St. Josefs Missionsbote

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„Für mich ist es mein Sohn“ ¦  Toni Amort, Herberthaus, Brixen

Eines Tages bat mich eine Katechistin, doch zu einer Aufbahrung in der Kapelle ihrer Gemeinde zu kommen. Dort liege ein junger Mann, der vor wenigen Stunden ermordet worden war. „Er hatte mit Drogen zu tun“, sagte sie, um mich aufzuklären, worum es sich handelte.

Oben: Söhne im Kerker, Kinder auf der Straße, aber sie haben eine Mutter!

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Ich trat in die Kapelle; dort stand der offene Sarg und rings um ihn ein Dutzend Menschen mit ernsten Gesichtern. Jemand bedeutete mir, dass auf einem Stuhl in der Ecke die Mutter saß. Gleich ging ich auf sie zu, nahm sie bei beiden Händen und drückte ihr mein sehr aufrichtiges Beileid aus. Sie war eine arme Frau, aber eine beeindruckende Person. Ganz laut, sodass alle es hören konnten, sagte sie zu mir: „Die Leute sagen, dass er mit Drogen zu tun hatte, dass er Einbrüche und Diebstähle verübt und viel-

leicht sogar Menschen umgebracht habe. Für sie ist er ein Bandit; aber für mich ist es mein Sohn!“ Diese Worte sind mir unvergesslich geblieben. Als ich dann zum ersten Mal mit den Leuten der GefangenenPastoral zum Gefängnis fuhr und verständlicher Weise gar nicht so begeistert war, mitten unter Verbrecher hinein zu gehen und ihnen unter vier Augen zu begegnen, halfen mir die Worte dieser Mutter sehr! Im Innenhof des riesigen GebäudeKomplexes warteten wenigstens hundert Männer auf uns. Meine Begleiter hatten gleich freundlichen Kontakt, sie kannten sich ja schon. So fasste auch ich mir ein Herz und ging auf den Ersten zu und begrüßte ihn etwas scheu, aber doch freundlich. Was redet man bei einem solchen Anlass? Grundsätzlich fragen wir nie, warum „Für mich ist es mein Sohn“


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