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Toni Amort: Gefängnisseelsorge
„Für mich ist es mein Sohn“
¦ Toni Amort, Herberthaus, Brixen
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Söhne im Kerker, Kinder auf der Straße, aber sie haben eine Mutter! Eines Tages bat mich eine Katechistin, doch zu einer Aufbahrung in der Kapelle ihrer Gemeinde zu kommen. Dort liege ein junger Mann, der vor wenigen Stunden ermordet worden war. „Er hatte mit Drogen zu tun“, sagte sie, um mich aufzuklären, worum es sich handelte.
Ich trat in die Kapelle; dort stand der offene Sarg und rings um ihn ein Dutzend Menschen mit ernsten Gesichtern. Jemand bedeutete mir, dass auf einem Stuhl in der Ecke die Mutter saß. Gleich ging ich auf sie zu, nahm sie bei beiden Händen und drückte ihr mein sehr aufrichtiges Beileid aus. Sie war eine arme Frau, aber eine beeindruckende Person. Ganz laut, sodass alle es hören konnten, sagte sie zu mir: „Die Leute sagen, dass er mit Drogen zu tun hatte, dass er Einbrüche und Diebstähle verübt und vielleicht sogar Menschen umgebracht habe. Für sie ist er ein Bandit; aber für mich ist es mein Sohn!“
Diese Worte sind mir unvergesslich geblieben. Als ich dann zum ersten Mal mit den Leuten der GefangenenPastoral zum Gefängnis fuhr und verständlicher Weise gar nicht so begeistert war, mitten unter Verbrecher hinein zu gehen und ihnen unter vier Augen zu begegnen, halfen mir die Worte dieser Mutter sehr!
Im Innenhof des riesigen GebäudeKomplexes warteten wenigstens hundert Männer auf uns. Meine Begleiter hatten gleich freundlichen Kontakt, sie kannten sich ja schon. So fasste auch ich mir ein Herz und ging auf den Ersten zu und begrüßte ihn etwas scheu, aber doch freundlich. Was redet man bei einem solchen Anlass? Grundsätzlich fragen wir nie, warum
sie da seien. Zumeist lassen wir sie anfangen. Gar nicht selten stellt sich heraus, dass es da Leute gibt, die gar nicht da sein sollten. Wir von der Gefängnisseelsorge haben eine tüchtige Advokatin zur Verfügung, die dann in solchen Fällen die Prozesse durchsieht und die nötigen Schritte unternimmt. Mit ihr ging ich einmal ins Frauen-Gefängnis, wo man mich auf eine Mutter von drei kleinen Kindern hinwies. Sie war zu zwei Jahren Kerker verurteilt worden, weil sie im Supermarkt etwas mitgehen ließ. Die Advokatin erwirkte ziemlich schnell ihre Freilassung. Viele sind Opfer von Polizei-Willkür. Einer gab mir die Telefonnummer seiner Frau, die 300 Kilometer weit weg lebte. „Niemand weiß daheim, wo ich bin. Man hat mich auf dem Autobahnhof festgenommen, weil mein Ausweis verfallen war. Schon zwei Monate bin ich da.“ Da waren auch zwei Brüder, die mich kannten, von der Mülldeponie her, wo ihre Mutter arbeitete. Sie baten mich inständig, die Mutter zu bewegen, dass sie doch einmal auf Besuch komme. Ich fand dann heraus, dass sie einfach nicht das Geld für die Busreise hatte. Häufig baten die Männer um Telefon-Karten, denn im Kerker waren Handys verboten und die einzige Möglichkeit, mit der Familie in Verbindung zu treten, war über ein öffentliches Telefon. Wenn einmal das Vertrauen da ist, gibt es auch vertrauliche Gespräche. Einer bekannte mir, dass er schon elf Jahre da war, jedoch immer noch sieben fehlten. „Aber ich klage nicht, ich will zahlen, für was ich getan habe.“ Ganz offensichtlich hat er ein sehr schweres Verbrechen begangen, war also wirklich ein großer Verbrecher. Und doch frage ich mich: ist er es immer noch?
Zu meinem Erstaunen zeigte sich, dass diese Menschen durchwegs ein religiöses Interesse haben. Sie bitten um religiöse Schriften, sogar Rosenkränze, bitten um den Segen und erzählen, dass sie sogar öfters – dort im Kerker – Andachten hielten. Erst recht zeigte sich das bei der darauf-
Feierlicher Einzug zur Messe im Gefängnis.
Andächtige „Verbrecher“ – auch im Kerker gibt es noch Glauben!
folgenden Messe. Wir hatten alles Nötige mitgebracht, auch einige Musikinstrumente. Texte werden verteilt. Wir feiern Einzug, quer durch den Innenhof. Durch die Gitter in den oberen Stockwerken sehen uns die Augen jener zu, die „aus Sicherheitsgründen“ nicht herunterdurften. Häftlinge tragen Kreuz und Leuchter und die Opfergaben; und es wird kräftig gesungen. Einer von ihnen hält die Lesung, die Fürbitten sind ganz spontan. Ich staune sehr, wie viele doch mit tiefer Andacht mitmachen. Der Friedensgruß dauert ziemlich lang, denn da grüßt jeder jeden recht ausgiebig.
Bei jedem Besuch im Gefängnis habe ich Neues und Überraschendes dazu gelernt. Es ist freilich nicht so, dass etwa nichts zu spüren wäre von dem, was so manche von ihnen auf dem Gewissen haben und vielleicht auch imstande wären, es nochmals zu tun. Viele haben niemanden mehr, sie sind selbst von der eigenen Familie verdammt. Für andere konnten wir Werkzeug sein, solche Verbindungen wiederherzustellen. Ich erinnere mich lebhaft, wie eine ganze Familie sich gerührt fühlte, als ich von ihrem Vater Grüße überbrachte und seinen sehnlichsten Wunsch, Besuch zu bekommen. Sie hatten vollständig mit ihm gebrochen!
Mir fällt die Antwort Jesu ein an die Kritiker, die ihm vorwarfen, mit Verbrechern am selben Tisch zu sitzen: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder zur Umkehr“ (Lk. 5,32). Nicht die Strafe ist ihm wichtig, sondern das Heilen.
Setzen wir doch überall, wo wir sind, Zeichen des Friedens.
Roger Schutz