marx21 Ausgabe Nummer 43 / 01-2016

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marx21 01/2016 | FRÜHJAHR | 4,50 EURO | marx21.de

Bundeswehr Aufrüstung für neue Kriege

Atomenergie Wer bezahlt die Folgekosten

Magazin für internationalen Sozialismus

Anne Alexander erklärt den Aufstieg des Islamischen Staats

Rosemarie Nünning

wirft einen Blick auf die Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs

Sotiris Kontogiannis berichtet aus Griechenland ein Jahr nach dem Wahlsieg der Linken

Sexuelle Gewalt Köln und die Folgen Black Panthers Die schwarzen Revolutionäre

+

Kultur Politisches Theater in Afghanistan

Musik A Tribe Called Knarf Österreich 4,70 EURO SCHWEIZ 7,50 CHF 204501 195906 4

US-Wahlkampf Sanders bricht das Parteiensystem auf

01

Venezuela Ist die bolivarische Revolution gescheitert?


Berlin Mehr als 500 Aktivistinnen und Aktivisten demonstrieren am 22. Januar gegen den Staatsbesuch des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu. Sie versammeln sich vor dem verschneiten Kanzleramt und kritisieren die geplanten Zusammenarbeit von EU und Türkei, um die Fluchtbewegung in Richtung Europa aufzuhalten. Auch zahlreiche Menschen aus der kurdischen Gemeinde sind präsent, die den Staatsterror Erdogans gegen die kurdische Befreiungsbewegung anprangern. Zusammen tragen sie das Transparent »Mr. Davutoğlu NOT Welcome!«. © Uwe Hiksch / CC-BY-NC-SA / flickr.com


IN EIGENER SACHE

Liebe Leserinnen und Leser,

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ie Brandursache ist noch unklar. Fast täglich kann man diesen Satz in den Zeitungen lesen, nachdem in der Nacht zuvor mal wieder eine Flüchtlingsunterkunft in Flammen aufging. Die Täter werden fast nie gefasst. Dabei sind zumindest die geistigen Brandstifter leicht auszumachen: Politikerinnen und Politiker aus den Reihen der Bundesregierung hetzen seit Monaten gegen Geflüchtete, um so eine Asylrechtsverschärfung nach der anderen zu legitimieren. Damit schaffen sie ein Klima, in dem Nazis und Rassisten rasanten Zulauf erhalten.

Wir suchen dich.

Es ist nicht zu übersehen: Deutschland droht ein Rechtsruck und der Aufstieg der selbsternannten Alternative für Deutschland ist gefährlichster Ausdruck dieser Entwicklung. Daher widmen wir dem Kampf gegen rechts erneut einen Schwerpunkt. Ihr findet ihn ab Seite 22. Mit dem Ziel, eine breite gesellschaftliche Bewegung gegen die AfD aufzubauen, hat sich Anfang des Jahres eine bundesweite Initiative zusammengefunden. Als nächster Schritt wird am 23./24. April eine zentrale Aktionskonferenz stattfinden. Wenn ihr mehr Infos dazu haben möchtet, könnt ihr euch gerne bei uns melden oder euch auf unserer Homepage marx21.de auf dem Laufenden halten. Bereits zu Beginn dieser Hefterstellung war klar: Unser Cover muss auf den Kampf gegen die AfD zuspitzen und sie als neues Sammelbecken von Nazis enttarnen. Auf der Suche nach einer Gestaltungsidee stießen wir auf eine Grafik der »Hooligans gegen Satzbau«, einer satirischen Initiative gegen rechts. Wir schrieben sie an und schickten ihnen einen Entwurf unserer Titelseite. Keine Stunde später folgte die Zusage. Am nächsten Tag staunten wir nicht schlecht, als wir bemerken, dass die »Hooligans« unseren Entwurf bereits auf Facebook veröffentlicht hatten. Er hatte nicht nur schon hunderte Likes bekommen, sondern auch eine Diskussion entfesselt, ob es richtig ist, der AfD das Rederecht zu nehmen. Damit war die Frage des Covers entschieden und weitere Redaktionsdebatten hierüber hinfällig.

Wir suchen dich! marx21 braucht deine Hilfe. Wir suchen ehrenamtliche Helferinnen und Helfer im Redaktionsalltag. Besonders gefagt ist gerade Unterstützung für das Layout, für Bilderredaktion und für Übersetzungen. Auch Praktikantinnen und Praktikanten sind immer bei uns willkommen (Schülerpraktika leider ausgenommen). Wenn ihr Lust habt, Teil unseres Teams zu werden, dann kontaktiert uns gerne unter: redaktion@marx21.de.

Auch bei unserem Kongress »MARX IS‘ MUSS 2016« steht der Kampf gegen Rassismus und Nazis im Mittelpunkt. Mittlerweile gibt es auch das vollständige Programm online auf marxismuss.de. Auf dem Kongress werden wir auch die neue Ausgabe unseres Journals theorie21 präsentieren. Sie befasst sich mit der Aktualität marxistischer Staatsund Revolutionstheorie. Auf Seite 81 stellen wir das Heft vor. Zuletzt noch eine Bitte in eigener Sache: Unsere Zeitschrift lebt von Mundpropaganda. Wenn ihr mithelfen wollt, unsere Ideen, Analysen und Strategien bekannter zu machen, dann empfehlt uns weiter. Wer nicht gleich ein Abonnement abschließen will, kann auch erst einmal auf marx21.de ein kostenloses Probeheft bestellen. Eure Redaktion

Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 68 23 14 90

EDITORIAL

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post.

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Fotostory: Australien

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Fünf Jahre nach dem Super-GAU

16 13 Sexismus: Was von der Silvesternacht blieb

Aktuelle Analyse

Titelthema: Kampf gegen Rechts

Neues aus der LINKEN

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23 Strategien gegen die rechte Gefahr Von Martin Haller und Yaak Pabst

43

Griechenland: Zur Not gegen Syriza Von Sortiris Kontogiannis

13 Sexismus: Was von der Silvesternacht blieb Von Silke Stöckle und Marion Wegscheider 16

Atomkraft: Strahlende Zukunft Von Hubertus Zdebel

28

AfD: Die braune Eminenz Von Volkhard Mosler

21

4

Schwerpunkt: Krieg gegen den Terror

31 NPD: Verbieten ist keine Lösung Von Lisa Hofmann

47

Zerstörung, Wut und Verzweiflung Von Jules El-Khatib und Daniel Kerekeŝ

32

Die Gegenwart des Faschismus Von Jan Maas

36

Münster: Wie wir die AfD gestoppt haben Von Hannes Draeger

50

»Die militärische Intervention des Westens ist schuld am Aufstieg des IS« Interview mit Anne Alexander

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Der neue deutsche Militarismus Von Christine Buchholz und Frank Renken

Unsere Meinung 20 Vorwahlen in den USA: Kein zweiter Obama Kommentar von Loren Balhorn

Berlin: Ohnmacht oder Gegenmacht Von Werner Halbauer, Lucia Schnell und Irmgard Wurdack

INTERNATIONALES Versteh eine Wulf Gallert! 40 »Venezuela steckt in Kommentar von Daniel Morteza einer tiefen Krise« Interview mit Zuleika Matamoros

57 Syrien: Für den Abzug aller ausländischen Truppen Von der marx21-Redaktion


40 Venezuela: Die Krise der Linken

Schwerpunkt: Krieg gegen Terror

46 54 Syrien: Für den Abzug aller Truppen

Netzwerk marx21

Geschichte

Rubriken

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03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Briefe an die Redaktion 08 Fotostory 38 Weltweiter Widerstand 59 marx21 Online 72 Review 80 Preview

Das Projekt marx21

Frauenbefreiung

Black Panthers: Die schwarzen Revolutionäre Von Michael Ferschke

Kultur

62 Eine kleine Geschichte der Geburtenkontrolle Von Rosemarie Nünning

70 Politisches Theater in Afghanistan: Ein Leuchtfeuer Von Phil Butland

neu auf marx21.de

Im März werden drei Landtage neugewählt. Wir analysieren die Ergebnisse. Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

INHALT

Weiterer Rechtsruck?

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marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 10. Jahrgang, Heft 43 Nr. 1, Frühjahr 2016 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Print & Online Yaak Pabst (leitender Redakteur/V.i.S.d.P.), Martin Haller (stellv.), Frieda Dietrich, Clara Dirksen, David Jeikowski, Ronda Kipka, Hans Krause, Hai-Hsin Lu, Jan Maas, Boris Marlow, Stefan Ziefle Lektorat Clara Dirksen, Brian E. Janßen, David Paenson, Rosemarie Nünning Übersetzungen David Maienreis, Ronda Kipka, Marion Wegscheider Layout Stefan Karle, Yaak Pabst, Miguel Sanz Alcántara, Carsten Schmidt Covergestaltung Yaak Pabst, Grafik: Hooligans Gegen Satzbau. www.hogesatzbau.wordpress.com Redaktioneller Beirat Stefan Bornost, Christine Buchholz, Michael Ferschke, Werner Halbauer, Christoph Hoffmeier, Rhonda Koch, Sven Kühn, Julia Meier, Max Manzey, Volkhard Mosler, Frank Renken, Lucia Schnell, Fanni Stolz, Oskar Stolz, Ben Stotz, Anton Thun, Heinz Willemsen, Luigi Wolf Aboservice-Team Phil Butland, Renate Heitman, Rita Renken Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint viermal jährlich. 5 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 68 23 14 90 Fax: 030 – 68 22 97 35 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank / Konto 1119136700 / BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. IBAN: DE36 4306 0967 1119 1367 00 BIC: GENODEM1GLS Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint am 9. Juni 2016 (Redaktionsschluss: 20.05.) 6

I

hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

hANS kRAUSE, rEDAKTEUR

S

eine politischen Schwerpunkte setzte Hans schon früh. Der Irakkrieg im Jahr 1991 machte dem 15-Jährigen bewusst, wie verlogen die Rede von »humanitären« Kriegseinsätzen ist. Ganz so nüchtern wie heute sah er die Lage allerdings noch nicht: Hans nahm sich vor, als erster grüner Bundeskanzler die Welt zu verändern. Ausgerechnet in Freiburg ging er dann tatsächlich zu einem Treffen der Grünen – »einmal und nie wieder«. Stattdessen schloss sich Hans der sozialistischen Organisation Linksruck an. Das Gefühl, auf der Straße mehr bewegen zu können als im Landtag, bestätigte sich für ihn bei der erfolgreichen Blockade eines Naziaufmarsches in München. Aber auch internationale Ereignisse haben ihn stark geprägt, wie das linke Reformprogramm unter Chavez in Venezuela und der Arabische Frühling. Antiimperialismus und Antikriegspolitik sind immer noch seine wichtigsten Anliegen. Dazu kam in den letzten Jahren die Wiederbelebung der Arbeiterbewegung in Deutschland. »Die Linke darf den Klassenkampf nicht aus den Augen verlieren, auch wenn er schwach ist«, betont Hans. Die neuen Streikbewegungen geben ihm Recht. Derzeit engagiert er sich besonders als Unterstützer des Charité-Streiks und in der LINKEN in Berlin-Kreuzberg. Seit 15 Jahren schreibt der Sozialwissenschaftler nun schon für linke Zeitungen. Bei marx21 war er von Anfang an dabei. Am liebsten sind ihm Interviews mit Aktivistinnen und Aktivisten. Aus ihnen etwas herauszukitzeln, ist nicht immer leicht – aber es lohnt sich: »Ein tolles Gefühl, wenn Interviewpartner am Ende sagen: ›Genau so habe ich es gemeint. Ich wusste nur nicht, wie ich es formulieren soll.‹«

Das Nächste Mal: Jan Maas


Zu den Artikeln »Die rechte Gefahr« und »Der Krieg, den der Westen begann« (Heft 4/2015) Linke Gruppierungen sind die ehrgeizigsten Kämpferinnen gegen Imperialismus und Rassismus und für Frieden in der Welt. Die Einigkeit unter ihnen muss wieder auf eine breitere Basis gestellt und wie in früheren Jahrzehnten sichtbar werden. Der Stalinismus, nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion, sondern auch unter Sozialisten und Kommunisten im Westen, hat viel Unheil angerichtet. Der Antikommunismus der Adenauer-Zeit wirkt noch heute nach. Die Linken müssen und sollten sich einer Neuausrichtung stellen. Zuspruch von der Mehrheit zu erhalten, geschieht nicht von heute auf morgen. Den rechten Populisten die Existenz zu entziehen geht nur mit positivem Populismus von links. Wir müssen unsere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit steigern. Dafür müssen wir veraltete Strukturen aufbrechen. Gary Rann, Hamburg

Zum Kommentar »Die repressiven Gesetze abwehren« von Rosemarie Nünning (Heft 4/2015) Sehr schön, dass ihr Euch so positioniert. Ich verstehe bis heute nicht, warum Linke es nicht begreifen, dass Repressionen keine Befreiung bedeuten und sich Prostitution nicht abschaffen lässt. Kersten Artus, auf unserer Facebook-Seite Im Unterschied zu Friedrich Engels, der die Prostitution noch abschaffen wollte, scheint sich DIE LINKE mit der massenhaften sexuellen Ausbeutung von Frauen arrangiert zu haben. Kein kritisches Wort zu den frauenverachtenden Zuständen in den Bordellen und Laufhäusern. Kein kritisches Wort zu der alltäglichen Gewalt, denen die Frauen ausgesetzt sind. Kein Wort zu den Dumpingpreisen, die im Milieu längst üblich sind. Auf einen Mindestlohn kommen die wenigsten dieser Frauen. Kein Wort dazu, dass vor allem die Ärmsten der Armen aus den Armenhäusern Europas

(Bulgarien, Rumänien, Ungarn) für die sexuelle Befriedigung von Männern herhalten müssen. Scheinbar ist »Sexarbeit« doch nicht so attraktiv, wie es immer suggeriert wird (der Anteil der Migrantinnen liegt bei weit über 80 Prozent). Niemand will ernsthaft zurück ins 19. Jahrhundert, als in Berlin Frauen wegen »unsittlichen Verhaltens« ins Gefängnis gesteckt wurden. Aber die Liberalisierung der sexuellen Ausbeutung von Frauen kann genauso wenig eine Alternative sein. Warum scheut sich DIE LINKE, die Verursacher (Sexkäufer) und Profiteure (Zuhälter, Bordellbetreiber) in den Blick zu nehmen? Gerhard Schönborn, auf unserer Facebook-Seite Es ist ja schön, dass ihr unseren Aufruf »LINKE für eine Welt ohne Prostitution« verlinkt habt. Der Untertitel des Artikels von Rosemarie Nünning ist allerdings eine Zumutung, wird unser Aufruf doch als »Angriff auf Prostituierte« tituliert. Wer sich unsere Seite angeschaut hat und so etwas schreibt, begibt sich aufs Terrain der Unredlichkeit. Meinungsverschiedenheiten sind ja schön und gut. Aber es wäre schön, wenn ihr euch an einen sachlichen Tonfall halten könntet und unserer Position wenigstens eine faire Behandlung zugesteht. Wenn ihr die Antwort von diversen Bundestagsabgeordneten auf unseren Aufruf lest, wird klar, dass deren Analyse sehr unterschiedlich ist. Einige halten Prostitution für einen »Beruf«, dessen Normalisierung und Professionalisierung wünschenswert sei. Sie lehnen Sexkauf ausdrücklich nicht ab. Sie halten Prostitution nicht für überwindbar und wollen das auch gar nicht anstreben. Sie sind nicht bedingungslos für Ausstiegsprogramme. Wir sagen hingegen: Das Langzeitziel muss die Überwindung der Prostitution sein. Normalisierung ist keine Option. Gewalt kann man nicht »professionalisieren«. Wir empfinden es als Realitätsverdrehung, Prostitution als Ausdruck sexueller Selbstbestimmung darzustellen, wie Conny Möhring und andere das tun. Die überwältigende Mehrheit der Prostituierten will aussteigen. Sie sind nicht freiwillig in der Prostitution, sondern aus Mangel an Alternativen. Damit sind sie aus unserer Sicht die Opfer eines brutalen Systems genauso wie der konkreten von Männern ausgeübten Gewalt, die Prostitution bedeutet. Damit möchten wir den Prostituierten natürlich keinesfalls die Handlungsfähigkeit absprechen. Ich kenne einige Aussteigerinnen persönlich. Das sind oft sehr, sehr starke Frauen. Die sind durch die Hölle gegangen. Grade deshalb kämpfe ich dagegen, dass

die Gewalt, die ihnen angetan wurde, bagatellisiert wird. Und dafür, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Es ist einfach nicht gerecht, dass die Männer für ihr brutales Verhalten nie zur Rechenschaft gezogen werden, während die Frauen mit den Konsequenzen leben müssen. Gleiches gilt natürlich auch für Männer und Transsexuelle, die sich prostituieren, und mit den gleichen Konsequenzen leben müssen: Traumata, Gewalt, Stigmatisierung. Es kann ja sein, dass es eine winzige Handvoll von Prostituierten gibt, die Prostitution nicht so erleben. Aber als Feministin möchte ich deshalb trotzdem nicht Prostitution grundsätzlich gutheißen. Ich finde, es sollte für eine linke Partei selbstverständlich sein, patriarchale Gewaltverhältnisse abzulehnen und sie nicht rosarot zu malen. Mal davon abgesehen kennt ihr offensichtlich die nordischen Realitäten nicht. Das Sexkaufverbot wurde von links und von der Frauenbewegung erkämpft. Es hat die Lage für die Prostituierten nicht verschlechtert, hingegen zu einem (weiteren) Rückgang von Prostitution, Sexkauf und Menschenhandel beigetragen. Ich lebe selbst in Norwegen, bin hier frauenpolitisch aktiv und kenne die Lage hier. Ich kann euch mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass Prostituierte es hier nicht schwerer haben als in Deutschland, ganz im Gegenteil. Katharina Sass, per E-Mail

Zur Filmbesprechung »The Danish Girl: Im falschen Körper« von Hai-Hsin Lu (marx21.de, 20.01.2016) Man muss sich vor Augen halten, dass Lili Elbe keine Aktivistin, sondern in erster Linie ein innerlich zerrissener Mensch war. Auch heute ist das Dasein als Transperson weniger glamourös als sich das viele vorstellen: Outing, Jobverlust, sozialer Abstieg, Armut, Abhängigkeit von Ämtern und Behörden und grauenvolle Alltagsdiskriminierung. Von Emanzipation ist da nicht viel zu spüren. Martina E. Schröder, auf unserer Facebook-Seite

★ ★★ Die Redaktion behält sich vor, Briefe von Leserinnen und Lesern gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

ERRATUM In das Interview mit Lucia Schnell in Heft 2/2015 (»Der Staat kann Wohnraum beschlagnahmen«, Seite 26) hat sich eine falsche Zahl eingeschlichen. In Berlin standen im Jahr 2014 nicht 907 Millionen Quadratmeter Bürofläche leer, sondern lediglich 907.000 Quadratmeter. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

Briefe an die Redaktion

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Alle Bilder: © Leo Bild / CC-BY-NC / flickr.com

FotoSTORY

Australien | Am 25. Januar, dem australischen Nationalfeiertag, gibt es in zahlreichen Großstädten des Landes Demonstrationen. Unten links: Die Demonstrierenden kritisieren die unaufgearbeitete Vergangenheit. Denn

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während der offiziellen Feierlichkeiten wird der Genozid an der indigenen Bevölkerung komplett ausgeblendet. Mitte: Zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten fordern eine Umwidmung des Datums zu einem Gedenktag der

Trauer, des Verlusts und des Kampfs für Gerechtigkeit. Unten rechts: Viele Protestierende erscheinen in traditioneller Kleidung und inszenieren Rituale, um die Auslöschung ihrer kulturellen Identität anzuprangern.


© George Rigato / CC BY-NC / flickr.com

Protestwelle gegen die Fußballweltmeisterschaft 2014 hat die Bewegung Fahrt aufgenommen. Unten rechts: Inzwischen eint die Forderung nach dem »Nulltarif« alle Aktivistinnen und Aktivisten.

FOTOSTORY

© Rita Carina Queiroz / CC BY-NC / flickr.com

Unten links: Die Demonstrierenden sind mit massiver Polizeigewalt konfrontiert – Amnesty International berichtet von willkürlichen Verhaftungen. Mitte: Die Tariferhöhungen treffen vor allem die Ärmeren. Seit Aufkommen der

© Thiago Carvalho / CC-BY-NC / flickr.com

© Thiago Carvalho / CC-BY-NC / flickr.com

Brasilien | Am 16. Januar gehen in Sao Paolo wieder viele auf die Straße. Sie fordern »Tarifa Zero« – die kostenlose Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Seit dem Jahr 2013 wehrt sich die Bewegung gegen Preiserhöhungen.

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Aktuelle Analyse

Zur Not gegen Tsipras Gegen die Rentenkürzungen, die Syriza auf Druck der Gläubiger in Griechenland durchsetzen soll, regt sich Widerstand. Die Bewegung, die Tsipras an die Regierung gebracht hat, beginnt sich langsam von ihm zu lösen Von Sotiris Kontogiannis Übersetzung: Marion Wegscheider ★ ★★

Sotiris Kontogiannis ist Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (SEK) in Griechenland. Die SEK beteiligt sich unter anderem an dem antirassistischen Bündnis Keerfa und dem Wahlbündnis Antarsya.

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in Generalstreik hat Griechenland am 4. Februar für 24 Stunden zum Stillstand gebracht. GSEE und ADEDY, die Gewerkschaftsbünde des privaten und öffentlichen Sektors, hatten dazu aufgerufen. Es war bereits der dritte Generalstreik seit der Wiederwahl der Regierung Syriza-Anel im September. Die Gewerkschaften kämpfen gegen die geplante Rentenreform von Arbeitsminister Giorgos Katrougalos. Sie ist die Bedingung für das dritte Hilfspaket der EU. »Reform« ist ein nettes Wort für das Monster, welches die Regierung hier geschaffen hat. Die Renten sollen drastisch gekürzt werden – in manchen Fällen um bis zu 30 Prozent. Gleichzeitig sollen die Beitragszahlungen für Rentenfonds sowie das Rentenalter weiter erhöht werden. Dies ist die zwölfte Reform des Rentensystems in den vergangenen acht Jahren. Der Großteil der Bevölkerung im Rentenalter lebt bereits in Armut. Und nicht nur die Rentnerinnen und Rentner selbst sind betroffen – Hunderttausende überleben aktuell aufgrund der Arbeitslosigkeit nur durch die Renten von Großvater oder Großmutter. Eine Kürzung der Renten wird die humanitäre Krise noch verschärfen.

Verschiedene Gewerkschaften hatten schon vorher gestreikt. Am 28. Januar hatten Beschäftigte der Stadtverwaltungen Behörden in beinahe allen Städten blockiert und besetzt. Journalistinnen und Journalisten hatten ebenfalls gestreikt – es gab an jenem Donnerstagabend keine Nachrichten im Fernsehen und am Freitag darauf keine Zeitungen. Auch die Seeleute hatten für 48 Stunden die Arbeit niedergelegt und den gesamten Schiffsverkehr zwischen dem Festland und den Inseln blockiert. Es ist nicht nur die Arbeiterklasse, die sich an den Protesten beteiligt. Das neue Rentenrecht wäre auch ein harter Schlag für die Bauernschaft und für Selbstständige. Anwältinnen und Anwälte bleiben seit dem 12. Januar den Gerichten fern. Bäuerinnen und Bauern blockieren mit ihren Traktoren die Schnellstraßen. Die Ärzteschaft befindet sich ebenfalls im Streik, was ihre bürokratischen Aufgaben betrifft. Ingenieurinnen und Ingenieure gehen auf die Straße.

Die Regierung versucht, die Bewegung zu spalten

Die Regierung befindet sich in der Defensive und versucht, die Opposition zu spalten. Sie stellt Anwälte als »privilegiert« hin. Ihre Demonstrationen, so die Regierung, seien politisch motivierte »cacerola-


Den ersten Versuch einer Rentenreform unternahm die rechte Regierung von Konstantinos Mitsotakis, dem Vater des aktuellen Vorsitzenden der Mitte-Rechts-Partei Nea Dimokratia, Anfang der 1990er-Jahre. Daraufhin gab es eine massive Streikwelle, die am Ende zum Sturz der Regierung führte. Einen zweiten Versuch unternahm 2001 die sozialdemokratische Pasok-Regierung von Kostas Simitis. Nach einem Generalstreik mit über einer Million Demonstranten in Athen ließ er seinen Plan fallen. Tsipras und Katrougalos sind sich dieser Geschichte bewusst und haben bereits mehrmals die Abstimmung zur Ratifizierung des Reformplans im Parlament nach hinten verschoben. Sogenannte Experten behaupten, das Rentensystem in Griechenland sei nicht funktionsfähig. Damit meinen sie, dass Renten nur mit Unterstützung des Staatshaushaltes ausgezahlt werden können. Technisch gesehen ist das korrekt – allerdings nur, weil der Staat systematisch die Rentenrücklagen geplündert hat. Der Todesstoß war das berüchtigte »PSI« von 2012: Die Rentenfonds wurden gezwungen, Regierungsanleihen zu erwerben, die später nichts mehr wert waren. Die Arbeitslosigkeit – derzeit offiziell über 25 Prozent – tut ihr Übriges, um die Situation zu verschlimmern. Doch anstatt die Beschlüsse rückgängig zu machen, die den Problemen zugrunde liegen, quetscht die Regierung das Letzte aus der Bevölkerung heraus, um weiter Schulden zu bedienen und das »Quartett« aus Europäischer Kommis-

Ministerpräsident Alexis Tsipras sieht sich mit dem Widerstand eines Teils seiner eigenen Basis konfrontiert

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Bei »MARX IS' MUSS« diskutieren die griechischen Sozialisten Stathis Kouvelakis, Mitglied von Laiki Enotita (Volkseinheit), und Panos Garganas, Mitglied von Antarsya (Antikapitalistische Linke), zum Thema »Zwischen Kürzungsdiktat und Klassenkampf: Wie weiter für die griechische Linke?«.

AKTUELLE ANALYSE

© DonkeyHotey / CC BY-SA / flickr.com

zos«. So hießen die Topfproteste der Reichen gegen den linken Präsidenten Allende in Chile Anfang der 1970er-Jahre, mit dem Ziel, die linke Regierung zu stürzen. »I Avgi« (Die Morgenröte), die Zeitung von Syriza, veröffentlichte ein Foto der vorderen Reihen einer Demonstration, auf dem reiche Anwälte zu sehen waren, die in Anzug und Krawatte demonstrierten. Der Artikel verspottete die Demonstration als »Krawattenrebellion«. Natürlich sind manche Selbstständige reich. Sie sind allerdings eine kleine Minderheit. Ein großer Teil ist nicht nur arm, sondern sehr arm: Immerhin 70 Prozent der Anwaltschaft und 52 Prozent der Ingenieurinnen und Ingenieure haben vor langer Zeit aufgehört, in den Gesundheits- und Rentenfonds einzuzahlen, weil sie es sich nicht mehr leisten können. Diese Menschen sind nicht freiwillig selbstständig, sondern haben ihre Arbeitsplätze in der Krise verloren. Die allermeisten schulden ihren Fonds zehntausende Euro und leben mit der ständigen Drohung der Zwangsvollstreckung, wenn sie beispielsweise eine Wohnung besitzen. Durch das neue Rentensystem, welches die Beiträge für Gesundheitswesen und Rente massiv erhöhen wird, besteht für sie keinerlei Hoffnung mehr, ihre Schulden jemals zurückzuzahlen.

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sion, Internationalem Währungsfonds (IWF) Europäischer Zentralbank und dem Rettungsschirm ESM zufrieden zu stellen. Selbstredend ist das »Quartett« auch vom neuen Rentensystem nicht begeistert. Der IWF droht mit dem Rückzug aus dem Rettungsprogramm für Griechenland, wenn die Regierung sich nicht bereit erklärt, alle bestehenden Renten sofort um mindestens 15 Prozent zu kürzen. Das »Quartett« weiß, dass dies einem Selbstmord der linken Regierung gleichkäme. Katrougalos hat angeblich die aktuellen Rentnerinnen und Rentner von den Kürzungen ausgenommen – in Wahrheit würden diese eine dreijährige Gnadenfrist erhalten. Danach würden die alten Renten schrittweise in das neue Rentensystem überführt und damit gekürzt. Das letzte, was die Regierung gerade gebrauchen kann, ist, dass sich die alten Menschen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft auf der Straße anschließen. Offiziell beruht das Beharren des »Quartetts« auf Zahlen: Ohne eine direkte Kürzung der Renten – die den Haushalt belasten – wird das Ziel des Primärüberschusses nicht erreicht, das die griechische Regierung und die Institutionen im Sommer vereinbart haben, behauptet der IWF. In Wahrheit aber sind die Gründe für den Druck nicht ausschließlich finanzieller Natur – das »Quartett« will die Linke demütigen und die griechische Arbeiterklasse für ihre Rebellion bestrafen. Besonders die 62 Prozent »Nein«-Stimmen beim Volksentscheid gegen die Kürzungspolitik letzten Sommer sind ein Hieb, den die herrschenden Klassen nicht vergessen können.

fern in Lesbos, Geflüchtete aus Gefahrensituationen zu retten. Und auch sogenannte »Hot Spots« werden eingerichtet – das sind Lager, in denen die Geflüchteten erfasst und von denen aus sie in den meisten Fällen in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden. Doch die EU will mehr: Niemand soll sich der Illusion hingeben, dass sich durch die Wahl einer linken Regierung irgendetwas ändern ließe. Syriza hat sich selbst in eine ausweglose Lage manövriert. Sie hätten es besser wissen können – es endet immer gleich, wenn man sich der Erpressung unterwirft. Erpresser geben sich nie zufrieden. Jedes Zugeständnis ist ein Zeichen der Schwäche und bringt neue Forderungen mit sich. Bis das Opfer am Boden liegt. Die Kapitulation von Syriza letzten Herbst war nicht nur ein Rückschlag für die Menschen in Griechenland, die ihre Hoffnungen in eine »linke Regierung« gesetzt hatten, sondern auch für Millionen auf der ganzen Welt. Doch die Arbeiterbewegung hat ihre großen Kämpfe nicht vergessen. Der massive Linksruck, der mit diesen Kämpfen einherging und der auch zum Wahlsieg von Syriza geführt hat, bleibt bestehen. Die Bewegung lebt wieder auf.

Die Arbeiterbewegung hat ihre Kämpfe nicht vergessen

Dies zeigt sich auch im Falle der Fluchtkrise. Die Spitzen der EU drohen damit, Griechenland aus dem Schengen-Bund auszuschließen. Der aktuelle Entwurf des Schengen-Evaluierungsberichts wirft Griechenland vor, dass es »... seine Pflichten schwer vernachlässigt und ernstzunehmende Defizite in der Kontrolle der Außengrenzen aufweist, die von den griechischen Behörden behoben und ausgeräumt werden müssen.« »Kontrolle der Außengrenzen« hieße, zur Politik des Ertrinkenlassens und Einsperrens zurückzukehren. Die Regierung Syriza-Anel hat ihre Kontrollen bereits ausgeweitet – sie untersagt beispielsweise Hel-

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Das antirassistische Bündnis Keerfa (Vereinigung gegen Rassismus und faschistische Bedrohung) rief beispielsweise Ende Januar zu einer großen Demonstration gegen den von den Vorgängerregierungen erbauten und von Syriza-Anel verwalteten Grenzwall an der griechisch-türkischen Grenze auf, der den Landweg versperrt und Geflüchtete dazu zwingt, den gefährlichen Seeweg einzuschlagen. Mouzalas, der verantwortliche Minister für Einwanderung, wurde drei Tage später ausgebuht, als er versuchte, zu einer Versammlung in Thessaloniki zu sprechen. Unter den Bannern, die auf der Demonstration in Alexandroupoli an der türkischen Grenze zu sehen waren, war auch eines der Syriza-Jugend. Und von den Menschen, die am 4. Februar gestreikt haben, hatten Hunderttausende im September für Syriza gestimmt. Der Generalstreik vom 4. Februar kann ein Wendepunkt sein. Dies allerdings wird nicht automatisch geschehen. Die Rolle von Linken ist es nicht, die Zukunft vorherzusehen – sondern einzugreifen, um die Zukunft zu gestalten. ■


Was von der Silvesternacht blieb Das gesellschaftliche Echo auf die sexistischen Vorfälle in Köln gab rechten und christlich-konservativen Kräften Rückenwind: Es wurde tüchtig Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht – über die Ursachen von Sexismus hingegen meist geschwiegen Von Silke Stöckle und Marion Wegscheider Beim diesjährigen Karneval in Köln hatten Frauen offenbar mehr Vertrauen, Sexismus zur Anzeige zu bringen. So bekam ein Türsteher eine Anzeige, der von einer Frau wahlweise einen überhöhten Eintrittspreis oder ein »Bützje« (Küsschen) verlangte. Der Kölner Polizeidirektor bestätigte, dass dieser Vorfall höchstwahrscheinlich ohne die Ereignisse an Silvester nicht zur Anzeige gebracht, sondern als harmlos abgetan worden wäre.

Sexismus ist keine Frage der Religion oder der Herkunft

Sexuelle Gewalt ist nach wie vor eines der großen Tabuthemen unserer Gesellschaft und wird deshalb als wesentlich weniger alltäglich wahrgenommen, als sie es ist. Von Staat und Justiz konnten die Frauen bislang auf wenig Unterstützung hoffen. Das Institut für Polizei- und Sicherheitsforschung der Hochschule für Öffentliche Verwaltung Bremen kommt in einer aktuellen Studie zu der Feststellung, dass im Jahr 2012 nur 16 von 145 Verfahren in Bremen überhaupt vor Gericht gingen – in ganzen sieben Fällen kam es daraufhin zu Verurteilungen. Dies entspricht einer Verurteilungsquote von 3,9 Prozent. Zudem gehen die Behörden von einer hohen Dunkelziffer an Delikten aus, die nie zur Anzeige gebracht werden.

Dennoch führten die Ereignisse der Silvesternacht nicht zu einer breiten Debatte über den in unserer Gesellschaft tief verankerten Sexismus. Vielmehr folgte eine ausufernde rechte Hetze gegen Flüchtlinge und Muslime in Deutschland. Beispielsweise schrieb Björn Höcke, der Fraktionsvorsitzende der AfD im Thüringer Landtag, auf seiner Facebookseite: »Die Silvesternacht hat unserem Land mit den Ereignissen am Kölner Hauptbahnhof einen Vorgeschmack auf den drohenden Kultur- und Zivilisationszerfall gegeben.« Pegida-Demonstrierende brachten gar den Slogan »Rapefugees not welcome« auf ein Banner. Auch der Kölner Kreisverband der rechtsextremistischen Partei Pro NRW schaltete sich in die Diskussion ein. Unter dem Motto »Zuwanderergewalt lässt uns nicht kalt!« kündigte er noch in der ersten Januarwoche eine Mahnwache am Kölner Dom an, um gegen die »Schattenseiten der Masseneinwanderung« zu protestieren. Auch in den Medien wurden die Kölner Silvesterattacken oftmals als unmittelbare Folge des Zustroms von Geflüchteten dargestellt, obwohl die Fakten dem widersprechen. Laut Kölns Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer waren an den Übergriffen lediglich

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Silke Stöckle ist aktiv bei der LINKEN in Berlin und im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung.

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Marion Wegscheider arbeitet als Übersetzerin. Sie ist aktiv bei der LINKEN in Essen, bei LISA Nordrhein-Westfahlen. Sie schreibt regelmäßig für das Portal »Die Freiheitsliebe«.

AKTUELLE ANALYSE

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ehr als tausend Strafanzeigen, davon 454 wegen sexueller Übergriffe; 59 ermittelte Tatverdächtige, davon 13 in Untersuchungshaft. So lautete die Zwischenbilanz der Kölner Staatsanwaltschaft zu den Ereignissen in der Silvesternacht. Doch nur fünf Wochen später kam es trotz eines massiven Polizeiaufgebots erneut zu sexuellen Übergriffen in der Domstadt: Im Karneval wurden insgesamt 66 Sexualdelikte zur Anzeige gebracht, darunter eine Vergewaltigung. Eine belgische Reporterin wurde vor laufender Kamera von einer Gruppe deutscher Männer belästigt und angegriffen – einer der Männer grabschte ihr an die Brust und fragte, ob sie mit ihm schlafen wolle. Anders als nach der Silvesternacht blieb dieses Mal eine gesellschaftliche Empörungswelle zu Sexismus und sexueller Gewalt in der Gesellschaft jedoch weitgehend aus.

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drei Flüchtlinge beteiligt, die im vergangenen Jahr aus Syrien oder dem Irak nach Deutschland gekommen waren. Dennoch werfen Rechtskonservative allen in Deutschland lebenden Muslimen vor, christlich-abendländische Kultur, hiesige Traditionen, gesellschaftliche Ideale oder – kurz gesagt – »westliche Werte« zu bedrohen.

Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist in Deutschland an der Tagesordnung

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Die Themen Feminismus, Sexismus und Frauenbefreiung im 21. Jahrhundert bilden dieses Jahr auch einen Schwerpunkt bei »MARX IS' MUSS«. Unter anderem wird die britische Feministin Laurie Penny zum Thema »Sozialismus und Feminismus heute: Strategien für die Befreiung der Frau« sprechen.

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Frauenrechte werden in diesem Zusammenhang lediglich als Vorwand benutzt, um Rassismus zu schüren: Es formieren sich rechte Bürgerwehrstrukturen und Demonstrationen für den Schutz »deutscher Frauen«. Hooligan-Gruppierungen fordern in sozialen Medien, es müsse das »Hausrecht« gegenüber Flüchtlingen durchgesetzt werden – also das Recht der deutschen Männer auf die Frauen in Deutschland. Besonders offensichtlich wird diese Einseitigkeit, wenn man die Situation geflüchteter Frauen in Deutschland betrachtet: In Köln sollen Wachmänner einer Flüchtlingsunterkunft Frauen beim Stillen gefilmt und Duschräume betreten haben. Mädchen sollten in der Wachstube übernachten und sogar von einer Vergewaltigung ist die Rede. Dies führt jedoch zu keinem Aufschrei in der Öffentlichkeit. Der vielbeschworene Schutz gilt also keineswegs Frauen und ihren Rechten, sondern vielmehr konservativen Rollen- und Wertvorstellungen. Entsprechend viel Gegenwind von rechts bekommen diejenigen, insbesondere Frauen, die sich öffentlich gegen die rassistische Instrumentalisierung der Ereignisse stellen. Die Partei, die besonders von dieser Debatte profitiert, ist die AfD. Denn mit ihren Forderungen spricht sie sowohl Anhänger völkisch-nationaler Gruppierungen wie der NPD als auch Teile des christlichkonservativen Lagers an. Der baden-württembergische Landesverband schrieb beispielsweise, er setzte sich »für eine gezielte gesellschaftliche Aufwertung des Erfolgsmodells Familie und der Rolle der Mutter ein«. Die strukturelle und systemimmanente Benachteiligung von Frauen wird geleugnet, Quoten und der Kampf für Geschlechtergerechtigkeit werden kategorisch abgelehnt. Das Frauenbild der AfD knüpft damit an Traditionen an, die der »progressive« Westen vermeintlich längst überwunden haben sollte – ihre Alternative ist ein großer Schritt zurück in die Welt der

1950er und 1960er Jahre, in denen Männer gegenüber Frauen jederzeit von ihrem »Hausrecht« Gebrauch machen konnten. Wenn die »Kultur« in den Herkunftsländern der Täter von Köln als Ursache für deren sexistisches Verhalten ins Spiel gebracht wird, dann muss auch die Situation in Deutschland betrachtet werden. In unserer westlichen, christlichen, kapitalistischen Kultur ist sexuelle Gewalt gegen Frauen an der Tagesordnung. Regelmäßig werden Frauen bei Großveranstaltungen Opfer sexueller Angriffe. Oder man denke nur an jene Junggesellenabschiede, wo Männergruppen durch die nächtlichen Straßen marodieren und Passantinnen zu sexistischen Spielchen nötigen – teilweise auch als »Kulturexport« auf Inseln wie Mallorca oder Ibiza. Weder Religion noch Herkunft können Sexismus erklären. Hilfreicher ist es, die strukturelle Unterdrückung der Frau im Kapitalismus in den Blick zu nehmen. Wo Rassismus hilft, Sozialabbau und innere Aufrüstung zu rechtfertigen, wird durch institutionalisieren Sexismus die Reproduktionsarbeit kostengünstig abgesichert und Druck auf Löhne ausgeübt. »Sexism sells« – Männer wie Frauen sind von der herrschenden Ideologie der kapitalistischen Gesellschaft geprägt. Das ist keine Frage der Religion, sondern Ausdruck der Klassengesellschaft. Was also bleibt zur Herkunft der Täter der Kölner Silvesternacht zu sagen? Einige verdächtigte Männer stammen aus Algerien oder Marokko. Das sind Länder, die als sicher gelten, weshalb Asylanträge im Allgemeinen scheitern – obwohl es dort laut Amnesty International regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Angekommen in der Festung Europa bleibt Menschen von dort also nur die Möglichkeit des illegalen Aufenthalts, ohne Hoffnung auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, regulären Mietvertrag oder soziale Absicherung. Die sexuellen Übergriffe bleiben unentschuldbar, doch vor diesem Hintergrund ist es eine Farce, kulturelle Werte zu beschwören und einen diffusen »Respekt vor Frauen« einzufordern. Denn ein Land, das Menschen an seinen Grenzen systematisch in »legal« und »illegal« aufteilt, kann für sich weder behaupten, Respekt zu kennen, noch eine menschliche Kultur oder Werte zu pflegen. Nicht genug, dass ankommende Menschen an den Grenzen in zwei Klassen eingeteilt werden – der europäische Kulturexport Nummer eins, nämlich Rüstungsgüter, sorgt dafür, dass unsere »Werte« uns vorauseilen und andere Gesellschaften in den hoffnungslosen Ruin stürzen. Vor allem Deutschland zementiert genau die vielgescholtenen »Kulturen« in den Herkunftsländern der Migranten – indem es Infrastrukturen zerstört, Bodenschätze plündert und Kräfte unterstützt, die Frauenbilder propagieren, die dem Westen vorgeb-


tausend Menschen in Köln gegen Rassismus und Sexismus auf die Straße. Am 16. Januar demonstrierten 350 syrische Flüchtlinge gegen Sexismus und auf den diesjährigen »One Billion Rising«-Kundgebungen in über 140 Städten in Deutschland standen die Ereignisse in Köln im Zentrum. Viele Teilnehmende sprachen sich gegen Gewalt an Frauen und gegen Rassismus aus. Die bundesweit größte Demonstration für Frauenrechte anlässlich des internationalen Frauentags findet in diesem Jahr unter dem Motto »Frauen*kampftag 2016 – Gemeinsam Grenzen einreißen« statt. Genau so kommen wir, Frauen und Männer, der Gleichberechtigung näher: Wenn wir gemeinsam dafür kämpfen und damit die Grundsätze des Kapitalismus in Frage stellen. #ausnahmslos und #überall. ■

»Solo sí significa sí« (»Nur ja bedeutet ja«): Nachdem im Sommer 2014 in Spanien mehrere Vergewaltigungen an jungen Frauen publik werden, rufen feministische Kollektive zum Protest gegen sexuelle Gewalt auf

AKTUELLE ANALYSE

Was tun gegen sexuelle Gewalt? In der Debatte dominiert vor allem die Forderungen nach Verschärfung des Sexualstrafrechts und der Ruf nach mehr Polizei. So forderte auch Dietmar Bartsch von der LINKEN eine Aufstockung des Polizeipersonals »auf Straßen und Plätzen«. Aber die Polizei selbst ist keine neutrale Institution. Sie ist ein Instrument der Unterdrückung zur Aufrechterhaltung einer Klassengesellschaft und deshalb ein grundlegend konservativer Apparat. Sie ist in den eigenen Reihen sexistisch, wie Berichte von Polizistinnen immer wieder zeigen. Durch mehr staatliche Überwachung und schärfere Gesetze lassen sich Sexismus und sexuelle Gewalt nicht bekämpfen, vor allem weil etwa zwei Drittel aller Vergewaltigungen in Deutschland in der Wohnung des Opfers stattfinden – in den meisten Fällen durch den eigenen Partner oder Ehemann. Doch es gibt zu wenig Frauenhäuser, weil die vergangenen Regierungen die Mittel immer weiter kürzten. Deswegen müssen sie nach wie vor Tausende abweisen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden und Hilfe brauchen. Im Rahmen der Kampagne #ausnahmslos steht die Forderung nach der ausreichenden Förderung von sozialen Angeboten wie Frauenhäusern und Therapieplätze zu Recht auf Platz 1. Doch so begrüßenswert die #ausnahmslos-Kampagne ist, die sich gegen die Vereinnahmung des Feminismus für Rassismus wendet, klammert sie einen wichtigen Bereich der Frauenunterdrückung aus. So fehlen konkrete Forderungen, die darauf abzielen, die sozioökonomischen Auswirkungen des Kapitalismus zu beseitigen oder wenigstens abzumildern, welche mangelnde Gleichberechtigung und Sexismus ermöglichen und reproduzieren. Noch immer arbeitet die Mehrheit der Frauen für weniger Lohn, noch immer bekommen Frauen deutlich weniger Rente. Nur eine wirkliche gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen durch gleiche Löhne, gesetzliche Gleichberechtigung und Chancengleichheit im Beruf kann etwas an den finanziellen und rechtlichen Abhängigkeiten zwischen den Geschlechtern und damit an der Vorstellung ändern, Frauen seien weniger wert. Der einzige Weg, der herrschenden Dynamik zu entkommen, besteht in der Organisation von Arbeitskämpfen und gesellschaftlichen Bewegungen gegen strukturelle Frauenunterdrückung, Sexismus und Rassismus sowie im konsequenten Engagement gegen militärische Interventionen. Nach den Ereignissen an Silvester gab es bereits diverse Proteste: Am 9. Januar gingen rund

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lich so fremd sind. Kommen Frauen aus zerstörten Regionen dann hier an, steht ihnen dank Asylpaket II nicht einmal ein Schutzraum in den Unterkünften zu. So sind sie auf jeder Seite dieser kapitalistischen Weltordnung die Leidtragenden.

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Am ersten Jahrestag der Katastrophe von Fukushima im Jahr 2012 ziehen 5000 Menschen in einem Schweigemarsch zum Atomkraftwerk Neckarwestheim, um für den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft zu demonstrieren. Immerhin einer der Blöcke des Atomkraftwerks war nach der Katastrophe vor fünf Jahren abgeschaltet worden. Der zweite soll jedoch erst 2022 vom Netz gehen

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Aktuelle Analyse

Strahlende Zukunft Vor fünf Jahren gab es im japanischen Atomkraftwerk Fukushima einen Super-GAU. Die Katastrophe führte zu einer Wende in der deutschen Atompolitik – doch die Frage, wer für die Folgekosten aufkommt, bleibt umkämpft Von Hubertus Zdebel ★ ★★

Hubertus Zdebel ist Abgeordneter und Obmann der Fraktion DIE LINKE im Umweltausschuss des Bundestags.

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A

m 11. März 2011 beginnt in den vier Reaktoren des Atomkraftwerks in Fukushima ein mehrfacher Super-GAU. Nach dem Versagen der Kühlung in mehreren Reaktorblöcken kommt es zur Kernschmelze. Explosionen zerreißen die Sicherheitsbehälter, die radioaktive Strahlung gelangt nach draußen. Mehr als 200.000 Menschen müssen vor der radioaktiven Wolke fliehen. Heute sind noch immer große Gebiete verstrahlt und gesperrt, immer wieder dringt Radioaktivität an die Umwelt und ins Meer. Noch mindestens vierzig Jahre werden die Aufräumarbeiten dauern. In Deutschland reagierte die Regierung damals mit einer Kehrtwende in der Energiepolitik. Gerade erst

war trotz massiver Proteste eine Laufzeitverlängerung für die deutschen Reaktoren beschlossen worden. Nun wurden acht Meiler sofort und endgültig abgeschaltet. Die anderen neun sollen schrittweise bis Ende 2022 folgen. Doch der Kampf für den Atomausstieg und um die Frage, wer für die Kosten aufkommt, ist noch lange nicht vorbei. Bislang ist kein einziges Gramm der Hunterttausenden Tonnen radioaktiven Abfalls, der noch für eine Million Jahre sicher verwahrt werden muss, schadlos entsorgt. Alle Versuche, einen sicheren Ort für die Lagerung des Atommülls zu finden, sind gescheitert. Die als Endlager vorgesehene Atommüllkippe »Asse II« ist einsturzgefährdet. Die Standorte »Schacht Konrad« und der Salzstock Gorleben sind


ebenfalls völlig ungeeignet. DIE LINKE fordert, diese schwer konflikt- und mängelbelasteten Projekte endlich aufzugeben. Bundesregierung und Atomwirtschaft versuchen hingegen, den Eindruck zu erwecken, sie hätten alles im Griff, um den weiteren Betrieb der Atomkraftwerke zu legitimieren. So wächst der Atommüllberg Tag für Tag weiter. Schon heute ist klar, dass die Lagerung des radioaktiven Materials sowie der Rückbau der Atomkraftwerke viele Milliarden Euro kosten werden. Gesetzlich sind zwar die Atomkonzerne verpflichtet, die von ihnen verursachten Kosten zu übernehmen. Zu diesem Zweck haben sie mit erheblichen Steuervorteilen offiziell Rückstellungen in Höhe von etwa 38 Milliarden Euro vorgenommen. Ob die Gelder aber tatsächlich verfügbar sind, ist unklar. Denn die Konzerne nutzten diese Rückstellungen für ihre gescheiterten Investitionen nach der Liberalisierung der Strommärkte. Vattenfall kaufte mit den Rückstellungen der damaligen Hamburgischen Electricitäts-Werke die Berliner BEWAG und die ostdeutsche Braunkohle. Eon und RWE finanzierten aus dieser Kasse ihre Beutezüge in Ostund Südeuropa. Jetzt, wo sie wegen dieser Fehlspekulationen enorme Schuldenberge aufgebaut haben, wollen sich die Atomkonzerne aus dem Staub machen. Zudem belaufen sich die Kostenschätzungen für die langfristige Atommülllagerung mittlerweile auf siebzig Milliarden Euro und übersteigen damit die Höhe der Rückstellungen bei weitem. Es ist also zu befürchten, dass am Ende die Allgemeinheit die immensen Kosten des atomaren Wahnsinns tragen muss. Um genau das zu erreichen, bemühen sich die großen Energiekonzerne durch Umstrukturierungen ihrer Verantwortung zu entziehen. Ausgründungen der Atomenergiesparten in Tochtergesellschaften sollen nach dem Prinzip einer »Bad Bank« sicherstellen, dass im Fall einer Insolvenz der Staat mit Steuergeldern aushelfen müsste. Vattenfall hat bereits dafür gesorgt, dass der schwedische Mutterkonzern nicht mehr für das deutsche Atomgeschäft haftbar ist. Auch der deutsche Energiekonzern Eon plante zu Beginn des Jahres, sein zunehmend unprofitables Atom- und Kohlegeschäft in eine eigene Gesellschaft abzuspalten, und verkaufte dies auch noch dreist als Neuausrichtung auf erneuerbare Energien. Um die Unternehmen nicht vollkommen aus der Verantwortung zu entlassen, kündigte die Bundesregierung daraufhin eine gesetzliche Neuregelung der Haftungssicherung an. Diese wurde jedoch, vor allem aufgrund von Druck aus den Unionsparteien, nach wie vor nicht verabschiedet. Außerdem verhin-

dert die Regelung nicht, dass die Reaktoren Teil des Mutterkonzerns bleiben, aber große Vermögenswerte aus dem Unternehmen ausgegliedert werden, die dann nicht mehr zur Haftung herangezogen werden können – so wie es der neue Plan von Eon vorsieht. Der einzige Weg, um sicherzustellen, dass die Konzerne, die mit der Atomkraft jahrelang Milliardenprofite gemacht haben, auch für die Rechnung aufkommen, wäre die Einrichtung eines öffentlichrechtlichen Atommüllfonds. Das fordert DIE LINKE seit Jahren, doch bislang hat noch jede Regierung den Konflikt mit den Atomunternehmen gescheut. Selbst jetzt, da immer fraglicher wird, ob die Rückstellungen der Konzerne überhaupt noch verfügbar sind und wie diese die wachsenden Kosten in Zukunft bezahlen können, ist die Bundesregierung immer noch mit Prüfungen beschäftigt, anstatt endlich zu handeln. Gleichzeitig plant die Große Koalition noch in diesem Jahr ein weiteres großzügiges Steuergeschenk für die Atomindustrie: Ende 2016 soll die Brennelementesteuer, nur sechs Jahre nach ihrer Einführung, wieder abgeschafft werden. Damit würde die Bundesregierung den Konzernen pro Reaktor und Jahr durchschnittlich 144 Millionen Euro schenken. Bei den laut Atomgesetz verbleibenden Laufzeiten der acht derzeit noch aktiven Atommeiler sind dies insgesamt etwa fünf Milliarden Euro. Dadurch würden die alten Reaktoren wieder satte Gewinne abwerfen. Bei ihrer Einführung im Jahr 2010 sollte die Brennelementesteuer dazu dienen, einen Ausgleich für die zeitgleich beschlossene Laufzeitverlängerung der damals noch siebzehn deutschen Reaktoren zu schaffen. Von einer »Steuer« zu sprechen, sei dabei eigentlich »irreführend«, erläuterte damals selbst die CDU: »Es handelt sich im Wesentlichen (...) um einen Subventionsabbau.« Ziel sei es, »die direkte Bevorzugung der Kernenergiewirtschaft« zu beenden. An diesen Gründen hat sich bis heute nichts geändert. Dennoch steht die Brennelementesteuer vor dem Aus.

Bislang hat jede Regierung den Konflikt mit den Atomkonzernen gescheut

Hubertus Zdebel referiert bei »MARX IS' MUSS« zur Frage »Kann man was gegen den Klimawandel tun?«.

AKTUELLE ANALYSE

Die massive Subventionierung der Atomenergie hat eine lange Geschichte: Eine Studie des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft errechnete für den Zeitraum 1950 bis 2010 Atomsubventionen in Höhe von mindestens zweihundert Milliarden Euro. Darin ist die im Vergleich zu den Risiken lächerlich geringe Haftpflichtversicherung der Atomkraftwerke, die den Betreibern extrem teure Versicherungsprämien erspart, noch nicht einmal berücksichtigt. Nur durch

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PROTEST Verschiedene Initiativen und Bündnisse planen Proteste, zu denen sie auch überregional aufrufen - hier eine Auswahl. Mehr Infos unter: www.ausgestrahlt.de 6. März | AKW Neckarwestheim Demo »Tschernobyl und Fukushima mahnen - Atomkraft gefährdet alle« 12. März | Kiel Demo 19. März | Berlin Kazaguruma-Demo 25. März | Gronau Ostermarsch »Für eine friedliche und atomkraftfreie Zukunft Urananreicherung und Waffenexporte sofort stoppen!« 24. April | AKW Fessenheim und diverse Brücken am Oberrhein Konzert und Brückenprotest »30 Jahre Tschernobyl« 24. April | AKW Brokdorf Protest- und Kulturmeile 24. April | Schacht Konrad Frühstücksmeile 24. April | Zwischenlager Ahaus Sonntagsspaziergang

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die milliardenschweren staatlichen Zuschüsse war es überhaupt möglich, Atomkraftwerke mit hohen Gewinnen zu betreiben. Denn volkswirtschaftlich ist die Kernenergie die teuerste Stromsorte. Nur weil Entwicklungs- und Forschungsarbeiten, der Unterhalt der Atommülllager und vieles mehr aus Steuergeldern bezahlt werden, rechnen sich die nuklearen Reaktoren für die großen Stromkonzerne. Der Grund für die staatliche Förderung der Kernenergie war, dass Deutschland dadurch international als Atommacht auf Abruf mitspielen konnte. Zivile Nuklearprogramme eröffnen die Möglichkeit, Atomkraft auch militärisch zu nutzen. Diese Option trug in der Frühphase der Geschichte der Bundesrepublik maßgeblich zur Entscheidung für Atomkraftwerke bei. Zwar gab Kanzler Konrad Adenauer schon 1954 bekannt, dass die Bundesrepublik auf eine eigene Atombewaffnung verzichten würde. Doch in größeren Teilen der deutschen Eliten galt als ausgemacht, dass die militärischen Nuklearkapazitäten wesentlich sind, um weltpolitisch eine Rolle zu spielen. Diese militärische Option war der Grund für den weiteren Ausbau des deutschen Atomprogramms. Der CSUPolitiker Franz-Josef Strauß, in den Jahren 1955/56 Minister für Atomfragen und danach Verteidigungsminister, machte kaum einen Hehl daraus, daß es darum ging, die neuaufgestellte Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten. Er sagte: »Wenn wir unseren zehn- bis fünfzehnjährigen Rückstand nicht sehr rasch aufholen, werden wir wahrscheinlich darauf verzichten müssen, in Zukunft zu den führenden Nationen gezählt zu werden.« Im Juli 1956 stellte er einen Gesetzentwurf zur »Erzeugung und Nutzung der Kernenergie« vor. Im Jahr 1960 beschloss die Regierung schließlich das erste deutsche Atomgesetz. Inoffiziell war damit der Startschuss zu einem »Stand-by-Programm« gefallen: einem »zivilen« Atomentwicklungsprojekt, bei dem aber eben auch waffenfähiges Material abfällt und das mit Milliarden gefördert wurde. Ein solches Programm kann in kürzester Zeit auf die Produktion nuklearer Rüstung umgestellt werden. Seit Mitte der 1980er Jahre ist die Urananreicherungsanlage in Gronau in Betrieb, an der die Energieriesen RWE und Eon beteiligt sind. Diese Anlage ist Deutschlands Griff zur Atombombe. Seitdem ist die Bundesrepublik theoretisch nicht mehr auf die »zivile« Nutzung der Atomkraft angewiesen, um Nuklearwaffen herzustellen, denn die Technik ist grundsätzlich auch in der Lage, das spaltbare Uran235 derart hoch anzureichern, dass es sich für die Herstellung von Atomwaffen eignet. Wie bri-

sant die Urananreicherungstechnik ist, erklärte Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Jahr 2007 gegenüber dem »Handelsblatt«: »Die Urananreicherung ist ein klassischer Weg, um nuklearen Brennstoff herzustellen. Diese aufwändige Technologie ist aber auch der Schlüssel zu Atomwaffen.« Der über Jahrzehnte gewachsene »deutsche Atomfilz« aus Politik und Konzernen sorgte dafür, dass die Milliardensubventionen an die Atomkonzerne weitergingen. Auch die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder, die mit der Novellierung des Atomgesetzes 2002 den stufenweisen Ausstieg aus der Kernenergie beschloss, ist Teil dieses Filzes. Sie hat die Macht der Energieriesen nicht angetastet. Nicht nur, dass der von den Grünen so gefeierte »Atomkonsens« den Konzernen den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken für über zehn Jahre sicherte und ihnen ermöglichte, noch einmal so viel Atomstrom zu erzeugen wie seit 1968. Das Gesetz ließ auch genügend Hintertürchen offen, um die Laufzeiten im Nachhinein wieder zu erhöhen und die Konzerne aus der Verantwortung für die Folgekosten zu nehmen. Damit trägt die damalige rot-grüne Koalition eine direkte Mitverantwortung für das heutige Desaster. Sowohl der ehemalige grüne Außenminister Joschka Fischer als auch der frühere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) arbeiteten nach ihrem Ausscheiden aus der Politik für den RWE-Konzern. Mit dessen ehemaligem Chef Jürgen Grossmann traf sich schon Gerhard Schröder gerne im Kanzleramt zu Skatrunden. Doch selbst der faule Deal des »Atomkonsens« hielt nicht lange. Schon 2007 kündigten die Konzerne die Vereinbarungen faktisch auf. CDU und FDP, die ab 2009 im Bund regierten, übernahmen deren Forderung nach einer Laufzeitverlängerung für die Atommeiler. Die Proteste der Antiatombewegung waren heftig. Während im September 2009 rund 50.000 Menschen in Berlin demonstrierten, waren im April 2010 bei der 120 Kilometer langen Menschenkette zwischen den norddeutschen Meilern Brunsbüttel und Krümmel schon 120.000 auf der Straße. Der Widerstand gegen eine Verlängerung des Atomprogramms radikalisierte sich. Im Wendland demonstrierten so viele Menschen wie seit den 1980er Jahren nicht mehr. Tausende beteiligten sich am »Schottern« auf der Castor-Strecke. Dennoch beschloss die Bundesregierung nach langen Auseinandersetzungen im Herbst 2010 Laufzeitverlängerungen von acht bis vierzehn Jahren für die Atommeiler. Doch der Widerstand hielt an. Am 12. März 2011, einen Tag nach der Katastrophe von Fukushima und

Das deutsche Atomprogramm hat militärische Gründe


Hunderttausende Plastiksäcke mit radioaktivem Müll lagern nördlich des vor fünf Jahren havarierten Atomkraftwerks Fukushima. Wohin der Abfall einmal gebracht werden soll, weiß niemand

AKTUELLE ANALYSE

Sowohl die Katastrophen von Fukushima und von Tschernobyl, dessen Super-GAU sich im April zum dreißigsten Mal jährt, als auch die bis heute ungelöste Frage der Lagerung der hochradioaktiven Strahlenabfälle zeigen nicht nur den Wahnsinn der Atomenergie. Sie zeigen auch, wie mächtig die Stromkonzerne immer noch sind, und wie sehr sie von den politischen Machteliten unterstützt werden. Es braucht weiterhin einen langen Atem, um diese Macht zu brechen. Den Konzernen muss der Weg abgeschnitten werden, sich aus der Verantwortung für die Kosten ihres atomaren Erbes zu stehlen. Die Entsorgungsrückstellungen der Energiekonzerne müssen in einen öffentlich-rechtlichen Fonds mit Nachschusspflicht überführt werden, in den die Unternehmen einzahlen und auch künftig bei Kostensteigerungen nachzahlen, um das Geld vor Spekulationen zu schützen und für Atommüllfolgekosten zu sichern. Die atomare Zeche müssen diejenigen zahlen, die jahrzehntelang die wirtschaftlichen Vorteile eingefahren haben. Die Antiatombewegung ruft zwischen den Jahrestagen der Katastrophen von Fukushima und Tschernobyl zu zahlreichen Demonstrationen und Mahnwachen auf. DIE LINKE sollte sie dabei mit aller Kraft unterstützen. ■

© Lucas Wirl / CC BY-NC / flickr.com

wenige Tage vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg, nahmen erneut 60.000 Menschen an einer Menschenkette teil, diesmal zwischen dem Atomkraftwerk Neckarwestheim und der Landeshauptstadt Stuttgart. Die schwarz-gelbe Bundesregierung kassierte die Quittung für ihre Atompolitik. In Baden-Württemberg wurden die Grünen zur stärksten Kraft, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gab es eine grün geführte Landesregierung. Überall in Deutschland demonstrierten Menschen. Die Antiatombewegung organisierte am Tschernobyl-Jahrestag im April 2011 – nur wenige Wochen nach dem Super-GAU in Japan – zeitgleich zwanzig Großdemonstrationen mit mehreren Hunderttausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Nur rund sechs Monate nach dem Beschluss zur Laufzeitverlängerung, der für die zu diesem Zeitpunkt schon kriselnden Atomkonzerne Milliardeneinnahmen bedeutete, erklärte Bundeskanzlerin Merkel zunächst ein Moratorium für den Betrieb der Reaktoren. Im Juni, als über 100.000 Menschen mit einer Großdemonstration das Berliner Regierungsviertel umzingelten, beschlossen Union, FDP, SPD und Grüne, die Laufzeitverlängerung zurückzunehmen, acht Atomkraftwerke sofort stillzulegen und schrittweise bis Ende 2022 die verbleibenden neun Meiler zu schließen. DIE LINKE und die Antiatombewegung kritisierten dies als unzureichend. Denn in jedem der deutschen Atomkraftwerke ist jederzeit ein Super-GAU möglich.

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UNSERE MEINUNG Vorwahlen in den USA

Kein zweiter Obama Von Loren Balhorn

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s sind die wohl spannendsten und sicherlich kuriosesten Vorwahlen in den USA seit langem: Vor nur einem Jahr galten Jeb Bush und Hillary Clinton noch als sichere Sieger im innerparteilichen Wettbewerb um die Präsidentschaftskandidaturen von Republikanern und Demokraten. Mittlerweile hat Bush, infolge des Aufstiegs des Rechtspopulisten Donald Trump, aufgegeben und auch Clinton gerät zunehmend unter Druck. Ausgerechnet ein Kandidat, der sich selbst als Sozialist bezeichnet, bedroht ihren sicher geglaubten Sieg. Mit dem 74-jährigen Bernie Sanders hat die amerikanische Linke wieder ein Gesicht bekommen. In der radikalen Linken sind die Meinungen über Sanders hingegen gespalten: Während die einen seine Erfolge euphorisch feiern, sehen andere in ihm lediglich eine Neuauflage von Obama und kritisieren ihn dafür, nicht unabhängig von der Demokratischen Partei zu kandidieren. Sanders mit Obama gleichzusetzen ist jedoch falsch, denn dieser war auch im Wahlkampf nie besonders links. Seine Kampagne stütze sich von Anfang an auf vage Hoffnungen und diente eher als Projektionsfläche für die Wünsche seiner Basis, die wesentlich radikaler war als er. Sanders hingegen ist ein klassischer linker Sozialdemokrat und Reformer. Seit mindestens drei Jahrzehnten hat kein Politiker in den USA mehr so offen über Ungleichheit und Unterdrückung gesprochen und damit die Massen erreicht. Genau das macht ihn für die Eliten so gefährlich. Zunehmend dringt er in Milieus ein, die bis vor kurzem noch mehrheitlich hinter Clinton standen. Umfragen zeigen, dass er vor allem unter jungen Arbeiterinnen und Arbeitern und Geringverdienern Anklang findet. Unabhängig davon, ob Sanders tatsächlich gewinnt: Indem er Themen wie strukturelle Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung setzt, öffnet er Räume für linke Ideen, die seit den 1970er Jahren verschlossen waren. Für Millionen wird zum ersten Mal eine linke Antwort auf die Krise sichtbar – egal, wie reformistisch ausgelegt sie auch ist. Genau deswegen bekämpfen ihn Kapital und politisches Esta-

blishment mit allen Mitteln. Sowohl die Führung der Demokraten als auch die Gewerkschaftsbürokratie und große Teile der linksliberalen Eliten stehen hinter Clinton. Letztendlich kommt es darauf an, wie weit die gesellschaftliche Polarisierung durch Sanders Kampagne gehen wird. Wenn Sanders tatsächlich der nächste Präsident werden würde, wäre es fraglich, wie viel er verändern könnte. Die strukturellen Blockaden des politischen Systems sind so groß, dass sie die allermeisten politischen Initiativen eines linken Präsidenten verhindern würden. Zudem lehnen Apparat und Führung seiner eigenen Partei seine politische Vision ab. Er scheint das zu wissen und spricht von der Notwendigkeit einer »politischen Revolution«. Wie diese aussehen könnte, bleibt jedoch offen. Sanders ist nach Jeremy Corbyn, dem neuen Vorsitzenden der britischen Labour Party, das zweite Beispiel für die Linkswende einer Partei, welche die radikale Linke längst abgeschrieben hatte. Eine der wichtigen Fragen wird nun sein, wie Sozialisten seine Kampagne konstruktiv unterstützen können, ohne ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Die Gefahr, dass Unterstützerinnen und Unterstützer durch eine Niederlage frustriert und passiv werden, ist groß. Gleichzeitig ist die Kampagne von Sanders, gemessen an der Verbreitung sozialistischer Ideen in der US-Bevölkerung, wahrscheinlich schon jetzt erfolgreicher als alle anderen Aktivitäten der antikapitalistischen Linken der vergangenen dreißig Jahre. Diese Gelegenheit nicht aufzugreifen und kein konstruktives Verhältnis zur Sanders-Kampagne aufzubauen, wäre fatal – vor allem in einem Land, in dem sich die Zahl der Streiks seit Jahren auf einem historischen Tiefstand befindet.

Sanders ist eine Gefahr für die Eliten

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★ ★★ Loren Balhorn war mal US-Amerikaner. Jetzt lebt er als Autor und freier Übersetzer in Berlin und ist Mitglied der LINKEN.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

Sachsen-Anhalt

Versteh eine Wulf Gallert! LINKE in Sachsen-Anhalt sich längst dazu entschieden hat, keine politische Opposition mehr sein zu wollen, sondern lieber um jeden Preis ein Teil der Landesregierung wäre. Dabei schließen die derzeitigen Rahmenbedingungen einer Regie-

Ein missglückter Wahlkampf mit fragwürdigen Inhalten rungsbeteiligung eine linke Reformpolitik praktisch aus. Insofern ist dieser völlig missglückte Wahlkampf eher ein Symptom und weniger ein Problem an sich. Wäre da nicht dieser eine, wohlwollend gesprochen, Ausrutscher, der dem ganzen Geschehen die Krone aufsetzt. Denn Wulf Gallerts ansonsten inhaltsleerer Wahlkampf trumpft an einer Stel-

le mit einem sehr fragwürdigen Inhalt auf: »Wulf Gallert – Frauenversteher« lautet der Schriftzug auf einem Wahlplakat, daneben Gallert mit einem, wie soll man sagen, »verführerischen« Blick. Das Frauenbild, das dem Slogan zu Grunde liegt, ist erschreckend. Überhaupt auf die Idee zu kommen, dass ein solches Plakat in irgendeiner Weise lustig sein könnte, ist ein Schlag ins Gesicht für alle Mitglieder der Linken, die sich seit Jahren in feministischen Initiativen engagieren. Wenn man Sexismus bekämpfen will, ist es fatal, ihn in Form von Wahlplakaten in den Alltag zu integrieren. ★ ★★ Daniel Morteza ist aktiv beim Studierendenverband Die Linke.SDS in Berlin und Mitglied in dessen Bundesvorstand.

UNSERE MEINUNG

I

n der polarisierten Situation in Deutschland ist ein Wahlkampf ohne Inhalt, der die heißen Themen gänzlich ausklammert und lieber durch zweifelhafte Komik auffällt, unverzeihlich. DIE LINKE Sachsen-Anhalt hat – ein Blick auf ihre Wahlplakate zeigt das deutlich – sich das nicht zu Herzen genommen. Beziehungsweise hat sie zum hauptsächlichen Wahlkampfinhalt, wenn man es so nennen kann, Wulf Gallert auserkoren, ihren Spitzenkandidaten und Anwärter auf das Amt des Ministerpräsidenten. Man sollte die Bedeutung von Wahlplakaten nicht überschätzen, sie aber auch nicht unterschätzen. Sie sind das Aushängeschild einer Partei im Wahlkampf und, im besten Fall, ihr Programm in komprimierter Form. Stattdessen findet man bei den Wulf-Gallert-Portraits so wunderbar nichtssagende Slogans wie »Brückenbauer« und »Wirtschaftskenner« vor. Es verdeutlicht in tragischer Weise, dass DIE

Von Daniel Morteza

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Titelthema KAMPF GEGEN RECHTS

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Neofaschisten in der AfD Die braune Eminenz

NPD-Verbot Ein Gesetz lässt Rassismus nicht verschwinden

Faschismus Ein Problem der Gegenwart

Erfolgreiche Aktion Wie wir die AfD gestoppt haben


Strategien gegen die rechte Gefahr Warum AfD, Pegida und Co. kein Rederecht bekommen dürfen und ihre Aufmärsche gestoppt werden müssen Von Martin Haller und Yaak Pabst ve zu gehen. Insbesondere der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer betätigt sich immer wieder als Stichwortgeber der Rechten. Forsa-Chef Manfred Güllner meint, mit »seinen Attacken gegen Kanzlerin Angela Merkel und ihre Flüchtlingspolitik« habe Seehofer »offenbar die Ausländerfeindlichkeit – und damit das Kernthema der AfD – wieder salonfähig gemacht«. Doch auch Merkel trägt Verantwortung für diese Entwicklung. Denn trotz aller Verlautbarungen der Bundesregierung, für eine »Willkommenskultur« zu sorgen, ist ihre Asyl- und Flüchtlingspolitik durchdrungen vom Geist der Abschreckung und Abschottung. Innerhalb von nur sechs Monaten hat sie zwei Mal die Asylgesetze geändert. Es sind die schärfsten Einschränkungen des Asylrechts seit 1993 - mit dramatischen Folgen für Geflüchtete und deren Familien.

Die Zahl der rechten Aufmärsche hat sich verfünffacht

Im Windschatten dieser Aufmärsche entlädt sich die schlimmste Welle rassistischer Gewalt seit Jahren. Selbst Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) kam Anfang Februar zu dem Schluss: »Deutschland erlebt eine Welle fremdenfeindlicher und rechtsradikaler Gewalt, die den inneren Frieden unserer Gesellschaft bedroht«. Was er verschweigt: Die Regierung, der er angehört, ermutigt mit ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik die Rechten dazu, in die Offensi-

Vieles erinnert daher heute an die Situation Anfang der 1990er Jahre. Auch damals strickten Teile der Bundesregierung an einer »Das Boot ist voll«-Kampagne, um die Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl durchzusetzen. Wie damals herrscht ein Überbietungswettbewerb der etablierten Politikerinnen und Politiker und Medien, wer die schärferen Töne in der Asyldebatte anschlägt. Und wie damals stärkt dies vor allem Rassisten und Nazis. Zwar sind nach wie vor viele Menschen in der Flüchtlingshilfe aktiv und trotz der medialen Hetze denken laut ZDF-Politbarometer immer noch 39 Prozent, dass Deutsch-

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MARTIN HALLER ist Redakteur von marx21.

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Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21.

TITELTHEMA KAMPF GEGEN RECHTS

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eutschland im Frühjahr 2016: Es droht ein Rechtsruck. Während Union und SPD in der Wählergunst sinken und das Vertrauen in die Große Koalition schmilzt, wächst am rechten Rand eine neue Gefahr. Die Alternative für Deutschland (AfD) von Frauke Petry und Alexander Gauland hat Umfragen zufolge das Potenzial, sich als drittstärkste politische Kraft zu etablieren. Sie ist medial omnipräsent und ihr Führungspersonal bestimmt die Schlagzeilen. Zugleich ebben auch die rechten Straßenmobilisierungen nicht ab. Eine kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag ergab, dass im vergangenen Jahr 590 Aufmärsche von Nazigruppen und Pegida-Ablegern stattfanden, zu denen insgesamt fast 100.000 Personen kamen. »Die Zahl der rechten Aufmärsche im Jahr 2015 ist erschreckend, im Verhältnis zu 2014 hat sich die Zahl der Teilnehmer verfünffacht«, sagt Ulla Jelpke, die innenpolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag.

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Die Linke kann in dieser Situation drei Fehler machen: Der erste wäre, die rechte Gefahr kleinzureden und keine ernsthaften Schritte im Kampf gegen rechts einzuleiten. Der zweite Fehler bestünde darin, vor lauter »Erfolgen« der Rechten das Potenzial für Widerstand gegen sie zu verkennen. Der dritte Fehler wäre, Hoffnungen auf ein linkes Regierungsprojekt gegen die Rechtsentwicklung zu setzen. So gibt es beispielsweise in der LINKEN die Tendenz, die AfD über soziale Forderungen schwächen zu wollen und nicht durch einen scharfen Angriff auf ihren Rassismus. Vor allem die Bundesregierung, als Urheberin der unsozialen Politik, gelte es daher in die Kritik zu nehmen. Dem liegt die Analyse zugrunde, dass die Rechten die soziale Schieflage in der Gesellschaft und die mit ihr verbundenen Nöte und Abstiegsängste ausnutzen, um ihr rassistisches Gedankengut zu verbreiten. Tatsächlich bieten die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, der Abbau von Sozialleistungen, fehlende bezahlbare Wohnungen und die schäbige Behandlung von Erwerbslosen einen Nährboden für rassistische Hetze. Auch die Schlussfolgerung, scharfe Kritik an der neoliberalen Kürzungspolitik von Union und SPD zu üben, ist richtig. Jedoch bekommt diese Orientierung eine Schieflage, wenn dabei der entschlossene Kampf gegen Rassismus auf der Strecke bleibt. Konzentriert sich DIE LINKE ausschließlich auf die Kritik der sozialen Verhältnisse, tritt sie zwar in Konkurrenz mit der AfD um die Proteststimmen der Unzufriedenen, kann ihr aber nichts entgegensetzen, wenn der Rassismus gegen Geflüchtete und Muslime weiter auf dem Vormarsch ist. Auch die Hoffnungen auf eine Linksregierung sind tückisch. Denn unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen der kriselnden Weltwirtschaft und der verschärften Konkurrenz sind vermeintlich linke Regierungen kein sicheres Bollwerk gegen den Aufschwung der Rechten. In Thüringen oder Brandenburg, wo die LINKE mitregiert, bekommt die AfD trotzdem großen Zuspruch. Aber ist die AfD wirklich so gefährlich? »Spiegel Online«-Kolumnist Jan Fleischhauer meint, die Gefahr, die von der AfD ausgeht, würde übertrieben. Wie bei den Grünen würden die »radikalen« Elemente in der Partei irgendwann gezähmt. Eine solche Sichtweise ignoriert jedoch, dass gegenwärtig eher das Gegenteil der Fall ist und sich ein neofa-

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land viele Flüchtlinge »verkraften« kann. Doch die aktuellen Asylrechtsverschärfungen konnte die Große Koalition fast widerspruchslos durchsetzen. Auch gibt es in fast allen Städten Menschen, die gegen AfD, Pegida und Co. auf die Straße gehen. Aber die Zunahme rassistischer Gewalt und die aktuellen Umfragewerte für die AfD machen deutlich, welche Gefahr von rechts droht.

»Kein Wahlkampf mit unserem Leben«: Protest gegen eine Kundgebung der AfD am 21. November 2015 in Mainz

Linke Regierungen sind kein Bollwerk gegen einen Rechtsruck schistischer Flügel in der AfD festsetzt. Angeführt von Alexander Gauland öffnet dieser die Tore für rassistische und faschistische Kräfte. So gab es bereits massenhafte Übertritte aus der rechtsextremen Partei Die Freiheit zur AfD, auch ehemalige Mitglieder der NPD haben nach Recherchen des ARD-Magazins Monitor keinerlei Probleme damit, in der AfD zu wirken. Abgeordnete der AfD verbreiten Naziparolen und hetzen gegen Andersdenkende. Das zeigt: Die Partei ist mittlerweile zu einem Sammelbecken von Nazikadern geworden. Sie verfolgen das Ziel, die diversen bisher eher auseinanderstrebenden Teile des rechten Spektrums in einer neuen Partei zu bündeln und diese zum parlamentarischen Erfolg zu führen, um damit die rechte Bewegung auch außerhalb der Parlamente zu stärken. Dieser Transformationsprozess der AfD schreitet in der gegenwärtigen polarisierten Diskussion um die Flüchtlingspolitik schnell voran. Das liegt auch daran, dass mit Pegida und den rassistischen Massenmobilisierungen auf der Straße eine Bewegung entstanden ist, die den faschistischen Kräften in der AfD den Boden bereitete. Wie kann die Linke mit einer solchen Partei umgehen? Bei neofaschistischen Parteien oder Organi-


Am 24./25. April läd ein breites Bündnis zur Aktionskonferenz nach Frankfurt ein - für eine Kampagne gegen AfD, Pegida und Co. Was passiert eigentlich am Abend des 13.März, wenn die Wahlergebnisse aus Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz verkündet werden? Es steht zu befürchten, dass die AfD – mit teilweise zweistelligen Ergebnissen – in die Landtage einzieht und damit den Anstoß für eine Rechtsverschiebung in Deutschland gibt. Wir wollen diese drohende Entwicklung nicht hinnehmen. Wir wollen, dass die Landtagswahlen zu einem Weckruf für eine Gegenbewegung gegen die drohende Rechtsentwicklung werden. Von alleine wird diese allerdings nicht entstehen. Vertreterinnen und Vertreter unter anderem von Naturfreunden, der ver.di Jugend, DGB Jugend, Attac, VVN BdA, Jusos, SDS, Linksjugend-solid, DIE LINKE, Grüne, Interventionistische Linke, GEW und Aktivistinnen und Aktivisten aus verschiedenen antirassistischen Zusammenhängen und lokalen Bündnissen rufen deswegen zu einer gemeinsamen Aktionskonferenz auf. Das Ziel ist, gemeinsam mit vielen anderen unter dem Arbeitstitel »Geflüchtete willkommen – Rassisten entgegentreten« eine breite Gegenbewegung in der Gesellschaft anzustoßen. Ein Aufruf für die ist in Arbeit. Bis Anfang März sollen für diesen Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner gesammelt werden. Bitte merke dir den Termin der Aktionskonferenz vor und verbreite Ihn unter Interessierten weiter. Wenn Du Interesse hast bei der Initiative mitzuarbeiten, du dir vorstellen kannst bei dem Ansprechen von Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichnern zu helfen oder auf den E-Mail-Verteiler der neuen Initiative willst, melde dich unter: rassisten-entgegentreten@posteo.de

Ist es denn richtig, der AfD das Rederecht abzusprechen? Auch hier meinen wir: ja. Selbst der Katholikentag, der im Mai in Leipzig stattfindet, hat beschlossen, keine Vertreter der AfD auf Podien sprechen zu lassen. Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, begründete den Schritt damit, dass sich die AfD »mit ihren Äußerungen (…) aus dem demokratischen Konsens verabschiedet« habe. Diese Entscheidung ist begrüßenswert. Denn aus der Geschichte zu lernen heißt: Wehret den Anfängen! Die damaligen Nazis haben sich über die Demokraten lustig gemacht, die ihnen aus falsch verstandener Toleranz die Räume und Plätze überließen. Können Nazis ungestört marschieren oder Veranstaltungen durchführen, verbreiten sie Angst und Schrecken, erhöhen sie ihr Selbstbewusstsein und können neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter gewinnen – ihre Gegner und Opfer dagegen werden demoralisiert. Deswegen ist es wichtig: Keine demokratischen Rechte für die Feinde jeglicher Demokratie, kein Rederecht und auch kein Versammlungsrecht. Sollten jedoch Vertreter der AfD auf Veranstaltungen mit Mehrparteienpodien eingeladen werden,

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AKTIONSKONFERENZ

sationen wie der NPD haben Linke in der Vergangenheit zu Recht gefordert, ihnen das Rederecht zu entziehen und durch massenhaften zivilen Ungehorsam Versammlungen, Infostände und Aufmärsche zu verhindern. Gilt diese Taktik auch für die AfD? Wir meinen: ja, wenn auch mit Abstufungen. Im Unterschied zur NPD tritt die AfD nicht offen als faschistische Organisation auf. Zunächst ist es deswegen wichtig, sie als rassistische Partei mit einem Naziflügel zu entlarven. Wenn die AfD Veranstaltungen oder Parteitage durchführt, sollten diese von breitem Protest begleitet werden. In Augsburg demonstrierten beispielsweise 2000 Menschen vor einer AfD-Veranstaltung und machten so deutlich, dass die Partei nicht willkommen ist. Gleichzeitig gab es auch Protest im Veranstaltungsraum, wie die »Süddeutsche Zeitung« berichtete: »Kaum hatte sie das Wort ergriffen, kam es zum Eklat: Etwa 20 Personen erhoben sich von ihren Plätzen und stellten sich auf die Stühle. Sie trugen T-Shirts mit Aufschriften wie ›Asylant‹ und ›Rassismus hat viele Gesichter ... aber alle sind hässlich‹.« In Münster gelang es sogar, eine Veranstaltung der AfD durch breiten und entschlossenen Widerstand zu verhindern (siehe Artikel »Wie wir die AfD gestoppt haben«). Wenig hilfreich ist derweil das Vertrauen auf den Staat: In den vergangenen Wochen haben mehrere Bürgermeister versucht, AfD-Auftritte durch Erteilung von Hausverbot zu verhindern. Doch Gerichte hoben die Hausverbote wieder auf. Daher ist der massenhafte Protest so wichtig.

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Gelungene Protestaktion beim Neujahrsempfang der AfD am 12. Februar im Augsburger Rathaus: Aktivistinnen und Aktivisten mischen sich unbemerkt unter die geladenen Besucher und erheben sich schweigend während der Rede Frauke Petrys. Auf ihren T-Shirts stehen Slogans wie »Rassismus hat viele Gesichter... Aber alle sind hässlich«, »Der Storch bringt die Kinder – Die Storch bringt sie um« oder »Ich glaube, sie sind Rassisten«. Sie werden zwar gewaltsam des Saals verwiesen, doch ihr Protest erweckt bundesweite Aufmerksamkeit

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Entschlossen und gemeinsam gegen Rassismus: Mit Sitzblockaden und der »Flutung« von Zufahrtsstraßen, wie hier in Dresden im Februar 2010, konnten schon öfters Aufmärsche von Nazis verhindert oder verzögert werden. Im Jahr 2011 gelingt es durch Massenblockaden zum ersten Mal den damals größten Naziaufmarsch Europas zu stoppen

dann sollte die Linke ihnen nicht durch einen Boykott das Feld überlassen. Vielmehr muss sie ihr vom Podium und aus dem Zuhörerraum scharfen Protest entgegenbringen. Aufmärsche, welche die AfD oder ihr Umfeld organisiert, müssen wir unbedingt verhindern. Rechtsextreme und Rassisten müssen merken, dass große Teile der Bevölkerung nicht nur ihre Meinung ablehnen, sondern auch bereit sind, sich ihnen aktiv in den Weg zu stellen. Wenn die Rechten nicht marschieren können, entmutigt man vor allem ihr Umfeld, das durch machtvolle Aufmärsche und Kundgebungen beeindruckt werden soll. Um diese erfolgreich zu verhindern, gibt es zwei wichtige Voraussetzungen: Aufklärung über deren menschenfeindlichen Ziele sowie breite und zugleich entschlossene Bündnisse unter Beteiligung von SPD, Grünen, Gewerkschaften sowie muslimischen, jüdischen und christlichen Verbänden und anderen sozialen Gruppen. Auf diese Weise konnten beispielsweise in Dresden in den Jahren 2010 bis 2013 die größten Naziaufmärsche Europas empfindlich geschwächt und schließlich sogar verhindert werden. Doch diese Tradition der antifaschistischen Bündnisarbeit droht vielerorts verlorenzugehen. Weil Aktivistinnen und Aktivisten meist berechtigte Kritik an Gewerkschaften, an der Sozialdemokratie oder den

Grünen haben, weigern sie sich, mit diesen Organisationen gemeinsam zu protestieren. Wir teilen diese Haltung nicht. Denn es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen den Parteien der bürgerlichen Mitte und Faschisten oder Parteien wie der AfD, die das Potenzial haben, sich in faschistische Parteien zu verwandeln. CSU-Chef Seehofer und der AfDMann Höcke eint die menschenfeindliche Abweisung von Flüchtlingen. Aber Seehofer versucht, mit seiner Stimmungsmache die AfD in den Parlamenten klein zu halten auch wenn er das Gegenteil damit erreicht. Er organisiert keine rassistische Massenbewegung auf der Straße, die zum Sprungbrett für die Formierung einer neuen faschistischen Rechten werden kann. Die Linke muss sich gegen alle Formen des offenen und verstecken Rassismus stellen. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir den Kampf gegen die Gefahr einer aufkommenden neuen faschistischen Rechten durch falsche politische Abgrenzungen schwächen. Demonstrationen, die sich rassistischen Massenbewegungen in den Weg stellen, aber relevante gesellschaftliche Kräfte ausschließen, bleiben in der Regel klein. Sie können ohne weiteres von der Polizei aufgelöst werden. Das Ergebnis ist, dass die rassistische Rechte marschiert und die Zeitungen am nächsten Tag über die angeblich »gewalttätigen« Antifaschistinnen und Antifaschisten berichten.


Der andere, entgegengesetzte politische Fehler besteht darin, darauf zu hoffen, dass der Staat den Aufstieg der Rechten verhindert. So kündigte Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich nach den schweren ausländerfeindlichen Angriffen in Clausnitz und Bautzen an, Polizei und Justiz mit mehr Personal auszustatten. Dabei ist nicht erst seit dem Auffliegen der Naziterrorgruppe NSU klar, dass die Sicherheitsbehörden systematisch rechtsextreme Gewalt und Rassismus im Alltag verharmlosen und ignorieren. Die Behörden führen trotz des dramatischen Anstiegs der rechten Gewalt nicht einmal eine Statistik über Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Trotzdem behauptet das Bundeskriminalamt, dass es sich bei den Brandstiftenden um »emotionalisierter Einzeltäter« handele, die »keinerlei ideologische Anbindungen an rechte Strukturen« hätten. Diese Verharmlosung rassistischer Straftaten und nazistischer Angriffe hat System. Obwohl fast jeden Tag ein Flüchtlingsheim angezündet wird, weigern sich die Sicherheitsbehörden, die Täterinnen und Täter konsequent zu ermittelt: Im Zeitraum zwischen Januar und Ende Oktober 2015 registrierten sie 11.312 Delikte mit rechtsextremem Hintergrund. Von den 5970 Tatverdächtigen sind jedoch nur 151 vorläufig festgenommen worden. Bei lediglich neun Personen wurde ein Haftbefehl erteilt. Überhaupt wurden im vergangenen Jahr Hunderte Neonazis per Haftbefehl gesucht – aber nicht verhaftet. Die Zahl der rechten Straftäter auf freiem Fuß steigt seit Jahren. 2012 waren es laut Bundesregierung rund 110 Neonazis, ein Jahr später 266, 2014 dann 268. Nun ist die Zahl noch einmal um 30 Prozent gestiegen. Derzeit sind 372 Menschen, die per Haftbefehl wegen rechtsmotivierter Straftaten gesucht werden, auf freiem Fuß. Bei den Delikten gegen Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte, vor allem Brandstiftung, zeigt sich die schlechte Aufklärungsquote besonders deutlich. Eine Recherche der Wochenzeitung »Die Zeit« ergab, dass bei 222 untersuchten Angriffen gegen Flüchtlingsunterkünfte nur in vier Fällen ein Urteil gesprochen wurde. Dahinter steckt kein Personalproblem. Denn die Staatsorgane sind wesentlich intensiver mit der Verfolgung von Antifaschistinnen und Antifaschisten beschäftigt als mit dem Kampf gegen Nazis. Als im Jahr 2011 in Dresden Tausende erfolgreich den bis dato größten Naziaufmarsch Europas blockierten, stürmten maskierte Polizisten in Kampfmontur das Pressezentrum des Blockadebündnisses. Die Staatsanwaltschaft leitete an die-

sem Tag 351 Verfahren gegen Blockierende ein. Am 7. November 2015 marschierte die AfD durch die Berliner Innenstadt und die Polizei setzte Schlagstöcke und Pfefferspray ein, um die Rassisten ungestört zur Endkundgebung zu eskortieren. 79 Gegendemonstranten wurden festgenommen. All das zeigt: Der Staatsapparat ist kein verlässlicher Bündnispartner im Kampf gegen Rassismus und Nazis. Stattdessen brauchen wir breite und entschlossene Bündnisse, die Nazis und Rassisten den Weg versperren. Das Potenzial hierfür ist durchaus vorhanden. Vergangene Versuche, rechts von der Union eine Partei mit Masseneinfluss aufzubauen, sind vor allem durch Massenmobilisierungen vereitelt worden. Dies gilt beispielsweise für die NPD, die Republikaner, die DVU, die Schill-Partei in Hamburg und die diversen, vor allem in Westdeutschland starken Pro-Parteien. Auch heute sind Hunderttausende geschockt über den erneuten Aufstieg der Rechten. Laut einer Forsa-Umfrage machen sich 74 Prozent der Bevölkerung große oder sehr große Sorgen über die dramatische Zunahme von rassistischer Gewalt. Die Linke steht heute vor einer doppelten Herausforderung: Dem Aufstieg der Rechten entgegenzutreten und zugleich eine antikapitalistische Alternative gegen die soziale Verwüstung durch den Kapitalismus aufzubauen. Anstelle der Orientierung auf künftige Regierungsbeteiligungen sollten Linke alles daran setzen, gesellschaftliche Gegenmacht zu mobilisieren. Es gilt, die AfD zu demaskieren und ihren rassistischen und antidemokratischen Kern offenzulegen. So kann der drohende Rechtsruck gestoppt werden. ■

Für hunderte Neonazis liegt ein Haftbefehl vor – aber kaum einer wird verhaftet

WAS DU TUN KANNST

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Unterschreibe den Aufruf »Aufstehen gegen Rassismus – Deine Stimme gegen rechte Hetze!« und verbreite ihn über deine Kanäle. Komm zur bundesweiten Aktionskonferenz »Aufstehen gegen Rassismus – Deine Stimme gegen rechte Hetze!« am 23./24.4. in Frankfurt. Mobilisiere in deiner Uni, Schule, Betrieb zur Aktionskonferenz. Gewinne Bündnispartnerinnen und Bündnispartnern für die Mobilisierung zur Aktionskonferenz Werde vor Ort aktiv - mach mit bei der LINKEN Organisiere in deiner LINKEN- bzw. SDS-Ortsgruppe oder gemeinsam mit Bündnispartnerinnen und Bündnispartnern einen Workshop zu Rassismus, Faschismus und AfD. Referenteninnen und Referenten vermitteln wir gerne.

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marx21 ruft alle Leserinnen und Leser auf jetzt aktiv gegen rechts zu werden. Mach mit:

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© James Rea / CC BY-NC-ND / flickr.com

Alexander Gauland, Landesvorsitzender der brandenburgischen AfD, bei einer Demonstration in Berlin am 7. November. Nach außen gibt sich Gauland gerne als konservativer Feingeist, doch dieser Eindruck täuscht

Die braune Eminenz Während sich die AfD weiter im Aufschwung befindet, tobt in ihrem Inneren ein Flügelkampf. Die gefährlichsten Kräfte der Partei sind jedoch nicht diejenigen, bei denen man es auf den ersten Blick erwartet Von Volkhard Mosler ★ ★★

Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21.

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rotz steigender Umfragewerte ist die Führung der AfD seit Monaten durch schwere Auseinandersetzungen über den Kurs der Partei geprägt. Alle Kommentatoren sehen die AfD auf dem Weg nach rechts. Die offene Frage ist, wie weit sie dabei geht. Der ehemalige AfD-Vize Konrad Adam hofft, dass die »gemäßigten Kräfte noch einmal die Oberhand gewinnen«. Der inzwischen ausgetretene Mitgründer der AfD, Olaf Henkel, prophezeit dagegen, die Partei werde zur Nachfolgeorganisation der NPD. Noch vor einem Jahr sah die große Mehrzahl der Kritiker der AfD auf der einen Seite einen wirtschaftsliberalen Flügel um Bernd Lucke, Olaf Henkel und Konrad Adam und auf der anderen einen nationalkonservativen, rechten Flügel hinter Frauke Petry, Alexander Gauland und Björn Höcke. Nun muss sich ein nationalkonservatives und ein wirtschaftsliberales Programm jedoch nicht widersprechen. Lucke und Henkel sind nationalkonservative Wirtschaftsliberale. Anleihen beim Rassismus

gegen Roma und Sinti und gegen Muslime gab es auch schon unter ihrer Führung. Ihre Kritik am Euro ist nationalistisch begründet und auch ihr Familienbild ist eindeutig konservativ. Eine Unterscheidung der Parteiflügel in wirtschaftsliberal und nationalkonservativ machte also bereits damals wenig Sinn. Seit der Abspaltung des Lucke-Flügels gilt Frauke Petry als Vertreterin eines gemäßigteren Rechtspopulismus, Höcke als Vertreter des »extrem rechten« Flügels und Alexander Gauland als Mittler. Doch dieses Bild täuscht. Tatsächlich stehen sich in der AfD mittlerweile ein nationalkonservativer und ein neofaschistischer Flügel gegenüber, wobei der letztere starken Aufwind hat und bereits große Teile der Landesverbände und der Bundespartei kontrolliert. Der Kopf dieses Flügels ist jedoch niemand anderes als der angebliche Mittler Alexander Gauland. Bereits kurz nach der Gründung der AfD 2013 hatte der Hamburger Landesvorsitzende Jörn Kruse gewarnt, »dass sich in mehreren Landesverbänden sys-


tematisch rechte Gruppen formieren, die auf Inhalte und Image unserer Partei Einfluss nehmen wollen.« Sie seien zwar nicht sehr zahlreich, dafür aber »gut vernetzt und sehr aktiv«. Heute sitzen im dreizehnköpfigen Bundesvorstand der AfD mit Alexander Gauland, Albrecht Glaser, André Poggenburg und Julian Flak mindestens vier Vertreter des neofaschistischen Flügels. Außerdem kontrollieren sie die Landesverbände Thüringen, Brandenburg, Hessen, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt. In mehreren Landesverbänden sind die Mehrheitsverhältnisse noch unklar. Der neofaschistische Flügel rekrutiert sich vor allem aus geschulten ehemaligen Anhängern der Republikaner, der Pro-Parteien, der »Freiheit« und auch der NPD, wenngleich es formal einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber ehemaligen NPDMitgliedern gibt. Allerdings hat der Thüringische Fraktionssprecher Höcke sich geweigert, eine Erklärung abzugeben, dass er nicht unter einem Pseudonym in NPD-Publikationen geschrieben hat. Außerdem unterläuft er den Beschluss, indem er NPD-Mitglieder gegen den Vorwurf verteidigt, »rechtsextrem« zu sein. Zwei der wichtigsten Vertreter des braunen Netzwerks in der AfD sind hingegen immer auf Abstand zur NPD geblieben: Albrecht Glaser und Alexander Gauland. Beide sitzen im fünfköpfigen geschäftsführenden Vorstand als stellvertretende Parteivorsitzende, beide haben in ihren Landesverbänden Hessen (Glaser) und Brandenburg (Gauland) die uneingeschränkte Führung und beide haben eine gemeinsame schwarz-braune Vergangenheit.

mus. Walter Wallmann, damals Oberbürgermeisterkandidat der CDU in Marburg, war 1956 mit mehreren anderen »Aktiven« aus der schlagenden Verbindung Germania ausgeschlossen worden. Er hatte sich öffentlich mit dem Bonner Burschen Klaus Petrus solidarisiert, der in einem Artikel die Konzentrationslager der Nazis gerechtfertigt hatte. Das ging selbst den »Alten Herren« der Germania zu weit. Der Marburger und Gießener RCDS war damals personell identisch mit dem rechten Naziflügel der schlagenden Verbindungen (Germania, Danubia, Alemannia, Rhein-Franken, DresdensiaRugia). Es bestanden auch enge Verbindungen zum Nazi-Think-Tank Witikobund, einer Art Kaderschule von früheren Mitgliedern der Sudetendeutschen Nazibewegung. Nichts kennzeichnet die Scharnierfunktion vom rechten Flügel der hessischen CDU unter Wallmann und Dregger besser als die Affäre um Wolfgang Egerter und Alexander Gauland. Egerter war von 1971 bis 1986 stellvertretender Vorsitzender des Witikobundes und zugleich CDUFunktionär. Die »Zeit« berichtete 1966, dass »von 634 Mitgliedern des Witikobundes mehr als 600 vor 1945 nationalsozialistische Funktionäre« gewesen seien. Im Jahr 1987 erhielt Egerter vom neu gewählten hessischen Ministerpräsidenten Wallmann das Bundesverdienstkreuz für dessen Einsatz zur Wahrung deutschen Kulturgutes. Alexander Gauland war inzwischen zum Leiter der Staatskanzlei Wallmanns in Wiesbaden aufgestiegen. 1989 ernannte Gauland Egerter zum Kirchenbeauftragten der Landesregierung. Der Schriftsteller Martin Walser veröffentlichte 1996 über die als »Affäre Gauland« bekannt gewordene Ernennung Egerters den Roman »Finks Krieg«. Gauland und Egerter gingen nach der Wende in die neuen Bundesländer. Egerter leitete als Staatssekretär unter Ministerpräsident Bernhard Vogel das »Hessen-Büro« in der Erfurter Landesregierung, das wesentlich am Aufbau von Justiz, Polizei und Verfassungsschutz in Thüringen beteiligt war. Gauland wurde Chefredakteur der Märkischen Allgemeinen in Potsdam. Es ist kein Zufall, dass mit Andreas Kalbitz nun auch ein »Witikone« zum zweiten Vorsitzenden der von Gauland geführten AfD Brandenburg gewählt wurde. Auch seine Beziehungen ins Milieu der Marburger schlagenden Verbindungen hat Gauland durch Gastvorträge wieder aufgefrischt. Gauland und Glaser sind als Führer des neofaschistischen Flügels deshalb so wichtig, weil sie selbst nicht

Gauland ist der Kopf des neofaschistischen Flügels

Der Kampf gegen Rassismus und die AfD wird auch bei »MARX IS' MUSS« einen Schwerpunkt mit zahlreichen Veranstaltungen und Podien bilden. Unter anderem sprechen zu diesem Thema die Parteivorsitzende der LINKEN Katja Kipping, der marxistische Bewegungsforscher Colin Barker und die Juristin und Initiatorin der Aktion MuslimaPride Betül Ulusoy.

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Gauland und Glaser traten Anfang der 1970er Jahre in die hessische CDU ein. Glaser war zuvor Bundessprecher der Deutschen Burschenschaften, die nach dem Krieg zum Sammelbecken von Neonazis wurden. Gauland war Mitglied im »Ring Christlicher Deutscher Studenten« (RCDS) und wurde 1970 vom späteren hessischen Ministerpräsidenten Walter Wallmann in die CDU geholt. Die hessische CDU galt bis Ende der 1960er Jahre eher als fortschrittlich und sozial. Mit der Wahl Alfred Dreggers zum Landesvorsitzenden 1967 vollzog sich jedoch ein scharfer Rechtsruck. Dregger hatte, wie viele andere politische Funktionäre seiner Generation, seine Mitgliedschaft in der NSDAP verheimlicht. Noch in den 1990er Jahren verteidigte er den Angriff Nazideutschlands auf Russland als Abwehrkrieg gegen den Bolschewis-

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terschätzten: die rassistische Massenbewegung Peaus einer der zahlreichen Nazi-Sekten stammen, gida hatte dem neofaschistischen Flügel bereits sondern sich beide auf eine vierzigjährige CDU-Mitstarken Auftrieb verliehen. Gauland war einer der gliedschaft berufen können, die sie von der Traditiersten, der den Schulterschluss mit Pegida vollzog. on des Neofaschismus im Nachkriegsdeutschland Heute sind auch Petry und die gesamte Führung auf scheinbar abgrenzt. So wird Gauland auch nicht dieser Linie. müde, sich von der NPD zu distanzieren. Er schreibt: »Die NPD ist eine Partei, die über Adolf Hitler nicht Gauland ist kein Mittler zwischen den verschiedehinausgekommen ist. Damit erübrigt sich jede Disnen Flügeln der AfD, sondern der Strippenzieher kussion. Ich kann aber nicht verhindern, dass irdes braunen Netzwerks. Geschickt nutzt er seinen gendein NPD-Mann auch einmal vernünftige ÄußeEinfluss, um die Faschisten in der Partei zu schütrungen von sich gibt … Die NPD ist zu igittigitt. Da zen und zu fördern. Als etwa Frauke Petry nach dem bleibt nur die AfD.« offen rassistischen Ausfall Höckes über das angebliGauland verweist auch gerne darauf, dass er einen che Fortpflanzungsverhalten Kreisvorsitzenden aus der von Afrikanern dessen AusAfD ausgeschlossen habe, tritt forderte, war es Gauland, der auf Facebook eine antider seine schützende Hand semitische Karikatur geteilt über Höcke hielt und ihn habe: »Wir können uns ei»einen sehr klugen Mann« nen solchen Schwachsinn Alexander Gauland nannte. Dann versuchte Penicht leisten, soviel Dummtry, den neofaschistischen heit geht auf keine Kuhhaut. Flügel rechts zu überholen … Wir müssen Neonazis klar und forderte den Einsatz von ausgrenzen.« Ähnlich verSchusswaffen gegen Flüchtfährt sein alter Kampfgefährlinge, womit sie auf heftigen te Glaser. Einem Kritiker, der medialen Gegenwind stieß. Diese Gelegenheit nutihn islamophob und rassistisch nannte, drohte er ze Gauland wiederum, um sich öffentlich als gemämit juristischen Schritten. Zugleich deckte er aber ßigter Nationalkonservativer darzustellen und Petry einen ehemaligen Republikaner im hessischen Lanunter Druck zu setzen: »Gezielt schießen auf Mendesvorstand der AfD, der seine Mitgliedschaft bei schen kommt für die AfD nicht in Frage.« Indem er der Wahl geheim gehalten hatte. Petry absprach, für die Partei zu sprechen, tat GauGauland und Glaser haben in der hessischen CDU land so, als wäre er bereits Bundesvorsitzender. Jetzt eins gelernt: Offener Antisemitismus und Bekenntsteht er als Saubermann da, Petry als schießwütiges nisse zu Hitlers Nazideutschland führen zum poliFlintenweib. tischen Absturz. Doch die Distanz zum NationalsoDass es ihm dabei nicht um die Sache ging, sondern zialismus ist vor allem taktischer Natur und macht um die Stärkung seiner Position, geht schon daraus die beiden umso gefährlicher. Denn beide schützen hervor, dass er selbst noch im November 2015 eiin ihren Landesverbänden und im Bundesvorstand nen solchen Waffeneinsatz gegen Flüchtlinge unterLeute wie Höcke und Poggenburg, die die Unvereinstützte. Damals hatte der Lebensgefährte von Petry barkeitsbeschlüsse der AfD gegen ehemalige NPDund AfD-Vorsitzende in NRW Marcus Pretzell einen und DVU-Mitglieder unterlaufen. Höcke bekannte Schusswaffengebrauch an der Grenze als »ultima erst kürzlich, mit der Berufung auf ein »christlichRatio« befürwortet. Gauland meinte dazu im Interjüdisches Abendland« nichts anfangen zu können, view: »Ich sehe das genauso.«
 weil er im Judentum eine dem Christentum »antagoGauland weiß, dass er den »gemäßigteren« Flügel nistische Religion« sieht. in der AfD weiterhin braucht. Noch sind keine ofDer Bruch in der Afd mit der Lucke-Führung wurfensichtlichen Versuche, Petry aus der Führung zu de von Höcke und Poggeburg bewusst provoziert. drängen, erkennbar. Vielmehr geht es ihm darum, Im März 2015 traten sie organisiert als »Flügel« auf Petry zu schwächen und davon abzuhalten, die Verund veröffentlichten zusammen mit Gauland die treter des neofaschistischen Flügels anzugreifen. »Erfurter Resolution«, in der die Abgrenzung der Um sie schlagen zu können, müssen wir die AfD als AfD gegenüber faschistischen Organisationen undas brandmarken, was sie ist: eine Partei, die zunehter der Führung Luckes indirekt kritisiert wird: Damend von Faschisten kontrolliert wird. Nur wenn durch werde »die politische Spannbreite der AfD es gelingt die vermeintlich biederen Konservativen, über Gebühr und ohne Not begrenzt«. Erst nachdem wie Gauland und Glaser, als Strippenzieher hinter dieser Aufruf von zweitausend AfD-Mitgliedern undiesem Prozess zu enttarnen, kann verhindert werterzeichnet worden war, trat Lucke die Flucht nach den, dass in Deutschland eine neue faschistische vorne an und veröffentlichte seinen »Weckruf«, in Partei entsteht, die weit ins bürgerliche Lager ausdem er die Mitglieder vor einem Rechtsruck der AfD greifen kann. ■ warnte. Was Lucke und seine Anhänger jedoch un-

»Die NPD ist zu igittigitt«

★ ★★ Weiterlesen Heidemarie Paschkewitz-Zeul/ Achim Kessler: »Brauner Sumpf in der hessischen CDU«, Dokumentation als pdf unter: www.ag-friedensforschung.de/themen/ Rassismus/hessen.pdf. Andreas Kemper: »Wieviel NPD höckt in der AfD?« und weitere Aufsätze auf Kempners Blog, der die Verbindungen der Neofachisten in der AfD mit der organisierten Naziszene dokumentiert. Mehr Informationen unter: www.andreaskemper. wordpress.com.

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Verbieten ist keine Lösung Das Verbotsverfahren gegen die NPD wird neu aufgerollt. Doch rassistische Meinungen lassen sich nicht per Gesetz unterbinden. Wer den weiteren Aufstieg der Rechten verhindern will, muss mehr tun

mmer dann, wenn sich der Staat gezwungen sieht, etwas gegen rechten Terror und rassistische Gewalt zu unternehmen, wird die Forderung nach einem Verbot auf die politische Tagesordnung gesetzt. Von einem Parteienverbot erhoffen sich die Befürworter viel. So soll es verhindern, dass rechte Strukturen über die Wahlkampfrückerstattung des Staates finanziert werden, und der Gefahr entgegenwirken, dass sich diese Strukturen über die Parlamente innerhalb des Staats verfestigen, wie es beim »Front National« in Frankreich geschehen ist. Die jetzige Eröffnung des zweiten Verbotsverfahrens gegen die NPD kommt deshalb nicht von ungefähr. Der erneute Versuch, die NPD durch das Bundesverfassungsgericht aufzulösen, entstand maßgeblich unter dem Eindruck der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds und dem damit verbundenen Versagen des Staats und seiner Sicherheitsorgane. Allerdings stellt sich gerade hier die Frage, ob der Staat, der jahrzehntelang das Morden und den Terror des NSU geduldet hat, überhaupt ein verlässlicher Partner im Kampf gegen die Nazis sein kann. Die Landesregierungen, die einem NPD-Verbot zustimmen, haben trotzdem kein Problem damit, antifaschistischen Initiativen die Mittel zu kürzen, sie durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen und ihre Arbeit mittels der sogenannten Extremismusklausel noch weiter zu erschweren.

die entstehende nationalsozialistische Bewegung zu schwächen. Damals wurde das gesamte Parteivermögen konfisziert, die Geschäftsstelle der NSDAP in München geschlossen und sogar die Parteizeitung »Völkischer Beobachter« verboten. Gestoppt hat es den Aufstieg der Nazis nicht. Die Mitglieder organisierten sich in anderen Zusammenhängen und schließlich gründete sich 1925 die NSDAP neu. Dass Verbote keine Lösungen bieten, zeigt sich auch heute. Die fast 40 Verbote und Auflösungen von neonazistischen und rechtsradikalen Strukturen seit der Wiedervereinigung haben weder den NSU verhindert, noch die gewaltbereite Neonazi-Szene entscheidend geschwächt.

Auch die NSDAP wurde zunächst verboten

Auch bleibt nach wie vor fraglich, ob Auflösungen und Verbote von neofaschistischen Vereinen und Parteien dazu führen, die rechte Gefahr wirklich zu bekämpfen. Die bisherigen Erfahrungen mit Verboten zeigen vielmehr: Politische Überzeugungen lassen sich nicht verbieten. Schon in der Weimarer Republik wurde versucht, durch ein Verbot der NSDAP

Deshalb ist es effektiver, den Nazis zu zeigen, dass sie in der eigenen Stadt, Schule oder Universität nicht willkommen sind, und ihre Aufmärsche mit breiten Bündnissen zu blockieren. Damit macht man nicht nur deutlich, dass man die menschenverachtenden Ansichten der Nazis ablehnt, sondern auch, dass sie nicht mehrheitsfähig sind. Außerdem nehmen Blockaden den Rechten den Triumph, durch die Innenstädte marschieren zu können. Letztendlich werden wir die Nazis jedoch nur schlagen können, wenn wir soziale Bedingungen schaffen, auf denen ihr Gedankengut gar nicht erst gedeihen kann. Die Verhinderung des größten Naziaufmarsches Europas in Dresden oder das Auflösen eines Naziaufmarsches in Hanau durch den Oberbürgermeister, der dafür über eine Polizeiabsperrung springen musste, sind wichtige Schritte. Die Nazis können nur in der politischen Auseinandersetzung gestoppt werden und nicht durch eine Verlagerung des notwendigen politischen Kampfes in die Arena des Rechts. ■

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Lisa Hofmann ist Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstands der LINKEN in Hessen.

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Von Lisa Hofmann

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Von Jan Maas

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verstärken diese Tendenz noch. Das kann dazu führen, faschistische Tendenzen in gegenwärtigen rassistischen und nationalistischen Bewegungen und Parteien zu übersehen. Auf der anderen Seite neigen manche dazu, den Begriff des Faschismus fast inflationär zu benutzen. Teile der Linken bezeichnen beispielsweise auch Militärdiktaturen wie in Chile unter General Augusto Pinochet von 1973 bis 1990 als faschistisch. Der maoistische Kommunistische Bund erkannte im Westdeutschland der 1970er Jahre eine »schrittweise Faschisierung von Staat und Gesellschaft«. Und in der linken kurdischen Bewegung ist Denn um zu beschreiben, es derzeit verbreitet, die türwas sich derzeit – beispielskische AKP als faschistisch zu weise in der AfD – abspielt, bezeichnen. ist es nötig, über den Begriff Auch wenn wahrscheindes Rassismus – den auch Jakob Augstein auf »Spiegel online« lich nicht beabsichtigt ist, CSU-Chef Horst Seehofer auf diese Weise die faschisschürt – hinauszugehen. Den tischen Verbrechen zu reBegriff des Faschismus in die lativieren – auf alle Fälle wird der Begriff des FaGegenwart zu holen, ist aus zwei Gründen wichtig: schismus so seiner Trennschärfe beraubt. In seiner Erstens um eine Vorstellung davon zu bekommen, Schrift »Was nun? Schicksalsfragen des deutschen in welche Richtung eine Partei wie die AfD oder eine Proletariats« von 1932 warnte der russische RevoluBewegung wie Pegida sich entwickeln könnte. Zweitionär Leo Trotzki: »Es genügt nicht, das Wesen des tens weil der Charakter einer Partei oder Bewegung Faschismus zu begreifen. Man muss ihn als politientscheidend dafür ist, welche Strategie gegen sie sches Phänomen, als bewussten und hinterlistigen wirksam sein kann. Feind einschätzen können.« Trotzki meinte damit, Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Definitionen dass es nicht ausreicht, Merkmale, Programmpunkdes Faschismus, die sich zum Teil widersprechen te oder Organisationsformen zu verallgemeinern und zum Teil ergänzen. Eine relativ umfassende und dann bestehende Parteien und Bewegungen stammt von dem linken Historiker und Sozialfordaraufhin abzuklopfen. Der Faschismus ist dazu zu scher Karl Heinz Roth aus dem Jahr 2004: »Der Faanpassungsfähig. Was ihn ausmacht, sind Ziele, Meschismus war eine gegenrevolutionäre Bewegung thoden und soziale Basis. Hier hilft ein kurzer Blick der herrschenden Klassen, Mittelschichten und auf den Weg des Faschismus an die Macht. Histoproletarischen Randgruppen, die nach dem Ersten risch geht der Begriff zurück auf die Bewegung der Weltkrieg in den meisten europäischen Ländern Schwarzhemden unter Benito Mussolini in Italien. gegen die sozialen Massenaufstände der Arbeiter, Kleinbauern und einfachen Soldaten gerichtet war Grob umrissen: Nach dem Ersten Weltkrieg erlebund eine radikale wie gewalttätige ›Neugründung‹ te Italien eine Arbeiterbewegung mit massenhafihrer jeweiligen Nation vorantrieb. Sie verbreiterten Fabrikbesetzungen. Dagegen gründeten sich ab te sich in der Weltwirtschaftskrise, eroberte (...) teil1919 antisozialistische Kampfgruppen ehemaliger weise die politische Macht und führte danach zu Soldaten und Unteroffiziere unter dem Namen »Faseinem in seiner Qualität neuartigen Raub- und Verci«. Im Jahr 1920 hatte die sozialistische Bewegung nichtungskrieg nach innen und außen. Die ›volksdie Chance verpasst, eine andere Gesellschaft aufgemeinschaftlich erneuerte‹ Nation sollte zum Kern zubauen. Gleichzeitig glaubten Teile der Herrscheneiner restaurierten oder neu geschaffenen imperiaden nicht mehr, dass der demokratische Staat sie vor listischen Herrschaftssphäre gemacht und eine speeiner starken Arbeiterbewegung schützen könne. zifische Phase der ›endlosen Kapitalakkumulation‹ Ende 1920 überfielen hunderte bewaffnete Faschiseingeleitet werden. In diesem Sinn haben wir zwiten die erste Sitzung des sozialistischen Gemeindeschen Bewegungs-, System- und Kriegsfaschismus rats von Bologna. Nach diesem Muster griffen Fazu unterscheiden.« schisten in den folgenden Monaten links regierte Wie hier wird der Begriff des Faschismus heute oft Gemeindeverwaltungen und Institutionen der Linrein historisch verwendet, also für das italienische ken überall im Land an. Ein Jahr darauf gründeten Regime der Jahre 1922 bis 1945, höchstens noch Faschisten die Partito Nazionale Fascista (Natiofür die NS-Diktatur 1933 bis 1945. Dies erweckt den nale Faschistische Partei, PNF). Ende 1922 machte Eindruck, als sei der Faschismus nur eine Erscheider italienische König ihren Führer Mussolini zum nung der Vergangenheit. Die unauslöschlichen BilMinisterpräsidenten einer rechten Koalitionsregieder von Massenaufmärschen, Krieg und Holocaust er Faschismus lebt« lautete die Überschrift einer Kolumne von Jakob Augstein auf »Spiegel online« anlässlich der Gewalt gegen Geflüchtete im vergangenen Herbst. Und schon 2014 beschrieb Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble den französischen Front National nach seinem Erfolg bei den Europawahlen als »faschistisch«. Der Begriff des Faschismus scheint eine Wiederbelebung zur Beschreibung gegenwärtiger politischer Parteien und Bewegungen zu erleben – und das ist gut so.

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Jan Maas ist Redakteur von marx21.

TITELTHEMA KAMPF GEGEN RECHTS

»Der Faschismus lebt«

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© Bundesarchiv_B_145_Bild-P046283 / wikimedia

»Jagt die Bonzen aus den Sesseln!« Parole auf einer Wahlkundgebung der NSDAP 1932 im Berliner Sportpalast. Trotz solcher Parolen tasteten die Nazis die Herrschaft des Kapitals nicht an

★ ★★ Mehr im Internet Leo Trotzkis Schriften über Deutschland sind im Marxists’ Internet Archive verfügbar: www.marxists.org/ deutsch/archiv/trotzki/ faschism.htm Zu Empfehlen sind beispielsweise: »Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats« und »Portrait des Nationalsozialismus« Über antifaschistische Strategie außerdem: »Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?«.

★ ★★ Weiterlesen Einen guten kurzen und kritischen Überblick über die Geschichte des Faschismus und seiner Analyse – unter bemerkenswerter Auslassung von Leo Trotzkis Beitrag – bietet: Guido Speckmann/Gerd Wiegel: Faschismus, Papyrossa Verlag (Köln 2012), 127 Seiten, 9,90 Euro.

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rung. Ab dem Jahr 1925 herrschte Mussolini dann als Diktator. Die deutsche Variante des Faschismus speiste sich aus ähnlichen Quellen. In Kurzform: Nach der Novemberrevolution 1918 bildeten ehemalige Soldaten und Unteroffiziere die antisozialistischen Freikorps, aus denen kleine Parteien hervorgingen. Aus einer von ihnen wurde später die NSDAP. Während der Weltwirtschaftskrise ab dem Jahr 1929 gelang es der Partei, die Wut eines wachsenden Teils der Bevölkerung über Massenarbeitslosigkeit und Verelendung gegen die Linke und das Judentum zu richten. Die bewaffnete »Sturmabteilung« der NSDAP agierte Ende der 1920er Jahre als brutale Bürgerkriegsarmee. Ab 1931 unterstützte eine nennenswerte Minderheit der deutschen Herrschenden Adolf Hitlers NSDAP. Nachdem die konservativen Regierungen Brüning, von Papen und Schleicher es nacheinander nicht geschafft hatten, die Krise zu überwinden, unterstützten die deutschen Herrschenden schließlich Hitler und machten ihn 1933 zum Reichskanzler. Das Zusammenspiel von Kapital und Nazis veranlasste den Sozialphilosophen Max Horkheimer schon 1939 zu der Bemerkung: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.« Womit Horkheimer allerdings nicht nur die Unterstützung der deutschen Herrschenden für Hitler meinte, sondern auch die Verwüstungen der Weltwirtschaftskrise, welche die Voraussetzungen für den Aufstieg der Nazis geschaffen hatte. In seinem »Porträt des Nationalsozialismus« von 1933 fasste Trotzki zusammen: »Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen zur Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zum Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Ein-

Der Faschismus ist eine flexible politische Bewegung richtungen der Demokratie zusammenpressten. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums [...] Dem Faschismus gelang es, [seine Politik] in den Dienst des Kapitals zu stellen.« Trotzki unterscheidet zwischen der sozialen Basis des Faschismus als Bewegung – das Kleinbürgertum – und des Faschismus an der Macht – das Kapital. Lange waren Theorien verbreitet, die Faschisten vor allem als Marionetten der Herrschenden verstanden. Sie gehen zurück auf den Vorsitzenden der Komintern, Georgi Dimitrow, der den Faschismus an der Macht als »offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« ansah. Der blinde Fleck dieser so genannten Agententheorien liegt darin, dass der Faschismus gerade deswegen eine Machtoption für das Kapital ist, weil er eine gewalttätige kleinbürgerliche Massenbewegung ins Feld führen kann – auch wenn diese ihm nicht besonders attraktiv erscheint. Sowohl die italienischen als auch die deutschen Herrschenden zögerten zunächst, bevor sie sich für den Faschismus entschieden. Trotzki schrieb dazu: »Die Großbourgeoisie liebt den Faschismus ebensowenig wie ein Mensch mit kranken Kiefern das Zahnziehen.« Die Konstante im Faschismus als Bewegung und an der Macht ist der Terror gegen die Arbeiterbewegung. Auch das brachte der russische Revolutionär


Mit der Vorstellung des Faschismus als flexibler politischer Bewegung kommt man zu dem Schluss, dass er nach 1945 nie weg war, sondern nur verschiedene Formen angenommen hat. Heute agieren Faschisten – nicht nur – in der AfD und in Pegida. Zwar bevölkern keine Bürgerkriegsarmeen die Straßen und ebenso wenig setzen die deutschen Herrschenden auf eine Übergabe der Macht an sie, doch auch die gegenwärtigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse sind nicht von Ewigkeit. Auf dem Reichsparteitag der NSDAP im Jahr 1933 blickte Hitler zurück auf den Weg der Partei an die Macht: »Allmählich entstand im Staat der Demokratie der Staat der Autorität, im Reiche der jammervollen Gesinnungslosigkeit ein Kern fanatischer Hingebung und rücksichtsloser Entschlossenheit. Eine einzige Gefahr konnte es gegen diese Entwicklung geben: Wenn der Gegner (...) mit letzter Brutalität am ersten Tag den ersten Keim der neuen Sammlung vernichtete.« Entschlossener Widerstand gegen jeden Versuch faschistischer Organisierung ist allerdings nicht nur deswegen nötig, weil in der Zukunft möglicherweise eine große Gefahr lauern könnte. Schon heute bedrohen Faschisten mit Brandanschlägen und Überfällen Leib und Leben von Geflüchteten wie organisierten Linken. Darum: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! ■

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klar auf den Punkt: »Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten.« Die Linke und die Gewerkschaften waren unter den ersten Opfern des faschistischen Terrors. Den Hass des Kleinbürgertums auf die Arbeiterbewegung auf der einen und das große Kapital auf der anderen Seite lenkte der Faschismus in die Bahn eines rassistischen Nationalismus. Die Funktion des Antisemitismus für die Nazis erklärte Trotzki im »Porträt« so: »Während er sich vor dem kapitalistischen System verbeugt, bekriegt der Kleinbürger den bösen Geist des Profits in Gestalt des polnischen Juden im Kaftan, der oft keinen Groschen in der Tasche hat.« Eine ähnliche Funktion hat heute der Rassismus, beispielsweise in der Pegida-Bewegung und in der AfD, der sich in erster Linie gegen den Islam und Geflüchtete richtet. Aber auch der Hass auf die Arbeiterbewegung hat überlebt. Er zeigt sich nicht nur in den gewerkschaftsfeindlichen Positionen der AfD, sondern auch in Angriffen von Faschisten auf Gewerkschaftsaktionen, zuletzt am 1. Mai 2015 in Weimar. Auch die Wut über die Errungenschaften der Frauenbewegung ist in diesem Zusammenhang zu sehen.

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Wie wir die AfD gestoppt haben In der selbsternannten Alternative für Deutschland sammeln sich Nationalisten, Rassisten und Faschisten. Höchste Zeit, ihnen die Plätze streitig zu machen. In Münster gelang es, einen Auftritt der Bundessprecherin Frauke Petry zu verhindern. Das Erfolgsrezept: Breiter zivilgesellschaftlicher Gegenprotest und eine LINKE, die sich einmischt Von Hannes Draeger ★ ★★

Hannes Draeger ist aktiv in der LINKEN in Münster und im Bündnis »Keinen Meter den Nazis«.

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m späten Nachmittag des 21. Januar konnte Frauke Petry im Münsteraner Lokalradio nur noch bestätigen, was sich zuvor schon als Gerücht in den sozialen Netzwerken verbreitet hatte. Die AfD sagte den am Abend geplanten Auftritt ihrer Bundessprecherin abgesagt. Petry resignierte: »Der linke Mob hat gesiegt«. Was war geschehen?

Aufruf des Bündnisses dokumentiert. So konnten innerhalb kurzer Zeit rund 12.000 Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer zum Protest eingeladen werden. Das Feedback war motivierend: Mehr als 2000 Menschen hatten Interesse und Hunderte kündigten an, sich den geplanten Gegenprotesten anzuschließen. Der Beitrag wurde auf Facebook geteilt und erreichte so über 300.000 Personen.

»Der linke Mob hat gesiegt«

Fünf Tage zuvor waren MitDoch die Aktiven standen glieder der AfD Münster vor einem Problem: Noch Frauke Petry noch wild entschlossen, eine immer hielt die AfD den VerVeranstaltung mit Frauke Peanstaltungsort geheim. Vortry durchzuführen. Die AfD sorglich meldeten sie an Orwollte die Veranstaltung dazu nutzen, in Münster ten, wo die AfD-Veranstaltung vermutet wurde, eine lokale Jugendorganisation aufzubauen, wesKundgebungen an. Zugleich bekam das »Keinenhalb auch der NRW-Landesverband der »Jungen AlMeter«-Bündnis Gegenwind von der konservativen ternativen« mit einlud. Der Ort sollte der ÖffentlichLokalzeitung »Westfälische Nachrichten«. Ein Rekeit erst einen Tag vor der Veranstaltung mitgeteilt dakteur stellte die Legitimität der Gegenproteste in werden. Frage und behauptete, man müsse »die AfD nicht Doch sofort nach Bekanntwerden der Planung formögen«, es aber »aushalten«, wenn sie sich versammierte sich Widerstand. Das Münsteraner Bündnis melt. Der lokale CDU-Fraktionschef warf dem Bünd»Keinen Meter den Nazis«, in dem Gewerkschafnis gar vor, der AfD durch »ungeschicktes Taktieren« ten, Friedensgruppen, Vereine, LINKE, Sozialdemomehr Aufmerksamkeit verschafft zu haben und empkraten, Grüne und Aktive aus der radikalen Linken fahl, die Auseinandersetzung mit AfD-Versammlunzusammenarbeiten, hatte bereits mehrfach erfolggen den »amtlichen Behörden« zu überlassen. In eireiche Aktionen gegen Nazis organisiert. Schnell nigen Leserbriefen und in den sozialen Netzwerken verfassten die Aktivistinnen und Aktivisten einen wurde von rechter Seite ein Horrorszenario an die Aufruf. Das Motto: »Rassistischer Hetze entgegenWand gemalt: von »linken Gewalttätern« und »getreten – Frauke Petry nicht willkommen«. planten Krawallen« war die Rede. Der Studierendenverband Die Linke.SDS übernahm die Mobilisierung in den sozialen Netzwerken. Auf Die Aktivistinnen und Aktivisten ließen sich von Facebook wurde eine Veranstaltung erstellt und der diesen Anschuldigungen nicht verunsichern: Der


Dennoch versammelten sich 400 AfD-Gegnerinnen und Gegner auf einem Acker in der Nähe des Gutshauses und setzten ein Zeichen gegen Rassismus. Petrys Diffamierung der Gegenbewegung als »linker Mob« wirkte nun erst recht lächerlich: Auf der Kundgebung herrschte Familienfeststimmung. Viele Red-

nerinnen und Redner warnten vor dem Rassismus der AfD, ein Geflüchteter bedankte sich bei den Protestierenden für ihre Solidarität. Für den Erfolg der Gegenproteste war entscheidend, dass nicht allein die »üblichen Verdächtigen« sie organisierten. Überall lauern Konservative und Rechte auf ihre Chance, antifaschistische Proteste zu kriminalisieren und sie zu spalten. Dieser Versuch von Teilen der konservativen Medien gelang in Münster gerade deshalb nicht, weil das lokale Anti-NaziBündnis viele Gruppen vereint und zugleich Klarheit darüber herrscht, dass man Nazis und Rassisten am »Ort des Geschehens« entgegentreten muss. Der Erfolg zeigt auch: DIE LINKE kann eine bedeutende Rolle im Kampf gegen die AfD spielen. Sie hat viel Erfahrung in antifaschistischer Arbeit und gute Argumente, warum es legitim ist, der AfD die Räume und Plätze streitig zu machen. Hier sind die lokalen Gliederungen der Partei besonders gefragt: Der Kampf gegen die AfD wird auf der Straße und nicht an Koalitionstischen entschieden. Die AfD lebt von ihrer Tarnung als konservative Partei. Eine breite zivilgesellschaftliche Gegenbewegung hat das Potential, die AfD zu demaskieren und die gesellschaftliche Stimmung zu wenden. DIE LINKE kann dabei lokal und bundesweit einen wichtigen Beitrag leisten. ■

Glückliche Aktivistinnen und Aktivisten der LINKEN und des SDS in Münster: Mit der Dynamik, die ihr Protestaufruf gegen den Besuch Frauke Petrys und die AfD entwickeln sollte, hatte anfangs keiner gerechnet

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Zwei Tage vor der geplanten AfD-Veranstaltung sickerte durch, dass die AfD ihre Veranstaltung im Schlossgartencafé durchführen wollte – mitten in der Stadt und nahe am Uni-Hauptgebäude. Die Betreiber des Cafés bekamen angesichts der geplanten Gegenproteste kalte Füße und kündigten der AfD die Räumlichkeiten. Die AfD stand nun zwei Tage vor dem Besuch ihrer Bundessprecherin ohne Raum dar. Ein Teilerfolg für die Aktivistinnen und Aktivisten und eine böse Überraschung für die AfD. Doch sie versuchte, einen Ausweichort zu finden. Würde es der Partei gelingen? Die LINKE und das Bündnis warteten nicht ab, sondern hielten an der Vorbereitung der Gegenproteste fest: Transparente wurden gemalt und weitere logistische Vorbereitungen für eine Kundgebung getroffen. Der SDS informierte weiter in den sozialen Netzwerken über den Stand der Dinge. Einen Tag vor dem geplanten Petry-Besuch, verkündete die AfD, einen Ausweichort gefunden zu haben. Das Gutshaus Havichhorst war eingesprungen – ein luxuriöses Tagungszentrum am Stadtrand. Doch auch diese Zusage hielt nicht lange: Nachdem es in den sozialen Netzwerken Proteste hagelte, zog das Gutshaus seine Zusage zwei Stunden vor dem geplanten Beginn der AfD-Veranstaltung zurück. Das »Keinen-MeterBündnis« hatte gewonnen, die AFD war frustriert.

© Die Linke.SDS Münster / www.facebook.com/sds.muenster

Sprecher des Bündnisses stellte gegenüber der Presse klar, dass für Rassismus in Münster kein Platz sei. Auch DIE LINKE veröffentlichte auf ihrer Webseite dazu ein Papier unter der Überschrift »Wehret den Anfängen«. Der Münsteraner Bundestagsabgeordnete der LINKEN, Hubertus Zdebel, griff die Debatte auf und machte deutlich, dass die AFD inzwischen ein »Sammelbecken für Neonazis und rechte Schläger« sei. Das wichtigste Argument in der Debatte lautet: Die AfD ist nicht einfach eine »normale« rechtskonservative Partei. Vielmehr entwickelt sie sich – nicht erst seit den Austritten von Lucke und Tausenden seiner »wirtschaftsliberalen« Wegbegleiter – zu einer faschistischen Partei, einer neuen NPD. Die Geschichte hat gezeigt, dass man sich Nazis von Anfang an entgegenstellen muss. Denn wenn sie ungestört marschieren oder Veranstaltungen durchführen können, verbreiten sie Angst und Schrecken, werden selbstbewusster und können neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter gewinnen. Deswegen ist eines wichtig: Keine demokratischen Rechte für Nazis, kein Rederecht und auch kein Versammlungsrecht.

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WELTWEITER WIDERSTAND

© Bilder: Fibonacci Blue / CC BY / flickr.com

USA

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Einige hundert Demonstrierende besetzen Anfang Dezember das Rathaus von Minneapolis, nachdem die Polizei ihr Protestcamp aufgelöst und acht Protestierende festgenommen hat. Die Camper und Besetzer fordern die Veröffentlichung von polizeilichem Videomaterial, das die Erschießung des 24-jährigen Afroamerikaners Jamar Clark durch zwei Polizeibeamte am 15. November zeigt. Zeugen gaben an, das Opfer habe zu jenem Zeitpunkt gefesselt am Boden gelegen, die Polizei streitet dies ab, bleibt einen Gegenbeweis jedoch schuldig. Allein im vergangenen Jahr erschossen Polizisten in den USA über einhundert unbewaffnete Schwarze.


Niederlande

Streiken mit Präzision In den Tarifverhandlungen der niederländischen Metallindustrie fordern die Konzerne mehr Flexibilität der Beschäftigten. Diese antworten umgehend mit flexiblen Streiks ie größte niederländische Gewerkschaft FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging) hat die moderne Kommunikationstechnik für den Arbeitskampf entdeckt. Per SMS sollen über eine Million Mitglieder in Zukunft kurzfristig darüber informiert werden, wo die nächste Arbeitsniederlegung ansteht. Durch die schnelle Mobilisierung haben die Bosse kaum Zeit, zu reagieren. »Präzisionsstreik« nennt das die Gewerkschaft. Oft reicht nämlich eine Handvoll Beschäftigter an den Schaltstellen, um ganze Betriebe lahmzulegen – besonders wichtig, wenn die Bereitschaft zum Ausstand niedrig ist. So wie beim Lkw-Hersteller Scania in Zwolle, wo die Belegschaft offenbar nur schwer für Aktionen zu gewinnen ist. Besonders bei den zahlreichen Zeitarbeitern ist der Wille, den Streik zu unterstützen, gering. »Die Folgen von vier Streiktagen bei Scania sind in den vergangenen Monaten begrenzt geblieben, unter anderem weil der Betrieb vorher wirksame Maßnahmen ergriffen hat«, schrieb die Lokalzeitung »De Stentor«. Genau der richtige Betrieb also, um die neue Hightech-Waffe einzusetzen. Deshalb sammelt die FNV dort im Moment die Telefonnummern aller Streikwilligen. Beim Flugzeugteileproduzenten Fokker in Papendrecht hat die FNV die schnelle Eingreiftaktik Ende Januar bereits ausprobiert. »In einem Staffelstreik legen die Beschäftigten in verschiedenen Abteilungen abwechselnd die Arbeit nieder«, meldete die FNV nach fünf Tagen zufrieden auf ihrer Internetseite. Ohne Vorankündigung streikten erst die Kolleginnen und Kollegen in der Montage, wo gerade Teile für den Airbus A 350 hergestellt werden. Danach traten die Lackierer in den Ausstand. Jedes Mal standen deshalb auch in anderen Bereichen des Betriebs die Maschinen still. »Die Direktion rauft sich die Haare und setzt Werktätige unter Druck, die verlorenen Produktionstage am Wochenende wettzumachen«, berichtete Richard Moti von FNV Metaal Rotterdam. Seit einem Dreivierteljahr kämpfen die niederländischen Metaller um einen neuen Tarifvertrag. Anfang Februar hat die Gewerkschaft die Beschäftigten in mehr als 50 Betrieben in den nördlichen Provinzen Drenthe, Groningen und Friesland zum Streik aufgerufen. Wichtigste Streitpunkte sind eine größere Kontrolle über die eigene Arbeitszeit und ein höherer Lohn. Auch der kleinere Christlich Nationalen Gewerkschaftsverband (CNV) unterstützt die Aktion. Nach Angaben der niederländischen Rundfunk-

anstalt NOS beteiligten sich rund 1.900 Beschäftigte an dem Ausstand. Damit sei es der größte Metallerstreik im Norden des Landes. Der Streik ist ein letzter Warnschuss für die Konzerne, bevor die wochenlang ruhenden Lohnverhandlungen wieder aufgenommen werden. Der Arbeitskampf soll währenddessen jedoch weitergehen, kündigte die FNV an. So lange, bis ein vernünftiger Vorschlag der Großmetallindustrie auf dem Tisch liegt. Im letzten Jahr sind unsere Nachbarn im Westen deutlich häufiger in den Ausstand getreten als gewöhnlich. Die FNV hat deshalb 2015 zum »Jahr der Straße« ernannt. »Immer mehr Menschen sehen, dass man mit Aktionen etwas erreicht«, sagte Gewerkschafterin Mariette Patijn. In den Niederlanden ist der Konsensgedanke in fast allen gesellschaftlichen Bereichen traditionell stark verankert. Der ewig währende Kampf gegen das Meer schweißt die Bewohner des kleinen Landes seit Generationen zusammen. Schon im Mittelalter mussten die Stände gemeinsam Polder trockenlegen, Deiche und Dämme bauen und sie instand halten. Deshalb nennt man in den Niederlanden die auf Eintracht und Mäßigung ausgerichtete Zusammenarbeit zwischen Konzernvertretern und Gewerkschaften »Poldermodell«. Der Staat mischt sich normalerweise nicht ein. Die großen metallverarbeitenden Konzerne scheinen sich jedoch nicht mehr an das Poldermodell halten zu wollen. Nachdem der alte Tarifvertrag im Frühjahr vergangenen Jahres ausgelaufen ist, sind die zirka 150.000 Beschäftigten ohne einen gültigen neuen. Mehrere Verhandlungsrunden scheiterten an lächerlichen Lohnangeboten, aber auch am Wunsch einzelner Firmen, im nächsten Vertrag mehr Rücksicht auf ihre Bedürfnisse zu nehmen. Wesentliche Details sollen demzufolge in Zukunft auf Betriebsebene ausgehandelt werden. Flexibilität und Maßarbeit sind die Schlagworte. Oder wie es die christliche Gewerkschaft CNV sarkastisch nennt: »Kommen und gehen, wenn der Chef pfeift«. ■

★ ★★ Gerrit Hoekman Gerrit Hoekman ist freier Autor mit den Schwerpunktthemen Naher Osten, Niederlande, Fußball und Punkrock. Er schreibt regelmäßig für die Tageszeitung »junge Welt«, wo dieser Artikel am 9. Februar 2016 erschien. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung und veröffentlichen eine gekürzte Fassung.

China In der zentralchinesischen Provinz Anhui streikten Anfang Februar mehr als einhundert Krankenschwestern. Es war bereits der dritte Streik innerhalb des letzten halben Jahres und ist Teil einer ganzen Reihe von GesundheitsarbeiterAufständen im ganzen Land. Hauptkritikpunkt der Proteste ist ein Leiharbeitersystem, das den Krankenhausbetreibern – ob staatlich oder privat – ermöglicht, extrem niedrige Löhne zu zahlen und die Belegschaft zu spalten. Die Forderung der Streikenden lautet daher wie in anderen Ländern: »Gleiche Arbeit – gleicher Lohn«.

Portugal Die Mitte-links-Regierung in Portugal will die 35-Stunden-Woche wieder einführen – macht jedoch Ausnahmen für Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Dagegen wehrten sich diese Ende Januar mit einem eintägigen landesweiten Streik, an dem sich laut Gewerkschaften 70 bis 80 Prozent der Beschäftigten beteiligten. Die 35-Stunden-Woche wurde 2013 von der damaligen Mitte-rechts-Regierung zugunsten einer 40-stündigen Variante abgeschafft.

Pakistan Um gegen die geplante Privatisierung der Pakistan International Airlines (PIA) zu protestieren, traten Ende Januar Piloten in ganz Pakistan in den Streik und legten den Flugverkehr fast gänzlich lahm. Sie schlossen sich damit ihren Kollegen aus anderen Bereichen der Fluggesellschaft an, die teilweise schon seit Monaten in diversen Städten streikten. Der Konflikt radikalisierte sich zunehmend, nachdem Soldaten in Karachi das Feuer auf eine Demonstration eröffneten und drei PIA-Mitarbeiter erschossen. Kurz vor Redaktionsschluss zeichnete sich eine Einigung zwischen Gewerkschaft und Staat ab.

Weltweiter Widerstand

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Von Gerrit Hoekman

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INTERNATIONALES Februar 2014: Während einer riesigen Demonstration gegen die Regierung Maduro stellen sich einige Personen vor die Polizei, um die Menge vom Steinewerfen abzuhalten und eine Eskalation zu vermeiden. Im Zuge der Proteste kommt es zu harten Auseinandersetzungen, über 1500 Demonstrierende werden festgenommen

»Venezuela steckt in einer tiefen Krise« Bei der Parlamentswahl am 6. Dezember erlitt die chavistische Bewegung ihre bislang bedeutendste Wahlniederlage und verlor die Mehrheit in der Asamblea Nacional an die bürgerliche Opposition. Zuleika Matamoros aus Caracas berichtet über die Perspektiven der bolivarischen Revolution Interview: Ben Stotz Im Dezember letzten Jahres hat das konservative Wahlbündnis MUD (Mesa de la Unidad Democrática, Tisch der demokratischen Einheit) mit großer Mehrheit die Vereinigte Sozialistische Linkspartei Venezuelas (PSUV) als Stärkste Kraft im Parlament abgelöst. Es scheint, als sei der revolutionäre Prozess in Venezuela gescheitert. Was ist los? Venezuela steckt in einer tiefen ökonomischen Krise, und das nicht erst seit gestern. Ein riesiges Problem ist die starke Korruption der Regierungsstrukturen und die horrende Inflation. Die politische Führung der PSUV und damit auch die linke Regierung sind selbst daran beteiligt, mit allen möglichen Mitteln die Einnahmen aus der Ölindustrie einzustreichen, und verfolgen ihre eigenen Interessen. Diese Ökonomisierung der Politik verdrängte die Grundlage unseres revolutionären Prozesses: die partizipative Demokratie. Die Beteiligung der

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Übersetzung: Ronda Kipka

Zuleika Matamoros

Zuleika Matamoros ist Lehrerin und Redakteurin bei der chavistischen Diskussionsplattform aporrea.org. Sie ist aktiv in dem marxistischen Kollektiv Marea Socialista im Stadtteil 23 de Enero in Caracas.

Bevölkerung an politischen Entscheidungen wird mehr und mehr verhindert. Wie wirkt sich die Wirtschaftskrise auf den Alltag aus? Die Krise greift tief in das Leben der Menschen in Venezuela ein. Der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung sinkt dramatisch. Um es mit Zahlen zu verdeutlichen: Die Preise sind seit 2014 um rund 160 Prozent gestiegen. Damit lag unser Land 2015 weltweit unangetastet auf dem ersten Platz. Auf dem zweiten Platz ist die Ukraine mit einem vergleichsweise harmlosen Anstieg von rund 50 Prozent. Einfache Arbeiterinnen und Arbeiter müssen Wunder vollbringen, um ihre Familien zu ernähren. Wunder vollbringen? In der Tat. Zusätzlich zu niedrigen Löhnen herrscht Knappheit an Produkten des täglichen Lebens. Selbst für Grundnah-


rungsmittel und Gebrauchsgegenstände wie Maismehl, Reis, Zucker, Kaffee, Olivenöl, Toilettenpapier, Damenbinden und Shampoo müssen die Menschen stundenlang anstehen – und das häufig vergeblich. Meist reicht ein Einkauf nicht aus, um eine vier- bis fünfköpfige Familie eine Woche lang durchzubringen. Die einzige Alternative zu den Warteschlangen ist der Schwarzmarkt, wo die Preise um ein Vielfaches höher sind. Und diese Krise führte zum Erstarken der Rechten… Die Regierung hat die Krise nicht gelöst, was zur Stärkung und dem »geliehenen« Sieg der Rechten führte. Es ist keine neue Rechte. Die MUD ist ein Wahlbündnis. Sie besteht größtenteils aus den Repräsentanten der Bourgeoisie, die schon immer vorhatten, Chávez zu stürzen. Der Kopf der MUD ist die alte Acción Democrática, die Regierungspartei aus der Zeit

des »Caracazo« von 1989. Das Spannende ist, wie die MUD an diesen scheinbaren Sieg gekommen ist. Sie hat nämlich nur rund 300.000 Stimmen mehr als bei den Präsidentschaftswahlen im April 2013 errungen. Dagegen hat der Chavismus (PSUV) fast zwei Millionen Wählerinnen und Wähler verloren, die sich enthalten oder ungültig gewählt haben oder nach rechts gewechselt sind. Das bedeutet, wir beobachten vor allem den Niedergang der PSUV, nicht den Sieg der Opposition. Wie war die Stimmung auf chavistischer Seite vor der Wahl? Viele Aktivistinnen und Aktivisten haben vor der Wahl versucht, die Führung der PSUV unter Druck zu setzen, damit sie ihre Fehler der letzten Jahre an der Regierung eingesteht. Einige Anhängerinnen und Anhänger des revolutionären Prozesses forderten sogar die Entlassung aller Minister und der führenden Partei-

Wie hat die Führung der PSUV reagiert? Ist dieser »Wahlprotest« bei ihr angekommen? Im ersten Moment sprachen die Verantwortlichen von ehrlicher Selbstkritik, doch schon jetzt sieht man, wie sie in die alten Muster zurückfallen. Die Führung sucht nach Schuldigen außerhalb der eigenen Reihen. Ihre Hinterzimmerpolitik erhält sie ebenso aufrecht wie die Drohungen und Offensiven gegenüber linken Parteistimmen. Die Führung der PSUV glaubt weiterhin, dass sich der bolivarische Prozess allein von oben lenken lasse. Diese alten Funktionäre sind zudem in Machtkämpfe untereinander verstrickt und verstehen nicht, was an der chavistischen Basis geschehen ist. Sie reden von der Macht des Volkes, an die sie allerdings in ihrer politischen Praxis selbst nicht glauben. Wie wurde die Niederlage an der sozialen Basis des Chavismus, also bei den sonst »treuen« Anhängern von Chávez aufgenommen? Die traditionelle Anhängerschaft von Chávez war von der Niederlage überrascht. Individuell war die Abstimmung ein Protest aus Enttäuschung an der Regierung. Da dieses Wahlverhalten jedoch nicht organisiert war, kam das Gesamtergebnis für viele unerwartet. Die Kritik an der gescheiterten Führung der PSUV und die grauenhafte Vorstellung, wieder die alten Oligarchen an der Macht zu haben, hat nun Teile der Basis dazu bewegt, offene Versammlungen abzuhalten. Es gibt nun Anstrengungen, eine linke Alternative zur Regierung und zur PSUV aufzubauen. Die MUD konnte gewinnen, weil es keine Alternative gab. Das heißt jedoch keineswegs, dass die MUD in der Bevölkerung besonders verankert ist. Die deutschen Medien haben die Situation in Venezuela immer aus der Sicht

Internationales

© Andrés E. Azpúrua / CC BY-NC-ND / flickr.com

funktionäre. Die Forderungen nach Reformen aus der Basis wurden leider nicht gehört. So entstand eine immer größere Ablehnung gegenüber der Bürokratie. Man lehnte die Parteiführung ab und forderte mehr Bürgerpartizipation, Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise und eine Reform des Produktionssektors. Die Nichtwahl der PSUV aus den eigenen Reihen war die Konsequenz.

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der rechten Opposition gezeigt. So ist Kritik an der chavistischen Regierung nichts Neues. Die internationale Presse vertritt die Interessen der Bourgeoisie. Natürlich kann sie die Errungenschaften der Bolivarischen Missionen, die eine Besserung der Lebenslage und Integration der Ärmsten beinhalteten, nicht so wertschätzen, wie wir das tun. Aber die Situation der Unterdrückten zu verbessern ist, ungeachtet der konkreten Hilfe, auch der erste Schritt, um den Kapitalismus längerfristig als Ganzes anzugreifen. Und was wurde von links an der linken Regierung kritisiert? Im Kern war der große Umschwung, der revolutionäre Prozess, ein Kampf gegen die Tradition in Form des alten oligarchischen Systems. Es ging um eine Erneuerung mit sozialistischem Ziel. In diesem Zusammenhang war es ein fataler Fehler der PSUV, den bürgerlichen Staat in seinen Fundamenten nicht anzutasten. Man wartete darauf, dass er sich von alleine überflüssig macht. Stattdessen wurde der Staat während des revolutionären Prozesses aber immer stärker. Nicolás Maduro hätte als Nachfolger von Hugo Chávez »dem Volk dienen« und den Übergang zum Sozialismus vorantreiben sollen. Doch er nutzte seine Position als Blankoscheck, um inhaltlich mit dem Erbe und dem Testament von Chávez zu brechen. Chávez warf seinem Kabinett vor, sich bürokratisiert zu haben und von dem ursprünglichen Projekt abgewichen zu sein. Er wollte Strategien erarbeiten, diese Fehler zu beheben und den revolutionären Prozess fortzusetzen. Leider hat das nicht funktioniert. Heute erleben wir die Folgen davon. Wie hat die MUD, also die rechte Opposition, auf ihren Wahlsieg am 6. Dezember reagiert? Was kommt nun auf euch zu? Die MUD war selbst höchst überrascht, dass sie die Mehrheit im Parlament gewonnen hatte. Unter den möglichen Szenarien, die auf uns zukommen können, ist sicherlich die Initiative der Rechten, Präsident Maduro zu stürzen oder durch die Androhung eines Referendums zum Rücktritt zu bewegen. Was weder die Führung der MUD noch die der PSUV be-

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rücksichtigen, sind die Herzen und Köpfe der Menschen, die Basis des revolutionären Prozesses. Wir nennen es »das was sich unter der Wasseroberfläche bewegt«. Wenn die MUD die Wahlergebnisse als einen Triumph ihres Modells versteht, so übersieht sie das Brodeln in der Tiefe. Wenn nun die Führung der PSUV allerdings ebenso versagt und nicht in die Tiefe schaut, nicht die brodelnde Wut, die Enttäuschung und die Müdigkeit und die Ablehnung gegenüber der arroganten Führung erkennt, welche die venezolanische Bevölkerung als verantwortlich für den Hunger und die Missstände ansieht, so bereitet sie damit ihren politischen Untergang vor. Du bist in Marea Socialista organisiert, einem marxistischen Kollektiv, das von 2007 bis Mai 2015 in der PSUV agiert hat. Wie habt ihr diesen Wandel der letzten Jahre verfolgt und wie habt ihr reagiert? Die Anerkennung von Marea Socialista als legale, eigenständige Parteiorganisation wurde vom Nationalen Wahlrat mit fadenscheinigen Argumenten abgewiesen. Linke kritische Stimmen innerhalb der PSUV wurden in den letzten Jahren systematisch unterdrückt. Angesichts der von der Parteimaschinerie von oben aufgestellten Kandidaturen für die Parlamentswahlen haben wir uns entschieden, eigene Kandidaten aufzustellen. Wir wollten mit einer eigenen Kandidatur garantieren, dass zumindest an einer Stelle das ursprüngliche bolivarische Programm von Chávez vertreten wird. Wir brauchen ehrliche Kandidaten, die nicht nur Privilegien sammeln, die den Kampf der Bevölkerung begleiten und nicht dem neoliberalen Druck nachgeben und die Revolution verraten. Die Bewegung und der Prozess wurden von innen zerstört, durch das verantwortungslose Handeln der Parteispitze. Eine Alternative war nötig, auch wenn diese innerparteilich bekämpft wurde. Die Wahlen sind ja nun vorbei und verloren … Deswegen beschränkt sich das Programm von Marea Socialista auch nicht nur auf Wahlen. Es geht darum, langfristig eine antikapitalistische Alternative und eine »dritte Stimme« jenseits der PSUV und der MUD aufzubauen, um den revolutionären Prozess fortzuführen. Wir brau-

HINTERGRUND 21. Januar 1989: Caracazo - Aufstand gegen die Auflagen des IWF (teurere Fahrpreise und Lebensmittel) in den Großstädten Venezuelas 6. Dezember 1998: Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten (Zwischen 1998-2013 gewinnt die chavistische Bewegung insgesamt 17 Parlaments-, Bürgermeister-, Regionalwahlen, sowie 2 Referenden) Dezember 1999: Bevölkerung stimmt per Referendum der neuen bolivarischen Verfassung zu 11. bis 13. April 2002: Putsch gegen Chávez scheitert durch eine erfolgreiche Gegenbewegung 2003 bis 2004: Einführung der kostenlosen und umfassenden Gesundheitsversorgung und des kostenfreien Hochschulzugangs für alle ohne Studienplatzbeschränkungen. Programm zur Bereitstellung von sozialem Wohnraum für die gesamte Bevölkerung 30. Januar 2005: Chávez spricht beim Weltsozialforum erstmals vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« 3. Dezember 2006: Hugo Chávez gewinnt abermals die Wahlen und treibt nun die Zusammenführung der linken Parteien voran. Januar bis März 2008 wird die PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) gegründet. 4. Dezember 2012; Chávez wird mit 55 Prozent der abgegebenen Stimmen erneut als Präsident bestätigt und hätte damit bis 2019 weiter regieren können 5. März 2013: Chávez stirbt 14. April 2013: Wahl von Nicolás Maduro zum neuen Präsidenten und Nachfolger von Chávez 6. Dezember 2015: Die rechte Opposition gewinnt die Parlamentswahlen mit 56,3 Prozent (PSUV: 40,9 Prozent) und stellt damit 109 von 167 Abgeordneten im neuen Parlament

chen • breite Bündnisse und eine starke Bewegung, damit wir gegen die Spaltung der Bevölkerung ankämpfen können. Dazu braucht es Bürgerversammlungen und demokratische Einbindung der Bevölkerung, einen rigorosen Kampf gegen die Korruption, eine Mindestversorgung mit Lebensmitteln und medizinischer Betreuung sowie einen Mindestlohn, der den Lebensunterhalt der Familien tatsächlich sichert. Der rhetorische Appell an die vermeintliche Macht des Volkes wird in Venezuela derzeit für die Interessen der Staatsbürokratie missbraucht. Doch auch wenn es widersprüchlich erscheint: Genau das ist auch ein Zeichen, dass der revolutionäre Prozess noch lebt. Denn der bolivarische Prozess wird immer leben, solange die Menschen in Venezuela aufbegehren. ■


NEUES AUS DER LINKEN

Ohnmacht oder Gegenmacht Im September wird in Berlin gewählt. Der Landesvorstand der LINKEN strebt trotz des Debakels der letzten Regierungsbeteiligung erneut eine Koalition mit der SPD an. Die Folgen könnten dieses Mal noch verheerender sein Von Werner Halbauer, Lucia Schnell und Irmgard Wurdack as Kollatz-Ahnen (SPD) betonte bei der Präsentation des Haushaltsentwurfs 2016/17, dass der Senat seiner Linie des Sparens treu bleibe. Zwar sind einige wenige Zugeständnisse vorgesehen, um dem steigenden Bedarf durch das Bevölkerungswachstum gerecht zu werden, aber sie sind absolut unzureichend. So will der SPD/CDU-geführte Senat dem »großen Investitionsstau in Bereichen, in die zum Teil zehn bis fünfzehn Jahre lang nicht mehr ausreichend investiert wurden« mit »Investitionspaketen für die zentralen Felder Berlins« begegnen. Es ist jedoch offensichtlich, dass die geplante Erhöhung der Mittel von 1,4 auf 1,7 Milliarden Euro dafür nicht ausreichen wird. Der Betriebsrat des landeseigenen Krankenhauskonzerns Vivantes sieht allein für diesen Betrieb einen Investitionsstau von einer Milliarde Euro. Es fehlen in Berlin mindestens 100.000 Wohnungen im preiswerten Segment. Der Senat plant zwar den Bau von 10.000 Wohnungen jährlich, davon sollen jedoch nur dreißig Prozent im unteren Preissegment gefördert werden. Im öffentlichen Bereich, also bei den Krankenhäusern, Hochschulen, Schulen, Kitas und in der Verwaltung fehlen mindestens 10.000 Stellen, geplant sind aber lediglich 4.000 zusätzliche. Die Personalausgaben sollen um etwa eine Milliarde auf 8,3 Milliarden Euro erhöht werden. Das ist angesichts der Forderungen der Gewerkschaften nach schneller Angleichung der Tarife in den ausgegliederten Betrieben und der Besoldungsanpassung des Berliner öffentlichen Dienstes an Bundesniveau ebenfalls unzureichend. Bei dieser Auflistung sind die Herausforderungen durch die hohe Zahl der Geflüchteten noch nicht berücksichtigt. Die Bundesregierung wird nur einen kleinen

Rot-rot war nicht das kleinere Übel

Die Streichung der Vermögenssteuer 1996 und die stufenweise Senkung des Spitzensteuersatzes von 2001 bis 2005 von 53 auf 42 Prozent haben den finanziellen Spielraum der Länder und Kommunen drastisch eingeschränkt. Als eigene Einnahmequellen haben sie nur die Gewerbesteuer, die Grunderwerbssteuer, die Gebühren für Dienstleistungen und den Verkauf von Eigentum. Einer Kreditaufnahme an den Finanzmärkten setzt die Schuldenbremse enge Grenzen.Der Berliner Finanzsenator Matthi-

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Lucia Schnell ist Sprecherin der LINKEN in Berlin-Neukölln.

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Werner Halbauer ist aktiv in der LINKEN in Berlin-Neukölln.

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Irmgard Wurdack ist Mitglied der LINKEN und aktiv in der Soliarbeit mit Geflüchteten.

Neues aus der LINKEN

I

m Herbst wird das Berliner Abgeordnetenhaus neu gewählt. Der Landesvorsitzende und Spitzenkandidat der LINKEN, Klaus Lederer, beabsichtigt, seine Partei wieder in Regierungsverantwortung zu führen und erneut eine rot-rote oder auch eine rot-rot-grüne Koalition zu bilden. Er sieht einen Unterschied zwischen der Zeit der letzten rot-roten Koalition von 2002 bis 2011, die einen harten Kürzungskurs fuhr, und der gegenwärtigen Situation: »Für das Sparen gab es damals Gründe«, sagte er gegenüber der »Berliner Zeitung«. »Wir hatten 2001 eine Deckungslücke von mehreren Milliarden Euro im Haushalt. Heute haben wir Überschüsse.« Tatsächlich erzielte der Senat 2015 einen Haushaltsüberschuss von knapp einer halben Milliarde Euro. Doch der Verteilungsspielraum hat sich dadurch kaum vergrößert. Berlin hat etwa sechzig Milliarden Euro Schulden. Nicht nur darum ist die Orientierung auf eine Regierungsbeteiligung problematisch. Die Landespolitik hat kaum Möglichkeiten, die Schulden abzubauen. Denn im Wesentlichen bestimmt die Steuerpolitik des Bundes die finanziellen Spielräume der Länder und Kommunen. Ein Politikwechsel auf Landesebene setzt eine Umverteilung auf Bundesebene voraus.

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Teil dieser Kosten tragen und somit die soziale Konkurrenz unter den Opfern der kapitalistischen Profitwirtschaft weiter verschärfen. Viele Mitglieder unserer Partei, aber auch Bündnispartner aus Bewegungen und Gewerkschaften, argumentieren, dass sich DIE LINKE dennoch an einer Regierung beteiligen sollte, auch wenn sie nur einen Teil ihrer Forderungen durchsetzen könne. Dies sei immer noch besser als die Fortsetzung der Regierung von SPD und CDU.

Ohne Mindestbedingungen an eine Regierungsbeteiligung droht ein Verrat der LINKEN Dieses Argument übersieht jedoch, dass mit einem unzureichenden Regierungshaushalt nicht die berechtigten Forderungen vergessen sind. Auch noch so gutes Verhandlungsgeschick ändert nichts an den Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Gewerkschaften und Bewegungen werden auch nach einer Regierungsbildung versuchen, Forderungen durchzusetzen, die zudem oft noch im Programm der LINKEN festgehalten sind. Und die Berliner LINKE muss sich an diesen Kämpfen beteiligen, wenn sie die Erfahrungen der letzten Regierungsbeteiligung nicht wiederholen will. Der rot-rote Senat der Jahre 2002 bis 2011 hat die Löhne im öffentlichen Dienst radikal gekürzt und über 25.000 Stellen abgebaut. Er hat viele Bereiche privatisiert und die Beschäftigten zu Dumpinglöhnen neu eingestellt. Er hat 150.000 Wohnungen privatisiert. Dagegen sind die positiven Ergebnisse der Regierungsbeteiligung der LINKEN zu vernachlässigen. Das Ziel des Koalitionspartners SPD war es, den Berliner Haushalt auszugleichen. Anstatt die Reichen für die sozialen Aufgaben der Gesellschaft heranzuziehen, fand dies auf Kosten der Bevölkerung statt. Die Berliner LINKE beteiligte sich an der unsozialen Kürzungspolitik, immer mit dem Verweis auf das angeblich größere Übel einer Koalition aus SPD und CDU. Doch die rot-rote Regierung war nicht das kleinere Übel. Sie war das Übel, das von den Betroffenen der Kürzungsmaßnahmen bekämpft wurde. Zudem gab es zahlreiche Streiks, Demonstrationen und Bewegungen, die DIE LINKE als Regierungspartei ignorierte oder sogar bremste. Dadurch verspielte die Partei nicht nur viel Vertrauen, sondern machte sich ihre wichtigsten Bündnispartner zu Gegnern. Die einzige Alternative wäre der Bruch der Koalition gewesen. Doch diesen Schritt wollte die Parteiführung mit allen Mitteln verhindern. Die Folgen für die Berliner LINKE und ihr Potenzial als Protestpartei waren fatal. Anstatt den Widerstand aus der Bevölkerung gegen die unsoziale Politik mit aufzubau-

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en, um so die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach links zu verschieben, rechtfertigte sie diese Politik und setzte sie mit durch. So brach die Partei fast alle Wahlversprechen, halbierte die Wählerstimmen innerhalb von zehn Jahren beinahe und schwächte sich selbst erheblich. Viele Mitglieder und Aktive kehrten ihr den Rücken. Die Schlussfolgerung des ehemaligen Wirtschaftssenators Harald Wolf, dass die »Partei im Staatsapparat« und die »Partei in der Bewegung« zusammenspielen könnten, ist eine Illusion. Sollte die LINKE zusammen mit Bewegungen außerparlamentarisch Druck auf die eigene Regierung erzeugen, würde die SPD sich das nicht ohne Gegenleistungen an anderer Stelle bieten lassen. Die Wut der ärmeren Bevölkerung über die unsoziale Politik in Berlin ist spürbar. Doch der organisierte Widerstand dagegen ist noch schwach. Die teilweise erfolgreichen Streiks bei der Bahn oder an der Charité sowie die erfolgreichen Volksbegehren haben stellenweise gezeigt, dass organisierter Widerstand erfolgreich sein kann. DIE LINKE hat in den letzten Jahren mit der Unterstützung dieser Bewegungen gezeigt, dass dies eine realistische, wenn auch mühsame Arbeit ist, die uns zusammen mit unseren Bündnispartnern voran gebracht hat und auch weiter voranbringen kann. So konnte die LINKE auch einen Teil des durch die Regierungsbeteiligung verlorenen Vertrauens zurückgewinnen. Es wäre im Wahlkampf falsch, eine Regierungsbeteiligung der LINKEN von vornherein auszuschließen. Denn ihre Wählerinnen und Wähler erwarten von einer eventuell möglichen rot-roten oder rot-rot-grünen Regierung, dass diese die drängenden Probleme der Stadt angeht. Deshalb muss DIE LINKE im Wahlkampf neben einer scharfen Kritik an der Politik der SPD und deren Juniorpartner CDU politische und soziale Mindestbedingungen für eine Beteiligung an der Regierung stellen. Dazu gehören zum Beispiel ein soziales Wohnungsprogramm für mindestens 100.000 Wohnungen durch Neubau und die Rekommunalisierung von Wohnungsbeständen, mindestens 10.000 neue Stellen im öffentlichen Bereich zu Tarifbedingungen, keine weitere Privatisierungen sowie die Rückholung der ausgegliederten Belegschaften. Außerdem müssen das vollständige Bauverbot auf dem Tempelhofer Feld wiederhergestellt und Geflüchtete in selbstbestimmten Wohnungen statt in Lagern, wie auf dem Tempelhofer Feld geplant, untergebracht werden. Keine Abschiebung von Roma und Sinti, kommunales Wahlrecht für Nichtdeutsche und keinerlei Erschwernisse für die Durchführung von Volks- und Bürgerbegehren sind weitere Mindestbedingungen, die DIE LINKE für eine Regierungsbeteiligung stellen müsste. So könnte sie SPD und Grüne unter Druck setzen, ohne bei einem Scheitern der Gespräche über eine Koalition das Gesicht zu verlieren.


Mit einer möglichen Regierungsbeteiligung droht zudem noch eine viel größere Gefahr als 2001 oder 2007, nämlich eine Schwächung im Kampf gegen die AfD und andere Rassisten, die den Mangel an Wohnraum, die unzureichende soziale Absicherung und Lohndumping gegen die Geflüchteten wenden wollen. Wenn DIE LINKE dann in der Regierung soziale Missstände mit der Haushaltsnotlage rechtfertigt, anstatt den Kampf von unten gegen die Regierung und die Reichen und Konzerne mitzuorganisieren, würde sie als Kraft gegen die Nazis und Rassisten erheblich geschwächt. Die Frage der Regierungsbeteiligung ist aber nicht nur eine taktische nach der Umsetzbarkeit bestimmter Reformen. Sie ist verbunden mit der strategischen Frage nach einer Alternative zum kapitalistischen

System. Nur durch den Aufbau einer organisierten Kraft der Ausgebeuteten und Unterdrückten lässt sich die notwendige gesellschaftliche Gegenmacht zum Sturz des Kapitalismus entwickeln. DIE LINKE ist die einzige politische Partei mit einem größeren gesellschaftlichen Einfluss, die das Potenzial hat, Protest gegen die kapitalistische Profitlogik und gegen Krieg und Rassismus zu artikulieren und Menschen für den Widerstand von unten zu organisieren. Doch um dieses Potenzial nutzen zu können, darf sie sich nicht in die Falle des kleineren Übels begeben. Rosa Luxemburg schrieb bereits 1898: »Fangen wir aber an, im Sinne des Opportunismus‚ ›dem Möglichen‹ unbekümmert um die Prinzipien und auf dem Wege staatsmännischer Tauschgeschäfte nachzujagen, geraten wir bald in die Lage des Jägers, der das Wild nicht erlegt und zugleich die Flinte verloren hat.« Trotz der gravierenden Schwächen in der Positionierung des Landesverbands Berlin ist es wichtig, sich mit viel Energie in den Wahlkampf einzubringen und zur Wahl der LINKEN zu mobilisieren. Sie ist die einzige Partei, die linke Antworten auf die kapitalistische Krise gibt und der in Berlin dominierenden SPD eine Alternative von links entgegenstellen kann. Die Erfahrungen der LINKEN in Neukölln in den vergangenen Wahlkämpfen haben gezeigt, dass es trotz falscher Weichenstellungen in der Landesführung möglich ist, neue Wählerinnen und Wähler und Mitglieder zu gewinnen – nämlich mit einem engagierten, antikapitalistischen Wahlkampf, der die SPD nicht mit Kritik verschont. ■

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Bei »MARX IS' MUSS« diskutiert unsere Autorin Lucia Schnell mit Harald Wolf, dem ehemaligen Senator für Wirtschaft, Technologie und Frauen von der LINKEN, über »DIE LINKE vor den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin«.

Neues aus der LINKEN

DIE LINKE in Brandenburg hatte für ihre Regierungsbeteiligung seit 2009 schon im Vorfeld der Wahlen ihre Forderungen für die SPD akzeptabel gemacht. Diese Politik der »Regierung im Wartestand« droht nun auch in Berlin, wenn die Partei, wie im Entwurf des Wahlprogramms, auf scharfe Kritik an der neoliberalen Politik der SPD verzichtet und statt konkreter Bedingungen für Regierungsbeteiligung einen unverbindlichen Forderungskatalog aufstellt. Auch bleibt im Dunkeln, wie die Berliner SPD, die all die Jahre die Richtlinienkompetenz für die neoliberale Politik hatte, in Koalitionsgesprächen mit der Linkspartei dazu gebracht werden soll, auf einmal die gegenteilige Politik zu betreiben. Ohne konkrete Mindestbedingungen an eine Regierungsbeteiligung droht erneut eine Situation, in der unsere Partei von der SPD politisch vereinnahmt und in ihrer Glaubwürdigkeit geschwächt wird. Ein zentrales Motiv der SPD, die Linkspartei in die Regierung zu nehmen, ist die Einbindung der stärksten linken Oppositionspartei. Eine derartige Konstellation führe dazu, dass DIE LINKE »gemäßigter« auftrete, sagte der SPD-Vize Ralf Stegner.

© Björn Kietzmann / CC BY-NC-ND / flickr.com

Protest für den Erhalt der Kinder-, Jugend, und Sozialeinrichtungen in freier Trägerschaft in Berlin-Pankow Ende 2008. Die Kürzungen des rot-roten Senats hatten dazu geführt, dass der Bezirk unter Zwangsverwaltung kam

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Schwerpunkt Krieg gegen Terror

50 54 57

Islamischer Staat Wer ist schuld an seinem Aufstieg?

Bundeswehr Deutschland rĂźstet auf

Syrien FĂźr den Abzug aller Truppen


(Nichts als) Zerstörung, Verzweiflung und Wut Die Bilanz von fast fünfzehn Jahren »Krieg gegen den Terror« ist verheerend. Sechs Thesen darüber, warum er keinen Frieden bringt – und den imperialistischen Mächten trotzdem nützt Der »Krieg gegen den Terror« ist selbst nichts anderes als Terror. Er hat eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt und der Bevölkerung im Nahen Osten nur Leid gebracht. Die Bilanz des »Kriegs gegen den Terror«, den USPräsident George W. Bush nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begann, ist verheerend. Die USA und ihre Verbündeten haben seitdem zwei mehrheitlich von Muslimen bewohnte Länder, Afghanistan und Irak, militärisch besetzt. Darüber hinaus haben sie Spezialeinheiten in zahlreiche muslimische Länder geschickt, einen verdeckten Drohnenkrieg gegen die Bevölkerungen Pakistans, Jemens, Somalias und des Sudans geführt, dessen Opferzahlen der Geheimhaltung unterliegen, und Hunderte von Muslimen und Muslimas ohne gerichtliche Verurteilung inhaftiert und gefoltert. Die Kriegsführung des Westens bedeutet Terror für die Bevölkerung der betroffenen Länder. Im Jahre 2001 einigten sich die EU-Justizminister auf eine gemeinsame Definition von Terrorismus. Demnach liegen terroristische Straftaten dann vor, »wenn sie mit dem Ziel begangen werden, die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern oder öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation unberechtigterweise zu Tun oder Unterlassen zu zwingen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören«.Nach dieser Definition ist der »Krieg gegen den Terror« selbst Terror. Laut einer Untersuchung der Organisation Internationale Ärzte

für die Verhütung des Atomkriegs belaufen sich die Opferzahlen von 2001 bis 2014 im Irak, Afghanistan und Pakistan, bei konservativer Auslegung der Quellenlage, auf eine Million Tote und ebenso viele Verletzte. Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser und andere öffentliche Infrastruktur wurden zerstört. Millionen von Menschen haben ihre Lebensgrundlage verloren und wurden in die Flucht getrieben. Zu Recht sagte der britische Schauspieler Peter Ustinov im Jahr 2002: »Terrorismus ist der Krieg der Armen und Krieg ist der Terrorismus der Reichen.«

Schätzungen gehen von einer Million Toten aus

2.

Der weltweite Anstieg des Terrorismus ist die direkte Folge des

»Kriegs gegen den Terror«. Der »Krieg gegen den Terror« produziert mehr Terrorismus, anstatt ihn einzudämmen. Bereits die Gründung von Al-Kaida war die Folge westlicher und russischer Einmischung in Afghanistan und der Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien im Zuge des Golfkriegs. In Afghanistan sind die Taliban heute stärker denn je seit ihrem Sturz 2001. Zudem konnte Al-Kaida in vielen weiteren Ländern Fuß fassen. Der sogenannte »Islamische Staat« ist erst infolge der US-Invasion im Irak 2003 entstanden, nachdem die Besetzungsmacht dort ein religiös-ethnisch ausgerichtetes politisches System etablierte, in dem der sunnitische Bevölkerungsteil ausgegrenzt und unterdrückt wird. Seit 2001 hat es mehr Selbstmordattentate gegen westliche Einrichtungen in Afghanistan, Irak und anderen muslimischen Ländern gegeben als in all den Jahren davor. Auch die der US-Regierung nahestehende Zeitschrift »Foreign Policy« hat erkannt:

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Jules El-Khatib ist Mitglied im Landesvorstand der LINKEN in NRW und Autor des Portals »Die Freiheitsliebe«.

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Daniel Kerekes ist Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN in Essen und Autor des Portals »Die Freiheitsliebe«.

SCHWERPUNKT Krieg gegen Terror

1.

Von Jules El-Khatib und Daniel Kerekeŝ

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»Mehr als 95 Prozent aller Selbstmordattentate sind eine Reaktion auf fremde Besatzung.« Seit Beginn des »Kriegs gegen den Terror« sind die Selbstmordanschläge weltweit dramatisch gestiegen – von etwa 300 in den Jahren 1980 bis 2003 auf 1800 von 2004 bis 2009. Die große Mehrheit der Selbstmordattentäter stammt aus Regionen, die durch ausländische Truppen bedroht sind.

Tote durch Terroranschläge

Zahl der Toten im Monat November 2014 im Zusammenhang mit dschihadistischer Gewalt: Fast alle Opfer stammen aus muslimischen Staaten

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Konkurrenz mit dem neuen Gegenspieler China die Energieressourcen des Nahen Ostens unter direkte Kontrolle zu bringen. Dazu empfahl ein Strategiepapier aus dem Jahr 1999 die »Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens«, das sogenannte »Projekt für ein neues Amerikanisches Jahrhundert«. Unter den Verfassern befanden sich Bushs späterer Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney. Aber auch andere Länder verfolgen unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung ihre Machtinteressen. Frankreich versuchte in den vergangenen Jahren, seinen Einfluss in Afrika zurückzugewinnen – im Wettstreit mit China und den USA. Das ist die Ursache der NATO-Interventionen in Libyen und Mali. Auch Russland nutzt den »Krieg gegen den Terror« als Argument für den Feldzug in Tschetschenien. Tatsächlich geht es darum, den Einflussbereich des Kremls gegen den Westen zu erhalten.

© Statista / BBC World Service und dem International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) / CC BY-ND

3.

Der »Krieg gegen den Terror« dient dem Westen als Vorwand, um seine Interessen in strategisch wichtigen Regionen durchzusetzen. Im »Krieg gegen den Terror« ging es nie um Terrorismus oder Menschenrechte, sondern um geostrategische Interessen. Die Anschläge von 2001 gaben der Regierung Bush den Vorwand, etwas zu tun, was die neokonservativen Vordenker dem Präsidenten bereits vor seiner Wahl empfohlen hatten: in der

»Krieg gegen den Terror« ist zur Standardbegründung für jede militärische Intervention unserer Zeit geworden. Auch die chinesische Regierung gibt vor, einen »Krieg gegen den Terror« zu führen, wenn sie militärisch gegen Uiguren oder Tibeter vorgeht – genauso die indische Regierung in Kashmir oder die philippinische auf der Insel Mindanao. Aber die Maßstäbe hat der Westen gesetzt, der seinen Anspruch verteidigt, überall auf der Welt mit Waffengewalt seine Interessen durchzusetzen. Auch Deutschland will hier nicht abseits stehen. Wie es im Weißbuch der Bundeswehr steht, geht es dabei um den »Freien Zugang zu Märkten und Rohstoffen«. Aktuell befinden sich 3000 deutsche Soldaten in sechzehn vom Bundestag mandatierten Einsätzen außerhalb des NATO-Bündnisgebietes. Deutschland ist heute ein ernstzunehmender militärischer Akteur, der direkt, oder indirekt durch Waffenhandel, am Tod von Unschuldigen beteiligt ist. Dadurch rückt die Bundesrepublik auch stärker in den Fokus von internationalen terroristischen Gruppen, die ihre Anschläge mit den Angriffen auf ihre Heimatländer begründen.

4.

Um die aggressive Außenpolitik der westlichen Regierungen im Nahen und Mittleren Osten zu rechtfertigen, wird »der Islam« zum neuen Feindbild aufgebaut. In wenigen Punkten waren sich die imperialistischen Staaten in den letzten Jahren so einig wie beim neuen Feindbild des Islam. Das Feindbild wird nicht nur bei innenpolitischen Auseinandersetzungen aufgebauscht und zur Spaltung der Bevölkerung eingesetzt, auch in außenpolitischen Positionierungen muss es immer wieder herhalten. Der Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan wurde von den westlichen Staaten nicht mit dem Interesse an afghanischen Ressourcen begründet, sondern mit dem Kampf für Demokratie und Frauenrechte, die angeblich durch den Islam bedroht würden. Sozialdemokratische bis rechte Parteien instrumentalisieren das Feindbild Islam, um von den wahren Ursachen für Kriege abzulenken, nämlich der Ausdehnung des eigenen Einflussbereichs. Es verwundert nicht, dass Bertelsmann in einer Studie zu erschreckenden Ergebnissen kommt: 57 Prozent der nichtmuslimischen Befragten halten den Islam für »sehr bedrohlich« oder »bedrohlich«. Auf die Frage, ob der Islam in die westliche Welt passe, antworten 61 Prozent mit »eher nicht« oder »gar nicht«. Der Kampf gegen antimuslimischen Rassismus ist daher nicht nur notwendig, um die Unterdrückung der größten religiösen Minderheit zu beenden, sondern auch ein wichtiger Schritt, um Kriegspropaganda zu entlarven. Diesen Kampf sollten wir gemeinsam mit den Betroffenen führen und so eine Bewegung schaffen, die sich gegen Rassismus und Krieg stellt.


land und weltweit muss gegen jede Form von Imperialismus und Krieg kämpfen. Im syrischen Stellvertreterkrieg geht es keinem der beteiligten Staaten um das Wohl der Menschen. Alle Bomben treffen die Bevölkerung und dienen somit auch der Propaganda des IS. Als Sozialisten ist es nicht unsere Aufgabe, einen Teil dieser Bomben zu verharmlosen, sondern die Kräfte zu stärken, die sich gegen Krieg und Militarismus stellen. Der IS kann nicht von außen gestoppt werden. Wer den IS besiegen will, muss sich für den Aufbau einer Massenbewegung gegen Diktatur, Krieg und Unterdrückung einsetzen. Die Streiks im Irak waren ein Zeichen für eine Überwindung der religiösen Spaltung. Die Bewegungen in der arabischen Welt haben gezeigt, dass sie die Verhältnisse durchbrechen und demokratische Gesellschaften begründen können. Nur ein neuer arabischer Frühling, der für soziale und demokratische Ziele kämpft, bietet einen Ausweg aus der momentan aussichtslos erscheinenden Situation im Nahen Osten. Die Aufgabe der Linken im Westen ist es, eine solche Bewegung zu stärken und gleichzeitig gegen die von hier aus geführten Kriege zu kämpfen und dem antimuslimischen Rassismus entschieden entgegenzutreten. ■

Das Bild des Häftlings Satar Jabar wurde zum Symbol des Folterskandals im Gefängnis von Abu-Ghuraib im Irak. US-Soldaten drohten Jabar an, dass er durch Elektroschocks getötet würde, falls er von der Kiste steige. Als das Foto an die Öffentlichkeit gelangte, leugnete Washington, dass die Kabel stromführend gewesen seien. Die systematische Folter durch die USA beschert dschihadistischen Gruppen weiteren Zulauf

SCHWERPUNKT Krieg gegen Terror

6.

Im »Krieg gegen den Terror« sollten sich Linke weder auf der Seite der USA und der EU noch auf der Russlands positionieren. Nur eine Wiederbelebung der demokratischen Massenbewegungen im Nahen und Mittleren Osten kann eine Perspektive für Frieden und soziale Gerechtigkeit bieten. Die deutsche Linke hat die amerikanischen und französischen Angriffe auf Syrien klar verurteilt, weniger deutlich war dagegen die Distanzierung von russischen Angriffen. Die globale Rolle des russischen Kapitals ist nicht vergleichbar mit der amerikanischen, aber militärisch ist Russland nach wie vor die zweitmächtigste Atommacht weltweit und man muss sich genauso gegen die russische Aggression stellen. Dennoch muss man sich auch gegen die russische Aggression stellen. Die Linke in Deutsch-

© wikimedia / CC BY

5.

Den »Krieg gegen den Terror« nutzen Regierungen als Begründung, um Bürgerrechte zu beschneiden. Doch die Einschränkung der Freiheitsrechte schützt nicht vor Terrorismus. Seit Beginn des »Kriegs gegen den Terror« verschärfen weltweit Regierungen die Antiterrorgesetze. In der Bundesrepublik nutzte der damalige sozialdemokratische Innenminister Otto Schily bereits nach dem 11. September 2001 die Gunst der Stunde und peitschte zwei »Sicherheitspakete« durchs Parlament. Seitdem haben die Behörden ein riesiges Arsenal an Überwachungsmöglichkeiten, vom großen Lauschangriff bis zur Rasterfahndung. Besonders betroffen sind Menschen ohne deutschen Pass. Der Terrorismusverdacht allein kann für eine Ausweisung ausreichen. Eine rechtliche Überprüfung muss nicht abgewartet werden. Das heißt: Die Unschuldsvermutung gilt für Zugewanderte nicht. Nach den Anschlägen von Paris haben sich nun in Deutschland fast alle Politikerinnen und Politiker für den weiteren Ausbau von Polizei und Geheimdiensten ausgesprochen. Dabei gehören die Sicherheitsgesetze in Deutschland ohnehin bereits zu den schärfsten in der EU. Die Internationale Juristenkommission untersuchte in einer dreijährigen Studie in vierzig Ländern den Effekt von Antiterrormaßnahmen. Ihre Bilanz: Es sei zu Folter, willkürlichen Inhaftierungen, unfairen Prozessen, langer Haft ohne Prozess, zu einer Militarisierung der Justiz und zu Straffreiheit für schwere Menschenrechtsverletzungen in vielen Teilen der Welt gekommen. Das beunruhigende Fazit des Berichts lautet: »Außerordentliche Maßnahmen, die gegen den Terrorismus gerichtet sind, sickern bereits in den Normalbetrieb des Staats und das alltägliche Justizsystem ein. Mit langfristigen Konsequenzen für den Rechtsstaat und die Achtung von Menschenrechten.«

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Schwerpunkt

Vor wenigen Jahren kannte niemand den Islamischen Staat (IS). Heute kontrolliert die Gruppe große Gebiete in Irak und Syrien. Wir trafen Nahost-Expertin Anne Alexander und sprachen mit ihr über den Aufstieg des IS, seine Ziele und die Frage, wie er am besten bekämpft werden kann Interview: Yaak Pabst Was bedeutet der Vormarsch des IS für die Bewohner des Nahen Ostens? Es gibt eine Tendenz in den Medien, bei westlichen Regierungen und einigen Regierungen des Nahen Ostens, den IS als größte Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit der ganzen Region, wenn nicht sogar der Welt, darzustellen. Das Problem mit dieser Sichtweise ist, dass dabei jene Prozesse ausgeblendet werden, die dem Erfolg des IS zugrunde liegen und dessen Projekt, einen eigenen Staat aufzubauen, ermöglichen. Ohne sie zu erklären, ist es aber sehr schwer einzuschätzen, was der Aufstieg des IS für die Region bedeutet. Was sind die Gründe für den Aufstieg des IS? Ich glaube, wir müssen drei grundlegende Phänomene betrachten: erstens die Auswirkungen der verheerenden US-amerikanischen Intervention in Irak 2003; zweitens die Kette von Revolutionen und Konterrevolutionen seit 2011 in der ganzen Region – und besonders in Syrien; und drittens die Entstehung eines internationalen Netzwerks dschihadistischer Aktivisten und Kämpfer seit der Internationalisierung des Afghanistankriegs

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Anne Alexander

Anne Alexander lebt in Großbritannien und beschäftigt sich schon lange mit dem Nahen Osten. Sie ist Redakteurin des »Middle East Solidarity magazine«, Mitbegründerin der Egypt Solidarity Initiative und gehört der Redaktionsleitung des »International Socialism Journal« an. Im Jahr 2014 veröffentlichte sie gemeinsam mit Mostafa Bassiouny das Buch »Bread, Freedom, Social Justice: Workers and the Egyptian Revolution«.

in den 1980er Jahren. Der IS wird durch all diese Prozesse geprägt. Seine hervorstechende Rolle erklärt sich zum Teil dadurch, dass er sie alle zusammenbringt. Wie konnte ihm das gelingen? In Irak baute Abu-Mussab al-Sarkawi Anfang der 2000er Jahre eine Vorgängerorganisation des IS auf. Die USA verschafften ihm durch ihr militärisches Eingreifen überhaupt erst die Möglichkeit, eine der vielen bewaffneten Organisationen aufzubauen, die nach dem Sturz Saddam Husseins entstanden. Vielen in der Region erschien zudem die Behauptung des IS glaubhaft, dass sunnitische Iraker einem von den USA unterstützten schiitischen Regime in Irak nur Widerstand entgegensetzen könnten, indem sie gegen andere Glaubensgemeinschaften Krieg führten. Denn die USA setzten vor allem auf örtliche Verbündete, die Unterstützung auf Grundlage konfessioneller Spaltung organisierten. Was hat das mit Syrien zu tun? In Syrien richtete das Regime von Assad schwere Zerstörungen an, um die im Jahr 2001 entstandene Protestbewegung niederzuschlagen. Zugleich unternahm es bewusste Anstrengungen, den Aufstand in einen Bürgerkrieg zwischen Religionsgemeinschaften zu verwandeln. Das war


Während des Arabischen Frühlings hatten die Dschihadisten den geringsten Rückhalt

die Voraussetzung dafür, dass der IS militärisch und politisch aufsteigen konnte. Dieser Prozess ist mit den Ereignissen in Irak verbunden: Der Erfolg des IS in Syrien ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass seine Kämpfer viel erfahrener sind und im Gegensatz zu anderen syrischen Oppositionsgruppen Zugriff auf bessere Waffen haben. Zudem brachten sie aus Irak die tödliche Logik des Religionskriegs mit, was die Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften in Syrien noch verschärft hat. Und schließlich repräsentiert der IS die neueste Entwicklung internationaler dschihadistischer Netzwerke, die Kämpfer von einem Konflikt in den nächsten vermitteln und dabei militärische und politische Kenntnisse sowie unterschiedliche Organisationsmodelle weiterverbreiten. Hier gibt es wiederum Verbin-

Die westlichen Staatschefs behaupten, ihre Militäreinsätze gegen den Islamischen Staat seien nötig, um den Terror zu beenden. Was meinst du dazu? Die militärische Intervention des Westens einer der Hauptgründe für den Aufstieg des IS – und keine Lösung. Außerdem stärkt die ständige Ausweitung des »Kriegs gegen den Terror« die internationalen Dschihadisten-Netzwerke, auf die der IS angewiesen ist, eher, als dass er sie schwächt. Diese internationalen Kämpfer werden von der Idee angezogen, gegen eine imperialistische Intervention in muslimischen Ländern zu kämpfen – genauso wie einige in Europa von der grassierenden Islamophobie und der Unterdrückung muslimischer Minderheiten in westlichen Ländern angetrieben werden. Dasselbe gilt für das militärische Eingreifen Russlands in Syrien. Russland hat natürlich seine eigene Geschichte brutaler Unterdrückung in Tschetschenien. Aus diesem Krieg sind wichtige Dschihadkämpfer hervorgegangen, die sich später an anderen Konflikten beteiligt haben. Es ist interessant, dass der IS und al-Qaida im Jahr 2011, auf dem Höhepunkt der arabischen Revolutionen, den geringsten Rückhalt hatten. Denn damals, als Millionen Menschen auf die Straße gingen, demonstrierten und streikten, erschienen ihre militärischen Strategien völlig bedeutungslos.

SCHWERPUNKT Krieg gegen Terror

Marinestreitkräfte auf dem Flugzeugträger USS Theodore Roosevelt im Juni 2015: Sechs Monate lang war das Schiff in der Militäroperation gegen den IS in Syrien und im Irak im Einsatz. Insgesamt flog die US-Luftwaffe von hier aus 1812 mal zu Kampfeinsätzen aus, wobei sie 1085 selbststeuernde Bomben und Raketen abwarf

© U.S. Navy photo / CC BY / flickr.com

»Die militärische Intervention des Westens ist einer der Hauptgründe für den Aufstieg des IS«

dungen zu den ersten beiden Prozessen. Denn der spektakuläre militärische und politische Erfolg des IS in Irak und Syrien machte ihn für Kämpfer und Sympathisanten attraktiv, die sich sonst vielleicht anderen Gruppen angeschlossen hätten. Das alles bedeutet allerdings nicht, dass der Aufstieg des IS unausweichlich war oder dass er aufgrund dieser Prozesse seinen Einfluss auf den gesamten Nahen Osten ausweiten könnte. Die ersten beiden Prozesse betreffen wirklich ganz spezifisch Irak und Syrien (obwohl es auch Ähnlichkeiten mit der Situation in Libyen gibt). Die Konterrevolution in Ägypten hat aber ganz andere Ergebnisse gezeitigt, und die angebliche Präsenz einer mit dem IS verbundenen Gruppe im Sinai sollte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Entstehung eines staatsähnlichen Gebildes nach Art des IS in Ägypten aus mehreren Gründen äußerst unwahrscheinlich ist.

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Was sind die Unterschiede zum Faschismus? Der IS ist eine militärische Organisation, die aus religiös geprägten Bürgerkriegen in Syrien und im Nordirak hervorgegangen ist. In einigen Gegenden Syriens hat er eine konterrevolutionäre Rolle gespielt, indem er den noch vorhandenen Widerstand, der aus der Bewegung von 2011 hervorgegangen war, zerschlug oder in den Untergrund trieb. Allerdings ist er erst in einem späten Stadium des revolutionären Prozesses entstanden, als die Konterrevolution bereits weit fortgeschritten war und die Hoffnungen von 2011 weitgehend untergegangen waren. Anders als Hitlers NSDAP hat der IS keine eigene Massenbewegung aufgebaut oder sie in Auseinandersetzungen mit Geg-

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© Alisdare Hickson / CC BY-SA / flickr.com

Der Aufstieg des Islamismus hat in der Linken zu Verwirrung geführt. Viele sind sich unsicher, wie sie sich dazu verhalten sollen. Manche sehen im Islamismus sogar einen neuen Faschismus. Was meinst du? Ist der IS faschistisch? Ich finde nicht, dass der IS eine faschistische Bewegung ist. Er stellt eine ganz andere Organisationsform dar als klassische faschistische Bewegungen und ist aus einer ganz anderen Situation heraus entstanden. Weil der IS mit großer Grausamkeit regiert und seine spektakulären Verbrechen auch noch gerne filmt, wird er gerne mit dem Faschismus verglichen. Aber wir haben es hier mit einer anderen Art von Bewegung zu tun.

© Marco Gomes / CC BY-NC-SA / flickr.com

Welche Auswirkungen haben die »gezielten Luftschläge« des von den USA angeführten Bündnisses beispielsweise im syrischen Rakka? Militärisches Eingreifen hat immer katastrophale Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. In Rakka haben viele Flüchtlinge Unterschlupf gefunden, die andere Gegenden des Landes verlassen mussten. Sie stehen mit nichts in der Hand da. Viele sind in Hinblick auf ihre Grundversorgung, Nahrungsmittel und Sicherheit vollständig auf den IS angewiesen. Bei »gezielten Luftschlägen« werden unausweichlich Zivilisten getötet. Selbst wenn »nur« Ziele wie ölverarbeitende Fabriken getroffen werden, hat die Zivilbevölkerung darunter zu leiden, da sie das Öl für Elektrizität und fließendes Wasser benötigt.

»Was habt ihr aus dem Irak gelernt?«, steht auf dem Schild einer Demonstrantin, mit dem sie im Dezember 2015 gemeisam mit hunderten anderen Aktivisten vor dem britischen Parlamentsgebäude gegen die Kriegsbeteiligung in Syrien protestiert Unten: Ein Flüchtlingslager, in dem etwa 20.000 irakische und syrische Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden leben, die vor dem IS fliehen mussten

nern aus der reformistischen oder revolutionären Linken (oder welchen Kräften auch immer) geführt. Genauso problematisch ist es, die reformistischen islamistischen Bewegungen wie die Muslimbruderschaft mit Faschisten zu verwechseln. Der ägyptische Sozialist Sameh Naguib hat ausführlich hierüber geschrieben. Er erklärt sehr überzeugend, wie die Muslimbruderschaft während der ägyptischen Revolution zwischen Kompromissbereitschaft und Konfrontation mit dem »eisernen Herzen« des alten Regimes – also dem Militär, dem Innenministerium und dem Gerichtswesen – schwankte. Damit zeigten sie ein altbekanntes Muster, das Reformisten, ob es nun Sozialdemokraten, Nationalisten oder Islamisten sind, in Revolutionen an den Tag legen. Mohammed Mursi mag deutlich andere Ziele verfolgt haben als Salvador Allende in Chile Anfang der 1970er Jahre, aber sie machten beide denselben Fehler: Sie hoben eben jene Generäle ins Amt, von denen sie später gestürzt wurden. Das ist ein ganz anderes Verhältnis als zwischen den Nazis und dem deutschen Militär. Was ist der IS dann? Ich würde sagen: eine militärische und politische Bewegung, die das Ziel ver-


Die damaligen blutigen Auseinandersetzungen schiitischer und sunnitischer Gemeinschaften in Irak wurden durch den breiten Widerstand der Bevölkerung gegen die jeweils »eigenen« Mili-

zen beendet. Unter dem Eindruck des Arabischen Frühlings von 2011 riefen Gewerkschafter, Frauengruppen und andere Vertreter der irakischen Zivilgesellschaft zu Protesten auf. Die damalige Regierung Nuri al-Malikis ging mit Gewalt gegen diese demokratische Bewegung vor. Welche Rolle spielte deren Niederschlagung beim Aufstieg des IS? Es stimmt, dass die arabischen Revolutionen einen Widerhall in Irak fanden. Aber wir sollten nicht überschätzen, wie stark

Im Irak gab es Massenproteste

sich daran ähnliche gesellschaftliche Kräfte wie in den Massenbewegungen in Ländern wie Ägypten oder Tunesien beteiligten. Im Westen Iraks gab es eine bedeutende Protestbewegung, die das Ende der politischen und gesellschaftlichen Benachteiligung der sunnitischen Bevölkerung forderte. An diesen Protesten beteiligten sich Tausende, von denen einige durch Stammesnetzwerke mobilisiert wurden, andere durch politische Parteien wie die Irakische Islamische Partei, während wieder andere ihre Ablehnung der religiös spaltenden Strategien der Regierung al-Malikis zum Ausdruck bringen wollten. Es ist aber tatsächlich so, dass die blutige Unterdrückung dieser Proteste direkt zum Aufstieg des IS beitrug. Malikis Entscheidung, Soldaten zur Niederschlagung des Aufstands zu entsenden, beschädigte die Glaubwürdigkeit gemäßigter sunnitischer Politiker, die gehofft hatten, mit friedlichen Massenprotesten die Regierung in ihrem Sinne umstimmen zu können. Zudem eröffnete sie dem IS die Möglichkeit, sich als der militärische »Beschützer« von Städten wie Falludscha gegen die Regierungstruppen zu präsentieren. Der IS trägt den Staat im Namen. Aber kann er wirklich einen solchen bilden? Um sich kurzfristig als Staat zu etablieren, muss der IS einem solchen nur mehr ähneln als seine unmittelbare Konkur-

renz. Sehr viele Menschen in Syrien haben jahrelang in »staatslosen« Verhältnissen leben müssen, also einer endlosen Abfolge der Herrschaft rivalisierender kleiner Warlords, dem Zusammenbruch von Wirtschaft und Infrastruktur. Andere sind vor Fassbomben oder der von Regimetruppen drohenden Belagerung und dem Aushungern geflohen. Wenn es dem IS also als größte und erfolgreichste Kraft in der Region gelingt, so etwas wie Ordnung zu schaffen und für eine Grundversorgung und öffentliche Verwaltung zu sorgen, wird er wahrscheinlich zumindest stillschweigend von der Mehrheit derer akzeptiert werden, die sich in seinem Herrschaftsbereich befinden. Diesen Zustand jedoch in langfristige Stabilität zu übersetzen, wird aus militärischen wie politischen Gründen schwierig werden. Was für Gründe sind das? Die Befehlshaber des IS sind fähige Leute. Aber sie verfügen auch über ein beeindruckendes Talent, sich Feinde zu schaffen, sodass ihr Projekt des Staatsaufbaus von allen Seiten von feindlichen Kräften behindert wird. Auf der ideologischen Ebene präsentieren sich die IS-Führer als apokalyptische Alternative zum gegenwärtigen Status quo. Wenn der Tag des letzten Gerichts allerdings nicht eintritt, werden manche von ihnen womöglich einen pragmatischeren Ansatz für den Umgang mit ihren Nachbarn suchen. Das könnte zu einer Krise in den Führungskreisen des IS führen. Zudem wird es schwierig werden, genügende und verlässliche Einnahmen zu generieren, um während des Kriegs zerstörte staatliche Einrichtungen wiederaufzubauen. Der IS ist zum Teil deshalb erfolgreich gewesen, weil er oft der größte Warlord vor Ort ist und seine Klientel am wirkungsvollsten beschützt. Einer verarmten und verzweifelten Bevölkerung jedoch einfach nur Steuern abzupressen, wird kaum ausreichen, um jene Mittel zu bekommen, die zur langfristigen Stabilisierung eines Staats gebraucht werden. Dazu wird der IS verlässliche Absatzmärkte für das Öl finden müssen, dessen Förderstätten er kontrolliert. Die Landwirtschaft muss wiederbelebt und die Bewässerungssysteme müssen in Stand gesetzt werden. Für all das ist die Beendigung des Kriegs nötig, nicht seine Ausweitung. ■

SCHWERPUNKT Krieg gegen Terror

folgt, einen Staat aufzubauen. Die Zerstörung gesellschaftlicher Strukturen in Irak und Syrien – bedingt durch die Jahre des Kriegs, der Sanktionen, der Besatzung, der Konterrevolution und des Kampfes zwischen den religiösen Gemeinschaften – liegt seinem Erfolg zugrunde. Deshalb hat der IS es geschafft, zum führenden Dschihadisten-Netzwerk aufzusteigen. Vor diesem Hintergrund haben andere Gruppen, die abseits seines Hauptwirkungsgebiets operieren, sein Logo und seine Parolen für ihre eigenen Projekte übernommen. Aber die konfessionellen Spaltungen gab es doch schon vor dem Eingreifen der USA in Irak. War der Zerfall der irakischen Gesellschaft nicht eine unvermeidliche Folge daraus? Abgrenzungen zwischen den religiösen Gemeinschaften hat es tatsächlich schon vor dem Einmarsch der USA gegeben. Das Baath-Regime unter Saddam Hussein setzte diese Spannungen mitunter gezielt ein, um seine Gegner zu spalten und zu beherrschen. Das geschah insbesondere in den letzten zwanzig Jahren der Herrschaft Saddam Husseins und war teilweise eine Folge des Kriegs mit Iran und teilweise eine Folge des Aufstiegs schiitischer Oppositionsbewegungen. In beiden Fällen stellte das Regime seine Gegner als fünfte Kolonne Irans dar. Im Alltagsleben war der Irak aber sehr gemischt: Ehen zwischen Schiiten und Sunniten waren insbesondere in Bagdad, wo Menschen unterschiedlichen religiösen Hintergrunds Tür an Tür wohnten, relativ häufig. Wenn die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten so bedeutend waren, warum ist das Land dann nicht während des Kriegs mit dem Iran in den 1980er Jahren entlang konfessioneller Spaltungen auseinandergebrochen? Schiitische Gruppen, von denen viele nach dem militärischen Eingreifen der USA im Jahr 2003 in den Irak zurückkehrten, hatten in den 1980er Jahren wenig Erfolg dabei, Iraker davon zu überzeugen, dass ihre religiöse Identität wichtiger sei als ihre nationale.

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Schwerpunkt

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (v. l. n. r.): Krieg ist ein selbstverständlicher Teil ihrer Außenpolitik

★ ★★

Der neue deutsche Militarismus Christine Buchholz ist verteidigungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE und Mitglied des Verteidigungsausschusses im Bundestag.

★ ★★

Frank Renken ist Mitglied im Ortsvorstand der LINKEN in Berlin-Friedrichshagen. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag.

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Die Bundeswehr soll zu einer weltweit einsatzfähigen Interventionsarmee hochgerüstet werden. Die zahlreichen Auslandseinsätze machen Deutschland aber keineswegs sicherer Von Christine Buchholz und Frank Renken

D

ie Große Koalition bringt nahezu im Wochentakt neue Einsätze der Bundeswehr oder die Ausweitung bestehender Militärmissionen ins Gespräch. Die Zahl der Auslandseinsätze ist deshalb außerordentlich unübersichtlich geworden. Derzeit befinden sich rund 3000 deutsche Soldaten in 16 vom Bundestag mandatierten Einsätzen außerhalb des NATO-Bündnisgebietes. Dazu zählen militärische Beratungs- und Ausbildungsmissionen in Afghanistan, Irak, Mali und Somalia. Rund 800 Soldaten sind auf dem Balkan stationiert. Bombenangriffe von Verbündeten auf Syrien und Irak werden mit Luftbetankung unterstützt. Vor Libyen ist die Deutsche Marine an der Flüchtlingsabwehr beteiligt, seit neuestem auch führend in einem NATO-Einsatz in der Ägäis. Daneben beteiligt sich die Bundeswehr führend mit rund 4000 Soldaten am Aufbau der »Speerspitze« der schnellen Eingreiftruppe der NATO, die in-

nerhalb von 48 Stunden in Osteuropa marschbereit sein soll. Diese schnelle Eingreiftruppe umfasst insgesamt 40.000 Soldaten. Die Deutsche Marine steuert zahlreiche Kriegsschiffe bei, die Luftwaffe Transportflugzeuge und eine Flugabwehreinheit, 4400 deutsche Soldaten nahmen im vergangenen Jahr an insgesamt 17 Manövern in Osteuropa teil. Glaubt man den Beteuerungen der Bundesregierung, dann geht es stets um »Terrorabwehr«, »Stabilisierung« oder »Friedenssicherung«. Allein die inflationäre Ausdehnung der Einsätze zeigt jedoch, dass sie damit nicht besonders erfolgreich ist. Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, räumt ein: »Krisenprävention hat in den letzten Jahren leider nicht so funktioniert, wie man sich das nach Lehrbuch gerne vorstellen möchte.« Die Konferenz fand in diesem Jahr unter dem vielsagenden Titel »Grenzenlose Krisen, rücksichtslose Störer, hilflose Wächter« statt.


In Afghanistan, aber auch in Irak und Syrien ist den intervenierenden Groß- und Regionalmächten die Kontrolle über die Situation zunehmend entglitten. Die fortwährende Ausweitung der Bundeswehreinsätze spiegelt diesen Kontrollverlust wider. Die Herrschenden ziehen daraus mitnichten den Schluss, dass die militärische Eskalation selbst Teil des Problems sei. Ischinger meint: »Wir haben manche Krisen nicht nur unterschätzt, wir haben zum Teil absichtlich oder unabsichtlich weggeguckt. Jetzt sind die Krisen direkt bei uns vor der Haustür angekommen.« Es soll der Eindruck entstehen, das Problem sei militärische Passivität gewesen und nun bestehe dringender Handlungsbedarf. Tatsächlich verhält es sich andersherum: Dort, wo die Großmächte, und Deutschland mit ihnen, sich nicht »weggeduckt« haben, wurden Krisen verschärft oder erst geschaffen. Nehmen wir das Beispiel Afghanistan. Im Jahr 2001 führten die Taliban ein diktatorisches Regime. Eine militärische Bedrohung für andere Staaten stellten sie hingegen nicht dar. In Folge der ausländischen Besatzung versank das Land in einem nicht enden wollenen Bürgerkrieg, in den auch Pakistan hineingezogen wird. Folge: Hunderttausende starben, Millionen sind auf der Flucht. Der neue afghanische Präsident Ghani räumte unlängst ein: »Die menschliche Tragödie der vergangenen 15 Jahre in Afghanistan war, dass mehrere Milliarden Dollar hereingeströmt sind, aber sie wurden nicht dafür verwendet, das Leben der Armen zu verbessern. Wir haben eine räuberische Elite.« Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen legte Anfang 2015 die Motivation für die Militäreinsätze offen: »Unsere Interessen haben keine unverrückbare Grenze, weder geografisch noch qualitativ.« Für das internationale Engagement Deutschlands müsse gelten: »Kein Zugzwang, aber auch kein Tabu.« Das deutsche Kapital ist sehr stark vom Export und vom weltweiten Zugang zu Rohstoffen abhängig. Deshalb befürwortet es eine aktivere Außenpolitik: Deutsche sollen an möglichst vielen Orten mit am Tisch sitzen, wenn über Nachkriegsordnungen verhandelt wird. Um das zu erreichen, muss Deutschland erst militärische »Glaubwürdigkeit« beweisen und mit eigenen Truppen in die Konflikte intervenieren. Militärische Potenz schafft politischen Einfluss. Und der ist die Voraussetzung, um wirtschaftliche Interessen geltend zu machen. Dies verdeutlicht der aktuelle Konflikt in Syrien ebenso wie jener zwischen NATO und Russland in

der Ukraine. In Osteuropa drängelte sich die deutsche Verteidigungsministerin regelrecht nach vorn, um Führungsstärke zu zeigen. Erst übernahm die Deutsche Marine die Leitung eines NATO-Flottenverbandes in der Ostsee. Es folgte die verstärkte Beteiligung an der Luftraumüberwachung über dem Baltikum, schließlich die Übernahme der Verantwortung beim Aufbau der sogenannten NATOSpeerspitze. In Syrien und im Irak macht die deutsche militärische Beteiligung angesichts der Dimension des Konflikts nur eine geringe Bedeutung aus. Doch sie stellt sicher, dass Deutschland »Player« im Konflikt ist und mitmischt, sollten am Ende neue Grenzen gezogen oder neue Regierungen gebildet werden. Militärische Intervention und diplomatische Bemühungen gehen in beiden Fällen Hand in Hand. Es geht Deutschland, ebenso wie allen anderen beteiligten Mächten, um die Sicherstellung des größtmöglichen Einflusses zur Wahrung der Interessen des jeweils eigenen Kapitals. Die deutsche herrschende Klasse hat jedoch ein Problem: Die Zunahme der militärischen Konflikte offenbart eine relative Schwäche der Bundeswehr. Sie ist kaum zu offensiven Kampfoperationen fähig. Und wenn, dann nur im Kielwasser der US-Streitkräfte. Wirtschaftlich ist der deutsche Kapitalismus eine europäische Großmacht. Militärisch ist er in der Lage, von Westafrika bis Zentralasien dabei zu sein, aber ohne wirkliche Durchsetzungsfähigkeit.

Nahezu im Wochentakt werden neue Einsätze diskutiert

Bei »MARX IS' MUSS« spricht Claudia Haydt von der Informationstelle Militarisierung zur Frage »Panzer, Drohnen, Satelliten: Gegen welchen Gegner wird die Bundeswehr aufgerüstet?«.

SCHWERPUNKT Krieg gegen Terror

Vor diesem Hintergrund wächst die Bereitschaft in der herrschenden Klasse, mehr Mittel in die Aufrüstung zu stecken. Um dies durchzusetzen, wurde in den vergangenen zwei Jahren der Eindruck erweckt, bei der Bundeswehr handele es sich um eine Trümmertruppe, die kaputtgespart worden sei. Der Journalist Christoph Prössl behauptet etwa: »Seit 1990 sinkt der Verteidigungshaushalt kontinuierlich. Die Friedensdividende ist aufgebraucht, jetzt soll das Budget wieder steigen. Keine fehlenden Nachtsichtgeräte mehr oder Panzerbataillone ohne Panzer.« Tatsächlich ist der Militärhaushalt in den vergangenen Jahren keineswegs kontinuierlich gesunken. Im Jahr 1999 lag er umgerechnet bei etwa 24 Milliarden Euro. Er stieg bis 2010 auf über 31 Milliarden an. Er sollte dann im Zuge der Bundeswehrreform auf 27,6 Milliarden Euro im Jahr 2015 reduziert werden. Dazu ist es nie gekommen. Der Militärhaushalt lag 2015 bei 32,7 Milliarden Euro; eine Steigerung auf 36 Milliarden bis 2019 ist bereits beschlossen. Doch diese Steigerungen entsprechen nicht der gestiege-

★ ★★

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Spähwagen. Gleichzeitig wird an der Orientierung auf Einsätze außerhalb des NATO-Gebietes festgehalten. Projekte wie die Beschaffung verschiedener Militärsatelliten oder die Entwicklung der hochfliegenden Spionagedrohne Euro-Hawk spiegeln die globalen Ambitionen der deutschen herrschenden Klasse wider. Das gilt auch für die Beschaffung des Militärtransporters A400M, der Truppen, Panzer und Kampfhubschrauber weltweit in Einsätze bringen kann.

© Bundeswehr / CC BY-ND / flickr.com

Die Bundeswehr rüstet sich für einen Landkrieg in Osteuropa

Armee im Einsatz: Bundeswehrsoldaten des »Joint Fire Support Teams«, einer schnellen Eingreiftruppe in der afghanischen Provinz

nen Wirtschaftsleistung. So verharrte der Anteil der Militärausgaben gemessen am Bruttosozialprodukt seit 2000 bei etwa 1,2 Prozent. Die NATO fordert von ihren Mitgliedstaaten einen Beitrag von zwei Prozent des Bruttosozialprodukts. Die Bundesregierung hat sich zu diesem Ziel bekannt. Dies würde nahezu auf eine Verdopplung der Gelder hinauslaufen, die pro Jahr für die Bundeswehr bereitgestellt werden. Ministerin von der Leyen hat zu Beginn des Jahres die Obergrenzen für die Hauptwaffensysteme aufgehoben, die im Zuge der Bundeswehrreform festgelegt worden waren. Bis 2030 sollen 1500 Aufrüstungsmaßnahmen durchgeführt werden. Ein wichtiges Motiv stellt die neu aufgeflammte Rivalität zwischen NATO und Russland dar. Die Bundeswehr wird mit Panzern aufgerüstet, die in einem möglichen Landkrieg in Osteuropa gebraucht werden. Der Bestand an Kampfpanzern des Typs Leopard 2 wird von 225 auf 320 angehoben. Außerdem erhält das Heer etwa 180 neue Schützenpanzer, 130 neue Transportpanzer und 30 neue

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All das ist sehr teuer. Erhebliche Zusatzkosten entstehen, weil die Bundesregierung europäische Entwicklungen vorzieht, um eine eigenständige deutsche Rüstungsindustrie zu erhalten, anstatt sich kostensparend auf dem Waffenmarkt auszustatten. Allein die Beschaffung des A400M schlägt nach jetzigem Stand mit insgesamt 9,5 Milliarden Euro zu Buche. Vergleichbare Summen wird die Ersetzung des amerikanischen Luftverteidigungssystems Patriot durch das ungleich teurere europäische System MEADS verschlingen, ebenso wie der Ersatz israelischer Kampfdrohnen durch die Entwicklung einer europäischen Drohne unter deutscher Führung. Die zahlreichen Auslandseinsätze und die Aufrüstung der Bundeswehr machen Deutschland nicht sicherer. Sie sind vielmehr Teil eines internationalen Wettlaufs um militärische Stärke und internationalen Einfluss zwischen den rivalisierenden kapitalistischen Mächten. Die russisch-türkischen Spannungen in Syrien machen deutlich, wie rasch diese Rivalität außer Kontrolle geraten und in einen internationalen Krieg zwischen den NATO-Staaten auf der einen Seite und Russland und dessen Verbündete auf der anderen Seite münden kann. In diesem wahnwitzigen Wettlauf muss sich die Linke in Deutschland gegen die Bundeswehreinsätze und die Aufrüstungspläne der Bundesregierung stellen. Unsere Bündnispartner sind dabei nicht die Herrschenden anderer Länder, sondern jene, die dort gegen Militarismus, Aufrüstung und Unterdrückung kämpfen. ■


Alle ausländischen Truppen raus! Der Bürgerkrieg in Syrien hat nach dem Eintritt der Groß- und Regionalmächte eine neue Eskalationsstufe erreicht und droht, zu einem internationalen Krieg zu werden. Die Linke muss daher klar Position beziehen

D

VON DER marx21-Redaktion

er US-amerikanische Präsident Barack Obama und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin haben im Februar einen Waffenstillstand für Syrien vereinbart. Waffenstillstände haben immer dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Kriegsparteien erschöpft und ausgeblutet sind und sich keine von ihnen einen militärischen Vorteil durch die Fortsetzung des Kampfs verspricht. Angesichts dessen sind die Aussichten auf Dauerhaftigkeit schlecht, denn seit dem direkten militärischen Eingreifen Russlands in den syrischen Bürgerkrieg hat sich das Blatt gewendet: Die Truppen des Diktators Baschar al-Assad haben im Windschatten russischer Bombenangriffe wichtige Verbindungsrouten zurückerobern können und sind dabei, die Großstadt Aleppo im Norden des Landes einzukesseln.

gegangen, nachdem sie im Osten bereits seit langem mit amerikanischer Unterstützung kämpfen. Die türkische Armee eskaliert ihrerseits den Konflikt und beschießt mit Artillerie kurdische Stellungen auf der syrischen Seite der Grenze. Der Konflikt ist zu einem Mehrfrontenkrieg geworden, in dem sowohl die Regierung Assad, die YPG als auch die meisten aufständischen Kräfte des sunnitischen Lagers Territorialgewinne im Bündnis mit imperialistischen Streitkräften anstreben.

Mit dem Eingreifen der russischen Streitkräfte sind neue Allianzen entstanden. Die der PKK nahestehenden Milizen der syrisch-kurdischen YPG sind im Westen des Landes ein Bündnis mit Moskau ein-

Die Lage der Menschen in Syrien wird immer verzweifelter. Sichtbar wurde das Leid der Zivilbevölkerung, als Hundetausende vor den russischen Luftangriffen und dem Vorstoß der Regimetruppen im Norden des Landes an die Grenze zur Türkei flohen. Aber auch die von der Bundeswehr durch Luftbetankung und Zieldefinierung unterstützten Luftbombardements der US-geführten Allianz haben in den vergangenen Wochen zunehmend zivile Opfer gefordert. Doch weil es sich um Gebiete handelt, die der IS kontrolliert, wird kaum darüber berichtet.

SCHWERPUNKT Krieg gegen Terror

Washington und Moskau haben das Schlachtfeld untereinander aufgeteilt

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Syrien auf eine Entscheidung zurückgeht, die »jenseits des Ozeans getroffen wurde«, aber Europa sei mit dem Problem konfrontiert. Er findet damit in Deutschland Verbündete bei Pegida und AfD, die aus rassistischen Motiven gegen Merkels Flüchtlingspolitik hetzen.

© Pan Chaoyue / CC BY-NC / flickr.com

Das syrische Schlachtfeld zeigt, dass Hoffnungen auf diplomatische Verabredungen unter den imperialistischen Mächten völlig in die Irre führen. Denn der zwischen Washington und Moskau ausgehandelte Waffenstillstand ist davon abhängig, dass sich Moskau mit einem Teilerfolg begnügt – und zugleich nicht von anderer Seite das labile militärische Gleichgewicht erneut verändert wird. Der Einmarsch türkischer Bodentruppen wäre solch ein »Game-Changer«, ebenso wie die Drohung Saudi-Arabiens, aufständische sunnitische Milizen mit Boden-Luft-Raketen zu bewaffnen. Damit würde der Einsatz von Kampfhubschraubern und Kampfflugzeugen riskanter. Der saudische Außenminister sagte dazu in einem »Spiegel«-Interview: »Ja, wir glauben, dass die Lieferung von Boden-Luft-Raketen die Machtverhältnisse in Syrien verändern wird (…) so, wie sie sie seinerzeit in Afghanistan verändert haben.«

Ein Flüchtling läuft im Juni 2014 durch die völlig zerstörte syrische Stadt Homs. Bereits 2011 wurde die Protesthochburg im Westen des Landes Ziel massiver Angriffe der syrischen Armee. Einst war sie die drittgrößte Stadt Syriens, heute ist sie nahezu vollständig entvölkert

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Die Bundesregierung warf Putin ein menschenverachtendes Spiel mit den Geflüchteten vor. Aber menschenverachtend ist auch, wenn Merkel die EU dazu antreibt, Ankara drei Milliarden Euro zu überweisen, damit die Grenzen zwischen der Türkei und Europa (Griechenland) geschlossen werden. Denn sie unterstützt so eine türkische Regierung, die zur Zeit einen blutigen Unterdrückungskrieg gegen die kurdische Minderheit im eigenen Land und in Syrien sowie Nordirak führt und so neue Flüchtlingsströme produziert. Putin seinerseits hat die Geflüchteten längst als Waffe im Kampf gegen Merkel und ihre Sanktionspolitik gegen Russland im Zusammenhang mit der Ukraine und der Krimbesetzung entdeckt. Dazu gehört die von russischen Medien organisierte Hetzkampagne unter Russlanddeutschen wegen einer angeblichen Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens durch Geflüchtete. Putin hatte bereits im Juli vergangenen Jahres in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen behauptet, dass die Fluchtbewegung aus

Der Konflikt in Syrien verzahnt sich zunehmend mit dem neuen globalen Konflikt zwischen Washington und Moskau. Die USA versuchen, den Druck auf Russland an anderer Stelle zu erhöhen. So plant die Regierung unter Obama, das Militärbudget für Europa um mehr als das Vierfache auf 3,4 Milliarden Dollar zu erhöhen. Die Nato will nun dauerhaft Truppen in Ländern wie Ungarn, Rumänien und den baltischen Staaten stationieren. Dies bedeutet den Bruch der Vereinbarung zwischen der Nato und Russland von 1997, keine großen Truppenverbände in unmittelbarer Nähe zur Grenze zu stationieren. Die Tragödie der syrischen Bevölkerung ist, dass ihr Land zum Schlachtfeld eines Stellvertreterkriegs geworden ist. Dieser Krieg wird nicht nur zwischen den Regionalmächten Iran, Saudi Arabien und der Türkei geführt, sondern auch zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, den noch immer größten nuklearen Supermächten. Keiner der intervenierenden Staaten spielt dabei eine fortschrittliche Rolle. Die Linke muss deshalb den sofortigen Abzug aller ausländischen Truppen aus Syrien und den Stopp aller Waffenlieferungen nach Syrien fordern. Eine Zukunft hat das Land nur, wenn es zu einer Erneuerung der revolutionärdemokratischen Kräfte kommt, die zu Beginn des arabischen Frühlings auch das neoliberale AssadRegime erschütterten. Auch für die kurdischen Befreiungskräfte werden weder Assad noch Russland oder die USA Garanten national-demokratischer Selbstbestimmung sein. ■


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Das Projekt marx21 Wir sind mehr als nur ein Magazin. Hunderte Aktivistinnen und Aktivisten arbeiten zusammen, um als Netzwerk in der LINKEN die Tradition des revolutionären Sozialismus wiederzubeleben. Hier stellen wir uns vor

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arx21 ist ein Netzwerk von Aktivistinnen und Aktivisten in der Partei DIE LINKE und im Studierendenverband Die Linke.SDS. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, die nach den sozialen und ökologischen Bedürfnissen der Menschen organisiert ist anstatt nach Profitinteressen. Wir meinen: Eine solche Gesellschaft lässt sich nicht durch Parlamentsbeschlüsse herbeiführen, da die Kapitalistenklasse und der Staatsapparat weitgehend unabhängig von demokratischer Kontrolle agieren. Um diese Klassenherrschaft herauszufordern, sind die Kämpfe der Arbeiterbewegung entscheidend. Arbeiterinnen und Arbeiter – darunter verstehen wir die große Mehrheit der lohnabhängig Beschäftigten – können dem Kapitalismus ein Ende bereiten, wenn sie ihre kollektive Stärke zur Geltung bringen. Deshalb wirkt das marx21-Netzwerk darauf hin, den klassenkämpferischen Flügel innerhalb der LINKEN zu stärken. Wir sind in der LINKEN aktiv, weil sie die erste gesellschaftlich relevante sozialistische Partei in der Geschichte der Bundesrepublik ist. Sie verfügt über das Potenzial, die Vorherrschaft der SPD und der von ihr vertretenen sozialpartnerschaftlichen Ideen in der Arbeiterbewegung herauszufordern. Zahlreiche Gewerkschaftsaktivistinnen und -aktivisten und etliche Betriebsräte sind Mitglied der Partei, deren Programm deutlich Stellung gegen die herrschenden Verhältnisse bezieht. Es ist allerdings keine Selbstverständ-

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lichkeit, dass DIE LINKE ihr Potenzial als Motor von Klassenkämpfen tatsächlich ausspielt. Denn auch sie ist vielfältigen Integrationsmechanismen in das kapitalistische Gesellschaftssystem unterworfen. Der Parlamentarismus begünstigt beispielsweise eine Stellvertreterpolitik, in der Abgeordnete und Experten das politische Geschäft fragmentiert und spezialisiert in Arbeitsbereichen und Ausschüssen betreiben. Die Partei erscheint hier als parlamentarischer Repräsentant statt als Akteur gesellschaftlicher Mobilisierung. Auch innerhalb der Anhängerschaft der LINKEN ist die Vorstellung weit verbreitet, dass sich gesellschaftliche Veränderungen wesentlich über die Parlamente vollziehen – anstatt durch außerparlamentarische Auseinandersetzungen. Dem hat DIE LINKE bisher zu wenig entgegengesetzt. Im Vorfeld der Bundestagswahl des Jahres 2007 gegründet, hat sie bis heute keine überzeugende Antwort auf die Frage gefunden, wie sich Parlamentsarbeit mit außerparlamentarischer Bewegung verbinden lässt. Es ist ein Problem, wenn die Partei nur in den Wahlkampfphasen richtig zum Leben erwacht – und nicht denselben Einsatz in Kämpfen gegen Mieterhöhungen, Privatisierungen oder Entlassungen entfaltet wie vor einer Bundestagswahl. Das bedeutet nicht, dass DIE LINKE keinen Wahlkampf führen sollte. Im Gegenteil: Die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit dieser Phasen sollte sie

Die Arbeit der LINKEN muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden

KONTAKT marx21 - Netzwerk für Internationalen Sozialismus Postfach 44 03 46, 12003 Berlin Telefon: 030 / 68 23 14 90 Mail: info@marx21.de www.marx21.de facebook/marx21.de twitter.com/marx21de


dazu nutzen, ihre Mitglieder zu aktivieren und außerparlamentarischen Widerstand aufzubauen. Wahlerfolge und parlamentarische Repräsentanz können den Klassenkampf also durchaus stärken. Doch braucht die Partei eine breite und aktive Basis, um eine kampagnenorientierte Parlamentspolitik machen zu können. Denn sie ist nur mit einem organisierten Unterbau mobilisierungsfähig. Außerdem wird sie so weniger abhängig von der (Nicht-)Berichterstattung durch die Mainstreammedien.

Zudem versteht das Netzwerk es als seine Aufgabe, seine Unterstützerinnen und Unterstützer zur Aneignung und eigenständigen Entwicklung antikapitalistischer Theorie zu befähigen. Marxistische

Das marx21-Netzwerk in Aktion: Mobilisierung für den Kongress »MARX IS’ MUSS« Grundbildung und Debatten um politische Streitfragen wollen wir beispielsweise durch Lesekreise und den jährlich stattfindenden Kongress »MARX IS‘ MUSS« fördern. Auf unserer Homepage, in unserem Magazin, in der Theoriezeitschrift theorie21 und in weiteren Publikationen beziehen wir Position zu wichtigen gesellschaftlichen Debatten. In unserem Netzwerk arbeiten Menschen zusammen, die aus unterschiedlichen marxistischen Traditionen stam-

men und dementsprechend bisweilen voneinander abweichende Sichtweisen auf die historischen Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung haben. Diese Vielfalt wollen wir nutzen, um gemeinsam wirksame Strategien für die politischen Aufgaben unserer Zeit zu entwickeln. Durch kollektive Diskussion und Intervention wollen wir als marx21 dazu beitragen, den revolutionär-sozialistischen Kern innerhalb der LINKEN weiter aufzubauen. Mach mit! ■

WAS WILL MARX21?

Das marx21-Netzwerk hat sich die Aufgabe gestellt, sich in der LINKEN für eine solche Herangehensweise einzusetzen. Wir machen uns für eine kampagnenorientierte Arbeitsweise stark: DIE LINKE muss dort handlungsfähig werden, wo sich gesellschaftliche Konflikte zuspitzen, wo Widersprüche aufbrechen, wo Bewegung entsteht. Sie darf sich nicht im parlamentarischen Alltag verzetteln. Konkret argumentieren wir dafür, dass sie zu wichtigen Protestaktionen wie Blockupy mobilisiert. Darüber hinaus wirkt marx21 darauf hin, dass DIE LINKE aktiv Verbindungen zu betrieblichen Kämpfen aufnimmt, in gewerkschaftspolitische Debatten eingreift und kämpferische Kolleginnen und Kollegen zum Parteieintritt bewegt.

© marx21

Um ihrer Rolle als sozialistischer Kraft gerecht zu werden, muss DIE LINKE ganz anders sein als die etablierten Parteien. Ihr zentrales Aktionsfeld sollte deshalb nicht das Parlament, sondern die Straßen und Betriebe sein. Selbstverständlich engagieren sich schon jetzt viele Mitglieder und ganze Parteigliederungen in außerparlamentarischen Initiativen. Doch fehlt die Ausrichtung der Gesamtpartei darauf. Inhaltlich sollte die Partei stärkere grundsätzliche Kritik am Kapitalismus äußern und diese auch in die konkreten Reformkämpfen einbringen. Die Arbeit der LINKEN muss vom Kopf auf die Füße gestellt und von Basis, Bewegung und Widerstand her gedacht werden – in der Kommune, im Land und auf Bundesebene.

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FRAUENBEFREIUNG

»Mein Bauch gehört mir« – dieses Motto der Frauenbewegung wird in Frage gestellt: Selbsternannte Lebensschützer berufen sich in ihrem Kampf gegen Abtreibungen auf die Bibel und auf alte Traditionen. Für sie ist Schwangerschaftsabbruch gleichbedeutend mit Mord. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Idee der Geburtenkontrolle keineswegs neu ist Von Rosemarie Nünning ★ ★★

Rosemarie Nünning ist Vorstandsmitglied der LINKEN im Berliner Bezirk FriedrichshainKreuzberg.

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ährlich veranstalten christliche Fundamentalisten in Berlin Umzüge mit Tausenden Teilnehmern. Sie sind die radikalsten Vertreter der Auffassung, wonach bereits ein befruchtetes Ei einem Menschen gleichzustellen sei. Für sie ist Schwangerschaftsabbruch Mord, da bei der Empfängnis eine »Beseelung durch Gott« stattfinde. Deshalb fordern sie das völlige Verbot von Abtreibung. Mit ihrer Kampagne erinnern diese »Lebensschützer« nachdrücklich daran, dass Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper und ihr Leben immer noch kein selbstverständliches Recht ist. Die Formen, die diese besondere Unterdrückung annahm, und die sie begleitenden Ideologien wandelten sich im Laufe der Jahrtausende erheblich. Erst mit der Entstehung des modernen Kapitalismus und der Arbeiterklasse, als die alte Form der Familie gesprengt wurde und Frauen langsam ökonomische Unabhängigkeit gewannen, entstand schließlich auch eine erste Bewegung für Selbstbestimmung über den eigenen Körper.

Bezogen auf die Menschheitsgeschichte ist die Vorstellung, dass eine Zellvereinigung oder ein Fötus aus moralischen und rechtlichen Gründen wie ausgebildete Menschen unter Lebensschutz gestellt werden sollte, eher jüngeren Datums. Mittel der Geburtenkontrolle wie Verhütung, Abtreibung und Kindstötung sind hingegen sehr alt. Bereits die oft als urkommunistisch bezeichneten Gesellschaften, in denen es noch keine Klassen und keine Unterdrückung gab, kannten sie. Einen Hinweis hierauf geben jene »primitiven« Gesellschaften, die noch zur Zeit der Kolonialisierung außerhalb Europas existierten. Jesuitenmissionare, die ab dem 18. Jahrhundert zur Unterstützung der Landnahme nach Amerika entsandt wurden, berichteten von Kindstötung bei der Geburt von Zwillingen: Einer der Säuglinge wurde »aufgeopfert, indem sie glauben, daß eine Mutter vor zwey Kinder nicht gnugsam Narung habe«. Zugleich betonten sie den liebevollen Umgang, den die Eltern mit den Kindern pflegten. »Uebrigens unterstehet sich niemand


sie zu schlagen, oder an ihrer Besserung mit Nachdruck zu arbeiten«, berichtete der Jesuit Lafitau aus dem heutigen Kanada. Auf Inseln Neuguineas wurde die Abtreibung »mit einer kleinen Mahlzeit gefeiert«, schrieb der Anthropologe Nieboer im Jahr 1904. Wie die Methoden der Geburtenkontrolle in diesen »primitiven« Gesellschaften aussahen, erforschte die frisch entstandene Völkerkunde schon um 1900. Die Wissenschaftler waren oft beeinflusst von Thomas Malthus und seiner einhundert Jahre zuvor entwickelten Bevölkerungstheorie, wonach die natürlichen Ressourcen nicht zur Ernährung einer sich wild vermehrenden Bevölkerung reichten (und kinderreiche arme Familien kein Lebensrecht hätten). Sie fanden Verhütung, Abtreibung und Kindstötung vor. Abtreibung wurde mechanisch, beispielsweise durch Klopfen des Bauchs, und mithilfe von Pflanzen vorgenommen. Die Forscher sprachen gar mit einiger Begeisterung von »malthusianistischen Pflanzen«, die der Geburtenkontrolle dienten. Abtreibung und Kindstötung waren meist eine Notwendigkeit, um das Überleben der Sippe zu sichern. »Primitive Frauen« gaben dabei »überraschend moderne Gründe« für die Geburtenkontrolle an. Zum Beispiel nannten sie mehrere Totgeburten oder Schwierigkeiten, noch mehr Kinder aufzubringen, stellte der Soziologe Norman E. Himes fest. Weder Abtreibung noch Kindstötung galt als verwerflich, weil das Kind erst mit der Geschlechtsreife als vollwertig angesehen wurde.

derlage der Frau«, in der »die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche« zusammenfällt. Schon an den frühen Schriftzeugnissen der vor über 5000 Jahren entstehenden Stadtstaaten Mesopotamiens lässt sich die Minderstellung der Frauen ablesen. Die keilschriftlichen Kodizes (Rechtssätze) benennen vor allem Rechte des Manns. Die erste Erwähnung einer Abtreibung findet sich in dem Kodex der Stadt Ur von vor rund 4000 Jahren: Schlägt ein Mann die Tochter eines anderen Mannes und erleidet sie eine Fehlgeburt, muss er dreißig Schekel Silber (vergleichbar 9000 Litern Gerste) zahlen, bei der Tochter eines Armen fünf, bei der eines Sklaven zwei Schekel, was zugleich die Klassennatur der Gesetze belegt. Diese Regelungen unterfallen dem, was mit Patriarchat gemeint ist: Gegen den Willen des Haushaltsvorstands (des Vaters oder Gatten) vorgenommene Abtreibungen galten als Eigentumsschaden, für die ein Ausgleich zu leisten war. Eine ähnliche Regelung geht später in das Alte Testament ein (Exodus 21,22): Hier geht es darum, dass sich zwei Männer raufen, eine schwangere Frau dazwischengerät und eine Fehlgeburt erleidet. Der Schuldige muss eine vom Gatten festgesetzte Geldbuße leisten. Dies ist die einzige Erwähnung von Abtreibung in der Bibel. Dass sie obendrein nur als ein Sachschaden gilt, ist christlichen Fundamentalisten ein großes Ärgernis.

Diese Art der von der Gemeinschaft getragenen Geburtenkontrolle ging unter mit der Entstehung von Privateigentum und Klassengesellschaften. Neue Produktionsmittel wie der Ochsenpflug oder Fischerboote, mit denen weit auf das Meer gefahren werden konnte, ermöglichten es, einen Überschuss an Nahrungsmitteln zu erzeugen. Gleichzeitig war es Frauen aufgrund von Schwangerschaft und Versorgung der Kleinkinder schwerer möglich, an solchen Arbeiten teilzunehmen. Das erzeugte Mehrprodukt konzentrierte sich nun zunehmend in den Händen der Männer und schließlich nur noch in den Händen weniger Männer. An die Stelle der egalitären Sippe, in der alle Tätigkeiten als gleich wichtig galten, trat die Familie mit dem Mann, dem Vater oder Gatten, als Vorstand – die »patriarchale« Gewalt. Um in männlicher Linie den erwirtschafteten Überschuss vererben zu können und sicherzugehen, dass die Frau nicht »fremdging«, wurde sie unter das Diktat der Monogamie gestellt, was notwendigerweise auch Kontrolle über ihren Körper bedeutete. Friedrich Engels nannte dies die »weltgeschichtliche Nie-

Erst nach dem mittelassyrischen Recht um das Jahr 1200 vor unserer Zeitrechnung wird die Selbstabtreibung geahndet und zwar mit Pfählen, einer Strafe, die anfangs nur über Frauen verhängt wurde. Die öffentliche Bestrafung ist zugleich ein frühes Zeichen dafür, dass der Staat die patriarchale Gewalt abzulösen versucht und Abtreibung als Verletzung von Staatsinteressen sieht. Allerdings dauert es noch über 2000 Jahre, bis sich ein solches System entwickelt. Eine moralische Bewertung von Abtreibung gab es nicht, auch nicht in den folgenden griechischen und römischen Staaten. Dem griechischen Philosophen Platon schwebte eine elitäre Zuchtauswahl gleich der Zucht edler Jagdhunde vor, bei der die »besten Männer den besten Weibern möglichst oft beiwohnen«, während die Kinder der »schlechtesten Männer und Frauen« auszusetzen waren. Sein Schüler Aristoteles befürwortete zwecks Bevölkerungsoptimierung die Abtreibung, »wenn Eheleute durch die Beiwohnung noch weiteren Nachwuchs über diese Grenze hinaus erzielen«. Er führte aber auch die Spekulation ein, dass der Fötus ab einem bestimm-

FRAUENBEFREIUNG

Weder Abtreibung noch Kindstötung galt als verwerflich

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ten Zeitpunkt (der männliche Fötus ab dem vierzigsten Tag, der weibliche ab dem neunzigsten Tag) Empfindung und Leben besäße und entsprechend nur bis dahin abgetrieben werden könne. Im Rom der Antike war Abtreibung bei Frauen der Oberschicht so üblich, dass der Dichter Juvenal ihnen den Beischlaf mit zeugungsunfähigen Männern (Eunuchen) empfahl. Sie blieb nach der noch patriarchal verfassten Gesellschaft straflos, solange der Gatte einverstanden war. Abtreibungsverbote oder -beschränkungen, »Beseelungs«-Vorstellungen und Kontrolle über die Frau finden sich in allen Weltreligionen. Hier und heute müssen wir uns bei der Frage der Abtreibung aufgrund der historischen Entwicklung aber vor allem mit der christlichen Kirche auseinandersetzen. In Europa überlebte das Christentum mit seinem in viele Länder reichenden bürokratischen Apparat aus hierarchisch organisierten Hauptamtlichen den Zerfall des Römischen Reichs, zu dessen herrschender Ideologie es sich hatte aufschwingen können. Als wachsende, gut vernetzte wirtschaftliche Macht, gestützt auf Klöster, Bauernausbeutung und Kolonisierung, wurde es auch zur politischen Macht in der zersplitterten Feudalgesellschaft. Die Beanspruchung des »Vaterrechts« für den Gott des Christentums mitsamt Frauenunterdrückung als eines starken Instruments der Spaltung war eine Kampfansage an das uneingeschränkte Patriarchenrecht. Mit der irdischen Gewalt seines Machtapparats übernahm die Kirche die soziale Kontrolle über die Mitglieder der Gesellschaft, auch über ihr Sexualverhalten, das ausschließlich der Fortpflanzung dienen sollte. Soziale Kontrolle hieß Erzeugung von Scham, Schuld und Angst, Inquisition und Denunziantentum. Bis es zu einem generellen Abtreibungsverbot ab dem Zeitpunkt der »Empfängnis« kam, wendelte sich die Kirchenvätertheologie des Mittelalters durch verschiedenste Debatten über den Zeitpunkt der »Beseelung« eines Fötus (anknüpfend an Aristoteles), ab dem ein Abort als Todsünde galt (was immerhin einer Art Fristenregelung entsprach!). Schließlich ging im Hochmittelalter vor rund 800 Jahren selbst die Empfängnisverhütung als Totschlag in das Kirchenrecht ein – ohne aber die »Fristenregelung« aufzuheben. Die von der Kirche verhängten Strafen konnten mehrjährige »Buße« bei Wasser und Brot bedeuten. Die Festigung der Kirchenposition war auch eine Reaktion auf die breite, blutig niedergeschlagene Ketzerbewegung der Katharer, die die Macht und den Reichtum der römischen Kirche angriff und großen Zulauf von Frauen

hatte. Sie sahen Fortpflanzung, wenn auch nicht unbedingt Sex, als sündhaft an, da die Welt dem Teufel gehörte. In der Praxis gab es jedoch auch im Mittelalter Verhütung, Abtreibung und Kindstötung – und jede Menge Handbücher und überliefertes Wissen hierzu. Selbst ein Papst des 13. Jahrhunderts hatte früher als Mediziner Rezepte vor allem für arme Leute verfasst. Nonnen in Straßburg beschwerten sich im 14. Jahrhundert darüber, dass in ihren Anlagen gelegentlich getötete Kinder gefunden wurden, Mönche des Dominikanerordens sich Zugang zu ihrem Kloster verschafften und nun schon wieder eine Nonne schwanger sei. In Kriminalakten des 16. und 17. Jahrhunderts finden sich vor allem Dienst- und Bauernmägde, die abgetrieben hatten (und erwischt wurden). Zu den Abtreibungsmitteln gehörten auch die Früchte des Sadebaums, über den der Sozialist August Bebel noch Ende des 19. Jahrhunderts schrieb, er wachse wegen seiner abortiv wirkenden Bestandteile in Südwestdeutschland »im Garten eines jeden Bauernhofs«. In Frankreich gab es im 19. Jahrhundert auf dem Land noch Kindstötung, während Frauen in den Städten Zugang zu Abtreibungsmitteln hatten.

Abtreibungen wurden zur Klassenfrage

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Mit dem Aufstieg des Kapitalismus und des modernen bürgerlichen Staats schwand die wirtschaftliche und politische Macht der Kirche. Doch die weltliche Gerichtsbarkeit knüpfte an den christlichen Ideologien als nützliche Instrumente zur Unterdrückung und sozialen Kontrolle an. Während im Jahr 1869 Papst Pius IX. die »Beseelung« des Fötus von der Zeugung an verkündete (und die Unfehlbarkeit des Papstes), erließ zwei Jahre später der soeben gegründete preußische Nationalstaat den Strafrechtsparagrafen 218 (in dem Abschnitt »Verbrechen wider das Leben«). Er sah Zuchthaus bis zu fünf Jahre für eine Selbstabtreibung vor, bis zu zehn Jahre für Helfer. Angesichts des durch die Industrialisierung erzeugten Elends in den Städten stieg in Deutschland die jährliche Zahl der Aborte rasant auf mehrere Hunderttausend an. Weil Verhütungsmittel verboten waren, griffen arme Frauen zu schweren Giften oder ließen den Abgang durch Tritte und Stockschläge herbeiführen, während reiche Frauen ihren Hausarzt bemühten. Aufgrund dieser Verhältnisse wurde der Paragraf 218 sowohl als Mittel der Frauenunterdrückung als auch als Klassenparagraf begriffen, der einen gemeinsamen Kampf von Frauen wie Männern erforderte. In der Weimarer Republik entstand die bisher wohl größte Bewegung für die Freigabe von Abtreibung


und das Selbstbestimmungsrecht der Frau unter dem Motto »Dein Bauch gehört dir«. In ihr kam die Bewegung gegen den ebenfalls im Jahr 1871 erlassenen »Homosexuellenparagrafen« 175 mit den Bewegungen der Sexualreformer, der radikalen Frauenrechtlerinnen und der Kommunistischen Partei zusammen. Befeuert wurde sie durch die (kurzlebige) völlige Aufhebung des Abtreibungsverbots im nachrevolutionären Sowjetrussland im Jahr 1920. Ihren Höhepunkt erreichte sie, als Papst Pius XI., der sich in Italien mit dem Faschismus unter Mussolini verbündet hatte, im Jahr 1930 verkündete, Sex habe in der Ehe und ausschließlich zur Fortpflanzung zu erfolgen, andernfalls müsse der Staat hart durchgreifen. Unter der Naziherrschaft wurde dann jede fortschrittliche Bewegung ausgelöscht. Die Faschisten betrachteten Abtreibung als »Rassenverrat« und Gefährdung des »deutschen Volks«, während zugleich Jüdinnen Zwangsabtreibungen unterzogen wurden.

Wir stehen deshalb vor der Aufgabe, den Marsch der »Lebensschützer« wie auch die AfD zu stoppen und die erkämpften Rechte zu verteidigen. Die Geschichte zeigt aber auch, dass Frauenunterdrückung und Klassengesellschaft Hand in Hand gehen. Und es sind Frauen der Arbeiterklasse, ihre Partner oder ihre Familie, die am meisten unter der Beschränkung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch oder gar einem totalen Verbot zu leiden haben. Deshalb muss es letztendlich auch um einen gemeinsamen Kampf für eine andere, eine sozialistische Gesellschaft gehen. ■

FRAUENBEFREIUNG

Im Nachkriegswestdeutschland nahm die aus der linken 68er-Bewegung entstehende Frauenbewegung den Kampf gegen den Paragrafen 218 erneut auf und das Gesetz wurde schließlich gelockert. Seitdem versuchen reaktionär-religiöse »Lebensschützer« das Blatt wieder zu wenden. Auf ihren Druck hin wurde in den 1990er Jahren – nach der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR – bei einer neuerlichen Reform zum ersten Mal in der über hundertjährigen Geschichte des Paragrafen ein »Schutz des Ungeborenen« aufgenommen – und somit ein höheres Lebensrecht für den Fötus als für die schwangere Frau. Die wachsenden Aufmärsche der christlichen Fundamentalisten müssen uns eine Warnung sein. Diese pflegen enge Beziehungen zur rechtsradikalen AfD, die schon mit der Forderung nach einer Verschärfung des Paragrafen 218 Wahlkampf geführt hat. Wo diese Kräfte sich durchsetzen können, drohen wahre Barbareien im Namen des Lebensschutzes. In El Salvador, wo auf Betreiben der katholischen Kirche Ende der 1990er Jahre ein totales Abtreibungsverbot verhängt wurde, sitzen Frauen bis zu vierzig Jahre lang für eine illegale Abtreibung ein. Die Verurteilten sind überwiegend arme Indigenas, während die reichen Frauen für einen Abort ins Ausland reisen. Aber auch hierzulande steigt der Einfluss christlicher Fundamentalisten, wie sich an dem Fall einer Ende 2013 vergewaltigten Studentin in NordrheinWestfalen gezeigt hat. Gleich zwei katholische Krankenhäuser verweigerten ihr die Untersuchung und Spurensicherung, weil sie dann die »Pille danach« hätten verschreiben müssen, was gegen ihr »christliches Gedankengut« verstoße.

Weg mit dem §218! Motiv eines Demonstrationsplakats aus dem Jahr 1990, als die Auseinandersetzung wieder einmal aktuell wurde. Auf Druck reaktionärer Kräfte nahm die Bundesregierung damals den »Schutz des Ungeborenen« in den Paragrafen auf – und somit ein höheres Lebensrecht für den Fötus als für die schwangere Frau

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GESCHICHTE

Die schwarzen Revolutionäre Die Bewegung Black Lives Matter hat den Kampf gegen Rassismus in den USA auf eine neue Stufe gehoben. Vieles erinnert dabei an die Situation vor fünfzig Jahren, als massenhafte Aufstände eine der bedeutendsten Organisationen des schwarzen Widerstandes in Nordamerika hervorbrachten: die Black Panther Party for Self-Defense

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Von Michael Ferschke

m Jahr 1966 fanden in 38 Städten der USA Aufstände in den Armenvierteln der Schwarzen statt. Häuserblocks gingen in Flammen auf, Geschäfte wurden geplündert und es kam zu Straßenkämpfen mit der einmarschierenden Nationalgarde. Hier brach sich die Wut über die drastische soziale Diskriminierung der Schwarzen Bahn. Auslöser waren meist die rassistischen Schikanen der Polizei. Die beiden Studenten Bobby Seale und Huey P. Newton gründeten im Oktober 1966 die Black Panther Party (BPP) im kalifornischen Oakland. Sie wollten mit der neuen Partei die Dynamik der spontanen Gettoaufstände in eine politische Bewegung gegen den Kapitalismus umwandeln. Die Gründer der Black Panther Party grenzten sich von Martin Luther King und dem gemäßigten Flügel der Bürger-

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rechtsbewegung ab. Sie verstanden sich stattdessen als »Erben« des 1965 ermordeten radikalen Schwarzenführers Malcolm X. Dieser hatte ein deutlich radikaleres Programm vertreten als King. Erstens lehnte Malcolm X dessen Prinzip der Gewaltlosigkeit ab und pochte stattdessen auf das Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung gegen die Willkür der Polizei und die Übergriffe rassistischer weißer Mobs. Zweitens verstand er den Kampf gegen den Rassismus auch als antikapitalistischen Kampf und schloss daher ein Bündnis mit der pro-kapitalistischen Demokratischen Partei kategorisch aus. Drittens fasste Malcom X den Kampf der amerikanischen Schwarzen als Teil einer weltweiten antikolonialen Bewegung auf, die gegen die weiße Vorherrschaft rebellierte.

Sie waren Teil einer weltweiten Bewegung Beeinflusst von diesen Ansichten und von Theoretikern der antiimperialistischen Befreiungsbewegungen wie Frantz Fanon und Che Guevara verfassten Newton und Seale das »10-Punkte-Programm« der BPP. Darin forderten sie unter anderem Vollbeschäftigung und angemessene Wohnungen für die Schwarzen. Falls die weißen Kapitalisten und Miethaie dies nicht gewährleisten könnten, sollten sie enteignet werden. Des Weiteren verlangten Newton und Seale die Freistellung Schwarzer vom Wehrdienst mit folgender Begründung: »Wir werden nicht kämpfen und andere Farbige töten, die wie wir Opfer der weißen, rassistischen Regierung der USA sind.« Die BPP bezog sich positiv auf den Kampf der viet-


Oben: Das Logo der Black Panther Party for Self-Defense zeigt: Sie waren bereit, sich wie eine Raubkatze zu wehren Unten: Plakat für eine Solidaritätskundgebung der BPP mit politischen Gefangenen in Oakland im Frühling 1971. Auch die bekannte Rockband The Grateful Dead trat hier auf

GESCHICHTE

Das Wachstum der Black Panther Party beunruhigte die Herrschenden der USA. Die Vorstellung, dass bewaffnete schwarze Jugendliche organisiert gegen Kapital und Staat antreten, war für sie ein Albtraum.

© Online Archive of California / UCLA Special Collections / Wikimedia / CC BY

namesischen Befreiungsarmee gegen die US-Armee. Für die Praxis der Partei war zunächst Punkt sieben des Programms am wichtigsten: »Wir fordern die sofortige Beendigung der Polizeibrutalität und der Morde an schwarzen Menschen.« Die arbeitslosen Jugendlichen waren in den Gettos täglich rassistischen Schikanen durch die Polizei ausgesetzt. Die Black Panther Party verglich die Polizei mit einer weißen Besatzungsarmee, die eine schwarze »Kolonie« beherrscht. Anfang 1967 begannen die Panther auf Kontrollfahrten zu gehen, um das Verhalten der Polizei zu überwachen. Dadurch wollten sie sicherstellen, dass die Bürgerrechte der Schwarzen nicht länger von der Polizei mit Füßen getreten werden. Nationale Bekanntheit erzielte die BPP durch einen spektakulären Auftritt von 30 Mitgliedern, die im Mai 1967 bewaffnet in das Gebäude der kalifornischen Staatsregierung marschierten. Sie protestierten gegen das geplante Verbot des öffentlichen Tragens von Waffen. Der Gesetzentwurf war von einem Oaklander Abgeordneten eingebracht worden und richtete sich direkt gegen die BPP. Bei der Aktion wurden Bobby Seale und fünf andere Mitglieder zwar festgenommen, doch das Aufsehen in der Presse brachte ihnen viele neue Mitglieder und viel Sympathie ein. 1968 war das Durchbruchsjahr für die BPP. Nach der Ermordung Martin Luther Kings im April kam es zu schweren Getto-Unruhen in über hundert Städten der USA. Vielerorts entstanden spontan neue Gruppen und Ende des Jahres war die Partei mit über 2000 Mitgliedern in 25 Städten vertreten. Die zweiwöchentlich erscheinende Parteizeitung »The Black Panther« erreichte eine Auflage von fast 100.000 Exemplaren.

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Unten: Plakat für eine Konferenz im September 1970 in Philadelphia: Mit etwa 7000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern markierte sie den Höhepunkt des Einflusses der Black Panther

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© Thomas J. O’Hallorgan & Warren K Leffler / Library of Congress / Reproduction Number LC-DIG-ppmsca-04304 / Wikimedia / CC BY-NC

© Washington Area Spark / CC BY-NC / flickr.com

Oben: Kundgebung vor dem Lincoln Memorial in der Hauptstadt Washington im Juni 1970: Die etwa tausend Protestierenden rufen eine »Revolutionary People’s Constitutional Convention« ins Leben, die den Kampf für die Befreiung der Schwarzen mit den Kämpfen der Arbeiterklasse, der Studierenden, der Frauen und der Homosexuellen verbinden sollte

FBI-Chef Edgar Hoover erklärte die BPP zur »größten Gefahr für die innere Sicherheit des Landes«. Er ordnete eine massive Infiltration der Partei an, um sie zu zerstören. Das FBI schleuste Provokateure und Spitzel in die BPP ein, verbreitete Falschmeldungen über sie und schüchterte Sympathisanten und Mitglieder ein. Fast alle BPP-Büros wurden in überfallartiger Manier von der Polizei durchsucht. Die gezielte Tötung von BPP-Mitgliedern war die extremste Maßnahme in Hoovers Programm. In den Jahren 1968 und 1969 wurden 739 Panther verhaftet und zwanzig von der Polizei erschossen. Ende 1968 nahm die Führung der Black Panther Party eine strategische Wende vor, indem sie sich vom bewaffneten Auftreten abkehrte. Drei Gründe waren dafür maßgeblich: Erstens ebbten die Gettorevolten nach ihrem Höhepunkt im Sommer 1968 ab. Zweitens war der Preis für eine militärische Konfrontation mit dem übermächtigen Staatsapparat zu hoch. Und drittens entfremdete das militante Auftreten die einfachen schwarzen Familien von der BPP. Gerade angesichts der wachsenden Repressalien durch den Staat waren die Panther jedoch auf die Solidarität der Gettobewohner angewiesen.

Mit einer neuen Strategie sollte die Partei stärker in der Bevölkerung verwurzelt werden. Praktischer Schwerpunkt der neuen Arbeitsweise waren die sogenannten »Community«-Programme, die eine soziale und politische Infrastruktur für den Widerstand in den Gettos bilden sollten. Die BPP übernahm damit unter der Parole »Diene dem Volk« ein Konzept des chinesischen Revolutionsführers Mao Zedong. Kern war eine Doppelstrategie: Während die Partei einerseits Vorbereitungen für den künftigen Guerillakampf traf, sollte gleichzeitig durch die Community-Programme das revolutionäre Bewusstsein der Bevölkerung geweckt werden. Die wichtigsten Programme der Panther waren: kostenloses Frühstück für Kinder, kostenlose Gesundheitsvorsorge und »Black Liberation Schools« zur Vermittlung der Geschichte der Schwarzen. Die Bilanz der strategischen Wende der Black Panther Party war zweischneidig. Sie hatte die Partei davor bewahrt, in bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Polizei völlig aufgerieben zu werden. Die Zeitung erschien weiterhin alle zwei Wochen und

Das FBI ließ Aktivisten gezielt töten erreichte 1970 eine Auflage von 140.000. Auch nahm die Unterstützung für die Partei in der Bevölkerung deutlich zu. Zugleich enttäuschte die Wende aber die revolutionären Erwartungen vieler Mitglieder. Für sie gab es eine zu große Diskrepanz zwischen dem Anspruch, Teil des weltweiten revolutionären Befreiungskampfs zu sein, und einer Praxis, die sich in sozialen Selbsthilfeprogrammen und dem Verkauf der Zeitung erschöpfte. Die maoistische Kombination von bewaffnetem Kampf und gleichzeitiger Betonung von Sozialprogrammen war in den USA zum Scheitern verurteilt, da die Aktionen der BPP in einem ganz anderen Kontext als die chinesische Revolution stattfanden: Die Organisation agierte nicht in einem agrarischen Hinterland, sondern inmitten der Metropolen des mächtigsten Industriestaats der Welt. Über diesen Widerspruch bildeten sich zwei Lager in der Partei heraus: Die einen, die den bewaffneten Kampf fortführen wollten und dafür bereit waren, in den Untergrund zu gehen, scharten sich um Eldridge Cleaver. Auf der anderen Seite stand das Lager um Huey Newton. Dessen Vertreter hielten an den Community-Programmen fest und waren dazu auf legale Arbeit und Allianzen mit gemäßigten Kräf-


ten angewiesen. Die Meinungsverschiedenheiten in dieser Frage spitzten sich zu einem erbitterten Fraktionskampf zu. Es gab in der Black Panther Party auch eine kleine, dritte Strömung, die auf die Verbindung mit der Arbeiterbewegung hin orientierte. Hauptprotagonist war hier Kenny Horston, der eine Betriebsgruppe der BPP bei General Motors in Freemont, Kalifornien, aufgebaut hatte. Horston folgte dem Beispiel schwarzer Betriebszellen in Detroit, die dort in den Jahren 1968 und 1969 in der Autoindustrie aufgebaut worden waren. Sie nannten sich Revolutionary Union Movement (RUM) und organisierten erfolgreich schwarze Arbeiter in den Fabriken von Dodge, Chrysler, Ford und anderen. In den Chrysler-Werken konnte RUM in der Hochphase von 1968 wöchentlich hunderte von Arbeitern zu politischen Treffen mobilisieren und mit wilden Streiks mehrfach die Produktion lahmlegen. Kern des Konflikts waren hier die schlechten Arbeitsbedingungen und die völlige Unterrepräsentanz von schwarzen Arbeitern in der Gewerkschaft. Die RUMs schlossen sich politisch unter dem Dach der League of Revolutionary Black Workers zusammen und hatten neben den Betriebsflugblättern eine werksübergreifende Zeitung, mit der auch an der Universität und im Stadtteil Unterstützung für die Betriebsgruppen organisiert wurde. Im Frühjahr 1969 spekulierte der BPP-Chef David Hilliard auf einen möglichen Zusammenschluss mit der League of Revolutionary Black Workers. Die Panthers organisierten eine »Revolutionäre Arbeiterkonferenz«, bei der die Perspektiven einer Koalition erörtert und die Organisierung des Klassenkampfs zu einer zentralen Herausforderung erklärt wurden. Die Orientierung auf die Arbeiterklasse griff einige Zeit lang auch Huey Newton auf. Aus seiner

Gefängniszelle schrieb er im August 1969: »Die gesamte Arbeiterklasse muss die Produktionsmittel an sich reißen. Das schließt logischerweise schwarze Menschen ein.« Diese Position stellte eine Abkehr von der ursprünglichen Herangehensweise Newtons dar. Anfangs war er davon ausgegangen, dass die Schwarzen in den USA so stark aus der Wirtschaft ausgegrenzt worden seien, dass sie keine produktive ökonomische Macht als Klasse mehr besäßen. Deswegen sah er in der destruktiv-kostspieligen Zerstörungskraft der Gettoaufstände die größte Machtressource im Kampf für Konzessionen gegenüber dem weißen Establishment und die BPP erklärte die arbeitslosen Jugendlichen zu ihrer Zielgruppe. Diese Strategie war insofern ein Zeichen der Hilflosigkeit, dass sie erstens der Übermacht des Staatsapparats nicht gewachsen war und zweitens die Tatsache unterschlug, dass die Mehrheit der Schwarzen eben nicht arbeitslos war, sondern tagtäglich in den Fabriken, Betrieben und Verwaltungen schuftete. Durch diese Stellung im Produktionsprozess ergibt sich für die arbeitenden Menschen eine potenzielle Gegenmacht, denn sie können das Kapital durch Streiks in die Knie zwingen. Letztlich konnte sich diese Orientierung auf Klassenkämpfe in der BPP nicht durchsetzen. Die Strategie und Praxis der Panther war viel stärker durch die Dynamik der Gettoaufstände geprägt als durch eine Orientierung auf die Arbeiterbewegung. Mehrheitlich bildeten sozial Deklassierte und nicht Arbeiter die Aktivistenbasis der Partei. Das Hauptbetätigungsfeld war die »Straße« und nicht der Betrieb. Deswegen blieb die Orientierung auf Klassenkämpfe stets ein untergeordnetes Randphänomen. Die Gegensätze zwischen den beiden dominierenden Strömungen um Cleaver und Newton zerrissen schließlich die Black Panther Party. ■

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Unser Autor Michael Ferschke wird gemeinsam mit Rita Renken bei »MARX IS' MUSS« zum Thema »Malcolm X und Martin Luther King: Zwei Pole der Bürgerrechtsbewegung in den USA« referieren.

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Michael Ferschke ist Mitglied der LINKEN in Berlin und hat Nordamerikastudien studiert.

GESCHICHTE

© Thomas Hawk / CC BY-NC / flickr.com

»Freiheit für Eldridge – Freiheit für alle schwarzen politischen Gefangenen«, fordert »The Black Panther« im Mai 1968. Kurz nach dem Mord an Martin Luther King ist Eldridge Cleaver, Wortführer des militanten Flügels der BPP, im Anschluss an eine Schießerei mit der Polizei verhaftet worden. Er kann jedoch nach Kuba fliehen

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Kinder spielen nach der Schule in einer der engen Straßen der westafghanischen Stadt Herat. Sie entstammen der bereits zweiten Generation des Landes, die im Krieg aufgewachsen ist

© Abdurahman Warsame / CC BY-NC-ND / flickr.com

KULTUR

Ein Leuchtfeuer Im kriegszerrütteten Afghanistan arbeiten Aktivisten nach der Methode des »Theaters der Unterdrückten«. Unser Autor traf sie in Berlin und sprach mit ihnen über aufkeimenden Widerstand, eine Zusammenarbeit mit Yannis Varoufakis und die Rolle des Theaters im revolutionären Prozess ★ ★★

Phil Butland ist Sprecher der LAG Internationals der LINKEN in Berlin und schreibt für marx21 regelmäßig über Kunst und Kultur.

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Von Phil Butland

jalmar Jorge Joffre-Eichhorn ist hartnäckig. »Es kommt darauf an, Afghanistan durch afghanische Augen zu sehen«, sagt er, »nicht ausschließlich vom westlichen Standpunkt, auch wenn der progressiv ist. Wir brauchen einen dekolonisierten Blick.« Der deutsch-bolivianische Dramaturg ist mit seinen afghanischen Kollegen Nik Mohammed Sharif und Hadi Marifat in Berlin, um Ansprechpartner für ihre Afghan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO) zu gewinnen. AHRDO wurde im Jahr 2009 von Sharif, Marifat und fünf weiteren afghanischen Aktivistinnen und Aktivisten gegründet. Joffre-Eichhorn unterstützt sie seitdem. Ihr Ziel ist es, die Methode des Theaters der Unterdrückten in Afghanistan zu etablieren. Die Aktivisten verstehen Theater als eine »Probe für sozialpolitische Veränderung, gefolgt von Aktionen auf der Straße« und als »Katalysator, um die Regierung und die internationale Gemeinschaft unter Druck zu setzen – und um die Menschen zu würdigen, die alles verloren haben«. Entwickelt wurde das Konzept des Theaters der Unterdrückten von dem Brasilianer Augusto Boal während der Militärdiktatur in den 1970er Jahren. Es bot kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten und diente

als Schule für den politischen Kampf. In der revolutionären Woge, die lateinamerikanische Länder wie Venezuela und Bolivien erfasste, spielte es eine Schlüsselrolle. Boal orientierte sich an Brechts Methode des epischen Theaters. Alle Barrieren zwischen Schauspielern und Publikum sollten niedergerissen werden. Der Begründer sah das Theater als Probe für die Revolution, in der die Menschen lernen, politisch zu handeln. Auf die Frage nach den Möglichkeiten in Afghanistan erzählt Marifat, dass die Situation dort nicht so schwarz-weiß ist, wie sie in Europa dargestellt wird: »Es gab auch Erfolge in den vergangenen 15 Jahren. Die Verfassung schreibt die Gleichberechtigung von Frauen vor. Mindestens 25 Prozent der Abgeordneten müssen weiblich sein. Zurzeit sind es sogar 35 Prozent. Aber die Erfolge stehen unter Beschuss. Es gibt Übergriffe auf Aktivistinnen. Gerade haben die Taliban sieben Journalisten getötet und zehn schwer verletzt. Laut Reporter ohne Grenzen war das Jahr 2015 eins der blutigsten für Medienarbeiter in Afghanistan.« Angriffe auf demokratische Rechte kommen sowohl von der Regierung, von den Taliban, und – in gerin-


gerem Maße – von der afghanischen Version des IS. »Die Menschen verlieren das Vertrauen in die Regierung«, erzählt Sharif, »weil diese nichts für die Wirtschaft, die Sicherheit und gegen die Arbeitslosigkeit tut. Drei Millionen Jugendliche sind drogenabhängig.« Die alte Generation von Oppositionellen – von ehemaligen Mudschaheddin bis zu den Sozialdemokraten – hat sich immer um Unterstützung durch den Westen oder andere imperialistische Staaten bemüht. Nun beobachten die Mitglieder von AHRDO aber bei der jüngeren Generation eine neue Politik, die einen fruchtbaren Boden für das Theater der Unterdrückten bietet. »Kabul Taxi«, eine sehr politische Facebook-Seite, gewann innerhalb kurzer Zeit 65.000 Fans. Vor fünf Jahren gründete sich die Bewegung »Afghanistan 1400«. Damit ist das nächste Jahrhundert im afghanischen Kalender gemeint. Die jungen Aktivistinnen und Aktivisten wollen es zu ihrem Jahrhundert machen. Vor Kurzem haben zudem eine Million Menschen in Kabul demonstriert. Nachdem die Taliban ein neunjähriges Mädchen und sieben seiner Familienmitglieder geköpft hatten, organisierten verschiedene Jugendgruppen Demonstrationen im ganzen Land. Zweitausend Menschen stürmten den Präsidentenpalast. Marifat sieht Ähnlichkeiten mit den Bewegungen auf dem Maidan in der Ukraine und dem Tahrirplatz in Ägypten. »Junge Afghaninnen und Afghanen, die eine ›westliche‹ Ausbildung – manche würden Indoktrination sagen – erhalten haben, beginnen, zu rebellieren«, berichtet Joffe-Eichhorn. »Sie lehnen die Taliban ab, aber sie fangen auch an, die widersprüchliche Gegenwart des Westens infrage zu stellen, viel stärker als die vorherige Generation einschließlich unserer Organisation. Ich sehe darin Potenzial für mehr Aktionen, vielleicht wie die Platzbesetzungen anderswo. Es ist das erste Mal, dass so etwas nach 40 Jahren Krieg und Besetzung geschieht. Viele junge Menschen übernehmen eine konservative Interpretation des Islams, aber andere bewegen sich nach links.«

wurde dann AHRDO ins Leben gerufen und unterstützte zunächst Kriegswitwen in ihrem Kampf für Gerechtigkeit. Joffre-Eichhorn erzählt: »Unsere Erfahrungen haben bestätigt, dass die Methode eine mächtige Waffe der Menschen am Rande der Gesellschaft ist, ihre Stimme zu Gehör zu bringen, sich selbst zu ermächtigen und politisch aktiv zu werden.« Wichtig ist, wie es nach der Aufführung weitergeht: »Wir hören nicht mit einem netten Workshop auf, wo sich alle glücklich fühlen. Wir wollen dafür sorgen, dass der Druck auf die Behörden steigt. Wir haben schon erreicht, dass die Straße zum Hauptgefängnis jetzt nach Kriegsopfern benannt wird. Das ist symbolisch wichtig, weil früher alle Plätze nach Warlords benannt wurden.«

Im Jahr 2007 verabschiedeten die Warlords in der afghanischen Regierung ein Gesetz, das ihnen Amnestie für vergangene und zukünftige Verbrechen gewährt. Als Reaktion auf diese »Kultur der Straflosigkeit« fanden damals eine Reihe von Theaterworkshops und Aufführungen statt. Diese Projekte, die sich auch mit Themen wie Frauenrechten, Unterdrückung von Behinderten und Wirtschaft beschäftigten, zogen nicht nur politisch Aktive, sondern viele Ausgegrenzte und Unterdrückte an. Im Jahr 2009

Die Methode des Theaters der Unterdrückten an die sozialen Bedingungen anzupassen, ist für AHRDO ein ständiger Lernprozess – zum Beispiel beim Umgang mit Berührung in einer Gesellschaft, in der Körperkontakt schwierig ist. Hinzu kommen Einschränkungen wie der ständige Stromausfall. Viele der Aufführungen finden in Zelten und Gärten statt. Dabei entschädigt der politische Gewinn für die ästhetischen Einbußen. Internationale Vernetzung ist den Aktivisten von AHRDO besonders wichtig, weil sie befürchten, dass angesichts der Auseinandersetzungen in Syrien, Libyen und Irak Afghanistan zum »vergessenen Krieg« wird. Gleichzeitig wollen sie die Idee des Theaters der Unterdrückten weiter verbreiten: »In Europa wird das Wort ›unterdrückt‹ nicht verwendet, weil man es mit kolonisierten Ländern verbindet. Aber dieser Zustand trifft auch hier auf Millionen von Männern und Frauen zu, die den Begriff aus Angst von Stigmatisierung meiden«, erklärt Joffre-Eichhorn. Die drei Aktivisten haben in Berlin die Auftaktveranstaltung des Democracy in Europe Movement (DiEM) von Yannis Varoufakis besucht. Mit ihm sprachen sie über Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Obwohl sie nicht davon überzeugt sind, dass die EU reformierbar ist, begrüßen sie jeden Versuch, den Status quo infrage zu stellen: »Die alte Theorie von Che Guevara – je mehr kleine Brände wir schaffen, desto größer die Leuchtfeuer.« Die Gruppe plant, ein neues Stück über Drohnen und Selbstmordanschläge nach Europa zu bringen. »In letzter Zeit sind wir vor dem Wort ›Revolution‹ zurückgeschreckt und haben eher von ›Veränderung‹ oder ›Transformation‹ gesprochen«, erklärt Joffre-Eichhorn. »Ich halte es für sinnvoll, uns wieder auf den revolutionären Aspekt der Methode zu besinnen. Nicht nur im globalen Süden, auch im Norden, in den Zentren der Macht.« ■

KULTUR

In Kabul demonstrierten eine Million Menschen

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© Weltkino

Review


film

Mustang | Türkei u.a. 2015

Ausbruch aus der Brautfabrik Fünf junge Mädchen lehnen sich gegen ihre Unterdrückung in einem traditionsgeprägten türkischen Dorf auf. Mit viel Sympathie für ihre Heldinnen gelingt es der Regisseurin des mehrfach ausgezeichneten Films, Klischees zu vermeiden Von Phil Butland sehen würden. Deshalb verschwören sich die Frauen und sabotieren die Stromversorgung. Das Leben der Mädchen wird immer strenger kontrolliert und die Bräute werden immer jünger. Lale und ihre Schwester Nur rebellieren. Letztendlich sehen sie keinen anderen Ausweg, als nach Istanbul zu fliehen. Der Film endet mit Lales und Nurs Ankunft in der Großstadt. Die Mädchen sind dem engstirnigen Dorf entkommen. Ob sie nun aber das Paradies gefunden haben, bleibt offen. Diese Ungewissheit ist wichtig für die Debatte, die der Film ausgelöst hat. Ein Produzent des von Frankreich finanzierten Films pries ihn als »Plädoyer für französische Werte wie Freiheit« an. Einige Kritiker in der Türkei verurteilten ihn als orientalistisch. Beide Seiten beziehen sich dabei auf den im Film dargestellten Widerspruch zwischen dem vermeintlich progressiven, säkularen Westen und dem vermeintlich reaktionären, religiösen Orient. Das passt gut zu der Erzählung, die wir spätestens seit den Anschlägen gegen »Charlie Hebdo« in Paris und zuletzt nach dem Skandal der sexuellen Belästigung von Frauen in Köln immer wieder hören. Aber darauf lässt sich der Film nicht verkürzen. Im Dorf sind zwar viele tatsächlich gläubig,

aber der Glaube bestimmt selten das Leben. Die Gesellschaft ist von Sexismus geprägt, aber der scheint eher soziale und familiäre als religiöse Gründe zu haben. Das Thema von »Mustang« ist nicht die Unterdrückung von Frauen und Mädchen in der Türkei, sondern die Unterdrückung von Frauen und Mädchen, die zufällig in der Türkei leben. Regisseurin Deniz Gamze Ergüven, die in der Türkei und in Frankreich aufwuchs, weiß, dass Frauenunterdrückung kein rein türkisches Phänomen ist. Aber sie hat gesehen, dass sich die Türkei radikal verändert. In einem Interview stellte sie fest: »Die Türkei steckt mitten im Umbruch, alles verändert sich (…) man hat das Gefühl, dass jeden Moment etwas losgehen kann – und es ist völlig unklar, in welche Richtung.« Deshalb ist es wichtig, dass der Film nicht nur Unterdrückung und Flucht, sondern auch Widerstand zeigt. Die heutige Türkei gehört nicht nur Präsident Erdogan, sondern auch den Aktivistinnen und Aktivisten der HDP – den Kurdinnen, Armeniern und Türkinnen, die für die Rechte der nationalen Minderheiten, Frauen und Homosexuellen kämpfen. Sie gehört auch den mutigen Frauen, die »Mustang« geschrieben, gedreht und gespielt haben. ■

★ ★★ film | Mustang | Regie: Deniz Gamze Ergüven | Türkei, Frankreich, Deutschland 2015 | Weltkino Filmverleih | 93 Minuten | seit 25. Februar im Kino REVIEW

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chauplatz ist die heutige Türkei – allerdings ist die Metropole Istanbul weit weg. Lale (Günes Sensoy) lebt mit ihren vier Schwestern bei der Großmutter und dem Onkel in einem Dorf am Meer. Die Mädchen werden bestraft, weil sie am Strand mit Jungen gespielt haben. Ihre Liederlichkeit hat die Familie beschämt. Nun dürfen sie nicht mehr zur Schule gehen und ihr Zuhause wird immer mehr zur Festung. Gleichzeitig beginnt die Familie mit den Hochzeitsvorbereitungen. Frauen aus dem Dorf unterrichten die Schwestern im Kochen, Putzen und Nähen. Lale bezeichnet den Haushalt als Brautfabrik. Die Rolle der Frauen im Dorf – die Großmutter und die Tanten der Mädchen – ist widersprüchlich. Einerseits sind sie die Gefängniswärterinnen. Andererseits waren auch sie einmal junge Mädchen und versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Aber gegen sexuellen Missbrauch in der Familie und seine tragischen Konsequenzen können sie nur wenig ausrichten. Einmal entkommen die Schwestern aus der Wohnung, um sich ein Fußballspiel im Stadion anzusehen. Unglücklicherweise wird das Spiel im Fernsehen übertragen und die Mädchen sind deutlich zu erkennen. Es wäre ein Skandal, wenn die Männer des Dorfs sie

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© Rashid Akrim / NRK P3 / flickr.com

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nter Tränen beschrieb die 15-jährige Nayirah im Oktober 1990 die Gräueltaten irakischer Soldaten in Kuwait. Sie habe miterlebt, wie diese Frühgeborene aus ihren Brutkästen nahmen, um sie dann auf dem kalten Boden sterben zu lassen. Der US-amerikanische Präsident George Bush wiederholte die Geschichte in den folgenden Wochen mehrmals, Amnesty International übernahm sie in ihrem Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Kuwait. Im Januar des darauffolgenden Jahres stimmte der US-Senat für eine Intervention im Zweiten Golfkrieg. Im Jahr 1999 präsentierten Außenminister Joschka Fischer und Verteidigungsminister Rudolf Scharping den sogenannten Hufeisenplan der jugoslawischen Regierung zur systematischen Vertreibung der Kosovoalbaner – und legitimierten so ihre Beteiligung am Kosovokrieg. 2003 begründete US-Außenminister Collin Powell den Irakkrieg mit Bildern, die belegen sollten, dass im Land Massenvernichtungswaffen hergestellt würden. Was diesen drei Geschichten gemein ist: Sie sind frei erfunden. Nayirah stellte sich als Tochter des kuwaitischen Botschafters und ihre Rede als Werk einer PRAgentur heraus. Die Existenz eines Hufeisenplanes konnte genauso wenig bewiesen werden wie Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen. Und doch haben diese Lügen die Welt so maßgeblich geprägt, dass sie zu ganz eigenen Realitäten wurden. Nach eben solchen, mal großen, mal kleinen gemachten Wahrheiten hat die Band »A Tribe Called Knarf« nun ihr neues Album benannt: »Es ist die Wahrheit obwohl es nie passierte«. Über allem schwebt hier immer wieder die Frage nach der Deutungshoheit: Wer schafft diese »Wahrheiten« eigentlich und sind sie wirklich so in Stein gemeißelt? Dabei muss es ja nicht immer um die große Politik gehen.

A Tribe Called Knarf | Es ist die Wahrheit, obwohl es nie passierte

ALBUM DES MONATS Dieser ständige Wunsch nach Neuem: Ob als Knarf Rellöm Trinity, Knarf Rellöm With the Shi Sha Shellöm oder aktuell als A Tribe Called Knarf, das Trio regt zum Tanzen und Nachdenken an

Von David Jeikowski

★ ★★ A Tribe Called Knarf | Es ist die Wahrheit, obwohl es nie passierte | Staatsakt (Universal Music) | 2015

Wer schreibt beispielsweise vor, dass die Liebe »the greatest thing« wäre, »a force from above« wie Frankie goes to Hollywood singen und auf die sich hier textlich und melodiös bezogen wird? Macht sie nicht eher unglücklich, diese in Musik und Fernsehen hartnäckig propagierte »Praxis of Love« (so der schöne Liedtitel)? Knarf dazu: »Vergesellschaftet die Liebe!«. Auch mal ’ne Idee. Und welche Debatte eignet sich besser zur Hinterfragung gesellschaftlicher Pseudoweisheit als die über Geschlechternormativität? »You think I’m a woman/ ’cause I talk like I wo-

man/ But I’m a man/« heißt es da im Song »Gender be Good« beispielsweise ganz unprätentiös von einer tatsächlich schwer einem Geschlecht zuzuordnenden Stimme. Eine unaufwendige Kombination aus klatschender Computerdrum und NDW-artigem Sprach-Loop (»Do, do, dododo, do«) ist schön eingängig, der später einsetzende Bass und die Funk-Gitarre bringen noch ein bisschen Groove rein. Dann heißt es: »You think I’m an animal/ [...] But I’m an alien/«. Was zunächst konterkarierend wirkt, bringt die Problematik ironisch auf den Punkt: Stereo-

type müssen nichts mit der Realität zu tun haben. Manchmal ist es nicht einmal nötig, einer Gruppe je begegnet zu sein, um sie mit Attributen aufzuladen. Ausländer klauen in SachsenAnhalt Arbeitsplätze und Aliens sind grün und kommen in fliegenden Untertassen. Muss man wissen. Nach einem kurzen, StudioBraun-artigen Abstecher in die Welt der Hörspiele (Motto: »Keine Musik ist illegal«) geht es mit »Die Nacht« weiter Richtung Electro. Eine dumpfe Bassline lässt im Kopf nächtliche Großstadtstraßenzüge entstehen, ein satter Stampfer-Beat treibt uns den harten Asphalt herunter. Links und rechts blitzen Klang-Fragmente auf, die sich immer weiter zu einer Melodie verdichten. Wenn die Dunkelheit weicht und Synthie-Gezwitscher endlich einen neuen Tag ankündigt, erwacht mit ihm auch die Zuversicht: »Immer wenn es aussieht/ wie das Ende der Menschheit/ dann kommt etwas Neues/«. Erneuerung und Veränderung scheinen zentrales Moment des Hamburger Trios um Knarf Rellöm zu sein. »Always different, always the same« heißt es dazu im Pressetext. Dieser ständige Wunsch nach Neuem drückt sich neben ständig wechselnden Bandnamen – dieses Mal eine Hommage an die Hip-Hop-Band A Tribe Called Quest – am deutlichsten im Song »Über 20 Geschichten« aus. In einem Affenzahn werden Biographien und Anekdoten (kultur-)historischer Persönlichkeiten angeschnitten, die jeweils eines ganz eigenen Songs würdig wären. Hier folgt Gene Simmons auf Walter Benjamin, Trotzki auf Homer Simpson. Am Ende des Albums bleiben diverse Fragezeichen. Wenn man so will, sind es die großen Fragen der Philosophie, die hier aufgeworfen werden: Was kann ich wissen, was soll ich tun? Doch eben das ist ja die Krux emanzipatorischer Praxis – wir müssen es selbst herausfinden.■


BUCH

Raul Zelik | Mit PODEMOS zur demokratischen Revolution? - Krise und Aufbruch in Spanien

Zwischen Krise und Aufbruch Ein gelungener Rundumschlag: Wer auf der Suche nach einem Einstieg in die spanische Linke und das Phänomen Podemos ist, wird in Raul Zeliks neuem Buch fündig Von Ronda Kipka tel den letzten Jahrhunderten spanischer Geschichte. Gerade die »Transición«, also der von oben organisierte Wandel von der Diktatur Francos in eine parlamentarische Demokratie, ist wichtig zum Verständnis der aktuellen politischen Lage. Ohne das Wissen um diesen Prozess wird es schwierig, die linken Unabhängigkeitsbewegungen und die damit verbundene Unterdrückung und Repression von nationalstaatlicher Seite im Baskenland und Katalonien zu begreifen. Anschließend beschreibt der Autor Entstehung und Auswirkungen der Krise sowie die damit einhergehenden neuen sozialen Bewegungen und Proteste. Zelik, der sowohl in der außerparlamentarischen Linken aktiv als auch Mitglied der Partei DIE LINKE ist, bietet einen guten Überblick über die verschiedenen Sichtweisen auf die Bewegung. So problematisiert er deren Kurzlebigkeit und die damit verbundene Notwendigkeit, sich auch mit parlamentarischen Institutionen auseinanderzusetzen. Er schildert die verschiedenen Etappen von Podemos: von der Idee, über die Gründung, bis zum aktuellen, autoritären Führungsstil der Spitze um Pablo Iglesias.

Zelik lässt die Beteiligten auch selbst zu Worte kommen: Im Anhang des Buchs finden sich drei Interviews wichtigen Akteurinnen und Akteuren: Ada Colau, Aktivistin aus der Hausbesetzerbewegung Barcelonas und gegenwärtig Bürgermeisterin der Stadt; Luis Alegre, Mitbegründer von Podemos und Teil der Führung; und Miguel Urbán, ebenfalls Mitbegründer der Partei, der jedoch dem kritischen, linken Flügel zugerechnet wird. »Ein Wahlsieg hat eben noch nichts mit einer neuen Hegemonie zu tun«, schreibt Zelik. So wird am Ende klar, dass die Frage im Titel eigentlich falsch – oder zumindest verkürzt – gestellt ist. Denn auch wenn Zelik die Aufbruchsstimmung in Spanien mit Podemos als deren sichtbarsten Ausdruck beschreibt, macht er doch andererseits deutlich, dass es zumindest der Partei nicht um eine Revolution geht. Zelik gelingt es, ein umfassendes Bild zu zeichnen und die komplexe Lage zu verdeutlichen, in der Linke in Spanien für eine Veränderung der Verhältnisse kämpfen. Dabei verreißt er weder Podemos als politisches Projekt, noch gibt er sich hoffnungsvollen Illusionen hin. ■

★ ★★ BUCH | Raul Zelik | Mit PODEMOS zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien | Bertz + Fischer | Berlin 2015 | 224 Seiten | 9,90 Euro

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as Problem an der Faszination für Podemos ist (…) nicht nur, dass im Augenblick völlig unklar ist, wo das neue Projekt hinführen wird«, schreibt der Politikwissenschaftler Raul Zelik einleitend, »sondern auch, dass in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit über Spanien überraschend wenig bekannt ist«. Das möchte Zelik ändern: Wenige Monate vor der Parlamentswahl vom Dezember des vergangenen Jahres ist sein neues Buch erschienen. Darin analysiert er unter dem Titel »Mit Podemos zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien« die Entwicklung der neuen Linkspartei. Vorneweg: Das Werk ist jedem zu empfehlen, der sich einen Überblick über die politische Situation in Spanien verschaffen will. Und auch für all diejenigen, die sich schon besser auskennen, hält es eine differenzierte Analyse der Entwicklungen bereit. Der kleine, 200 Seiten umfassende Band ist überschaubar in fünf Kapitel mit jeweils mehreren Unterkapiteln gegliedert und lässt sich daher sehr gut auch absatzweise lesen. Chronologisch geordnet widmet sich Zelik im ersten Kapi-

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Buch

Marxist Pocket Books, Band 6 | Karl Marx | Lohn, Preis, Profit

Eine Sisyphusarbeit Sind Kämpfe für höhere Löhne zwecklos? Karl Marx beantwortete diese Frage im Jahr 1865 in seiner Schrift »Lohn, Preis, Profit«. Der Laika-Verlag hat sie nun neu herausgebracht Von Thomas Walter

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★ ★★ BUCH | Marxist Pocket Books, Band 6 | Karl Marx |Lohn, Preis, Profit - Mit einer Einleitung von Thomas Kuczynski | Laika-Verlag | Hamburg 2015 | 140 Seiten | 9,90 Euro

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er Laika-Verlag veröffentlicht in seiner Reihe »Marxist Pocket Books« einen weiteren Klassiker, nämlich Karl Marx’ »Lohn, Preis, Profit«. Der Ökonom Thomas Kuczynski fungiert als Herausgeber. Bei »Lohn, Preis, Profit« handelt es sich um eine Rede, die Karl Marx 1865 vor dem Zentralrat der Internationalen Arbeiterassoziation hielt. Er setzt sich mit einigen Thesen seines Kollegen John Weston auseinander, stellt dabei die Grundzüge seiner eigenen Kapitalismustheorie dar und erklärt wichtige Grundbegriffe wie Preis, Wert, Wert der Arbeitskraft, Mehrwert und Profit. Zudem geht er auf die »Zusammensetzung des Kapitals« ein, also das Verhältnis zwischen jenem Teil des Kapitals, der in Anlagen und Maschinen, und jenem, der in Löhne investiert wird. Dieses Verhältnis nehme mit dem Fortschritt der Kapitalakkumulation zu. In seinem Werk »Das Kapital« (Erscheinungsjahr 1867) wird Marx diese Theorie zum »Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate« weiterentwickeln, womit er kapitalistische Krisen erklärt. John Weston, der selbst in der Tradition des Frühsozialisten Robert Owen eine Gesellschaft mit selbstverwalteten Genossenschaften anstrebte, hatte behauptet, dass der Kampf der

Arbeiterklasse für Lohnerhöhungen zwecklos sei, weil Lohnerhöhungen nur höhere Preise bewirkten oder zu niedrigeren Löhnen in anderen Wirtschaftszweigen führten. Marx argumentiert dagegen, dass Löhne zulasten der Profite erhöht werden können. Der Lohn als Wert der Ware Arbeitskraft umfasst nicht einfach das physische Existenzminimum, sondern enthält auch ein historisches und gesellschaftliches Element. Was den Arbeitern zugemutet werden kann, verändert sich mit der Zeit und unterscheidet sich zwischen Regionen und Ländern. Aber Marx betont auch die »Abschaffung des Lohnsystems«, also den Sturz des Kapitalismus, als eigentliches Ziel der organisierten Arbeiterbewegung. Denn die Kapitalisten können auf Profit nicht verzichten und werden deshalb immer wieder versuchen, Löhne zu senken und Arbeitszeit zu verlängern. Marx antwortet John Weston, dass der Kampf für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten zwar eine Sisyphusarbeit sei, aber notwendig, um über die »Minimalgrenze« des Lohns zu kommen. Zudem sei dieser Kampf eine Schule für die Arbeiterklasse, unter dem Banner »Nieder mit dem Lohnsystem« den Kapitalismus schließlich revolutionär zu stürzen. Der Herausgeber Kuczynksi stellt in seinem Vorwort Hinter-

gründe zu dieser Debatte dar. In Fußnoten nennt er die jeweiligen Stellen in Marx‘ späterem Hauptwerk »Das Kapital« und weist auf einige Unterschiede hin. Die geschichtliche Entwicklung war zwiespältig. Tatsächlich blieben die Gewerkschaften letztendlich dem Kampf für Reformen innerhalb des Kapitalismus verhaftet. Andererseits konnten Arbeiter und Arbeiterinnen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Gebieten ihre Lebensverhältnisse verbessern und längerfristig verteidigen. Kuczynski erwähnt die sich als revolutionär verstehende anarchosyndikalistische Freie ArbeiterInnen Union (FAU), die aber heutzutage nur 400 Mitglieder habe, während sie in der frühen Weimarer Republik noch groß war. Hier tut sich die Frage der grundsätzlichen Beschränkungen des Gewerkschaftswesens auf und welcher politischen Organisationsform es bedarf, um den Kapitalismus zu stürzen. Die Debatte über Sinn oder Unsinn von Reformismus oder über die Notwendigkeit einer Revolution ist heute in den Gewerkschaften und in der LINKEN anhaltend aktuell. Es ist das Verdienst des Laika-Verlages und des Herausgebers Thomas Kuczinski, Marx’ Rede als einen wichtigen Beitrag hierzu wieder bekannt zu machen.■


Ellen Meiksins Wood | Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche

BUCH DES MONATS Im Januar ist die marxistische Theoretikerin Ellen Meiksins Wood verstorben. Sie hinterlässt der Nachwelt ein beeindruckendes Werk über die Entstehung des Kapitalismus Von Jasper Stange

★ ★★ BUCH | Ellen Meiksins Wood | Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche | Laika- Verlag | Hamburg 2015 | 232 Seiten | 28 Euro

Die kapitalistische Marktgesellschaft ist demnach nicht die natürliche Form menschlichen Zusammenlebens, sondern ein »spätes und lokal begrenztes Produkt sehr spezifischer historischer Bedingungen«, die mit der menschlichen Natur oder transhistorischen Gesetzen nichts zu tun hat. Wood begründet diese These, indem sie die Debatten zwischen Historikern wie Perry Anderson, Robert Brenner und E. P. Thompson nachzeichnet, und nimmt sie als Ausgangspunkt für eine detaillierte Analyse Englands im 16. Jahrhundert, dem Geburtsort des Agrarkapitalismus. Die

Argumentation lässt sich vereinfacht so darstellen: Weil in England die Pachtpreise für Land marktabhängig waren, entstand erstmals der Druck, die Profitabilität der Landwirtschaft zu erhöhen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Ineffizient produzierende Bauern verloren durch diese frühe Form kapitalistischer Dynamik ihr Land, wodurch sich die Bauernschaft in kapitalistische Pächter und landlose Arbeiter polarisierte. Diese besitzlose Masse konnte fortan als billige Arbeitskraft und Markt für billige Konsumgüter dienen – und legte so das Fundament für die Industrialisierung Ende des 18. Jahrhun-

derts. Infolge ihrer Darstellungen dekonstruiert Wood nebenbei immer wieder den Zusammenhang von Moderne, Nationalstaat und Aufklärung mit dem Kapitalismus, den wir so oft unhinterfragt annehmen. So legt sie überzeugend dar, dass die vorherrschende Ideologie des kapitalistischen Englands nicht die Werte der Aufklärung, sondern die der »Verbesserung« von Profitabilität waren. Aufklärung und Kapitalismus sind also nicht untrennbar miteinander verbunden. Dass Einsichten dieser Art keineswegs abstrakte Theorie bleiben, sondern ganz praktische Konsequenzen daraus gezogen werden, ist die große Stärke des Buchs: Denn erst wenn wir die progressiven Werte der Aufklärung und der Moderne (etwa die Forderung nach universaler Emanzipation aller Menschen, die sich die französischen Revolutionärinnen und Revolutionäre auf die Fahnen schrieben) nicht mehr als genuin kapitalistische Konzepte verstehen, wird eine nicht-kapitalistische aufgeklärte Moderne denkbar. Ellen M. Woods Werk hat nicht den Anspruch, alle Fragen zur Geschichte des Kapitalismus zu beantworten. Der eine wird etwa anmerken, frühe Formen des Bankenwesens würden unterbeleuchtet bleiben, die andere wird die Darstellung nicht-marxistischer Erklärungsansätze allzu verkürzt finden. Solche Einwände mögen stimmen, doch sie tun der Überzeugungskraft von Woods Argumentationen keinen Abbruch. »Der Ursprung des Kapitalismus« geht an den richtigen Stellen in die Tiefe und scheut sich nicht davor, streitbare Thesen zu formulieren. Wood schreibt präzise und zeigt wie nur wenige die politische Relevanz historischer Debatten auf. ■

REVIEW

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ie Geschichte des Kapitalismus erfreut sich momentan großer Aufmerksamkeit. Von Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« bis Sven Beckerts »King Cotton« fragten in den vergangenen Jahren mehrere schwergewichtige Veröffentlichungen nach Ursprung und Entwicklung der »schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens« – und wurden weit über den akademischen Kontext hinaus gelesen und diskutiert. In »Der Ursprung des Kapitalismus« bietet die kürzlich verstorbene amerikanische Historikerin Ellen Meiksins Wood einen Überblick über die marxistische Debatte zur Entstehung des Kapitalismus und stellt zugleich grundlegende Prämissen zu dessen Geschichte in Frage. Wood beginnt mit der Darstellung klassischer Positionen zum Ursprung des Kapitalismus von Adam Smith bis Max Weber, die sie unter dem Begriff »Kommerzialisierungsmodell« zusammenfasst. Deren Vertreter verstünden den Kapitalismus als Vollendung eines Drangs zum Tausch, der so alt sei wie die Menschheit selbst: »Die ›Marktgesellschaft‹, die höchste Stufe des Fortschritts, stellt dann die Reifung uralter kommerzieller Praktiken und deren Befreiung von politischen und kulturellen Zwängen (etwa feudalen Eigentumsformen) dar.« Dieser Position, die die Entstehung des Kapitalismus als kontinuierlichen und natürlichen Prozess versteht, steht die zentrale These des Buchs entgegen: Der Kapitalismus, so Wood, kann nicht auf ein immer schon dagewesenes Bedürfnis zum Handeln zurückgeführt werden, dem nur Bahn gebrochen werden musste, und bedurfte außerdem grundlegender sozio-ökonomischer Veränderungen, um hegemonial werden zu können.

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BUCH

Albert Scherr, Caroline Janz, Stefan Müller | Diskriminierung in der beruflichen Bildung

Mit Kopftuch kein Ausbildungsplatz Über die Berufswahl von Jugendlichen entscheidet in Deutschland meist immer noch ihre Herkunft. Erstmals wird in einer Studie untersucht, wie Firmen Bewerberinnen und Bewerber mit Migrationshintergrund bei der Lehrstellenvergabe gezielt benachteiligen Von Corinna Maschke

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★ ★★ BUCH | Albert Scherr, Caroline Janz, Stefan Müller | Diskriminierung in der beruflichen Bildung. Wie migrantische Jugendliche bei der Lehrstellenvergabe benachteiligt werden | Springer VS | Berlin 2015 | 200 Seiten | 24,99 Euro

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it ihrer Studie »Diskriminierung in der beruflichen Bildung« schlägt die Autorengruppe eine Bresche in ein bislang von der Sozialforschung vernachlässigtes Feld. Anhand von Interviews in kleinen, mittleren und großen Unternehmen in Baden-Württemberg untersuchen Scherr, Janz und Müller die Auswahlprozesse bei der Lehrstellenvergabe. Im Mittelpunkt stehen dabei die Fragen, warum und auf welche Weise Jugendliche mit Migrationshintergrund auf dem Ausbildungsmarkt benachteiligt werden und was dagegen getan werden kann. Die Ergebnisse der Befragungen stellt die Autorengruppe am Anfang des Buchs in Form von 14 Thesen vor. Beispielsweise lautet eine dieser Thesen, dass gegenüber Bewerberinnen und Bewerbern, die als muslimisch wahrgenommen werden, eine spezifische Ausprägung von Diskriminierungsbereitschaft herrscht. Somit bieten die Thesen einen guten Überblick über die Gründe, warum Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Personalabteilungen Bewerberinnen und Bewerber mit Migrationshintergrund diskriminieren. Wichtig ist der Autorengruppe, die Benachteiligung im Bereich beruflicher Bildung in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang einzuordnen. Dazu

setzt sie sich detailliert mit dem Begriff »Migrationshintergrund« auseinander und untersucht, wann er wie und in welchem Zusammenhang benutzt wird. Dabei wird zum Beispiel das späte Bekenntnis der Regierung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, als bestimmend für den gesellschaftlichen Diskurs um »die Migranten« benannt. So wird deutlich, wie die deutsche Mehrheitsgesellschaft es seit Generationen nicht schafft, von der Kategorie »Migrationshintergrund« abzusehen, und damit Rassismus immer weiter reproduziert. Damit stellen die Autorin und die Autoren klar, dass die Benachteiligung, die angehende Auszubildende erfahren, nicht als isoliertes Problem betrachtet werden kann. Nicht nur die Betriebe müssen ein Bewusstsein für Diskriminierung entwickeln, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen werde das Problem immer noch zu wenig thematisiert. Im empirischen Teil der Studie werden fünf Fallbeispiele aus der Befragung in Unternehmen vorgestellt. Die Beispiele geben einen guten Überblick darüber, wie bei der Ausbildungsplatzvergabe abhängig von Ort, Branche oder Personalzusammensetzung im Betrieb entschieden wird. Leider erfährt man nicht, wie viele Unternehmen an der Befragung teilgenommen haben.

Kopftuchtragende Muslimas und Jugendliche mit Hauptschulabschluss werden als besonders stark von Diskriminierung betroffene Gruppen herausgestellt. Vorschläge für Maßnahmen, wie die Diskriminierung im Bereich der beruflichen Bildung verringert werden kann, bilden den etwas kurz ausgefallenen Schluss des Buchs. Hier fordert die Autorengruppe vor allem eine stärkere Verantwortung des Staats ein. Trotz dieses Mankos ist die Studie von Scherr, Janz und Müller ein wichtiger Anstoß für die Ausweitung der Erforschung von Diskriminierung im Bildungssystem auf die Berufsbildung. Das Autorenteam hat die Gratwanderung gemeistert, institutionellen Rassismus, der auf Gesetzen und gesellschaftlichen Normen beruht, zu benennen, und gleichzeitig die Betriebe, Personalerinnen und Personaler sowie andere Akteure der Mehrheitsgesellschaft nicht aus der Verantwortung zu entlassen. Damit gibt das Buch einen wichtigen Einblick in die Vielschichtigkeit der Diskriminierungen in der beruflichen Bildung. Zu empfehlen ist die Studie vor allem Betriebsräten und Personalverantwortlichen, aber natürlich auch Studierenden der Sozialwissenschaften und allen, die sich gegen Diskriminierung einsetzen. ■


BUCH

Markus Meinzer | Steueroase Deutschland. Warum bei uns so viele Reiche keine Steuern bezahlen

Löchrig wie ein Sieb Ob Amazons Firmenmodell oder ertappte Fußballmanager – Steuerhinterziehung begegnet uns in den Medien immer wieder. Doch die Hintergründe der Skandale werden selten erklärt. Dies gelingt dem Autor eines neuen Buchs: Er zeigt auf, wie der deutsche Staat sich Unsummen durch die Lappen gehen lässt Von Theodor Sperlea

rechtigkeit, einem weltweiten Zusammenschluss von Steuerexperten und -expertinnen und zivilgesellschaftlichen Organisationen wie attac. Der Index listet den potenziellen Schaden durch Schattenwirtschaft auf. Durch das deutsche Steuergeheimnis, lasche Kontrollen und Föderalismus liegt die Bundesrepublik noch vor den Vereinigten Arabischen Emiraten, Panama und den Marshall Islands. Worin drückt sich das aus? Zum Beispiel ist es für Beschäftigte einer Bank in Deutschland nicht strafbar, Gelder anzunehmen, die wahrscheinlich aus Veruntreuung oder Geldwäsche stammen. Das führt dazu, dass Diktatoren und korrupte Politiker Teile der Entwicklungshilfen ihrer Länder entwenden und ohne größere Probleme auf ihren deutschen Privatkonten anlegen können. Dieses Buch – und das ist in diesem Fall eine Auszeichnung – möchte man immer wieder weglegen und das, was darin steht, nicht für wahr halten müssen. Die Vorgänge, die Markus Meinzer beschreibt, sind unglaublich, jedoch so gut belegt, dass man sie nicht einfach ignorieren kann. »Steueroase Deutschland« ist aber kein Buch, dass mit einer aggressiven Sprache das

Fehlen von Fakten und Recherche verdecken will. Wenn der Autor hin und wieder starke Worte wählt, dann wirken sie durchdacht und gerechtfertigt: »So trägt Steuerflucht dazu bei, Gesellschaften in Nord und Süd zurück ins Mittelalter zu katapultieren.« An den peniblen Beweis der Mitschuldigkeit aller Institutionen schließt der Autor Lösungsvorschläge an, die in anderen Ländern bereits umgesetzt sind. Ganz oben auf der Liste steht Transparenz. Bisher fehlen viele Daten, die für eine umfassende Beurteilung notwendig wären, oder sie sind schwer zu beschaffen. »Wie die Schneedecke in einer Winterlandschaft bedeckt das Steuergeheimnis alle Verständigungen und schluckt alle Geräusche«, formuliert der Autor. Dieses Buch ist ein großer Wurf. Markus Meinzer gebührt damit ein Platz neben Thomas Pickettys »Kapital im 20. Jahrhundert« und Yanis Varoufakis‘ »Der globale Minotaurus«, hält sich jedoch kürzer als Ersterer und schreibt verständlicher als Letzterer. »Steueroase Deutschland« ist eine nützliche Lektüre als Vorbereitung für die politischen Kämpfe der nächsten Jahre, die sich sicherlich immer wieder um leere Haushaltskassen drehen werden. ■

★ ★★ Markus Meinzer | Steueroase Deutschland. Warum bei uns so viele Reiche keine Steuer zahlen | C.H. Beck | München 2015 | 288 Seiten | 14,95 Euro REVIEW

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eere öffentliche Kassen sind das Totschlagargument gegen alle sozialen Forderungen. DIE LINKE setzt sich für eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen ein. Doch viele Reiche zahlen nicht einmal die niedrigen Steuern, mit denen die Bundesregierungen sich ihnen andienen wollen. Der Steueranalyst Markus Meinzer erklärt in seinem Buch »Steueroase Deutschland«, wie Steuerflucht, Korruption und legale Steuerhinterziehung jedes Jahr riesige Löcher in den Staatshaushalt fressen. Auf unter 300 Seiten schafft der Autor das Unglaubliche: Mit einer Datenmenge, die eine lange Recherche bezeugt, und einem Schreibstil, der nie eine bloße Aufzählung dieser Fakten ist, bringt er für die Leserinnen und Leser Licht in das Dunkel der Finanzsysteme. Für ein Sachbuch erstaunlich spannend geschrieben, führt Markus Meinzer Seite für Seite tiefer in den Sumpf der Steuertricks und der korrupten Aufsichtsbehörden. Meinzer beweist, dass die verbreitete Haltung »Steueroasen, das sind die anderen« nicht haltbar ist. Deutschland hält den achten Platz des Schattenfinanzindex des Netzwerks Steuerge-

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© Carsten Schmidt / marx21

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BUCH

theorie21 | Staat, Regierung und Revolution

Strategiefähig werden Nicht alle Theorie ist grau – nämlich, wenn sie aus der politischen Praxis von Aktivistinnen und Aktivisten entsteht. Dies zu verbinden, versucht die neue Ausgabe von theorie21. Das Thema diesmal: Staat, Regierung und Revolution Von Rhonda Koch genug Stoff für viele Bücher. Zugleich hängen sie unmittelbar miteinander zusammen: Die Analyse des Staats ist nicht vollständig, wenn wir nicht auch darüber sprechen, welche Rolle er für gesellschaftliche Veränderung spielt. Gehen wir davon aus, dass der Staat ein Klassenstaat ist, dessen Institutionen der Durchsetzung der Interessen der Kapitalistenklasse dienen – dann stellt sich die Frage der Regierungsbeteiligung, und schließlich jene der Gesellschaftsveränderung, ganz anders, als wenn wir den Staat als Spielball der politischen Kräfteverhältnisse verstehen. Welche Definition wird aber dem modernen Staat gerecht? Was sagt uns die Staatsanalyse über unsere Arbeit »im Hühnerstall des bürgerlichen Parlamentarismus«, wie Rosa Luxemburg es einst nannte? Ist die Auseinandersetzung zwischen Luxemburg und Bernstein – Sozialreform oder Revolution – bereits überholt, wie es in der Debatte um den Begriff der Transformation, als Alternative zu Reform und Revolution, behauptet wird? Wie aber sonst können wir mit den kapitalistischen Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen brechen, wenn nicht über eine grundsätzliche, das heißt revolutionäre Umwälzung? Aber ist

diese ganze Debatte nicht doch wirklichkeitsferne Spekulation? Ein kurzer Blick auf die jüngsten Entwicklungen in Europa beweist das Gegenteil: Das Scheitern von Syriza an der repressiven Memorandumspolitik der EU, aber auch das Aufkommen anderer Bewegungen des linken Reformismus wie in Spanien, England oder den USA, machen solche Fragen aktueller denn je. Es wird deutlich, wie anspruchsvoll und vielseitig eine Strategie der gesellschaftlichen Umwälzung heute aussehen muss. Strategiefähig aber werden wir nur, wenn wir uns – zwischen Klassikern und Erneuerung – ernsthaft diesen Entwicklungen annehmen, aus den historischen Erfahrungen lernen und ehrlich und mutig in die Zukunft schauen. Was ist der Staat und wie sieht er heute aus? Was denken wir über Überwachung? Wie viel Macht hat die Regierung? Welche revolutionären Schritte führen aus dem Europa der Krise? Diese und weitere Fragen diskutieren wir im Journal Theorie21. Der Kapitalismus wird sich nicht von selbst auflösen. Es liegt an uns, die marxistische Tradition lebendig zu halten und damit in Theorie und Praxis die Möglichkeit der gesellschaftlichen Veränderung ins Zentrum zu stellen. ■

★ ★★ Buch | theorie21 | Staat, Regierung und Revolution | erscheint am 5. Mai 2016

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ie Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, d.h. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.« So beschrieb Karl Marx in seinen »Thesen über Feuerbach« den Kern marxistischen Denkens und Handelns. Marx verlangt in dieser These, dass Theorie und Praxis nicht getrennt voneinander behandelt werden. Somit kann der Marxismus als Theorie der Praxis beschrieben werden – und eine lebendige marxistische Tradition bedeutet nichts anderes als die fortwährende Vermittlung und Weiterentwicklung der Verbindung von Theorie und Praxis. Dieser Tradition ist das Journal »Theorie21« verpflichtet, welches das marx21-netzwerk einmal pro Jahr herausgibt. Ziel ist es, fortwährend Theorie zu produzieren, die aus der und für die Praxis von Aktivistinnen und Aktivisten, die sich als revolutionär verstehen, erwächst. Die kommende Ausgabe wird pünktlich zum Kongress »Marx is‘ Muss« erscheinen und sich mit den Themen Staat, Regierung und Revolution beschäftigen. Jedes Thema einzeln bietet

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Konferenz | Frühlingsakademie der LINKEN | »Der (un?)aufhaltsame Aufstieg des Rechtspopulismus« | 20. bis 24. April 2016

»Eine drängende historische Aufgabe« Auf der Frühlingsakademie des Bereichs Politische Bildung der LINKEN geht es darum, den Aufstieg der Rechten in Europa zu stoppen. Mitorganisatorin Sophie Dieckmann erklärt, warum Mitglieder aus allen Parteigliederungen teilnehmen sollen – und hofft auf mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen Interview: Clara Dircksen Sophie, dieses Jahr findet bereits die sechste Frühlingsakademie statt. Was ist die Idee dahinter? Die Frühlingsakademie schafft einen Ort, an dem sich die Mitglieder der Partei DIE LINKE in Ruhe austauschen und weiterbilden können. Unser Anspruch ist es, aktuelle Themen aufzugreifen, mit Expertinnen und Experten zu diskutieren und in entspannter Atmosphäre im Grünen ins Gespräch über Strategien der Partei zu kommen. Letztes Jahr war soziale Unsicherheit das Thema – passend zur Kampagne »Das muss drin sein«. Dieses Jahr geht es um den dramatischen Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und Organisationen in Europa. Warum habt ihr dieses Thema gewählt? Kein Thema hält die Partei aktuell mehr in Atem als die sogenannte Flüchtlingskrise und der ungeheure Rechtsruck in der Gesellschaft. Vor einem Jahr hätte niemand gedacht, dass Angela Merkel so stark von rechts unter Druck geraten würde. Täglich brennen Flüchtlingsunterkünfte, die AfD liegt in bundesweiten Umfragen im zweistelligen Prozentbereich. Die Situation ist dramatisch und erinnert nicht wenige an die folgenreichen Endjahre der Weimarer Republik. Wir als Linke können dieser Entwicklung bislang viel zu wenig entgegensetzen. Dabei ist unsere historische Aufgabe drängend wie nie. Wir brauchen sofort wirksame Strategien gegen diese Politik, sonst steuern wir in die Katastrophe. Welche Fragen werden im Mittelpunkt stehen? Wir werden uns die rechtspopulistischen Organisationen und Bewegungen in Europa genauer ansehen. Was sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Front National, Dansk Folkeparti und AfD? Warum sind sie gerade jetzt so erfolgreich? Außerdem wollen wir die ideologischen Grundlagen des Rechtspo82

Sophie Dieckmann

Sophie Dieckmann arbeitet im Bereich Politische Bildung der Partei DIE LINKE und organisiert die diesjährige Frühlingsakademie zum Thema »Rechtspopulismus« mit. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Leipziger Stadtverbands der Partei. ★ ★★ Frühlingsakademie der LINKEN »Der (un?)aufhaltsame Aufstieg des Rechtspopulismus« 20. bis 24. April 2016 EJB Werbellinsee in Joachimsthal 40 Euro, ermäßigt 20 Euro, Für Transferleistungsbeziehende kostenlos. Kinderbetreuung mit vorheriger Anmeldung. Anmeldung bis 10. März unter: http://www.die-linke.de/partei/politische-bildung/ fruehlingsakademie/fruehlingsakademie-2016/ pulismus analysieren. Auch die soziale Frage wird natürlich ein wichtiges Thema sein: Ohne die neoliberale Kälte, die seit Jahren herrscht, wäre die Renaissance von Chauvinismus und Fremdenhass gar nicht denkbar. Am wichtigsten aber ist die Frage: wie weiter? Samstag und Sonntag sind reserviert für die Diskussion darüber, wie wir die Rechtsentwicklung stoppen können. An wen richtet sich das Angebot? Eingeladen sind alle Mitglieder der LIN-

KEN, die sich informieren und mit anderen Aktiven der Partei austauschen wollen. Die Debatte ist dann spannend, wenn die Aktivistin aus dem No-Pegida-Bündnis in Sachsen mit dem Mitglied der Kölner Ratsfraktion und der stellvertretenden Parteivorsitzenden diskutiert. Wie wird die Frühlingsakademie ablaufen? Am Donnerstag und Freitag gibt es kleinere Diskussionsrunden mit Expertinnen und Experten, zum Beispiel mit dem Publizisten Thomas Wagner, Juliane Lang vom Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus und den Rechtsextremismusforschern Gerd Wiegel und Volkmar Wölk. Am Samstag wollen wir in Workshops, wie »Umgang mit Rechtspopulismus in Kommunalparlamenten« oder »Linke Medienkompetenz gegen Rechtspopulismus im Netz«, praktische Fragen gemeinsam erarbeiten. Highlights sind sicherlich die Podiumsdiskussionen, unter anderem mit Vertreterinnen und Vertretern von Enhedslisten aus Dänemark, der niederländischen SP, dem französischen Journalisten René Monzat und Joana Gwiazdecka, der Leiterin des RLS-Büros in Polen. Gibt es eine Veranstaltung, auf die du dich besonders freust? Am meisten freue ich mich natürlich auf meinen eigenen Workshop »Widerstand gegen Rechtspopulismus auf der Straße – Erfahrungen, Bilanz, Perspektiven«, wo ich gemeinsam mit Aktiven aus Anti-AfD- und Anti-Pegida-Bündnissen Erfahrungen auswerten und über zukünftige Herausforderungen diskutieren will. Aber auch die Abschlussdiskussion mit Jan Korte, Janine Wissler und Heinz Bierbaum verspricht spannend zu werden – ich hoffe auf mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen. ■


2016

marx rEDNEriNNEN

is muss

Laurie Penny Britischen Feministin KeeanGa-yaMaHTTa TayLOr Professorin für AfricanAmerican Studies, Princeton University, USA

STaTHiS KOuVeLaKiS Mitglied von Laiki Enotita (Volkseinheit), Politikwissenschaftler am King‘s College, London KaTJa KiPPinG Parteivorsitzende DIE LINKE COLin BarKer Bewegungsforscher, Herausgeber des Buches »Marxism and Social Movements«

Der KaMPf GeGen raSSiSMuS Podium: Wie stoppen wir die AfD, Pegida & Co?

H

BeTüL uLuSOy Juristin und Initiatorin der Aktion MuslimaPride BernD rieXinGer Vorsitzender DIE LINKE SaMeH naGuiB Ägyptischer revolutionärer Sozialist rauL ZeLiK Schriftsteller, Journalist aLeX CaLLiniCOS Professor für Europastudien am King‘s

College, London; Autor von »Die revolutionären Ideen von Karl Marx«

JOSePH DaHer Syrischer Revolutionär und Blogger

frauenBefreiunG iM 21. JaHrHunDerT H Sozialismus

und Feminismus heute: Strategien für die Befreiung der Frau

H Syriza,

Welche Perspektiven für die europäische Linke?

H Engels

H Ist

die AfD eine faschistische Partei?

H DIE

H Zwischen

H Migration

H Zwischen

und Kapitalismus: Warum das Boot niemals voll ist

H Breit

Podemos, Corbyn:

LINKE und die EU: eine Kontroverse Kürzungsdiktat und Klassenkampf: Wie weiter für die griechische Linke?

BERLIN 05.05. BIS 08.05.

KONGRESS

bekämpfen statt Geflüchtete: Wie weiter für die Refugee-Bewegung?

H Fluchtursachen

THEmENBLÖCKE

Die Zwei GeSiCHTer eurOPaS: ZwiSCHen KürZunGSDiKTaT unD KLaSSenKaMPf

HIMMELFAHRT

über die Entstehung der Frauenunterdrückung Haushalt und Beruf: Einführung in die Theorie der sozialen Reproduktion

H Arbeiterinnen

H Die

H Was

H Raus

H Frauenunterdrückung

Islam: Türöffner für die neue Rechte

H Frankreich:

Wie kann die Front National gestoppt werden?

H Malcolm

X und Martin Luther King: Zwei Pole der Bürgerrechtsbewegung in den USA

H Zwei

Jahre #BlackLivesMatter: Wie weiter im afroamerikanischen Befreiungskampf?

aNmELDuNG

H Eine

Frauenbewegung nach 1968

heute: Stehen wir am Beginn einer neuen Frauenbewegung?

marxistische Geschichte der Europäischen Union

H Sollte

H Neue

werden?

Hoffnung für den Balkan: Die Linke formiert sich

H Lenin:

Autoritärer Machtpolitiker oder radikaler Demokrat?

H Reform,

Revolution, Transformation: Wie sieht der Weg zum Sozialismus aus?

H Die

Ästhetik des Widerstands: Marxismus und Kunst

H Mehr

Podemos nach den Wahlen – eine kritische Bilanz

H Feindbild

und Realwirtschaft – eine marxistische Analyse

H Die

H Spanien:

aus der Gemeinschaftswährung Euro: Alternative oder Irrweg?

H Finanzmärkte

gegen Bürgerinnen: Zwei Flügel der Frauenbewegung vor 1933

und entschlossen: Wie die Nazis in den 1970er Jahren gestoppt wurden ist Antisemitismus?

MiT MarX Die weLT VerSTeHen

Prostitution verboten

...SOwie VieLe weiTere PODien, VeranSTaLTunGen unD BuCHVOrSTeLLunGen

marxismuss.DE

Weltwirtschaft in der Krise: eine ökonomische Analyse als Opium? Marxismus und Religion

H Das

Menschenbild bei Marx

H Marxismus

und Anarchismus

H Rätedemokratie:

Alternative zu Parlament und Kapitalismus?

H Wie

aktuell ist die klassische marxistische Imperialismustheorie?

H Welche

Funktion hat der Staat im Kapitalismus?

H Foucaults

xismus

Verhältnis zum Mar-

F. GrENZEN au T H C E r E BLEiB Für aLLE

Jetzt online unter www.marxismuss.de anmelden, telefonisch unter 030 / 89 56 25 11 oder per Post an: marx21, Postfach 44 03 46, 12003 Berlin. Teilnahmebeiträge [bis 1. April Frühbucher-Rabatt]: Berufstätige 40 Euro [statt 45 Euro] · Geringverdiener / Studierende: 20 Euro [statt 25 Euro] · Hartz-IV-Betroffene / Jugendliche unter 16 Jahren: 15 Euro [statt 20 Euro]


marx21 01/2016 | FRÜHJAHR | 4,50 EURO | marx21.de

Bundeswehr Aufrüstung für neue Kriege

Atomenergie Wer bezahlt für den Atomausstieg?

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Anne Alexander erklärt den Aufstieg des Islamischen Staats

Rosemarie Nünning

wirft einen Blick auf die Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs

Sotiris Kontogiannis berichtet aus Griechenland ein Jahr nach dem Wahlsieg der Linken

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Österreich 4,70 EURO SCHWEIZ 7,50 CHF

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US-Wahlkampf Sanders bricht das Parteiensystem auf


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