recherchierte Darstellungen der jeweiligen Ereignisse und ihrer Hintergründe. Am Ende jedes Romans gibt es statt einem Nachwort das Kapitel »Finden und Erfinden«. Hier benennt Schorlau seine Quellen und erklärt, welche realen Vorbilder seine Romane haben


In Hamburg erinnern Plakate der Antifaschistischen Aktion an die Opfer des NSU. Von 2000 bis 2006 ermordete die rechte Terrorgruppe acht türkisch- und einen griechischstämmigen Menschen

Teil der Handlung. So können die Leser Georg Dengler bei seinen Ermittlungen über die Schulter schauen. Schorlau schreibt spannende Krimis zu politisch brisanten Themen, die die Leserinnen dazu auffordern, über vermeintlich klare Sachverhalte und Zusammenhänge noch einmal nachzudenken. Dabei wirkt er nie belehrend, sondern macht Angebote zum Fragen und Zweifeln. Für alle, die einen gut recherchierten und spannenden Krimi schätzen, der seine Leser ernst nimmt und zum Denken anregt, ist die Reihe um den Privatdetektiv Georg Dengler eine gute Wahl. ■

DAS BUCH

★ ★★ Wolfgang Schorlau Die schützende Hand. Denglers achter Fall Köln 2015 Kiepenheuer und Witsch 384 Seiten 14,99 Euro

Lisa Hofmann ist Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstands der LINKEN in Hessen. Ihre Diplomarbeit schrieb sie über politische Kunst. KULTUR

und was er tatsächlich nur erfunden hat. Oft veröffentlicht er auch weitere Artikel oder Interviews zu den Themen der Romane. Am Ende des Romans »Der zwölfte Tag«, der sich mit den Zuständen in der Fleischindustrie beschäftigt, ist zum Beispiel ein Interview mit einem Gewerkschaftssekretär über die realen Arbeitsbedingungen in diesem Bereich abgedruckt. Wer noch tiefer in die jeweiligen Themen einsteigen möchte, findet auf der Homepage des Autors (www.schorlau.de) alles verwendete Material und weitere Literaturempfehlungen. So können die Leser zwischen der Fiktion der Erzählung und der gesellschaftlichen Wirklichkeit unterscheiden. »Warum soll alles, was die Polizei und Justiz sagt, immer wahr sein? Warum sollten wir nicht mal in eine andere Richtung denken?«, fragt Schorlau. Er betrachtet die geschichtlichen Fakten aus einem anderen Blickwinkel oder setzt die bekannten Mosaiksteinchen anders zusammen und erzeugt ein neues Bild der Realität. Das Offenlegen der Quellen unterscheidet Schorlau von Verschwörungstheoretikern. Seine Bücher lassen die Leserinnen entscheiden, ob sie der Sichtweise des Autors folgen. Im aktuellen Roman »Die schützende Hand« geht Schorlau den Weg der literarischen Ermittlung und des aufklärerischen Kriminalromans noch einen Schritt weiter. Er verflicht nicht nur die Erzählung mit tatsächlichen Begebenheiten, sondern macht Originaldokumente und andere Quellen zu einem

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WEIHNACHTSTIPPS

Geschenktipps der marx21-Redaktion Ein ereignisreiches Jahr geht zu Ende. Für Weihnachten empfehlen wir Gaben, mit denen auch eingefleischte Aktivistinnen und Aktivisten über die Feiertage mal guten Gewissens abschalten können ★ ★★

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Ronda Kipka empfiehlt den Roman »Bewohnte Frau«

David Jeikowski empfiehlt den Film »Ich will mich nicht künstlich aufregen«

Hans Krause empfiehlt die Serie »Mom«

»Bewohnte Frau« von Gioconda Belli folgt zwei Frauen, deren Leben sich um die politische Widerstandsbewegung in Lateinamerika dreht. Lavinia, eine junge Architektin, politisiert sich nach und nach und schließt sich dem bewaffneten Kampf gegen die Diktatur an. Der Handlungsort bleibt ungenannt, ist aber an der Geschichte Nicaraguas angelehnt, wo die Autorin selbst im Jahr 1970 Teil der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN wurde. Literarisch besonders spannend, weil vom Stil her eher poetisch-rezitativ gehalten, ist die zweite Protagonistin Itzá, die als historisches Spiegelbild im 16. Jahrhundert von dem Freiheitskampf der Indigenen in den Zeiten der Conquista und spanischen Besatzung spricht.

Die Handlung ist schnell erzählt: Einer Kuratorin werden wegen eines kritischen Radiointerviews Fördergelder entzogen und sie macht sich auf die Suche nach Alternativen. Die Story ist jedoch weder sonderlich stringent erzählt noch relevant, wird hier doch das Verhältnis von Form und Handlung radikal umgedreht. Der Inhalt – das Spannungsfeld Kunst und Kapital – steckt vor allem in den Zwischenszenen, der Künstlichkeit in Raumgestaltung und Schauspiel und andauernden Stilbrüchen. Obwohl problemlos konsumierbar, kommt dieses Werk alleine sprachlich manchmal wie ein auf Spielfilmlänge eingedampftes Diskurstheorie-Seminar daher. Deshalb am besten vor’m Verschenken selbst anschauen, dann lässt sich später umso schlauer mitreden.

»Was hat dich hergebracht?« »Trunkenheit am Steuer, mein Mann hat mich verlassen und ich wollte mich umbringen.« »Na dann passt du hier wirklich super rein.« »Mom« ist eine Sitcom, wie es sie nur selten gibt. Denn sie ist lustig und tragisch zugleich und handelt nicht von Millionären, sondern von einer trockenen Alkoholikerin, die als Alleinerziehende mit einem Kellnerinnengehalt ihre Kinder durchbringen muss.Die Serie stammt von Drehbuchautor Chuck Lorre, dem Autor von »Two and a Half Men« und »The Big Bang Theory«. Mit seinem Erfolg hat Lorre bei den Medienkonzernen durchgesetzt, eine Serie so zu machen, wie er sie immer wollte. Das Ergebnis: eine Sitcom aus dem Leben der nordamerikanischen, weiblichen Arbeiterinnenklasse. SERIE Mom USA 2013-2015 Warner Home Video 1. und 2. Staffel erscheinen am 17. Dezember auf DVD und kostenlos im Internet

Buch Gioconda Belli »Bewohnte Frau« München 1991 dtv 448 Seiten 9,90 Euro

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DVD Ich will mich nicht künstlich aufregen Regie: Max Linz Deutschland 2015 Filmgalerie 451 (Alive) 84 Minuten ab 13,99 Euro

Unsere Anregungen, falls kurz vor knapp noch ein Geschenk fehlt Noch mehr Weihnachtstipps der Redakteure Martin Haller, Stefan Ziefle, Clara Dircksen, Frieda Dietrich und Rabea Hoffmann gibt es ab 10.12. auf www.marx21.de


Yaak Pabst empfiehlt das Album »Spot« von Attwenger Das Duo Attwenger zeigt, wie es sich anhört, wenn traditionelle Mundartmusik aus Österreich auf Punk, Hip Hop und Drum‘n‘Bass trifft. Herausgekommen sind 23 erfrischende Songs in vierzig Minuten. Der Einsatz elektronischer Sounds ist für Markus Binder (Schlagzeug, Gesang, Maultrommel) und Hans-Peter Falkner (Steirische Harmonika, Gesang) keineswegs neu. So experimentieren sie auch auf ihrem achten Studioalbum »Spot« lustvoll, bis der typische Attwenger-Sound entsteht. Gesellschaftskritik mit irren Wortspielen oder wie die Band selbst verkündet: »Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben, waren wir von Anfang an darauf aus, mit dem Pfeil ins Schwarze zu treffen und nicht mit Granaten ins Blaue zu ballern.« Bös! ALBUM CD / MP3 / VINYL Attwenger »Spot« Trikont 2015 20 Euro

★ ★★ Marcel Bois empfiehlt die Serie »Blutsbande«

Alle Jahre wieder: Die Familie kommt zusammen, nach kürzester Zeit gibt es Streit und schließlich sind alle froh, wenn sie wieder nach Hause können. Diese Konstellation treibt Autor Henrik JanssonSchweizer mit der Fernsehserie »Blutsbande« auf die Spitze. Erstmals nach über zwanzig Jahren treffen sich die Geschwister Jonna, Lasse und Oskar auf einer kleinen Insel in den schwedischen Schären. Kurz darauf ist die Mutter tot – und hinterlässt ihnen ein altes Gästehaus. Das Erbe ist jedoch an eine Bedingung geknüpft. Die Geschwister müssen die Pension einen Sommer lang gemeinsam betreiben. So viel sei verraten: Mit »Ferien auf Saltkrokan« hat das, was kommt, wenig zu tun. Ein spannendes und bedrückendes skandinavisches Familiendrama. SERIE Blutsbande – Staffel 1 Schweden 2013 Regie: Erik Leijonborg u. a. 4 DVDs, 583 Minuten ab 14,99 Euro

★ ★★ Hai-Hsin Lu empfiehlt die DVD »You I Love«

Die Nachrichtenmoderatorin Vera und der Agenturleiter Timofei finden im grauen Moskau des 21. Jahrhunderts zueinander und genießen das luxuriöse Leben der neuen russischen Oberschicht. Bis Timofei eines Abends den mongolischen Immigranten Uloomji, der im Moskauer Zoo arbeitet und lebt, fast überfährt und aus Schuldgefühlen mit nach Hause nimmt. Es folgt eine skurrile Geschichte über Verlangen, Homosexualität, Polyamorie und die seltsamen Eigenschaften, die das Menschsein mit sich bringt. Ein besonderer Film mit einer unübersehbaren gesellschaftskritischen Dimension und wegen der Tabuisierung von Homosexualität in Russland hochaktuell. DVD You I Love Regie: Dmitry Troitsky und Olga Stolpovskaya Russland 2004 86 Minuten 5,99 Euro

★ ★★ Jan Maas empfiehlt das Buch »Die Brücke vom Goldenen Horn« von Emine Sevgi Özdamar Eine junge Türkin will in Deutschland Geld für die Schauspielschule in Istanbul verdienen. Sie landet im Berlin der sechziger Jahre, inmitten aller gesellschaftlichen Kämpfe dieser Zeit: als Arbeiterin, als Türkin in Deutschland, als alleinstehende Frau, als Künstlerin und als Linke. 1967 kehrt sie zurück nach Istanbul und durchlebt die Kämpfe ein zweites Mal, nur brutaler. Die Hoffnung von 1968 endet in der Türkei im Militärputsch von 1971. Emine Sevgi Özdamar erzählt so viele Geschichten – kaum zu glauben, dass sie in ein Leben passen, geschweige denn auf 333 Buchseiten. »Die Brücke vom Goldenen Horn« hat zudem einen packenden Stil: eine Mischung aus leicht schrägem, sehr poetischem Deutsch mit literarischen Zitaten, türkischen Einsprengseln und Passagen von Bewusstseinsstrom – unmöglich, das Buch zur Seite zu legen. Buch Emine Sevgi Özdamar Die Brücke vom Goldenen Horn Köln 1998 Kiwi Paperback 333 Seiten 8 Euro 19,90 Euro

WEIHNACHTSTIPPS

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© Heinrich Kuhn/Sabine Krüger, Repro: Isabell Kanthak

Review


film

Familienbande | Irland 2014

Das Leben geht immer weiter Eigentlich hätte er »Auf Bewährung am Arsch der Welt« heißen sollen. Damit wäre der Plot des Films »Familienbande« gut beschrieben. Doch sein Reiz liegt sowieso nicht in der Handlung Von Phil Butland und Schauspielern hoch anzurechnen, dass »Familienbande« viel mehr bietet. Lauren Kinsella spielt Stacey rotzig und fluchend, aber nie nervig frühreif. Der andauernde Schlagabtausch zwischen Onkel und Nichte, den meist Stacey gewinnt, bleibt lustig und glaubwürdig. Will erscheint großherzig, aber schwach. Er bemüht sich redlich, den Erwachsenen zu geben, aber als ehemaliger Häftling fällt es ihm schwer, eine Arbeit zu finden. Aus Frust fängt er an zu saufen und klaut Stacey die Amphetamine, die sie gegen ihre Narkolepsie verschrieben bekommt. Noonan verwebt zwei beliebte Zutaten des US-amerikanischen Alternativkinos: das Genre des Roadmovies, in dem zwei unterschiedliche Charaktere lange Strecken gemeinsam zurücklegen, und den Handlungsort des Wohnwagenplatzes, auf dem nur die sogenannte Unterschicht wohnt und zusammen älter wird, bis sie wegstirbt. In den riesigen USA steht diese Umwelt für die Isolation der Protagonisten. In Irland, wo man die längste Straße in ein paar Stunden abgefahren ist, liegen diese Wohnwagenplätze immer am Rand eines Dorfs und wir sehen, dass sie immer noch Teil einer lebendigen Gesellschaft sind. So ist der Wohnwagenplatz zwar eine Art Vorhölle – ein neues Gefängnis für Will, aus dem er nicht fliehen kann – gehört aber zu einer größeren Welt. Die Belgierin Emilie ist mit ihrem rumänischen Mann Tibor genauso Teil dieser Welt wie die

Bewohnerinnen und Bewohner des angrenzenden Dorfs. Im gesamten Film wird die Herkunft von Emilie und Tibor kein einziges Mal thematisiert. Noonan, dessen Freundin ebenfalls aus Belgien stammt, stellte dazu fest, dass inzwischen in jedem irischen Dorf Menschen aus unterschiedlichsten Ländern leben. Vielleicht wäre die Herkunft Emilies und Tibors von Bedeutung, wenn sie eine andere Hautfarbe hätten, aber der Film wäre laut Noonan nicht authentisch, wenn die Nationalität der beiden für andere Leute ein Thema wäre. Der Umgang mit dieser Kleinigkeit ist beispielhaft für Noonans Stil, der auf jegliche Didaktik verzichtet. In einem Interview betonte er: »Ich finde es sehr wichtig, dem Publikum Raum für Spekulation zu lassen. Filme, in denen alles bis ins kleinste Detail erklärt wird, interessieren mich nicht«. Nie wirkt der Film besserwisserisch, stattdessen zeigt er Szenen, deren Deutung uns überlassen bleibt. Manche Zuschauer wird »Familienbande« deshalb vielleicht frustrieren. Es gibt kein Happy End, aber auch keine große Tragödie. Wir sehen Ausschnitte aus dem Leben der Protagonisten. Das Leben geht weiter – mal besser, mal schlechter. Ohne die eindrucksvolle darstellerische Leistung könnte der Film in die Belanglosigkeit abgleiten. Doch für mich ist »Familienbande« eine Rückkehr zu der Art, wie Filme gemacht werden sollten. Auf Noonans nächstes Werk freue ich mich schon jetzt. ■

★ ★★ film | Familienbande | Regie: Marc Noonan Irland 2014 | Pandora Filmverleih | 80 Mi-

nuten | Seit dem 19. November in den Kinos REVIEW

A

idan Gillen kennt man als Darsteller erfolgreicher Fernsehserien. In »Queer as Folk« spielt er den promiskuitiven Stuart und in »The Wire« den ambitionierten Tommy Carcetti; zur Zeit ist er in »Game of Thrones« als gerissener Petyr Baelish zu sehen. Es sind meist charismatische und charmante Rollen, mit denen Gillen sich Aufmerksamkeit erkämpft, die inmitten des Überangebots von Stars aber nicht leicht zu bekommen ist. Im Film »Familienbande«, der nun in den deutschen Kinos läuft, sehen wir einen ganz anderen Aiden Gillen – einen, der zulässt, dass ihm ein elfjähriges Mädchen die Show stiehlt. Gillens Charakter Will wird frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen, nachdem seine Schwester gestorben ist. Um auf freiem Fuß zu bleiben, muss er beweisen, dass er in der Lage ist, sich um seine elfjährige Nichte Stacey zu kümmern. Dabei kann er kaum auf sich selbst aufpassen. Nur einmal in seinem Leben hat er Verantwortung übernommen – und ist dafür im Knast gelandet. Aus diesem Film hätte leicht ein banales, moralgetränktes Lehrstück werden können, in dem Nichte und Onkel voneinander lernen und all ihre Probleme lösen. Als die belgische Nachbarin Emilie in der Handlung auftaucht, weist alles auf eine reizende Liebesgeschichte hin: nett anzuschauen, aber auch leicht zu vergessen. Es ist Regisseur Mark Noonan sowie den Schauspielerinnen

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© Rashid Akrim / NRK P3 / flickr.com

aveh ist einer der politisch bewusstesten Musiker in Deutschland. Der Künstlername des Berliner Rappers ist einem Widerstandskämpfer aus der persischen Mythologie entlehnt, der den Freiheitskampf gegen Tyrannei und Unterdrückung symbolisiert. So ein Name verpflichtet natürlich, wie auch das gerade erschienenes Album »Gegen den Strom« beweist. Es beginnt mit einem Disstrack, einem Schmählied gegen den deutschtümelnden Rap-Kollegen Harris, für den Rassismus gerade mal einen »Augenblick« dauert und nicht Alltag ist. Kaveh kritisiert in »Nur ein Augenblick?« den Hass auf Geflüchtete, Moslems und Migrantinnen. Rassismus ist auch ein Thema in anderen Songs, wie im künstlerisch absolut genialen »Spuck auf Rechts« und in »Gewitterregen«, das teils in doppelter Geschwindigkeit gerappt wird. Das ist für Kaveh eher untypisch, zeigt aber seine handwerklichen Fähigkeiten. Auch »Mehr als nur ein 16er« und »Es hat’n Grund« unterliegen teilweise solch einer Doubletime. Bereits vor Erscheinen des Albums löste der mit seiner Kollegin Thawra aufgenommene Track »Tahya Falastin« einen sexistischen und rassistischen Shitstorm im Internet gegen

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Kaveh | Gegen den Strom

ALBUM DES MONATS In einem vorab veröffentlichten Musikvideo griff Kaveh die antideutsche Ideologie an und sorgte damit für heftige Diskussionen. Auch der Rest seines neuen Albums steht in der besten Tradition des politischen Hip Hop

Von Alexander Schröder

★ ★★ Album | Kaveh | Gegen den Strom | Digitale Dissidenz | 2015

die beiden Künstler aus. Kein Wunder, erklärt doch das Stück prägnant, wie die getroffenen Hunde ticken: »Antideutsche solidarisieren sich unkritisch mit Israel und den USA.« Wer jemandem das Phänomen des pro-westlichen Nationalismus und antimuslimischen Rassismus in der deutschen linken Szene erklären will, kann diese gesungene Kampfansage an die Antideutschen vorspielen. Neben dem Inhalt sorgt auch die musikalische Umsetzung für gute Laune. Nicht nur bereichert Thawra das Stück enorm, der Beat passt zudem perfekt zum Text. Rhythmus und Pausen werden meisterhaft eingesetzt. Trillern, Englisch, Arabisch und Französisch verfeinern diesen grandiosen Disstrack. Mehr Stücke in diesem Stil hätten gewiss nicht geschadet. Allenfalls »Therapie« und »Spuck auf Rechts« haben ähnlich viel Ohrwurmpotenzial. »Das Kapital«, »Radikal«, »Revolution«, »Eskalation« und »Apartheid« sind Kritiken am Kapitalismus – politisch sehr ordentlich, musikalisch leider weniger interessant. Einige Stücke wie »Solidarität« und »Aufstand« gehören offenbar zum Genre des Jazz-Rap, während »Farben«, »Sehnsucht« und »Dankeschön«, die ruhigsten Stücke des Albums, eher meditativ sind. Kavehs »Gegen den Strom« ist insgesamt ein sehr hörenswertes Album in der besten Tradition des politischen Hiphop. Es ist inhaltlich auf höchstem Niveau, stilistisch durchaus vielseitig und technisch solide. Vom Klang her erinnern einige Stücke an die 1990er Jahre, etwa an den Künstler 2Pac, auf den Jazz ebenfalls keinen geringen Einfluss hatte. Trotz aller Sympathie wünscht man sich für das nächste Album aber neue Stilmittel und Techniken, wie man sie etwa von Amewu, KIZ oder Sookee kennt. Kavehs Musik könnte von mehr Wortspielen, sprachlichen Wendungen und Witz nur profitieren. Denn seine Botschaften hätten ein etwas liebevolleres Gewand unbedingt verdient. ■


BUCH

Gabriel Kuhn | Die Linke und der Sport

Opium für die Massen? Vom Nationalismus einer Fußballweltmeisterschaft bis zu den erhobenen Fäusten schwarzer Olympiasieger: Gabriel Kuhn stellt in seinem neuen Buch die ganze Widersprüchlichkeit des Sports im Kapitalismus dar Von Daniel Anton Phänomens Sport tiefer gehen muss. Er erinnert daran, dass die kapitalistische Realität voller Widersprüche ist und zwar in allen Lebensbereichen. Beispielsweise zeigt er auf, dass eine erfolgreich verlaufende Fußballweltmeisterschaft hierzulande ein hervorragendes Mittel für die Eliten ist, um einen »unverkrampften« Patriotismus zu fordern oder von gesellschaftlichen Problemen abzulenken. Für ehemalige afrikanische Kolonien jedoch gehören sportliche Erfolge zu den wenigen Momenten, in denen sie sich gegen den globalen Norden behaupten können. Selbst die heute alles beherrschende Kommerzialisierung ist das Ergebnis einer dialektischen Entwicklung. Gerade die Arbeiterbewegung sei es gewesen, die die Professionalisierung des Fußballs vorantrieb und so den Grundstein für seine kapitalistische Verwertung legte. Denn im Gegensatz zur Mittelklasse konnten Angehörige der unteren Schichten sich nicht den Luxus erlauben, Sport als Zeitvertreib zu genießen. Spannend ist auch die Darstellung der Versuche der Arbeiterbewegung, mit diesen Widersprüchen umzugehen. So veranstaltete sie etwa »Spartakiaden« als Gegenentwurf zu kommerziellen Wettbewerben. Beachtenswert sind auch die Beispiele, wie Sportlerinnen

und Sportler ihre Bekanntheit statt zur Produktwerbung für ihre eigenen politischen Ziele nutzten: Muhammad Ali, der zum prominentesten Vietnam-Kriegsverweigerer wurde; Tommie Smith und John Carlos, die mit ihren erhobenen Fäusten bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko zum Symbol für die Black-Power-Bewegung wurden; der Fußballprofi und -trainer Ewald Lienen, der auf Kundgebungen der Friedensbewegung sprach: Sie alle bedienten sich des positiven Potenzials der Massenveranstaltungen. Kuhn bildet die genannten Widersprüche sauber und in pointierter Kürze ab, aber manchmal wünscht man sich eine deutlichere Positionierung zu der Frage: Wie soll die gesellschaftliche Linke denn nun mit etwas umgehen, das Millionen Menschen bewegt? Am deutlichsten blitzt eine sinnvoll erscheinende Position durch, wenn er schreibt: »Viele Argumente linker Sportkritik sind berechtigt (...). Oft treffen sie den Sport überhaupt nicht, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen dieser ausgeübt wird (…).« Hier gilt es anzusetzen: Den Kampf für Gegenmacht müssen wir im Stadion und darüber hinaus führen und nicht gegen die Menschen, die den Sport genießen und ausüben. ■

★ ★★ BUCH | Gabriel Kuhn | Die Linke und der Sport | Laika-Verlag | Hamburg 2015 | 80

Seiten | 7,80 Euro REVIEW

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hre Liebe zum Sport kann manche Linke schon mal in Gewissenskonflikte stürzen: Wer hat sich noch nicht dabei erwischt, online lieber den Sportartikel statt der neuesten Analyse zur Lage in Griechenland aufzurufen? Wer lässt nicht mal für das ChampionsLeague-Finale die politische Abendveranstaltung ausfallen? Wer holt nicht gelegentlich den Fanschal anstelle des Palituchs aus dem Schrank? Dieses Dilemma behandelt auch Gabriel Kuhn in seinem neuen Buch »Die Linke und der Sport«. Zu Beginn referiert er eine klassische marxistische Kritik am Sport als Massenphänomen: Sport erfülle im Kapitalismus eine ähnliche Funktion wie die Religion. In seiner professionellen, kommerziellen Form sei er nichts anderes als Opium für die Massen – also ein Instrument, um die Unterschichten für eine kurze Zeit von ihrer Lage abzulenken und sie vom Kampf abzuhalten. Für Kuhn stellt sich nun die Frage, ob diese Theorie der Realität auf dem Spielfeld oder den Stadionrängen angemessen ist. Dabei leugnet er die negativen Seiten des Sports als Massenevent keineswegs: vom Nationalismus über den Körperkult bis zum Wettbewerbsgedanken. Zugleich gibt er aber zu bedenken, dass eine linke Analyse des

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Buch

Ralf Krämer | Kapitalismus verstehen. Einführung in die Politische Ökonomie der Gegenwart

Marx reloaded Den Kapitalismus besser verstehen, um ihn wirkungsvoller zu bekämpfen: Dazu möchte Ralf Krämer mit seinem neuen Buch einen Beitrag leisten Von Thomas Walter

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★ ★★ BUCH | Ralf Krämer | Kapitalismus verstehen. Einführung in die Politische Ökonomie der Gegenwart | VSA-Verlag | Hamburg 2015 | 250 Seiten | 18 Euro

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ie kapitalistische Weltwirtschaft kommt nicht zur Ruhe. Ralf Krämer, Sekretär beim ver.di-Bundesvorstand und Mitglied des SprecherInnenkreises der Sozialistischen Linken in der LINKEN, nimmt dies zum Anlass, in einem neuen Buch die marxistische Kapitalismuskritik auf das Hier und Heute zu aktualisieren. Krämer beginnt mit dem Kapitalismus als Klassengesellschaft: Kapitalisten beuten die Arbeiterklasse aus. Dies ruft immer wieder den Widerstand der Arbeiter und Arbeiterinnen hervor. Ihr Kampf kann umso besser geführt werden, je genauer der Kapitalismus verstanden wird. Dazu will Krämer mit seinem Buch beitragen. Er stellt als eine zentrale Eigenschaft der kapitalistischen Wirtschaft das Marxsche Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate vor. In diesem Zusammenhang erklärt er, dass diese Tendenz mit Kapitalkonzentration einhergeht – große Konzerne bleiben also übrig, die Kleineren werden wegkonkurriert. Das führt zu Stagnation und Arbeitslosigkeit. Abbildungen und Statistiken bewahren vor zu viel grauer Theorie. Bei der Profitrate beispielsweise scheint seit den 1980er Jahren eine gewisse Stabilisierung eingetreten zu sein. Auch die Konzentrationsten-

denz läuft nicht immer in dieselbe Richtung. Zuletzt, seit den 1990er Jahren, nahm sie aber wieder zu. Hinter den Kulissen fordern diese Tendenzen die »Staatseinmischung« heraus, wie Krämer Marx zitiert: Die staatlichen Zentralbanken leihen privaten Banken zinslos Geld, um die Wirtschaft vor einem Absturz zu bewahren. Die Konzerne handeln – am Markt vorbei – gleich mit der Regierung aus, wo es lang geht. »Staatlicher Monopolkapitalismus«, wie es früher genannt wurde, breitet sich aus. Ralf Krämer zeigt die Aktualität von Marx am sogenannten »Maschinenfragment« aus Marx’ Buch »Grundrisse«. Marx sagte dort sozusagen ein »Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen« (so der Titel eines Buches von Elmar Altvater) voraus, wenn Arbeit durch Maschinen ersetzt wird oder sie den eigentlichen Produktionsprozess nur noch indirekt überwachend und steuernd begleitet. Heute schwärmen deutsche Eliten von »Industrie 4.0«, einer neuen industriellen Revolution. Kündigt dies das Szenario des »Maschinenfragments« an? Krämer ist skeptisch. Allerdings diskutieren auch bürgerliche Ökonomen immer häufiger die Frage der »Stagnation«. Was kann die Linke tun? Angesichts flacher Profitraten bleibt den Zentralbanken nichts an-

deres übrig als Geld zu drucken, um die Zinsen niedrig zu halten. Ralf Krämer fordert hingegen wie der Deutsche Gewerkschaftsbund, dass die Europäische Zentralbank nicht Banken, sondern staatliche Ausgaben gegen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung finanzieren soll. Statt Profite zu stabilisieren, indem immer mehr gesellschaftliche Bereiche der Kapitallogik unterworfen werden, sollte zum Beispiel die Altersvorsorge nicht privaten Versicherungsunternehmen überlassen werden, sondern wie früher voll staatlich geregelt sein. Nebenbei erteilt Krämer auch dem »bedingungslosen Grundeinkommen« (BGE) eine Absage. Die Arbeiterklasse sei zentral im Kapitalismus, und an ihr müssen soziale Kämpfe anknüpfen. Beim BGE-Konzept bleibe unklar, welche Klasse die Kosten trage. Die Europäische Union müsse völlig neu begründet werden, weil sie ein Projekt der Konzerne ist. Längerfristig schwebt Krämer ein »demokratischer Sozialismus« vor: »Wirtschaftsdemokratie auf allen Ebenen«. Um dies zu erreichen, ist ein ständiger Kampf der Arbeiterklasse nötig. Ralf Krämers Buch ist zu wünschen, dass es nicht nur aufklärt, sondern auch einen solchen Kampf anstößt. ■


Patrick Bade | Music Wars 1937-1945. Musik im Zweiten Weltkrieg

BUCH DES MONATS Propaganda, Götterfunken, Swing: Patrick Bade erzählt in seinem opulenten Werk die wenig bekannte Geschichte der Musik während des Zweiten Weltkriegs Von Carl Herzogenberg

★ ★★ BUCH | Patrick Bade | Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing: Musik im Zweiten Weltkrieg | Laika- Verlag | Hamburg 2015 | 512 Seiten | 34 Euro

»Vorzeigelager« des Dritten Reichs, zu dem sogar ein Propagandafilm gedreht wurde (auf die unnachahmlich dreistzynische Naziart »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt« betitelt), wurde Theresienstadt zum Tötungs- und Weiterdeportationsort vieler jüdischer Musikerinnen und Musiker. Die Öffentlichkeit entdeckte ihre Musik ab Mitte der siebziger Jahre wieder, darunter auch das inzwischen berühmte Meisterstück des 1944 aus Theresienstadt nach Auschwitz deportierten und ermordeten Komponisten Viktor Ullmann: die Kammeroper »Der Kaiser

von Atlantis« – eine grotesk-bittere Hitler-Satire, deren Proben für eine geplante Premiere von den Nazis gestoppt wurden. Wenn es um die Mannigfaltigkeit sowohl des Gebrauchs als auch des Missbrauchs der Musik in den Jahren des Zweiten Weltkriegs geht, wird sie vom Autor bis ins feinste Detail dargestellt: Von der entscheidenden Rolle, welche die Musik für die Kulturpolitik des Naziregimes spielte (und wie gründlich sie zu Propagandazwecken ausgeschlachtet wurde), über die Musik als Mittel des Widerstands und des Überlebens im Gefange-

nen- und Vernichtungslager bis zur Musik der Heimat- oder Kampffront in den USA, Großbritannien und der Sowjetunion. Bade schildert dabei gleichermaßen die Entstehung der populärsten Schlager der Zeit auf beiden Seiten der Front, zum Beispiel Vera Lynns auch heute bekanntes »We'll meet again« oder Norbert Schulzes »Lili Marleen«. Er beleuchtet die Walzer- und Jazztanzveranstaltungen in Moskau, die Konzertauftritte sowjetischer Opernsängerinnen und -sänger für die Rotarmisten von Stalingrad, die klassischen Konzerte im bombardierten London und ein KZ-Frauenorchester, das einer nichtsahnenden SSTruppe Felix Mendelssohns Violinkonzert vorspielt (Mendelssohns Musik war zur NS-Zeit in Deutschland verboten, da er jüdischer Herkunft war). Neben der Kriegsmusik und der Musik im Krieg schenkt Bade auch dem Krieg mittels der Musik gebührende Beachtung: Schon das einleitende Kapitel »Wunderwaffe Musik« zeigt eindrucksvoll, wie bedeutend die Musik für die Kriegsbemühungen aller Parteien war und wie oft Musik systematisch in unterschiedlichste Aspekte der Kriegsführung einbezogen wurde. Für alle, die über die Musik im Zweiten Weltkrieg und über das Verhältnis von Musik zu Gesellschaft (und umgekehrt) im Allgemeinen mehr erfahren möchten, ist »Music Wars« eine Pflichtlektüre. Detailliert, lebendig und oft geradezu fesselnd begleitet Autor Bade seine Leserinnen und Leser auf eine außerordentlich informative wie nachdenklich machenden Lesereise durch die Musikund Menschenlandschaften einer gewaltigen und gewaltsamen Zeit. ■

REVIEW

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usik ist ein bedeutendes historisches Produkt und war über längere Perioden der Zivilisationsgeschichte ein nicht wegzudenkender Bestandteil des menschlichen Zusammenseins. In seinem ausgezeichneten Buch »Music Wars« erzählt Patrick Bade nun eine weniger bekannte Episode deren neueren Geschichte – die des Verhältnisses von Musik und Krieg in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Es gibt keine relevante (westliche) Musikrichtung der Zeit, deren Kriegsgeschichte Bade ausgelassen hätte: Von Swing bis Oper, von der klassischen Kammermusik bis zum Schlager zeichnet er lebendig (und nicht selten aufwühlend) das Schicksal der Menschen, die Musik machten, wie derjenigen, die ihr zuhörten, im Mahlstrom des Kriegs nach. Auf seiner, der Zeit des Geschehens entsprechend oft schrillmakabren historischen Bühne wird man allerdings auch auf Charaktere stoßen, für deren Schicksal man wenig Mitgefühl übrig haben wird: Die Pucciniliebenden Frauen-KZ-Aufseherinnen, die sich ihre Lieblingsarien bis zum Überdruss (der Ausführenden) von internierten jüdischen Sängerinnen vorsingen lassen, oder Nazis, die auf Hitlers Befehl in den Kneipen von Bayreuth zum Besuch einer Wagner-Aufführung disziplinarisch verordnet werden, sind dafür nur zwei besonders markante Beispiele. Eindrucksvoll schildert das Buch aber auch die Geschichten unzähliger Menschen, welche die widrigsten Umstände, in denen sie sich plötzlich fanden, überwinden. Hierzu zählen auch die Gefangenen des KZ Theresienstadt (heute Terezin in der Tschechischen Republik), deren Kriegsschicksal auf eine besondere Art mit der Musik verbunden war: Als

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Mein Lieblingsbuch

it »Gottes Werk und Teufels Beitrag« hat John Irving nicht nur einen Roman, sondern auch einen politischen Beitrag zur Abtreibungsdebatte in den USA veröffentlicht. Diese Auseinandersetzung zwischen der »pro choice«-Bewegung und den »pro life«-Fundamentalisten tobt bereits seit den 1960er Jahren. In fast allen Bundesstaaten war der Schwangerschaftsabbruch illegal, bis eine breite Bewegung 1973 eine Liberalisierung der entsprechenden Gesetze erkämpfen konnte: Frauen erhielten das Recht, im ersten Drittel der Schwangerschaft uneingeschränkt über einen Abbruch entscheiden zu dürfen. Im zweiten Drittel ist er seitdem unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Irving tritt mit seinem 1985 erschienen Roman offen für das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper ein. In dem vielschichtigen Werk, dessen Handlung im New England der Zeit zwischen 1920 und 1950 angesiedelt ist, stellt er das Leben von Dr. Wilbur Larch dar. Der erlebt das Elend der ärmeren Bevölkerungsschichten, insbesondere der Frauen, aus nächster Nähe mit. Durch Schwangerschaften und ausgetragene Kinder, aber auch durch das Leid infolge missglückter Abtreibungen haben diese nahezu keine Perspektive, den Armutskreislauf zu durchbrechen. Larch stellt fest, dass die Hälfte der Schwangerschaften der ärmeren Bevölkerungsschichten ungewollt ist, während es unter den Reichen fast nur Wunschkinder gibt. Aus Mitgefühl führt er trotz des Verbots Abtreibungen durch. So will er Frauen vor stümper- und schmerzhaften Eingriffen durch »Engelmacher« bewahren. Später übernimmt Larch die Leitung des Waisenhauses Saint Cloud’s im traurigen, trostlosen und nebligen Maine, einer Gegend, in der es viele ungewollte Schwangerschaften gibt. Die Frauen kommen im Morgengrauen in das Saint Cloud’s, um anonym zu entbinden oder kostenlos die Schwangerschaft abzubrechen. Diese gesellschaftli-

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Von marx21-Leserin katja kaba

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem du denkst, dass es alle einmal gelesen haben sollten? Dann schreib uns – und präsentiere an dieser Stelle dein Lieblingsbuch. Diesmal: »Gottes Werk und Teufels Beitrag« von John Irving

★ ★★ John Irving | Gottes Werk und Teufels Beitrag | Diogenes | Zürich 2000 (Originalausgabe: 1985, deutsche Erstausgabe: 1988) | 848 Seiten | 14,90 Euro

chen Missstände klagt Irving an, ohne den Frauen eine Schuld zuzuweisen. Und diese Anklage ist hochaktuell: Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben gegenwärtig 47.000 Frauen im Jahr an unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen und fünf Millionen leiden an den Folgeschäden. Irvings Protagonisten, Dr. Larch und dessen Schüler und Ziehsohn Homer Wells, behandeln die Frauen mit Respekt und vermeiden unnötige Schmerzen. Der Arzt beherrscht die Äthernarkose so gut, dass er mit den Patientinnen oft noch während des Eingriffs reden kann. Diese humanistische Einstellung fehlt bis heute vielen Ärztinnen und Ärzten. Die weit verbreitete Illegalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und die selbst in Fachkreisen verbreitete Tabuisierung des Themas führen vielmehr zu einer großen Uninformiertheit bei Ärzten und Frauen. Der Roman ist keineswegs einseitig. Irving lässt beispielsweise die Waisenkinder darüber diskutieren, ob es besser sei, als Waise zu leben oder als Embryo im Verbrennungsofen zu landen. Selbst Larchs Schüler Wells führt aus Überzeugung lange Zeit keine Abtreibung durch. Doch als die Freundin seines Sohnes nach einer Vergewaltigung durch ihren eigenen Vater schwanger wird, hilft er ihr. Homer Wells empfindet die Tat des Vaters als so abstoßend, dass er bereit ist, die Regeln selbst zu brechen. Zu Recht ist der Roman als »flammendes Plädoyer für die Frauen« gefeiert worden. Doch bleibt Irving in der Argumentation seiner Zeit stehen. Er gesteht Frauen das Recht auf Abtreibung nicht grundsätzlich zu, sondern plädiert lediglich für die Fristenlösung: Nur solange der Embryo noch nicht »quick«, also lebensfähig, ist, soll die Frau die Schwangerschaft abbrechen können. Trotzdem ist »Gottes Werk und Teufels Beitrag« ein lebendig geschriebener Roman mit viel Epos und spannenden Charakteren. Gerade angesichts der gesellschaftlichen Rückschritte in Bezug auf die Abtreibungsrechte, die es in den vergangenen Jahren gab, erscheint mir das Buch heute wieder besonders lesenswert. ■


BUCH

Lilly Lent, Andrea Trumann | Kritik des Staatsfeminismus. Oder: Kinder, Küche, Kapitalismus

Kämpft der Staat für Gleichberechtigung? Frauenquoten, Elterngeld, Kitaausbau: Es sieht so aus, als würde die Regierung endlich etwas gegen die Benachteiligung von Frauen tun. Doch nicht Emanzipation ist das Ziel dieser Politik, wie ein neues Buch zeigt Von Silke Stöckle

zeitjobs. Hierbei erscheint die Haltung der Autorinnen jedoch widersprüchlich. Denn später stellen sie das Betreuungsgeld, welches eben diese Isolation von Frauen in der Familie zementiert, als potenziell emanzipativer als Lohnarbeit dar: Was sei der Nachteil, »wenn Frauen mal ein oder zwei Jahre nicht für 400 Euro bei Lidl an der Kasse sitzen«? Ebenso widersprechen Lent und Trumann der These, dass der Staat sich im Zuge der Neoliberalisierung aus der Reproduktionsarbeit zurückzieht. Denn es würde ja »viel Geld« in den Kitaausbau investiert. Kein Wort verlieren sie jedoch über die Sparpolitik der Länder und Kommunen, die mit der Unterfinanzierung oder Schließung von Schulen, Bibliotheken, Schwimmbädern oder Jugendclubs sowie Kürzungen in der sozialen Arbeit den Familien ein Mehr an reproduktiver Arbeit aufbürdet. Lent und Trumann beschreiben anschaulich die Lebensrealität vieler Mütter und Eltern mit der Doppelbelastung durch Lohnund Reproduktionsarbeit. Den Ursprung der Misere verorten sie richtigerweise im kapitalistischen System, der Rolle des Staats sowie der herrschenden Ideologie. Sie bleiben jedoch nach teilweise widersprüchlichen Argumenten konkrete Vorschläge für einen Ausweg schuldig und ver-

weilen im Abstrakten. So müssten laut Lent und Trumann die »staatlichen Institutionen«, die Familie, die »Mutterideologie« sowie »die Lohnarbeit« in Frage gestellt werden. An welchen Stellen das geschehen sollte und wie die herrschenden Verhältnisse verändert werden können, sagen sie nicht. Die Care-Bewegung, die für bessere Arbeitsbedingungen in den Sozial- und Erziehungsdiensten und der Pflegearbeit kämpft, kritisieren die Autorinnen dafür, ausschließlich Forderungen an den kapitalistischen Staat zu richten. Dadurch würde sie sich ihres »radikalen Stachels« berauben. Lent und Trumann fordern dagegen, dass »staatskritische Positionen« sowie »kollektive Praxen« zur Entlastung von Kleinfamilien entwickelt werden müssten. Auch an dieser Stelle sind die Leserinnen und Leser auf ihre eigene Kreativität angewiesen, um für sich Handlungsoptionen zu eröffnen. Es hätte dem Buch gut getan, wenn die Autorinnen trotz berechtigter Kritik mehr auf die Arbeitskämpfe der Care-Bewegung eingegangen wären, denn sie berühren alle genannten Problemfelder. Indem die meist weiblichen Beschäftigten den staatlichen Arbeitgebern Zugeständnisse abringen, verändern sie nicht nur ihre soziale Stellung, sondern auch die herrschende Ideologie. ■

★ ★★ Lilly Lent, Andrea Trumann | Kritik des Staatsfeminismus. Oder: Kinder, Küche, Kapitalismus | Bertz und Fischer | Berlin 2015 | 120 Seiten | 7,90 Euro REVIEW

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illy Lent und Andrea Trumann analysieren in dem Büchlein »Kritik des Staatsfeminismus« die Gleichstellungspolitik der Bundesregierung. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde diese feministische Forderungen erfüllen. Aber der Schein trügt, befinden die Autorinnen: Anstatt gegen die strukturelle Benachteiligung von Frauen zu wirken, entsprächen die Maßnahmen einer staatlichen Kosten-Nutzen-Rechnung und den Interessen der Wirtschaft, die gut ausgebildete Frauen im Arbeitsmarkt halten will. Das erste Kapitel ist der »Ideologie der guten Mutter« gewidmet. Das Stillgebot oder die Konzepte der Mutter-KindBindung seien heute Teil einer Staatsdoktrin geworden. Solche ideologischen Vorgaben stellten alle Mütter vor unlösbare Aufgaben, da neben der umfassenden Fürsorge für das Kind von ihnen erwartet werde, einer Lohnarbeit nachzugehen. Im Folgenden identifizieren die Autorinnen die Familie als den zentralen Ort für die Isolation der Frau und die Aufrechterhaltung der Rollen- und Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Frauen erledigen nicht nur nach wie vor das Gros der Hausarbeit und Kinderbetreuung, sondern arbeiten deshalb auch überproportional in Teil-

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BUCH

Alain Badiou/Slavoj Žižek (Hrsg.) | Die Idee des Kommunismus Bd. III

Revolution als Objekt der Begierde Die kommunistische Idee umfasst mehr als nur die Umverteilung von Produktionsmitteln. Ein neuer Sammelband zeigt das breite Spektrum aktueller linker Theorie Von Theodor Sperlea

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★ ★★ BUCH | Alain Badiou/Slavoj Žižek (Hrsg.)| Die Idee des Kommunismus Bd. III | LAIKAtheorie Band 39 | Laika-Verlag | Hamburg 2015 | 280 Seiten | 24 Euro

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ie soll der kommende Kommunismus aussehen? Wo stehen wir heute? Um diese Fragen zu durchdenken, trafen sich im Oktober 2011 in New York linke Intellektuelle aus vielen Ländern zum dritten Mal zu einer Konferenz, ihr Titel: »Communism: A New Beginning«. Die Debattenbeiträge wurden nun in dem Sammelband »Die Idee des Kommunismus Bd. III« von Slavoj Žižek und Alain Badiou herausgegeben. Steffen Vogel besorgte für den Laika-Verlag die Übersetzung aus dem Englischen. Die Texte von Étienne Balibar, Bruno Bosteels, Susan BuckMorss, Jodi Dean, Adiean Johnston, Frank Ruda, Emmanuel Terray, Slavoj Žižek und Alain Badiou nähern sich topaktuell dem großen Thema Kommunismus von verschiedenen Seiten und mit unterschiedlicher philosophischer Tiefe. Jedoch wird man hier vergeblich nach einer »handfesten« Anleitung zur Revolution suchen. Stattdessen geht es um das Durchdenken der vergangenen Versuche des Kommunismus und der Bedeutung kommunistischer Theorie für heutige linke Bewegungen. Alain Badiou eröffnet den Band. Er setzt sich mit der Frage auseinander, ob Terror gegen die Bevölkerung ein notwendiger Bestandteil einer kommunisti-

schen Organisationsform in der Anfangsphase des neuen Systems ist. Anhand einiger historischer Beispiele zeigt er, dass kommunistischer Terror meist in eine von zwei Kategorien fällt: Entweder der »etablierende« Terror in der Zeit nach der Revolution oder der »vergleichende« Terror von Staaten, die auf kommunistischem Wege so wettbewerbsfähig wie ihre kapitalistischen Nachbarn sein wollen und deswegen Zwangsarbeit fördern. Der Autor spricht sich dagegen für ein Bild der Revolution ohne Terror aus: »Es ist nicht so sehr ein (gewalttätiger, Ergänzung d. Autors) Wandel, (…) den wir innerhalb des Status quo schaffen werden wollen; eher werden wir alles Bestehende irgendwie in einen neuen Rahmen mit neuen Dimensionen biegen wollen«. Bruno Bosteels widmet sich in »Zur Christenfrage« der Aktualisierung der ideologischen Analyse des Christentums. Um den Kapitalismus zu stürzen, sei es notwendig – oder zumindest hilfreich –, die ihm zugrundeliegende Ideenwelt mit ihren Paradoxien zu kennen, um sich nicht in denselben Widersprüchen zu verfangen. Die ideologische Basis des heutigen Kapitalismus sieht der Autor in der (reformiert-) christlichen Weltanschauung. Von ihr habe der Kapitalismus unter anderem

die Trennung zwischen dem Weltlichen und dem Heiligen in neuer Form als Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem übernommen. Ein weiterer Höhepunkt des Bands ist der Artikel »Kommunistisches Begehren« von Jodi Dean. Darin legt die Autorin die linke Bewegung auf das Sofa des Psychoanalytikers, um sie von ihrer »linken Melancholie« zu heilen. Dean beschreibt diesen Zustand als eine Mischung aus Rückwärtsgewandtheit und manischer Aktivität, der aller guten Absicht zum Trotz nun der Bewegung das Erreichen ihrer Ziele erschwere. Auf solider theoretischer Basis von Benjamin, Freud, Lacan und Žižek kommt sie zu einigen herausfordernden und nachvollziehbaren Schlüssen über den Zustand der Bewegung. Begehren wir die Revolution (die traumatische Veränderungen bringen wird) oder begehren wir vielmehr die kleinen, subversiven Aktionen, die wir anfangs tun, um die Revolution voranzubringen? Jeder Beitrag in diesem Konferenzband beleuchtet einen anderen Aspekt des Kommunismus oder des Wegs dahin. Und auch wenn einige der Artikel sich sicherlich nicht als theoretischer Einstieg eignen, ist das Buch doch als eine Denkanregung auf vielen verschiedenen Gebieten linker Theorie sehr zu empfehlen. ■


BUCH

Marco Maurer | Du bleibst, was du bist: Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet

Die Aufstiegslüge Wer aus nichtakademischen Familien stammt, wird in deutschen Bildungseinrichtungen und im Berufsleben diskriminiert. Darüber hat Arbeiterkind und Journalist Marco Maurer ein lesenswertes Buch geschrieben. Doch wichtige Fragen bleiben offen Von Johnny Van Hove

Gerade der Fall Schröder zeigt die Grenzen einer ArbeiterkindIdentitätspolitik auf, wie Maurer sie fordert. Dieser Ansatz stellt die Arbeiterkinder als Opfer dar und reduziert die Probleme auf Bildungsferne und fehlende professionelle Netzwerke. Probleme, die der Altkanzler eher nicht hatte. Arbeiterkinder sollten ein größeres Stück des Kuchens bekommen, findet der Autor – ohne sich zu fragen, warum der Kuchen überhaupt so kümmerlich ist. Identitätspolitik verlangt nach Quoten und so fordert Maurer diese auch für Menschen aus bildungsfernen Familien. Die Frage, ob das auf Kosten von anderen unterdrückten Minderheiten gehen soll – Frauen, Schwarze, Homosexuelle, behinderte Menschen und andere –, lässt er leider offen. Nach dem Begriff der Klasse sucht man im ganzen Buch vergeblich. Das ist eine große Schwäche. Gerade neuere Klassenforschung, wie zum Beispiel der US-amerikanischen Soziologin Betsy Leondar-Wright, ermöglicht Erkenntnisse über Ausdifferenzierungsprozesse innerhalb der Arbeiterschicht. Da kann das pauschalisierende Konzept Arbeiterkind kaum mithalten. Mit einem Klassenbegriff, Konzepten des Kampfs und der Selbstermächtigung sowie einer wissenschaftlichen Feinanalyse wäre die Vielfalt von

Arbeiterkindern (und die Gegensätze zwischen ihnen) sicherlich besser zu begreifen. Dies müsste auch den Kampf einschließen, der für mehr Gleichberechtigung notwendig ist. Maurer fordert jährlich zwanzig Milliarden Euro für mehr und besseres Personal in sämtlichen Bildungsbereichen: »Vermögensabgabe, Erbschaftssteuersatz und Spitzensteuersatz« sollen das finanzieren. Die dazu notwendige Umverteilung wird bei Maurer einfachheitshalber fast ohne Antagonisten ausgekämpft. Wer und wo sind die Befürworter und die Gegnerinnen der Bildungsgleichberechtigung? Was haben Letztere zu gewinnen? Davon erfahren wir zu wenig, eben weil sich Maurers Arbeiterkinder in einem politischen Vakuum befinden, als wäre die Benachteiligung vom Himmel gefallen. Somit verkennt der Autor die deutsche gesellschaftliche Realität, die schon seit Jahrzehnten von einem erbitterten Klassenkampf von oben geprägt wird. Diese Realität äußert sich täglich in der Diffamierung von Armen, Arbeitslosen, Geflüchteten und eben auch Arbeiterkindern. Ohne das erneute Aufgreifen und die kontinuierliche Weiterentwicklung des Konzepts der Klasse drohen auch die zukünftigen Arbeiterkinder zu bleiben, wo und was sie sind. ■

★ ★★ BUCH | Marco Maurer | Du bleibst, was du bist: Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet | Droemer HC | München 2015 | 381 Seiten | 18 Euro REVIEW

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as deutsche Bildungssystem ist alles andere als eine Aufstiegsschmiede. Zu diesem Schluss kommt Marco Maurer in seinem Buch »Du bleibst, was du bist: Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet«. Grundlage sind die Auswertung von zahlreichen Forschungsergebnissen sowie Interviews mit Expertinnen und Experten. Auch mit berühmten Aufsteigern wie dem Chef der Deutschen Bahn, Rüdiger Grube, sprach der Autor. Obwohl er dieser Aufstiegsschickeria – von Sigmar Gabriel bis Stefan Raab – besondere Aufmerksamkeit widmet, wird trotzdem deutlich, dass die Bilanz für die Mehrheit der Arbeiterkinder verheerend ist: Bildungspolitisch sei die Merkelsche Republik »in die frühen sechziger Jahre« zurückgefallen. Es ist bemerkenswert, wie wenig Maurer über die systematische Neoliberalisierung der Gesellschaft insgesamt schreibt. Dabei sind es genau diese politisch-wirtschaftlichen Prozesse, die den Aufstieg von Arbeiterkindern fast unmöglich machen, wie der Autor beiläufig selbst erwähnt. Er tut dies, ohne auf die Ironie hinzuweisen, dass ausgerechnet das Arbeiterkind Gerhard Schröder als Kanzler den Sozialabbau vorantrieb und damit Aufstiegschancen erheblich beschränkte.

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Ziviler Ungehorsam: Syrische Flßchtlinge auf dem ungarischen Bahnhof Keleti Š Mstyslav Chernov / Wiki Commons

Preview


Ausstellung | »stronger than borders«

Das trügerische Glitzern des Mittelmeers Hinter den stetig steigenden Flüchtlingszahlen stehen ebenso viele Geschichten. In einer neuen Wanderausstellung erzählen Geflüchtete mit eigenen Fotos von ihrer Reise. Bald könnte sie auch in deiner Stadt zu sehen sein Von Robert Blättermann schaftsflüchtlinge«. Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner verlangte neue Sicherungsmaßnahmen, weil der »Zustrom« größer sei als der »Abfluss«. Die Geflüchteten erscheinen als eine fremde, andersartige und anonyme Masse, die das Land wie eine Welle überrollt. Von ihnen selbst hört man im herrschenden Diskurs so gut wie nichts, als ob die Hunderttausenden Neuankömmlinge keine Einschätzung, keine Antwort, keine Stimme hätten. Die zentrale Herausforderung für linke Politik wird es in den nächsten Jahren sein, diesem rassistischen und neoliberalen Diskurs eine eigene Erzählung der Solidarität gegenüberzustellen. Dabei geht es besonders darum, Geflüchtete als handelnde Akteure zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie gehört werden. Dies ist der Grundgedanke der Fotoausstellung »stronger than borders«, die der Studierendenverband Die Linke.SDS in Berlin organisiert. Neben professionellen Fotografien werden vor allem Smartphone-Bilder ausgestellt, die die Geflüchteten selbst auf ihrer wochenlangen Reise nach Deutschland aufgenommen haben. Mit den Fotos erzählen sie ihre eigenen Geschichten der Flucht. Die Bilder zeigen Momentaufnah-

men, die in ihrer emotionalen Vielschichtigkeit zutiefst berühren. Überfüllten Aufnahmelagern sind optimistische Selfies mit Victory-Zeichen gegenübergestellt. Idyllisch glitzert auf einem Foto mit Schlauchboot an einem warmen Herbsttag das Mittelmeer, wo nur wenige Tage zuvor hundert Menschen auf der Flucht starben. Die Geflüchteten werden zu Journalistinnen und Journalisten. Ihre Bilder zeugen von ihren Kämpfen und Hoffnungen und zeigen Menschen, die stärker als Zäune oder willkürlich gezogene Grenzen sind. Sie erzählen Geschichten, die endlich gehört werden sollten. Begleitend zur Ausstellung wird es Podiumsdiskussionen geben, in denen die Fotografen und andere Geflüchtete selbst zu Wort kommen und berichten. »Stronger than borders« wird im Dezember in Berlin eröffnet. Ab Januar 2016 steht sie als Wanderausstellung allen Interessierten zur Verfügung. Die Ausstellung könnte zum Beispiel dazu genutzt werden, vor Ort einen produktiven Rahmen der Begegnung zwischen Geflüchteten, Unterstützerinnen und Unterstützern und politischen Gruppen zu bieten. Schreibt einfach an: info@linke-sds.org ■

★ ★★ Ausstellung | »stronger than borders« | organisiert von Die Linke.SDS 3. bis 6. Dezember im Leuchtturm Neukölln, Emser Str. 117 in Berlin Mehr Informationen unter: www.strongerthanborders.de Ausstellung buchen: Mail an info@linke-sds.org

PREVIEW

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nde des Jahres 2014 waren 59,5 Millionen Menschen auf der Flucht – knapp neun Millionen mehr als 2013, vor zehn Jahren waren es 37,5 Millionen Menschen. Der Anstieg zwischen 2013 und 2014 war der höchste, der jemals für den Zeitraum von einem Jahr dokumentiert wurde. Die Menschen fliehen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und aus den Bürgerkriegsländern Afrikas, aus der Verzweiflung an ihrem täglichen Überlebenskampf. In der Hoffnung, ihre Würde zurückzuerlangen, durchbrechen Hunderttausende die Zäune des europäischen Grenzregimes. Längst schon hat sich die politische Debatte in Deutschland gedreht. Auf den Jubel am Münchner Hauptbahnhof und die »Willkommenskultur« der ersten Wochen folgten die politischen Auseinandersetzungen um finanziell überlastete Kommunen, den Bau von Grenzlagern sowie die Nazisymbolik auf Pegida- und AfD-Kundgebungen. Im täglich inszenierten Ausnahmezustand wird viel über »die Flüchtlinge« gesprochen: über kulturelle Andersartigkeit, über vermeintlich rückschrittliche Frauenbilder, über »Verwertbarkeit«, über »richtige« Geflüchtete und »Wirt-

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Kalender | Gisela Notz (Hrsg.) | Wegbereiterinnen XIV - Frauenkalender 2015

»Frauen, die es nicht verdient haben, vergessen zu werden« Noch auf der Suche nach einem passenden Weihnachtsgeschenk? Der Kalender »Wegbereiterinnen« stellt Aktivistinnen vor, die für Gleichberechtigung und ein Leben ohne Unterdrückung und Armut gekämpft haben Interview: Marcel Bois Gisela, hierzulande kennt wahrscheinlich fast niemand Nuriye Ulviye Mevlan. Warum sollten wir uns mit ihr beschäftigen? Weil sie eine ungewöhnliche Frau war: Sie hat vor über hundert Jahren feministische Arbeit in der heutigen Türkei gemacht und eine Frauenuniversität gegründet – also zu einer Zeit, in der wir uns das Land noch als sehr rückständig vorstellen. Deshalb wünsche ich mir, dass sich Leute mit Mevlan beschäftigen, und habe ihr ein Blatt in meinem neuen Kalender »Wegbereiterinnen 2016« gewidmet. Darin stelle ich Frauen aus der ganzen Welt vor, die für mehr Gleichberechtigung, für ein anderes Geschlechterverhältnis und für ein Leben ohne Unterdrückung und Armut gekämpft haben. Du gibst den Kalender »Wegbereiterinnen« nun schon im vierzehnten Jahr heraus. Welche Intention verfolgst du damit? Als Sozialwissenschaftlerin und Historikerin versuche ich seit vielen Jahren, Frauen ins gesellschaftliche Bewusstsein zurückzuholen, die es nicht verdient haben, vergessen zu werden. Beispielsweise habe ich ein paar Bücher über Frauen in der Nachkriegszeit oder auch über die Frauenbewegung der 1970er Jahre veröffentlicht. Als ich noch bei der FriedrichEbert-Stiftung gearbeitet habe, kam die Idee auf, einen Kalender mit Frauenporträts zu machen. Das hat mir sofort gut gefallen. Denn mein Ansatz ist es, Wissenschaft für alle zugänglich zu vermitteln. Der Kalender soll Menschen dafür begeistern, sich mit Geschichte zu befassen. Welche Figur aus dem diesjährigen Kalender hat dich besonders beeindruckt? Therese Giehse – den Beitrag über sie habe ich selbst verfasst. Im Vorfeld habe 84

Gisela Notz

Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und Historikerin. Zwischen 2004 und 2010 war sie Bundesvorsitzende von pro familia, jetzt arbeitet sie im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung mit, das den Protest gegen den jährlich stattfindenden Aufmarsch der »Lebensschützer« organisiert. Den Kalender »Wegbereiterinnen« gibt sie zum vierzehnten Mal heraus. ★ ★★ Der Kalender Gisela Notz (Hrsg.) | Wegbereiterinnen XIV - Frauenkalender 2015 | AG SPAK Bücher | Neu-Ulm 2014 | 14 Seiten (DIN A 3) | 14,50 Euro

ich lange überlegt, welcher Person ich dieses Mal einen Text widme. Mein Forschungsschwerpunkt sind ja eigentlich Politikerinnen. Doch der Kalender ist viel breiter aufgestellt. Hier werden Frauen aus verschiedenen Zusammenhängen wie Kunst, Literatur oder Sport vorgestellt. Deshalb habe ich mich dieses Mal für Giehse entschieden. Sie war Schauspielerin und hat zur NS-Zeit politisches Kabarett gemacht, was ihr einige Schwie-

rigkeiten einbrachte. Auch die Fotografin Tina Modotti finde ich spannend. Sie lebte eine Zeit lang in Mexiko und machte Fotos der einfachen, armen Bevölkerung, die Ausdruck ihrer Liebe zu Land und Leuten waren. Im Kalender sind ja hauptsächlich links-politische Richtungen vertreten, also Frauen, die aus der emanzipatorischen (Frauen-)Bewegung stammen. Da passte Modotti als Kommunistin gut rein. Wird es weitere Kalender geben? Das will ich doch hoffen! Es wird den Kalender noch so lange geben, wie ich ihn machen kann, solange er gekauft wird und solange andere Leute daran mitarbeiten. Momentan sieht es ganz gut aus. Ich würde die »Wegbereiterinnen« als Erfolgsprojekt bezeichnen – nicht unbedingt ökonomisch, denn da steckt viel ehrenamtliche Arbeit drin. Aber das Interesse ist groß. Der Kalender hängt mittlerweile in vielen Küchen, Wohngemeinschaften und Büros. Außerdem gibt es eine lange Liste von Personen, die für die kommenden Ausgaben etwas schreiben möchten. Der Kalender für 2017 ist beispielsweise schon jetzt voll. Das Projekt zieht also weite Kreise. Das gefällt mir am besten daran. Hast Du nicht Sorge, dass Dir irgendwann die Protagonistinnen ausgehen? Wie gesagt: Es kommen immer wieder Leute mit Ideen auf mich zu. Denn an kämpferischen Frauen gibt es in der Weltgeschichte keinen Mangel. Dementsprechend ist es mein Anliegen, den nationalen Rahmen viel öfter zu verlassen – wie im Fall Mevlan. In Zukunft will ich auch indische, chinesische oder lateinamerikanische Frauen aufnehmen. Ich habe also überhaupt keine Sorge, dass mir die Protagonistinnen ausgehen. ■


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