DEAR Magazin 4|2017 | Sebastian Herkner

Page 1

Design

Nr. 4/ 2017–18 — 8,50 Euro

NEBELFÄNGER BRUTALISMUS SICHTBETON

Architektur

Interviews

MICHELE DE LUCCHI CUKROWICZ NACHBAUR JOHANN KÖNIG

LUCIE KOLDOVA GONZALEZ HAASE AAS

VILLA VPRO VON MVRDV

Backflash

+

#DESIGNEROHNEGRENZEN

Sebastian Herkner ILLUSTRIERTE FÜR DESIGN UND ARCHITEKTUR

HEINZE

DEAR

1



EDITORIAL

Bestimmt erinnern Sie sich an den Augenblick: klick, auswerfen, gespannt wedeln, kurz abwarten und: fertig – das Polaroid, ein instant Zeitdokument. Unser Magazin empfinden wir ähnlich. Entgegen dem stetigen Datenstrom, der uns antreibt und informiert, ist es ein Ort, der die Zeit stehen lässt. Für diesen Schnappschuss kuratieren und arrangieren wir ein Mosaik von Inhalten, Bildern und Persönlichkeiten, die aus unserer Sicht in diesem Augenblick eine entscheidende Rolle spielen. Auch das letzte Heft in diesem Jahr ist deshalb gefüllt mit überraschenden Momenten. Von dem jungen Produktgestalter Sebastian Herkner lernen wir zum Beispiel, dass es für den Erfolg nicht unbedingt ein großes Ego braucht. Auf einen Jahresrückblick verzichten wir an dieser Stelle und schauen lieber nach vorne. Denn so, wie das totgesagte Polaroid heute wieder in der Welt ist, glauben wir weiter an das Gute. Klick, auswerfen, gespannt wedeln, abwarten und: fertig. Wir sind sicher, 2018 wird gut getroffen. Ihr Stephan Burkoff

Im Garten von St. Agnes. Am anderen Ende der Leitung: Niklas Maak. Foto: Nils Sanders

3


IMPRESSUM

WWW.HEINZE-DEAR.DE Publisher

Geschäftsführer

Chefredakteur Editorial Director Art Direction & Layout Redaktionsleitung Redaktion

Lektorat Autoren Fotografen

Konzept & Realisation

Gesamtvertriebsleiter Leiter Medienproduktion Druck Zeitschriftenvertrieb

Titelbild: Cyrill Matter, 2017

Danke an

4

HEINZE GmbH Das führende Bauportal für Produktinformationen, Firmenprofile und Architekturobjekte Dirk Schöning Bremer Weg 184 29223 Celle www.heinze.de HEINZE GmbH ist ein Unternehmen der DOCU Group / www.docugroup.de Stephan Burkoff (V. i. S. d. P.) Jeanette Kunsmann Nils Sanders / BÆUCKER SANDERS GmbH Katharina Horstmann (kh) Tim Berge (tb), Julia Bluth (jb), Jana Herrmann (jh), Markus Hieke (mh), Claudia Simone Hoff (csh), Norman Kietzmann (nk), Tanja Pabelick (tp) Anja Breloh, Christa Melli, Dr. Roland Kroemer Niklas Maak, Max Scharnigg, Anne Waak Julie Ansiau, Iwan Baan, Karel Balas, Adolf Bereuter, Gaudenz Danuser, Nicole Franzen, Giovanni Gastel, Adrian Gaut, Zoë Ghertner, Hervé Goluza, Rob ’t Hart, Gerhardt Kellermann, Josef Kubíček, Annette Kuhls, Nicoló Lanfranchi, Delfino Sisto Legani, Cyrill Matter, Klaus Mellenthin, Thomas Meyer, Patricia Parinejad, Faruk Pinjo, Ed Reeve, Nils Sanders, Niels Schubert, Angelika Schwarz, Ramiro Sosa, Alberto Strada, Roman Thomas, Gustav Willeit Mitte Rand UG, Verlag für Inhalt & Kontraste Marienstraße 10, 10117 Berlin www.mitte-rand.de / mail@mitte-rand.de Jörg Kreuder Ulrich Schmidt-Kuhl Vogel Druck, Leibnizstraße 5, 97204 Höchberg MZV GmbH & Co. KG, Unterschleißheim Manuel und Sebastian Herkner, Betty Montarou, Rainer Radlbeck / Tokyobike, Ute Hesse, Corinna Strohmeyer, Laura Wurth, Klaus Füner, Susanne Bail, Nadine Bartels, Wiebke Becker, Christiane Faller, Petra Frerichs, Ulrike Hilck, Melitta John, Mathias Kutt, Michael Lang, Bärbel Rogge, Andrea Sammartano, Michael Sülzer, Sabine Wunsch, Melanie, Charly, Peeke, Anton, Bjarne und Jasper

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, kein Teil dieses Magazins darf in irgendeiner Form (durch Fotogra­ fie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags Mitte / Rand reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



INHALT

DESIGN Editorial Impressum Contributors

3 4 8

11

DOSSIER

Interview: Michele De Lucchi

11

Formsache: Tagtraum Kolumne von Max Scharnigg

14

Ultragraue Implosion

16

Blaumachen im Bregenzerwald

24

Arbeiten im Wohnzimmer

26

Bar im Berg Architecten De Vylder Vinck Taillieu

30

Rotes Leuchten

34

Ab durch die Decke Baugruppe von Gonzalez Haase

42

#designerohnegrenzen Titelstory: Sebastian Herkner

54

34

Zuhause, nicht daheim Ein Kurzessay

84

Sieben Orte an denen man sich zuhause fühlen kann

86

Reportage Wie sich Südtirol mit guter Gestaltung neuerfindet

94

Zimmer mit Aussicht Hospitality Summit in Baku

106

Trinken mit Goldrand

120

Hotelbar oder lieber Bar mit Hotel? Max Scharnigg über das Update eines zeitlosen Ortes

54


ARCHITEKTUR Interview: Cukrowicz Nachbaur Preisträger im Konzerthauswett­ bewerb München Konkret Abstrakt Ein Wohnhaus in der Schweiz Die Macht der Steine Bjarke Ingels spielt mit Lego

MAGAZIN 125

Backflash MVRDV und die Villa VPRO

161

167

132

Zuhause in der Kunst Johann und Lena König im Interview

174

138

Mit dem Tokyobike zum Japaner Kolumne von Niklas Maak Schmetterling statt Doppelniere Über die Coupé-Studie BMW i Visions Dynamic

179

Art is where it all starts Interview: Karin Gustafsson, COS

184

Mode von Gestern: Versace-Barock Kolumne von Anne Waak

192

Brutalismus lebt Wohnturm in Argentinien

140

Der Nebelfänger Warka Water in Äthiopien

146

125

140

161

Kalender Bücher Und morgen?

184

194 198 202


C

O

N

TIM

T

BERGE

R

I

KATHRIN

B

U

SPOHR

T

O

NILS

R

S

SANDERS

In Berlin geboren, studierter

hat an der Köln International

Unser Art Director kommt aus

Architekt, glücklicher Famili-

School of Design diplomiert.

Bremen, ist dann aber (für Bre-

envater und seit vielen Jahren

Nach Stationen als Korrespon-

mer völlig unverständlich) nach

verlässlicher Autor in unse-

dentin in Los Angeles und als

dem Studium der Fotografie in

rem Team – Tim Berge vereint

Gastprofessorin am Art Center

Hamburg gelandet. Glücklicher-

vier Attribute in einer Person,

College of Design in Pasadena

weise hat er über Brasilien den

von denen viele in ihrem Le-

ist sie seit 2003 als Autorin für

Weg nach Berlin und schließlich

ben nicht mal eins erreichen.

Case da Abitare, Damn, Hoch-

auch zu DEAR gefunden. Nils ist

Für unsere vierte Ausgabe hat

parterre, die NZZ am Sonntag,

unser Fels in der Brandung und

Tim nicht nur das erste Wohn-

die Süddeutsche Zeitung und

hat nicht nur das Layout dieses

gebäude von Gonzalez Haase

viele weitere tätig und nun

Magazins entwickelt. Er wird

AAS in Berlin besucht, son-

endlich auch bei DEAR gelan-

auch nicht müde, sich täglich

dern auch den Architekten

det. Für diese Ausgabe hat die

mit Autoren, Fotografen und

Cukrowicz Nachbaur, den glück-

Kölnerin mit MVRDV und ihrem

Lektoren auseinanderzusetzen.

lichen Gewinnern des Münchner

ersten Projekt Villa VPRO ei-

Für dieses Heft hat er zudem

Konzerthaus-Wettbewerbs, in

nen Blick zurückgeworfen – mit

Johann und Lena König foto-

seiner unvergleichbaren Weise

dem Hersteller COR schaut sie

grafiert und dabei mal wieder

auf den Zahn gefühlt.

in die Zukunft.

eine Kirche besucht.

8


VORSCHAU

JOHANN KÖNIG: KIRCHE, KUNST UND ANDERE TRÄUME — AUF SEITE 167

Alicja Kwade, NachBild, 2017. Foto: © Galerie König

9


DE


DESIGN

INTELLEKTUELLER PROVOKATEUR: MICHELE DE LUCCHI VON KATHARINA HORSTMANN

Foto: Giovanni Gastel

11


INTERVIEW

Michele De Lucchi ist als einer der Mitbegründer der einstigen Avantgardebewegung Memphis eine etablierte Größe in der Designwelt. Seine Entwürfe nehmen den Menschen als Ausgangspunkt und folgen dem Wunsch, dessen Leben zu vereinfachen.

Michele De Lucchi, seit 30 Jahren zählt die Tolomeo zu den meistverkauften Leuchten weltweit. Wie kam es zu dem Entwurf? Die Tolomeo ist aus dem Wunsch heraus entstanden, eine Leuchte für meinen Zeichentisch zu entwerfen, an dem ich damals noch viele Stunden am Tag verbrachte. Ich besaß eine Naska Loris, eine wunderschöne Armleuchte mit externer Sprungfeder, an der an sich nichts auszusetzen war: außer dass sie nicht mein eigener Entwurf ist. Worin unterscheidet sich die Tolomeo von anderen Leuchten? Eine Leuchte mit Arm zu entwickeln, ist die größte Herausforderung, die es in der Leuchtenwelt gibt. Man muss den Leuchtenschirm mit nur einer Hand überall hinbewegen können, und er muss dort auch ohne weitere Anstrengungen bleiben. Mit der Tolomeo habe ich eine Leuchte entworfen, die im Prinzip das System der Naska Loris übernimmt, die Sprungfeder jedoch im Inneren versteckt und deren Spannung über ein sehr dünnes Kabel aufrechterhält. Diese Technik ist vom Fischfang inspiriert – davon, wie die Fischer über ein Seil das Netz nach oben und unten manövrieren. Eine weitere Besonderheit ist die Form des Leuchtenkopfes, die einem umgestürzten kegelförmigen Töpfchen ähnelt. Der Sockel

12

sitzt seitlich am Schirm. Ein ebenso dynamisches wie funktionales Detail, da die Wärme der Glühbirne auf diese Weise ganz einfach über ein Loch im oberen Teil des Leuchtenkopfes austreten kann. Im Laufe der Jahre ist aus einer Tischleuchte eine große Leuchtenfamilie hervorgegangen. Worin liegt der Erfolg der Tolomeo? Ich denke, die Tolomeo steht für eine technische Einfachheit, die heute mehr denn je notwendig ist. Sie vereint Technik mit Genügsamkeit und wirkt dabei sehr vertraut. Das hat etwas Beruhigendes. Zudem ist sie nicht nur für eine Funktion bestimmt, sondern eignet sich für überall: zuhause wie im Büro, im Wohnzimmer wie in der Küche. Als die Tolomeo entstand, waren Sie Mitglied der Bewegung Memphis, der auch der Artemide-Gründer Ernesto Gismondi angehörte. Inwieweit wurde Ihre gestalterische Entwicklung davon geprägt? Nach meinem Architekturdiplom in Florenz bin ich nach Mailand gegangen, um für Ettore Sottsass zu arbeiten. Ettore stellte mich Olivetti vor, dem bekannten italienischen Unternehmen für mechanische Maschinen, Schreibmaschinen und später Elektronik, dessen Chefdesigner ich letztendlich wurde. Darüber hinaus

lud er mich ein, bei Memphis mitzumachen. Ich war damals 30 Jahre alt und hatte zwei Perspektiven innerhalb meiner Profession. Auf der einen Seite stand eine sehr industrielle Tätigkeit. Auf der anderen Seite gab es mit Memphis diesen künstlerischen, kulturellen, avantgardistischen Ansatz, mit dem wir die Rolle des Designers und Architekten in der Gesellschaft hinterfragten. Ist er ein Techniker, ein Ingenieur, der Objekten eine gute Form verleiht? Oder ist er jemand, der mehr auf den Lebensraum und die Lebensqualität der Menschen achtet? Es war ein anthropologischer Ansatz. Wie hat sich die Rolle des Gestalters seitdem verändert? Mit Sicherheit haben Architekten und Designer heute eine größere soziale Verantwortung. Das liegt daran, wie sich die Gesellschaft verändert hat. Sie wird heute sehr vom Markt bestimmt. So ist es auch der Markt, der den Wert eines Objektes festlegt, und es findet viel Manipulation statt. Andererseits gibt es viele Möglichkeiten, den Dingen tatsächlichen Wert zu verleihen – mithilfe unserer Vorstellungskraft. Das Wichtigste beim Entwerfen von Objekten ist, ihnen einen abstrakten Wert zu geben und nicht nur einen praktischen. Eine Art Sinn, eine Daseins­berechtigung.


DESIGN

Anlässlich der Erfolgsgeschichte seiner Leuchte Tolomeo sprachen wir mit dem italienischen Architekten über das Geheimnis ihrer Anziehungskraft, die Jagd nach Inspiration und den Sinn von intellektueller Provokation.

Seit ein paar Jahren gibt es eine Art Memphis-Revival. Wie bewerten Sie diese Tendenz? In den Achtzigerjahren haben wir mit Memphis zum ersten Mal eine Verbindung zwischen Design und Mode geschaffen. Mode und Design folgen eigentlich sehr unterschiedlichen Regeln. Mode ändert sich fortwährend – praktisch alle sechs Monate –, während Design von Menschen geschaffen wird, die an die Unendlichkeit denken. Mode spiegelt außerdem sehr die Epoche wider, aus der sie stammt, zitiert dabei jedoch gerne die Vergangenheit. Seit Memphis nutzt auch das Design dieses Stilmittel. Heute ist Memphis wieder in Mode, nächstes Jahr vielleicht nicht mehr, in fünf Jahren redet keiner mehr davon, und in sechs Jahren ist es dann wieder in aller Munde (schmunzelt). Memphis hat die Designwelt radikal verändert. Brauchen wir auch heute noch radikales Design? Ja. Wir werden immer radikales Design brauchen. Den Status quo infrage zu stellen, ist eine starke Triebfeder der Innovation. Wenn wir die Dinge nicht diskutieren, können wir keine Fortschritte machen. Intellektuelle Provokation ist deshalb sehr weise, und die Gelehrten von heute sind im Grunde Provokateure. Radikales Design und radikale Architektur öffnen uns die Augen.

Verstehen Sie sich eher als Architekt oder als Designer? Wenn man Gebäude entwirft, dann gestaltet man den Lebensort der Menschen. Design ist ein Teil davon. Wenn Studierende mich also fragen, ob sie lieber den Schwerpunkt auf Architektur oder Design legen sollen, dann sage ich: „Architektur“. Denn sie vermittelt eine umfassendere Vision der Dinge. Neben Ihrer Tätigkeit als Designer und Architekt sind Sie auch künstlerisch tätig. Worin besteht für Sie das verbindende Element zwischen den Disziplinen? Ich entwerfe Objekte. Auch meine architektonischen Entwürfe sind eigentlich Objekte, ebenso wie meine Kunstwerke oder meine Leuchten. Die Herausforderung besteht darin, Objekte zu schaffen, die eine Anziehungskraft besitzen, eine gemeinsame Stärke. In meiner Arbeit ergänzen sich Kunst, Design, Architektur, Interieur, Fotografie, Film und Literatur – als Objekte im digitalen Zeitalter. Wie würden Sie Ihre Arbeitsweise beschreiben? Die Idee hinter vielen Entwürfen ist, die einfachen Dinge noch einfacher zu machen. Oft erscheint das Leben eigentlich schon bequem, und dennoch kann man wichtige Elemente optimieren. Das

ist sehr stimulierend. Für Architekten und Designer kann es jedoch auch zum Problem werden, Inspiration zu finden. Mir hilft da die Kunst. Sie lässt mich Dinge sehen, für die ich sonst blind wäre. Heutzutage ist die Rolle der Kunst, weniger zu repräsentieren, als vielmehr zu entdecken. Künstler, vor allem experimentelle, sind eigentlich Jäger. Sie gehen auf die Jagd nach Dingen, die übersehen werden. Kunst entsteht auch oft, weil man noch nicht wirklich weiß, was man erschaffen möchte. Wenn man arbeitet, ohne eine exakte Vorstellung zu haben, Stück für Stück, Gedanke für Gedanke, dann muss man mit den Händen arbeiten. Wenn man hingegen mit 3-D-Druck arbeiten möchte, braucht man eine ganz präzise Vorstellung, eigentlich einen fertigen Entwurf. Das mache ich erst, wenn ich schon genau weiß, was ich tun möchte. Das passiert aber eher selten (lacht).

Architetto Michele De Lucchi Studio www.amdl.it 30 Jahre Tolomeo www.artemide.de/tolomeo

13


14 schmelzen würde, wäre es ein Daybed. Dieses Möbelstück ist so ungefähr der Dalai Lama unter den Objekten, alle finden es gut, und wenn es irgendwo rumsteht, will man hin und es anfassen. Es ist kein Möbel, es ist ein Sehnsuchtsort. Und wie zu jedem guten Sehnsuchtsort gehört auch zum Daybed, dass viele eines wollen, aber nur wenige wirklich eines haben und fast niemand es seiner eigentlichen Bestimmung zuführt. Schön ist eben vor allem die Idee Daybed, und die geht so: Man arbeitet in einem kreativen Beruf mit viel Tagesfreizeit, und wenn man vom Denken erschöpft ist, wandelt man ein bisschen in seiner 300-Quadratmeter-Altbauwohnung herum, hört draußen das sanfte Summen einer Weltstadt und solcherart hoch umweht schläft man dann auf dem Daybed nach der Lektüre französischer Feuilletons unter einer Kaschmirdecke für eine feine halbe Stunde ein. Eine halbe Stunde, in der man weder sabbert noch sich die Frisur zerdrückt und nach der man erfrischt und voller neuer Ideen federnd zur Bezzera spaziert und sich einen Espresso zubereitet. Es ist immer noch erst halb vier, durch die Fenster fällt leichtes Sonnenlicht und bei gedämpftem Jazz denkt man: Jetzt werde ich ein bisschen Fenchel kaufen!

Ich glaube, wenn man heute alle Einträge in Designblogs, sämtliche Pinterest-Wunschzettel sowie die heimlichen Gelüste urbaner Menschen zu einem einzigen Produkt ver-

KOLUMNE VON MAX SCHARNIGG

TAGTRAUM FORMSACHE


www.scharnigg.de

Max Scharnigg arbeitet als Redakteur für Stil und Lebensart bei der Süddeutschen Zeitung. Statt eines Daybeds hat er mal ein altes Feldbett gekauft und als Erstes den Bezug bei 50 Grad gewaschen. War keine gute Idee.

Vor allem bräuchte man aber erst mal ausreichend Wohnung dazu, denn so richtig gut wirken Daybeds nur dann, wenn sie frei und leicht an einer hohen Wand stehen und man nie auch nur in Versuchung kommt, sie als Zwischenlager für Haushalts- oder Bürotreibgut zu nutzen. Die meisten mir bekannten Daybeds meiner Bekannten wurden zwar mit großen Ambitionen angeschafft, verschwanden aber dann zügig unter Kleiderhaufen und Bücherstapeln. Zur Rede gestellt, hatten die Besitzer dafür oft eine Ausrede parat, die gar nicht zum Idealbild des Möbels passt. Bequem nämlich sei so ein mittleres Daybed nicht besonders und, das Nickerchen würde sich im richtigen Bett irgendwie leichter einstellen. Dort dann aber freilich nur mit zerdrückten Haaren und schlechtem Gewissen wegen Leistungsgesellschaft etc.

Ja, ganz sicher, so wäre es mit einem Daybed, es wäre der Angelpunkt einer entspannt-eleganten Welt, man wäre ein besserer Mensch mit Daybed und irgendwie ganzheitlich ausgeruhter. Dazu kommt, dass es wirklich viele schöne Daybed-Entwürfe gibt, was auch ein Hinweis auf seine schlichte Funktionalität sein könnte. Jeder kann ein Daybed entwerfen, weil es eigentlich nix können muss. Es verhält sich trotzdem zum richtigen Bett wie eine Sauteuse zum Kochtopf, ist immer irgendwie von Adel und von allem Überflüssigen befreit, genau deswegen finden wir es so charmant. Und dann noch der Name! Ein Bett für den Tag, ein Ort, der sich scheinbar der ganzen Leistungsgesellschaft und der großen Erschöpfung entgegenstellt – wer würde dafür nicht unterschreiben? Es hat die WorkLife-Balance quasi eingebaut, von der wir alle ständig reden. Irgendwann, so hofft man, hat man dieses Leben, in dem ein Daybed Platz hat. Bald!

DESIGN

Daybed BLOW von Emanuele Magini für Gufram, © Gufram

15


PROJEKTE

ULTRAGRAUE

Foto: Niels Schubert

16


DESIGN

IMPLOSION

TEXT: TANJA PABELICK FOTOS: KLAUS MELLENTHIN UND NIELS SCHUBERT

17


PROJEKTE

Der Neubau aus Sichtbeton der Hochschule für Technik in Stuttgart zeigt sich weder im Stadtbild noch im Innern gefällig. Damit greifen Berger Röcker Gork Architekten so manchen Lehrinhalten vor.

18


DESIGN Beton, Glas und Aluminium auf fünf Geschossen, klare Linien und kein Chichi: Der Bau auf dem Universitätsgelände im Zentrum Stuttgarts ist die neue Visitenkarte für die Architekturfakultät. Als „maximale Reduktion“ beschreiben die Planer des Büros Berger Röcker Gork Architekten ihren strengen Monolithen. Die Fassade öffnet sich zur Straßenseite mit zwei vertikalen Glasflächen unterschiedlicher Breite. An den Längsseiten wirken die drei horizontalen, in der Fassade zurückgesetzten Fensterbänder wie zusammengekniffene Sichtschlitze. Es sind die wenigen gestalterischen Elemente, die harten Kontraste zwischen hellem Beton und dunklen Fenstern, die als Statement funktionieren. Es ist aber auch Architektur wie Teflon, die in ihrer funktionalen Konsequenz über den Emotionen steht und auf eine fast autistische Neutralität setzt. Beim Betreten ist sofort klar: Für ein Gebäude der Lehre und des Studiums ist das eine ausgezeichnete Haltung. Es ist ein asketischer Raum, der sich der Arbeit und Konzentration gegenüber einladend zeigt. Er wird zur Leinwand für neue Ideen und bleibt offen für eine flexible Nutzung. Das reduzierte Interieur stellt die präzise ausgeführten Ausstattungsdetails in den Vordergrund. Die Sichtbeton­ oberflächen sind handwerklich hergestellt und vor Ort verbaut, die Aluminiumprofile der Fassade und Innenausbauten millimetergenau gefertigt. In der ästhetischen Stille des Gebäudes haben die Architekten allerdings einige Örtchen des Krawalls versteckt. Wer die Waschräume aufsucht, landet in monochromen Farbwelten. Neonpink, grellorange und ultramarinblau sind hier die Wände – und wer länger bleibt, erlebt mit dem Grau vor der Tür vielleicht sogar eine Kontraststeigerung in der jeweiligen Komplementärfarbe.

Präsentation im Rohbau Foto: Klaus Mellenthin Konzeption und Styling: Irmela Schwengler

19


PROJEKTE

Mehr Aula als Flur: Die Magistrale bietet sich auch als Ort fßr Präsentationen und Publikum an. Fotos: Klaus Mellenthin, Konzeption und Styling: Irmela Schwengler

20


DESIGN

21


Wie kleine Farbkammern sitzen die Waschräume im grauen Kontext. Sie sind monochrom in Pink, Blau oder Neonorange ausgeführt. Fotos: Niels Schubert

PROJEKTE

Projektarchitekten Berger Röcker Gork Architekten www.brg-architekten.de

22

Hochschule für Technik Stuttgart 8.600 Quadratmeter 2012–2016



PROJEKTE

BLAUMACHEN IM BREGENZERWALD Im Bregenzerwald treffen Georg Bechter Architekten mit der behut­­­samen Modern­­isierung eines alten Ferien­hauses den richtigen Ton.

TEXT: JULIA BLUTH FOTOS: ADOLF BEREUTER

24


DESIGN

Filz und Schalter passen zusammen. Bei den Elektroinstallationen entschieden sich die Architekten für die Schalterklassi­ ker LS 990 von Jung in bleu céruléen 31.

Mehr Bilder: www.heinze-dear.de/_0424

In Kurven windet sich die Straße von der kleinen Gemeinde Langenegg den Hügel hinauf nach Rotenberg. Ganz oben steht ein Ferienhaus aus den Sechzigerjahren. Seinen beneidenswerten Bewohnern bietet es eine freie Sicht in Richtung Bodensee sowie auf den höchsten Gipfel der Region: die Damülser Mittagsspitze. Das schlichte Holzhaus hatte lange gute Dienste geleistet, bot jedoch wenig Platz. Um den Wohnraum zu erweitern, hoben Georg Bechter Architekten das Satteldach an und schufen ein modernes Obergeschoss, das sich ebenso harmonisch wie kontrastvoll mit dem Rest des Hauses verbindet. „Bestehende Bausubstanz und neue räumliche Qualitäten treffen aufeinander und machen die besondere Charakteristik des Hauses aus“, erläutern die Planer. „So verschmilzt im Luftraum Alt und Neu, und die nachgedunkelte Vertäfelung des Bestandes geht in die neuen Wände aus Weißtanne über.“

Im neuen Wohn-Schlafbereich des Dachgeschosses eröffnen zwei große Panoramafenster unverbaute Ausblicke in die ländliche Umgebung, während weitere Oberlichter viel Tageslicht einfallen lassen. Mit türkisblauem Filz verkleidete Nischen bieten Rückzugsmöglichkeiten und sorgen für Akzente im minimalistisch hölzernen Innenausbau. Die gelungene Symbiose aus Handwerk und Architektur zeigt, wie sich Tradition und Moderne in zeitgenössischen Bauten verbinden lassen. Das Ferienhaus in Rotenberg spiegelt eine Tendenz, die man vermehrt im Alpenraum beobachten kann: Kleingewerblich organisiertes Baugewerbe lässt regelrechte Architekturperlen entstehen.

Georg Bechter Architekten www.bechter.eu

25


PROJEKTE

ARBEITEN IM WOHNZIMMER TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTOS: ED REEVE

26


DESIGN

27


PROJEKTE

Kvadrat ist eine Maschine, der Hauptsitz der Firma im dänischen Ebeltoft gleicht aber eher einer Wohnlandschaft mit Küche, Kamin und Bibliothek. Wer hier die Finger im Spiel hatte: Sevil Peach

Polstermöbel, Vorhänge und die lärmabsorbierenden Decken­­ paneele von Kvadrat Soft Cells verbessern die Raumakustik. Die Stoffe für die Vorhänge wechseln in Farbe und Textur je nach Zone.

28


DESIGN

Mit Vitra, Novartis und Microsoft als Referenzen kam die Londoner Architektin letzten Sommer nach Ebeltoft in Dänemark: Hier sitzt der 1968 gegründete Textilverlag Kvadrat. Der Firmensitz entstand in den Achtzigerjahren, stammt von den Architekten Poulsen & Therkildsen aus dem benachbarten Aarhus und zeigte sich erstaunlich aktuell. Viel wollte Sevil Peach hier gar nicht ändern, das Backstein-Ensemble benötigte eher etwas Aufmerksamkeit: ein Makeover, ein paar Umbaumaßnahmen und eine Ausweitung der Lagerfläche. Ob ein Headquarter in der Nähe von Basel oder einer jütländischen Kleinstadt: In solchen „Off-Situationen“ muss alles stimmen, damit sich die Mitarbeiter fernab der Großstadt heute und in Zukunft wohlfühlen – vor allem wenn das Unternehmen aus der Design- oder Möbelbranche stammt. Bei Kvadrat kommt die Liebe zu Textilien hinzu, die Stoffe aus Ebeltoft werden schließlich von Architekten und Designern aus der ganzen Welt geschätzt. Auch im Studio von Sevil Peach kannte man die Materialien längst aus vorigen Projekten. Mit Danskina, Kinnasand, Soft Cells, der Raf Simons-Kollektion und den Stoffkollektionen ist die Kvadrat-Gruppe heute einer der führenden Textilverlage der Branche. Trotz Expansion steht weiterhin an erster Stelle die Familie. Das Team von SevilPeach Architecture+Design hat im Kvadrat-Headquarter nicht nur völlig neue Büro- und Arbeitsplätze geschaffen, sondern auch kleine Rückzugsnischen, eine Bibliothek, einen 320 Quadratmeter großen Showroom und ein stattliches Entree in die 37 Jahre alten Mauern gezaubert. Der Gedanke des Open Space ist dabei so konsequent umgesetzt, wie man es selten sieht. Dass hier tatsächlich keine Büroeinheit eine Tür hat, fällt gar nicht auf. Dafür sorgen

akustische Maßnahmen aus der Hausapotheke: Polstermöbel, Vorhänge und die lärmabsorbierenden Deckenpaneele von Kvadrat Soft Cells. Es ist ein Open Office, das funktioniert. Tatsächlich. Mit Sevil Peach kamen auch die Blumen. Und zwar fast in jeden Raum. Außerdem blickt man von jedem Schreibtisch hinaus ins Grüne: dorthin, wo die grauen Schafe grasen, die Olafur Eliasson 2012 aus Island nach Ebeltoft gebracht hat. Auch das rote Haus vom Schweizer Künstler Roman Signer, dessen Satteldach sich nach unten stülpt und das Regenwasser sammelt, steht hier. Durch Anders Byriel, Sohn des Firmengründers und seit 20 Jahren Geschäftsführer von Kvadrat, richtet sich in Ebeltoft alles mehr und mehr auf Architektur und Kunst aus. Das Interieur ist entsprechend den eigenen Produkten extrem hochwertig: Bürostühle und Tische von Vitra, Leuchten von Viabizzuno und eingebaute Regale und Wandschränke aus Eiche treffen auf Designklassiker wie den Loungesessel von Hans Olsen, Fundstücke wie den ess.tee.tisch von Jürg Bally, den Horgenglarus seit 2016 wieder herstellt, oder Kunst von Thomas Demand. Und wenn man sich in der Bibliothek auf eines der weichen Sofas setzt und mit den Augen durch die Regale wandert, fragt man sich nicht, wer hier arbeitet, man will wissen: Wer wohnt hier eigentlich?

Alle Bilder: www.heinze-dear.de/_0426

SevilPeach Architecture+Design www.sevilpeach.co.uk

29


PROJEKTE

BAR IM BERG DE VYLDER VINCK TAILLIEU: ENOTECA DAI TOSI IN MATERA

TEXT: TANJA PABELICK FOTOS: DELFINO SISTO LEGANI

Im süditalienischen Matera hat man die Sache mit dem Weinberg wörtlich genommen. Die Enoteca Dai Tosi gräbt sich mit ihren Gewölben schräg ins Ge­ birge und interpretiert dabei gekonnt die lokale Bauweise. Entworfen haben das ausgerechnet drei Belgier.

30


DESIGN

31


PROJEKTE

32


DESIGN Der historische Teil der apulischen Stadt Matera hängt spektakulär über einer Schlucht im Felsen. Für diese imposante Lage und das, was hinter den Türen der Altstadt wartet, ernannte die Unesco Matera 1993 zum Welt­erbe. Ihr eigentliches Geheimnis liegt jedoch innerhalb des Bergs. Die Häuser sind in den Kalksteinfelsen hineingegraben, das abgetrotzte Material wurde zum Fassadenbau der Sasso genannten Höhlen genutzt. Matera ist eine gigantische Skulptur, homogen in der Landschaft und baulich mit ihr verschränkt. Mittendrin haben die belgischen Architekten von De Vylder Vinck Taillieu eine stilvolle Weinbar versteckt. Über drei Level führt eine breite Treppe in den Berg, auf jeder Etage öffnet sich der Raum mit grob behauenen Decken und einem verwinkelten Layout. Durch das subtraktive Bauverfahren entstanden die Räume über lange Zeit und nach dem Bedürfnis unzähliger Bewohner. Das neue Interieur tarnt sich gekonnt. Gebaut wurde ausschließlich mit lokalem Tuffstein, der zu den Wänden hin aufsteigende Treppen bildet. Sie sind raumbildende Elemente, Architektur und Mobiliar. Der rohe Bestand steht im Kontrast zu einer strengen Geometrie, während der homogene Materialeinsatz alte und neue Strukturen als Einheit wirken lässt. Bei Weinverkostungen werden die Stufen zu Bänken, im Verkaufsbereich zu Regalen, und im Lager halten formschlüssige Kerben auf den Absätzen die Weinflaschen sicher in der Waagerechten. Die mobile Einrichtung ist auf ein Minimum beschränkt. Ein paar Hocker stehen im Raum, Sitzplatten wirken als Stufenaufbau, und ein skulpturales Regal dient als Display. Alle Elemente sind aus flaschengrün lackierten Spanplatten, die in Schichten gestapelt zum funktionalen Mobiliar werden und farbige Akzente in den sandfarbenen Räumen setzen. Die ästhetische Askese ist eine Hommage an Matera, aber auch an die lokale Rebe. Oder wie die Architekten es selbst formulieren: „Die Enoteca ist ein Zuhause, das den Wein umarmt.“

Enoteca Dai Tosi, Matera www.enotecadaitosi.it Architekten Architecten De Vylder Vinck Taillieu, Gent www.architectendvvt.com

33


PROJEKTE

ROTES 34


DESIGN

LEUCHTEN 35


PROJEKTE

Bernhard und Stefan Marte schaffen nicht nur unglaublich fotogene, Instagram-taugliche Gebäude, sie gewinnen mit ihrer Architektur auch jede Menge Preise. Für die neuen Messehallen in Dornbirn wurden die Brüder mit dem Vorarlberger Holzbaupreis 2017 ausgezeichnet.

TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTOS: FARUK PINJO

Die Deckenkonstruktion besteht aus 65 Leimholz-Fachwerkträgern. Auch im Innenausbau kommt Holz zum Einsatz, ergänzend wird unter anderem für die Bögen Beton verwendet.

36


DESIGN Hier kommt alles zusammen: Vorarlberger Baukunst und Handwerk stehen ebenso für Tradition wie für Avantgarde – ein Spagat, den man in der Region immer wieder mit bewundernswerter Leichtigkeit vollzieht. Und Dornbirn als wirtschaftliches Zentrum verfügt über eine Reihe von vermögenden Bauherrn mit Hang zu Architektur, Kultur und Qualität. Verständlich also, dass in und um Dornbirn gerne Heimspiele gebaut werden. Zehn Vorarlberger Architekturbüros waren 2014 von der Messe Dornbirn eingeladen, ihre Vorschläge für den Neubau dreier Messehallen einzureichen. Gewonnen hat der Entwurf von Marte.Marte – Ende Juli 2017 eröffneten die neuen Hallen nach 20-monatiger Bauzeit mit der Art Bodensee. Ursprünglich als Stahlbau konzipiert, stellte das Architekten­ team bei der Detailplanung fest, dass Holz eindeutig der bessere und auch wirtschaftlichere Baustoff für die neuen Messehallen ist. Die Deckenkonstruktion besteht aus 65 Leimholz-Fachwerkträgern mit einer Länge von jeweils 66 Metern. Diese ruhen auf elf Meter hohen Holzstützen, welche entlang der Hallenlängsseiten aufgestellt sind. Auch im Innenausbau kommt Holz zum Einsatz, ergänzend wird unter anderem für die Bögen Beton verwendet. Raumhöhe und Spannweiten stellten Bauherren und Planer vor die Herausforderung, sowohl eine präzise als auch eine

gleichmäßige und dabei auch flexible Ausleuchtung der Hallen zu schaffen, um eine variable Nutzbarkeit für Ausstellungen, Messen, Konzerte, Betriebsfeiern und Kongresse zu gewährleisten. Zumtobel antwortet mit Sonderlösungen der Beleuchtungssysteme Tecton Balanced White in den Hallen und Panos Infinity Tunable White im Foyer und in den Treppenhäusern. Wie so oft verraten die Details die Qualität der Zusammenarbeit zwischen Bauherren, Herstellern und den Architekten von Marte.Marte. Ihr tiefschwarzer, 170 Meter langer und 70 Meter breiter Monolith für die Hallen 9 bis 12 trägt in seinen Einschnitten und im Inneren die markante Hausfarbe der Messe Dornbirn: ein leuchtendes Rot, das in Kombination mit der Black Box dem Gesamtbild etwas Festliches verleiht.

37


PROJEKTE

Licht in der Black Box: Das Zumtobel-Lichtbandsystem Tecton Balanced White kann je nach Anwendungssituation die Farbtemperatur individuell angepasst werden. Durch in der Trag­ schiene integrierte Stromleitprofile lässt es sich über verschiedene Knotenverbinder beliebig kombinieren und zusammenfügen.

38


DESIGN

Holz ist eindeutig der bessere und auch wirtschaftlichere Baustoff für die neuen Messehallen.

In den Erschließungsräumen kommt die Produktreihe Panos Infinity Tunable White von Zumtobel zum Einsatz. Mit bis zu 100 Lumen pro Watt sind die runden LED-Einbau-Down­ lights im Durchschnitt doppelt so effizient wie die herkömmliche Variante.

39


PROJEKTE

Mehr Bilder und Informationen: www.heinze-dear.de/_0434

Projektarchitekten Marte.Marte Architekten www.marte-marte.com Bauherr Messe Dornbirn GmbH www.messedornbirn.at Fotograf Faruk Pinjo / www.farukpinjo.com Messehallen Dornbirn 9–12 Drei Hallen, zwei Foyers, Hof und Seminarbereich, 1.050 Quadratmeter Holzkonstruktion, 2015–2017 Baukosten: 28 Millionen Euro

40


DESIGN

41


PROJEKTE

AB DURCH DIE DECKE TEXT: TIM BERGE FOTOS: THOMAS MEYER / OSTKREUZ

42


DESIGN

Das erste Wohnhaus von Gonzalez Haase Architekten aus Berlin birgt viele spannende Geschichten: Die Episoden sind selbstverständlich, wie sich das für ein zeitgenössisches Format gehört, eng miteinander verwoben.

Nicht nur die Form, auch das Material bestimmt die Architektur. Industrieboden, Metallgewebe und nackter Beton treffen auf weiß verputze Wände und Möbeleinbauten aus Fichte.

Es beginnt an einem nasskalten Morgen in Berlin. Das Haus liegt versteckt in einer kleinen Einbahnstraße, die von denkmalgeschützten Altbauten und Baulücken gesäumt wird. Auf den ersten Blick wirkt der Ort wie eine Filmkulisse – gerade weil das urbane Umfeld eine andere, härtere Sprache spricht. Die Gegend verfügt über alle berlintypischen Merkmale und besticht daher nicht durch äußerliche Schönheit. Es ist ein wildes Durcheinander aus alten Gewerbebauten, Neunzigerjahre-Billigarchitekturen, grauen Plattenbaublocks und einem Industrieareal, das nicht nur von einem großen Berliner Nachtclub, sondern tatsächlich auch noch von der Industrie genutzt wird. Es ist ein Ort, den nicht jeder versteht. Eher eine Gegend für echte Berlin-Lieb­ haber, die weder vor trister Architektur noch vor schlecht gelaunten Nachbarn zurückschrecken. Genau hier hat Pierre Jorge Gonzalez vor einigen Jahren zusammen mit einer befreundeten Familie ein Grundstück erworben, um ein gemeinsames Baugruppenprojekt zu realisieren. Das Haus teilt sich in drei Abschnitte auf: ein Townhouse, das eine Hälfte des Neubaus ausmacht, und zwei Maisonettewohnungen.

43


PROJEKTE

Jede Wohnung braucht die maximale Öffnung des Raums.

44


DESIGN

„Wir sind hier der erste Neubau seit der Wende.“

Pierre Jorge Gonzalez und Judith Haase warten schon vor der Haustür. Da die Straße nur sieben Meter Breite misst, ist das Abstellen von Autos verboten. Eine für Berliner Verhältnisse sehr aufgeräumte Atmosphäre, auch deshalb fühlt man sich wie auf einer Bühne und nicht wie in der real existierenden Stadt. Die reduzierte Fassade des Neubaus aus hellem Putz fällt auf den ersten Blick kaum auf. „Die gesamte Straße steht unter Denkmalschutz“, erklärt Gonzalez auf Englisch mit seinem charmant französischen Dialekt. „Wir sind hier der erste Neubau seit der Wende – dementsprechend kritisch wurde unser Entwurf bewertet. Alles musste mit den Behörden abgestimmt werden.“ Für die

beiden Architekten sind die Umstände, wie das Erscheinungsbild ihres Baus durch die Restriktionen Berliner Ämter entscheidend geprägt wurde, dennoch nebensächlich, denn die Hülle des Hauses ist nicht der Grund, warum wir uns hier treffen. „Das Haus wurde aus der Funktion heraus, von innen nach außen entworfen“, erklärt Judith Haase. Also treten wir ein. Schon das Treppenhaus besticht durch ein für Gonzalez Haase typisches Zusammenspiel aus Material und Licht. Hier trifft die Höhlenhaftigkeit des Betons auf ein enges Metallgewebe. Und durch einen Fensterschlitz, der sich über die gesamte Gebäudehöhe zieht und das Haus vertikal teilt, gelangt Tageslicht ins Innere. Den Architekten ging es immer darum, den Raum maximal zu öffnen: „Denn der größte Luxus beim Wohnen sind doch Licht und Volumen“, meint Judith Haase. Loos’ Raumplan war eines der Vorbilder bei der dreidimensionalen Modellierung der Innenräume, die im Kontrast zum Außenraum nicht spektakulärer hätten gelingen könnten. Vertikale Verbindungen zwischen den Geschossen, verspringende Ebenen und unterschiedliche Raumhöhen sorgen für ein stetiges Spannungsverhältnis zwischen Privatem und Öffentlichem, geschlossen und offen. So wirkt das Townhouse, das den größten Teil des Neubaus einnimmt, wie eine introvertierte Raumskulptur. Allein zum kleinen Hinterhof und angrenzenden Industrieareal entwickelten die Architekten eine Verbindung. Zum Teil verwendeten sie Schiebetüren als Fenster, um eine größtmögliche Öffnung zu erreichen. Ein radikaler Gegenentwurf zur Straßenfassade, die sich an das steinerne Umfeld anpasst.

45


PROJEKTE Bei der Oberflächenwahl in den drei Wohneinheiten zeigen sich die jahre­ langen Erfahrungen von Gonzalez Haase im Innenausbau. Industrie­ böden, weiß verputzte Wände und Decken und Einbauten aus unbehandeltem Fichtenholz erzeugen eine helle und wohnliche Atmosphäre, die durch warmes Kunstlicht getragen wird. Erstaunlicherweise gelingt es den Architekten aber auch, das Tageslicht über eine geschickte Lichtführung von einer Seite des Gebäudes bis zur anderen zu leiten. Durch Fensterbänder in den Wänden und Spiegel dringt es trotz der Enge der Straße bis in jedes Zimmer vor. Mit ihrem ersten Wohnungsbau gelingt den beiden Berliner Gestaltern nicht nur eine Erweiterung ihres Port­ folios – ihnen ist unter schwierigen Bedingungen ein beeindruckendes Bauwerk geglückt, das sich klug den widrigen Gegebenheiten entzieht.

Projektarchitekten GONZALEZ — HAASE / AAS BERLIN www. gonzalezhaase.com Fotograf Thomas Meyer / www.thomas-meyer.com

Die puren Räume dienen als Bühne für individuelle Einrichtungskonzepte.

46

vGGG Building Baugruppe in Berlin für drei Parteien, Ohmstraße 6, 10179 Berlin, 960 Quadrameter, 2013–2016



PURE INDIVIDUALISTEN 48

TEXT: MARKUS HIEKE


DESIGN

Einem Teppich den Grad handwerklicher Fertigungskunst anzusehen, ist eine Frage der Details. Erkennt der Laie das Besondere im Motiv, in Haptik und Textur, so betrachtet der Profi zusätzlich das Garn, die Färbung und die Anzahl der Knoten. Ob schlicht oder aufwendig, letztlich bleibt jedes Produkt ein Unikat. Weil allein die Idee der puren Einzigartigkeit noch viel schöner ist als jede Extravaganz, wurden bei diesen fünf Teppichen alle Effektregler heruntergeschraubt. Ihre Gemeinsamkeit: ein gewisser Hang zur Zurückhaltung und eine Ausstrahlung von Erdung

GARDEN LAYERS

SALT & PEPPER

Inspiriert von indischer Mogul-Architektur, ihren Gärten und Terrassen, hat die spanische Designerin Patricia Urquiola für Gan eine Sitzkissen- und Polsterlandschaft entwickelt, die im Freien wie auch im Wintergarten zum Niederlassen einlädt. Teppich, Matratze, Kissenrolle und Kissen stehen in dezenten Rot-, Beige-, Blau- oder Grautönen, gestreift, gescheckt oder mit Karomuster zur Auswahl. Polypropylenfasern und eine Füllung aus schnell trocknendem Schaum sorgen für Wetterfestigkeit bei unverhofften Regenschauern.

Auf einen Farbklang reduziert und ganz ohne grafisches Element zeigt sich die Teppichkollektion Salt & Pepper von Reuber Henning. Der Teppich gehört zur ersten Flachgewebelinie des Berliner Labels, wird in Indien aus Neuseelandwolle gefertigt und ist in einer Auswahl aus 17 Farben von Grapefruit bis Blueberry erhältlich, welche sich aus je drei Garnfärbungen mischen.

49


PURE INDIVIDUALISTEN

MÍA

DUNE

RADIAL

Seit 1987 produziert die spanische Design­ erin Nani Marquina in ihrem gleichnamigen Unternehmen Teppiche und Heimtextilien. Mit Mía führt sie nun ein gänzlich neues Konzept ein: Die flachgewebten Dhurrie bestehen aus jeweils drei individuell gefärbten Streifen. Per Onlinekonfigurator kann aus zwei Größen, vier Basisfarben und nochmals vier minimalen bis wunderbar fransigen Finishes das persönliche Lieb­ lingsexemplar zusammengestellt werden.

Hem, der Onlineshop mit den flachgepack­ ten Designmöbeln, beweist, dass man mit dem richtigen Maß an kunsthandwerk­ lichem Aufwand schöne Teppiche auch zu einem vergleichsweise günstigen Preis anbieten kann. Die grobmaschige DuneSerie wird von einem sorgfältig ausgewähl­ ten Familienbetrieb in Indien produziert und ist im kleinsten Format für weniger als 400 Euro erhältlich.

Rein maschinell und zu einem Anteil aus Kunststofffasern recycelter Fischernetze hergestellt, beginnt die eigentliche Kunst bei diesen Teppichfliesen von Interface mit dem Verlegen. Der niederländische Herstel­ ler setzt mit Radial auf Biophilic Design, die Nachahmung natürlicher Nuancen. So sind die Fliesen mit unregelmäßigen Farbverläu­ fen in zarten Pastellfarben und neutralen Tönen gehalten. Kein Verlegemuster gleicht dem anderen. Im Objektbereich soll dies für ein dynamisches und zugleich beruhigen­ des, kontemplatives Umfeld sorgen.

NOCH MEHR EINZIGARTIGKEIT AUF DER DOMOTEX Näher am Planer war die Welt der Fußböden wohl nie. Unter dem Titel Unique Youniverse präsentiert die Weltleitmesse für Bodenbeläge im Januar 2018 die neuesten Entwicklungen aus den Bereichen Parkett-, Holz-, Laminatfußböden, Teppich­böden, elastische Bodenbeläge, handgefertigte Teppiche, maschinell erzeugte Webteppiche, Outdoorbeläge und Anwendungs- und Verlegetechnik. Das Thema beschreibt den Trend zur Individualisierung – begleitend führt die Domotex Architekten und Planer in die Einsatzmöglichkeiten von Virtual und Augmented Reality in der Interiorgestaltung ein.

50

Domotex 12. bis 15. Januar 2018 www.domotex.de


51


EDITOR’S PICK — COLOUR

SASKIA DIEZ: USLU COLOURS Schmuck gehört an den Hals, ans Handgelenk, an die Finger und: auf die Nägel. Zumindest wenn es nach Saskia Diez geht. Ihre Nagellackkollektion für das Berliner Kosmetiklabel Uslu Airlines ist wie Wasserfarbe und gibt es in drei Edelsteinfarben, die sich auch miteinander kombinieren lassen.

OBJEKTE UNSERER TAGE: NEUMANN Wenn die Kürbiszeit vorbei ist, sollte man sich etwas Orangenes mit in den Winter nehmen. Das Berliner Studio Objekte unserer Tage setzt dabei auf Reinorange, zum Beispiel bei dem Beistelltisch Neumann aus pulverbeschichtetem Stahlblech. Erhältlich auch in Grau und Grün.

JIJIBABA Der eine arbeitet mit Herz und Humor, der andere ist Minimalist, Spaß verstehen beide. Die Produktdesigner Jaime Hayon und Jasper Morrison haben die erste Kollektion für ihr frisch gegründe­ tes Männermodelabel Jijibaba herausgebracht – mit insgesamt 38 Teilen eine bunte Mischung aus kräftigen Farben und gedeckten Tönen. Manchmal regnet es auch: Shirt Item 03 von Jaime Hayon, erhältlich im Dover Street Market. Foto: Jijibaba.

52


DESIGN

KINNASAND SPACE TUNES Farbe braucht Struktur, Rhythmus und Reflexionen. Für die neue Stoffkollektion von Kinnasand (Kvadrat) bringen Creative Director Isa Glink und ihr Team alles zusammen und komponieren textile Melodien für den Wohnbereich in einer farblichen Neuauflage.

GUFRAM RADIANT CACTUS Dieser Kaktus trägt keine Stacheln, sondern Jacken und Mäntel. Dass die Gufram-Ikone jetzt auch neongrün leuchtet, passt wiederum zur dunklen Jahreszeit. Vorgestellt wurde die glühende Sonderedition der Cactus-Garderobe zur Kunstmesse Frieze in London.

53


54

#DESIGNEROHNEGRENZEN #SEBASTIANHERKNER #DESIGN #HANDWERK #INTERIOR #BELLTABLE #SALONEDELMOBILE #IMMCOLOGNE #INTERVIEW #DEARMAGAZIN #INSTABOY #LASTEXITOFFENBACH


DESIGN VON JEANETTE KUNSMANN UND STEPHAN BURKOFF PORTRÄTS: CYRILL MATTER

55


#DESIGNEROHNEGRENZEN Die Vasenkollektion Tricolore ist der erste Entwurf von Sebastian Herkner fßr das dänische Designunternehmen &tradition. Verschiedene Vasen aus mundgeblasenem Glas werden ineinandergestellt und erzeugen so interessante Farbkompositionen.

56


DESIGN

Die einen bewundern, andere beneiden ihn. Sebastian Herkner hinterfragt sich selbst genug, um sich nicht vom alljährlichen Designzirkus verunsichern zu lassen. Der Produktgestalter bleibt sich treu. Er hört auf sein Gefühl ebenso wie auf seinen Kopf.

57


Sebastian Herkner kommt gerade aus Mailand zurück, fast zeitgleich erreichen erste Prototypen von Ames, Dedon und Thonet sein Offenbacher Studio, da klingeln zwei Journalisten aus Berlin. Während sich der Designer empört, dass Siemens zum Jahresende trotz Milliardengewinn knapp 7.000 Mitarbeiter entlassen wird und wir uns über die Krise des Wohnungsmarkts austauschen, die inzwischen auch Offenbach erreicht hat, fragen wir uns, wie sich die Welt verändern wird. Sebastian hat in Offenbach studiert und ist dort geblieben. Das Bild, das auch durch den Beitrag zur Architekturbiennale 2016 in Venedig von seiner Stadt gezeichnet wurde, ärgert ihn. Sein Studio befindet sich in der Geleitstraße, die an einem Ende von herrschaftlichen Villen gesäumt ist und am anderen eher an Berlin-Kreuzberg erinnert. Das Studio Herkner sitzt genau in der Mitte. In der Mitte angekommen sind, wie Sebastian betont, auch viele der angeblich nur Durchreisenden in seiner Arriv­al-City. Herkner selbst ist viel unterwegs. Allerdings weniger, um in aller Welt an glamourösen Veranstaltungen teilzunehmen, als vielmehr um auf seinen Reisen eine Nähe zu Kulturen und Kulturtechniken zu finden.

Handarbeit aus Glaskeramik: Der Font Round-Tisch für Pulpo spielt mit Formen und Perspektive.

58

Ich glaube, es ist falsch, als Designer eine reine Ich-Geschichte zu fahren.

#DESIGNEROHNEGRENZEN


DESIGN Ob Glas, Messing, Keramik oder Holz: Du arbeitest immer wieder eng mit Handwerkern zusam­ men. Was ist denn für dich der Unterschied zwischen Design und Gestaltung – Handwerker gestalten schließlich auch. Wo fängt Design an, wo kommst du ins Spiel? Ein Designer beobachtet viel interdis­ ziplinärer und geht weiter als ein Handwerker, der in der Regel in seinem Metier und seiner Materialität bleibt. Ein Designer interpretiert hingegen ein Material oder eine Aufgabe und stellt sich durch Veränderungen zum Beispiel gesellschaftlicher Natur oder neue Kombinationen neuen Herausforderungen. Es ist eher ein Designer als ein Handwerker, der sich neue Ideen überlegt. Zum Beispiel? Unsere Zusammenarbeit mit der Firma Kaufmann Keramik, die seit 50 Jahren Kacheln für Kachelöfen in Bayern produziert. Im Gespräch kam ich darauf, dass man mal Tische aus der Kachelkeramik machen könnte, das Material also auf ein anderes Möbel zu übertragen. Mir ist es wichtig, das Potenzial des Handwerks, einer Technik und des Know-hows herauszufinden und für einen komplett anderen Bereich zu nutzen. Es geht also darum, die Dinge auf den Kopf zu stellen. Ein Handwerker ist auf eine gewisse Technik spezialisiert. Die Frage, ob man diese auch mal anders nutzen kann, stellt sich der Spezialist eher selten. Man muss den Handwerkern mit Respekt begegnen – egal ob sie in Kolumbien oder hier in Deutschland sitzen – damit sie dazu bereit sind, über Veränderungen nachzudenken. Und das Gegenüber muss beweglich sein – sonst kommt die Antwort: „Wir haben das schon immer so gemacht.“

Welche Rolle spielen neue Techno­ logien in deinem Studio? Wir entwerfen sehr viel digital, aber die Hightech-Anmutung steht bei uns nicht im Vordergrund, sondern die Qualität, die aus dem Handwerk kommt. Unser neuer Stuhl für Thonet verbindet zum Beispiel beides. Es gibt die klassischen Bugholzelemente, die unter heißem Wasserdampf gebogen werden, es gibt aber auch Elemente, die CNC-gefräst werden. Im Zentrum steht der Wunsch, für jedes Element den besten Herstellungsprozess zu finden.

Wie überzeugst du die Hersteller, die eher eine sichere Nummer wol­ len? Auf den Messen ähneln sich ja viele Neuheiten. Ich brauche natürlich mutige Unternehmen wie Moroso oder Pulpo und muss den Hersteller mit einem Konzept überzeugen, ihn abholen. Das geht nur, wenn man das gemeinsam angeht und beide Seiten es verstehen. Design ist ja keine One-Man-Show. Da müssen alle an einem Strang ziehen: vom Polsterer bis zum Marketing. Es geht ja nicht nur darum, schöne Produkte zu entwerfen.

Im Vorgespräch haben wir über das Moment des Antitrends ge­ redet. Du magst es gerne, dich gegen einen Trend zu stellen und gibst damit eine neue Richtung vor. In deinem Portfolio hingegen fehlt der rote Faden. Wie passiert das? Zufall?

Wie gehst du mit Kritik um?

Ich glaube, das ist eine Haltung, die sich von alleine entwickelt hat. Das Paradebeispiel dafür ist der Bell Table, bei dem ich die Materialien auf den Kopf gestellt habe. Und das Material selbst war etwas aus der Zeit: Messing galt 2009 als altmodisch, wie bei Oma. Als ich studiert habe, arbeitete man eher mit Kunststoff. Ich fand es trotzdem spannend, Messing und Glas neu zu kombinieren. Mal wirklich gegen den Strom schwimmen, das ist viel aufregender. War die Idee beim Bell Table, be­ wusst gegen den Strom zu schwim­ men, oder die Haltung, sich zu hinterfragen? Ich hinterfrage mich ja ständig. Das Gegenüber bleibt an einem Produkt, das erst einmal ungewöhnlich ist, eher hängen und muss sich damit auseinandersetzen. Das ist ja bei der Kunst genauso, dass man dann stehen bleibt. Man muss sich daran reiben. So entstehen Energien und Interesse.

Finde ich prinzipiell immer gut – solange sie objektiv bleibt. Es gibt ja auch Leute, die den Bell Table nicht gut finden. Oder den Moroso-Sessel Pipe: Das dicke Gestell kam in einer Zeit, in der alles immer filigraner wurde. Der eine findet es fettwurstig, der andere meint, es sieht brutalistisch aus. So entsteht eine ganz andere Auseinandersetzung, als wenn man einfach nur ein schönes Möbel macht. Manche Stimmen bezeichnen deine Arbeiten als gefällig. Ist das für dich eine Kritik? Nö. Wie ist denn deine Haltung zum Funktionalismus? Gibt es für dich die wahre, gute Form? Das ist schwierig. Wenn man einen Stuhl entwirft, gibt es so viele Parameter. Wie hoch muss die Rückenlehne sein? Wie sitzt man wirklich, denn in der Realität sitzt man nie gerade, sondern immer etwas gelümmelt. Dann gibt es Leute, die sind nur 1,50 Meter groß, andere aber zwei Meter. Da wird es schwierig, den optimalen Stuhl zu entwerfen, auf dem wirklich jeder bequem sitzt.

59


#DESIGNEROHNEGRENZEN

Andere Designer stellen das kon­ zeptionelle Arbeiten in den Vor­ dergrund, und am Ende soll sich ein Produkt auch gut anfühlen und schick aussehen. Genau, aber erst am Ende! Farbe und Material spielen bei uns von Beginn an eine entscheidende Rolle. Bei vielen Gestaltern kommt die Farbe erst zum Schluss, und letztendlich entscheidet man sich für die fünf üblichen Corbusier-Farben. Dabei funktioniert nicht jede Farbe mit jedem Möbel und jedem Material. Manche haben auch Angst vor Farbe. Wir entwickeln immer aus der Farbe heraus. Deswegen haben wir auch die vielen Glasfarbordner, um damit zu spielen. Bei Textilien ist es genauso, die lassen sich ohne ihre jeweilige Farbe nicht gestalten. Und entscheidend ist hier natürlich auch das Verhältnis von Licht und Schatten. Eine Farbe verändert sich im Tagesverlauf erheblich und ist stets vom Material ab­hängig. Apropos Textilien: Du hast wäh­ rend des Studiums bei Stella Mc­ Cartney gearbeitet, was deinen Arbeitsansatz sicher auch beein­ flusst hat. Klar. In meinem Praktikum habe ich gelernt, wie man Farbe denkt und mit Materialcollagen arbeitet. Das war neben dem Studium ein wichtiger Grundstein. Macht eine Pause. Ich denke gerade noch über das „gefällig“ nach. „Gefällig“ kommt ja vermutlich von „gefallen“. Ich glaube, es kauft

60

sich niemand ein Möbel, das ihm nicht gefällt. Bei der Kunst ist das sicher anders. Da wäre ich mir nicht so sicher. Viele kaufen sicherlich Status: uniforme Einrichtungen und Markennamen, mit denen man nichts falsch machen kann. Wenn man sich aber nur mit Klassikern einrichtet, kann auch nichts Neues entstehen. Eben! Und natürlich will ich als Designer, dass die Produkte Gefallen finden, denn ich habe ja ein Interesse daran, dass sie in eher großer Stückzahl verkauft werden. Du findest es hochinteressant, die Händler zu beobachten und von ihnen zu lernen. Ein Gestalter sagt sonst eher, was er selbst gut findet – aber zu schauen, was die Leute wollen und wie sie sich einrichten, entspricht einer anderen Haltung. Ich glaube, es ist falsch, als De­sign­er eine reine Ich-Geschichte zu fahren. Man muss stets im Dialog sein, auch bereit sein, Kompromisse einzugehen, und überlegen, was auf dem Markt gefragt ist.

Pipe Sofa für Moroso, 2015. Die dominanten Polster auf dickem Stahlrohr liefern einen Gegenentwurf zur filigranen Leichtigkeit unserer Zeit.

Und mal abseits des Stuhls. Spielt für dich die Suche nach der perfek­ ten Form eine Rolle? Was ist wich­ tiger: die Ästhetik, das Konzept? Für mich ist das eine Mischung aus allem.


DESIGN

Als ein junger Mann im baden-württembergischen Bad Mergentheim sein Abitur macht, weiß er sehr genau, was er werden will: Sebastian Herkner will die Dinge gestalten, die uns umgeben – er will Möbel entwerfen, Leuchten, Accessoires. Mit der Allgemeinen Hochschulreife und dem Großen Latinum in der Tasche, das eher für Jura oder Medizin prädestiniert als für ein Designstudium, fährt er 130 Kilometer zur Mappenberatung an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. Das ist 17 Jahre her.

61


#DESIGNEROHNEGRENZEN

Für den Outdoormöbelhersteller Dedon hat das Studio Herkner mit einer geflochtenen Sitzschale auf solider Teakholzbasis eine neue Materialkombination umgesetzt. Die Mbrace-Kollektion wird in Asien gefertigt und gehört zu den Bestsellern Herkners.

62


DESIGN Du bist relativ jung erfolgreich geworden. Wenige deutsche Desig­ ner in deinem Alter arbeiten für so viele internationale Hersteller und haben rund 100 Produkte auf dem Markt. Deine Erklärung? Es kommt auch immer darauf an, woran man arbeitet. Manche Designer wollen eher neue Materialien und Technologien austesten, das benötigt oftmals mehrere Jahre. Wir haben hier einen ganz anderen Ansatz und deshalb vielleicht auch einen anderen Output. Viele meiner Projekte sind ja keine hochentwicklungsbedürftigen Produkte, da sie auf bestehendem Handwerk aufbauen.

für Moroso oder Cappellini. Und so profitieren alle voneinander, weil ich von allen etwas mitnehme. Dennoch bleibt die enge Koope­ ration mit Handwerkern aus aller Welt etwas Ungewöhnliches. Mir hat in meiner Arbeit eine gewisse soziale Komponente gefehlt. Designer arbeiten ja viel im Premiumbereich, fahren nach Mailand, feiern tolle Partys: Alles in allem ist das sehr elitär. Wenn ein Arzt in seinem Job etwas vermisst, kann er bei Ärzte ohne Grenzen

Dabei ist Handwerk auch nicht immer ein schnellerer Prozess. Die Zusammenarbeit mit Dedon an Mbrace hat circa drei Jahre gedauert, und wir entwickeln aktuell die Kollektion noch weiter. Anknüpfungspunkt mit Dedon war mein Interesse am Handwerk und am Material. Wir haben bei Mbrace zum ersten Mal Teak mit dem typischen Geflecht verbunden und so auch ein sehr erfolgreiches Produkt geschaffen. Überlegt. Aber wenn ich mir die aktuellen Produkte der Kollegen ansehe, kommt da plötzlich sehr viel Handwerk vor. Ich mache das kontinuierlich schon seit zehn Jahren. Was auch viel mit dem Wunsch der Kunden nach Individualisierung zu tun hat. Da warst du früh dabei. Es sind leider auch heute eher wenige Designer, die sich wirklich mit lokalem Handwerk in designuntypischen Ländern auseinandersetzen. Matalie Crasset macht solche Projekte und Stephen Burks, das war’s auch schon. Für mich ist es eine wahnsinnige Bereicherung – aber auch für die anderen Firmen, mit denen ich arbeite. Ich lerne ja genauso bei einem Flechtprojekt in Kolumbien wie bei meinen Produkten

mitarbeiten. Deshalb gefällt mir der Gedanke des „Designers ohne Grenzen“. Aber es sollte eben kein One-Shot sein, was leider nicht immer funktio­ niert. In Simbabwe haben sich zum Beispiel nicht die passenden Strukturen ergeben, weil ein Mittelsmann gefehlt hat. Aber bei Ames in Kolumbien klappt es. Und es wächst. Für einige der Beteiligten vor Ort hat sich die Ames-Kollektion wirklich positiv ausgewirkt. Ebenso auch bei der Glasmanufaktur von Poschinger, die ich 2009 im Vorfeld des SaloneSatellite recherchiert habe. Dort wurden die ersten Bell Tables geblasen, und seit 2012 werden sie für Clas-

siCon dort auch in Serie produziert. Poschinger hat vorher meist nur Einzelstücke hergestellt, seit dem Bell Table hat die Manufaktur etwas, das regelmäßig läuft, konnte weiteres Personal einstellen, hat Auszubildende und so weiter. Es geht dir also um Kreisläufe und Prozesse, die hinter einem Pro­ dukt stehen, und nicht unbedingt darum, dass es durch eine Verla­ gerung der Produktion möglichst günstig wird. Das hätte ich beim Bell Table nicht mitgemacht. Bei manchen Produkten geht es leider nicht anders, zum Beispiel bei Dedon: Das Flechtwerk ist so aufwendig, die Herstellung wäre in Deutschland viel zu teuer. Dedon macht das aber seit vielen Jahren in einem guten Rahmen, in einem Land, in dem das Handwerk an seinem Entstehungsort kulturell verankert ist. Viele Firmen könnten aber in ihrem eigenen Land, oder gar in ihrem eigenen Werk produzieren, gehen jedoch woanders hin, wo es wesentlich günstiger ist, und behalten den alten Preis! Das kann man vor allem bei einigen dänischen Firmen beobachten. Dabei kann man gerade in Deutschland verfolgen, was das für eine Region bedeutet und wie sie sich verändert, wenn Produktionsstandorte geschlossen werden. Wenn die Struktur zusammenbricht, bleibt es immer an den Schwachen hängen. Ich finde, so eine Verantwortung tragen Designer mit. Was bedeutet für dich in diesem Zusammenhang der Begriff des „demokratischen“ Designs? Design sollte eigentlich das Ziel haben, für jeden erschwinglich zu sein. Die Krux an dieser Geschichte ist natürlich, dass viele Dinge, die handwerklich in hoher Qualität gefertigt werden, leider für viele eben nicht erschwinglich sind.

63


#DESIGNEROHNEGRENZEN Aber man muss sich ja auch nicht jeden Tag einen neuen Stuhl, Schrank oder ein neues Sofa kau­ fen. Geht es dabei nicht eher um eine Haltung zum Konsum? Da muss die Gesellschaft noch einiges lernen. Eine Kampagne wie „Geiz ist geil“ hat dazu beigetragen, dass die Leute eben lieber viermal bei Aldi eine Gartenschere kaufen als einmal bei Gardena. Solche Fehler machen wir natürlich alle. Wenn man aber mal die Erfahrung macht, dass ein paar gute Schuhe viele Jahre halten, hinterlässt das Spuren. Mein Ziel ist eigentlich, so etwas wie Kompagnons zu schaffen. Produkte, die den Käufer über einen

Freude hat. Für mich kann auch ein grünes Sofa zeitlos sein, wenn ich es wirklich lange habe. Es ist wahrscheinlich weniger eine Frage der Gestaltung, sondern mehr des Charakters und der Qualität. Wobei Qualität eben nicht bedeutet, dass etwas über einen langen Zeitraum unzerstörbar ist, sondern dass es durchaus Patina, also einen positiven Mangel, bekommen darf. Wie man es bei einer Ledertasche kennt. Die Frage lautet also vielmehr, wie ein Produkt altert. Deshalb ist der Messingring beim Bell Table aus massivem Messing. Wenn da ein Kratzer reinkommt, dann ist da ein Kratzer drin, aber es platzt nichts ab. Materialität und Verarbei-

langen Zeitraum begleiten, die mit umziehen, vielleicht sogar weitervererbt werden.

tung sind wichtig.

Also geht es dir um Zeitlosigkeit? Ich weiß nicht. Wenn man „zeitlos“ sagt, denken die Leute immer, dass es schlicht, einfach und weiß sein muss. Muss es aber gar nicht. Auf der Messe stehen die Produkte immer in tollen Farben da, aber bestellt wird Beige, Grau und Braun, vielleicht noch Dunkelblau. Einfach weil man denkt: Das ist zeitlos. Aber es geht bei Zeitlosigkeit doch auch um Qualität. Genau – aber angeschaut wird nur die Farbe und die Form. Qualität spielt kaum mehr eine Rolle. Die Leute kaufen sich vielleicht ein teures Markensofa, schlafen aber auf einer Matratze vom Discounter, weil die keiner sieht. Obwohl die Matratze eigentlich das Wichtigste ist. Man verbringt ja schließlich rund ein Drittel seines Lebens im Bett. Wie würdest du dann Zeitlosigkeit definieren? Ich denke, Zeitlosigkeit ist ein individuell belegter Begriff. Wichtig ist, dass man Dinge kauft, an denen man lange

64

Was können Architekten von Desig­nern lernen? Müssen die was von uns lernen? Ein Designer arbeitet natürlich in einem ganz anderen Maßstab – mit dem Vorteil, dass er Prototypen machen kann. Viele der bekannten Architekten bauen Skulpturen, eher ausdrucksstarke, egozentrische Gebäude. Was ich persönlich nicht mag: Wenn ein Gebäude ein Kunstmuseum sein soll, aber der Kunst nicht dient – wenn Architektur selbst versucht, ein Kunstwerk zu sein. Gebäude sollen mehr als nur fotogen sein. Es gibt aber auch solche Gockel im Design, die ihr Ding machen … … mit einem erkennbaren roten Faden. Bei uns ergeben sich die Vielfalt und Facetten der Produkte auch deshalb, weil wir mit komplett unterschied­ lichen Hersteller zusammenarbeiten: Ein Moroso-Entwurf unterscheidet sich natürlich deutlich von einem Entwurf für Thonet. Ein Designer ist ein Dienstleister. Er muss ein perfektes Produkt liefern. Genauso wie ein Gärtner einen perfekten Garten machen muss.


DESIGN Vorherige Seite: Wolldecke Mulera für Ames in neuen Farben und Mustern, nachhaltig hergestellt in Kolumbien. Stuhl und Beistelltisch Circo für Ames hat Sebastian Herkner im September 2017 auf der Maison & Objet präsentiert. Auf der imm cologne 2018 feiern dazugehörige Pflanzgefäße sowie Lederversionen der Stühle ihre Premiere.

65


#DESIGNEROHNEGRENZEN

66


DESIGN

Zwei geometrische Formen treffen aufeinander. Abgeleitet vom Mila-Tisch fĂźr den Hersteller Pulpo gibt es jetzt die gleichnamige Schale, die eigentlich eine BĂźhne ist.

67


#DESIGNEROHNEGRENZEN

Mit dem Studioumbau im März 2017 hat sich das Leben des Designers verändert. Es gibt jetzt eine private Wohnung und einen Ort zum Arbeiten. Es gibt aber immer noch keinen Feierabend und kein Wochenende. Denn der Designer bezeichnet sich selbst als Workaholic. Stillstand und Kontemplation sind nicht seine Sache. Seinen Erfolg führt er darauf zurück, dass er von Anfang an alles gegeben hat. Dazu gehört eben auch, zehn Jahre lang auf Urlaub zu verzichten, den Salone del Mobile als Jungdesigner aus dem Auto heraus zu besuchen oder darauf zu sparen, seine Entwürfe auf kleineren Messen und Veranstaltungen zu präsentieren. Alles für sein Design. Seine eigene Person betreffend ist Herkner hingegen vollkommen unprätentiös. Eine Ausstellung über sein Schaffen, ein Buch? Das alles erscheint ihm überflüssig.

Der Tisch Terrace Table für das niederländische Unternehmen Linteloo wird im Bayerischen Wald von einem Kachelofenhersteller produziert. Vorgestellt wurde er auf dem Salone del Mobile 2017.

68

Design ist für dich eine Dienstleis­ tung? Natürlich, was soll es denn sonst sein? Eine Form von Kunst, würden einige sicher antworten. Das klingt so, als dürfte Dienstleitung nicht kreativ sein. Ich werde ja beauftragt, also bin ich ein Dienstleister. Indem ich ein Briefing bekomme, gehe ich mit einer Firma eine Kooperation ein. Beim Künstler ist es etwas anderes: Er hat maximal eine Verpflichtung gegenüber seinem Galeristen zu erfüllen. Natürlich ist Produktgestaltung eine kreative Arbeit, aber auch eine Form von Dienstleistung. Ich mag es nicht, wenn Gestalter sich als Künstler wahrnehmen. Ich denke, das steht uns nicht zu. Kunst hat nicht wirklich etwas mit Design zu tun, und umgekehrt. Daher verstehe ich auch Kollegen nicht, die sich in Kunst versuchen. Ohne den Hersteller würde man ein Produkt ja nicht auf die Messe und den Markt bringen. Genau. Das machen aber die anderen Designer auch. Außer, sie produzieren selbst, was ja gerade in meiner Generation sehr wächst und wovor ich Respekt habe. Ich wollte das aber nie, ich möchte ja nicht noch für den Vertrieb und den Versand zuständig sein, sondern möglichst kreativ bleiben. Wie entsteht denn deiner Erfah­ rung nach ein erfolgreiches Pro­ dukt? Es sind viele Faktoren, die ein Produkt erfolgreich machen. Der Entwurf kann super sein, aber das Unternehmen hat gespart, Studenten beauftragt, und die Fotos sind miserabel. Oder die Location ist schlecht, die Mutti hat gestylt – hab ich alles schon erlebt. Fotos sind wahnsinnig entscheidend. Die Präsentation ist wichtig, auch die Agenten: Glauben sie an das Produkt, glauben sie an das Unternehmen? Glauben sie


DESIGN

69


#DESIGNEROHNEGRENZEN

70


DESIGN an eine Vision der Firma oder setzen sie nur auf Klassiker? Und wenn alles klappt, muss es natürlich beim Händler stehen und in einem guten Kontext perfekt arrangiert sein. Wenn der Händler das Produkt dann verkauft, einmal, ein zweites Mal, bestellt er nach und: Es funktioniert.

vidualität der Ergebnisse, wie bei den Vasen für Ames, die den Prozess der Entstehung gerade durch ihre Imperfektion verraten. Was eine besondere Ausstrahlung, Ästhetik und Schönheit haben kann. Das Wichtigste bei Produkten ist, authentisch und ehrlich zu bleiben.

Welche Rolle spielt dabei heute die Ästhetik? Es gab jetzt viele Jahre, in denen alles sehr puristisch und skandinavisch war, von den Farben her sehr weich und pastellig. Aber ich glaube, das wird sich nun langsam ändern. Es wird wieder eleganter – nicht im Sinne einer Opulenz, sondern eher Pariser Chic. Auch

Und kompromissbereit zu sein. Ich lasse mir sowohl von den Handwerkern als auch von den Herstellern etwas sagen und gehe Kompromisse ein. Design ist ein langer Prozess. Ein Dialog zwischen vielen Partnern und Experten. Ich maße mir nicht an, in jedem

Worauf führst du das zurück? Das sind Beobachtungen. Oder vielleicht auch nur mein Wunsch? Er lächelt. Empfindest du dich eigentlich als Industriedesigner? Denkpause. Ich sehe mich eher als Produktgestalter und finde diesen Begriff für mich auch passender. „Industrie“ klingt ja immer nach wahnsinnig großen Stückzahlen, die wir im Bereich Möbel fast alle nicht haben. Das müsste man also definieren. Natürlich werden einige meiner Produkte industriell hergestellt. Aber ich arbeite viel mit Manufakturen: Moroso, Capellini und Thonet sind ja alles handwerklich geprägte Hersteller. Was ist das Besondere an der Zusammenarbeit mit dem Hand­ werk? Mal geht es um etwas sehr Feines und Perfektionistisches. Mal ist es wirk­ liches Handwerk, im Sinne einer Indi-

Bereich Experte zu sein. Ich benötige das jeweilige Feedback, um das Beste aus einer Idee zu bekommen. Selbstverständlich stehe ich zu 100 Prozent hinter jedem meiner Produkte. Sonst breche ich ab, kommt auch mal vor. Es ist wichtig, diesen Moment zu erkennen, „Falsch“ oder „Nein“ zu sagen. „Falsch“ zu sagen? Man muss Ideen verwerfen, Geome­ trien anpassen, Kompromisse ein­ gehen. Ich möchte kein Produkt durchprügeln, es müssen alle Beteiligten dahinterstehen. Design ist Kooperation. Design ist Kommunikation. Was vielleicht der entscheidende Unterschied zwischen Künstlern und Dienstleistern ist: dass ich als Designer bereit bin, Kompromisse einzugehen. Bist du eigentlich ein gläubiger Mensch? Nur bei Abflug und Landung. Lacht laut und schüttelt den Kopf. Nein, ich glaube an etwas. Ich weiß nur nicht genau, ob es ein Gott ist oder eine Philosophie. Zu glauben halte ich generell schon für wichtig.

Ebenfalls 2017 in Mailand präsentiert wurde das Sofa Highline für Linteloo. Entstanden ist Highline aus der Beobachtung eines Kopfkissens, das über einer Stuhllehne hängt und sich nach unten klappt.

die Farben werden gerade wieder kräftiger.

Bauch oder Kopf ? Man muss beides haben! Manchmal hat man einfach eine rosarote Brille auf. Dann ist es gut, seine Ideen in eine Schublade zu legen und zwei oder drei Wochen später oder nach einer Reise noch mal in Ruhe zu schauen, ob man immer noch verliebt ist. Man hat Beziehungen mit seinen Ideen!

71


#DESIGNEROHNEGRENZEN

Auf der Suche nach einer treffenden Erklärung für den Erfolg von Sebastian Herkner können wir keine Antwort finden, die ins mediale Raster der Sensationen passt. Keine Reibungspunkte, keine Allüren, keine markigen Worte. Wo andere vom eigenen Ego getrieben einen Platz in der Welt beanspruchen, macht Herkner einfach unverdrossen das, was ihm Spaß macht: Reisen, Erkunden, Gestalten und Instagrammen. Denn verfolgen kann man den Designer auf seinen Reisen um die Welt fast täglich im Internet. @sebastianherkner #travellingdesigner

72


DESIGN

Mit dem Bell Table kam der Erfolg: 2009 wurde er von Kunstbunkerbesitzer Christian Boros entdeckt und für seine Berliner Sammlung bestellt, Sebastian Herkner erhielt für den hand­ gefertigten Messingtisch mit dem Glasfuß (mundgeblasen!) gleich mehrere Designpreise und bald nahm der Hersteller ClassiCon den Bell Table in sein Programm.

73


IMM 2018

BRENNEN FÜR LICHT

74


DESIGN

Das Medium ihrer Bestimmung steckt bereits in ihrem Vornamen. Mit Licht fand Lucie Koldova ihren Durchbruch. Aus Licht, Glas und Emotion stiftete sie die Identität des böhmischen Glasleuchtenlabels Brokis. Zeit, die tschechische Designerin besser kennenzulernen

TEXT: MARKUS HIEKE

Tischleuchte Macaron für Brokis, Foto: Brokis Linke Seite: Lucie Koldova in ihrem Prager Studio, Foto: Koelnmesse

Wer Lucie Koldova begegnet, trifft in ihr eine selbstbewusste Persönlichkeit: eine Frau, die mit ihren 34 Jahren nicht nur selbst relativ jung ist, sondern mit sichtbarem Erfolg ein junges Label mit traditionsreichem Fertigungswissen repräsentiert und ihm dabei eine unverwechselbare Poesie und Designsprache verleiht. Gegründet wurde Brokis 2006, die Glasmanufaktur im böhmischen Jan­štejn ist mehr als eineinhalb Jahrhunderte alt. Als Jan Rabell, Investor und Eigentümer der Fabrik, der Design­ erin 2012 eine Position als Artdirektorin anbietet, hatte sie gerade aus dem Stand heraus ihr Talent bewiesen. In Kooperation mit Dan Yeffet gestaltete sie Muffins, eine Leuchtenkollektion, über die sie selbst einmal sagte, ihre Ausstrahlung als Kunstobjekt sei ihr eigentlich wichtiger als die technische Funktionalität als Licht: „Ich versuchte, so gut wie möglich das Material zu respektieren und das Design schlicht zu halten. Gleichzeitig sollten großzügige, künstlerische Stücke entstehen, die das Handwerk der Glasbläserei mit dem der Holzverarbeitung kombinieren.“ Erstmalig überhaupt arbeitete Koldova mit dem Material Glas – ein Glück, dass es auf Anhieb so gut lief. Die Leuchte wurde zum Verkaufsschlager. Der Name der Kollektion verrät, woher sie ihre Ideen nahm und nimmt: aus dem Alltag und dessen kleinen

75


IMM 2018 — BRENNEN FÜR LICHT

Für die imm cologne 2018 entwirft Lucie Koldova Das Haus. Fotos: Koelnmesse Freuden. Ihre Augen dürften geglänzt

bration. Glas ist ein robustes Material,

Teppich für Chevalier édition entwor-

haben, als sie 2009 nach Paris kam, um im Studio des israelischen Künstlers und Designers Arik Levy als Praktikantin zu beginnen. In einer Stadt der Kultur, mit Cafés an allen Ecken, dem pulsierenden Rauschen des Verkehrs, dem Tempo einer weltgewandten Metropole. Aufgewachsen in Ústí nad Labem, einer schmucklosen Industriestadt an der Elbe, studierte Lucie Koldova Design an der Prager Akademie für Kunst, Architektur und Design. In Frankreich hatte sie Gelegenheit, berufliche Kontakte zu knüpfen. 2010 startete sie ihr eigenes kleines Lucie Koldova Studio in Paris, lieferte erste erfolgreiche Entwürfe für La Chance, Haymann Editions, MMcité, Lasvit, Per/Use, Lugi und eben für Brokis. Heute führt die Designerin ihr Studio im Herzen der tschechischen Hauptstadt. In Paris sei sie von den multikulturellen Einflüssen inspiriert worden, erzählt Lucie Koldova. Ihre Ziele und sich selbst habe sie dort infrage gestellt. „Nach mehreren Jahren in Frankreich hatte ich mir ein gutes Netzwerk aufgebaut. So bekam ich zunehmend wieder Kontakte nach Tschechien und entschied mich dann zurückzukehren.“ Die Verbindung aus Glas und Licht ist seither zur Passion geworden. „Ich assoziiere Glas mit Energie, Wärme und Vi-

das gleichzeitig hart und fragil wirkt“, sagt Koldova. Mit ihren Experimenten ist sie dabei längst nicht am Ende. Stets aufs Neue findet die Gestalterin ganz eigene Wege, Glas mit Materialien wie edlem Holz, Leder oder Metall zu kombinieren. Zuletzt präsentierte Brokis die Tisch- und Bodenleuchte Macaron – eine Metamorphose aus Glas und Stein. Die Idee: Stein zu durchleuchten und gewissermaßen zum Schweben zu bringen. Eine runde Scheibe aus Onyx, wahlweise weiß oder honigfarben, wird von zwei mundgeblasenen Glaskuppeln umfasst. Die Form verleiht der Leuchte ihren Namen und erinnert unweigerlich an ein süßes Gebäck und an Koldovas Liebe zu Paris. „Da es ein Naturstein ist, haben wir keinen Einfluss auf die Struktur der Adern im Stein“, meint sie, nicht bedauernd, sondern fasziniert. Diese Sinnlichkeit gehört zu ihrer Handschrift. Ihr Antrieb ist die Freude am Ausloten und neu Interpretieren. So nimmt sie selbst die Geburt ihres Kindes nicht als Anlass für eine Pause – im Gegenteil: „Mit der Mutterschaft entsteht eine neue Betrachtung im Leben einer Frau. Pure Instinkte und endlose Liebe“, heißt es zur Kinderwiege Nut, die Lucie Koldova im vergangenen Jahr gestaltet hat. Abseits von Leuchten hat die Designerin darüber hinaus zuletzt einen handgewebten

fen. Brush basiert auf simplen, abstrakten Handzeichnungen – Linien, die Teil einfacher Skizzen zu sein scheinen. Für die imm cologne 2018 gestaltet Lucie Koldova als Ehrengast die Sonderfläche Das Haus – Interiors on Stage, wo sie ihre persönliche Wohnvision vorstellen wird: eine Komposition aus Licht, Materialität und Emotionalität. Ihr Spiel mit Tradition erreicht damit eine neue Ebene. Endlich ein Strahlen aus dem oft unterschätzten östlichen Teil Europas: eine Meisterin, die altes Handwerk in die heutige Zeit überträgt.

76

Lucie Koldova Studio www.luciekoldova.com


DESIGN v.l.n.r.: Hocker Drop, Sofa Floater von Pauline Deltour Beistelltisch Bond von Aust & Amelung Bank Bridge von Uwe Fischer

COR LAB KOLLABORATION TOTAL 77


Links: Uwe Fischer / Rechts: Pauline Deltour

Links: Miriam Aust und Sebastian Amelung / Rechts: Ana Relvão und Gerhardt Kellermann

IMM 2018 — COR LAB

78


v.o.n.u.: Raumteilersystem Chart von Relvão Kellermann / Bank Bridge von Uwe Fischer / Laptoptisch Bond von Aust & Amelung / Poufs Drop von Pauline Deltour

DESIGN Wenn Arbeiten und Wohnen miteinander verschmelzen, braucht es dann überhaupt noch eine Unterscheidung zwischen Büro- und Wohnmöbel? Der Traditionshersteller COR hat mit COR Lab einen Rahmen geschaffen, der dieser Zukunftsfrage Raum gibt. Vier internationale Designteams – Büro Uwe Fischer, Relvãokellermann, Pauline Deltour, Aust & Amelung – haben gemeinsam sechs Möbel für den wohnlichen Workspace gestaltet. Geplant war das COR Lab nicht. Am Anfang stand eine ganz andere Idee. Leo Lübke wollte den Designer Uwe Fischer beauftragen, neue Konferenzmöbel zu gestalten. Fischer, der bereits seit 2010 mit COR kooperiert, lehnte ab. Stattdessen fand der Designer es sinnvoller und spannender, den Fokus der Entwicklung allgemeiner zu halten. „Wie kollaborieren wir künftig? Flexibilität etwa ist ein Riesenthema, wenn Räume, Möbel immer mehr multifunktional genutzt und eingesetzt werden“, erklärt Fischer. So entstand die Idee, für künftige Arbeitssituationen die richtigen Tools zu schaffen. Nicht von einem einzigen Gestalter, sondern von mehreren Designern, generationsübergreifend. Gemeinsam sollten sie ihr Lebensgefühl, ihre Sicht in das Projekt einbringen, um eben die „Tools“ fürs Büro zu entwerfen, die zeitgemäße Bedürfnisse erfüllen. Designerinnen und Designer mit eigener Haltung und COR-affinem Designverständnis wurden ausgesucht. Uwe Fischer formulierte ein präzises Briefing. Jedem Designteam wurde die Aufgabe gegeben, ganz bestimmte Möbeltypen – Hocker, Tisch und Bank, Raumteilungssystem, Sofa oder Peripheriemöbel – zu entwickeln. „Es klingt verrückt: Für uns ist es relativ neu, mit Designerinnen zusammenzuarbeiten. Nicht, weil wir nicht wollten. Es hat einfach nie richtig gepasst“, so Leo Lübke über ein weiteres Novum dieses Projekts. Trägt die erste COR Lab Kollektion also eine explizit feminine Handschrift? – „Es geht um Qualität“, antwortet Pauline Deltour, „um Komfort, Flexibilität und Effizienz.“ Nach einem Besuch der COR Manufaktur haben die Teams in ihren eigenen Büros in Frankfurt, Kassel, München und Paris losgelegt. Erst bei einer gemeinsamen Präsentation kristallisierte sich heraus: Die einzelnen Möbel haben das Potenzial, als kompatibles Ensemble im Sinn einer Kollektion positioniert zu werden. Sie passen ästhetisch und funktional zueinander, lassen sich quasi miteinander verlinken und fokussieren auf das „Leben und Arbeiten in neuer Balance“. So sehr, dass man sich fast wünscht, doch etwas mehr Zeit im Büro zu verbringen. Mission erfüllt.

Alle Produkte unter: www.heinze-dear.de/_0477

Präsentiert wird die Kollektion erstmals auf der imm cologne 2018. www.cor.de/lab

79


80


DESIGN

NEWCOMER

VON TANJA PABELICK

NOOK — MULTISZENARIO-MÖBEL

KUU — LEUCHTEN MIT DEM RICHTIGEN DREH

HALO — KURVIGE FORMEN

Andrea Pallarès Roca geht mit dem Wohnmöbel Nook auf Raummangel ein. Ausgehend von ihrer Beobachtung, dass das Bett heute oft auch als Sofa oder Arbeitsplatz genutzt wird, entwarf die Studentin des Royal College of Art in London ein modernes Multifunktionsmöbel. Grundskelett ist ein dezenter weißer Rahmen, der mit verschiedenen Polstern eingerichtet wird. Eine breitere Armlehne dient als Miniaturschreibtisch und drei große flache Kissen können zum Raumteiler werden. Der Sofa-Arbeitsplatz ersetzt die übliche Einteilung des Wohnraumes nach Funktionen und ermöglicht es seinen Benutzern, blitzschnell auf sich verändernde Situationen einzugehen.

Pendelleuchten, die sich zwischen direktem und indirektem Licht arretieren lassen, sind selten. Die Gestalterin Elina Ulvio, die ein Studio in Helsinki führt, hat mit Kuu Licht-Skulpturen mit einer schwarzen, schlanken Silhouette entwickelt, die sich der Stimmung und dem aktuellen Lichtbedarf anpassen. Die leuchtende Scheibe rotiert dank einer kabellosen Elektrifizierung frei zwischen den beiden Aufhängungen. So kann das Licht auf den Arbeitsplatz, in den Raum oder zur Decke gerichtet werden. Dass dies an einen Himmelskörper erinnert, macht auch der Name deutlich, denn Kuu ist nichts weniger als das finnische Wort für den Mond.

Seit 2011 führen die beiden Designerinnen Lisa Vincitorio und Laelie Berzon in Australien das Studio Something Beginning With. Ihre erste komplette Kollektion Halo dekliniert den Bogen als Gestaltungselement an Stühlen, Polstermöbeln und Beistelltischen durch. Alle Objekte sind entweder aus Metallrohr oder amerikanischer Eiche gefertigt, die Sofas sind zusätzlich gepolstert, und das Tischchen wird durch ein Tablett aus Marmor ergänzt. Ästhetisch folgt die Kollektion einer konsequenten Linie, den individuellen Charakter kann der Kunde bei der Bestellung bestimmen. Es stehen unzählige Lackierungen zur Wahl, sowie unterschiedliche Stoffe und Lederbezüge.

Andrea Pallarès Roca www.andreapallares.com

Elina Ulvio www.elinaulvio.fi

Something Beginning With www.somethingbeginningwith.com

81


EDITOR’S PICK — BAD

BRASS CABINET

WATERCANDY

Diese Messingbox von Aldo Bakker für Karakter Copenhagen glänzt nicht nur besonders schön, sie ist auch außerordentlich stabil – was an dem Herstellungsverfahren der kompakten Kiste liegt. Sie besteht aus einer einzigen Platte der metallischen Kupferlegierung. Per Laserschnitt wird das Messing geteilt und danach gefaltet. tb

Was aussieht wie eine klassische Massagebürste in Silber, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Brausenkopf mit Wasseranschluss. WaterCandy wurde von Ludovica und Roberto Palomba für Zucchetti entworfen und bietet Ent­ spannung aus direkter Nähe und großer Distanz. tb

DESIGN

www.heinze-dear.de/_04821

NUMI

ARCH MIRROR

Konstantin Grcic hat für Mutina eine Fliesenkollektion entwor­ fen, die eine architektonische Raumwirkung schafft. Es gibt zwei quadratische Formate mit verschiedenen geometrischen Mustern und Glasuren. tb

Der Arch Mirror des New Yorker Designteams Bower spielt mit der Illusion von Dreidimensionalität: Ein schwarzer Schatten an der Außenkante erzeugt den Eindruck, nicht in einen Spiegel, sondern durch ein Fenster zu schauen. tb

www.heinze-dear.de/_04822

82

www.heinze-dear.de/_04823



Zuhause, nicht daheim In den Innenstädten entstehen sie an jeder Ecke, auf dem Land in besonders elaborierter Form, für Architekten und Planer sind sie eine besondere Aufgabe zwischen fachgerechter Planung und ansprechendem Design für eine mobile Gesellschaft: Hotels sind der Dreh- und Angelpunkt unserer Welt.

In einer Zeit, in der das Reisen von einem notwendigen Übel zum Hobby wird und das auswärtige Essen und Trinken von einem Hobby zum notwendigen Übel, bekommt der Begriff „Gastfreundschaft“ eine völlig neue Bedeutung. Vorbei die Zeit, als Gaststätten und Hotels altehrwürdige Orte waren, die ihren Besuchern eine Bühne boten, sich zu inszenieren. Heute inszenieren sich diese Orte nämlich selbst. In den Hotels geht es zwar immer noch darum, dass sich die Gäste wohlfühlen. Wichtiger wird in manchen Häusern aber der Imagetransfer: der Verkauf von Produkten und Effizienz und Lifestyle. Das Hotel von heute ist kein Solitär. Es entwickelt sich mit der sich verändernden Welt. Nicht nur der Wettbewerb durch einschlägige Internet-Plattformen hat dazu beigetragen, auch das veränderte Reisen selbst. Billig-Airlines machen nahezu jedes Ziel für jeden erreichbar, und wo es früher galt, möglichst viel Zeit am Strand zu verbringen, ist es heute en vogue, ferne Kulturen authentisch zu erleben. 84


DOSSIER

Die Lebenszyklen moderner Hotels sind kurz geworden. Oft wird alle sieben Jahre eine Erneuerung angestrebt. Das macht die Branche flexibel und in einigen Bereichen zu Vorreitern. Das En-Suite-Badezimmer, die Verschmelzung von Schlaf- und Badezimmer, und der Siegeszug des Spas nahmen ihren Anfang im Hotel. Neue Konzepte und Technologien sind dabei nur hilfreich, wenn sie an der richtigen Stelle den passenden Menschen begegnen. Standards bleiben ein Weg, für Sicherheit im Gebrauch zu sorgen: Wer möchte schon lange nach dem richtigen Lichtschalter suchen? Gleichzeitig steht die Individualisierung hoch im Kurs. Jeder Gast soll sein eigenes Hotel-Erlebnis haben, ein Zimmer vorfinden, das seinem Geschmack entspricht, und auf Services zugreifen können, die seinen Bedürfnissen begegnen. Von einem Menschen begrüßt werden? In vielen Hotels obsolet. Minibar? Oft nur noch Attrappe – eingekauft wird 24/7 in der Lobby am Automaten. Hauptsache, das WLAN ist kostenlos und schnell. Die Hospitality-Branche befindet sich im Umbruch. Und ob sie ihrer Vorreiterrolle weiterhin gerecht werden kann, wird sich zeigen. Ganz gleich, wie viele Sterne ein Haus hat – die größte Herausforderung bleibt, dass sich die Gäste zuhause fühlen und gut schlafen. Vielleicht werden sie ja auch in eine andere Welt entführt. Aber ohne Pool geht gar nicht! sb 85


PROJEKTE

HOTEL MAMA IST DIE BESTE

Sieben Orte, an denen wir uns zuhause fühlen

86


DOSSIER

Foto: Hervé Goluza

HOTEL BIENVENUE, PARIS Es sollte eine adresse paisible werden: „Das Wichtigste in einem Hotel ist das Einfachste und das Schwierigste zugleich: der Willkommensgruß“, weiß der Pariser Hotelier Adrien Gloaguen. Und so ist in seinem neuen Haus in der Rue Buffault der Name Programm: Im Hotel Bienvenue wird der Gast willkommen geheißen – man soll sich hier zuhause fühlen. Gloaguen hat dafür zusammen mit Innenarchitektin Chloé Negre und dem Landschaftsarchitekten Xavier Patricot eine Kulisse geschaffen, die den „raffinierten Geist der Pariser Wohnkultur“ einfängt. Das Entree begrüßt mit alten, weichgepolsterten Sesseln und Blumenmustern, die Einrichtung mischt Marmor, Rattan, Vintage-Kronleuchter und Kuriositäten. In seiner Farbpalette von vert d’eau über rose dragée bis bleu passé zeigt sich das Haus nicht vollgestellt, sondern aufgeräumt-kuratiert und auf das Wichtigste reduziert. (jk) www.hotelbienvenue.fr www.chloenegre.com

Foto: Julie Ansiau

87


PROJEKTE

Fotos: Alberto Strada

LOCANDA LA RAIA, GAVI Ein grünes Herrenhaus inmitten der Hügel von Gavi. Umgebaut wurde die alte Taverne von dem italienischen Studio deamicisarchitetti (Mailand), das die Gewölbe restaurierte, Fenster mit Blick auf die Weinberge integrierte und die Proportionen des Gebäudes neu definierte. Möbel und dekorative Elemente sind mit Sorgfalt ausgewählt, so dass die zehn Zimmer und zwei Apartments alle in Größe, Farbe und Atmosphäre unterschiedlich sind. Ergänzt werden sie durch ein Ladengeschäft mit lokalen Produkten, einen Fitnessraum, ein Spa und einen Pool. Das Locanda La Raia ist ein Familienprojekt – für diejenigen, die mit Familie anreisen und gleich dableiben möchten: Zu dem von der Familie Rossi Cairo betriebenen Anwesen gehört, neben einem biologisch-dynamischen Weingut, auch eine Waldorfschule. (sb) locandalaraia.it www.deamicisarchitetti.it

88


DOSSIER

Fotos: Nicole Franzen für Designhotels

THE DRIFTER, NEW ORLEANS Mit dem klassischen Motel-Schriftzug an der Fassade wirkt das Drifter, ein unauffälliger Flachbau an der Tulane Avenue in Mid New Orleans in der Nähe des Französischen Viertels, auf den ersten Blick wie ein Anachronismus. Das 1956 errichtete Gebäude wurde zwar 2017 umfangreich erneuert, hat aber seinen traditionellen Charakter vollkommen erhalten. Seine Modernisierung folgt keinem nostalgischen Muster, sondern stellt eine sensible Anpassung an zeitgemäße Anforderungen dar. Die Innenarchitekten von Nicole Cota Studio, das Büros in New Orleans und New York unterhält, wählten polierte Betonböden und Fliesen aus Oaxaca, um die 20 Zimmer und Erschließungsflächen des Hotels zu aktualisieren. Neue Betten aus dunklen Hölzern, maßgefertigte Möbel, Einbauten, Holztäfelungen und farbenfrohe Palmentapeten unterstützen das tropische Flair. (sb) thedrifterhotel.com nicolecotastudio.com

89


PROJEKTE

Fotos: Karel Balas

HENRIETTA HOTEL, LONDON Mit ihrem 2009 gegründeten Büro Chzon ist Dorothée Meilichzon aus Paris spezialisiert auf Hospitality-Projekte. Erkennbar wiederkehrendes Element vieler ihrer Arbeiten ist der Rundbogen – der auch im Londoner Henrietta Hotel mitspielt. Ob Bett, Nachttischleuchte, Badezimmerspiegel, Sessel, Türbogen: Überall taucht das Halbrund bis Rund auf und wird mit samtenen Bezügen in Apricot, Leuchten aus Messing, mosaikgemustertem Teppichboden, Marmordetails und dunkelblau gefärbten Wänden kombiniert. „Meine erste Inspiration war die Straße selbst“, sagt die Designerin. In der Henrietta Street in Covent Garden seien alle Häuser traditionell, flach, aber mit vielen Dachformen und Fensterverzierungen. Initiiert wurde das Hotel von einem Kollektiv, das sich der kulinarischen Energie des Bezirks verschrieben hat. (mh) www.chzon.com www.henriettahotel.com

90


DOSSIER

Fotos: Adrian Gaut

THE ROBEY, CHICAGO Eine Zeitreise in die Vergangenheit bietet The Robey in Chicago. Das zwölfgeschossige Hotel an der Kreuzung von Damen, Milwaukee und North Avenue wurde 1929 als Bürogebäude von den Architekten Perkins, Chatten & Hammond errichtet und ging aufgrund seiner vermeintlichen Ähnlichkeit mit einem heulenden Kojoten als „Coyote Building“ in die Alltagssprache der Chicagoer ein. Mithilfe zeitgenös­ sischen Designs, das den Geist des frühen 20. Jahrhunderts verkörpert, beförderten die belgischen Architekten Nicolas Schuybroek und Marc Merckx das Interieur in die Gegenwart. In den 69 Hotelzimmern treffen Vintage-Elemente wie Parkett mit Fischgrätmuster und Trennwände aus verglastem Maschendraht auf Gestaltungsmerkmale und Originale aus dem Art déco. (kh) www.therobey.com www.ns-architects.com www.merckxinteriors.com

91


PROJEKTE

Fotos: Josef Kubíček

LONG STORY SHORT, OLMÜTZ Olmütz, die sechstgrößte Stadt Tschechiens, liegt im historischen Landesteil Mähren – kein Ort von Welt, aber ein regionales Kultur- und Handelszentrum. Wen es hierher verschlägt, der kommt seit kurzem am Rand der denkmalgeschützten Altstadt im Long Story Short unter. Das Hostel liegt im ersten Obergeschoss eines Festungsgebäudes aus dem 17. Jahrhundert. Viel mehr als die Gewölbedecken erinnert dann allerdings nichts an die Ursprünge. Es entstanden Schlafsäle und private Zimmer, ausgestattet mit insgesamt 56 Betten. Weiß gespachteltem Mauerwerk entgegnen schwarze Einbauten, Mobiliar aus dunklem Holz und Akzente in Himmelblau. Die Designerin Denisa Strmisková, die auch Bühnenbildnerin ist, nutzt vor allem Licht, um die Räume zu inszenieren. Hier hat sie ein wenig kosmopolitischen Charme in eine verträumte, kleine Großstadt gebracht. (mh) denisastrmiskova.com www.longstoryshort.cz

92


DOSSIER

Fotos: Patricia Parinejad

HOBO HOTEL, STOCKHOLM In einem Siebzigerjahrebau im Herzen Stockholms nähert sich das Berliner Studio Aisslinger mit dem Hobo wie schon in vorangegangenen Projekten der Frage nach Wohlgefühl und Vertrautheit. „Authentizität, nachhaltiges Design und gemeinsame Realitäten, die persönliche Beziehungen innerhalb eines sozialen Kreises ermöglichen, sind die konzeptionellen Grundlagen unseres Designs für Hobo“, heißt es bei Aisslinger. Die Zimmer sind kompakt, lässig, aber feinsinnig eingerichtet: helle Dielenböden, Kopfenden aus karamellfarbenem Leder am Bett, etliche kleine Accessoires, eine Grünpflanze im Bad. Im Entree wächst Salat auf Regalen, beim Barber wird frisiert und in der DIY-Ecke können defekte Reiseutensilien repariert werden. Für eine starke Ausstrahlung sorgt eine komplett rot verspiegelte Wand im Restaurant. (mh) aisslinger.de hobo.se

93


REPORTAGE

Wie sich Südtirol mit guter Gestaltung neu erfindet VON CLAUDIA SIMONE HOFF

Zwanzig neue Zimmer und eine Sauna fasst der schwarze Holzblock von Pedevilla Architekten für das Hotel Bühelwirt. Foto: Gustav Willeit

94


DOSSIER

95


REPORTAGE

Nicht Italien. Und auch nicht Österreich. Südtirol ist ein Zwischenland. Hierher kommt, wer das Ursprüngliche sucht und das Gute, das gilt auch für Architektur und Design. Ein Besuch bei Gastgebern und Gastronomen, die keine Kompromisse kennen

96


DOSSIER

Pedevilla Architekten interpretieren im Hotel Bühelwirt mit maßgefertigten Möbeln aus einheimischem Lärchenholz die Südtiroler Stube neu. Fotos: Gustav Willeit

Es gab eine Zeit in den Achtzigern, als der Tourismus in Südtirol am Boden lag. Heute boomt die nördlichste Region Italiens. Das hat zwar auch damit zu tun, dass Destinationen wie Ägypten und Tunesien aus politischen Gründen nicht mehr gefragt sind, vor allem aber damit, dass sich Südtirol extrem gut neu aufstellt. Bettenburgen, zersiedelte Landschaften, Billigtourismus? Haben hier nichts zu suchen – so die einhellige Meinung aller Protagonisten, denen wir auf einer Reise von Brixen nach Meran begegnen. Südtirol verfügt über 5.500 Hotels und 500.000 Betten. Doch es ist eine andere Zahl, die überrascht: Rund 98 Prozent der Unterkünfte sind in Familienbesitz – im Unterschied zu Österreich, wo sich viele (ausländische) Investoren in die Hotellerie eingekauft haben. Das mag auf den ersten Blick nebensächlich erscheinen, doch familiengeführte Unternehmen sind unabhängiger in ihren Entscheidungen, auch bei ästhetischen

Fragen. Egal ob Kleinbetriebe oder Hoteldynastien: In Südtirol hat man den Wettbewerbsvorteil von guter Gestaltung erkannt und möchte die pittoreske „Stadl-Architektur mit Türmchen und Zinnen” der Siebzigerjahre hinter sich lassen – wie Gottfried Schgaguler, Vizepräsident des Hoteliers- und Gastwirteverbands Südtirol (HGV), sagt. Neben den touristischen Grundpfeilern Natur, Landschaft und Gastronomie kann gestalterisch ambitionierte Architektur maßgeblich dazu beitragen, einen touristischen Wandel herbeizuführen. Denn je hochwertiger das infrastrukturelle Angebot, desto mehr Gäste mit ästhetisch hohen Ansprüchen werden angelockt. Und die sind bei entsprechenden Angeboten gern bereit, etwas tiefer in die Tasche zu greifen. „Klasse statt Masse“, bringt es Uta Radakovich auf den Punkt, Mitarbeiterin bei IDM Südtirol und verantwortlich für die Vermarktung der Region. Entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung hin zu

97


REPORTAGE

„Hier ist alles ganz schlicht, weil das Tal schlicht ist.“

nachhaltiger Architektur, die eine hohe Wertschöpfung ermöglichen soll, hatten vor allem zwei Projekte: das Vigilius Mountain Resort und die Therme Meran samt Hotel – beide vor rund zehn Jahren eröffnet und Entwürfe des Südtiroler Architekten Matteo Thun. Heute sind Pedevilla Architekten ganz vorn dabei, wenn es um das Thema Hospitality und Baukultur in Südtirol geht. Vor vier Jahren sorgten die Brüder Armin und Alexander Pedevilla mit ihrem Ferienhaus in Pliscia für viel Aufsehen in der Architekturszene. Seither haben sie eine Reihe weiterer bemerkenswerter Projekte realisiert, interessanterweise mit Bauherren ihres Alters. Es deutet sich ein Generationenwechsel an, bei dem die Jungen mit neuen Ideen das Bild bestimmen – so wie im Hotel Bühelwirt im Ahrntal. Der Anbau von Pedevilla Architekten, der in Form eines schwarzen Holzmonolithen am Hang steht, wurde im Juni fertiggestellt und sorgte für hitzige Diskussionen. Inmitten einer dörflichen Idylle mit aufragenden Bergen, Wiesen und eingestreuten Höfen gelegen, wird der Entwurf von vielen Bewohnern als Provokation empfunden. Zwar wirkt das Hotel von vorn betrachtet wie viele in der Region traditionell, doch die Überraschung verbirgt sich auf der Rückseite: ein auf den ersten Blick abweisender Block. Der gestalterische

98

Bruch wiederholt sich im Interior, wo Entree und Gastraum aus der Zeit gefallen zu sein scheinen, bis man eine imaginäre Schwelle übertritt. Mit einer extrem strengen Linienführung, der Beschränkung auf wenige Materialien (Holz, Kupfer, Loden) und einer weitgehenden Ornamentlosigkeit nimmt sich der Anbau stark zurück und bezieht gerade daraus seine Wirkung. Den gestalterischen Fokus legen die Architekten ganz auf die famosen Ausblicke: Im neuen Gastraum, in den 20 neuen Zimmern und im Saunabereich haben sie tiefe Fensternischen eingebaut, die als Sitz- und Liegeflächen dienen. Hotelier Matthias Haller gibt zu, dass es auch für ihn und seine Frau Michaela Nöckler nicht einfach war, „sich auf die Architekten und ihre Ideen einzulassen“. Und es braucht noch immer viele Erklärungen, um das Konzept auch anderen verständlich zu machen. Wirklich begeistert zeigen sich viele Architekten, weshalb sich die Gästestruktur des Hotels komplett verändert habe: „Nun stehen manchmal ziemlich große Autos vor der Tür“, sagt Haller und lacht. Wie groß der Einfluss von Architektur und Design auf die touristische Entwicklung einer Region sein kann, dass sogar einzelne Personen eine Marke wie Südtirol zu stärken vermögen, zeigt sich an Menschen wie Tyler Brûlé. Der viel reisende Zeitgeist-Publizist macht

aus seiner Sympathie für die Region keinen Hehl, was sicher auch zum guten Image beiträgt. Alles fing damit an, dass der Produktdesigner und manchmal auch Architekt Harry Thaler für den Designguru aus London – Erfinder von Wallpaper und Monocle – ein Ferien­ haus in Meran umgebaut hat. Seither hat Brûlé Südtirol zur Designdestination ausgerufen, einen Monocle-Shop eröffnet und geschäftliche Kontakte geknüpft. Zu Gregor Wenter vom Hotel Bad Schörgau beispielsweise, mit dem er eine Kosmetiklinie für Monocle entwickelt hat. Wenter ist ein Südtiroler Original, der ständig neue Ideen hat und in die Tat umsetzt. Vor zehn Jahren gründete er das Kosmetiklabel Trehs, das auf natürliche Ingredienzien aus der Gegend setzt. Für sein Lieblingsprojekt hat der 41-jährige Hotelier gerade einen neuen Ort geschaffen: Ein altes Badehaus aus dem 18. Jahrhundert wurde komplett abgetragen und in den Urzustand zurückversetzt. Im Inneren kommen erneut die Brüder Pedevilla zum Zug. Sie haben für das Headquarter der Kosmetiklinie ein spektakuläres Raumkonzept entwickelt: einen Raum ganz aus einheimischem Fichtenholz, der von einer Galerie umgeben ist und mit geometrischen Ornamenten spielt. Ergänzend dazu gibt es einen Seminarraum sowie eine Kochschule mit einem vier Tonnen schweren Küchenblock aus


DOSSIER

Pedevilla Architekten führen ihre klare Formensprache auch im Hotel Bad Schörgau fort. Im Fokus: maßgefertigte Möbel aus massivem Holz. Foto: Gustav Willeit

99


REPORTAGE

100


DOSSIER

101


REPORTAGE

Zum Chalet Leckplått aus dem 18. Jahrhundert gehört dieses Saunahäuschen aus Zirbenholz von den Architekten Sabine und Klaus Valtigojer. Foto: Angelika Schwarz

102


DOSSIER

Ivo Messner und Philipp Fallmerayer haben in Brixen das Restaurant Brix 0.1 eröffnet – ein Glaskubus, entworfen von Markus Tauber. Foto: Brix 0.1

Sarner Porphyr. Wie schon im Bühel­ wirt haben die Architektenbrüder auch hier die Möbel selbst gestaltet: Bänke, Tische und für die drei neuen Loggia-Hotelzimmer maßgefertigte Einbauten. „Hier ist alles ganz schlicht, weil das Tal schlicht ist“, erklärt Wenter das gestalterische Konzept. Für Pedevilla Architekten habe er sich „aus einem Bauchgefühl heraus entschieden“, ergänzt er noch, bevor er wieder zu seinen Gästen eilt. Die touristische Positionierung durch Architektur und Design funktioniert in Südtirol besonders gut, weil hier Menschen leben, die gute Gestaltung und gutes Essen schätzen. Einer davon ist Harry Thaler, der in Meran arbeitet. Acht Jahre lang lebte er in London und entschloss sich vor einem Jahr, in seine Heimat zurückzukehren. Eigentlich besuchen wir den Designer, um mit ihm über seine Zukunftspläne zu sprechen, doch während der Reise zeigt sich: Harry Thaler steht genau

für das, was Südtirol ausmacht. Er ist bescheiden, kreativ, ehrgeizig. Und er ist extrem gut darin, seine Energien zu bündeln und sich mit anderen zu vernetzen. So hat er die Kupferleuchten für das Hotel Bühelwirt entworfen und kennt auch Michaela Huber, die wir im Chalet Leckplått treffen. Sie vermietet das denkmalgeschützte Haus – samt originaler Südtiroler Stube, schindelbedeckter Architektensauna und eigenem Bienenstock. Geplant war ein ganz anderes Projekt: Thaler, ein Schulfreund ihres Mannes, sollte die Scheune auf dem Hof der Familie in Meran zu Ferienwohnungen umbauen, doch die Behörden machten nicht mit. Neben Hotels sind Chalets mit elaborierten Wellness-Bereichen gerade der große Trend in der Hotellerie Südtirols, wie man auch am luxuriösen San Luis Retreat Hotel & Lodges sieht, das über einen angeschlossenen Hotelservice verfügt. Auf einem 40 Hektar großen Gelände auf dem Haflinger Plateau gruppieren sich 38 Chalets um das Hauptgebäude und einen Schwimmteich. Auch das San Luis ist in Privatbesitz: Familie Meister sind Hoteliers aus Meran, die dort auch das Meisters Hotel Irma betreiben. Ähnlich hoch wie im San Luis dürfte die Investition sein, die Markus Huber wagt. Rund 25 Millionen Euro macht der Geschäftsmann aus Brixen für seinen Lebenstraum locker: ein eigenes Hotel, hoch über dem Ort gelegen. Im Unterschied zum San Luis, wo die Gäste meist den ganzen Tag im Hotel verbringen, hält Huber nichts von solch einem Ansatz. Er möchte die privaten Seilbahn- und Hüttenbetreiber in sein Konzept einbinden, die Gegend „aus dem Dornröschenschlaf holen“, wie er sagt. Läuft man mit ihm und Architekt Paul Seeber vom Büro Architekturplus über die Baustelle, prägt die Aussicht aufs Eisacktal und die direkte Nähe zum Wald das Bild. Jeder Gast solle von der Schönheit der Natur hier oben profitieren, findet Huber, weshalb sämtli-

103


REPORTAGE che Zimmer zum Tal ausgerichtet sind, auch wenn das die Baukosten in die Höhe treibt. Die Statik des Gebäudes ist wegen des steilen Geländes eine Herausforderung, allein das Gerüst für die Stahlbetonstützen kostet 400.000 Euro. Huber, der das Hotel My Arbor gemeinsam mit seiner Frau führen will, hat in Brixen übrigens auch mal ein Lokal im Lido-Park betrieben. Das ist insofern interessant, als dass genau dort ein außergewöhnliches Projekt entstanden ist: das Brix 0.1. Der GlasStahl-Kubus des Architekten Markus Tauber könnte ebenso gut in London oder Berlin stehen und genau das ist die Idee von Philipp Fallmerayer und Ivo Messner. Die beiden Köche, die seit ihrer Kindergartenzeit befreundet sind und im Kopenhagener Restaurant Noma gearbeitet haben, sind wagemutig. In der 21.000-Einwohner-Stadt haben sie ein urbanes Restaurant eröffnet, das nicht weniger sein soll als „ein architektonischer Leuchtturm”, wie Fallmerayer es nennt. Dafür hat sein Vater, ein Tankwart, mit seinem gesamten Besitz gebürgt. Sich in eine Aufgabe hineinzustürzen – das kennt man auch im Hotel Muchele. „Weiberwirtschaft”, so nennen es die drei Schwestern Anna, Priska und Martina Ganthaler, die das Hotel von ihren Eltern übernommen haben. Hier kann man beobachten, was in der Südtiroler Hotellerie immer wieder passiert: Entweder wird ein Hotel im Laufe der Zeit baulich immer wieder angestückelt (und nichts passt mehr richtig zusammen), oder der Vorgängerbau wird abgerissen. Für einen Neubau haben sich die Ganthalers entschieden und damit eine Gestaltungswende eingeläutet. Die im Zuge der Planung vom Architekten Stephan Marx vorgeschlagenen Möbel von Moroso schienen zunächst zu teuer. Doch eine Stipp­ visite in die Fabrik und ein Treffen mit Patrizia Moroso ließ sie einlenken und echte Fans der Marke werden. Nicht

104

nur Lobby, Gastraum und Bar sind mit den Möbeln der Italiener eingerichtet. Im rundum verglasten Penthouse gibt es drei Suiten, die nach dem Hersteller benannt sind. Wo die Ganthalers bei Null begonnen haben, gehen die Schgagulers in Kastelruth behutsamer vor. Statt die drei Bestandsbauten ihres Hotels abzureißen, werden sie mit einer einheitlichen Fassade zusammengefasst. Architekt Peter Pichler will das Kunststück schaffen, den Altbau mit vorspringenden Glasfaserplatten und großzügigen Fenstern mit Minimal Frame zeitgenössisch wirken zu lassen. Ums Interiordesign kümmert sich Sohn Martin Schgaguler, der Industriedesign studiert hat. Die Möbel werden maßgefertigt und um Designklassiker ergänzt – dafür wurde in der Tiefgarage extra ein Versuchsraum im Maßstab 1:1 aufgebaut. Fünf Millionen Euro will Gottfried Schgaguler investieren und überlässt gestalterisch weitgehend seinen vier Kindern das Feld. Auch wenn Harry Thaler erzählt, dass er aus Meran manchmal in die Großstadt flüchte, und Philipp Fallmerayer zugibt, dass die Menschen hier nicht gerade weltoffen sind: Die Bindung an die Heimat bleibt eng in Südtirol, was sich auch beim Thema Gestaltung zeigt. Egal ob Vigilius Mountain Resort, Bühelwirt oder Bad Schörgau: Immer berücksichtigen die Projekte Ort, Topografie, Landschaft und klimatische Verhältnisse. Traditionen und Werte werden in eine zeitgenössische Gestaltungssprache übersetzt, die auch anderswo verstanden wird und extrem anziehend wirkt. Niemand von den Gastgebern und Gastronomen, mit denen wir gesprochen haben, wäre wohl auf die Idee gekommen, einen anderen als einen einheimischen Architekten, Designer oder Handwerker mit seinem Bauvorhaben zu betrauen.

Das System Südtirol läuft wie geschmiert.

Weitere Informationen zu den Projekten: www.pedevilla.info www.bad-schoergau.com www.brix01.com www.buehelwirt.com www.chalet-hafling.it www.muchele.com www.my-arbor.com www.schgaguler.com www.vigilius.it


DOSSIER Das von Matteo Thun entworfene Vigilius Mountain Resort läutete vor rund zehn Jahren in Sßdtirol eine Wende ein: Nachhaltige Architektur gilt seither als Wettbewerbsvorteil. Foto: Vigilius Mountain Resort

105


ZIMMER MIT AUSSICHT HOSPITALITY SUMMIT IN BAKU

106


ADVERTORIAL

DOSSIER

Kaum ein Wirtschaftszweig ist so tief greifenden Veränderungen unterworfen und Zeitströmungen ausgesetzt wie der Hospitality-Sektor. In Zukunft muss ein Hotel bereit sein, sich dem Wandel anzupassen und zugleich nachhaltig Identität zu stiften. Dementsprechend hoch sind die Anforderungen an die architektonische Planung – einem hohen Wettbewerbsdruck und niedrigen Budget-Margen zum Trotz. Der durchschnittliche Hotelgast im Jahr 2052 sei ein „digitaler Nomade“ ohne festen Wohnsitz, heißt es in der 2016 erschienenen Studie Futurehotel Building 2052 des Fraunhofer Instituts – völlig transparent in Bezug auf seine Identität und Routinen wie auch aktiv in einer virtuellen Welt mit Robotern und virtuellen Assistenten. Von seiner Unterkunft erwarte er eine entsprechend virtuell inspirierende Umgebung sowie einen großen Erlebnis- und Wohlfühlfaktor. Noch sind wir zwar weit entfernt von derartigen Zukunfts­ szenarien, doch die starken Veränderungen der vergangenen zwei Jahrzehnte zeigen, wie sehr bereits heute die fortschreitende Digitalisierung das Wesen von Urlaubs- und Arbeitsreisen verändert hat. Dank der allgemeinen Vernetzung haben vor allem private Unterkunftsplattformen wie Airbnb dem organisierten Hotelbetrieb Gäste streitig gemacht und eine neue Form des Wettbewerbs entstehen lassen.

Was das für ihre Arbeit bedeutet und wie sich die Bauaufgabe Hotelkomplex entwickeln wird, haben wir mit elf Architekten auf dem Hospitality Summit in Baku diskutiert. In kleinen Gruppen wurden vier Schwerpunkte ausgearbeitet und Schlüsse gezogen, welche Faktoren heute und in Zukunft für den Hotelbau ausschlaggebend sein dürften.

Die Heinze-Summits versammeln führende Architekten und Innenarchitekten sowie richtungsweisende und visionäre Industrie-Partner zu mehrtägigen Intensiv-Work­ shops. Mehr Infos unter: www.heinze.de/events/architekturevents

107


HOSPITALITY SUMMIT IN BAKU

TECHNOLOGISIERUNG Die Digitalisierung verändert unsere Lebenswelten ebenso wie unsere Verhaltensmuster. Auch in der Hospitality-Branche führen die neuen technologischen Möglichkeiten zu einem radikalen Wandel, der bereits bei der Zimmerreservierung beginnt. Wie wird sich das künftig auf die Hotelarchitektur auswirken? Und wo liegen die Potenziale?

sich die Anforderungen an die Architektur zweifellos verändern. Zu erwarten ist eine Entwicklung in Richtung Smart Home – beispielsweise mit Gesichtserkennung beim Einchecken oder einem Zimmerzugang über App beziehungsweise per E-Mail. Daraus ergibt sich eine Verringerung des Personaleinsatzes sowohl am Frontdesk als auch im Backoffice und im Housekeeping, so dass infolge tradierte Raumkonzepte und -anordnungen modifiziert werden können. Der Wegfall herkömmlicher Rezeptionen, Kofferkammern oder Vollküchen lässt mehr Netto-Nutzfläche entstehen, die wiederum eine größere gestalterische Freiheit erlauben wird. Durch die Zusammenführung der Nutzerdaten eines Gastes in allen Bereichen des Hotels könnte ihm ein rundum personalisierter Aufenthalt mit angepasster Lichtstimmung, Zimmer- und Duschtemperatur oder Menüauswahl im Restaurant geboten werden. Langfristig wäre die gesamte Infragestellung von bisherigen Kategorien und Denkmustern vorstellbar. Dank neuer Technologien und virtueller Realität könnten zum Beispiel Fenster überflüssig werden. So wäre der Weg frei für gänzlich neue Bautypen, die auch an Orten mit hoher Baudichte entstehen könnten. Dinge, die bereits in anderen Bereichen zum Standard zählen, könnten auch im Hotelsegment vermehrt zum Einsatz kommen: Multimediawände oder Virtual-Reality-Zimmer mit Wahlkonzepten. Trotz all dieser neuen Möglichkeiten werden die bestehenden Konzepte in verfeinerter Form erhalten bleiben. Die unvermeidlichen Verschiebungen im Angebot werden generell Ergänzungen sein, und zu jeder technischen Entwicklung ist auch eine Gegenbewegung zu erwarten. Das heißt, die analogen Werte und Ausführungen werden auch in Zukunft noch gelebt und geschätzt werden. Dennoch ist es absehbar, dass die technologiegebundenen Arbeitsplätze im Hotelgewerbe an Wichtigkeit gewinnen, während die Tätigkeitsfelder im Niedriglohnsektor vom Abbau betroffen sein werden.

108

FLORIAN KIENAST — FORMWAENDE SEBASTIAN LEDER — KLM ARCHITEKTEN

Mit dem weiteren Fortschritt der Technologisierung werden


DOSSIER

IDENTITÄT Der „International Standard“ ist als Qualitätsgarantie aus dem Hotelgewerbe nicht wegzudenken. Als Alleinstellungsmerkmal hat er jedoch längst ausgedient. Die Schaffung einer überzeugenden, authentisch wirkenden Identität wird immer mehr zum entscheidenden Faktor. Aber wie kann man diesen neuen Anforderungen gerecht werden?

den Genius Loci, andererseits gibt es die Identität des Hotels selbst, definiert durch Marke oder Corporate Identity. Vor allem Geschäftsleuten, beziehungsweise Menschen, die für ihre Arbeit viel reisen, gefällt der Wiedererkennungswert eines Hotels. Sie möchten sich intuitiv zurechtfinden und – nach einem harten Tag mit Terminen und Besprechungen – ungern noch Energie auf unnötige Kommunikation verschwenden. Dementsprechend ziehen sie den digitalen Check-in einer persönlichen Betreuung häufig sogar vor. Wenn es aber um Privatreisen geht, spielt die Identität des Ortes eine ganz entscheidende Rolle. Hier kommt der Wunsch nach Erforschung der Umgebung dazu. Der Gast möchte die Identität in seiner Unterkunft wiederfinden und weiß lokale Merkmale, die sich in der Inneneinrichtung widerspiegeln, zu schätzen. Bei einer Innenstadtlage gestaltet sich dies tendenziell einfacher: Die Stadt ins Hotel hereinzuholen, ist hier das Ziel. Wenn Konzept und Innenarchitektur als gelungen gelten, werden Lobby und Bar auch von der örtlichen Nachbarschaft wahrgenommen und gern frequentiert. Auf dem Land hingegen könnte die Architektur regionale Aspekte und Qualitäten aufgreifen und in eine zeitgenössische Sprache übersetzen. Schöne Beispiele dafür sind die Bauten von Peter Zumthor oder Matteo Thun in der Schweiz. Sofern ein Hotel eine Geschichte erzählen will und dafür ein stimmiges Konzept erstellt wurde, funktioniert dieses sowohl für 10 als auch 500 Zimmer. Wichtig hierbei ist natürlich auch die Bereitschaft zur Erneuerung. Wie die Einrichtung, die nach fünf Jahren Nutzung zumeist sichtlich gelitten hat, sollte auch die thematische Ausrichtung in regelmäßigen Abständen infrage gestellt werden. Im Idealfall kann ein Hotel selbst zur Identitätsstiftung eines Ortes beitragen und zum touristischen Motor eines Stadtteils oder einer ganzen Region werden.

ERIC MERTENS — KISTER SCHEITHAUER GROSS CLAUDIA ROGGENKÄMPER — HPP ARCHITEKTEN DOMINIK SCHÄFER — DITTEL ARCHITEKTEN

ADVERTORIAL

Zunächst muss zwischen zwei Arten von Identität unterschieden werden. Einerseits gibt es die Identität des Ortes,

109


HOSPITALITY SUMMIT IN BAKU

INDIVIDUALISIERUNG Wir leben in einer hochindustrialisierten Gesellschaft, die auf globale Standardisierung mit einem stetig wachsenden Bedürfnis nach Individualität reagiert. Diese Tendenz setzt sich auch im Hospitality-Sektor durch: Hier weichen definierte Nutzungsvorgaben zunehmend der individuellen Anpassung an die Bedürfnisse des jeweiligen Gastes. Welche Szenarien lassen sich identifizieren, und wie können entsprechende Angebote aussehen?

tegorien fassen. Es gibt bereits zahlreiche Beispiele für ungewöhnliche Hotelideen, die erfolgreich auf erlebnisorientierte Individualreisende abzielen – wie zum Beispiel Baumhausunterkünfte, umgestaltete Bunker, ausgediente Abwasserrohre oder Wohnwagen. Bei den weniger themengebundenen Hotels gestaltet sich der Wandel etwas subtiler. Hier gewinnt der lokale Faktor angesichts der allgemein steigenden Vernetzung und Ortsungebundenheit immer mehr an Bedeutung. Diese Qualität könnte man auch als „Sense of Place“ bezeichnen. Die Innenarchitektur sollte die Tradition des Ortes in gewisser Weise spiegeln. Dabei spielen haptische Qualität und Materialität eine wichtige Rolle. Die verwendeten Materialien könnten vermehrt aus der lokalen Tradition und Bauweise stammen. In einem Berghotel erwartet der Gast etwas anderes als in einem Stadt- oder Strandhotel. Eine spannende Herausforderung sind die kleinen Veränderungen in der Gestaltung, wenn Hotels im Saisonwandel ihre Nutzungsausrichtung ändern, beispielsweise vom Ski- zum Wander- und Mountainbike-Hotel. Auch bei Messehotels stellt sich die Frage, wie sie außerhalb der Messezeit für andere Gäste an Attraktivität gewinnen können. Einerseits kommt hier die Qualität der Gestaltung ins Spiel, andererseits die der individuellen Leistungsangebote wie Sport, Wellness oder Kulinarisches. Das Hotel kann sich auch über regionale und saisonale Küche abheben. Solche Faktoren sind für den Erfolg eines Hotels mittlerweile unabdinglich. Die Zukunft der verschiedenen Hotelkonzepte wird in der gelungenen Anpassung an die wechselnden Bedürfnisse der Gäste liegen. Eine ganzheitlich standortbezogene Planung gewinnt dabei zunehmend an Bedeutung. Globalisierte Standards, wie sie verschiedene Hotelketten erfolgreich anbieten, werden hingegen eher während einer beruflich motivierten Reise begrüßt.

110

PAUL BRUMANN — BRUMANN INNENRAUMKONZEPTE CHRISTIANE MAY — MAY KONZEPTE ARCHITEKTEN GERALD SCHNELL — MATTEO THUN & PARTNER

Die Individualität eines Hotels lässt sich nicht in Sterne-Ka-


DOSSIER

FRAGMENTIERUNG Eine Lobby, eine Bar, ein Restaurant, gegebenenfalls ein Spa und viele standardisierte Zimmer: Diese Art von Hotel ist zwar kein Auslaufmodell, doch es wird sie in Zukunft weniger geben. Heute wünschen sich viele Reisende einen authentischen Aufenthalt und möchten nicht von ihrer Umgebung isoliert werden. Neue Anbieter wie Airbnb oder Konzepte wie Urbanauts in Wien revolutionieren die Hospitality-Branche. Doch wie lassen sich deren Mechanismen auf das Hotelgewerbe übertragen?

lichen besonders authentische Aufenthalte und bedienen somit das menschliche Bedürfnis nach Individualität optimal. Doch auch Hotels können von den hier gewonnenen Erfahrungen profitieren. Eine gute Entwicklungsperspektive liegt dabei in der Fragmentierung, das heißt im Outsourcen von Angeboten des Hauses. Bisher haben sich viele Hotels auf das Anbieten gewisser Standards eingelassen, nur um eine 5-SterneBewertung zu erhalten. Häufig mit dem Resultat, dass an einem zentralen Standort gleich mehrere Unterkünfte entstanden sind, die in ihrem Keller einen wenig anziehenden Spabereich mit kleinem Schwimmbad und einem mit veralteten Sportgeräten ausgestatteten Fitnessraum zur Verfügung stellen. Die Fragmentierung erlaubt den Hotels, ihre Räumlichkeiten sinn- und anspruchsvoll zu nutzen und zum Beispiel eine Kooperation mit einem wirklich attraktiven Fitnessstudio oder Wellnesszentrum in der unmittelbaren Nachbarschaft einzugehen – oder ihrer Zielgruppe entsprechend etwas ganz anderes anzubieten, wie etwa das nahe gelegene Kaffeehaus mit seinen lokalen Spezialitäten als Frühstücksraum. Auch der Kulturkreis, aus dem die jeweiligen Gäste stammen, ist dafür entscheidend, denn die Erwartungshaltungen sind je nach Herkunftsland durchaus unterschiedlich. So erwarten Europäer andere Standards als beispielsweise Asiaten, und auch die Ansprüche von Amerikanern und Menschen arabischer Herkunft klaffen weit auseinander. Für den Erfolg eines Hotels sind die Auseinandersetzung mit der Umgebung und deren Einbindung in Bezug auf die jeweilige Zielgruppe wichtig. Schon heute verzichten einige Hotels auf die Bewertung durch Sterne und überlassen diese dem jeweiligen Reisenden auf entsprechenden Onlineportalen. Eine steigende Tendenz, die zeigt, dass traditionelle Standards immer weniger greifen und nachhaltige Lösungen im Zusammenspiel mit individuellen Beurteilungen weiter an Wert gewinnen.

AXEL BINDER — TCHOBAN VOSS ARCHITEKTEN MATTHIAS HABER — HILD UND K ARCHITEKTEN FRANZISKA HOFMANN — ARCHITEKTEN K2

ADVERTORIAL

Die persönlichen Unterkünfte gewisser Onlineportale ermög-

111


HOSPITALITY SUMMIT IN BAKU

Der Hospitality Summit in Baku wurde ermöglicht durch:

Dormakaba ist der Partner für Premium-Zugangslösungen und Ser­ viceleistungen. Das Unternehmen mit über 100-jähriger Tradition bietet ganzheitliche Lösungen rund um das Öffnen und Schließen von Türen – von Türbändern über Türschließer bis hin zu automa­ tischen Türsystemen sowie Zeit- und Zutrittskontrollsystemen. Produkte von dormakaba sind Spitzentechnologie und genießen einen exzellenten Ruf. Zuhause. Europaweit. Weltweit. www.dormakaba.com

Jung steht für edles Material, präzise Verarbeitung bis in die Details, für Haltbarkeit, Langlebigkeit in Funktion und Aussehen, für zeit­ loses Design und für einen beispiellosen Kundenservice. Das 1912 gegründete, heute 1.200 Mitarbeiter starke Unternehmen fertigt als Premiumanbieter von Schaltern, Steckdosen und Gebäudesystem­ technik mit TÜV-geprüftem Herkunftsnachweis „Made in Germany“ an drei Standorten: Schalksmühle, Lünen und – als Spezialist für Elektronik, die Tochterfirma Insta – in Lüdenscheid. www.jung.de

Der 1990 in Norwegen gegründete Hersteller ist seit 2011 mit seiner Tochtergesellschaft SG Leuchten in Deutschland vertreten. Die skandinavische Herkunft zeigt sich zum einen in der dem nordi­ schen Klima angemessenen, wetterresistenten Materialqualität, zum anderen in der klaren und reduzierten Formensprache. Hauptau­ genmerk liegt neben dem hohen Designanspruch auf der Vereinfa­ chung der Installation. Viele Produkte werden deshalb gemeinsam mit Architekten, Planern und Elektroinstallateuren entwickelt. www.sg-leuchten.de

Die Berndorf Bäderbau Deutschland GmbH wurde 1985 als erste europäische Niederlassung der österreichischen Berndorf Bäder­ bau-Unternehmensgruppe gegründet. Sie zählt zu den führenden Herstellern von Schwimmbadanlagen und nimmt in der Entwicklung hochwertiger Schwimmbecken aus Edelstahl und innovativen Werk­ stoffkombinationen eine Pionierrolle ein. Seit Jahrzehnten schafft Berndorf Bäderbau besonders hochwertige Wellnesslandschaften für den kommunalen Bereich, für anspruchsvolle Hotelbetriebe oder Privatpersonen. www.berndorf-baederbau.com

112

ADVERTORIAL

FOTOS: KLAUS FÜNER



WERKSBESUCH — WWW.FRANKE.CH

114


DOSSIER

ADVERTORIAL

DESIGNATELIER UND SERIENPRODUKTION: ZU BESUCH BEI FRANKE KÃœCHENTECHNIK

EDELSTAHL MIT SYSTEM

TEXT: CLAUDIA SIMONE HOFF FOTOS: ANNETTE KUHLS

115


WERKSBESUCH — WWW.FRANKE.CH

Im Kanton Aargau schreibt der Schweizer Hersteller Franke Geschichte, die von Edelstahlliebhabern und Handwerkskönnern handelt. Den roten Faden bildet dabei ein silbernes Band.

116


DOSSIER

Die Serienproduktion bei Franke ist in Teilen automatisiert

Franke trifft mit seinem vielseitigen, extrem durchdachten Produktangebot den Nerv der Zeit.

Unternehmenslogo schon von Weitem leuchten. Der weltweit größte Spülenhersteller Franke Küchentechnik gehört als Teil der Franke Gruppe zur Artemis Holding, die in Familienbesitz ist. Seine Produkte – darunter Arbeitsplatten, Spülen, Armaturen und Dispenser, Elektrogeräte wie Öfen, Kochfelder und Dunstabzugshauben, Abfallsysteme sowie passgenaues Zubehör – hat das Unternehmen in ein System eingebettet, das funktional und gestalterisch ineinandergreift. Exempl­ arisch für diesen Ansatz steht die Produktlinie Frames by Franke, die durch ihre Modularität die Küchenplanung extrem vereinfacht. Das System umfasst bis zu 50 Elemente, darunter Einbaugeräte, Spülen, Armaturen und Accessoires. Der Clou: Alle Komponenten sind so untereinander kombinierbar, dass sie immer zueinander passen. Das funktioniert, weil diese Linie eine durchgängige Designsprache besitzt: einen elf Millimeter schmalen Edelstahlrahmen, aufeinander abgestimmte Oberflächen und Bedienelemente – egal ob es sich um eine Einzellö­ sung oder um eine Profiausstattung handelt.

Franke trifft mit seinem vielseitigen,

der Franke Küchentechnik AG, die Teil

extrem durchdachten Produktangebot den Nerv der Zeit. Denn neben dem Badezimmer ist die Küche der Ort des Hauses, der sich in den letzten Jahren am meisten verändert hat. Die Küche von heute ist Kommunikationsnu­ kleus, privates Kochlabor, wichtigster Wohnraum. Fest definierte Raumfunktionen lösen sich auf und werden durch flexibel genutzte Zonen ersetzt. Das hat Auswirkungen auf Form, Funktion, Materialität und Farbe aller Produkt­ kategorien. Gutes Design, hochwertige Materialien, ergonomisch angepasste Arbeitshöhen, niedriger Energieverbrauch, gute Belüftung, leicht zu reinigende Fronten und Arbeitsplatten – das sind nur einige der Anforderungen, die heute an eine Küche gestellt werden. Im Fokus steht dabei die Spüle, denn nirgendwo sonst in der Küche werden so viele Arbeiten verrichtet wie hier. Deshalb muss sie nicht nur gut aussehen, sondern jede Menge funktionale Kriterien erfüllen: Sie sollte ergonomisch sein, robust, kratzfest, hitzebeständig und leicht zu reinigen. Kein Wunder, dass man auf Edelstahl als Material zurückgreift: Rund 70 Prozent der weltweit verwendeten Spülen sind aus dem korrosionsbeständigen und besonders hygienischen Material gefertigt. Am Standort Aarburg befindet sich die Arbeitsplatten- und Spülenherstellung

des Geschäftsbereichs Franke Kitchen Systems ist. Die Produktion ist zweigeteilt: in ein Designatelier, in dem die Produkte auf Bestellung maßgefertigt werden, und in eine Serienproduktion. Doch für alle Produkte gilt: Franke verwendet ausschließlich hochwertigen Edelstahl mit einem besonders hohen

Werner Schmid, Leiter der Serienproduktion

ADVERTORIAL

Fährt der Zug im schweizerischen Aarburg ein, sieht man das rot-weiße

Nickel- und Chromanteil (Chromnickelstahl 18/10), 31.948 Tonnen allein im letzten Jahr. In Aarburg werden die Spülen nicht aus einem einzigen Stück Edelstahlblech im sogenannten Monoblock-Verfahren gefertigt, sondern in zwei Teilen, was qualitativ hochwertiger ist, erzählt Werner Schmid während einer Führung durch die Produktion. Der Fünfzigjährige ist ein echter

117


WERKSBESUCH — WWW.FRANKE.CH

Frankianer, wie man hier sagt. Seit über

Bild oben links: Im Designatelier steht die handwerkliche Fertigung im Fokus. Bild oben rechts: Das Blank- oder Rekristallisationsglühen ermöglicht die weitere Verformung der Becken. Bild unten: der Polierprozess.

118

zwanzig Jahren ist er schon im Unternehmen tätig, inzwischen als Leiter der Serienproduktion. In den weitläufigen Hallen, in denen Spülen von 50 Mitarbeitern in Serie gefertigt werden, ist es hell, sauber und aufgeräumt. Der Herstellungsprozess nimmt seinen Anfang im Rohmateriallager, wo sorgfältig aufgerollte Edelstahlbleche, sogenannte Coils, auf ihre Verarbeitung warten. Der gelernte Betriebstechniker Schmid zeigt uns, wie das Ausgangsmaterial auf die erforderliche Länge zugeschnitten wird. In der Rahmenfertigung wird das Herstellungsprinzip einer hochwertigen Franke-Spüle deutlich: Sie besteht aus zwei lokal gefertigten, sogenannten Halbfabrikaten – Rahmen und Becken –, die anschließend zusammengeschweißt werden. Der Maschinenaufwand ist groß, wie man im Werkzeuglager sehen kann, wo Millionenwerte lagern: Jede Schublade des Hochregals ist mit unterschiedlichen Press- und Stanzwerkzeugen bestückt. Sie kommen auch in der eigentlichen Beckenfertigung zum Einsatz, wo auf drei Pressenlinien produziert wird. Besonders faszinierend ist das sogenannte Blank- oder Rekristallisationsglühen, das bei rund 50 Prozent der Becken zur Anwendung kommt: Sie werden unter sauerstofffreier Atmosphäre bei 1.050


DOSSIER

Im Showroom von Franke am Standort Aarburg

„Edelstahl ist ein nachhaltiges Material.“

ADVERTORIAL

Grad Celsius so weit erhitzt, dass sie nicht schmelzen, aber anschließend weiter verformt werden können, um beispielsweise besondere Tiefen und Eckgeometrien herzustellen. Im Bereich Endkontrolle und Verpackung werden die fertigen Stücke dann noch einmal auf ihre Qualität überprüft. Das Gegenstück zur Serienproduktion ist das Designatelier. Auf 3.000 Quadratmetern wird ausschließlich auf Bestellung und kundenindividuell gefertigt: Edelstahlarbeitsplatten, teils mit Becken und Aussparungen fürs Kochfeld versehen, Küchenfronten und Rückwände – rund 7.000 Stück pro Jahr. Die Produktion teilt sich auf in die Bereiche Rohmateriallager, Laserschweißen, Spenglerei, Oberflächenbehandlung und Endkontrolle. Im Designatelier werden auch dickere Materialstärken als in der Serienproduktion verwendet: massiver PureSteel oder dünnerer, holzunterleimter Fine­ Steel, zwischen 1,2 und 8 Millimeter stark. Das Gros der Aufträge kommt von Küchenstudios: Sie liefern eine detaillierte Entwurfszeichnung, die dann bei Franke CAD-gestützt umgesetzt wird. Schmid zieht eine warmgewalzte, 500 Kilogramm schwere Arbeitsplatte mit feiner Maserung aus einer großen Schublade hervor und erklärt, dass es bei den massiven warmgewalzten Arbeitsplatten vier verschiedene

Edelstahloberflächen gibt: das Nature-

firmeneigene Kläranlage und eine CO2-

Finish, das weitgehend naturbelassen ist, das wasserabweisende Pearl­Finish, das keine Fingerabdrücke hinterlässt, das schimmernde CrystalFinish, das weniger anfällig für Schmutz und Kratzer ist, sowie das hartverchromte DiamondFinish, das vollstens kratzresistent ist. Im Designatelier, in dem 30 Mitarbeiter tätig sind, kann man sehen, wie viel Handarbeit in einem vermeintlich einfachen Produkt steckt: Während die Edelstahlplatten zuerst zugeschnitten, abgekantet und in den Pressen hohlverformt wurden, werden die Becken aus der Serienproduktion in der Spenglerei (schweizerisch für Schlosserei) anschließend so in die Arbeitsplatte eingeschweißt und verschliffen, dass nachher alles wie aus einem Guss erscheint. „Edelstahl ist ein nachhaltiges Material“, erzählt Werner Schmid. Bei Franke besteht er aus über 80 Prozent recyceltem Material und ist 100 Prozent recyclingfähig. Und da eine Küche im Schnitt alle 15–20 Jahre ausgetauscht wird, haben die Produkte per se einen Anspruch auf lange Lebensdauer. „Die Produktion ist ressourcenintensiv“, sagt der Produkt­ ionsleiter, weswegen Nachhaltigkeit ein wichtiges Thema bei Franke sei. So gibt es in Aarburg mit Solarzellen ausgestattete Hallendächer, eine

neutrale Holzschnitzelheizung, die auch Prozesswärme herstellt. Nach der Führung fahren wir mit der Erkenntnis heim, dass bei Franke ein Spülbecken nicht einfach nur ein Spülbecken ist. Es braucht viele erfahrene Hände und Kompetenzen, um ein Qualitätsprodukt herzustellen, das lange hält und Freude macht.

Franke gehört zur Artemis Group und ist ein weltweit führender Anbieter von Lösun­ gen und Ausstattungen für die Haushalts­ küche, das private Bad, halb-/ öffentliche Waschräume, die professionelle System­ gastronomie und die Kaffeezubereitung. Die Franke Gruppe ist weltweit präsent und beschäftigt rund 9.000 Mitarbeitende in 40 Ländern, die einen Umsatz von über zwei Milliarden Schweizer Franken erwirtschaf­ ten. Franke Küchentechnik AG gehört zur Division Kitchen Systems und stellt am Fir­ mensitz in Aarburg Schweizer Qualitätspro­ dukte für umfassende Küchenlösungen her. Das vielfältige Sortiment des Küchen-Kom­ plettanbieters umfasst Spülen und Becken, Armaturen, Küchenabdeckungen, Kochfel­ der, Abzugshauben, Einbaugeräte, Abfall­ systeme sowie passendes Zubehör. www.franke.ch

119


Trinken mit Goldrand

Hotelbar oder lieber Bar im Hotel? Über das Update eines zeitlosen Ortes © Widder Bar, Zürich

120


DOSSIER

VON MAX SCHARNIGG

„Wenn man in einem eleganten Hotel sitzt, ist man selber elegant“, schrieb Kurt Tucholsky. Und das ist eigentlich bis heute die beste Begründung, eine Hotelbar aufzusuchen. Also, die beste nüchterne Begründung. Architektonisch und funktional betrachtet, ist so eine Hotelbar eine Schleuse, die von zwei Seiten betreten wird: von der Straße und vom Hotelzimmer. Dem Fremden, der in der Stadt abgestiegen ist und vielleicht bisher nur den Flughafen und sein Zimmer kennt, bietet sie die Gelegenheit, sich sanft in das Neue gleiten zu lassen. Schließlich ergibt sich am Tresen Erstkontakt mit Sprache, Gastrokultur und Einheimischen – bei gleichzeitiger Wahrung eines sicheren Rückzugs. Beinahe genauso wichtig aber ist eine gute Hotelbar für Einheimische, auch wenn das bisweilen in Vergessenheit gerät. Denn hier gibt es für den Gegenwert eines Drinks die Möglichkeit, sich vom Hotelglanz in mondäne Stimmung versetzen zu lassen und international zu fühlen, ohne dafür weit gehen zu müssen. Wer an Fernweh leidet, bekommt in der Hotelbar sozusagen sein Methadon. Dem Ort kommen also elementare Aufgaben zu, aber nur, wenn er gut ist.

Ist die Hotelbar, wie bei vielen sterilen Messe- oder schlecht gelüfteten Bahnhofshotels, nur Verschiebefläche für Pilsbier, lustlos gezapft vom angehenden Hotelfachmann mit abgeklebten Piercinglöchern, wird sie nie mehr sein als ein Kummerort für Vertreter und andere Zwangsreisende. Ein Haus, an dem man sehr gut ablesen kann, welche Vermittleraufgaben eine Hotelbar erfüllt, ist das Widder in Zürich. Dieses Hotel ist perfekt in die Altstadt „embedded“, verteilt über neun uralte Zunfthäuser, ein gediegenes Boutiquehotel in einer gediegenen Stadt. Es wäre vor lauter Gediegenheit und Understatement wirklich fast unsichtbar, wenn da nicht die gerade frisch renovierte Widder Bar wäre. Extra Eingang natürlich – wobei, ab 19 Uhr kann man eigentlich von Eingang nicht mehr sprechen, so voll ist es da Abend für Abend. „Die Bar ist für unser Haus wie ein Pulsschlag“, sagt Hoteldirektor Jan E. Brucker. „Sie ersetzt bei uns eigentlich die Lobby.“ Deswegen habe man beim aktuellen Umbau, den die Architektin Tilla Theus verantwortete, auch besondere Sorgfalt darauf verwendet, dass der Charme der Bar (sie existierte tatsächlich schon lange vor dem Hotel an dieser Stelle) nicht verloren geht. „Es sollte beim Betreten keine Hemmschwelle geben, weder für die Hausgäste, noch für die Ein-

121


TRINKEN MIT GOLDRAND heimischen“, sagt der Direktor. Hotelgäste kommen jetzt über eine kleine Treppe fast unbemerkt erst in den Restaurant- und dann den Barbereich, die Vermischung des Publikums findet so unmerklich statt wie bei einem guten Longdrink. Reservieren kann niemand, weder extern noch intern. Und wenn man schließlich an dem Tresen vor der

© Widder Bar, Zürich

illuminierten Spirituosenmauer sitzt, vergisst man völlig, dass hier backstage ein ganzes Hotel dranhängt. Weil es dunkel, laut und ein bisschen gefährlich ist, wie in jeder richtigen Bar. Das ist die Herausforderung, die eine Hotelbar meistern muss, damit sie zum Pulsschlag für Stadt und Haus wird. Ist eine Seite zu dominant, gerät sie ins Schlingern. Man will als Hotelgast nicht das Gefühl haben, im coolsten Club der Stadt nur geduldet zu sein oder gar nicht erst reinzukommen. Manche der hippen Ace Hotels etwa, haben mittlerweile derart magnetische Anziehungskräfte auf die Szene ihres Viertels, dass man als zerknautscht anreisender Gast das Gefühl hat, man störe bei einem Happening. Gleichzeitig sollte der Gold­ rahmen eines Luxushotels nicht so einschüchternd wirken, dass man sich als Stadtbewohner nicht traut, dort ein schnelles Glas

122

Wein zu nehmen. Die großen Städte sind voll mit glamourös beklimperten Hotelbars, in denen nur ein paar reiche Witwen Cognac schlürfen. Das ist nur halb etwas, das die Architektur und Einrichtung lösen können, die andere Hälfte muss die Bar Crew übernehmen. Wo es keine Stammgäste gibt, muss es als Ersatz nämlich so etwas wie einen Stammgeist geben. Zum Glück scheint diese Erkenntnis auch bei modernen Hotelkonzepten wieder verankert zu sein. Frische Premium-Ketten wie die W-Hotels, Ruby oder 25hours, die auf die stilistische Überzeugungskraft ihrer Häuser setzen, schenken auch dem Prinzip Bar wieder besonderes Augenmerk. So haben die Boilerman Bars der 25hours-Hotels in Hamburg und München den dezidierten Auftrag, keine Hotelbars zu sein, sondern Bars in einem Hotel. Gute Idee! Bei all dem Buhlen um die authentische Szene sollte nicht vergessen werden, was immer noch die wichtigste Aufgabe einer (Hotel-)Bar ist: Man muss in ihr gut alleine trinken können. Sie muss jene weltenthobene Atmosphäre bieten, die den Gästen Zeit gibt, ihre Angelegenheiten ein bisschen zu überblicken. Allein in der Fremde, mit einer Lücke im Zeitplan beginnen viele Menschen in der Hotelbar ja ernste Sondierungsgespräche mit sich selbst. Dass Sofia Coppola in Lost in Translation eine Hotelbar zur Kulisse der universalen Lebenskrisen ihrer Protagonisten werden lässt, ist deshalb absolut stimmig. Dort, in der New York Bar des Park Hyatt Tokyo, liegt die unergründliche Riesenstadt hinter den Glasscheiben. Das Fremde ist gefährlich nah, aber in der dezenten Beleuchtung der Bar und mit den Drinks scheint es auch dimmbar, ja fast zu vernachlässigen zu sein. Bill Murray hält sich am Tresen fest und an der 24/7-Verfügbarkeit dieses Ortes. Erstklassige Hotelbars geben ihren Gästen dieses Gefühl: Du musst nicht raus. Das hier ist ewig.



TITEL

AR 124


ARCHITEKTUR

CUKROWICZ NACHBAUR

&

Bischofsgrablege Rottenburg am Neckar (2014–2017) von Cukrowicz Nachbaur Architekten in Kooperation mit Wiesler Zwirlein Architekten. Foto: Adolf Bereuter

125


INTERVIEW

Bisher zählten sie zu den kleineren Architekturbüros, das wird sich jetzt ändern. Mit ihrem Siegerentwurf für das neue Konzerthaus in München haben es die Bregenzer Architekten Cukrowicz & Nachbaur geschafft, so ziemlich jeden – von der Jury bis zur Fachpresse – für ihre Vision einer Musikkathedrale zu gewinnen. Andreas Cukrowicz spricht im Interview über den absoluten Raum, Sprünge im Maßstab und Probeliegen in einer Gruft.

VON TIM BERGE

Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur-Sturm

126


ARCHITEKTUR Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des Wettbewerbs für das neue Konzerthaus in München! Wie fühlt es sich an, gerade einen der bedeutendsten nationalen Wettbewerbe des Jahres gewonnen zu haben? Ursprünglich wäre der Wettbewerb ja schon im Mai entschieden worden, hätte es einen gewissen Einspruch nicht gegeben. Die halbjährige Verzögerung hat bei uns dazu geführt, dass wir am Ende gar nicht mehr so nervös waren. Tatsächlich war ich am Tag der Entscheidung im Urlaub mit meiner Familie und daher weit weg vom Rummel! Aber natürlich ist es ein gutes Gefühl, wenn man so eine Nachricht erhält (lacht). Die Zahlen des Wettbewerbs hören sich gewaltig an: 206 beteiligte Büros, darunter einige sehr namhafte, und eine Jury, die aus 90 Personen besteht. Wie habt ihr selber eure Chancen gesehen? Jedes Büro hat bei so einem großen Verfahren und mit so einer guten Jury die gleichen Chancen. Aber es ist nicht so, dass wir nicht damit gerechnet haben. Wir hatten das Gefühl, dass es möglich ist. Ihr habt bisher immer stark kontextbezogen gearbeitet: Gab es bei dem Wettbewerb einen anderen Ansatz? Und wie habt ihr in diesem Fall den Kontext bewertet? Es stimmt, normalerweise arbeiten wir sehr stark mit dem Kontext. Das machte es in diesem Fall etwas schwieriger, weil der Ort eigentlich noch gar nicht richtig vorhanden ist. Noch wird er durch leere Volumen und Absichtserklärungen von Investoren gebildet. Daher mussten wir uns den Kontext selber kreieren, basierend auf der Geschichte des Ortes. Dabei spielte das Thema „Werksviertel“, wie das Quartier von der Stadt München offiziell genannt wird, eine große Rolle. Dieser Begriff hat uns einen Kontext geliefert, in den wir uns hineindenken konnten.

Wie kam dann der Schritt zu der sehr prägnanten Kubatur des Hauses? Wir haben bei uns im Büro ein großes Modell des gesamten Stadtteils gebaut und stark in und mit diesem gearbeitet. Dadurch wurde uns relativ schnell klar, welche grobe Form das Haus aus unserer Sicht haben müsste. Trotzdem haben wir dann noch über Monate an der Form herummodelliert. So wurde die Kubatur etwas weicher und absoluter. Wir wollten eine stimmige Form kreieren, die zwar aus dem gedachten Kontext heraus entwickelt, aber dennoch total eigenständig ist.

Das Gebäude sticht ja auch durch seine Höhe aus den Wettbewerbsergebnissen heraus. Ja, wenn man sich historische Aufnahmen Münchens anschaut oder seinen Blick leicht über die Dächer der Stadt erhebt, dann tritt besonders ein Gebäude in den Vordergrund: die Frauenkirche. Das führte uns zu der Erkenntnis, dass wichtige Bauten der Stadt Identifikationsmerkmale und auch Orientierungspunkte sein müssen. Und wenn in der heutigen Zeit eine Gebäudetypologie an die Bedeutung historischer Kathedralen anknüpft, dann sind es doch Kulturbauten. Deshalb wollten wir das Haus aus seiner Umgebung herausstechen lassen. Seid ihr mit der Höhe ein Risiko eingegangen? Nein, nicht wirklich. Die Regeln des Bebauungsplans für das Gebiet sind zwar eindeutig, aber es gibt auch Ausnahmen in dem Regelwerk – und die haben wir ausgereizt. Wie seid ihr auf die Glasfassade gekommen? Das Material hätte man im Vorfeld vielleicht nicht mit euch assoziiert. Wir haben am Modell mit vielen verschiedenen Materialien experimentiert, aber die meisten davon haben nicht den erwünschten Ausdruck

hervorgebracht. Mit dem Glas haben wir die Möglichkeit, dahinterliegende Flächen offen oder geschlossen auszubilden und sie beliebig zu belichten. Es ist wie eine neutrale Haut, die uns auch im weiteren Verlauf des Projekts viele Optionen offenlässt. Und wir können dieses „Ding“, wie es auch genannt wird, leuchten lassen. Wir zählen uns zwar nicht zu den Projektbeleuchtern, aber in diesem Fall fanden wir eine gewisse Strahlkraft gut. Spannend wird auch sein, wie die gläserne Haut innen und außen verbindet. Ja, an diesem Dialog sind wir auch sehr interessiert. Wir haben relativ große Foyers geplant, die zum Teil von drei oder vier Seiten einsichtig sind. Dieser Kontakt mit der Umgebung ist besonders und macht das Gebäude sehr lebendig. Die Besucher werden unbewusst zu Akteuren, Interaktion wird möglich. Im Gegensatz zur Transparenz der Fassade sind die Konzertsäle extrem introvertiert. Wie habt ihr das bürointern thematisiert? Das Projekt lebt von diesen Unterschieden. Während des Konzerts konzentriert sich alles auf die Musik. Da gibt es nichts anderes. Aber in den Foyers erweitert sich der Fokus radikal, weil die umliegende Stadt in Erscheinung tritt. Da geht es um Kommunikation. Wir arbeiten öfter mit diesen Kontrasten und planen unsere Gebäude stets so, dass sie nicht eine pürierte Suppe ergeben, in der alle Qualitäten gleich sind. Wir wollen unterschiedliche Qualitäten schaffen, immer an den Stellen, wo es der Raum auch braucht. Beim Vorarl­ berg Museum in Bregenz beispielsweise haben wir mit einer ähnlichen Methode gearbeitet: Dort gibt es auch eine Mischung aus introvertierten Ausstellungsbereichen und zum Stadtund Landschaftsraum hin geöffneten Zonen.

127


INTERVIEW

Eine 45 Meter hohe Kathedrale aus Glas: Mit ihrem mutigen Entwurf fĂźr das neue Konzerthaus MĂźnchen am Ostbahnhof konnten sich Cukrowicz Nachbaur Architekten gegen 30 Konkurrenten durchsetzen, darunter David Chipperfield Architects, 3XN und Staab Architekten. 128


ARCHITEKTUR

Das Gebäude sei „ein nobler Ruhepunkt. Zurückhaltend und ausdrucksstark zu­ gleich, in dieser Form an keinem anderen Ort zu finden“, lobt Juryvorsitz Arno Lederer das Siegerprojekt.

Wie seid ihr bei der Konzeption des Innenraums, insbesondere des großen Konzertsaals vorgegangen? Die Ausformung eines Konzertsaals ist wirklich Knochenarbeit. Unzählige Male mussten wir die Sitzplätze zählen. Bei unserer Planung sind wir aufgrund eigener Erfahrungen, aber auch durch die Beratung eines kleinen Akustikbüros aus Österreich von der Schuhschachtel ausgegangen. Allerdings von einer weichen Schuhschachtel. Wir haben uns gefragt, wo wir selbst am liebsten sitzen würden und wo eigentlich die besten Plätze sind. Diese Plätze haben wir dann maximiert. Die Ränge haben wir umlaufend ausgebildet wie eine kleine Arena. Dadurch hat jeder Platz ein Gegenüber, und es entsteht ein Gemeinschaftsgefühl. Außerdem geht es bei einem Konzertbesuch ja auch um das Sehen und Gesehenwerden – gerade in München. (lacht)

Wie seht ihr den Entwurf im Kontext eurer bisherigen Arbeiten? Es ist natürlich ein Maßstabssprung, aber einer, den wir gesucht haben. Wir haben uns in letzter Zeit des Öfteren mit größeren Maßstäben beschäftigt: einmal in Wien beim Museum am Karlsplatz und beim Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin. Bei beiden Wettbewerben sind wir knapp gescheitert und haben aber gemerkt, dass wir schon auch etwas zu sagen haben und passende Antworten finden können. Wie geht es nun bei euch weiter? Wir haben nicht das Gefühl, dass wir irgendein Ziel oder eine Situation erreicht haben, auf der wir uns ausruhen könnten. Grundsätzlich finden wir Kulturbauten als Betätigungsfeld sehr spannend, aber unsere Bürogeschichte ist geprägt durch Projekte unterschiedlichster Größe und Art. Wir wollen nicht die 27. Schule oder den 800. Kindergarten planen. Unser Interesse

gilt jeder Bauaufgabe, auch dem ganz kleinen Maßstab. Wir haben gerade erst eine Bischofsgruft in Rottenburg am Neckar, in der Nähe von Stuttgart, fertiggestellt. Da wurden wir mit einem Thema konfrontiert, das unser eigenes Leben berührt – und auch beendet. Wenn man sich einmal intensiv mit dem Tod auseinandergesetzt hat, dann relativiert sich im Alltag ganz vieles. Ich habe fünf Minuten Probe gelegen und geschaut, wie es sich anfühlen könnte, allerdings ohne Deckel, aber mit geschlossenen Augen. Vielleicht ist das der absolute Raum? Möglicherweise ja.

www.cn-architekten.at www.konzerthausmuenchen.de www.werksviertel.de

129


EDITOR’S PICK — LICHT

PIANI LUNGO Wie ein Ring aus Licht schwebt Piani Lungo über dem Tisch und sorgt für eine gleichmäßige und homogene Beleuchtung. Der ovale Korpus der Pendelleuchte von Byok besteht aus einem acht Millimeter dünnen Aluminiumprofil, an dessen Unterseite LED-Module verborgen sind. kh www.heinze-dear.de/_041301

INFRA-STRUCTURE

COASSIALE

Eine moderne Interpretation des Bauhaus-Stils ist die Kol­ lektion Infra-Structure von Vincent Van Duysen für Flos. Sie besteht aus einem Aluminiumröhrenprofil mit integrierter Grafit-Magnetschiene, an die LED-Strahler und Pendelleuchten magnetisch montiert werden können. kh

Unendlich viele Lichteffekte erzeugt die Pendelleuchte Coassiale, die Vittorio Venezia für Martinelli Luce entworfen hat. Zwischen zwei vertikal hängenden Kabeln kann ein kreis­ förmiger Diffusor aus opalweißem Methacrylat bewegt werden, der von oben und unten angestrahlt wird. kh

www.heinze-dear.de/_041302

130

www.heinze-dear.de/_041303


ARCHITEKTUR

ALGORITHM

AMISOL GOLD MIRROR

Die Lichtkugeln der Pendelleuchtenkollektion Algorithm von Toan Nguyen für Vibia bestehen aus mundgeblasenem Glas und werfen konzentrische Kreise in den Raum. So wird ein durchlässiger und sich ständig verändernder Lichteffekt ge­ schaffen. kh

Die Pendelleuchte Amisol Gold Mirror von Luceplan besteht aus einer metallisierten Spiegeloberfläche, die in einem Alu­ miniumprofil befestigt ist. Der Entwurf von Daniel Rybakken fängt entweder das Licht der Sonne oder eines LED-Strahlers ein und streut es in den Raum. kh

www.heinze-dear.de/_041311

www.heinze-dear.de/_041312

LINESCAPES CANTILEVERED Effizient und vielseitig ist die Serie Linescapes Cantilevered von Nemo. Sie besteht aus einer weiß eloxierten, rechteckigen Aluminiumstruktur, in der ein Diffusor aus mattweißem Poly­ karbonat sitzt und um 340 Grad gedreht werden kann. kh www.heinze-dear.de/_041313

131


PROJEKTE

KONKRET ABSTRAKT EIN WOHNHAUS IN DER SCHWEIZ

TEXT: TIM BERGE FOTOS: GAUDENZ DANUSER

132


ARCHITEKTUR

133


PROJEKTE

Es ist der Prototyp eines Einfamilienhauses: Giebeldach, Schornstein und ein überdachter Parkplatz verleihen dem Neubau im Graubündner Dorf Trin Mulin eine fast schon idealtypische Silhouette. Und genau hier hören die Gemeinsamkeiten mit der standardisierten Welt auch schon auf.

134


ARCHITEKTUR

Das Raue und die Passivität des Ort­ betons, aus dem das gesamte Haus gegossen wurde, machen das Gebäude zu einem felsenhaften Monolithen inmitten der alpenländischen Idylle. Aus der Ferne ist kaum ein Unterschied auszumachen, das Wohnhaus von Schneller Caminada Architekten fügt sich mit seinem schrägen Dach und dem hohen Schornstein perfekt in seinen architektonischen Kontext ein. Doch je näher man an das Gebäude herantritt, desto mehr wächst auch die Faszination für dieses massive Objekt. Seine beeindruckende Kraft bezieht der Neubau aus seiner Materialität: Der Beton verankert das Volumen fest in seinem Grund und verleiht der eigentlich unauffälligen Gestalt die nötige Präsenz, um vor der imposanten Berg­ kulisse bestehen zu können. Seinen hellen Farbton erhält das Haus durch regionale Zuschlagsstoffe. Die Qualitäten des Materials eignen sich nicht nur aus ästhetischer Sicht ideal für den Standort inmitten der Alpen, sondern auch aus nachhaltigen Gründen: Beton ist wasserdicht und frostbeständig, speichert die Wärme und schützt vor Kälte. Dazu erlaubt es sein statisches Potenzial, Innenräume vollständig ohne tragende Wände zu planen und einen Erschließungskern rein aus lokal gewonnenem Arveholz zu bauen.

135


PROJEKTE

Der massive Beton erhält seine helle Farbigkeit durch regionale Zuschlagsstoffe – auch das Kiefernholz stammt aus Graubünden.

136


ARCHITEKTUR Diese Freiheiten nutzten die Architekten bei der Organisation des Raumprogramms. Es spiegelt zwar exakt die Bedürfnisse der Bauherren wider, erzeugt aber dank seiner komplexen Struktur eine deutlich spannendere Dramaturgie im Gebäudeinneren. Ein überhöhtes Wohnzimmer und halbgeschossig versetzte Räume gewähren eine Vielzahl unterschiedlicher Szenarien und Ausblicke in die Berglandschaft, denen durch großformatige Fenster eine besondere Rolle zuteilwird. Das Wohn- und Esszimmer, die Küche, zwei Schlafzimmer mit Bad und Ankleide, die Bibliothek sowie der Atelierraum sind auf einem beinahe quadratischen Grundriss angeordnet. Der hölzerne Kern sowie weitere Einbauten und Objekte aus der Kiefernart verleihen dem Innenraum nicht nur eine warme Atmosphäre, sondern fügen ihm auch ein traditionelles Bauelement der Region hinzu. Ein spannender Kon­ trast, der den Dualismus, der sich durch das gesamte Projekt zieht, um ein weiteres Kapitel ergänzt. Der Neubau spielt mit unseren Erwartungen, die er stets einhält und denen er gleichzeitig etwas Unerwartetes hinzufügt. Konkret und abstrakt im selben Moment.

Neubau Einfamilienhaus Trin Mulin, 2016 Projektarchitekten Schneller Caminada Architekten www.schnellercaminada.ch Fotograf Gaudenz Danuser www.gaudenzdanuser.com

137


PROJEKTE

DIE MACHT DER STEINE

TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTO: IWAN BAAN

Wer w채re f체r das Lego House besser geeignet, als das Enfant terrible der skandinavischen Architekturszene? Bjarke Ingels w체rfelt aus 체ber 21 White Cubes das neue Lego-Besucherzentrum in Billund.

138


ARCHITEKTUR „Das ist kein Plastik, das ist Lego“, antworten entsetzte Kinder wie aus der Pistole geschossen, wenn Erwachsene mal wieder die Preispolitik des dänischen Spielzeuggiganten infrage stellen. Was 1932 mit Spielsteinen aus Holz begann, ist heute eine Legende mit Kunststoffnoppen, die man in so gut wie jedem westlichen Kinderzimmer finden kann. Und weil es trotz eines ausgelaufenen Patents für die Lego Group keine wirkliche Konkurrenz gibt, verzeichnet der heutige Hauptaktionär Kjeld Kirk Kristiansen mit seinem Unternehmen einen Jahresumsatz von 3,4 Milliarden Euro. Da bleibt genug Budget übrig, um am Gründungsstandort ein spektakuläres Besucherzentrum zu bauen. In einem Wettbewerb konnte sich dafür 2013 der Entwurf von BIG aus Kopenhagen durchsetzen: 23 Meter hoch und mit 12.000 Quadratmetern Fläche nimmt der Neubau einen Shop, zwei Ausstellungsbereiche, drei Restaurants und vier Spielbereiche auf, in denen Besucher ihrer Kreativität freien Lauf lassen können. Die Architektur der Bjarke Ingels Group funktioniert hier auf mehreren Ebenen: Im großen Maßstab soll der Neubau Google-Earth-tauglich sein. Und in der Tat erkennt man das Lego House aus der Luft. Es besteht aus 21 Blöcken (nicht aus Plastik, sondern Beton und einer Steinfassade), wobei der oberste Block mit seinen acht runden Dachluken an einen Plastikbaustein mit den berühmten acht Noppen erinnern soll. Im Inneren hingegen entfalten sich kunterbunte Erlebniswelten, die

farblich nach Lernaspekten geordnet sind. Während Rot für Einfallsreichtum steht, bedient Blau kognitives Lernen, Grün steht fürs Geschichtenerzählen und Gelb für emotionales Lernen. Wen es jetzt zuhause in den Fingern juckt: Anlässlich der Eröffnung bringt Lego das passende Lego House-Set auf den Markt. Als Special Edition ganz in Weiß für 45 Euro – mit der Möglichkeit, eines Tages auch etwas Eigenes aus den hellen Steinen zu bauen.

Mehr Bilder: www.heinze-dear.de/_04138

Lego House www.legohouse.com Architekten Bjarke Ingels Group / www.big.dk Fotograf Iwan Baan / www.iwan.com

139


PROJEKTE

BRUTALISMUS LEBT : WOHNTURM IN ARGENTINIEN Sichtbeton entzweit die Gemüter. Was das Architektenherz höher schlagen lässt, wird von vielen anderen als zu schroff und düster empfunden. Dass diese Einschätzung getrost revidiert werden darf, zeigt ein dreizehngeschossiger Apartmentturm im argentinischen Rosario, der unter der Regie von Pablo Gagliardo entstanden ist.

TEXT: NORMAN KIETZMANN FOTOS: RAMIRO SOSA

140


ARCHITEKTUR

141


PROJEKTE

142


ARCHITEKTUR

An einer Kreuzung im belebten Universitätsviertel von Rosario hat der Architekt Pablo Gagliardo ein kleines Stück Brutalismus aufleben lassen. Das Gebäude ist dabei kein schwerfälliger Klotz, sondern vielmehr ein leichtfüßiger Tänzer: Vor- und zurückspringende Balkone machen die Silhouette unscharf und lassen den Turm von jeder Seite anders aussehen – fast, als würde er mit reichlich Verve um die eigene Achse rotieren. Großzügige Fensterfronten setzen einen­Kontrapunkt zu den massiven, betongegossenen Brüstungen der Balkone, wodurch ein Wechselspiel aus offenen und geschlossenen Volumina entsteht, das vom Tageslicht durchdrungen wird. Helligkeit ist ein verlässliches Mittel, mit dem Pablo Gagliardo die vermeintliche Hässlichkeit des Materials ins Gegenteil umkehrt. Wenn Lichtstrahlen über die Betonoberflächen wandern, akzentuieren sie die Abdrücke der Schalungsbretter und verwandeln sie in ein rhythmisch changierendes Relief. Ein rundes Treppenhaus bewirkt, dass bei den Grundrissen keine Langeweile zu befürchten ist. Wie eine Spirale schraubt es sich nach oben. Die gebogenen Außenwände dieses Betonzylinders zeichnen sich schließlich in den Apartments ab. Auch hier tanzt der Turm bewusst aus der Reihe, indem

143


PROJEKTE

Von einem filigranen Metallgerüst hängen unterschiedlich lange Haken herab, an denen die Fahrräder der Hausbewohner am Vorderrad aufgehängt werden. Was in vielen Hauseingän­ gen als störend empfunden wird, erfüllt hier eine identitätsstiftende Aufgabe.

Alle Bilder und Pläne: www.heinze-dear.de/_04140

144


ARCHITEKTUR die Raumfluchten durch unerwartete Kurven aktiviert werden. Die Kontinuität zwischen innen und außen setzt sich innerhalb der Wohnungen fort. Jede einzelne verfügt über eine großzügige Balkonterrasse, die mithilfe von gläsernen Schiebewänden mit dem Innenraum verbunden werden kann. Das Beste erwartet die Hausbewohner allerdings auf dem Dach: Dort befindet sich eine zweigeschossige Terrasse mit einem Außenpool und unschlagbarem Panoramablick über die Dächer der Stadt. Schroff und düster sieht eindeutig anders aus.

Architekten Pablo Gagliardo, Obring Arquitectura www.obring.com.ar Pueyrredón 1101 Rosario, Argentinien Apartmenthochhaus Sichtbetonfassade und -interior 1.567 Quadratmeter Fertigstellung 2017

145


PROJEKTE

TEXT: TANJA PABELICK FOTOS: WARKA WATER

146

DER


ARCHITEKTUR

NEBELFÄNGER 147


PROJEKTE

148


ARCHITEKTUR

Ein Bambusturm steht wie eine grazile Skulptur in der kargen äthiopischen Landschaft. Sein Skelett und seine zarte Haut wirken filigran und fremd. Er ist Landmarke, Dorfzentrum und Wasserquelle zugleich. 149


PROJEKTE

Turm statt Brunnen: Mit einer Hรถhe von 9,50 Metern holt das Pilotprojekt bis zu 100 Liter am Tag Wasser aus der Luft.

150


ARCHITEKTUR

Die Geschichte des Nebelfängers Warka Water begann vor fünf Jahren mit einer Reise nach Äthiopien. Der Trip auf ein Hochplateau im Nordosten des Landes war für den italienischen Architekten und Künstler Arturo Vittori, wie er erzählt, „eine Begegnung mit einer dramatischen Realität“. „Die Dorfbewohner der ländlichen und isolierten Gemeinde lebten zwar in dieser fantastischen Landschaft, aber ohne fließendes Wasser, Duschen oder Toiletten.“ Das nächste Wasserbecken lag Meilen entfernt, die Frauen und Kinder füllten dort täglich ihre Kanister. Die schwere Last zurückzutragen war anstrengend, das Wasser ein hygienisches Risiko. Arturo Vittori, der in Bomarzo das Studio Architecture and Vision führt, wollte eine Alternative entwerfen, die für die Bewohner der Dorze sozial, ökologisch und finanziell funktioniert. Noch im selben Jahr begann ein Projektteam des Büros mit dem Prototypenbau von Nebelfängern, 2015 stand der erste Testturm. Er ist 9,50 Meter hoch, wiegt gerade einmal 80 Kilo und holt täglich bis zu 100 Liter Wasser aus der Luft. Für die Konstruktion der tragenden Dreiecksstruktur haben die Architekten auf das leicht biegsame und stabile Naturmaterial Bambus gesetzt. Im Innern hängt ein Kunststoffnetz, in dem sich Tau und Nebel in Tropfen absetzen, die dann in einem zentralen

Kollektor aufgefangen werden. Zusätzlich wurde ein umlaufender Baldachin installiert, der die Verdunstung des gesammelten Wassers verhindert, aber auch einen schattigen Gemeinschaftsort für die Dorfbewohner schafft. „Warka Water ist in erster Linie ein Architekturprojekt, es sollte nicht als die eine Lösung für alle Wasserprobleme verstanden werden“, erklärt Vittori. Als Werkzeug gegen Wassermangel sind die filigranen Türme aber nicht zu unterschätzen. Selbst wenige Liter können für nachhaltige Veränderungen sorgen. Die Dorze haben nun nicht nur sicheres Wasser, sondern auch Zeit und Raum für andere Aktivitäten.

Warka Water www.warkawater.org Architecture and Vision www.architectureandvision.com Arturo Vittori www.arturovittori.com

151


EDITOR’S PICK — KÜCHE

MYKILOS MK1 ALU BLOCK Der kubische Küchenblock des Berliner Labels Mykilos könnte mit seiner strengen Geometrie zum Architektenliebling werden. Fronten aus massivem, eloxiertem Aluminium, eine Arbeitsplatte aus Edelstahl und ein Innenleben aus Eichenholz ziehen alle Blicke auf sich. csh www.heinze-dear.de/_041521

BLANCO CRONOS XL8 Donald Judd lässt grüßen: Blanco lanciert ein Becken, das mit seiner markanten Form das Zeug zur Küchenskulptur aus Edelstahl hat. Die extrem geradlinige Linienführung wird aufgelockert durch das Zusammenspiel von matten und glänzenden Oberflächen. csh www.heinze-dear.de/_041522

NEXT125 TABLE AND BENCH Den Esszimmer- und Küchenklassiker ins Hier und Jetzt übersetzt hat next125. Die gestalterisch reduzierten Massiv­ holz­stücke des deutschen Herstellers gibt es in Walnuss oder Asteiche Natur, die Oberflächen sind geölt. csh www.heinze-dear.de/_041523

STRASSER STEINE TOUCH STONE Ein Unternehmen aus Österreich funktioniert die Küchenarbeits­ platte in eine Smart-Home-Kommandozentrale um. Unter dem Naturstein von Strasser verbirgt sich für den Nutzer unsichtbar eine Technik, mit der man durch Berührung der Gravuren Licht, Musik und Beschattung steuern kann. csh www.heinze-dear.de/_041524

152


ARCHITEKTUR

ADVERTORIAL

ARCHAIK UND HIGHTECH

TEXT: NORMAN KIETZMANN FOTOS: NICOLÓ LANFRANCHI

Feuer, Erde, Sand: In den Fabriken der Keramik­hersteller geht es zu wie in einem alchemistischen Labor – und an einigen Stellen sogar wie in einer Nudelküche. Ein Besuch in Reggio Emilia, einer Region, in der die Tradition gebrannter Erde in die Gegenwart strebt. 153


ARCHAIK UND HIGHTECH

„Das ist fast so, als würde man Spaghetti herstellen.“

Fliesen haben viele Gesichter. Sie kön-

Industrielle Mondlandschaft: Quarzsand und Ton-Erden werden zu hohen Bergen aufgeschichtet. Rechte Seite: Auf diesen Förderbändern wandern die frisch gepresste Platten zum Brennen – ein Highway für die Keramik.

154

nen zurückhaltend elegant sein oder mit überbordendem Dekor auftrumpfen. Einmal gebrannt, halten sie Feuer, Kälte und Nässe stand – und sind auf vielfältige Weise einsetzbar. Bereits im Mittelalter und in der Renaissance galt die italienische Stadt Faenza als ein bedeutendes Keramikzentrum, das luxuriöse Raumausstattungen für die Paläste der Medici ebenso lieferte wie dekorative Gebrauchskeramik. Fayence, so die französische Ableitung des Städtenamens, wird in vielen Ländern noch immer als Synonym für glasierte Tonware verwendet. Das Zentrum der italienischen Keramikproduktion liegt auch heute noch in der Region Reggio Emilia. Der Standort ist allerdings im frühen 20. Jahrhundert rund 80 Kilometer weiter nach Westen gewandert. Im Umland der Kleinstadt Sassuolo wurde der Wechsel vom Handwerk zur Industrie vollzogen – mit teils rasantem Wachstum. 40 Prozent der weltweiten Fliesenproduktion wurden dort zwischenzeitlich umgesetzt. Bis heute haben 80 Unternehmen mit 15.000 Beschäftigten ihren Sitz vor Ort, die zusammen rund vier Fünftel aller italienischen Fliesen produzieren: 2016 waren es 414,5 Millionen Qua­ dratmeter, rund 60.000 Fußballfelder, von denen 85 Prozent ins Ausland exportiert wurden.


ADVERTORIAL

ARCHITEKTUR

155


ARCHAIK UND HIGHTECH

156


ARCHITEKTUR

Roboter mit Saugnäpfen platzieren die fertigen Platten auf einem erhöhten Tisch. Die Tische wiederum werden mit selbstfahrenden Roboter-Taxis zur Packstation weitertransportiert.

ADVERTORIAL

Linke Seite: Weite Wege: Das Firmengelände von Casalgrande Padana erstreckt sich über 700.000 Quadratmeter.

Damit ist Sassuolo auch der passende Standort für den Verband der italienischen Fliesenhersteller, Confindustria Ceramica, der seine Mitglieder unter der Marke Ceramics of Italy weltweit vertritt. Archaik und Hightech gehen bei der Herstellung Hand in Hand. Verschiedene Tonarten werden mit Quarzsand, Feldspat, Schamotte, Farbstoffen und mineralischen Zusätzen vermischt. Die Ingredienzien werden in den Lagern der Fabriken zu hohen Bergen aufgeschichtet, die an miniaturisierte Alpenkulissen denken lassen. Bagger fahren in dieser unwirtlichen Landschaft umher und transportieren die Pulver zum Ort ihrer weiteren Verarbeitung: riesigen Metallmischern, die gemächlich ihre Runden drehen und mit grummelnden und schmalzenden Geräuschen den Raum erfüllen. Unzählige Rohre und Schläuche bahnen sich an den Decken und Wänden der Hallen ihren Weg und münden

schließlich in riesigen Tanks, wo das Gemisch mit Wasser vermengt wird. Im Anschluss wird die Masse zu einem Strang gepresst, von dem einzelne Platten abgeschnitten werden. „Das ist fast so, als würde man Spaghetti herstellen“, sagt ein Mitarbeiter des Unternehmens Casalgrande Padana, als er über das 700.000 Quadratmeter große Firmengelände mit eigenem Kraftwerk führt. Die Keramikplatten wandern auf automatischen Bändern weiter, bis sie in Form gepresst, getrocknet und anschließend bei 1.200 Grad Celsius gebrannt werden. Nicht alle Fliesen erhalten eine Glasur wie die früheren Faenza-Keramiken. An Fassaden kommen in erster Linie unglasierte Platten zum Einsatz, die bei vielen Unternehmen in der Region mehr als zwei Drittel der Produktion ausmachen. Bevor die Fliesen mit selbstfahrenden Robotern zur Packstation transportiert werden, durchlaufen sie die Qualitätskontrolle. Pressen üben

fast eine Tonne Druck auf jede einzelne Platte aus – genug, um sie schon bei kleinsten Rissen brechen zu lassen. Per Laserstrahl wird die Ebenheit der Oberflächen untersucht, damit selbst riesige Fassadenflächen ohne störende Wölbungen verkleidet werden können. Neue Wege werden keineswegs nur mit selbstreinigenden Oberflächen beschritten, für die viele der Unternehmen der Marke Ceramics of Italy mit Mikrobiologen der Universität Modena zusammenarbeiten. Auch an anderer Stelle stehen die Zeichen auf Veränderung. Statt mit glatten, abweisenden Oberflächen können Keramikfliesen ebenso mit Holz-, Marmor- oder Betontexturen aufwarten oder gar die Anmutung von Stoffen erzeugen. Vor dem Brennprozess durchlaufen die Fliesen mehrstufige Pressen und Färbestationen, wo die Platten ihr späteres „Gesicht“ erhalten und durch betont dreidimensionale Strukturen an Haptik und Sinnlichkeit gewinnen. Eine wichtige Rolle spielt die Loslösung vom klassischen Rechteckformat. Viele Neuheiten auf der Cersaie, der alljährlich im nahe gelegenen Bologna ausgerichteten internationalen Messe für Baukeramik und Badezimmerausstattung, zeigen hexagonale, runde und andere Formen. Die neuen Zuschnitte erlauben eine Vielzahl an Kombinationen, die frischen Wind an Wand und Boden bringen. Die Branche blickt auch an anderer Stelle längst über den Tellerrand hinaus: Das Unternehmen Ricchetti ist eine Kooperation mit dem Modehaus Roberto Cavalli eingegangen, um sich mit opulenten Dekoren eine neue Zielgruppe zu erschließen. Marazzi arbeitet lieber mit den puristischen Mailänder Gestaltern Antonio Citterio und Patricia Viel zusammen. Casalgrande Padana bündelt Kräfte mit dem Designstudio Pininfarina, das neben PS-starken Schönheiten längst Innenarchitekturen aus dem Ärmel schüttelt.

157


ARCHAIK UND HIGHTECH Daniel Libeskinds The Crown schraubt sich 17 Meter in die Höhe.

158

Welch wichtige Rolle der Austausch mit den Architekten spielt, ist unweit des Firmensitzes von Casalgrande Padana zu sehen. Die Mittelinseln zweier Kreisverkehre sind von Kengo Kuma und Daniel Libeskind gestaltet worden, deren Entwürfe kaum gegensätzlicher sein könnten. Die CCCloud von Kengo Kuma ist eine 45 Meter lange und sieben Meter hohe Wand aus weißen Keramikplatten, die inmitten einer künstlichen Wasserfläche mit einem Grund aus weißen Kieselsteinen ruht. Die offene Struktur der Wand erlaubt unzählige Durchblicke, die je nach Perspektive des Betrachters variieren und im Zusammenspiel mit der Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Autos einen dynamischen Effekt erzeugen.

Nur wenige Kilometer weiter zieht The Crown von Daniel Libeskind die Blicke auf sich. Das 17 Meter hohe Monument schraubt sich wie eine gezackte Spirale in die Höhe. Die 28 Innen- und Außenflächen sind mit silbrig schimmernden Keramikfliesen aus der Serie Fractile verkleidet, die ebenfalls von Libeskind entworfen wurden und auch bei an­ deren Projekten wie dem jüngst in Berlin fertiggestellten Apartmentgebäude Sapphire Verwendung finden. Feuer, Erde, Sand: Was in den Keramikfabriken von Sassuolo gebrannt wird, hinterlässt nicht nur ein Zeichen in der Region, sondern in der Welt.

ADVERTORIAL

Die CCCloud von Kengo Kuma erhebt sich inmitten einer künstlichen Wasserfläche.



BACKFLASH

160


MAGAZIN

MVRDV UND DIE VILLA VPRO EIN BÜRO, DAS SICH E N T F A LT E T

TEXT: KATHRIN SPOHR FOTOS: ROB ‘T HART

161


BACKFLASH

Vor 20 Jahren gab es so etwas wie eine Art Shitstorm: Es sei das schlechteste Bürogebäude, das jemals gebaut wurde, meinten manche. Stimmte natürlich nicht. Mit Villa VPRO zeigen MVRDV, wie man Open Space in Spannung bringt.

Normalerweise, so erzählt Jacob van Rijs, einer der drei Mit-

großartigen Auftrag zu bekommen. Es passte auch zur anar-

begründer von MVRDV, sei Erfahrung der entscheidende Faktor, wenn es um die Vergabe von Architekturprojekten geht. Beim Bau der neuen Zentrale des Radio- und TV- Senders VPRO war alles anders. Anarchische Idee, Experiment und kompromisslose Umsetzung standen im Vordergrund. So ist MVRDV bereits 1997 mit der Villa VPRO, dem ersten Projekt des Büros, eines der richtungsweisendsten Open Space Offices in Holland gelungen. Und heute, 20 Jahre nach Fertigstellung, ist das Konzept aktueller denn je. Das Ganze hat einen spannenden Hintergrund. VPRO ist eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt in Hilversum. 1928 als religiöser Radiosender gegründet, zählt er heute zum alternativsten und innovativsten Broadcaster in den Niederlanden. Ungewöhnlich war der Firmensitz, den es genau genommen gar nicht gab. Denn die einzelnen Abteilungen waren teils provisorisch auf insgesamt zehn schöne Gründerzeitvillen in ganz Hilversum verteilt – in deren Salons und Gärten, und auf deren Dachböden und Balkonen. „Sehr unkonventionell“, sagt van Rijs. Für ein Unternehmen kein idealer Zustand. VPRO suchte Anfang der Neunzigerjahre nach Architekten, die einen neuen Firmensitz entwerfen sollten, um alle Bereiche unter einem Dach zusammenführen zu können. Und entdeckte Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries, die sich gerade zu MVRDV formiert hatten. In einer Ausstellung. „Wir zeigten nur drei Projekte. Fast die gesamte Fördersumme investierten wir in aufwendig gefertigte Architekturmodelle, die den Charakter von Kunstwerken hatten. Außerdem präsentierten wir Computerrenderings. Das war für die Zeit außergewöhnlich“, erinnert sich van Rijs. Die kompromisslosen Ideen des Start-ups gefielen dem Medienunternehmen. „VPRO sprach mit verschiedenen Architekten, aber wir kamen genau richtig mit unserem Spirit, unserem Profil. Und so hatten wir das Glück, völlig unerfahren unseren ersten

chischen Haltung von VPRO, junge Talente zu engagieren.“ Man kann sich allzu gut vorstellen, welchen enormen Einfluss eine informelle, persönliche und lebendige Arbeitssituation wie damals bei VPRO auf die Identität des Unternehmens haben musste. Diese Atmosphäre, so war der Wunsch von VPRO, sollte im neuen Gebäude erhalten bleiben. „Es war eine große Herausforderung, diesen ungewöhnlichen Katalog der Diversität“, wie van Rijs das aufgesplittete VPRO-Büro nennt, „in eine moderne Zentrale zu transportieren. Wir fassten die Aufgabe so zusammen: Wie kann man ein Büro gestalten, das also nicht nach Büro aussieht?“ Entstanden ist eine extreme, konsequent offene und experimentelle Bürolandschaft, von der zu dieser Zeit keiner ahnte, wie wegweisend und prägend sie für die heutige Form von Work Spaces werden würde. Schon der Name, Villa VPRO, gibt einen anderen Rhythmus vor, einen der menschlich, der wohnlich getaktet ist. Und so scheint in der 10.000 Quadratmeter großen Villa der Raum zu fließen. Eine Etage entfaltet sich zur anderen. Es gibt keine effizienzgetriebene Rasteraufteilung des Grundrisses. Obwohl das Gebäude sechs Stockwerke hat, fehlt die klar durch einzelne Räume strukturierte Etage, die mit der nächsten durch ein Treppenhaus verbunden und so schnell und praktisch zu erreichen ist. „Wir haben ein dreidimensionales Büro für VPRO entworfen, das überallhin Sichtverbindungen eröffnet“, erklärt Jacob van Rijs. Villa VPRO ist eine kompakte, frische Struktur aus Hallen mit terrassenartig angelegten unterschiedlichsten Bereichen zum Arbeiten, gefüllt mit Sofas, persischen Teppichen, Kronleuchtern. Verschiedene Patios, Rampen und ein Dachgarten mit Trampolin sorgen zusätzlich dafür, dass hier kein Quadratmeter dem anderen gleicht. „Abgegrenzt und geschlossen haben wir nur, was unbedingt nötig war, zum Beispiel die Meet­ ing- oder Editing-Räume“, erklärt MVRDV-Mitbegründerin Nathalie de Vries.

162


MAGAZIN

163


BACKFLASH

164


MAGAZIN

Beverly Hills, 90210 oder Melrose Place? Nathalie de Vries, Jacob van Rijs und Winy Maas: das MVRDV-Trio in den Neunzigern. Foto: privat

MVRDV hat hier sogar das Büro fürs Arbeiten mit mobilen Geräten antizipiert. Damals haben die Leute vor Desktopcomputern gesessen, die auf den Tischen fest installiert waren. Dank kabelloser Kommunikationsgeräte kommt man eigentlich erst heute in den Genuss, die vielen Zonen, die Patios und die Dachterrasse tatsächlich zum flexiblen Arbeiten zu nutzen. „Die fehlende Praxis hat uns dazu gebracht, in der Villa VPRO Dinge zu tun, die erfahrene Architekten niemals tun würden“, sagt Jacob van Rijs. Etwa die Tatsache, ein extrem komplexes Bürogebäude, in dem Kommunikation und Sound zum Arbeitsalltag gehören, konsequent mit schallharten Materialien wie Beton und Glas auszustatten. Es war Akustikspezialisten nicht möglich, im Vorfeld zu bestimmen, wo akustisch optimiert werden musste. „Das war ein Risiko. Wir wollten die Ästhetik jedoch nicht dadurch ruinieren, dass überall wahllos akustische Materialien ergänzt wurden. VPRO sah das genauso.“ Also bezog VPRO das Gebäude ohne Schalldämmung. Und erst nachdem klar war, wie die neuen Arbeitsabläufe sind, wurde die akustische Optimierung kalkuliert und getestet. „Es gab so etwas wie einen Shitstorm in den Medien: Villa VPRO sei das schlechteste Bürogebäude, das jemals gebaut worden sei“, entsinnen sich die Architekten. Heute arbeiten doppelt so viele Leute in der Villa VPRO wie 1997. Dabei bleibt der fluide Space ein räumliches Erlebnis.

Die vielen Öffnungen, Sichtbezüge, Details sind immer noch spannend, die Atmosphäre inspirierend und quirlig. „Manches würden wir heute sicherlich einfacher gestalten“, gibt van Rijs zu. „Aber die Haltung, offen fürs Experiment zu sein, bleibt. Immer wieder neue Optionen für eine Umsetzung zu finden, ist uns wichtig. Sonst wiederholt man sich.“

Villa VPRO Büroneubau für die Rundfunkanstalt VPRO www.vpro.nl Hilversum, 1994–1997 10.500 Quadratmeter auf fünf Geschossen Architekten MVRDV, Rotterdam / www.mvrdv.com Tragwerk Pieters Bouwtechniek, Haarlem und Arup & Partners, London

165


INTERVIEW

166


MAGAZIN

JOHANN KÖNIG: „ICH HABE DEN MITTELSTÄNDLER SEHR GERN“ VON STEPHAN BURKOFF FOTOS: NILS SANDERS

Der Galerist Johann König und seine Frau Lena leben und arbeiten in der ehemaligen Kirche St. Agnes in Berlin. Ersteres zusammen mit zwei Kindern, Letzteres mit über 25 Mitarbeitern. Die König Galerie vertritt inzwischen 38 Künstler und gehört zu den erfolgreichsten der Republik mit einer frisch eröffneten Dependance in London. Ein Gespräch über den Kunstmarkt, die Idee von St. Agnes, die Bedeutung der Architektur für die Kunst und darüber, welche Architekten richtig im Eimer sind 167


© Galerie König

INTERVIEW

168


MAGAZIN Die St.­ -Agnes-Kirche steht in einer nicht so schicken Ecke Kreuzbergs. Seit mehr als zehn Jahren werden hier auch keine Gottesdienste mehr abgehalten. Das 1967 nach Plänen von Werner Düttmann fertiggestellte Gebäude wurde bis Mai 2015 durch die Berliner Architekten Brandlhuber+ Emde, Burlon und Riegler Riewe zu einer Galerie umgebaut. Seitdem dient das brutalistische Ensemble der Huldigung der Kunst und des Hedonismus.

Kann Architektur auch Kunst sein? JK: Absolut, Baukunst, klar! Aber immer nur dann, wenn sie nicht versucht, so künstlerisch zu sein. Wenn sie quasi ein Ziel verfolgt und das künstlerisch umsetzt, ohne zum Selbstzweck künstlerisch zu sein. LK: Dir gefällt die Postmoderne nicht. JK: Ja, genau. LK: Ich denke, die Wotrubakirche in Wien ist da ein fantastisches Beispiel. Da kann man gar nicht sagen, ob es eine Skulptur ist oder ein Gebäude. Da ist das eins.

In einem missverstandenen Zitat von Vitruv wird die Architektur als Mutter aller Künste deklariert. Welche Rolle spielt die Architektur wirklich für die Kunst? Johann König (JK): Ich würde sagen, dass die Architektur im Idealfall einen zurückhaltenden Raum zur Verfügung stellt, in dem sich die Kunst präsentieren kann. Sie ist dann wie eine Fototapete oder etwas, das eine Stimmung mitbringt, aber sich im Hintergrund aufhält. Wobei es, wenn man jetzt über Kunst im öffentlichen Raum nachdenkt, eher so ist, dass die Kunst auf den Raum reagiert und dieser gar nicht notwendigerweise zurück­ haltend sein muss.

Wie viel Romantik steckt im Beruf des Galeristen? JK: (denkt nach) Ich glaube, relativ viel. Noch. Alles befindet sich gerade im Umbruch. Dieses klassische Galeriemodell mit dem Künstler auf der einen Seite und der Galerie auf der anderen wird immer schwieriger. Es ist ein globales und ziemlich hartes Geschäft. Die Romantik nimmt auf jeden Fall ab.

Welche Rolle spielt Architektur in eurem Leben? Lena König (LK): Eine sehr große. Interessanterweise hat sich das einfach so ergeben. Wir haben beide zuvor gar nicht mit Architektur gearbeitet. Aber dann kam St. Agnes in unser Leben. Durch den Einstieg in dieses Gebäude und seine Geschichte ist eigentlich erst ein echtes Interesse an Architektur entstanden. Irgendwann waren wir dem Gebäude dann so nah, dass wir selbst hierhergezogen sind und merken, was gute Architektur kann. Dieser Ort funktioniert so gut, weil die Architektur so gut ist.

Inwiefern wird es schwieriger? JK: Es wird schwieriger, weil ein totales Wachstum gefordert ist. Und weil sich der Markt so entwickelt, dass die Kundschaft eher auf etablierte Positionen als auf junge Künstler setzt. Außerdem ist das gesamte Geschäft sehr aufwendig geworden: Messen, wAusstellungen, Veranstaltungen ... Die Werke, die wir verkaufen, müssen relativ teuer sein, damit alles überhaupt funktioniert. Das bedeutet auch, dass die Nachwuchsarbeit, die wir hier mit Andreas Schmitten betreiben, schnell erfolgreich sein muss. Da muss man sich seiner Sache sicher sein, um auf die richtigen Positionen zu setzen. LK: Es ist mit einem hohen Risiko verbunden. Wenn man dreimal in eine Messe investiert und dort nicht verkauft wie erwartet, steht schnell die Existenz der Galerie auf dem Spiel. Deswegen: Romantik ja, aber es ist auch viel Idealismus im Spiel.

Der Hype um St. Agnes, tolle Eröffnungen und ausschweifende Partys spielen sicher eine Rolle für den Erfolg der Galerie König. Sind die König Sou­ venirs ein Versuch, eine Partizipationsmöglichkeit zu schaffen? JK: Zu 100 Prozent. Die Idee von König Souvenirs ist, einer größeren Gruppe, von der wir merken, dass sie sich mit den Inhalten und den Projekten, die wir machen, identifizieren will, aber nicht in der Lage ist, eine Skulptur für 300.000 Euro zu kaufen, eine Teilhabemöglichkeit anzubieten. Wir wollten nicht billige Kunst machen, also Drucke oder limitierte Editionen – obwohl es so etwas durchaus auch mal geben kann –, sondern Produkte, die mit Anspruch und mit einer inhaltlichen Positionierung eine Teilhabe ermöglichen. Wie beeinflussen heute Medien wie Instagram die Arbeit des Galeristen? JK: Wir haben über Instagram schon große Arbeiten verkauft. Aber es ist so, dass es da immer schon vorher einen Bezug gab. Den echten Kontakt kann es nicht ersetzen. Und das ist ja auch der Grund, warum wir das mit der Kirche hier gemacht haben. Weil das Erlebnis, das man hier hat, wenn man sich eine Ausstellung anguckt, das hat man wirklich nur hier und in diesem Moment. Trotzdem ist Instagram ein sehr starkes Kommunikationsmittel, mit dem man sehr schnell und direkt ein bestimmtes Interessensegment erreicht. Aber es ist nur ein Teil, der auch nur funktioniert, weil eine gewisse Reputation und Bekanntheit dahinterstehen. Habt ihr auch schon mal so richtig die Schnauze voll von der Kunst? JK: Ja klar, manchmal hat man keine Lust mehr, sich mit dieser Art von Inhalten zu beschäftigen, jedenfalls im Arbeitskontext. Wir machen ja unendlich viele Messen, da weiß man

169


INTERVIEW

01

02

03

04

170


MAGAZIN morgens manchmal gar nicht mehr, in welchem Hotel man eigentlich gerade ist. Man muss die Sachen immer so machen, dass sie einem Spaß machen. Ich finde es toll, Ausstellungen gestalten zu können und auch, dass das so viele Leute bewegt und berührt. Die Kunst an sich wird mir nicht fad. Jetzt mal ehrlich: Wie viel Rock ’n’ Roll steckt noch in der Kunstwelt? JK: Ich glaube, das sind immer so Phasen ... LK: Ich denke, das hängt sehr von den Künstlern ab. Es gibt schon welche, die das noch leben. Andere haben ganz durchorganisierte Studiobetriebe aufgebaut. Aber letztlich würde ich sagen: viel! Empfindet ihr Berlin als Standortvorteil? Oder würde die Galerie auch in Düsseldorf funktionieren? JK: Berlin selbst ist nicht unbedingt ein Vorteil. Es bringt natürlich viele internationale Besucher hierher. Es gibt eine Szene. Die noch verhältnismäßig niedrigen Preise erlauben es Künstlern hier, ihre Arbeit zu machen, was insgesamt ein gutes Umfeld erzeugt. Aber der richtige Standortvorteil ist für uns entstanden, als wir dieses Projekt hier eröffnet haben. St. Agnes ist unser Standortvorteil. LK: Ich finde es besonders schön, dass auch Leute hierherkommen, um das Gebäude zu besuchen oder aus ganz

Linke Seite: Isa Genzken, Untitled, 2017 01: Klebeband auf Aluminiumplatte Teil der von Isa selbst „Tennis-Bilder“ genannten Serie. Foto: © Galerie König 02: Drei Schaufensterpuppen, Kleidung, Schuhe, Stoff, drei Ledersessel, Glastisch, Sprühfarbe, Bücher, Spiegel, Klebeband, Mischtechnik und Gips 03: Sechs Schaufensterpuppen, Kleidung, Stoff, Mischtechnik 04: Drei Schaufensterpuppen, Kleidung, Schuhe, Stoff, Mischtechnik

anderen Gründen, und dann eben auch die Ausstellungen sehen, vielleicht sogar zum ersten Mal so eine Ausstellung sehen. Also die Verbreiterung des Publikums. Warum die Entscheidung, mitten im Brexit eine Dependance in London zu eröffnen? JK: Das hat damit zu tun, dass viele unserer Kunden in London leben oder zumindest irgendwie einen Hub dort haben. Und als sich die Gelegenheit ergab, hatten wir die Idee, uns vielleicht ein wenig mehr zu internationalisieren. Als ich die Galerie 2002 in Berlin eröffnet habe – das war nach dem elften September –, war der Kunstmarkt ja auch im Keller. Es ist manchmal auch gut, sich antizyklisch zu verhalten. Auch wenn wir selbst total gegen den Brexit sind, könnten sich dadurch an gewissen Stellen positive Nebeneffekte bilden. Wie sieht denn heute der durchschnittliche Kunstsammler aus? JK: Da gibt es jede Variante: den jungen, der das Vermögen der Familie verwaltet und einen Teil in Kunst investiert, den mittelständischen Unternehmer, der aus Leidenschaft mit seinem selbst verdienten Geld Kunst kauft, ganze Familien, die gemeinsam entscheiden, und es gibt den Status sammelnden Investmentbanker. Es ist total gemischt. Welcher ist dir am liebsten? JK: Ich habe den Mittelständler sehr gern. Da ist immer ein sehr echtes Interesse an der Kunst, es ist klassisch verdientes Geld, die Auseinandersetzung ist irgendwie eine total ernsthafte … LK: … die Käufe haben eine Bedeutung. JK: … und sie kommen nicht aus einer Laune heraus. Eine Zeit lang hatte ich bei so Hedgefonds-Jungs aus New

York das Gefühl, es ist jetzt gerade mal schick in Kunst zu investieren. Ihr Beruf ist es, auf irgendetwas zu setzen, zu spekulieren und wieder zu verkaufen. Wenn das in einem drinsteckt, dann kann man das bei der Kunst natürlich auch nicht so richtig lassen. Wenn aber einer in zweiter Generation Fenster herstellt und auch Kunst sammelt, der guckt nicht die ganze Zeit „Wo bin ich reingegangen, wo stehe ich jetzt und wann ist mein Exit?“. Deshalb geht der auch anders mit der Kunst um. Das ist natürlich im Alltag viel ange­nehmer. Ihr seid ein Paar, habt gemeinsam Kinder, seid hier zusammen in St. Agnes. Gibt es bei euch Überschneidungen in der Arbeit? JK: Beim Bezug des Gebäudes St. Agnes haben wir alles gemeinsam entschieden und geplant. Einen größeren Anteil hatte Lena bei der Frage der richtigen Mieter. Es ist ja kein Zufall, mit wem wir das hier alles zusammen betreiben. LK: Genau. Einmal sind wir hier zusammen Bauherren gewesen und haben alle wesentlichen Entscheidungen gemeinsam gefällt. Aber die gesamte Projektentwicklung umfasst ja noch viel mehr. Es war uns zum Beispiel sehr wichtig, welche Mieter wir integrieren und was die auch mitbringen. Der letzte Schritt ist der neue Garten gewesen, in dem auch Arbeiten aus der Galerie gezeigt werden, der aber ebenso zu St. Agnes gehört. Ist das Projekt St. Agnes an einem Punkt, wo ihr sagen würdet „Jetzt ist alles gut“? LK: Es ist auf jeden Fall sehr weit. JK: So gut wie, würde ich sagen. Das Café soll jetzt noch mal einen anderen Innenausbau erfahren, und dann bauen wir den Turmkopf zu einer Gästesuite aus. Und wir haben überlegt, irgendwann noch einen Neubau auf den Parkplatz zu setzen, in dem

171


INTERVIEW vielleicht einmal so etwas wie Mini­ ateliers für Künstler entstehen könnten. Aber das ist bisher nur eine Idee. Was ist die wichtigste Qualifikation, die man heute braucht, um als Kunsthändler Erfolg zu haben? LK: Intuition. Wenn man das als Qualifikation betrachten will. JK: Intuition und der auch Vertrauen zu können. Also Risikobereitschaft. Und als Künstler? JK: Ausdauer (beide schmunzeln).

Alicja Kwade, NachBild, 2017 Messing Ring, 12 Lautsprecher, Audio Interface, Verstärker Foto: © Galerie König

In welchem Verhältnis steht der ästhetische Eindruck eines Werks zu seinem theoretischen Hintergrund? JK: Ich glaube, dass beides miteinander einhergehen muss. Das Visuelle muss zum Theoretischen passen und andersherum. Es muss ein Gleichgewicht geben. Nicht in jedem einzelnen Werk, aber im Gesamtwerk. Ein Gleichgewicht zwischen Behauptung und Darstellung. Was verkauft sich gerade am besten? JK: Am besten verkauft sich immer Malerei. Unser Programm ist ja sehr skulpturen- und installationslastig …

Jeppe Hein, Mirror Angle Fragments (60°), 2014, Hochglanzpolierter Edelstahl und Aluminium

172

Welche Bedeutung hat Mode in eurem Leben? JK: Ich verfolge schon, was in der Mode passiert. Aber immer auch in Hinsicht darauf, wie die Mode sich an der Kunst orientiert. LK: Ich finde es interessant, wie die Mode Nähe zur Kunst sucht. Ganz egal, ob nun Künstler Handtaschen gestalten oder der höchstdotiertePreis auf der Venedig-Biennale von Hugo Boss kommt – es wird ganz offensichtlich Nähe gesucht. JK: Spannend ist auch, dass die Leute aus der Mode sich häufig wundern, wie gut sich Leute aus der Kunst mit Mode auskennen, aber umgekehrt kennen sich Modeleute nicht wirklich mit der


MAGAZIN Kunst aus. Sie spielen eher ein Interesse vor, weil sie meinen, sie müssten ein Interesse haben, haben aber keins. LK: Man sieht das allein daran, wie das bei unseren Mietern von 032c ist. Die haben Besucher, die schauen sich nicht einmal die Ausstellung an. Andersherum kommen Menschen in die Galerie, die ein großes Interesse daran haben, was die da für Pullis herstellen. Das untermauert eigentlich deine These ... JK: Kunst ist nur ein Vehikel für die Rechtfertigung der Mode. Die Künstler haben aber ein echtes Interesse an wichtigen Designern und ihrer Arbeit. In der Architektur ist das ähnlich. LK: Dass Architekten sich mit Mode auskennen? JK: Nee, im Bezug zur Kunst. Dass das Interesse der Kunst an der Architektur sehr stark ist, nicht aber das Interesse der Architektur an der Kunst. Das kann aber auch nur meine persön­ liche­Wahrnehmung sein. Ich finde es auch immer wieder interessant, was für unterschiedliche Szenen es sind. Das ist ja etwas, was wir hier total aufzubrechen versuchen: Literatur, Musik, Kunst, Architektur alles Mögliche soll in einen Topf, damit neue Sachen entstehen. Aber das Hauptziel ist natürlich, die Kunst noch bekannter zu machen, auch Schwellenangst zu nehmen und zu zeigen: Man muss das nicht verstehen. Man kann sich das angucken, und es irritiert einen. Das soll es auch, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Also zu versuchen, Leute in die Kunst reinzuholen. Gar nicht mit dem Ziel, denen etwas zu verkaufen. Wovor hast du Respekt als Galerist? JK: Vor Künstlern habe ich sehr viel Respekt. Dass die sich trauen, diesen Weg zu gehen. Und vor Architekten habe ich auch Respekt. Vor allem vor denen, die künstlerische Architekten sind. Sie haben ihre eigene Idee, die sie verwirklichen wollen, sie haben die

Einschränkungen des Bauherren, die Einschränkungen des Budgets und die Einschränkungen durchs Baurecht. Also, die Architekten sind eigentlich richtig im Eimer (lacht). Wovor habt ihr Angst? JK: Höchstens davor, nicht allen Erwartungen gerecht zu werden. Vor allem denen, was das Wachstum angeht. Und dann besteht auch die Angst, die mit der Frage verbunden ist: Im Moment macht mir das ja alles noch Spaß, aber was ist, wenn das nicht mehr so ist? Also wie so eine Transition aussehen würde, wenn man sagt, man hat keine Lust mehr auf diesen Stress. LK: Ich frage mich manchmal schon, wie lange das gut geht. Man bewegt sich ja in einer Parallelwelt, die Gesellschaft, die einen umgibt, die Themen, mit denen man sich beschäftigt. Manchmal denke ich darüber nach, dass man oft vieles, was in der Welt passiert, ausblendet. Manchmal ist das ein bisschen unheimlich.

Was träumt Johann König? LK: Das würde ich auch gerne wissen! JK: Ich träume oft Sachen, die mit dem Alltag zu tun haben. Ich träume wahnsinnig viel und auch stark, aber ich kann mich leider oft nicht daran erinnern. Es hat oft mit tagesaktuellen Sachen zu tun. Glaubst du, wenn du Kaiser mit Nachnamen heißen würdest, wärst du noch erfolgreicher? JK: Aber natürlich!

Wie macht ihr Urlaub? LK: (schaut Johann an) JK: Wir sind oft nach Österreich gefahren! LK: Ja, aber wir haben das auch immer mit anderen Sachen verbunden. Jetzt im Sommer waren wir auch mit von der Galerie vertretenen Künstlern unterwegs. Als vierfacher Vater: Was möchtest du deinen Kindern mit auf den Weg geben? JK: Der Intuition zu vertrauen und ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben zu finden. Was mich gerade stark beschäftigt ist die Frage, wie viel der Alltag, als ich Kind war, von der Kunst geprägt war. Das hat mich als Kind und vor allem als Teenager sehr genervt. Ich glaube, es ist wichtig, dass man darauf achtgibt, dass es im Gleichgewicht bleibt.

Isa Genzken, Issie Energie bis 7. Januar 2018 König Galerie, Berlin www.koeniggalerie.com

173


MIT A NACH B

MIT DEM TOKYOBIKE VON NIKLAS MAAK

Foto: Nils Sanders

174


MAGAZIN

ZUM JAPANER Jede Stadt kann eine andere werden. Man kann sich in Berlin-Charlottenburg nachts so auf seinen Balkon stellen, dass die Spitze des Berliner Funkturms aussieht, als sei sie ein Teil des Eiffelturms, und wenn dann noch ein altes Serge-Gainsbourg-Album im Hintergrund läuft (oder das neue Album Rest seiner Tochter Charlotte), dann sieht für einen Moment alles sehr überzeugend so aus, als ob draußen nicht die rollsplittreiche graue Kälte einer Berliner Winternacht auf einen wartet, sondern der Jardin du Luxembourg und ein „verre de rouge“ im Le Select. Gerade in der aktuellen Kälte und Dunkelheit, und wenn man nicht reisen kann, ist diese Fiktionalisierung der eigenen Stadt eine erfolgversprechende Methode, mit guter Laune durch den Winter zu kommen. Es gibt Leute, die solange in einem alten Buick Electra mit Motown-Sound im Autoradio und einem im Drive-in erstandenen X-tra Long Chili Cheeseburger auf dem Armaturenbrett durch Frankfurt fahren, bis die Stadt hinter der Windschutzscheibe aussieht wie Chicago. Es gibt Leute, die sich in Marl eine Schreibtischlampe hinter die Zimmerpalme stellen, die Heizung und The Wailers aufdrehen, und schon klappt es mit Jamaika besser als in Berlin. Dort hat man schon ohne größere Anstrengungen das Gefühl, dass zumindest die Kantstraße sich immer mehr in eine asiatische Fantasiestadt verwandelt – neben dem alten Sushi-Laden Kuchi und dem Chinesen Good Friends gibt es dort das taiwanesische Suppenhaus Lon-Men’s Noodle House und – hinter einer mit

Graffiti übersprühten Glasfassade – das 893 Ryōtei, wobei 893 sich, wenn man japanische Dialekte versteht, angeblich „YaKu-Za“ spricht, so, wie sich die japanischen Mafiosi nennen. Eines der ältesten japanischen Restaurants des Westens, das Daitokai, liegt aber nicht auf der Kantstraße, sondern – nicht weit entfernt – mitten im Europa-Center, dem von Helmut Hentrich und Hubert Petschnigg entworfenen Büro- und Einkaufszentrum, das im April 1965 vom damaligen Berliner Bürgermeister Willy Brandt mit großem Radau eingeweiht wurde und von Anfang an selbst eine Art Fiktionsmaschine war: Man trat hinein und befand sich nicht mehr in Berlin, sondern in einer 80.000 Quadratmeter großen, kunstlichterhellten Passagenwelt, die so auch in Houston, São Paulo oder Tokio stehen könnte und weder Tag, Nacht noch Jahreszeiten kannte, wie bei der Eröffnung eine Kunsteisbahn eindrucksvoll bewies. Wenig später galten solche Malls als Untergang der lebenswerten europäischen Stadt, und die Berliner waren erfreut, als sie irgendwann mitten in der schon etwas vom Zahn der Zeit angenagten Stahl-und-Glashölle auf ein dunkles hölzernes Tempelchen trafen, als seien sie in eine zeitverlorene kleine Seitenstraße von Shibuya geraten: Das war das Daitokai, eine ins Europa-Center hineingebaute alte japanische Hütte, in der man an Teppanyaki-Tischen sitzt und Shabu Shabu essen kann. Das beste Gefährt, um dort auf eine angemessen japanische Weise hinzukommen (wenn man keinen der seit den Sechzigerjahren fast unverändert gebauten, herrlichen, meist chauffeurgesteuerten Toyota Century besitzt), ist das Tokyobike. Schon wie es im Fahrradständer in Charlottenburg steht, zwischen den üblichen Mountainbikes und den Kettler-Alurädern, die ja so etwas wie das Äquivalent zu Bequemschuhen von Bär sind, und zwischen den neuen Obsessionen der deutschen Radfahrer, den Elektrofahrrädern und diversen Liegerädern, die aussehen, als ob ein wirklich nicht mehr fahrfähiger, volltrunkener Bastler um drei Uhr morgens

175


© A.Savin, Wikimedia Commons

MIT A NACH B

gezwungen wurde, ein in Einzelteile zerlegtes Fahrrad bei

hinklackernden Shimano-Claris-Schaltung auch tapfer zwi-

totaler Dunkelheit zusammenzuschrauben – wie es also dort stand zwischen all diesen seltsamen, plumpen Fortbewegungsmitteln, fiel das Tokyobike sofort auf, durch seine Farbe, seine Reifen, den Sattel. Es wird ja immer wieder behauptet, dass die Globalisierung alle kulturellen Unterschiede einebne. Man muss aber nur einmal in ein Taxi in Tokio einsteigen, um zu sehen, dass das nicht stimmt: Die Farben der Wagen sind anders, weicher, pastelliger, die weißen Spitzengardinen in der Heckscheibe, das Edelvelours der Sitze, die in Japan selten aus Leder sind, weil man ungern auf der Haut von toten Tieren Platz nimmt, alles fühlt sich anders an. So auch das Tokyobike. Es ist mit cremefarbenen statt schwarzen Reifen zu kaufen, die Farben heißen „Mustard“ und „Blue Jade“ und „Sand Brown“ und „Beige Red“ und sehen alle aus, als habe jemand einen Schuss Milch hineingegossen – und selbst wenn das Fahrrad in mattem Dunkelblau mit braunem Ledersattel und Weißwandreifen ausgeliefert wird, fühlt es sich mit seinen kleineren Rädern wendiger und tokiotischer an als die auf den deutschen Straßenkampf und Wettrennen mit Linienbussen ausgelegten hierzulande üblichen Kurierfahrräder. Typisch japanisch ist der Hang zur Reduktion und zum Filigranen – die Form ist gewissermaßen auf die Grundidee eines Fahrrads reduziert: Alles, was nicht unbedingt da sein muss, fehlt, und was da ist, ist nicht dicker, als es unbedingt sein muss. Gäbe es einen Preis für Eleganz, käme das Tokyobike gleich nach einem alten Bianchi mit Campagnolo-Schaltung am Rahmen auf Platz zwei. „We emphasize comfort over speed“, heißt es in der Werbung der japanischen Manufaktur, die 2002 im Tokioter Vorort Yanaka gegründet wurde und das perfekte Fortbewegungsmittel für die engen, kleinstädtisch wirkenden Straßenlabyrinthe von Tokio bauen wollte. Und das Tokyobike fühlt sich tatsächlich in Seitenstraßen bei gemäßigtem Bummeltempo am wohlsten, kämpft sich aber dank einer präzise vor sich

schen Berliner Taxis und Busspuren über die Kantstraße bis zum Breitscheidplatz vor, wo das Europa-Center steht. Man tritt dann den furchtbarsten Teil der Fahrt an, den ins Innere der Shopping Mall, über Bodenbeläge, die an Bahnhofstoiletten erinnern, hinein in den aus Beton errichteten Kulturbeutel der Stadt, vorbei an der Waxing Company, am Massage- und Nagelstudio, am Saturn-Markt, dessen melancholisches Symbol sich drohend in den Glasscheiben des deutschen Restaurants Kartoffelkiste spiegelt. Aber da sieht man schon die alten Dachziegel des Daitokai, das warme Licht der Papierleuchten, die japanischen Schriftzeichen, den kleinen Steingarten – und ist in Tokio. Der japanische Kellner wundert sich über das an einen Holzpfosten seines Lokals gelehnte Fahrrad, nickt aber höflich. Drinnen gibt es Sashimi und heißen Sake, und das kalte, winterliche Berlin mit seinem Rollsplit und seinem tief hängenden Himmel, der aussieht, als habe jemand funzelige 25-Watt-Lampen in die graue Wolkendecke geschraubt, ist plötzlich mindestens 8.000 Kilometer entfernt.

176

Niklas Maak schreibt für das Feuilleton der FAZ und ist ein passionierter Auto­ fahrer. Seine Kolumne Mit A nach B verbindet Architekturkritik mit Automobilexpertise. Seine Kolumne Autopilot läuft auf www.heinze-dear.de in der 50. Folge.



178


MAGAZIN

SCHMETTERLING STATT DOPPELNIERE BMW i VISION DYNAMICS Die Zukunft fährt elektrisch. Wohin die Reise geht, zeigt BMW mit der Coupé-Studie BMW i Vision Dynamics.

TEXT: NORMAN KIETZMANN VISUALISIERUNGEN: BMW

179


SCHMETTERLING STATT DOPPELNIERE

Die beiden Rückleuchten sind als horizontale Leuchtstreifen ausformuliert, die Ruhe suggerieren. Am seitlichen Übergang zu den Hintertüren vollziehen sie einen Ausschlag nach oben: fast so, als wäre ein Pulsschlag auf einer Skala gemessen worden.

180


MAGAZIN

„Im Jahr 2025 werden wir 25 Modelle mit elektrifiziertem Antrieb anbieten – davon zwölf rein elektrisch.“

Ein Auto hat vier Räder, mindestens zwei Türen und einen Kühler. Bislang zumindest. Mit dem Siegeszug des Elektroautos gerät diese Gleichung ins Wanken. Denn die leisen Stromflitzer brauchen keine Luft mehr anzusaugen, um ihren Motor vor Überhitzung zu schützen. Doch ein Auto ohne Kühler? Es hat lange gedauert, bis sich die Hersteller an diese heilige Kuh des Automobildesigns herangetraut haben. Schließlich gehört eine markante Front – und damit auch der Grill – zum Erkennungszeichen vieler Marken. Dass BMW bei seinen bisherigen Elektromodellen i3 und i8 auf die ikonische Doppelniere nicht verzichten wollte, verwundert an dieser Stelle kaum – zumal die Fahrzeuge in einer rein elektrifizierten Ausführung sowie mit Hybrid­ antrieb zur Auswahl stehen. Auf der IAA in Frankfurt hat die Bayernmarke mit dem BMW i Vision Dynamics ein Konzeptfahrzeug vorgestellt, das noch einen Schritt weitergeht und den Kühler – zumindest ist seiner bisherigen Gestalt – ad acta legt. Die Studie ist Teil einer neuen Produkt­ offensive, mit der der Hersteller sein gesamtes Portfolio erneuern will. Das viertürige Coupé soll die Lücke zwischen dem Stadtauto i3 und dem Supersportwagen i8 schließen. „Wir haben schon heute mehr elektrifizierte Fahrzeuge auf der Straße als jeder etablierte

Wettbewerber. Im Jahr 2025 werden wir 25 Modelle mit elektrifiziertem Antrieb anbieten – davon zwölf rein elektrisch“, erklärte Harald Krüger, Vorstandsvorsitzender der BMW AG, während der Frankfurter Autopräsentation. BMW-Designchef Adrian van Hooydonk gibt eine puristische Richtung vor: „Wir haben eine erkennbare Formensprache. Aber natürlich wollen wir uns weiterentwickeln: nicht mit mehr, sondern mit weniger Linien.“ Ein Vorgeschmack auf die neue Designsprache wurde bereits mit der Concept 8 Series auf dem Concorso d’Eleganza am Comer See sowie mit dem Concept Z4 auf dem Concours d’Elegance in Pebble Beach gegeben. Während die Motorisierung dieser beiden Fahrzeuge noch nicht abschließend geklärt ist, soll der BMW i Vision Dynamics rein elektrisch fahren und eine Reichweite von 600 Kilometern erzielen. Mit einer Spitzengeschwindigkeit von 200 km/h und einer Beschleunigung von Null auf Hundert in vier Sekunden soll auch der Fahrspaß nicht auf der Strecke bleiben. „War die Doppelniere bisher das Symbol für die Motorenkompetenz bei BMW, steht sie beim BMW i Vision Dynamics nun sinnbildlich für die technologische Kompetenz. Durch die dahinterliegende Sensorik wird die Niere zur ‚Intelligenzfläche‘“, lässt das Unternehmen in einer Pressemeldung

181


SCHMETTERLING STATT DOPPELNIERE BMW i Vision Dynamics: ein viertüriges Konzept-Coupé, das in Serie rein elektrisch fahren und eine Reichweite von 600 Kilometern erzielen soll.

182

verlauten. Die Doppelniere ist an die-

einen markanten Ausschlag nach oben:

ser Stelle allerdings eher eine Frage der Interpretation. Anstelle zweier Quader mit abgerundeten Ecken kommen gestreckte Oktogone zum Einsatz, die viel zu technoid ausfallen, um auf Anhieb als Nieren identifiziert zu werden. Beide Flächen sind in der Mitte verschmolzen und lassen in dieser Kon­ stellation an einen stilisierten Schmetterling denken. Dessen äußere Konturen werden durch blau schimmernde LED-Leisten akzentuiert, was einen subtilen Hauch von Magie einbringt. Der Niedlichkeit wird sogleich entgegengewirkt, indem die Verbindungsnaht der beiden Achtecke die Höhe der Stoßstange aufgreift. Der Schmetterling – sonst ein eher luftiges, flatterhaftes Wesen – wird auf diese Weise mit technischer Härte gepaart. Eine Reinterpretation erfährt ebenso das klassische Vier-Augen-Gesicht von BMW. Anstelle von Rundleuchten kommen L-förmige LED-Leuchten zum Einsatz, die dynamisch in die Länge gezogen wurden und trotz ihrer geschrumpften Größe einen prägnanten Gesichtsausdruck erzeugen. Auch am Heck wurde deutlich aufgeräumt. Die beiden Rückleuchten sind als horizontale Leuchtstreifen ausformuliert, die in ihrer Unaufgeregtheit Ruhe suggerieren. Gleichzeitig vollziehen sie am seitlichen Übergang zu den Hintertüren

fast so, als wäre ein Pulsschlag auf einer Skala gemessen worden. Auffällig sind die großen, jedoch sorgsam modellierten Flächen, die sich dank schmaler Fugen wie aus einem Guss zusammensetzen. Unterstützt wird die kapselhafte Wirkung durch eine bündig eingelassene Verglasung. Front-, Dach- und Heckscheibe gehen nahtlos ineinander über und verbessern die Sichtbarkeit im Innenraum spürbar. Dass dabei explizit an die sonst in puncto Aussicht eher benachteiligten Rücksitze gedacht wird, ist kein Zufall: Schließlich soll das Fahrzeug für autonomes und teilautonomes Fahren kompatibel sein, wodurch die Hierarchie der Sitzordnung neu definiert wird. „Freude am Fahren“ gilt daher nicht nur für die Person hinter dem Steuerrad, sondern für alle Passagiere an Bord dieses Konzeptfahrzeugs, das mit leichten Veränderungen alsbald auf den Straßen zu sehen sein wird – mit Schmetterling statt Doppelniere.

Alle Visualisierungen und mehr Text: www.heinze-dear.de/_04179



New Spring: Die ephemere Installation aus mit Nebel gefüllten Blasen von COS x Studio Swine auf der Mailänder Möbelwoche im April 2017 war zum Jahresende auch auf der Design Miami zu sehen. Foto: © Courtesy of COS

INTERVIEW

art

184


MAGAZIN

Karin Gustafsson:

Creative Director bei COS, über Mode, Haltung und Zeitlosigkeit

Karin Gustafsson. Foto: © Courtesy of COS

is where it all starts VON JEANETTE KUNSMANN

Mit Mode von COS können sich viele Kreative identifizieren. Sein zehnjähriges Jubiläum feiert das erfolgreiche MinimalismusLabel in der Londoner National Gallery. Einen Tag nach der großen COS-Geburtstagsparty sprechen wir mit der Frau, die von Beginn an hinter der Marke steht: Karin Gustafsson 185


Loop von COS x Snarkitecture Installation aus pulverbeschichtetem Aluminium und 100.000 Murmeln, Seoul 2017 Foto: © Courtesy of COS

INTERVIEW

Am Anfang war COS eher ein Experiment. Vor zehn Jahren konnte niemand absehen, wie sich die Marke entwickeln würde. Welche Erinnerungen haben Sie an den Start und die erste Zeit? Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Experiment war. Ich denke, wir haben es eher als eine Chance gesehen. Ein kleines Team sollte eine Marke schaffen, die für wirklich gute Qualität zu einem verhältnismäßig guten Preis steht. Von Beginn an gab es viele Diskussionen darüber, was dies für die Produkte bedeuten würde. Was sind die fundamentalen Eckpunkte, für die man stehen möchte? Dazu braucht man viel Kreativität. Wir waren etwa 15 Leute, als ich zum Team hinzukam. Was ja immer noch sehr familiär ist. Ja, absolut. Bei einer kleinen, überschaubaren Größe wie dieser ist man in alle Prozesse und Diskussionen jeder Abteilung involviert. Am Anfang haben wir vor allem an Prototypen gearbeitet und uns vergleichsweise früh dafür entschieden, diese direkt mit Schneidern in enger Zusammenarbeit Stück für Stück zu entwickeln, um ein Produkt zu verwirklichen, an das wir glauben. Es war eine intensive und aufregende Zeit. Wie war damals das erste Feedback, als im März 2007 die erste COS-

186

Filiale in London eröffnete? Das war ein wirklich unglaublicher Moment. Wir haben so lange darauf hingearbeitet. Die Türen öffneten um 12 Uhr, und als wir sahen, wie viele Kunden in den Shop kamen, war es so überwältigend, dass wir nach jedem Lunch in den Store gingen, um dort die Kunden zu beobachten (freut sich). Das sind unsere Kunden! Haben sich die Kunden von COS in der vergangen Dekade verändert, und wenn ja, wie? Ich denke nicht an den einen Kunden oder eine bestimme Zielgruppe, es ist eher eine Frage der Haltung und Denkweise. Uns ist wichtig, dass die COS-Kunden unsere Interessen an Kunst, Design und Architektur teilen. Wir wollten von Anfang an Kollektionen entwerfen, die zeitlos sind. Deshalb sprechen wir auch seit Stunde Null von alterslosen Kunden. Das ist bis heute so geblieben. Wie modern kann Zeitlosigkeit denn sein? Wie modern? Wir glauben daran, dass die Form der Funktion folgt, und ich denke, das geht Hand in Hand mit Zeitlosigkeit. Ein Entwurf darf sich nicht kompliziert anfühlen, sondern muss leicht sein und eine starke Identität versprechen – aber auf eine sehr leise Weise.

Minimalismus ist kein Trend, sondern eine Haltung: Wie schafft man es, die Kunden nicht zu langweilen? Wir machen nur zwei Kollektionen im Jahr, die wir in den Geschäften aber anders lancieren. In die Stores kommt jede Woche etwas Neues, denn es soll für die Kunden einen Anreiz geben, regelmäßig vorbeizuschauen. Wir sind gewachsen und jetzt ein größeres, dynamisches Team mit unterschiedlichsten Expertisen. Beobachten Sie denn Trends und Entwicklungen in der Mode? Oder bleiben Sie in Ihrem eigenen Kosmos? Mode ist durch das Internet heutzutage zu jeder Zeit zugänglich. Wir betreiben Research und legen eine Richtung fest. So beginnen wir unsere Saison. Wir starten nie mit dem Catwalk. Für uns beginnt es in der Kunst oder Design-Welt. Apropos Design: Wie kam es zur Kooperation mit Hay? HAY steht zwar für Produktdesign, aber wir haben eine ähnliche Haltung und Ästhetik. Sie bieten wirklich gute Produkte zu einem guten Preis. Es gibt drei Stores, in denen wir neben unseren Kollektio­ nen ausgewählte Produkte von HAY anbieten.


Rechts: Creating with Shapes, limitierte Damenkollektion aus 11 Modellen von Usha Doshi für COS, 2017. Foto: © Courtesy of COS

Links: Look aus der COS-Damenkollektion Herbst/Winter 2017 Styling: Jonathan Kaye. Foto: Zoë Ghertner, © Courtesy of COS

MAGAZIN

187


INTERVIEW

188


MAGAZIN

Linke Seite: Look aus der COS-Herrenkollektion Herbst/Winter 2017, aufgenommen in der Fondació Joan Miró in Barcelona Styling: Jonathan Kaye. Foto: Zoë Ghertner, © Courtesy of COS Mit der Capsule-Kollektion zum zehnjährigen Jubiläum feiert COS den Minimalismus. Foto: © Courtesy of COS

189


INTERVIEW

Loop von COS x Snarkitecture Installation aus pulverbeschichtetem Aluminium und 100.000 Murmeln, Seoul 2017 Foto: © Courtesy of COS

190


MAGAZIN Gibt es eigentlich einen COS-Bestseller der letzten zehn Jahre? Einen Bestseller? (überlegt kurz) Ich denke, bei den Kunden sind wir für unsere Shirts bekannt, bei Frauen wie bei Männern. Die sind sehr verbreitet.

sehr, sehr gut: Dort gibt es immer fantastische Ausstellungen. Ebenso in der White Cube Gallery unten in Bermondsey. Sie zeigen gerade eine sehr interessante Ausstellung, die ich unbedingt noch sehen möchte.

Was verkauft sich schwerer? Es ist sehr schön, dass wir Dinge ausprobieren dürfen, die man normalerweise nicht in unserer Preisklasse findet. Manchmal kreieren wir neue Ideen, tragen dann aber auch das Risiko. Für mich ist das ein entscheidender Part, wenn man kreativ arbeitet. Und als Modelabel muss man Dinge schaffen, die man vorher noch nicht gesehen hat. Also: Manchmal läuft es wirklich gut, und manchmal eben nicht. Das liegt in der Natur dieses Business. Aber ich kann diesbezüglich keine bestimmte Typologie feststellen.

Sammeln Sie auch selbst Kunst? Ja, ein wenig. Es gibt ein paar Werke, die mir über den Weg gelaufen sind ... Noch mal zurück zur Mode: Was passiert in den nächsten Jahren? Wie malen Sie sich die Zukunft von COS aus? In der Vergangenheit hatten wir großartige Kollaborationen mit Künstlern und fantastischen Designern. Das möchten wir weiterführen und hoffen auf weitere Gelegenheiten in diesem Bereich. Und ja: weitermachen! Ich möchte, dass COS relevant bleibt.

Gibt es denn für COS einen Unterschied zwischen dem realen Einkaufserlebnis im Shop und dem Onlineshopping? Es sind zwei verschiedene Arten von Shopping und Kaufabwicklung, aber es gibt einen Austausch. Unser Lookbook zeigen wir in den Schaufenstern und gleichzeitig auch online. Für uns sind es verschiedene Plattformen: Es hängt vom Kunden ab, wie er Shopping komfortabler findet. Im Onlinestore können wir all unsere Projekte einfacher und besser kommunizieren. Dort gibt es auch noch die Rubrik „things”, in der wir Inspirationen sammeln. So wie im COS-Magazin. Das sich die Kunden mit nach Hause nehmen können, ja. Sie haben vorhin von Ihrer Leidenschaft für Kunst, Design und Architektur gesprochen. Gibt es bestimmte Gebäude, die Sie beeindruckt, oder Ausstellungen, die Ihnen gefallen haben? Die Tate Modern gefällt mir

www.cosstores.com

191


FOLGE 4

Moden von gestern

VERSACE-BAROCK VON ANNE WAAK

Bomberjacke aus der Versace-Männerkollektion HW 2017, © Versace

Seit der Deutsch-Georgier Demna

192

Gvasalia im Herbst 2015 die gestalterischen Geschicke des Labels Balenciaga übernahm, gilt das Pariser Traditionshaus als das Fieberthermometer der Modewelt. Was Gvasalia hier (und mit seinem eigenen Label Vetements) macht, versetzt die Leute in Wallung. Als Teil der aktuellen Kollektion zeigte Balenciaga ein rotes Kleid, das über und über mit goldenen und silbernen Ketten bedruckt war. Es rief gleich eine ganze Reihe von kunst-, pop- und modehistorischen Referenzen auf. Der Print verweist auf ein anderes, ein italienisches Modehaus: Versace. 1978 von dem damals 32-jährigen Gianni Versace gegründet, verkörpert das Mailänder Label bis heute wie kein anderes den dekadenten Glamour der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre. Gianni Versace nahm die Formensprache des Barock und „verwandelte die italienische Kunsttradition in wilde Popart, ersetzte die Engel und Putten durch Fresken aus Goldketten, Medusenköpfe und auf glänzende Seide gedrucktes Leopardenfell“, so die Modejournalistin Deidre Dyer. Kurz: Versace nahm alles, was er an Ornament finden konnte, und überzog es mit drei Schichten Blattgold. Sein Neobarock beschränkte sich folgerichtig nicht lange auf Kleidung, sondern griff bald auf Schmuck, Uhren, Porzellan, Tapeten, Fliesen, Aschenbe-


MAGAZIN

cher, Bettwäsche, Bademäntel und Möbel über. Legendär ist das Kleid, in dem die Schauspielerin Liz Hurley 1994 bei einer Filmpremiere auftauchte. Es bestand aus nichts als ein klein wenig schwarzem Stoff, vielen goldenen Sicherheitsnadeln und noch mehr Schlitzen. Eine Instant-Ikone, die Versace zum Lieblingsausstatter von Frauen machte, die mit der Macht der Verführung und der Manipulation des männlichen Blicks eine damals neue Art des Feminismus vertraten. Gleichzeitig gehörten immer auch Männer mit Sinn fürs Flamboyante zu den Fans des Labels, etwa Prince, Michael Jackson und Elton John. Als Gianni Versace drei Jahre später von einem Serienmörder erschossen wurde, die Mode in einer 180-Grad-Wende die protestantische Jil-Sander-Strenge entdeckte und für die wilden Jahre Abbitte leistete, ging es mit dem Label bergab. Sein Bling-Bling war auf einmal nur noch etwas für Neureiche: obszön und billig. Im Hip-Hop, wo Protzen zum guten Ton gehört, war Versace lange eines der Lieblingslabels: Notorious B.I.G. rappte darüber, Lil’ Kim und viele andere. 2013 dann läuteten die aus Atlanta stammenden Migos mit dem Stück Versace die erste Phase des Comebacks ein. Wie ein Lockruf kommt der Markenname ganze 102-mal darin vor: „Versace, Versace, Versace, Versace, Versace, ...“. Etwa gleichzeitig erschien die Sängerin Lady Gaga anlässlich eines Besuchs bei Gianni Versaces Nachfolgerin, seiner jüngeren Schwester Donatella, im OriginalSicherheitsnadel-Kleid; zudem warf das Label in Zusammenarbeit mit H&M eine günstige Kollektion auf den Markt. Die High-Brow-Anerkennung indes ließ etwas länger auf sich warten. Mittlerweile drucken angesagte Skate-Labels wie Palace den Medusenkopf auf Sweater; Versace selbst brachte eine Streetwear-Kollektion für die online shoppenden Cool Kids heraus, beim Kunstbuchverlag Rizzoli erschien jüngst ein opulentes Buch über das Label und seinen weitreichenden Einfluss. Anfang 2018 wird in Berlin eine große VersaceRetrospektive stattfinden.

Das Versace-Comeback hängt, neben dem allgemeinen Ninties-Revival, mit einer anderen Bewegung zusammen: Der Neomaximalismus, für den das Label steht, ist die Reaktion auf die skandinavisch unterkühlte, elegant zurückgenommene Yoga-Reduziertheit der vergangenen Jahre. Die machte sich seit Langem hervorragend auf Laufstegen, in Conceptstores und auf Instagram – so sehr, dass sie manche nicht mehr ertragen können. Zum Beispiel die in Berlin lebenden Textil- und Produktdesigner Ksenia Shestakovskaia und Michael Garrett. Der sogenannte gute Geschmack ödete die beiden dermaßen an, dass sie einen schnell rasend erfolgreich gewordenen Instagram-Account ins Leben riefen. Der kleinste gemeinsame Nenner der Internetfunde, die man auf @decorhardcore zu sehen bekommt – vergoldete Toiletten, fluffige rosafarbene Wohnlandschaften und seltsame Neunzigerjahre-Einrichtungsgegenstände von Ebay –, lässt sich unter einem Stichwort zusammenfassen: viel mit viel dran. Manche nennen es Kitsch oder Camp, nicht so Decor Hardcore, die mittlerweile eine Medien- und Designagentur betreiben und gegen das anarbeiten, was sie „Dekor-Shaming“ nennen: „Die Leute haben Angst, sich mit ihren Outfits oder ihrer Wohnungseinrichtung auszudrücken. Decor Hardcore ist ein Ort, an dem sie es dürfen“, so Shestakovskaia. Sie und Michael Garrett möchten, dass sich die Menschen nicht künstlich zurückhalten, sondern ihre verborgenen, manchmal eben golden funkelnden Sehnsüchte frei entfalten können. Versace – wen sonst? – bezeichnen Decor Hardcore als ihren absoluten Wunschpartner für eine eigene Kollektion von Dekoobjekten. Das Neureichen-Stigma hat Versace also ohne eigenes Zutun abgelegt. Obwohl Geld selbstredend nach wie vor hilft, will man sich zum Beispiel in auf Stoff gedruckte Goldketten von Balenciaga hüllen. Fast 40 Jahre nach seiner Erfindung und 20 Jahre nach dem Tod seines Schöpfers ist der VersaceBarock wieder der heißeste Scheiß unter der Sonne.

Anne Waak schreibt unter anderem für Monopol und Interview über Kunst, Kultur und Gesellschaft; sehr gern auch über Mode. Zusammen mit Annika von Taube und Holm Friebe veranstaltet sie das TalkFormat NUN – Die Kunst der Stunde. Der­ zeit lebt sie in der ghanaischen Hauptstadt Accra, wo Versace keine Rolle spielt, son­ dern Gucci-Imitationen den Ton angeben. Versace-Retrospektive: Vom 30. Januar bis 14. April 2018 im Kronprinzenpalais, Berlin.

193


KALENDER

MUST SEE Hella Jongerius & Louise Schouwenberg – Beyond the New, Die Neue Sammlung – The Design Museum, München. Foto: Roel van Tour

Design 30. September 2017 bis 25. Februar 2018 An Eames Celebration Vitra Design Museum, Weil am Rhein www.design-museum.de 14. Oktober 2017 bis 4. Februar 2018 Revolution in Rotgelbblau – Gerrit Rietveld und die zeitgenössische Kunst Marta Herford, Herford www.marta-herford.de 28. Oktober 2017 bis 11. März 2018 The Happy Show Stefan Sagmeister Museum für Gestaltung – Schaudepot Zürich www.museum-gestaltung.ch 10. November 2017 bis 16. September 2018 Hella Jongerius & Louise Schouwenberg – Beyond the New Die Neue Sammlung – The Design Museum Pinakothek der Moderne, München www.die-neue-sammlung.de 15. November 2017 bis 5. März 2018 New Bauhaus Chicago: Experiment Fotografie und Film Bauhaus-Archiv Berlin www.bauhaus.de

194

23. November 2017 bis 6. Mai 2018 Jasper Morrison. Thingness GRASSI Museum für Angewandte Kunst Leipzig www.grassimuseum.de 15. bis 21. Januar 2018 imm cologne Köln www.imm-cologne.de 19. bis 23. Januar 2018 Maison et Objet Paris www.maison-objet.com 5. bis 11. Februar 2018 Stockholm Design Week www.stockholmdesignweek.com 8. Februar bis 18. März 2018 Young Swedish Design ArkDes Studio Gallery, Stockholm www.arkdes.se 9. bis 13. Februar 2018 Ambiente Frankfurt am Main www.ambiente.messefrankfurt.com

17. März bis 1. Juli 2018 #alleskönner Peter Behrens zum 150. Geburtstag Museum für Angewandte Kunst Köln www.museenkoeln.de/museum-fuerangewandte-kunst 17. bis 22. April 2018 Salone del Mobile Milano www.salonemilano.it

#beyondthenew Immer mal wieder was Neues? Beyond the New. A Search for Ideals in Design richtet sich gegen eine Industrie, die nur den kommerziellen Erfolg kennt und blind produziert. Jetzt ist das Manifest, das Hella Jongerius und Louise Schouwenberg 2015 verfasst haben, in der Paternoster-Halle der Pinakothek der Moderne als ein Archiv des Alltags ausgestellt, aber anders, als man es kennt: Die Möbel liegen auf dem Rücken. beyondthenew.jongeriuslab.com Bis zum 16. September 2018


MAGAZIN

Eilfried Huth, Haus Weinburg, 1978­–1982. Foto: Hans Georg Tropper, Bild+Grafik

QUARTERLY

Architektur 3. September 2017 bis 25. März 2018 Auf ins Ungewisse Peter Cook, Colin Fournier und das Kunsthaus Kunsthaus – Universalmuseum Joanneum, Graz www.museum-joanneum.at 23. September 2017 bis 25. März 2018 Graz Architektur. Rationalisten, Ästheten, Magengrubenarchitekten, Demokraten, Mediakraten Kunsthaus – Universalmuseum Joanneum, Graz www.museum-joanneum.at 30. September 2017 bis 8. März 2018 Frau Architekt – Seit über 100 Jahren: Frauen im Architekturberuf Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main www.dam-online.de 21. Oktober 2017 bis 15. März 2018 Jean Prouvé – Architekt für bessere Tage LUMA – La Grande Halle, Parc des Ateliers, Arles www.luma-arles.org

5. November 2017 bis 7. Januar 2018 Radikaler Modernist – Das Mysterium Mart Stam Marta Herford, Herford www.marta-herford.de 9. November 2017 bis 2. April 2018 SOS Brutalismus -Rettet die Betonmonster! Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main www.dam-online.de 23. November 2017 bis 4. April 2018 Form folgt Paragraph Architekturzentrum Wien www.azw.at 2. Dezember 2017 bis 6. Mai 2108 Bengal Stream. The Vibrant Architecture Scene of Bangladesh S AM Schweizerisches Architekturmuseum, Basel www.sam-basel.org 22. Februar bis 15. April 2018 Die Böhms – 100 Jahre Architekturzeichnungen architekturgalerie am weißenhof, Stuttgart www. weissenhofgalerie.de

18. bis 23 März 2018 Light + Building Frankfurt am Main www.light-building.messefrankfurt.com 26. Mai bis 25. November 2018 Architekturbiennale Venedig www.labiennale.org

Graz Architektur Parallel zu Beiträgen von Peter Cook und Colin Fournier werden im Rahmen der Ausstellung Graz Architektur. Rationalisten, Ästheten, Magengruben­ architekten, Demokraten, Mediakraten Arbeiten von Protagonisten der Grazer Architekturszene gezeigt, darunter Günther Domenig, Eilfried Huth, Mischa Kuball und Szyszkowitz-Kowalski. Noch bis zum 25. März 2018 im Kunsthaus Graz

195


KALENDER TITEL

Thomas Bayrle, $, 1980. Karton, Miniaturautos, Privatsammlung. Foto: Wolfgang Günzel © Bildrecht, Wien, 2017

2017/18 Thomas Bayrle. Wenn etwas zu lang ist – mach es länger Autobahnen, Smartphones und Jesus: Seine „Superformen“ entwickelt Thomas Bayrle als Referenz auf kulturelle und industrielle Ikonen. Seine Kunst verbindet Handwerk, Maschinen und Technik. Für die Säulenhalle im Wiener MAK hat er als Auftakt der Ausstellung die überdimensionale Superform iPhone meets Japan installiert. Noch bis zum 2. April 2018

Kunst 8. September 2017 bis 1. April 2018 FORT. Limbo Langen Foundation, Neuss www.langenfoundation.de 15. September 2017 bis 12. August 2018 Der Öffentlichkeit – Von den Freunden Haus der Kunst: Sarah Sze Haus der Kunst, München www.hausderkunst.de 24. September 2017 bis 7. Januar 2018 Mirosław Bałka. Die Spuren Museum Morsbroich, Leverkusen www.museum-morsbroich.de 27. September 2017 bis 4. Februar 2018 Duett mit Künstler_in, Partizipation als künstlerisches Prinzip 21er Haus Wien www.21erhaus.at 15. Oktober 2017 bis Sommer 2019 KölnSkulptur #9 Skulpturenpark Köln www.skulpturenparkkoeln.de

196

25. Oktober 2017 bis 2. April 2018 Thomas Bayrle. Wenn etwas zu lang ist – mach es länger MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst/Gegenwartskunst, Wien www.mak.at 28. Oktober 2017 bis 28. Januar 2018 Räume der Kunst. Teil 2 GfZK – Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig gfzk.de 29. Oktober 2017 bis 18. Februar 2018 Never Ending Stories. Der Loop in Kunst, Film, Architektur, Musik, Literatur und Kulturgeschichte Kunstmuseum Wolfsburg www.kunstmuseum-wolfsburg.de 3. November 2017 bis 11. März 2018 Bestandsaufnahme Gurlitt. Der NS-Kunstraub und die Folgen Bundeskunsthalle Bonn www.bundeskunsthalle.de

11. November 2017 bis 3. Juni 2018 Kunstpreis der Stadt Wolfsburg 2017: Julius von Bismarck Städtische Galerie Wolfsburg www.staedtische-galerie-wolfsburg.de 1. Dezember 2017 bis 2. April 2018 Künstlerbücher. Die Sammlung Hamburger Kunsthalle www.hamburger-kunsthalle.de 14. Dezember 2017 bis 29. April 2018 A Good Neighbour Sammlung Moderne Kunst, Pinakothek der Moderne, München www.pinakothek.de


ARCHITEKTUR

Fotografie & Mode 27. Mai 2017 bis 18. Februar 2018 Balenciaga: Shaping Fashion Victoria & Albert Museum, London www.vam.ac.uk

30. Januar bis 14. April 2018 Gianni Versace Retrospective Kronprinzenpalais, Berlin www.retrospective-gianniversace.com

1. Oktober 2017 bis 28. Januar 2018 Items: Is Fashion Modern? MoMA, New York www.moma.org

26. Januar bis 21. Mai 2018 gute aussichten deluxe – junge deutsche Fotografie nach der Düsseldorfer Schule Haus der Photographie, Deichtorhallen Hamburg www.deichtorhallen.de

3. Oktober 2017 bis 9. September 2018 Inaugural Display Musée Yves Saint Laurent Paris www.museeyslparis.com 4. November bis 6. Mai 2018 Jil Sander. Präsens Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main www.museumangewandtekunst.de 1. Dezember 2017 bis 13. Mai 2018 Guy Bourdin. Image Maker Helmut Newton. A Gun for Hire Angelo Marino. Another Story Museum für Fotografie – Helmut-Newton-Stiftung, Berlin www.helmut-newton.de

#guteaussichtendeluxe Was macht der Nachwuchs von gestern? Vor den Guten Aussichten 2017/18 (ab dem 15. Februar 2018) zeigen die Deichtorhallen Hamburg im Haus der Photographie einen Rückblick nach vorne: Die Ausstellung gute aussichten deluxe − junge deutsche Fotografie nach der Düsseldorfer Schule präsentiert 25 Positionen aus dem Kreis der über 100 Preisträger von 2004 bis 2015, deren künstlerisches Schaffen sich beachtlich entwickelt hat. Bilder, Fine Art Prints und lichtgemalte Unikate, Filme, Installationen, Publikationen, digitale Vernetzungen, Sounds und kleinere Gesamtkunstwerke repräsentieren die Vielfalt der jungen Fotografie in Deutschland inhaltlich und medial: deluxe eben! Und ab Juni 2018 folgt wieder die Triennale der Photographie. Anna Simone Wallinger, Sodade. © Anna Simone Wallinger Claudia Christoffel, FUN-GBH-EAT. © Claudia Christoffel

197


BÜCHER

THE BATHROOM CHRONICLES

Wenn sich der Besuch nach dem Weg zum Badezimmer erkundigt, wird ein eigentlich unverfängliches Bedürfnis plötzlich zur Vertrauensfrage: Nicht einmal das Schlafzimmer ist so intim wie das private Bad. Der Blick in den gefliesten Raum, egal ob aufmerksam oder flüchtig, erinnert immer an Spionage. Im Badezimmer erfährt man schließlich Details wie den Namen eines exotischen Parfums oder die dürftige Beschaffenheit der Zahnbürste. Die besten Partys finden in der Küche statt, die ehrlichsten Geschichten erzählt das Bad – eine Erklärung für die Erfindung des Gäste-WCs. Die junge Verlagslektorin Friederike Schilbach bat enge Freundinnen, die Freundinnen ihrer Freundinnen und deren Freundinnen um Momentaufnahmen aus ihrem Tabuzimmer. 100 Frauen geben mit einem Foto, das von einem kurzen Text begleitet wird, einen Einblick in ihren privatesten Raum, darunter bekannte Protagonistinnen wie

198

EAMES FURNITURE SOURCE BOOK

Lily Brett, Lena Dunham und Leanne Shapton (Cover), aber auch ganz normale Frauen: eine Kinderärztin, eine Lehrerin sowie jede Menge Autorinnen und Journalistinnen. Es sind Mütter, Schwestern und Töchter, es geht um Düfte und Dinge, um Bilder und Erinnerungen, Gefühle und Träume. Die gesammelten Stillleben sind absolut instagramtauglich und waren letztes Jahr in einer Ausstellung zu sehen. Jetzt kann man sie als schicke Suhrkamp-Publikation mit nach Hause nehmen und sich, wie passend: ins Badezimmer legen. Das Vorwort kommt von Niklas Maak, der die Kulturgeschichte des Badezimmers samt kleinen kuriosen Sidekicks unter dem Titel „Das Ich unter dem Spiegel“ in seinen Worten erzählt. Fortsetzung unbedingt erwünscht. The Bathroom Chronicles – 100 Frauen. 100 Bilder. 100 Geschichten, hrsg. von Friederike Schilbach, suhrkamp taschen­ buch, Hardcover, 223 Seiten, 18 Euro

Vitra feiert die Eames. Und weil die vierfache Ausstellung Ende Februar 2018 auf dem Vitra Campus abgebaut wird, dient dieses Buch als bleibender Überblick über die Möbelentwürfe und Ikonen von Charles und Ray Eames. Es wurden natürlich schon viele Bücher über die Eames geschrieben. Aber da die umfangreichste Sammlung von Eames-Möbeln inklusive Prototypen und Studienmodellen aus dem Eames Office nun mal in Weil am Rhein zu finden ist und nirgendwo anders auf der Welt, überzeugt das Eames Furniture Sourcebook mit all seinen Details, Bildern, Texten und einem Interview mit Enkel Eames Demetrios. Eames Furniture Sourcebook, 336 Seiten, Hardcover, 49,90 Euro


MAKE NEW HISTORY

PICTURES OF THE FLOATING MICROCOSM

ORIENTTEPPICHE

Die zweite Chicago Biennale will „neue Geschichte machen“, so verspricht es der Titel der Kuratoren Johnston Marklee. Angelehnt an das gleichnamige Kunstwerk von Ed Ruscha – ein Buch, das mit 600 leeren Seiten Einladung und Kritik zugleich ist –, blickt die Ausstellung auf Prozesse und stellt sich der Frage, was die Vergangenheit für die heutige Architektengeneration überhaupt bedeutet. Gibt es so etwas wie einen historischen Haltegriff? Dass ein Großteil der 100 Architekten aus Europa stammt (darunter 51N4E, Barozzi Veiga, Caruso St John, Kuehn Malvezzi, Office KGDVS u.v.m.), hat sicherlich auch mit der amerikanischen Geschichte zu tun. Fest steht: Zeitgenössischer kann eine Architekturausstellung kaum sein, um eines Tages auch Architekturhistorie zu erzählen.

In Europa wird aufgrund von Klima, Standards und Bauvorschriften niemals mit derselben Leichtigkeit gebaut wie in Japan. Dennoch lassen sich zumindest Entwürfe ähnlich darstellen: naiv wie eine Handzeichnung, abstrakt wie ein Diagramm, aufs Wesentliche reduziert, ohne Füllungen und Schraffuren, als ein totales Unikat, das keine Worte mehr braucht. Der japanische Begriff „kawaii“, der übersetzt so viel wie süß, niedlich, attraktiv bedeutet, steht längst für ein ästhetisches Konzept von Kindlichkeit und Unschuld, das sich auf alle Bereiche der japanischen Gesellschaft ausgedehnt hat. Olivier Meystre fokussiert sich mit Pictures of the Floating Microcosm auf die Arbeitsweise, Präsentation und Technik zeitgenössischer japanischer Architekten: Learning from Japan!

Make New History, 2017 Chicago Architec­ ture Biennial, Lars Müller, 344 Seiten, Soft­ cover, 40 Euro

Pictures of the Floating Microcosm, Park Books, 240 Seiten, Hardcover, 38 Euro

Wenn Something Fantastic nebenbei einen Verlag gründet, dann mit solidem Konzept: Bei Replica Books werden nicht mehr erhältliche Bücher neu aufgelegt. Dass die erste Veröffentlichung ein Titel ist, den Elena Schütz, Julian Schubert und Leonard Streich äußerst schätzen, versteht sich von selbst. Bei dem Buch Orientteppiche von Michele Campana (1966 zuerst bei Fratelli Fabbri Editori in Mailand erschienen) geht es allerdings weniger um den Inhalt als um die Form. „Orientteppiche hilft uns immer wieder, uns bei der Gestaltung darauf zu besinnen, wie man dem Inhalt am besten und am einfachsten gerecht wird“, erklärt Elena Schütz. Beim Durchblättern des kleinen Buches werde man zum Orientteppich-Amateur. „Diese eigentlich so grundlegende Leistung, die ein Layout erbringt, sieht man selten so klar und deutlich.“ Orientteppiche, Michele Campana, Replica Books, 158 Seiten, Softcover, 20 Euro

199


URBAN WELLBEING WOHNDESIGN NEU DENKEN FACHKONFERENZ IN HAMBURG Nach East meets West in Mettlach (2015) und The Future of Wellbeing in London (2016) präsentierte die Villeroy & Boch AG am 24. Oktober 2017 mit Urban Wellbeing in Zusammenarbeit mit Heinze in der Hamburger Elbphilharmonie die dritte Auflage ihrer Konferenz. Architekten wie Martin Murphy (Störmer Murphy and Partners, Hamburg), Julia B. Bolles-Wilson (BOLLES+WILSON, Münster), Matthias Sauerbruch (Sauerbruch Hutton, Berlin) und Kees van Casteren (OMA, Rotterdam) stellten wegweisende Projekte und innovative Konzepte für städtisches Wohndesign vor und lieferten damit den thematischen Rahmen für fachlichen Austausch, Gespräche und neue Kontakte in der Hansestadt.

200


ARCHITEKTUR

ARCHITECTS’ DARLINGS AWARD 2017 DIE OSCARS DER BAUINDUSTRIE 35 Gewinner: Am 9. November 2017 wurden zum siebten Mal die Preisträger Deutschlands größter Branchenbefragung auf einem Galaabend von Heinze im Rahmen des Celler Werktages gekürt: die „Darlings“ der Architekten und Planer. Knapp 2.000 Fachleute wählten ihre Favoriten unter 200 Marken in 24 Produkt-Kategorien, und 40 Experten beurteilten insgesamt 160 Medien- und Produkt-Innovationen in elf Jury-Awards.

Fotos: Roman Thomas

Alle Preisträger und weitere Infos unter www.architectsdarling.de

201


UND MORGEN?

WIR MÜSSEN REDEN

© Herzog & de Meuron Basel Ltd., Basel, Schweiz mit Vogt Landschaftsarchitekten AG, Zürich/Berlin

In Berlin wird gebaut und in der heimischen

VON MARKUS HIEKE

Architekten- und Stadtplanerschaft herrscht Gesprächsbedarf: über NG20, die Neue Nationalgalerie – Museum des 20. Jahrhunderts. Herzog & de Meuron im Kreuzfeuer: ein Stellvertreterkampf um deutsche Prestigeprojekte. „Auch wir haben am Wettbewerb teilgenommen und damit allen Grund zum Neid“, eröffnet Matthias Sauerbruch den Podiumsabend in Berlin. „Ein Jahr danach aber sind die gröbsten Wunden verheilt.“ Die Szenerie könnte passender nicht sein. Der Andrang auf die Akademie der Künste am Hanseatenweg ist so groß, dass die Zuschauerräume an beiden Seiten der Bühne geöffnet wurden. Jacques Herzog erklärt die Pläne: „Uns geht es darum, einen Dialog zwischen den Institutionen an diesem Ort entstehen zu lassen.“ Den Vorwurf, einen übergroßen Discounter zu bauen, findet er nicht schlimm, denn „auch darin steckt ja etwas“. Tatsächlich gleicht der Neubau proportional der Alten Nationalgalerie, nur dass er eben größer und zum Teil in den Boden versenkt sein wird. Die archaische Form ist mehrfach erprobt, das Gebäude werde als Durchgangs- und Eingangsort zu verstehen sein. Und die Backsteinfassade wird pixelhaft porös und transparent wirken. So weit. Die Zuhörer zeigen sich skeptisch. Zu groß! Sichtachsen zerstört! Null Bezug zum Umfeld! Keine Aufenthaltsqualitäten! Wilfried Wang, stellvertretender Direktor der Sektion Baukunst, „will ja nur helfen“, wie er seine als Fragen getarnten Ratschläge verpackt. Und Katrin Lompscher, Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, sieht keinen Spielraum für eine Optimierung des erst vor zwanzig Jahren sanierten angrenzenden Straßenverlaufs – ohnehin nicht ihr Ressort.

202

Sind deutsche Großprojekte – gleich wo – zum Scheitern verurteilt? Weil sie inhaltlich zusammenhangslos sind. Weil die Verantwortlichen wissen, wozu sie leider alles nicht im Stande sind, während sie andererseits nicht wissen, was sie eigentlich wollen. Am Ende wachsen Bauzeit, Kosten und Unmut, da das Konzept erst im Prozess entsteht. Die Sorgen der Berliner Architekten wirken dagegen kleinlich. Worum geht es hier eigentlich? „Wir haben es getestet, wir wissen, wovon wir sprechen“, insistieren Herzog & de Meuron. „Vertrauen Sie uns!“ Vielleicht zu viel verlangt in einer Stadt, die es schafft, die belebtesten Orte von unsäglichen Shopping-Centern besiedeln zu lassen, während punktuelle Schauplätze unantastbar sind. Neue Ikonen haben es schwer. „Die Frage der Größe und der Proportionen werden wir weiter verfolgen“, schließt Pierre de Meuron ab. „Ich glaube, dass es vielleicht noch ein Missverständnis über die Möglichkeiten des Projekts gibt.“ Mittlerweile wurde dem Duo ein seit dem Jurybeschluss im Oktober 2016 geplantes sechsköpfiges Beratungsgremium zur Seite gestellt, in dem die Architekten Arno Lederer, Andreas Hild, Hilde Léon und Arno Brandlhuber sitzen.

www.preussischer-kulturbesitz.de


04444 DEAR 20 an 02

© KB3 – Fotolia

EindEutigE SpurEn ihrES KönnEnS

Jedes von ihnen geplante und realisierte projekt ist ein Beweis ihres Könnens. Zeigen Sie deshalb, welche Architektur ihr Büro verkörpert. Veröffentlichen Sie ihr Expertenprofil auf heinze.de und präsentieren Sie darin ihre referenzobjekte vor Fachkollegen und potenziellen Auftraggebern.

www.heinze.de/profil-eingeben

hinterlegen Sie online kostenlos ihre Kontaktdaten n ihre Firmendaten mit Logo n ihr Leistungsprofil n ihre referenzobjekte n



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.