HEINZE
DEAR ILLUSTRIERTE FÜR DESIGN UND ARCHITEKTUR
Pauline Deltour RETHINK THE WAY OF THINKING Interviews
BAUEN FÜR OMA ELLEN VAN LOON DENKEN FÜR PRADA DIETER ROELSTRAETE Design
Architektur
CAMPING IN BETON A LABOUR OF LOVE Dossier
RETAIL IM UMBRUCH
Nr. 2/ 2018 — 8,50 Euro
MÖBEL AUS MÜLL WG MIT WÜSTE
Ja, zum Feierabend mĂźssen Sie nach Hause gehen.
palmberg.de/crew
EDITORIAL
damentaler Umbrüche. An einzelnen Rädchen zu drehen, genügt nicht mehr, wenn das große Rad sich weiterdreht. Das ist manchmal schwer auszuhalten. Vielleicht müssen wir einfach über einen Neuanfang nachdenken – selbst wenn, wie Funny van Dannen singt, man nur einmal im Leben wirklich von vorne anfangen kann. Ende der Neunzigerjahre habe ich an der Entwicklung eines Kommunikationskonzeptes mitgewirkt, in dem ein ganzes Team von Experten einer High-Fashion-Brand vorhersagte, Kleidung könne man niemals im Internet verkaufen. Nun ja, was wirklich nach dem Verbrennungsmotor kommt und ob die Weltpolitik irgendwann aus dem Sandkasten herauswächst, bleibt abzuwarten. In der Zwischenzeit könnten wir vielleicht einfach den Discofoot*, eine genderunabhängige Kombination von modernem Tanz und Fußball, fördern. „Rethink the way of thinking“ meint auch Pauline Deltour – eigentlich keine schlechte Parole für den Wandel.
Foto: Gerhardt Kellermann
Wir befinden uns in einer Epoche fun-
Ihr Stephan Burkoff
* Ein Video zu Discofoot, einem Projekt der Choreografen Petter Jacobsson und Thomas Caley, finden Sie hier: https://bit.ly/2M9IZQh
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IMPRESSUM
WWW.HEINZE-DEAR.DE Publisher
Geschäftsführer
Chefredakteur Editorial Director Art Direction & Layout Redaktionsleitung Redaktion
Katharina Horstmann Tim Berge, Jana Herrmann, Markus Hieke, Anne Meyer-Gatermann, Norman Kietzmann, Tanja Pabelick, Kathrin Spohr Clara Blasius, Dina Dorothea Falbe, Andrej Kupetz, Niklas Maak, Max Scharnigg, Anne Waak
Lektorat
Anja Breloh
Konzept & Realisation
Gesamtvertriebsleiter Leiter Medienproduktion Druck Zeitschriftenvertrieb Danke an
Titelbild: Cyrill Matter
Stephan Burkoff (V. i. S. d. P.) Jeanette Kunsmann Nils Sanders / BÆUCKER SANDERS GmbH
Autoren
Fotografen
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HEINZE GmbH Das führende Bauportal für Produktinformationen, Firmenprofile und Architekturobjekte Dirk Schöning Bremer Weg 184 29223 Celle www.heinze.de an Infopro Digital company
Iwan Baan, Magnus Bäck, Mattia Balsamini, François Bodlet, Gonzalo Botet, Maxime Brouillet, Marco Cappelletti, Adrià Goula, Katrin Greiling, Rasmus Hjortshøj, Manfred Jarisch, Gerhardt Kellermann, Nils Koenning, Mario Simon Lafleur, Delfino Sisto Legnani, Léa Longis, Cyrill Matter, Eunuk Nam, José Navarrete, Andrew Power, Philippe Ruault, Shinkenchiku-Sha, Jim Stephenson, Frans Strous, Hannes Wiedemann, Christiane Wirth, Miro Zagnoli Mitte Rand UG, Verlag für Inhalt & Kontraste Marienstraße 10, 10117 Berlin www.mitte-rand.de / mail@mitte-rand.de Jörg Kreuder Ulrich Schmidt-Kuhl Vogel Druck, Leibnizstraße 5, 97204 Höchberg MZV GmbH & Co. KG, Unterschleißheim Pauline Deltour, Claire Pondard, Luca Franzoni, Ellen van Loon, Jeremy Higginbotham, Dieter Roelstraete, Jean Verville, Ana Rocha, Ortner + Ortner Baukunst, Plajer & Franz Studio, Kerstin König, Thomas Ehrenfried, Klaus Füner, Liliana Rodrigues, Fallon Nachmani, Nicole Vesting, Friedemann Seith, Andrea Hronjec & Florian Geddert, Melanie, Charly, Peeke, Anton, Bjarne und Jasper
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung. Kein Teil dieses Magazins darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags Mitte / Rand reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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ATmotion
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INHALT
DESIGN Editorial Impressum Contributors
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DOSSIER
Titelstory: Pauline Deltour Rethink the Way of Thinking
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Niemals an der Wand lang
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WG mit Wüste
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Wer will? Jean Verville!
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Urban Terrazzo Botschaft aus Beton
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Wohnst du noch oder kuratierst du schon? Kolumne von Max Scharnigg
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Möbel aus Müll
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Retail im Umbruch Über die Verbindung von Ausstellung, Marketing und Verkauf
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Gentle Monster Ein Label aus Korea mischt mit extremer Ästhetik unsere Vorstellung von Shopping auf.
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Retail Summit in Tiflis Gentrifizierung im Handel
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ARCHITEKTUR
MAGAZIN
Interview: Ellen van Loon Ich habe noch nie ein Gebäude ohne Bar geplant
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Backflash: A Labour of Love Brian Housdens brutalistischer Wohntraum
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Poetisches Raster Ein Haus aus drei Teilen
104
142
Camping in Beton Bauen mit kleinem Budget
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Mit dem TGV Atlantique nach Bordeaux Kolumne von Niklas Maak
148
Kater in Katar Bibliothek von OMA
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Zuhause in der Kunst: Machines à penser Dieter Roelstraete im Gespräch
Mini, Slim und Supertiny Bewohnbare Möbel
122
Moden von gestern: Waxprints Kolumne von Anne Waak
154
110
104
Kalender Bücher Und morgen?
156 160 162
122
154
VORSCHAU
BACKFLASH
„Wenn man in einem Umfeld aufwächst, das so anders ist als das der meisten Menschen, hat das einen Einfluss darauf, wie man über Kunst und Architektur denkt.“ Brian Housdens Töchter wollen das Lebenswerk ihres Vaters in neue Hände geben.
AB SEITE 135
hgschmitz.de
Gira E2 Edelstahl, flacher Einbau Neue Rahmen und Ein sätze in hochwertigem Edelstahl erweitern das erfolgreiche Schalter programm Gira E2 und schaffen neue Gestal tungsmöglichkeiten. Planer können Gebäude in durchgängigem Design ausstatten und zugleich verschiedene Bereiche nach Wertigkeit differen zieren. Die edle Anmu tung prädestiniert Gira E2 Edelstahl für gehobene Einrichtungen im privaten wie im gewerblichen Bereich. Ebenfalls neu sind die Rahmen für den flachen Einbau. Sie tragen ledig lich 3 mm auf der Wand auf und integrieren sich besonders elegant in die Architektur. Damit steht eine zusätzliche gestalterische Option zur Verfügung. Mit den zahlreichen Funktionen aus dem Gira System 55 wird Gira E2 den Anforderungen einer modernen und zukunfts sicheren Elektroinstal lation gerecht. Mehr Informationen: www.gira.de/e2
C
O
N
T
R
I
B
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TANJA
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R
S
ANNE MEYER-GATERMANN
ANDREJ
Neu im Team: Als ausgebilde-
Gastautor Andrej Kupetz ist
Nach einem Vordiplom in Land-
te Journalistin und studierte
vielen ein Begriff. Der Haupt-
schaftsarchitektur hat Tanja
Kunsthistorikerin mit einem
geschäftsführer beim Rat für
Pabelick 2009 ein Designstu-
Faible für Architektur haben wir
Formgebung (seit 1999) initi-
dium an der Berliner Universi-
Anne Meyer-Gatermann eigent-
ierte eine Reihe erfolgreicher
tät der Künste abgeschlossen.
lich ins warme Wasser gewor-
Design- und Architekturpreise.
Schon seit 2006 schreibt und
fen. Daher überrascht es nicht,
Er selbst studierte Industrie-
fotografiert sie für Magazine
dass sie aus dem Stand ihre
design, Philosophie und Pro-
und Blogs. Wenn sie gerade
PS auf die Textstraße bringt.
duktmarketing in Berlin, Lon-
nicht in der Designwelt unter-
Wie mit ihrem Beitrag über ein
don und Paris. 2011 wurde er in
wegs ist, ist Tanja auf Reisen,
redaktionsintern polarisieren-
das European Design Leader
etwa im Windschatten indo-
des Minihaus in Andalusien auf
ship Board berufen. Für dieses
nesischer Schwefelträger. Für
Seite 40. Außerdem gehört sie
Magazin hat Andrej Kupetz ei-
dieses Heft hat sie mit Urban
zu den frühen Vögeln. Sollten
nen Essay zur Zukunft des sta-
Terrazzo ein neues altes Mate-
Sie eines morgens eine Frage zu
tionären Handels geschrieben
rial entdeckt (Seite 59) und ein
unserem Magazin haben: Anne
(Seite 78), der die großen Fra-
Kleinod des Brutalismus in Lon-
wird den Hörer ab- und ihre
gen unseres Dossiers gekonnt
don gefunden, das derzeit zum
Laune anheben.
vorwegnimmt.
Verkauf steht (Seite 135).
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KUPETZ
T
PABELICK
FÜR DIE TÄGLICHE DOSIS DESIGN UND ARCHITEKTUR: WWW.HEINZE-DEAR.DE
3984 PRODUKTE 1640 PROJEKTE 1269 STORIES 394 INTERVIEWS FACEBOOK.COM/DEARMAGAZIN
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DE
Fotos: Cyrill Matter, Mai 2018
DESIGN
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Pauline Deltour Rethink the Way of Thinking
Fotos: Manfred Jarisch
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DESIGN
VON JEANETTE KUNSMANN UND STEPHAN BURKOFF PORTRÄTS: CYRILL MATTER
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PAULINE DELTOUR: RETHINK THE WAY OF THINKING
Design bedeutet für sie die perfekte Balance zwischen Mathematik und Kunst. Und wenn Letztere Fragen stellt, sucht Design nach Antworten, findet Pauline Deltour. Als Produktdesigner dürfe man nur nicht zu viel hinterfragen. Dann müsste sie vermutlich aufhören zu arbeiten, so die 35-Jährige. Die Frage, welche Objekte und Produkte die Welt noch braucht, klammern wir also besser aus. 16
DESIGN
Design im Alltag: Der Geschirrabtropfer aus der Produktfamilie A Tempo (2011) von Pauline Deltour fĂźr Alessi entpuppt sich als Stapelwunder. Foto: LĂŠa Longis
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PAULINE DELTOUR: RETHINK THE WAY OF THINKING
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DESIGN
Pauline Deltour vor der Médiathèque Françoise Sagan in Paris, in deren Innenhof sich eine Gartenoase verbirgt. Foto: Cyrill Matter, Mai 2018
Gerne hätten wir sie in Venedig getroffen, auf der Architekturbiennale, die sie schon mehrmals besucht hat. Erfolgreich wie Pauline Deltour längst ist, zeigt sie sich ebenso beschäftigt und hat für Pläne dieser Art leider keine Zeit mehr. Also reisen wir nach Paris und treffen die Designerin in ihrem Studio am Boulevard Magenta. Seit drei Jahren arbeitet sie dort mit ihrem Team in der vierten Etage eines Haussmann-Gebäudes: zwei Räume in einem ehemaligen Redaktionsbüro, die Etage teilt sie sich mit einem Atelier für Brautmode. Très parisien, très petit, aber dafür mittendrin. Kein Schritt bleibt lautlos auf dem alten Parkett. Obwohl Pauline Deltour bereits mehr als zehn Jahre Erfahrung als Produktdesignerin hat, seit 2011 ihr eigenes Studio in Paris betreibt und seither Objekte für Marken wie Alessi, Bree, Boffi, Cor, Kvadrat, Muji und viele andere entwirft, ist es dieses Jahr tatsächlich das erste Mal, dass sie bei der Milan Design Week mit einem Projekt vertreten ist. Abseits des Salone del Mobile, mitten in Mailands Designviertel Brera, präsentierte sie ihren Beitrag zu einer neuen Kollektion von Möbeln für das neu gegründete Label Fucina: eine Serie von Cabinets aus poliertem Stahl, ohne sichtbare Schweißnähte oder Verbindungen und mit seinen geschwungenen Türen inspiriert von den kühnen
Kurven formschöner Oldtimer. Fucina ist ein kreativer Ableger des kompetenten Traditionsherstellers Lidi Architettura in Metallo aus der lombardischen Gemeinde Desio und wird von Maddalena Casadei beraten, die neben Pauline noch vier weitere Designer von einer Zusammenarbeit überzeugen konnte.
Ein kleiner Galerieraum im Souterrain genügte dem jungen Label Fucina zur Präsentation seiner ersten Kollektion und in der Tat: Im Trubel der Design woche entstand hier zwischen den Objekten eine geradezu untypisch angenehme, fast familiäre Atmosphäre. Wie kam der Kontakt zu Fucina zustande? Pauline Deltour: Ich kannte Maddalena, weil sie die Assistentin von James Irvine war, der wiederum zum Dreamteam der Designer gehörte, die für Muji entwerfen. Während meiner Zeit bei Konstantin Grcic habe ich wirklich viel an den Projekten für Muji gearbeitet und war auch oft in Japan, denn
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PAULINE DELTOUR: RETHINK THE WAY OF THINKING
Dieses Sideboard ist keine leichte Karosserie, sondern ein massiver Solitär: Pauline Deltours Kollektion 356 für Fucina, die im April auf der Milan Design Week 2018 Premiere hatte. Foto: Miro Zagnoli
einmal im Jahr ist das Muji-Meeting in Tokio zur Japan Design Week. Da waren auch Jasper Morrison, James Irvine und Konstantin Grcic und Naoto Fukasawa – dort habe ich Maddalena kennengelernt. Vergangenen September fragte sie mich, ob ich bei dem Fucina-Projekt mitmachen möchte … Viel Zeit blieb also nicht für die Entwicklung. Nein, der erste Prototyp entstand im Januar, vorab waren es vier Monate Vorbereitung und Verhandlungen: Denn die Designer bekommen kein Honorar, sondern eine Umsatzbeteiligung. Es gab also viel zu besprechen, und vor Weihnachten schickte jeder von uns seine ersten Ideen. Weiter ging es mit 1:1-Modellen aus Karton, um die Proportionen zu prüfen, gefolgt von einer Reise nach Mailand, um den Prototyp zu begutachten. Es gab noch ein paar Änderungen, die bearbeitet wurden,
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und dann war schon die Eröffnung der Ausstellung zur Design Week in Mailand. Weil es eine kleine Manufaktur ist, die sich mit 200 Prozent auf die erste Kollektion fokussieren kann, arbeitet Fucina schnell. Es sind Experten. Du arbeitest gerne mit Stahl. Es ist eine sehr spezielle Arbeit, weil Stahl ein extrem schweres Material ist. Wenn ich richtig schätze, wiegt allein ein Cabinet um die 90 Kilo! Das sollte man auf jeden Fall berücksichtigen, wenn man so ein Objekt zum Beispiel auf seinen Parkettboden stellen möchte. Vielleicht sind Metall und Stahl Materialien, die ich sehr gut verstehe. Aber die Entscheidung kommt nicht von mir, es ist das Briefing des Auftraggebers. Die Projekte kommen also zu dir … Genau, womit ich sehr glücklich bin. Der einzige Auftraggeber, den ich
Fucina: Minimalismus aus Metall www.heinze-dear.de/_0620
jemals selbst angefragt habe, war Lexon. Dabei ging es um Objekte aus extrudiertem Aluminium, die klein und leicht sein sollten. An Aluminium mag ich, dass man ins Detail gehen kann. Bei Stahl geht das nicht. Für mich ist Aluminium ein sehr modernes Material. Wann und warum hast du dich für Produktdesign entschieden? Für mich erschien Design als eine perfekte Balance zwischen Kunst und Mathematik. Beides lag mir sehr, ich liebte Mathematik schon als Kind, ich liebe
DESIGN
Pauline Deltour hat ihre Karriere bei Konstantin Grcic in München begonnen. Zunächst als Praktikantin, später als Designerin und Projektleiterin. Ihr Diplomprojekt A Tempo, ein Korb aus geschwungenem Stahldraht, hat sie von vornherein als mehr als ein fiktives Projekt betrachtet.
alles, was einer Logik folgt. Und ich
und als ich zurück in die Uni kam, war
Wie ging es weiter?
habe viel gemalt – Design lag für mich genau in der Mitte. Dann habe ich ein paar Designschulen besucht, auch in Paris, und an verschiedenen Aufnahmeprüfungen teilgenommen und bin schließlich nach Paris gegangen.
mir klar, dass ich nicht bloß an einem Konzept arbeiten wollte. Draht interessierte mich als Material. Es sieht nur leider meistens sehr schnell alt aus. Mein Ziel war also ein zeitgemäßes Objekt aus Metalldraht, das tatsächlich in Produktion gehen könnte.
Danach arbeitete ich wieder bei Konstantin, diesmal als Assistentin. Ein Jahr später dachte ich, es wäre an der Zeit, einen echten Hersteller für mein Diplomprojekt zu finden. Es ging dabei um die Körbe und das Abtropfgitter – zunächst habe ich mir eine Liste von Firmen gemacht, für die das interessant sein könnte. Konstantin meinte dann, dass er A Tempo bei Alessi sehen würde, was mich wirklich überrascht hat. Es dauerte dann noch mal etwas Zeit, bis er mich dort empfohlen hatte. Nach zwei Monaten kam die Rückmeldung von Alessi mit der Bitte, dass ich ihnen den Prototypen schicke, und ein halbes Jahr später kam die Antwort, dass sie es produzieren wollen. Wow.
Hast du diese Entscheidung jemals bereut? Nein, nie! An der ENSAAMA in Paris waren wir zuerst noch zusammen mit den Studenten aus der Kunst, Mode, Grafik – ich wusste aber von Anfang an, dass mich Produktdesign am meisten interessiert. Während des Studiums habe ich eine Zeit lang in einer Keramikwerkstatt gearbeitet, danach drei Monate lang bei einem Stahl-Workshop, eine lange Zeit war ich in einem großen Industrieunternehmen, die Straßenbahnen und Züge renovieren, unter anderem haben sie den neuen TGV renoviert. Es war ein großes Büro, in dem nur Männer gearbeitet haben, ich war die einzige Frau. Es war schon eine ziemliche Macho-Atmosphäre. Aber dort habe ich fast alles über 3D gelernt. Tough, aber interessant. Hättest du 2011 damit gerechnet, dass deine Abschlussarbeit bei Alessi in Produktion geht? Niemals! 2006 hatte ich ein Jahr lang als Praktikantin bei Konstantin gearbeitet,
Wie bist du dabei vorgegangen? Bevor ich anfing, habe ich vier bis fünf Hersteller rund um Paris besucht, einer war weiter weg. Ein Unternehmen sagte zu und unterstützte mich bei dem Projekt und den Prototypen – immer auch gleich in Relation mit dem Herstellungspreis bei einer Produktion von 1.000, 5.000 oder 10.000 Stück. Es sollte alles real sein. Leider hat die Firma mich zwei Monate vor Ende der Fertigstellung hängen gelassen, und ich musste eine neue finden. Das ist mir auch gelungen: nämlich ganz in der Nähe von Dijon, nicht weit von Burgund. Mithilfe der Mitarbeiter vor Ort, die mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Arbeit mit Metalldraht hatten, konnte ich selbst die endgültigen Prototypen herstellen und war sechs Wochen lang im Workshop. Es war harte Arbeit, aber eine wunderschöne Zeit. Jeden Morgen ging es um sieben Uhr los – und ich habe in einem kleinen Hostel übernachtet. Und das Ergebnis waren perfekt produzierte Objekte aus Metall.
Manchmal braucht man Geduld. Klar. Ich weiß nicht, ob ihr das schon mal gehört habt: Alessi arbeitet nach einem Punktesystem. Dabei werden in verschiedenen Kategorien wie Produktion und Emotion und anderen Fragestellungen Punkte vergeben, insgesamt gibt es 20. Wenn ein Objekt mehr als 13 Punkte bekommt, wird es produziert. Klingt systematisch. Und dein Projekt hatte mehr als 13 Punkte? Genau, so entstand mein Kontakt zu Alessi. Als sie mich nach einer weiteren Zusammenarbeit fragten, musste ich
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PAULINE DELTOUR: RETHINK THE WAY OF THINKING
LAB POSTAL von En Bande Organisée (Szenografie und Art Direction), Paris, März 2018. Schönes Detail: der Roll-Hocker Drop von Pauline Deltour für Cor Sitzmöbel. Fotos: Mario Simon Lafleur 22
DESIGN
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PAULINE DELTOUR: RETHINK THE WAY OF THINKING
Die Teekanne aus der Serie Bonhomie hat Deltour 2016 fßr den japanischen Porzellanhersteller Arata entworfen. Der Verschluss basiert auf einem manuellen Mechanismus, der das Herausnehmen des Teesiebs erleichtert. Foto: Š Arita
Foto aus dem Studio von Pauline Deltour in Paris: Cyrill Matter, Mai 2018
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DESIGN
Leuchte aus der Kollektion Signal für CVL, 2018, © Studio Pauline Deltour
an diesem Punkt die Arbeit im Studio
gab es viele Events, und wir konnten
von Konstantin beenden: Es wurde einfach zu viel.
für den französischen Hersteller Babolat die Räume einrichten.
Der Beginn für dein eigenes Studio. Das ist einfach so passiert – ich hatte es nicht geplant, mich selbstständig zu machen. Parallel kam es zu einem Auftrag von Muji, die zuvor eine Schmuckkollektion von mir abgelehnt hatten. Für sie sollte ich aus dem Verschnitt von Küchenmöbeln kleine Schreibtisch-Utensile aus Holz entwerfen: ein Office-Set, das leider nur für kurze Zeit und nur in Japan verkauft wurde. Mit diesen beiden Projekten fing alles an, zu der Zeit lebte ich noch in München. Zurück in Paris, eröffnete ich dann 2011 ganz offiziell mein eigenes Studio.
Für den Tennisschlägerhersteller Babolat? Genau.
Was sicher auch nicht ganz einfach war. Wo hattest du denn dein erstes Atelier? Zunächst arbeitete ich im Homeoffice. Der Bürgermeister von Paris hatte zu dieser Zeit ein Programm, in dem Büros und Atelierräume für wenig Geld an junge Kreative aus der angewandten Kunst vergeben wurden, was eine große Hilfe war. Gleichzeitig habe ich zusammen mit Anne-Laure Gautier und Gwenaëlle Girard En Bande Organisée gegründet: ein Studio für Raum und Innenarchitektur. Damals
In Paulines Studio entstehen gerade eine Schmuckkollektion für ein kleines Label namens JEM – Jewellery Ethically Minded, das mit ethisch vertretbar gewonnenem Gold arbeitet, Möbel für eine kleine, aber sehr alte und traditionsreiche Firma mit dem Namen Burov – das eines der letzten Unternehmen ist, die professionell mit Formschaum arbeiten, und ein Projekt für einen Sanitärhersteller, der den Drücker der Toilettenspülung neu erfinden möchte. 25
PAULINE DELTOUR: RETHINK THE WAY OF THINKING Wow! Ja, das war ein guter und großer Auftrag. Auf deiner Webseite findet man aber nichts dazu … Da wir mehr im Interieur arbeiten möchten, haben wir es herausgenommen. Weiter ging es mit Puiforcat, einem Luxushersteller, der seit den Neunzigerjahren zu Hermès und zum Comité Colbert gehört. Zurück in Paris, musste ich schließlich Geld verdienen. Ich bewarb mich deswegen bei Hermès, die sich gewundert haben: „Warum möchtest du für uns arbeiten, du solltest für dich arbeiten! Gib uns etwas Zeit, und wir haben ein Projekt für dich als Freelancer.“ Du scheinst viel Glück zu haben. Es war auch viel Arbeit, aber ich hatte schon enormes Glück. In den Anfangsjahren in Paris finanzierte ich meine Arbeit als Produktdesignerin mit EventProjekten. Kein schlechtes Modell! Ja, in der Event-Industrie gibt es mehr Budget als im Produktdesign. Das war ein gutes System für mich.
Spiegelende Unterteilung: Visitenkartenetui Fine von Pauline Deltour für Lexon, 2015, Foto: Gerhardt Kellermann, courtesy of Lexon
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Aber deine Arbeit ist mehr als Gestaltung. Bleibt die Funktion deiner Toilettenspülung, wie wir sie kennen? Nein, man kann die Mechanik komplett austauschen und verändern, das macht dieses Projekt so spannend. Es geht uns nicht um die Gestaltung von zwei Buttons, sondern darum, das gesamte Element zu überdenken und neu zu gestalten. Es gibt die Möglichkeit eines Sensors, der erfasst, wenn man zum Beispiel in die Hände klatscht. Aber wir machen etwas völlig anderes. Es geht auch darum, nicht mehr Wasser als notwendig zu verwenden. Das wird spannend!
Aber es klingt auch nach einem ungewöhnlichen Auftrag. Ja, der Hersteller ist sehr offen und lässt uns viel Freiraum zum Testen, Ausprobieren und Überdenken. Möbel, Mode, ein E-Bike und Lautsprecher: Wofür steht dein Design? Nun, es gibt Leute, die sagen, sie erkennen meine Objekte und Arbeiten – mir selbst geht es überhaupt nicht so. Ich arbeite ohne Dekore, nur mit dem Material wie zum Beispiel bei dem Aluminiumrelief für die Lexon-Objekte. Den Leitfaden bilden bei mir das Material sowie dessen kluger Einsatz. So würde ich es sagen. Ich kann euch für jedes Projekt und Produkt genau erklären, wie das Material behandelt und hervorgehoben wird. Und vom Material abgesehen? Wenn wir über Form sprechen, dann würde ich nicht den Begriff „Minimalismus“ verwenden, sondern diese eher als pure Formen definieren. Ich denke, ich bin aber nicht die Beste, um darüber zu sprechen. Als wir das Fahrrad entwickelt haben, war das wirklich hart. Wir haben bestimmt über tausend Zeichnungen angefertigt, und zu der Zeit haben wir noch in dem kleineren Raum gearbeitet. Das gesamte Studio war voller Zeichnungen auf A4 mit den Fahrradrahmen, die Form und Praktikabilität zusammenbringen sollten. Es war ein langer Prozess, die richtige Linie zu finden – auch, weil es so viele Fahrräder gibt. Für uns war das ein Schritt in die Bike-Welt. Die Gestaltung eines Fahrrades, eines Autos oder einer Uhr unterscheidet sich sehr. Das sind Nischen, und es gibt einen Grund, warum sich manche Designer auf Autos oder Fahrräder spezialisiert haben und nur noch an dieser Typologie arbeiten. Warum sollte ich das also besser können? Wenn man aber etwas zum ersten Mal macht, bringt man eine gewisse Naivität mit und dieses naive Auge lässt
DESIGN einen andere Lösungen finden. Weil man zu dem Zeitpunkt noch gar nicht weiß, was geht und was nicht. Es wäre für dich also nicht interessant, Expertin für Fahrraddesign zu werden? Genau das sind wir in der zweiten Phase geworden. In den ersten drei Monaten waren wir naiv, danach wurden wir Experten. Wir arbeiteten mit vielen Bildern, haben kleine und alte Fahrräder gesammelt, die uns gefallen. Es gab fünf Vorschläge, und das Team von La Poste entschied sich für drei Hauptrichtungen. Von dem Punkt an wurde es
Welche Rolle spielt für dich der Auftraggeber? Auch der Auftraggeber ist entscheidend. Das muss passen. Ich hatte mal einen Auftraggeber in Dubai, den ich nie getroffen habe – wir haben nur per E-Mail und Telefon kommuniziert, und das endgültige Produkt habe ich nie gesehen. Seitdem bin ich vorsichtiger und versuche die Leute immer zu treffen. Das Team des Sanitärherstellers, für den wir gerade arbeiten, hat uns zum Beispiel erst neulich hier in Paris im Studio besucht.
immer präziser. Wir haben einen Weg gefunden, ein existierendes Fahrrad neu zu denken und umzugestalten. Das hat funktioniert. Klingt nach Spaß! Ja, war es auch. Diese Art zu arbeiten habe ich bei Konstantin gelernt. Jedes Projekt muss man neu denken: Rethink the way of thinking! Hast du denn auch schon mal Projekte abgelehnt? Natürlich, aber aus anderen Gründen. Nicht etwa, weil die Herausforderung zu groß, sondern eher, weil das Budget zu klein war. Wenn ein Projekt nicht bezahlt wird, dann mache ich es nicht. Ich muss dazu sagen, dass ich damit schlechte Erfahrungen gemacht hatte und deshalb vor vier Jahren entschieden habe: Ich erlaube mir ein schlecht bezahltes Projekt pro Jahr, wenn es mir selbst genug bringt – Freiheit, Lernen und Erfahrung. Manchmal kommen Anfragen, die man einfach nicht ablehnen kann. Den Rest verhandle ich eben so gut es geht. Schließlich werden meine Mitarbeiter alle bezahlt, dann kann ich nicht umsonst arbeiten. Wer seinen Weg gehen will, muss sich einen Korridor bauen, der aus festen Parametern besteht.
Ebenfalls für Lexon entwickelt: Der Bluetooth Speaker Fine von Pauline Deltour schaltet sich per Drehung an und braucht deshalb weder Schalter noch Knöpfe. Foto: Gerhardt Kellermann, courtesy of Lexon
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PAULINE DELTOUR: RETHINK THE WAY OF THINKING
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DESIGN
Mit dem Studio En Bande Organisée verwirklicht das Trio Pauline Deltour, Anne-Laure Gautier und Gwenaëlle Girard Interiors, Möbeleinbauten sowie Retail- und Hotelkonzepte, hier das Zimmer Terre Battue für Les Toquées Chambres d’hôtes à Lille, 2017 (rechts), eins von sechs Hotelzimmern, und die Wand im Speisesaal. Fotos: Katrin Greiling
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PAULINE DELTOUR: RETHINK THE WAY OF THINKING So etwas ist wichtig. Auch dass sie verstehen, wie wir arbeiten und denken. Und für uns ist es entscheidend zu verstehen, für wen wir arbeiten und wie die Firma, für die wir arbeiten, funktioniert. Es ist eine Frage der Motivation, um 200 Prozent zu geben, müssen zumindest 100 Prozent bezahlt werden, und nicht nur fünf Prozent.
Du entwirfst also keine Aliens. Nein, das gefällt mir überhaupt nicht. Es geht immer auch um eine Art Heimat. Wenn wir zurückschauen auf die Diskussion, die sich mit jeder Möbelmesse ergibt: So viele neue Dinge und Möbel – wer braucht die eigentlich wirklich? Wie definierst du deine Position als Produktdesignerin? Sie grinst. Ich denke, ich kann alles Mögliche ge-
E-Bike Le Vélo, Studio Pauline Deltour für Yellow Innovation/La Poste, 2018, © Studio Pauline Deltour
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Du hast angewandte Kunst und Design studiert. Wo endet die Kunst für dich, wann wird ein Objekt Design? Produkte erfüllen einen Zweck, die Kunst existiert für den Geist. Vielleicht kann man sagen, dass die Kunst Fragen stellt, während Design Antworten gibt? Für mich ist es bei einem Objekt wichtig, dass man instinktiv weiß, wie man es benutzt, und es dir etwas mitbringt, das man bereits kennt, das man wiedererkennt. Zum Beispiel diese Teekanne: Sie ist auf der einen Seite in ihrer Form und ihrem Volumen sehr modern, aber spielt auch mit der bekannten Gestalt, und dann gibt es dieses kleine mechanische Detail, das es erleichtert, das Teesieb mit einem kurzen Druck herauszunehmen.
stalten. Aber es stimmt, ich fühle mich wohler, wenn mich etwas Neues herausfordert. Für La Poste zu arbeiten, empfinde ich als extrem relevant. Es geht darum zu untersuchen, welche Objekte wir in fünf oder zehn Jahren brauchen. E-Bikes scheinen die Zukunft zu sein: Wie können wir also ein Superbike gestalten? Es geht um den Nutzen von digitalen Services, aber auch Bequemlichkeit. Möbel zu gestalten, ist verglichen damit etwas anderes. Es ist auch toll, aber mich interessiert eher die Wiedergeburt eines kleinen Traditionsherstellers als das Sofa an sich. Was gleichzeitig auch die Antwort auf die Frage wäre, warum du noch keinen Stuhl entworfen hast … Weil mich bisher noch niemand danach gefragt hat!
www.paulinedeltour.com www.en-bande-organisee.com
Foto: Cyrill Matter, Mai 2018
DESIGN
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PROJEKTE
LEBEN AUF ALLEN EBENEN, ABER
NIEMALS AN DER
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DESIGN
WAND
LANG
TEXT: TIM BERGE FOTOS: SHINKENCHIKU-SHA
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PROJEKTE
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DESIGN
Eine unscheinbare Blechkiste nimmt ein radikales Wohnkonzept auf. Dieses wunderbar eigentümliche Architekturexperiment in Osaka vom Studio Tato liefert ein introvertiertes, aber in seinem Inneren vollkommen offenes Volumen ohne Wände.
Es ist eine sehr japanische Wohnform, die das Haus seinen Bewohnern offeriert: beinahe exhibitionistisch in seinem Inneren, verschlossen nach außen. Die Auftraggeber, eine dreiköpfige Familie, wollten einen Ort ohne Privaträume, einen Ort, in dem sie sich zu jeder Tages- und Nachtzeit nahe beieinander fühlen könnten. Und genau das haben sie bekommen: ein Haus, ein Raum.
ELEMENTAR ANDERS
Die aktuelle und zukünftige Entwicklung der Umgebung durfte nicht über den Charakter der Räume mitbestimmen. Hinter der kompakten, schlichten Hülle überrascht das komplexe Innere.
Parkhäuser und Apartmentblocks bilden das Umfeld des Wohnhauses in Osaka, und es ist zu erwarten, dass die Nachbargebäude in den kommenden Jahren durch weitaus höhere ersetzt werden. Das in Kobe ansässige Architekturbüro Tato wollte den Neubau gegen diese Entwicklung absichern und entwarf ein kastenförmiges Volumen mit einer hellen Blechfassade, die gar nicht erst versucht, eine Verbindung zwischen außen und innen herzustellen. Überhaupt wirkt das gleichmäßige Fensterraster wie eine Tarnung, die suggerieren soll, dass das Gebäude sich architektonischen Standards unterordnet – erst, wenn man es betritt, offenbart das Haus sein zweites elementar anderes Gesicht.
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PROJEKTE
7 METER, 13 EBENEN Offen: Anders lässt sich der Innenraum des Wohnhauses nicht beschreiben, denn Wände oder andere Einbauten gibt es nicht. Dafür existieren umso mehr Treppen und Ebenen, die wie bei einem überdimensionalen Regal in das ansonsten leere Volumen des Hauses eingeschoben wurden und es gliedern. Insgesamt 13 Plattformen schrauben sich in gleichmäßigen Abständen und auf zwei Stränge verteilt, spiralförmig vom Bodenniveau bis unter die 6,9 Meter hohe Decke. Je weiter man sich nach oben bewegt, desto privater werden die Minietagen. Die in ihrem Inneren vollkommen offene Gebäudestruktur ist eine exakte architektonische Analogie des Bauherrenwunsches nach einem Leben in kollektiver Privatsphäre. Und auch die Einrichtung folgt den räumlichen Vorgaben: Viele Möbel finden sich wie von einer heimlichen Zentrifugalkraft nach außen gedrängt, während das Zentrum des Hauses leer bleibt. So bietet der Neubau eine perfekte Echokammer für den Alltag seiner Bewohner – jedes Ereignis wird unmittelbar und ungefiltert geteilt. Ein Wohnexperiment, das in seiner Radikalität nur in Japan denkbar ist.
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DESIGN
Verschobene Böden teilen das offene Volumen auf und werden durch einzelne Stufen verbunden. Das Leben in kollektiver Privatsphäre bedarf nur weniger Türen: am Eingang und zum Badezimmer.
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PROJEKTE
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DESIGN
House in Miyamoto Osaka, 2017 Tato Architects tato-architects.divisare.pro
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PROJEKTE
WG MIT WÜSTE
Foto: José Navarrete
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DESIGN
GLASHAUS ANDALUSIEN
IN
TEXT: ANNE MEYER-GATERMANN FOTOS: GONZALO BOTET UND JOSÉ NAVARRETE
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PROJEKTE
Es ist ein Wohnkristall in der Wüste. Das Glass House lädt die Natur in Bad, Schlaf- und Wohnzimmer ein – und schützt die Bewohner trotzdem vor Hitze, Kälte und Sonnenbrand.
Foto: José Navarrete
Kristall in Metall: Spiegelnde Flächen holen die Wüstenlandschaft ins Haus, die Vorhänge schützen vor Einblicken und zu viel Sonne.
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© Guardian Glass, LLC, Foto: Gonzalo Botet
DESIGN
© Guardian Glass, LLC, Foto: Gonzalo Botet
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PROJEKTE
Fotos oben: José Navarrete
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© Guardian Glass, LLC, Foto: Gonzalo Botet
DESIGN
Mit dem Glass House stellten sich die Architekten von OFIS zusammen mit Ingenieuren, Energieberatern und dem Hersteller Guardian Glass extremen klimatischen Herausforderungen: Die Temperaturen in Gorafe schwanken je nach Jahreszeit um 50 Grad.
Am Horizont schiebt sich Sandstein zu einem Gebirge, der Himmel darüber ist taubenblau und die Sonne wirft goldenes Licht auf struppiges Gras und rote Erde, dazwischen ist helles Ge röll gestreut. Die Landschaft der andalusischen Wüste bei Gorafe ist eine stimmige Komposition aus Farben und Formen. Was kann man einer Natur hinzufügen, die so in sich ruht, so harmonisch und gleichzeitig spektakulär ist? Einen Neubau an so einen Ort zu setzen, ist immer heikel, weil es leicht die Harmonie aus dem Gleichgewicht bringen kann. Die Architekten von OFIS aus Ljubljana haben sich dieser Herausforderung gestellt, indem sie die Natur in das Haus einladen. Wie der Name schon verrät, besteht das Glass House beinahe komplett aus Glas und wirkt wie ein Kristall, eingefasst in Metall. Auch der Grundriss des 20-Quadratmeter-Refugiums ist kristallin. In dessen Mitte gibt es lediglich einen geschlossenen Kern, in dem sich die Toilette verbirgt. Falls es die Bewohner auch in Bad, Schlaf- und Wohnzimmer etwas privater möchten, gibt es Vorhänge. Diese schützen nicht nur vor fremden Blicken, sondern vor allem auch vor der Sonne. Wer soll in dieser Mondlandschaft schon hineinlinsen? Seinen Reiz zieht das Glass House aus seiner Offenheit. Felsen, Gestrüpp und Schattierungen
des Himmels reflektieren an den gläsernen Wänden. Die Sonne glasiert sie mit schönen, immer wieder neuen Lichtspektren. Wer im Glashaus sitzt, wird von Natur umfangen. Doch auch wenn die Landschaft um Gorafe bezaubernd wirkt – sie kann durchaus ungemütlich werden. Es ist schließlich eine Wüste, auch „Badlands“ genannt. Die Temperaturen schwanken je nach Jahreszeit um 50 Grad – eine weitere Herausforderung, an der ein Team aus Ingenieuren und Energieberatern von AKT II aus London und Mitarbeiter von Transsolar Energietechnik aus München gearbeitet haben. Initiiert hat das Projekt Guardian Glass – um zu zeigen, wie sich ihre Produkte unter widrigen Umständen beweisen können. Verschiedene Glastypen wurden verbaut, die das Innere dieses begehbaren Kaleidoskops gegen Hitze, Kälte und UV-Licht schützen. Das Planungsteam hat seine Kenntnisse gebündelt, um den Bewohnern des Glass House auch in der Wüste Komfort bieten zu können. Nur auf eine Küche müssen sie verzichten. Nachts kann man sich umfangen von einem spektakulären Sternenhimmel in die Kissen sinken lassen. Die außergewöhnliche Unterkunft soll künftig auch über Airbnb buchbar sein.
© Guardian Glass, LLC, Foto: Gonzalo Botet
Mehr Bilder: www.heinze-dear.de/_0640
Glass House Ferienhaus bei Gorafe, Andalusien 20 Quadratmeter Bauherr: Guardian Glass Fertigstellung: 2018 Projektarchitekten OFIS / www.ofis-a.si Fotografen Gonzalo Botet / www.gonzalobotet.com José Navarrete
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PROJEKTE
DIE KUNST DES BAUENS
WER WILL? JEAN VERVILLE!
TEXT: TIM BERGE FOTOS: MAXIME BROUILLET UND FRANÇOIS BODLET
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Jean Verville, Wohnhaus St Adolfe d’Howard, Kanada, 2017. Foto: Maxime Brouillet
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PROJEKTE
Wo verläuft die Grenze zwischen Architektur und Kunst? Dieser viel und oft erforschte Grat spielt im Leben und Werk des kanadischen Architekten Jean Verville eine bedeutende Rolle. Er ist auch das Thema seiner Doktorarbeit. Und tatsächlich gelingt es ihm, dass beide Disziplinen in seinen Projekten nicht nebenoder an-, sondern miteinander entstehen. Auf einer Reise hin zur Abstraktion, die er gemeinsam mit seinen Bauherren antritt.
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Ungewöhnliche Oberflächen, unerwar-
Schon das kleine Studio des Architekten in Montreal liest sich als Ausrufezeichen von Jean Vervilles Verständniss von Raum: Der Nutzer, in diesem Fall der Architekt selbst, wird Teil eines bildlichen Experiments. Als Kontrast zur silbernen Fassade hat Verville den 15 Quadratmeter großen Raum komplett mit OSB-Platten verkleidet. Jean Verville: Studio IN 1, Montreal, 2017. Foto: François Bodlet
tete Räume und intime Universen: Das ist die Mischung, auf die man sich als Besucher eines Jean-Verville-Objekts gefasst machen muss. Er vermischt in seiner Architektur den funktionalen Raum mit Kunst und einer abstrakten Persönlichkeitsinterpretation seiner Bauherren. „Meine Projekte sind konzeptuelle Porträts von Kunden“, erklärt er dann auch seinen systematischen Gestaltungsansatz, mittels dessen er einzigartige Umgebungen kreiert, die die Persönlichkeiten ihrer Bewohner transportieren. „Ich bin in erster Linie Architekt, aber ich bin auch ein Künstler“, sagt der 46-jährige Verville, der sein Studio in Montreal betreibt. Hier findet sich auch gleich ein erstes Ausrufezeichen seines Verständnisses von Raum, bei dem der Benutzer Teil eines bildlichen Experiments ist, in dem die sinnliche Wahrnehmung die physischen Grenzen des Ortes überschreitet. Die blecherne Außenhülle des 15 Quadratmeter großen Schuppens ließ der Gestalter mit silberglänzender Farbe überstreichen. Als Kontrast dazu ist der gesamte Innenraum mit OSB-Platten verkleidet, deren unregelmäßige Oberfläche aus verleimten Holzspänen die Unzulänglichkeiten des alten Gemäuers überdeckt. Über der Arbeitsfläche hängt ein mysteriös anmutendes Volumen: Erst
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PROJEKTE
Jean Verville: Apartment IN 2, Montreal, 2017. Fotos: Maxime Brouillet
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bei näherer Betrachtung zeichnen sich dünne Fugen ab, die mal eine Zugangsluke und mal ein Fenster andeuten. Die Umbauten von zwei Wohnungen in Montreal setzen die konzeptuelle Serie von Raumexperimenten Vervilles fort. Die Bauherren ließen sich dazu auf eine ungewöhnliche Kooperation mit dem Planer ein, der seine Kunden ins Zentrum seines Gestaltungsansatzes stellt und sie mit seinen architektonischen Interventionen herausfordert. Der Umbau eines 102 Quadratmeter großen Apartments wird vollständig von der Gegenüberstellung der beiden Farben Schwarz und Weiß dominiert. Für Verville ein Element der Abstraktion. Er teilte den Grundriss diagonal in zwei Hälften: In der einen sind sämtliche Oberflächen und Objekte schwarz, in der anderen weiß. Das 160 Quadratmeter große Loft eines Musikers gliederte Verville ebenfalls durch den Einsatz unterschiedlicher Oberflächen: Durch die Mitte der Etage läuft ein vertikales goldenes Band, hinter dessen Türen aus gebürstetem Messing sich Kleiderschränke und Stauraum verbergen. Die Sichtbetondecke beließ der Architekt in ihrem Rohzustand, Boden und Vorhänge sind in Grau gehalten und bilden einen neutralen Rahmen für die zentrale Metall installation.
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PROJEKTE
„Meine Projekte sind konzeptuelle Porträts von Kunden.“
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Jean Verville: Apartment IN 3, Montreal, 2017. Fotos: Maxime Brouillet
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PROJEKTE
„Ich bin in erster Linie Architekt, aber ich bin auch ein Künstler.“
Von einer Komplizenschaft des Architekten mit seinen Kunden zeugen ebenso wie die Apartmentumbauten die beiden Einfamilienhäuser Fahouse und St Adolfe d’Howard. Die Gebäude, beide inmitten von Wäldern gelegen, rücken das Zusammenleben in den Fokus: Räume überschneiden sich, fließen ineinander und bilden ein spielerisches Szenario für die Bewohner. Die äußere Gestalt könnte von Kindeshand entworfen worden sein – einerseits entspricht sie dem Archetypus eines Hauses, andererseits wirkt sie wie die überdimensionale, abstrakte Interpretation eines Baums. Damit hat Jean Verville zwei weitere beeindruckende Porträts seiner Bauherren geschaffen, in denen die Grenzen zwischen Architektur und Kunst sowie Planer und Auftraggeber eine neue Definition erfahren.
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Mehr Bilder zu allen Projekten: www.heinze-dear.de/_0646
www.jeanverville.com
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Jean Verville: Fahouse, Cantons de l'est, Kanada, 2016. Fotos: Maxime Brouillet
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EDITOR’S PICK — KURZE BEINE
TULOU Eine Schale auf vier Beinen: Für diesen kleinen Beistelltisch haben sich Stine Gam und Enrico Fratesi von einem Tablett inspirieren lassen. Tragbar wird dieser Coffee Table von GamFratesi für Hay durch den umlaufenden Haltegriff auf der Unterseite der gewölbten Stahlplatte. Nach seiner Premiere auf der Milan Design Week ist Tulou jetzt auch in Deutschland erhältlich. Laufen kann er zwar nicht, aber jede Menge tragen. www.heinze-dear.de/_06561
LAZLO Philipp Mainzer (e15) denkt mit seinem neuen Beistelltisch Lazlo den Tisch Kazimir weiter, wobei nun Travertin oder Marmor auf dem Stahlgestell aufliegen. Da stellt sich gerne noch der glänzende Tablett-Tisch Habibi dazu.
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PIG Dieser abstrakt-niedliche Beistelltisch des chinesischen Designers Mario Tsai möchte sich bewegen, doch sind die Stahlbeine des Pig Side Tables starr und festgewachsen. Dafür kann man in seinem Bauch jede Menge Dinge verstecken, sodass die eigentliche Tischplatte wie eine leere Bühne frei bleibt.
cre:ate
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Ein Labor voller Schutt: Die beiden Designerinnen Luisa Rubisch und Rasa Weber haben mit They Feed Off Buildings ein Recyclingunternehmen gegründet, das Terrazzo neu erfindet. Preisverdächtig: Soeben wurde Urban Terrazzo vom German Design Award 2019 als Newcomer vom Rat für Formgebung ausgewählt und in die Endauswahl für den Green Product Award 2019 aufgenommen.
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URBAN TERRAZZO
Botschaft aus Beton Ein frisch gegründetes Designkollektiv schreibt in Berlin Materialgeschichte, indem es Stadtgeschichte konserviert. Das Ergebnis ist bunter Terrazzo. Die Zutaten dafür werden vom Projekt They Feed Off Buildings aus urbanem Bestand gewonnen. Mit ihrer poetischen Herangehensweise haben die UdK-Absolventen eine klare Botschaft: Jedes Ende ist ein Neuanfang.
TEXT: TANJA PABELICK FOTOS: HANNES WIEDEMANN & TFOB
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URBAN TERRAZZO
Urban Terrazzo kann an seinem neuen Bestimmungsort als Wandverkleidung, Bodenbelag oder Fassade wiederverwertet werden.
In der Fertigungshalle wird gesiebt und sortiert, nicht nur nach Größe, sondern auch nach Farbe. Die Steine werden zerschlagen und zerrieben. Kiesel werden zu Zuschlag, Staub zu Pigment. Später werden die Zuschläge im Zement als terrazzotypisches Fleckenmuster sichtbar.
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Die Karriere des eigentlich aus der Antike stammenden Terrazzo begann als günstige Alternative zu Naturstein. Glas, Bruchsteine oder Kiesel kommen in flüssigen Estrich, nach dem Gießen und Trocknen wird die Fläche abgeschliffen und die Zuschlagstoffe liegen als Fleckenmuster frei. Populär war Terrazzo in der nüchternen Behördenarchitektur der Fünfzigerjahre, wurde dann von den poppigen Postmoderne-Designern rund um Memphis wiederbelebt und steht derzeit im Zuge der frisch aufgeflammten Liebe zu Carrara und Co. wieder auf der Trend-Agenda. Neu ist, dass aus Terrazzo nicht nur fugenlose Böden werden, sondern auch Vasen, Beistelltische oder Bänke. Neben Glasstücken und Natursteinkieseln wird mit weiteren Zutaten experimentiert. Das Kollektiv They Feed Off Buildings, kurz TFOB, nutzt den Umstand, dass man sich in seiner Heimat Berlin mit dem kontinuierlichen Abriss von Gebäuden auskennt. Seit Jahrzehnten gehören Kräne und Schuttcontainer zum Stadtpanorama. Die lange vernachlässigten Altbauten einer geteilten Stadt wurden sukzessive modernisiert, Plattenbauten gesprengt und öffentliche Funktionsgebäude durch Prestigearchitektur ersetzt. Was bleibt, sind Trümmer: Beton, Ziegel und andere Bau stoffe. Abfälle für die Halde. TFOB, die sich aus einer Gruppe von Materialforschern, Designern, Architekten, aber auch Fotografen und Filmern zusammensetzen, sehen im Schutt hingegen eine ungenutzte Ressource mit narrativen Potenzialen. Die Gestalter zerlegen die Reste und sortieren nach Farben, Material und Dichte. Großes Geröll wird zu kleinem zerschlagen, und alte Ziegel werden zu Farbpigmenten zerrieben. Jedes Gebäude zeigt am Ende seine individuelle Zusammensetzung als eine Art DNA der Bausubstanz. Aus den gewonnenen Ausgangsstoffen komponiert sich ein neues Material. Dafür haben TFOB ihre Werkstatt bewusst als mobiles Testlabor entwickelt. Ihre kleine Fertigungsstraße installieren sie vor Ort, hier entstehen erste Materialproben: Testkacheln, die von rotem Backsteinpigment eingefärbt sind oder sich dank
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URBAN TERRAZZO
Jedes Gebäude hat seine ganz eigene „Material-DNA“, die dem späteren Material seinen individuellen Charakter gibt. Was in der deutschen Hauptstadt begann, führen Luisa Rubisch und Rasa Weber in Prag weiter. Hier realisieren sie derzeit ein Projekt – „from building to site“.
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grüner Ziegel in einem Pistazienton zei-
Urban Terrazzo. Um langfristig auch umfangreicheren An-
gen. Terrazzo, der wieder zu Terrazzo wird. Beton, der graue Muster in Beton erzeugt. Tatsächlich liegt für die Gestalter der Vergleich mit einem Rezept nahe. „Es ist wie bei einem guten Brot. Der Prozess hängt stark von der Verfügbarkeit lokaler Ressourcen und den spezifischen Gegebenheiten ab. So wie jede Region individuelle Getreidesorten hervorbringt, versorgt uns jedes Gebäude mit ganz einzigartigen Baumaterialien. Die architektonischen Überreste bilden den Ausgangspunkt für die Zusammensetzung“, erklären die Initiatorinnen des Projekts Luisa Rubisch und Rasa Weber. „Und es ist uns wichtig, dass unsere Materialien dem technologischen Standard entsprechen.“ Stimmen die statischen Parameter der Nullserie nicht, wird beispielsweise durch das Hinzufügen von hochfestem Beton die Beständigkeit erhöht. Erst dann kann das Urban Terrazzo genannte Material an seinem neuen Bestimmungsort als Wandverkleidung, Bodenbelag oder Fassade wiederverwertet werden. Urban Terrazzo wird in einem sensiblen Designprozess in enger Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber entwickelt und in einer Manufaktur in Deutschland hergestellt. Anwendung fand der Baustoff bislang in Projekten wie einem Café, Privatwohnungen und auch im Möbelsektor. Nach dem Pilotprojekt in Berlin hat das Kollektiv bereits einen Folgeauftrag in Prag erhalten, bei dem Böden, Treppen und Tischplatten aus Terrazzo entstehen sollen. Mit dem Werkstudio von Axel Kufus arbeitet TFOB gerade an einem größeren Architekturprojekt, und ein amerikanischer Designer entwickelt einen Tisch aus
fragen gerecht zu werden, denken die Designer schon einen Schritt weiter: „Für eine großformatige Umsetzung der Produktion entwickeln wir zurzeit ein Netzwerk in Italien, welches es uns ermöglichen soll, ebenso nachhaltig zu produzieren und auch auf große Bauvorhaben eingehen zu können“, erzählt Rasa Weber. Der Ansatz ist eine kleine Revolution für die Architektur in Industrienationen. Während wir bei Produkten mittlerweile durchaus in Materialkreisläufen denken, bezieht sich die Nachhaltigkeit eines Gebäudes oft nur auf die Energieeffizienz oder die Wahl des Baumaterials. Was mit dem Gebäude nach Ablauf eines Lebenszyklus passiert, wird hingegen kaum berücksichtigt. Hier setze der Urban Terrazzo an, erklären auch die Designerinnen: „Wir begreifen Architektur jenseits eines finalisierten monumentalen Status als einen konstanten Prozess der Transformation.“ Jedes Gebäude kann so zu einem temporären Kunstwerk werden, das sich nach einiger Zeit in einem neuen Kunstwerk auflöst – und darin seine Spuren hinterlässt.
They Feed Off Buildings www.theyfeedoffbuildings.com
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FORMSACHE
Ikea Billy Bücherregal, 80x106 cm, mit Birkenfurnier und optionalem CD-Regal oben. © Magnus Bäck 64
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WOHNST DU NOCH ODER KURATIERST DU SCHON? KOLUMNE VON MAX SCHARNIGG
Gerade war ich in einer sauberen schwedischen Kleinstadt,
Eigentlich war Ikea so was wie unsere Eltern – nicht besonders
mitten im Wald. Es war zufällig der Ort, an dem der sympathische Weltkonzern Ikea gegründet wurde, und deswegen gibt es dort heute einen lustigen Kreisverkehr mit Straßenschildern, die in die ganze Welt zeigen. Und es gibt natürlich noch jede Menge Ikea in Älmhult. Ein Museum, ein Test-Lab, ein modernes Headquarter mit netten Kaffeetrink-Zonen für die Mitarbeiter und auch das Studio, in dem immer noch der Katalog fotografiert wird. Die Menschen hier sind alle auf diese skandinavische Art froh und frisch gewaschen, sie rufen: „Hej, hej!“, und wenn sie hören, dass man Journalist ist, fallen ihnen sofort sehr viele Floskeln aus dem Mund, die gut klingen und immer eine Variation von „People-Planet-Happiness-Children-Play-Nature-Sustainabilty-Democratic“ enthalten. So ist das eben bei den großen Duz-Konzernen heute. Jeder einzelne hat die Aufgabe angenommen, die Welt zu retten. Aber davor müssen erst noch ein paar Millionen Einheiten Irgendwas verkauft werden. Abends werden für die geladenen Influencer Lachse gegrillt, Hipster-Hüte aus kultigen Ikea-Taschen verteilt und die Kooperationen für die nächsten Jahre vorgestellt. Adidas. Lego. Stefan Diez. Olafur Eliassaon. Klare Botschaft: Ikea-Sein reicht nicht mehr. Billy-Regal und heimische Kartonschlacht reichen nicht mehr. Es wird demnächst einen BluetoothSpeaker von Ikea geben, auf dem Sonos steht. Es wird einen Fake-Perser des US-Designers Virgil Abloh geben, auf dem subversiv „Keep Off “ eingewebt ist. Eine Kollektion für Millennials, eine von Solange Knowles und eine für professionelle Computerspieler. Cool. Genau das ist das Problem. Das neue Ikea ist so cool, dass es sich nicht mehr nach Ikea anfühlt. Dabei hatte diese Marke doch gerade jene Form der würdevollen Gelassenheit erreicht, die jedem gut steht, der das 75. Lebensjahr erreicht hat. Man war endlich jenseits der Bürowitze angekommen, jenseits der Billig-, Kopie-, Aufbauanleitung-Diskussionen.
cool, aber eben doch lebenswichtig. Jeder vernünftige Mensch ging ein- bis zweimal im Jahr hin, holte sich die drei Sachen, die er nur hier zu diesem Preis bekam, dazu zehn Dinge, die auf dem Weg zur Kasse in den Wagen sprangen und dann noch einen Hotdog, weil es eh schon egal war. Man war nicht stolz, aber auch nicht irgendwie beschämt, die Marke begleitete einen durchs Leben, und der Katalog lag auf dem Klo. Sicherlich, aus Sicht der Marketingabteilung ist dieser Zustand kein erstrebenswerter. Aber die massive Aufladung mit Subkultur und Fremdmarken jetzt, die limitierten Editionen und das eingekaufte Autorendesign machen die Sache unnötig kompliziert. Als würde ein angenehm ruhiger Nachbar auf einmal mit Ausdruckstanz und Schlagzeug anfangen. Wieso muss Massenware plötzlich cool werden? Werden die jungen Individualisten es dem Konzern danken, dass er sie so kräftig umwirbt? Werden in Studentenwohnheimen die Ikea-Sofas von Tom Dixon und die ironischen Teppiche von Herrn Abloh einziehen? Muss man diese Dinge künftig begehren, und wird der Ausflug zu Ikea zu einem Akt der Popkultur? Ich glaube nicht. Ich glaube, Ikea verzettelt sich und wird in ein paar Jahren wieder ganz einfaches Zeug machen, ein bisschen nett, ein bisschen langweilig, in sehr großen Stückzahlen. Macht nichts. Der vegetarische Hotdog, der in Älmhult vorgestellt wurde, wird bleiben, denn der war gar nicht so übel. Und die Welt können sie trotzdem retten.
Max Scharnigg schreibt über Stil und Lebensart bei der Süddeutschen Zeitung und über Reisen, Leben und Liebe in seinen Büchern. Seine eigene Wohnvorstellung realisiert er gerade in seinem Landhaus, was man auf Instagram verfolgen kann. www.scharnigg.de
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Die Airtool genannte Möbelkollektion von Pentatonic basiert auf einem Stecksystem für Stuhl und Tischfüße. Das Hartplastik der einzelnen Elemente wird aus PET-Flaschen hergestellt. Foto: Pentatonic
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MÖBEL AUS MÜLL Für die einen klingt Upcycling nach Sperrmüll, Flohmarkt oder ausgewaschenen Joghurtbechern, für die anderen nach einem guten Geschäftsmodell. Wir stellen drei Start-ups vor, die auf Kreislaufwirtschaft setzen, uns unseren Müll verkaufen und: diesen im Zweifel sogar noch mal zurücknehmen.
TEXT: STEPHAN BURKOFF
Ist die Geschichte des Kunststoffs, wie Fabio Novembre kürzlich in einem Interview (DEAR Nr. 1/2018) behauptete, eine Geschichte voller Missverständnisse? Von dem äußerst praktischen, preiswerten und flexiblen Werkstoff Plastik können wir uns jedenfalls als Konsumgesellschaft nur schwerlich trennen. Mit all den Folgen, die wir derzeit täglich auf sämtlichen Kanälen vorgehalten bekommen. Auch wenn europäische Länder die Plastiktüte bannen: Unser Auswurf an Polyethylen und verwandten Werkstoffen ist gigantisch. Die Kreislaufwirtschaft und das Ressourcenmanagement gewinnen daher als Themen zunehmend an Bedeutung, das lineare Wirtschaftsmodell „Kaufen, benutzen, entsorgen“ stößt an seine Grenzen. Nachdem der Mobilitätsmarkt, unendliche Welten der Dienstleistung und Bringdienste weitestgehend erschlossen sind, drängen Entrepreneure in das Feld des Umweltschutzes, des quasi schuldgefühlfreien Konsums. Sie haben das Geld. Sie haben die Ideen.
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KLARE KANTE AUS BERLIN Ein Beispiel ist die in Berlin von kunststofferfahrenen Gründern entwickelte Marke Pentatonic. Warum nicht etwas Neues aus alten PET-Flaschen schaffen und dabei auch noch den Megatrend der Individualisierung integrieren? Pentatonics Produkt basiert auf einem Verbundsystem für Stuhl- und Tischkompositionen. Das Unternehmen bezeichnet sich als erste kreislaufwirtschaftliche Möbelmarke. Verkauft wird direkt an den Konsumenten – ohne Zwischenhändler, ohne stationären Handel. Die Marke produziert selbst und will alles kontrollieren. Dabei herausgekommen ist ein modulares Möbelsystem, das sich nicht nur für zuhause und das Büro eignet und dabei so wandelbar ist, dass man es immer wieder neu konfigurieren kann. On top kommt, dass Pentatonic es, wenn man es wirklich nicht mehr haben möchte, sogar zurückkauft: defekt oder heil, zu 15 Prozent des Einstandspreises. Das Gleiche gilt für die Wassergläser aus alten Displays oder Akustikpaneelen aus PET. Bei Pentatonic gibt es keinen federführenden Designer. Das Produkt wird von Materialwissenschaftlern, Maschinenbauern, Ingenieuren und Designern im Team gestaltet. Eine Einzelleistung herauszustellen, liegt dem Unternehmen fern. Bis auf das zentrale Verbindungselement der Stuhl- und Tischkollektion, das auch patentiert werden soll, ist alles eine Gruppenleistung. Keine Schrauben, keine Klebstoffe – den Aufbau übernimmt der Kunde selbst und ohne Werkzeug, in einer eigenen Konfiguration. Das klingt nach Ikea mit gutem Gewissen.
Das Air-tool Tischgestell basiert auf demselben System wie der Stuhl. Die Tischplatte ist frei wählbar, die Tischhöhe kann durch die verwinkelten Beine verstellt werden. Foto: Pentatonic
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WEICHE RUNDUNGEN AUS BELGIEN Auch Kinderspielzeug wird heute mehrheitlich aus Kunststoffen gefertigt. Auch wenn dessen Haltbarkeit oft Generationen überdauert, verbindet man Holzspielzeug mit einer gewissen Waldorfästhetik: Es ist einfach nicht mehr cool genug. Mit dem Ergebnis, dass heutige Kinderzimmer in Fluten von Plastik ertrinken – insbesondere weil die oft sehr preiswerten Spielzeuge so ausgelegt sind, dass schon häufig vor dem kindlichen Interesseverlust die Sollbruchstelle knackt. Häufig sind sie weniger als sechs Monate in Verwendung. Zeit also für EcoBirdy. Vanessa Yuan und Joris Vanbriel, die Gründer des belgischen Start-ups, lassen altes Plastikspielzeug zu neuen Möbelstücken werden. Ihre erste Kollektion von Kindermöbeln präsentierte das junge Unternehmen auf der Designmesse Maison & Objet in Paris im Januar 2018. Als Ergebnis der zweijährigen Forschung zum Thema kamen dabei ein Kinderstuhl und ein Tisch, eine Aufbewahrungsbox und eine Leuchte heraus. Für diese erste Kollektion nutzte EcoBirdy ausschließlich europäischen Plastikmüll. Sorgfältige Sortierung und Reinigung soll garantieren, dass das recycelte Material frei von Schadstoffen ist. Die Möbelstücke mit weichen Kanten und glatten Oberflächen sind pflegeleicht und stabil. In einem schönen Film zum Projekt wird vorgestellt, wie es funktioniert: Altes Plastikspielzeug wird eingesammelt, sortiert, verarbeitet und kommt hernach in neuer Form ins Kinderzimmer zurück.
EcoBirdy setzt auf Möbel aus altem Plastikspielzeug. Spielzeugreste werden gesammelt, sortiert, gereinigt, geschreddert und zu neuen Formen verpresst. Foto: EcoBirdy
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HARTE PLATTE AUS DÄNEMARK Auch in der Textilindustrie fallen große Mengen an Polymer-Abfall an. Und dabei nicht nur in Form von Zuschnittresten oder Alttextilien, sondern auch als Abrieb und, naja, Flusen, denn ein großer Teil der zu verwertenden Textilien stammt aus industriellen Wäschereien, die Hotelwäsche und Handtücher sowie Krankenhaus- und Restaurantuniformen verarbeiten. Seinen eigenen derartigen Abfall verwertet der dänische Textilverlag Kvadrat. Gemeinsam mit dem Startup-Label Really werden aus ebendiesen Textilresten und Alt textilien Faserplatten hergestellt. Das entstehende Material ist so stabil wie Holz und dabei viel flexibler. Die sogenannten Solid Textile Boards, ein hochentwickeltes High-Density-Material, soll andere Materialien in Möbeln und Architektur ersetzen. Noch befindet sich das Material im Teststadium. Seinen ersten Auftritt hatte Really beim Salone del Mobile 2017 mit einer Kollektion an Möbeln, die der Designer Max Lamb erarbeitet hatte. Er entwarf zwölf Bank-Prototypen, die vor allem mit der flächigen Anmutung des Materials spielten. In diesem Jahr war das Unternehmen mit seiner zweiten Kollektion in Mailand vertreten. Gezeigt wurden Projekte von sieben Designern, die das Potenzial von Solid Textile Board für Möbel und Innenräume ausloten sollen. So schön kann Umweltliebe sein. Am Ende bleiben vermutlich alle drei Beispiele nicht mehr als ein heißer Plastiktropfen auf den kalten Stein – auch wenn das die Investoren wahrscheinlich anders sehen. Ratsam wäre es dennoch, schlicht weniger Müll zu produzieren, statt einen geringen Anteil dessen wieder in unsere Wohnungen und Büros zu holen. Wobei: Wenn die Kreislaufwirtschaft zu einem ernstzunehmenden Modell würde und alles was rein-, auch wieder rauskäme, nun ja, dann kämen wir ins Geschäft. Es kommt doch alles irgendwie zurück.
www.pentatonic.com www.ecobirdy.com www.reallycph.dk
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Really fertigt aus Textilresten sogenannte Solid Textile Boards. Sie sollen im Möbel- und Innenausbau Hölzer ersetzen. Der Entwurf für das Regal zum Aufklappen stammt von dem Designer Benjamin Hubert (im Bild). Foto: LAYER
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Foto: © Eunuk Nam
NEWCOMER
VON TANJA PABELICK
PORTABLE KITCHEN HOOD Gerade in kleinen Küchen ist es manchmal schwierig, einen Luftfilter über den Töpfen zu montieren. Der Designer und Absolvent der Écal in Lausanne, Maxime Augay, hat eine mobile Absaugeinheit entwickelt, die direkt neben dem Herd platziert wird. Der knallrote Portable Kitchen Hood erinnert an einen Standventilator, saugt die Luft allerdings ein, statt sie zu verwirbeln.
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Auf dem Weg durch das Gerät wird die Luft durch zwei austauschbare Filter gereinigt. Sauber bleibt auch der Arbeitsplatz: Nach dem Kochen verschwindet der Portable Kitchen Hood mit den Töpfen im Schrank. Maxime Augay www.maximeaugay.com
©2017 Steelcase Inc. Alle Rechte vorbehalten. Die hierin enthaltenen Handelsmarken sind Eigentum der Steelcase Inc. oder ihrer jeweiligen Besitzer.
Die Zukunft der Arbeit ist kreativ Steelcase und Microsoft arbeiten zusammen, um zu erforschen, wie Arbeitsplätze die kreative Leistung noch erfolgreicher fördern können. Dabei wurden sogenannte Creative Spaces entwickelt – ein integriertes Ökosystem aus Raum- und Technologielösungen für die vielfältigen Arten der kreativen Arbeit. Ziel ist es, Unternehmen zu helfen, den Wandel hin zu mehr kreativer Arbeit zu beschleunigen. Erfahren Sie mehr unter www.steelcase.de/kreativitat.
EDITOR'S PICK — HUNDSTAGE
MYKITA STUDIO 1.4 LUXE LIE-ON FLOAT CACTUS Das Einzige, was bei diesem Kaktus von Sunnylife sticht, ist die Sonne, wenn man zu lange mit ihm im Pool treibt.
Eine filigrane Schönheit ist diese Sonnenbrille aus der MykitaStudio-1-Kollektion. Gekrönt wird das feine Gestell von einer radialen Art-déco-Referenz. Erhältlich in drei Farben, hier: Champagne Gold / Ebony Brown.
356 CHAISELONGUE Diabla ist das Pop-Label des spanischen Herstellers Gandiablasco. Auf ihrem Strandbett von Pablo Gironés fühlt man sich wie von einer Welle getragen. Die Inspiration für das stromlinienförmige Möbel stammt von den ersten 356er-Porsche-Modellen aus den Fünfzigern. www.heinze-dear.de/_06761
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Kaum ein Badetuch ist so modeaffin wie dieses Zickzackexemplar des Mailänder Fashionlabels Missoni.
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UUSI MATKURI PIKKU LOKKI Marimekko kombiniert Sonne, Sand und Wellengang zu einem zitronengelben Muster, das nicht nur am Strand für einen guten Auftritt sorgt.
FARNIENTE So wird Abhängen salonfähig: Für Paola Lenti hat das Mailänder Architektur- und Designbüro Bestetti Associati eine Hängematte aus buntem und wetterbeständigem Seilgarn gestaltet. www.heinze-dear.de/_06771
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Retail im Umbruch Wie die Grenzen zwischen Ausstellung, Marketing und Verkauf verschwimmen
VON ANDREJ KUPETZ
Der Salone del Mobile 2018 hat es verdeutlicht: Die Welt des Designs dreht sich schneller, aber auch das öffentliche Interesse an Gestaltung erreicht ungekannte Höhen. Die diesjährigen Zahlen der wichtigsten Möbelmesse sprechen eine deutliche Sprache: 434.000 Besucher, ein Zuwachs von satten 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (nach einem Anstieg von 17 Prozent schon im Jahr zuvor). Die wichtigen Messen, vormals in erster Linie Marketing-Veranstaltungen für einen überschaubaren Personenkreis aus Wirtschaft und Medien, haben sich längst zu begehrten Events für eine breite designinteressierte Öffentlichkeit entwickelt und wirken oftmals direkt bei der Kaufentscheidung mit. Während der Designwoche öffnen alle großen Showrooms in der Mailänder Innenstadt ihre Tore und präsentieren die lang erwarteten Neuheiten in quasi musealer Atmosphäre. Die Stores, die eigentlichen Verkaufsflächen des stationären Handels, zeigen nicht mehr ein möglichst umfassendes Produktportfolio – dieses lässt sich dank digitalem Wandel ohnehin jederzeit 78
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online einsehen –, vielmehr geht es um die außergewöhnliche Ausstellungsinszenierung, die die Besucherin und den Besucher in den Bann schlägt sowie die gelungene Veranstaltung, die in Erinnerung bleibt. Die Digitalisierung verändert unsere Vorstellung von Retail grundlegend. Die These: Die klassische Trennung von Ausstellungsfläche, Präsentationsfläche und Verkaufsfläche hat ausgedient. Käufe werden in zunehmenden Maße zuhause online getätigt. Dies soll kein Abgesang auf den Retail-Store sein, zweifellos aber muss er sich den neuen Verbrauchergewohnheiten anpassen und seine Grundintention radikal überdenken: Stores und Showrooms sind nun auratisch aufgeladene Orte, in denen die Image- und Markenbildung oftmals wichtiger als die Produktpräsentation sind. Sie sind nicht länger Point of Sale, sondern Point of View. Auch Design Awards wie die vom Rat für Formgebung im Rahmen des Salone del Mobile verliehene Nachwuchsehrung ein&zwanzig verändern sich vor diesem Hintergrund und erhalten eine stärkere Bedeutung für den Retail-Bereich: Sie sind die große Bühne der Marken- und Produktinszenierung – eine Funktion, die sich mit der zeitgemäßen Präsentations- und Retail-Fläche zunehmend überschneidet. Die Energie einer solchen Veranstaltung bringt mich auf den Begriff der Experimentierfläche, die zugleich Präsentation und Kaufanreiz ist. Ein Point of View, dem sich zukunftsfähige stationäre Retail-Konzepte nicht entziehen können. 79
EINE FASHION-DYSTOPIE:
Hochwertige Sonnenbrillen kauft man beim Optiker. Wenn es nach dem koreanischen Unternehmer Hankook Kim geht, sind diese Zeiten vorbei. Mit seinem Label begeistert er nicht nur Liebhaber wie Tilda Swinton, Henrik Vibskov und Alexander Wang. Kürzlich ist der Luxuskonzern LVMH mit einer Beteiligung in Höhe von 60 Millionen Dollar eingestiegen. Was steckt hinter dem Erfolg?
TEXT: KATHRIN SPOHR FOTOS: GENTLE MONSTER
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Erntezeit im Gentle Monster Downtown Los Angeles: Harvest lautet der Plot fĂźr die Shoppingkulisse, zu der auch strohartige Skulpturen gehĂśren.
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Kann es liebenswerte Monster geben? Es klingt paradox oder nach einem Märchen, aber Gentle Monster gibt es. Fantasie und Wirklichkeit zugleich. Es ist der Name einer abgefahrenen koreanischen Eyewear Brand, die derzeit nicht nur mit ihren radikalen Brillendesigns, sondern auch mit ungewöhnlichen Shops und experimentellen Installationen international Wellen schlägt. Eine traumhafte Erfolgsgeschichte. Und das, obwohl – oder gerade weil – der Name in der Modewelt kontrovers klingt, weil er das Gegenteil von Schönheit und Perfektion indiziert. Colour Blocking etwa markiert das Brillengestell Poxi: Die Gläser sind mittig mit einem rot eingefärbten Balken versehen. Es wäre der perfekte Style für die Musikerin Grace Jones der Neunzigerjahre. Und bei der aktuellen Kapselkollektion Once Upon a Future würde auch Elton John sicher fündig: Das filigrane Metallgestell Hackerzack etwa ist überdimensioniert groß, kreisförmig und hält nur ein einziges rundes Brillenglas. Ziemlich edgy, ziemlich sphärisch. Die etwas kleinere, kantigere Variante Atom Valley eignet sich nicht minder für extraterrestrische Fashion-Statements. Schnell sind Modelle vergriffen oder sogar ganz ausverkauft. Kein Zweifel, Gentle Monster hat Kultstatus. Das liegt nicht nur an den radikalen Brillendesigns, sondern auch an den ebenso ungewöhnlich und im Einklang mit den Kollektionen immer wieder neu inszenierten Geschäftsinteriors. Vom 31. Mai bis zum 18. Juni 2018 hat Gentle Monster in New York zusammen mit dem angesagten Dover Street Market Store eine Pop-up-Installation mit dem Titel Passengers gelauncht. Im Zentrum der Produktpräsentation stehen zwei
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Außerirdische auf der Reise durchs All. Es sind keine furchterregenden Monster. Ihre laborhafte Detailästhetik macht sie sympathisch.
Sollen an Reispflanzen erinnern: 2.000 Metallstangen säumen den Eingangsbereich im L.A. Store.
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VerrĂźckte Eleganz: Brillenmodell Hackerzack aus der aktuellen Kapselkollektion Once Upon A Future
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GENTLE MONSTER
Gerade eröffnet: Der Store in Hongdae, Seoul. Ein alter Mann, eine selbst gebaute Rakete und eine Reise ins Weltall – eine zauberhafte Geschichte liefert den Stoff für ein kunstvolles Einkaufserlebnis.
mannsgroße Kreaturen: Außerirdische auf der Reise durchs All. Es sind keine furchterregenden Monster. Ihre laborhafte und gleichzeitig schicke Detailästhetik macht sie sympathisch – sie könnten einem Filmset oder Bühnenbild entstammen. Passend zu diesem Setting ist die exklusive Sonnenbrillen edition Cobalt in Schwarz und Gold entstanden. In Downtown Los Angeles wurde 2017 der zweite US-Flagship Store eröffnet. Das Konzept: Harvest. Alles dreht sich hier um das Thema Ernte – in einem retrofuturistischen Look. Allein der Eingangsbereich des 1.500 Quadratmeter großen Geschäfts ist überwältigend: 2.000 Metallstangen, die Reispflanzen symbolisieren sollen, empfangen die Besucher. Jeder Store, jede Kollektion basiert quasi auf einem eigenen frischen Drehbuch und unterscheidet sich komplett vom nächsten. Das sorgt für Überraschung. Einziger roter Faden: Das Grundprinzip, jeden Shop wie eine Kunstgalerie anzulegen. Kunden tauchen in einen konzeptionellen Raum sensorischer Erlebnisse ein: Da begegnen ihnen kinetische und surreale Skulpturen, handgefertigte Objekte, Materialien und Oberflächen, die Bezug auf das jeweilige Store-Thema nehmen. Es sind intensive Retail-Welten voller Inspirationen. Gentle Monster lädt die Besucher dazu ein, immer wieder einen neuen Blick auf teils verrückte, wilde Fantasiewelten zu werfen – gefiltert durch die über- und unterproportionierten Linsen seiner Brillen. An solchen Gentle-Monster-Gesamtkunstwerken arbeiten etwa 250 angestellte Architekten, Designer, Ingenieure und Künstler. Um die 140 verschiedene Brillen-Styles werden jährlich entwickelt. Das Unternehmen wurde 2011 von dem Koreaner Hankook Kim in Seoul gegründet. Er will die Art
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DOSSIER
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Der neue Store in Sinsa, Seoul, basiert auf The White Crow, einer mysteriösen Story um einen Schwarm weißer Krähen, in die der Kunde über mehrere Etagen eintauchen kann.
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und Weise, wie Brillen gemacht, getragen und präsentiert werden, hinterfragen. Gentle Monster sollte deshalb mehr als eine Eyewear Brand sein. Kim wollte dazu High-End-Experimente entwickeln und die Grenzen zwischen Fantasie und Realität ausloten. Paradoxe Widersinnigkeit lautet das Spiel, das Gentle Monster auf jeder Designebene zum Besten gibt. Von futuristischen, abgedrehten Brillensilhouetten über die Konzepte und Visuals der Kampagnen bis hin zu experimentellen und stets anders kunstvoll gestalteten Shops, Pop-ups und Installationen. Wenn es so etwas wie ein wiederkehrendes Element gibt, dann den radikalen, herausfordernden Look der Kollektionen und Präsentationen. Von Beginn an hat Gentle Monster internationale Ausnahmekünstler und Celebrities für sein Vorhaben gewinnen können, wie Tilda Swinton, die Modedesigner Henrik Vibskov und Alexander Wang oder auch den Möbelhersteller Moooi von Marcel Wanders. So ist die Marke in einem ziemlich rasanten Tempo populär geworden. Innerhalb von nur sieben Jahren sind 15 Flagship Stores in Asien und den USA und 25 Instores in exklusiven Kaufhäusern entstanden. Auch online sind viele Modelle erhältlich, und bei ausgewählten Boutiquen weltweit. Der Service stimmt: Zum Ausprobieren zuhause gibt es temporär fünf Gestelle. Dass im vergangenen Jahr L Catterton Asia, eine Tochtergesellschaft des französischen Luxusgüter-Giganten LVMH, 60 Millionen Dollar in den Brillenhersteller investiert hat, zeigt einmal mehr, wie sehr Gentle Monster kreativer Treiber ist.
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GENTLE MONSTER
Aus der aktuellen Kapselkollektion Unce Upon A Future: Modelle Peek-A-Boo (links) und Atom Valley (rechts)
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DOSSIER Damit geht die Expansion erstmals weiter nach Europa: Im Londoner Kaufhaus Selfridges ist die Repräsentanz von Gentle Monster als Cornershop ganz neu. Inszeniert als aktueller Aufenthaltsort der Traders, außerirdischer Kreaturen, die durch den Weltraum reisen auf der Suche nach neuen Territorien. Sie tauschen Mineralien und Mikroorganismen. Wieder ein großer Nährboden an Inspiration, dem eine eigene Kollektion entspringt. Und im ebenfalls frisch fertiggestellten Store in Seouls Szeneviertel Hongdae lautet das Sujet The Rocket: ein Fantasy-Märchen um einen alten Mann, der sich entschließt, eine Rakete zu bauen, um damit zu einem fremden Planeten zu reisen, auf dem er seinen Hund im Traum getroffen hat. Viele unerwartete und künstlerische Details nehmen im Interiordesign Bezug auf diese Reisegeschichte.
In einer Zeit, die dem Retail das Ende voraussagt, lernt man von Gentle Monster, wie Einkaufserlebnisse zur visuellen Bereicherung und Herausforderung werden können. Die gehypte Marke schafft es damit, die Welt des mainstreamigen Luxusshopping um etwas Geheimnisvolles, Rätselhaftes zu bereichern. Und zeigt sich dabei natürlich auch als extrem Instagram-tauglich!
www.gentlemonster.com
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RETAIL SUMMIT IN TIFLIS
RETAIL SUMMIT IN TIFLIS
DER STATIONÄRE HANDEL IN DER ZUKUNFT 90
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DOSSIER
Die Welt ist im Wandel. Digitalisierung, Globalisierung und Urbanisierung verändern unser Leben, unseren Alltag, unser Kaufverhalten. Neue Technologien werden es uns zukünftig ermöglichen, unsere alltägliche Bedarfsdeckung gänzlich digital, automatisiert und ortsunabhängig zu erledigen. Andererseits suchen wir nach „realen Erlebnissen“ und setzen uns bewusster mit den Geschichten der Marken auseinander. Diese Polarisierung zwischen reiner Bedarfsabdeckung (online) und dem in die Freizeitkultur integriertem Erlebniseinkauf (stationär) wird den Handel der Zukunft prägen. Die derzeit dafür notwendigen Handelsflächen werden sich weiterhin dramatisch reduzieren oder neu orientieren müssen. Wie sehen zukünftig erfolgreiche Shop-Formate aus? Welchen Spielraum haben Architekten und Planer in der immer mehr standardisierten Retail-Welt, und wie können die Beteiligten zu identitätsstiftenden Konzepten kommen? Wieviel Digitalisierung ist sinnvoll und wofür? Welchem Wandel sind dabei die Städte ausgesetzt, und kann der Architekt die Transformation mit sinnvollen Maßnahmen begleiten und lenken? Diese und weitere Fragen haben 19 Planer, Architekten, Retailer und Industrievertreter mit großer Leidenschaft auf unserem Summit „Retail“ in Tiflis diskutiert und analysiert. Dabei herausgekommen sind vier Kernthemen, die aufzeigen,
welche Konzepte heute und in Zukunft in der Retail-Welt erfolgreich sind, welchen Spielraum dabei der Architekt und Planer hat und wie er die Transformation der Städte begleiten beziehungsweise lenken kann.
TEXT: KERSTIN KÖNIG UND THOMAS EHRENFRIED FOTOS: KLAUS FÜNER
Die Heinze-Summits versammeln führende Architekten und Innenarchitekten sowie richtungsweisende und visionäre Industrie-Partner zu mehrtägigen Intensiv-Workshops. Mehr Infos unter: www.heinze.de/events/architekturevents
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RETAIL SUMMIT IN TIFLIS
ZUKÜNFTIGE SHOP-FORMATE
Digitalisierung und Offline, Globalisierung und Regionalität, Individualisierung und Wir-Kultur. Es geht nicht mehr nur um das Was, sondern um das Wie, das Woher und das Wofür. „Not the product is the experience, the experience is the product.“
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THOMAS EHRENFRIED — BEHF ARCHITECTS HENDRIK MÜLLER — EINSZU33 PHILIP NORMAN PETERSON — HOLZER KOBLER ARCHITEKTUREN CHRISTOPH STELZER — DFROST (FOTO AUF SEITE 94)
gesellschaftlichen Trends wie Globalisierung, Urbanisierung und Digitalisierung bringen aber auch immer Gegentrends mit sich. In Zeiten steigender Komplexität, konstanter Informationsüberforderung und Omnivernetztheit steigt die Sehnsucht nach einem ergänzenden, bewussteren Umgang mit unserer Zeit, unserem Körper und unseren Dingen. Unsere urmenschlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse haben sich nicht verändert. Die digitale Transformation ermöglicht eine flexiblere, an den Kunden angepasste Positionierung des Angebots. Kassenund Lagerflächen entfallen, da Kaufabschluss und Auslieferung zeitlich und örtlich unabhängig ablaufen können. Übrig bleibt der Showroom. Dem Erlebnis im stationären Handel kommt dabei immer mehr die Aufgabe zu, authentische Produkterfahrungen zu schaffen und auf subtile Art und Weise über Inspiration und Faszination eine hohe Begehrlichkeit für die Produkte zu generieren. Showrooming-Formate ohne direkte Verfügbarkeit der Produkte vor Ort werden alsbald fester Bestandteil der Handelslandschaft sein. Dem stationären Handel kommt zukünftig mehr die Rolle des Erlebnisraumes denn die eines tatsächlichen Verkaufsortes zu. Der Point of Sale wird zum Point of Inspiration. Schauräume können überall integriert sein. Die gewohnten Nutzungsgrenzen zwischen Handel, Gastronomie, Arbeit, Freizeit und Kultur, Wohnen und Mobilität verschwimmen. Die Liste der Vorteile dieser Hybridorte ist lang und könnte die Antworten auf städtebauliche Fragen der Zukunft liefern.
ADVERTORIAL
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie schnell klassische Brick-and-Mortar-Branchen, wie Videotheken oder Reisebüros, durch digitale Anbieter ersetzt wurden. Die großen
DOSSIER
HERAUSFORDERUNGEN IN DER STANDARDISIERTEN RETAIL-WELT Die Gestaltung von Retail-Flächen, insbesondere von Ketten und Handelshäusern, wird standardisierter. Materialien und Gestaltungsgrundlagen gelten in großem Umfang häufig schon vor dem Projekt als festgelegt. Gleichzeitig werden die Zyklen immer kürzer und Roll-outs neuer Konzepte immer straffer organisiert. Welchen Spielraum hat der Architekt und Planer in entsprechenden Projekten, und wie
Standardisierung im Retail-Bereich ist eine wichtige Voraussetzung, um Effizienz bei Kosten, Zeit und Funktionen zu gewährleisten. Der Grad der Standardisierung ist sehr stark vom zugrunde liegenden Geschäftsmodell abhängig. Dies reicht von einem konsequent umgesetzten CI (= hohe Standardisierung) bis hin zu einer Neuinterpretation und Individualisierung jedes einzelnen Shops. Die anteilige Gewichtung von Standard und Individualität beeinflusst den Spielraum des Architekten und Planers. Die Herausforderung ist, dem jeweiligen Modell das entsprechende Profil zuzuordnen. Für den Kunden steht dabei immer das Einkaufserlebnis im Vordergrund. Die wachsende Globalisierung und zunehmende Standardisierung im internationalen Wettbewerb führen zeitgleich zu einer Zunahme der Sehnsucht nach Individualisierung und Regionalität. Auch große Brands spüren dies und reagieren darauf. Dies erhöht den gestalterischen Spielraum für den Architekten und Planer, da das Hervorheben regionaler Aspekte die Möglichkeit eröffnet, sich als „Marke“ abzugrenzen, einen Mehrwert zu generieren und damit dem Kunden das größtmögliche Einkaufserlebnis zu bieten. Die direkte Erfahrung der Funktionalität und Qualität und das Storytelling rund um das Produkt, die Informationen und Hintergründe zu Marke und Hersteller intensivieren das Erlebnis und wirken auf die Kaufbereitschaft ein. Die Möglichkeit der Personalisierung, macht das Einkaufserlebnis einzigartiger und erhöht damit die Begehrlichkeit.
BÉBÉ BRANSS — GEBRÜDER HEINEMANN SUSANNE GEISLER — SIXT MARK JENEWEIN — LOVE ARCHITECTURE AND URBANISM
können die Beteiligten zu identitätsstiftenden Konzepten kommen?
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RETAIL SUMMIT IN TIFLIS
DIGITALISIERUNG IM STATIONÄREN HANDEL
Die Funktion des Internets wandelt sich rasant vom reinen Markenauftritt hin zum primären Ort des Verkaufs. Werden Läden warenlos sein? Wird es Showrooms geben, in denen der Kunde den Kontakt mit der Ware rein virtuell hat? Mit einer Anprobe via Großbildschirm? Same-Day-Delivery der ausgesuchten Produkte mit der Drohne nach Hause? Was ist wann erfolgreich, wieviel Digitalisierung ist sinnvoll und wofür?
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CHRISTOPH STELZER — DFROST YVONNE KLEMKE — JUNG & KLEMKE WOLFGANG HARDT — BURCKHARDT UND PARTNER
format und Profil des Händlers oder der Marke entspricht und ein Baustein innerhalb eines ganzen Konzeptes oder einer Gesamtstrategie ist. Alle digitalen Maßnahmen, egal ob vor, in oder beim Verlassen des Ladengeschäfts, sollten als Teil einer durchgängigen Customer Journey verstanden werden. Weniger statischer Content ermöglicht eine flexiblere Kommunikation und trägt dazu bei, Inspirationen an den Kunden zu vermitteln. Digitale Kommunikation ermöglicht es, den Kunden kurzfristiger und direkter mit Kampagnen zu erreichen. Durch die Verknüpfung über verschiedene Kanäle hinweg verlängert die Einbindung von Online-Plattformen die stationäre Ladentheke und macht einen Verkaufsabschluss auch ohne direkte Warenverfügbarkeit möglich – und das über alle Handelsformate und Größen hinweg. Zukünftig ist er nur noch als Teil eines langen Verkaufsprozesses zu verstehen. Die Bedarfsgenerierung entsteht optimaler-weise viel weiter vorne in der Customer Journey, in einem der Social- oder Multimedia-Kanäle. Auch wird das Ladengeschäft zukünftig nicht mehr zwangsweise der Ort des Verkaufsabschlusses sein, sondern versteht sich als relevanter Teil eines Handelskreislaufes. Der Kunde der Zukunft wird 360 Grad erreichbar sein und vor und nach der Erfahrung im stationären Handel mit maßgeschneiderten, hoch individuellen Angeboten angesprochen. Allein das Modell, das alle Beteiligten an dem relevanten Teil der Wertschöpfung partizipieren lässt muss noch geschaffen werden.
ADVERTORIAL
Digitalisierung ist dann erfolgreich, wenn sie dem Handels-
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GENTRIFIZIERUNG IM HANDEL, TRANSFORMATION DER STÄDTE Je nach Standort können Händler nicht davon ausgehen, dass ihre Stadt das bietet, was Stadt ausmacht oder ausmachen sollte: ein vielfältiges Angebot an Dienstleistungen, Gastronomie und Kultur. Kann dem sozioökonomischen Strukturwandel bestimmter großstädtischer Viertel überhaupt etwas entgegengesetzt werden?
talisierung, demografische Veränderungen, ökologische Aspekte sowie Migrationsbewegungen sind nur einige Beispiele, die den Bedarf und Nutzen stören. Die Gentrifizierung von Stadtteilen schafft in der Regel keine Verbesserung der Stadtteile, sondern führt vielmehr dazu, dass bezahlbarer Wohnraum und Gewerbe für die unterschiedlichsten Nutzungskonzepte nicht mehr vorhanden sind. Das Stadtviertel wird nach außen „aufgewertet“, leidet jedoch unter einem Schwund an Vielfalt und unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Die ursprüngliche Bevölkerungsstruktur und der Charakter des Stadtteils wandeln sich. Die Gentrifizierung geht einher mit einem allgemeinen Segregationsprozess. Sinnvoll wäre es, Handel und Gewerbe im Vorfeld proaktiv einzubinden. Städte und Kommunen sollten die koordinierende Rolle einnehmen und Forderungen aufstellen. Es müssen beispielsweise immer Mischstrukturen mit prozentualen Vorgaben der Verteilung aus Handel, Gewerbe und Wohnen entstehen (wie zum Beispiel gemischt genutzte Immobilien für Aldi in Berlin-Neukölln und Lichtenberg). Retailer sollten als aktive städtebauliche Entwickler frühzeitig in den Planungsprozess eingebunden werden, und Zuschüsse im Sanierungs- und Gestaltungsbereich müssen verstärkt werden. Außenraumqualität und hochwertige Grünflächengestaltung müssen – neben einer guten Verkehrsanbindung – als Anziehungskraft eines „gesunden Stadtviertels“ mit hoher Lebens- und Wohnqualität sowie vielschichtigen Angeboten im Handel- und Gewerbebereich mehr in den Fokus rücken.
LYDWINA WEGENER — MORESE ARCHITEKTEN DIETER PFANNENSTIEL — ELLIS WILLIAMS ARCHITECTS
Städte sind vielfältigen Transformationen ausgesetzt: Digi-
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RETAIL SUMMIT IN TIFLIS
Der Retail Summit in Tiflis wurde ermöglicht durch:
Licht macht nicht mehr nur hell, Licht ist intelligent geworden und reagiert auf den Nutzer. TuneableWhite, RGBWW und Human Centric Lighting mit intuitiver Bedienung. Pi-LED. Einfache Steuerung über Mesh-Netzwerke mit DALI, Bluetooth® oder ZIGBEE®. Hochinnovative, einzigartige Leuchtenentwicklungen. Wenn es um professionelles Licht geht, ist arclite® seit über 25 Jahren ein bewährter Partner. Alles aus einer Hand: individuelle LED-Leuchtenlösungen, Konzepte und Dienstleistungen. / www.arclite.de
Ob bei der Arbeit, in der Freizeit, auf Reisen, in Krankenhäusern oder Klassenräumen: Armstrong bietet innovative Deckenlösungen, die durch ihre Leistung beeindrucken und inspirieren. Armstrong hat sich zum Ziel gesetzt, die Lebensqualität von Menschen überall in der Welt zu verbessern. Besonders anspruchsvolle Kunden zufriedenzustellen, ist für das mehr als 150 Jahre alte Unternehmen kein bloßer Slogan, sondern tägliche Realität. www.armstrongceilings.com
Aurubis, 1866 als Aktiengesellschaft gegründet, ist führender Kupferproduzent und weltgrößter Recycler. Aurubis hat heute rund 6.500 Mitarbeiter in Europa und den USA sowie ein weltweites Bearbeitungscenter- und Vertriebsnetz. Aurubis kombiniert die Kupferproduktion mit der Kupferverarbeitung zu maßgeschneiderten, anwendungsspezifischen Produkten in der Architektur. Mit der NORDIC COPPER-Produktreihe kreieren Architekten individuelle Projekte und entwickeln einzigartige Varianten, die auch für künftige Generationen einen soliden Wert darstellen. / www.aurubis.com
Marazzi ist die bekannteste Marke der Keramikfliesenbranche. Sie ist in mehr als 140 Ländern präsent und gilt weltweit als Synonym für hochwertige keramische Boden- und Wandbeläge und als Ikone des Made in Italy in puncto Einrichtung und Design. Marazzi hat immer umfassende Ressourcen in seine Forschungs- und Entwicklungsabteilung investiert. Das Ergebnis sind Dutzende von patentgeschützten Technologien sowie modernste Produktionsanlagen, die ein Maximum an Produktivität und Qualität gewährleisten. www.marazzi.de
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BarriereFreiheit
Mehrfachnennungen möglich ist mir bekannt ▾
Favoriten Produktqualität
Favoriten Preis-LeistungsVerhältnis
Favoriten Innovation
Favoriten Optik/ Design
49/ ACO
Fassadenrinnen für barrierefreie Türschwellen
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50/ dormakaba
Automatiktüren, Öffnungsunterstützung, Freilauf+FSA
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51/ Erlau
Stützgriff- und Haltegriffsysteme für Sanitär/Bad
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52/ FSB
barrierefreie Beschläge und Griffe für Sanitär und Bad
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53/ HEWI
Systemlösungen für Türen, ennungen Treppen, Sanitär und Bad möglich Mehrfachn Favoriten Favoriten barrierefreie Treppenanlagen ist mir mit Kinderwagenkeilen tungsProdukt- Preis-Leis bekannt Verhältnis bodenebene Duschsysteme (geprüft, rollstuhlgeeignet) qualität ▾
Favoriten Technischer Support
◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ Favoriten Favoriten Favoriten Langlebigkeit Energie◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ Innovation effizienz ◯ ◯ ◯◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Welche herstellersteme hersteller kennen und bevorzugen sie ie im Bereich „Barrierefreiheit“? ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ _____ Balkone, Geländersy franz. anderen ◯ ◯ Absturzsicherungen, ◯ ◯ me Metallsyste ◯ 16/ Abel ◯ Fenster aus Aluminium ◯_______________________________________________________________________________________________________________________________ ◯ chnik für ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ _______________________________________________________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________ ◯ ◯ ysteme Beschlagte Metallbaus ◯ esco 17/ ◯ Holz und Aluminium ◯ ◯ Fenster aus Kunststoff, ◯ ◯ ◯ 18/ Finstral ◯ Kunststoff und Ganzglas ◯ ◯ Fenster aus Holz, Holz-Alu, ◯ ◯ ◯ nde 19/ GAULHOFER Fensterwä ◯ Mehrfachnennungen möglich me für Fenster, ◯ BüromöBel Büromö BüromöB Bel el ◯ Kunststoff-Profilsyste ◯ ◯ ◯ 20/ GEALAN ◯ chnik, Beschläge, RWA Favoriten Favoriten Favoriten ist mir Favoriten Favoriten ◯ ◯ Fenster- und Lüftungste ◯ ◯ bekannt◯ Produkt- Preis-Leistungs- Innovation Funktionalität Optik/ 21/ GEZE ◯ und Hebeschiebetüren ◯ ◯ ▾ qualität◯ Verhältnis Design Fenster, Ganzglas-Systeme ◯ ◯ Alu 22/ JOSKO ◯ Holz, Kunststoff, Alu-Ku, ◯ 56/ Bene Büroraumgestaltung, Büro- ◯ und Objekteinrichtung ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ Fenster aus Alu-Holz, ® ◯ 23/ KNEER-SÜDFENSTER GENEO ) ◯ (wie PVC aus ◯ 57/ C + P Möbelsysteme Möbel aus Stahl für Büro, Betrieb ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ Fensterprofilsysteme ◯ und Umkleide ◯ 24/ REHAU ◯ ◯ ◯ teme 58/ HAWORTH Sitzmöbel, Tischsysteme, Bestuhlungen, Loungemöbel ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ Fenstersys ◯ ◯ 25/ Schüco ◯ Fenster und Türen ◯ ◯ ◯ 59/fürNowy Styl Group Büromöbelsysteme wie Stühle, ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ Kunststoffprofile ◯Tische, Schränke ◯ 26/ Veka ◯ sehr schmalen Rahmen mitSteelcase ◯ ◯ enster ◯ ◯ 60/ Büroeinrichtungen und innovative Raumlösungen ◯ ◯ ◯ ◯ Holz-Alu-F ◯ ◯ ter ◯ 27/ VELFAC Designfens ◯ -Fenster, Tageslicht-Systeme ◯ ◯ ◯ ◯ 61/ Vitra Büromöbelsysteme wie Stühle, ◯ ◯ ◯ ◯ Dachfenster, Flachdach ◯Tische, Schränke ◯ d ◯ 28/ VELUX Deutschlan Aluminium ◯ Schiebesysteme aus Wilkhahn Büro- und Objektmöbel wie z.B. ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ Fenster, Türen,62/Falt-, ◯Stühle, Tische ◯ Schieben 29/ WICONA zum Drehen, Kippen, intelligente Beschläge 63/ WINI Büromöbel Büroeinrichtungen, Schreibtische, Sitzmöbel ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ 30/ WINKHAUS chnik“? Fensterte Bereich „Fenster/ Be bevorzugen sie im ersteller kennen und Welche anderen hersteller kennen und bevorzugen sie im Bereich „Büromöbel“? _______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Welche anderen hersteller
echnik
Fenster/Fenstert
54/ Kronimus
55/ poresta systems
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architektensoFtWare rchitektensoFtWare Ware W
Mehrfachnennungen möglich
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ist mir bekannt ▾
Favoriten Übersichtlichkeit
Favoriten Benutzerfreundlichkeit
Favoriten Effizientes Arbeiten
Favoriten Flexibilität
64/ ALLPLAN
Planungssoftware für CAD, AVA, Facility Management
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65/ AVAPLAN
AVA-Software – Erstellen von Leistungsverzeichnissen
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66/ GRAPHISOFT
BIM-Architektursoftware, CAD, ARCHICAD
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67/ ORCA AVA
Ausschreibung, Vergabe, Abrechnung, Kostenmanagement
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68/ PROJEKT PRO GmbH
Branchensoftware für Controlling und Management
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69/ RIB
Architektur-, Planungs- und ERP-Software wie „ARRIBA“
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Favoriten Kompatibilität (Software)
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Welche anderen hersteller ersteller kennen und bevorzugen sie ie im Bereich „architektensoftware“? „ rchitektensoftware“?_______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ _______________________________________________________________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
WeiterBildung
Mehrfachnennungen möglich ist mir bekannt ▾
Favoriten Nutzwert
Favoriten Qualität Referenten
70/ Brillux
Architektenforen, Brillux Akademie, Webinare
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71/ DEUTSCHE ROCKWOOL
ROCKWOOL Forum: Seminare, Schulungen, Weiterbildung
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72/ Triflex
Architektensymposien zu Flüssigkunststoffen
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73/ Wienerberger
Mauerwerkstage – Anerkannte Weiterbildung
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Favoriten Seminarunterlagen
Favoriten Praxisbezug
Favoriten Organisation
Welche anderen hersteller ersteller kennen und bevorzugen sie ie im Bereich „Weiterbildung“? ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ _______ ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ _______________________________________________________________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ _______________________________________________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________
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AR Foto: Rasmus Hjortshøj
ARCHITEKTUR
Ellen van Loon. Foto: © OMA/Frans Strous
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INTERVIEW
ELLEN VAN LOON: Ellen van Loon arbeitet seit 20 Jahren für OMA in Rotterdam. Ihr jüngstes Projekt ist gleichzeitig schon ziemlich alt und überrascht nicht bloß durch seine Größe. Bei einem Besuch im Blox in Kopenhagen, das sich als „urban space“ versteht, erzählt die Architektin mit einem fröhlichen Lächeln und unschlagbarem Charme von versteckten Zielen ihrer Projekte, ihrer Liebe zum Theater und der Freude an Komplexität.
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ARCHITEKTUR
ICH HABE NOCH NIE EIN GEBÄUDE OHNE BAR GEPLANT VON STEPHAN BURKOFF
Während der Verkehr auf der vierspurigen Straße unter dem Gebäude durchbraust, verbindet zwei Ebenen tiefer eine öffentliche Passage die Stadt mit dem Wasser: Es war OMA wichtig, dass Blox eine durchlässige Infrastruktur wird und alle Richtungen verbindet. Der Neubau ist ein dreidimensionales Puzzle, in dem verschiedenste Nutzungen aufeinandertreffen. Foto: Rasmus Hjortshøj
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INTERVIEW
Foto: Rasmus Hjortshøj
Im Mai wurde Blox eingeweiht, es hat mehr als zehn Jahre in Anspruch genommen, dieses Projekt zu realisieren. Was waren dabei die größten Herausforderungen? Es gab einige Herausforderungen. Wir hatten uns eine große Aufgabe gestellt: Nämlich ein Gebäude zu entwerfen, das zugleich auch Teil der Infrastruktur ist. Dass eine vierspurige Straße durch das Gebäude führt, hat den Planungsprozess schon ein bisschen verkompliziert (lacht). Nicht weniger herausfordernd war es, dieses Konzept von der Stadt genehmigt zu bekommen. Und auch der Bau war nicht trivial. Aber wir versuchen immer, es uns nicht leicht zu machen. Fällt es dir leicht, nach so langer Zeit des Planens ein Projekt loszulassen? Es ist sehr hart. Der schwierigste Augenblick ist immer, wenn der Auftraggeber die Türen schließt und wir als Architekten nicht mehr so einfach reinkommen. In den vergangenen viereinhalb Jahren konnte ich hier, wann immer ich wollte, überall herumlaufen. Wie darf man sich die Arbeit als langjährige Partnerin bei OMA vorstellen? (Lacht) Ich versuche nur Projekte zu machen, zu denen ich Lust habe. Das klingt vielleicht etwas luxuriös ... Aber ich habe die Möglichkeit, mich
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auf die Dinge zu konzentrieren, die mir Spaß machen. Ich interessiere mich beispielsweise nicht so sehr für Wohnungsbau, sondern mehr für öffentliche Bauten, Museen, Theater. Und auch wenn ich an einem nicht öffentlichen Gebäude beteiligt bin, versuche ich es immer für die Menschen zu öffnen. Kannst du dafür ein Beispiel nennen? Als wir die Rothschild Bank in London entwarfen, was als jüdisches Bankhaus ein Hochsicherheitsthema ist, haben wir öffentlich zugängliche Flächen mitgeplant. Zuerst gab es dafür natürlich keine Zustimmung, aber am Ende haben diese Interventionen auch die Kultur des Auftraggebers verändert. Man kann daran sehen, dass Gebäude auch ihre Nutzer und deren Verhalten beeinflussen können. Architekten versuchen natürlich immer, ihren Auftraggebern mehr zu geben, als sie eigentlich wollten. Damit können sie in Teilen steuern, wie sich die Auftraggeber später in ihren Gebäuden bewegen. Das gefällt mir am Architektenberuf. Für mich sind Gebäude soziale Räume. Und ich kann von mir behaupten, nie ein Gebäude ohne eine Bar geplant zu haben. Sogar bei Rothschild sind überall im Gebäude geheime Bars untergebracht.
Mit wie vielen Projekten bist du parallel beschäftigt? Es sind wahrscheinlich immer etwa vier bis fünf reale Projekte. Und dazu kommen dann noch Wettbewerbe. Ist es nicht schwierig, zwischen so vielen verschiedenen Projekten zu springen? Das hängt natürlich von deren Größe ab. Außerdem sind nie alle Projekte in derselben Phase. Am Anfang haben wir immer eine lange Recherche- und Entwurfsphase. Wenn dann die Ausführung beginnt, sind die Anforderungen völlig anders definiert. Wobei wir währenddessen natürlich auch noch hier und da entwerfen – aber der Schwerpunkt liegt dann eher darauf, mit den Baufirmen um Details zu streiten (lacht). Was macht OMA so besonders und erfolgreich? Keine Ahnung! Die Sache ist, ich arbeite dort seit 20 Jahren. Alles was wir dort tun, ist für mich Normalität. Ich glaube, wir haben einfach keine Angst. Egal wie verrückt unsere Ideen sind, wir glauben immer daran, dass es funktioniert. Als ich anfing mit der Casa da Música, hatte ich bereits einige Erfahrung gesammelt. Aber das Projekt hat mich zunächst in Angst und Schrecken versetzt. Ich dachte, ich würde es niemals schaffen. Doch dann ist mir klar geworden, dass ich keine
ARCHITEKTUR Angst haben muss. Ich musste mein Hirn benutzen und ich konnte mich auf mein Team verlassen. Wir arbeiten bei OMA mit verdammt guten Leuten und auch mit sehr guten Ingenieuren zusammen. Und es ist sicher auch das endlose Verlangen, Neues zu wagen, dass uns antreibt.
eher schon über Spannung (lacht). Ich denke, wenn ein Gebäude dynamisch und interessant für seine Nutzer ist, dann ist es schön. Natürlich kann man über Farben diskutieren, aber das interessiert mich nicht so sehr. Es geht für mich eher um die Erfahrung, die ein Gebäude vermittelt.
Würdest du sagen, du hast einen spezifischen Stil? Nein, ich sehe ganz klar eine Evolution in meinen Entwürfen. Wenngleich es Journalisten gibt, die meinen, man erkenne meine Projekte an bestimmten Details.
Du bist in deinem 20. Jahr bei OMA. Was ist die wichtigste Erfahrung, die du in dieser Zeit machen konntest? Die Casa da Música ist mit Sicherheit eines meiner wichtigsten Projekte. Es war aber auch das erste Projekt, das ich allein verantwortet habe bei OMA und das einzige, was ich zu dieser Zeit bearbeitet habe, sodass alle Kraft und alle Gedanken dort eingeflossen sind. Was ich mag an dem Projekt, ist, dass man nicht sofort erkennt, was es für ein Gebäude ist. Trotzdem ist es sehr sensitiv in der Art, wie man sich ihm nähert. Durch die Zusammenarbeit mit den Theaterleuten, die Räume ohne Wände erschaffen, habe ich eine ganz neue Art, Räume zu betrachten, gelernt. Sie benutzen Licht, sie benutzen Schatten, Farben ... ihr ganzes räumliches Denken ist völlig anders als das eines Architekten. Seitdem habe ich überhaupt keine Probleme mehr mit den Übergängen von Räumen. Dem Wechsel von Tageslicht zu künstlichem Licht. Offenheit und Grenzen. Und es ist ein Theater. Theater sind meine Lieblingsprojekte. Wenn ich könnte, würde ich nur Theater bauen.
Was würde Vitruv mit seiner Forderung nach Firmitas (Festigkeit), Utilitas (Nützlichkeit) und Venustas (Schönheit) zu Blox sagen? Beim Thema Nützlichkeit denke ich an Nachhaltigkeit. Blox ist extrem nachhaltig geplant. Wir haben von Anfang an die strengen dänischen Nachhaltigkeitsanforderungen für 2025 im Auge gehabt, die sehr hoch sind. Der Energieverbrauch des Gebäudes ist also sehr gering. Wo immer es möglich war, haben wir für eine natürliche Ventilation gesorgt. Aber ganz ehrlich, was für mich im Sinne der Nachhaltigkeit wichtig ist, sind zwei Dinge: Das eine ist der geringe Energieverbrauch, was für Ingenieure bedeutet, dass man möglichst keine Fenster öffnen kann, weil sonst Energie verloren geht. Demgegenüber steht aber das Bedürfnis, dass jeder gerne frische Luft mag, nicht? Es geht also auch darum, eine Umgebung zu schaffen, in der sich Menschen wohlfühlen. Wenn ich ein sehr nachhaltiges Gebäude plane, das die Menschen aber schrecklich finden, dann ist das auch nicht besonders nachhaltig. Man muss ein Gleichgewicht finden. Denn die meiste Energie wird sowieso für das Bauen an sich und all die Materialien verbraucht – nicht beim Betrieb. Über Schönheit hingegen denke ich nicht so viel nach,
Deine Projekte sind fast alle ziemlich groß. Könntest du dir auch vorstellen, kleinere Projekte zu entwickeln? Aber natürlich! Ich habe auch das Maggie’s Centre in Glasgow geplant, das nur etwa 400 Quadratmeter hat. Das war dein kleinstes Projekt? Ja, das stimmt. Der Grund dafür ist, dass ich mich für Komplexität interes-
siere. Ich liebe Puzzles. Je komplexer ein Projekt ist, desto mehr Freude macht es mir. Ich könnte auch ein Haus für eine Familie planen. Aber das ist schwierig. Bei großen Projekten habe ich deutlich mehr Freiheiten im Konzept. Bei privaten Bauherren gibt es mehr Diskussionen. Sie kennen den Maßstab (lacht). Eine größere Komplexität gibt mir die Chance, Probleme zu lösen, die kein anderer hätte lösen können. Es ist also für mich persönlich so eine Art Flucht in die Freiheit. Beim Blox bin ich mir sicher, dass der Bauherr nie ein echtes Bild davon hatte, wie sich das Gebäude anfühlen würde, wenn es fertig ist. Sie hatten fürchterliche Angst, dass es sich wie eine kalte U-Bahnstation anfühlen könnte. Aber ich habe gesagt: „Nein, es wird wunderschön!“ Ich musste es dann erst bauen, damit sie es verstanden haben.
Alles zu Blox: www.heinze-dear.de/_06100
Ellen van Loon arbeitet seit 1998 im Office for Metropolitan Architecture, seit 2002 als Partnerin. Sie leitet vor allem Großprojekte, zu ihren wichtigsten Projekten gehören neben Blox in Kopenhagen die Niederländische Botschaft in Berlin (2003), die Casa da Música in Porto (2005), die New Court, der Hauptsitz der Rothschild Bank in London (2011), De Rotterdam (2013) und das G-Star-Raw-Hauptquartier in Amsterdam (2014). oma.eu/partners/ellen-van-loon Office for Metropolitan Architecture www.oma.eu Blox / www.blox.dk Kopenhagen, 2006–2018 27.000 Quadratmeter
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PROJEKTE
POETISCHES
Es ist keine Fassade, die man anschaut, sondern eine, durch die man durchschaut.
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ARCHITEKTUR
RASTER TEXT: CLARA BLASIUS FOTOS: ANDREW POWER
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PROJEKTE
Ein Haus aus drei Teilen für Bewohner und Gast
Vorige Seite: Nicht nur dem fertigen Haus, auch schon dem Modell sieht man Arbeit und Liebe zum Detail an. Diese Seite: Innerhalb des geometrischen Rasters entstehen Zwischen- und Außenräume, Räume und Träume.
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ARCHITEKTUR
So leise es auch ist, hebt es sich dennoch von der Umgebung ab. Ein eingeschossiges Einfamilienhaus in der
Nur in den Lücken zwischen den Routinen bietet sich die Gelegenheit für einen Überblick.
nachts genutzt werden, trennt und defi-
niert auch die dazugehörigen Routinen, die den Alltag strukturieren. „Nur in Vorstadt: eigentlich ein Stereotyp, hier den Lücken, zwischen diesen Routinen, aber anspruchsvoll und mutig umgebietet sich die Gelegenheit für einen setzt. Der Australier Andrew Power Überblick“, erklärt Andrew Power. Im betreibt ein eigenes Architekturbüro in House with a Guestroom werden diese Melbourne, aber dies ist sein erstes ProLücken, Pausen, Übergänge durch jekt auf heimischem Boden. Vorher hat Zwischenräume verkörpert und die er lange bei Office KGDVS in Belgien Momente zwischen zwei Handlungen, gearbeitet, diese Erfahrung sieht man zwischen zwei sozialen Zuständen herdem Haus an. Schlichtheit und Konsevorgehoben, verzögert – die bemerkt quenz verleihen ihm eine bescheidene, und genutzt werden können, vielleicht aber kraftvolle Ausstrahlung. Darum um sich an etwas zu erinnern oder um 1 2 Power, 5 daran glaubt 10m geht0es Andrew er: sich neu zu sortieren. durchdachte, genau berechnete ProporDen Schlafzimmern folgt en suite je ein tionen und Ordnungen. Ein Raster als Badezimmer, die der Architekt fast wie Basis, dann das freie Umspielen dessen. ein separates Projekt geplant hat. Sie Kompakt auf einem erhöhten, offenen sind zwar Teil des Hauses, sollen sich Fundament gebaut, besteht das House zu ihm aber „wie Bakterien im Darm“ with a Guestroom aus bloß drei geverhalten. Die Funktionen werden hier schlossenen Teilen. Schlafzimmer und nicht versteckt, Imperfektionen sogar Gästezimmer sind gleich groß und an verstärkt, die Elemente locker verden Seiten positioniert – ohne Gewichmischt und jedes darf sich so zeigen, tung, sogar bewusst gleichwertig. Das wie es ist, und dadurch von dem nächsWohnzimmer liegt dazwischen und ist ten unterscheiden. Auch hier gilt: Der etwas größer. Dort treffen sich Gast Platz dazwischen, der Zwischenraum, und Gastgeber, um den Raum gemeinermöglicht dieses Bewusstmachen. sam zu nutzen. Auf dem Weg zurück Rohre, Ovale, Quadrate, Messing, in die Schlafzimmer passiert der Gast Chrom, Marmor, Blumen, Bilderraheine Art Innenhof, der Gastgeber einen men. Formgebung und Farbwahl sind überdachten Flur. Beide sind mit einem Nebenprodukte eines „letting things aus Pergola und Veranda bestehenden be“, nicht von den Gedanken dahinter Vorbau verbunden. Die Trennung der gesteuert worden. Andere Elemente Räume, die tagsüber beziehungsweise hingegen wurden sorgfältig durch-
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PROJEKTE
geplant. Die Türen, die Räume und Zwischenräume verbinden, sind miteinander identisch und auf Achsen angeordnet, wodurch sich Sichtlinien durch das Haus ergeben. Trotz dieser Ein- und Ausblicke wird das Gefühl von Privatsphäre durch räumliche Distanz gewährleistet. Die Enfilade ist nicht das einzige klassische Architekturmittel, welches hier zitiert wird: Den Blick Richtung Garten rahmt eine längslaufende, die Außenfassade des Hauses bildende Säulenreihe. „Es ist keine Fassade, die man anschaut, sondern eine, durch die man durchschaut“, erläutert Andrew Power. Sowohl die Säulen als auch die Türen wiederholen sich über die Fläche des Hauses verteilt. Auf diese Weise werden die voneinander getrennten Räume und verschiedene Stimmungen vereint und zu einem Ganzen verbunden. Ein Ganzes, das schlicht und streng wirkt, mit seinen am Goldenen Schnitt orientierten Maßen und einheitlichen Rhythmen. Bis in die Details wird nichts dem Zufall überlassen. Alles scheint irgendwie arrangiert, fast wie inszeniert, präsentiert. Komplex, aber harmonisch. Wie eine Kulisse oder eine Art verträumtes Puppenhaus. Aber Spezialanfertigungen gibt es keine, alle Teile sind im Prinzip so, wie sie waren, verwendet worden. Vielleicht kommt einem das House with a
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Guestroom deshalb so bekannt vor, zumindest in den Komponenten, nicht die Komposition. Die Ordnung lässt eben doch Raum für philosophische, ja existenzielle Gedanken und einen Hauch von Poesie. Die Geometrie suggeriert und prophezeit das Bewusstsein, das Leben, die Gastfreundschaft, mit denen die Räume gefüllt werden.
Die Planung der Badezimmer war für den Architekten ein Projekt im Projekt: Verschiedene Elemente wurden zu einem Ganzen komponiert.
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ARCHITEKTUR
House with a Guestroom Nähe Taree in New South Wales, Australien Einfamilienhaus, 2018 Architekt & Fotos Andrew Power / andrewpower.io
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CAMPING
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IN
ARCHITEKTUR
BETON
TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTOS: ADRIÀ GOULA
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PROJEKTE
Die Architektur in Spanien nach der Krise zeigt, dass gebauter Optimismus nicht viel kosten muss. Besonders in Katalonien entstehen Wohnungsbauten mit Minibudgets und großer Wirkung. Dieses neue Zuhause für eine vierköpfige Familie versteht sich dabei als ein Haus für alle Jahreszeiten – mit einem Quadratmeterpreis von unter 900 Euro.
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ARCHITEKTUR
Vielleicht liegt die Antivilla von Arno Brandlhuber einfach in der falschen Klimazone: Denn so konsequent wie dieser Betonbau von den Architekten
Nicht mehr als ein Dach mit Fundament: Die zwei Etagen fassen insgesamt 240 Quadratmeter; der Rohbaucharme wird von den Holzeinbauten und dem glatt polierten Estrichboden aufgefangen.
Joan Ramon Pascuets und Mònica Mosset aus Barcelona kann sich ein Wohnhaus zwischen Berlin und Brandenburg niemals zur Landschaft öffnen. Dafür braucht es warme Temperaturen, möglichst das gesamte Jahr über. Dieses neue Zuhause für eine Familie mit zwei Kindern in der Nähe des Naturparks Sant Llorenç del Munt i l’Obac verbindet die Wohn- und Außenräume in allen Jahreszeiten – am Ende baute man nicht mehr als ein Dach. Joan Ramon Pascuets und Mònica Mosset, beide gerade mal Anfang 40, haben schon eine Reihe von Wohnarchitekturen geplant und realisiert, Mehrfamilien- sowie Einfamilienhäuser, seit 2015 firmieren sie unter dem Namen Narch. „Wir wollten ein Haus entwerfen, das mehr einem Garten entspricht, einen Raum, in dem Möbel und Pflanzen direkt unter blauem Himmel stehen“, sagt Mònica Mosset. Ziel der Architekten war ein Lebensraum, der sich mit seiner Umgebung verbindet. Durch Glasschiebetüren verwandelt sich das Wohnhaus in einen bedachten Außenraum. Es sei eben ein Haus mit einem sehr kleinen Budget, aber mit aufgeschlossenen Kunden, freuen sich die Architekten. Neben einem gemein-
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PROJEKTE
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ARCHITEKTUR schaftlichen Wohnbereich wünschten sich die Bauherren drei private Zimmer, zwei Bäder, ein Büro und eine Garage. Für insgesamt 240 Quadratmeter Wohnfläche hatten sie ein Budget von 215.000 Euro. Die niedrigen Baukosten von kaum mehr als 900 Euro pro Quadratmeter erklären sich einerseits durch die vergleichsweise geringeren Handwerkerhonorare in Spanien, andererseits durch den Mut der Bauherren und ihre Bereitschaft zum Verzicht. Die nackte Stahlkonstruktion markiert auf einem Betonfundament nicht mehr als die Konturen des Hauses, wobei der Rohbau-Charme von den Holzeinbauten und dem glattpolierten Estrichboden etwas vermindert wird. Ein weiterer Clou: Haben die Häuser in der Nachbarschaft in der Regel im Erdgeschoss die Garage und den Wohnbereich in den oberen Etagen, entschieden sich Pascuets und Mosset ganz bewusst für das Gegenteil. Sie nutzen die abfallende Topografhie, indem sie Garage und Büro auf der oberen Straßenebene platzieren, während sich der doppelgeschossige Wohnraum im Erdgeschoss zur Landschaft öffnet. Narch benutzen hier das Bild eines Campingvans, der ein Leben in der Natur erlaubt und Freiheit verspricht. Camping in Beton eben, nur mit eigenem Garten.
Anders als in den Nachbargebäuden sind in der Casa Calders Garage und Büro auf der oberen Straßenebene platziert, während sich der Wohnraum im Erdgeschoss zur weiten Landschaft öffnet. Casa Calders Neubau, 240 Quadratmeter 2014–2016, Calders, Barcelona Projektarchitekten Narch / www.narch.eu Mehr Bilder und Pläne: www.heinze-dear.de/_06110
Fotograf Adrià Goula / www.adriagoula.com
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PROJEKTE
KATER IN KATAR
Foto: Delfino Sisto Legnani & Marco Cappelletti/Courtesy of OMA
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TEXT: TIM BERGE
ARCHITEKTUR
BIBLIOTHEK VON OMA
FOTOS: IWAN BAAN, DELFINO SISTO LEGNANI & MARCO CAPPELLETTI/COURTESY OF OMA
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PROJEKTE
Er ist der meist diskutierte Architekt unserer Zeit und hat wie kaum ein anderer Planer und Denker die Diskussion um Funktion, Organisation und Gestalt von Städten und Gebäuden geprägt. Rem Koolhaas und seine Ideenschmieden OMA/AMO haben mit ihrer Architektur immer wieder die Grenzen von Konventionen verschoben, Bauherren vor den Kopf gestoßen und zeitgemäße Typologien, gerade für die Kulturlandschaft, entwickelt. Dass die Häuser des holländischen Büros mittlerweile vielfach zur positiven Außendarstellung von (Staats-)Institutionen genutzt werden, zeigt die gerade eröffnete Qatar National Library.
Viel Luxus, kein Chaos: Die Qatar National Library (2012–2018) von OMA ist ein Glanzstück architektonischen Staatsmarketings. Der 42.000 Quadratmeter große Neubau steht in der Education City am Stadtrand der Hauptstadt Doha.
Foto: Iwan Baan
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Foto: Delfino Sisto Legnani & Marco Cappelletti/Courtesy of OMA
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PROJEKTE
Foto: Delfino Sisto Legnani & Marco Cappelletti/Courtesy of OMA
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Foto: Iwan Baan
Er sieht aus wie ein echter Koolhaas – und doch ist etwas anders. Der gefaltete Bibliotheksneubau am Rande der Wüstenmetropole Doha hat nichts von der Radikalität und Wildheit früherer Bauten, von dem gebauten Chaos der Seattle Public Library oder der essenziellen Kraft des Educatoriums in Utrecht. Die Qatar National Library ist einfach nur ein weiteres formschönes Spektakel, das mit viel finanziellem Aufwand und vermeintlich formaler Kühnheit nach Aufmerksamkeit schreit. Dass der Funke nicht überspringen will, liegt nicht an der architektonischen Idee, die ganz in der Tradition koolhaasscher Raum-Zirkulations-Gebilde steht. Nach wie vor definiert das Programm die Form: Der Bibliotheksraum ist ein einziges großes und begehbares Bücherregal-Panorama. Doch diese Maschine erzeugt beim Betrachter keine Phantasie – auch ist sie kein wilder Ritt durch eine Typologie. „Der Innenraum ist so groß, dass er fast städtebaulich ist: Er könnte eine ganze Bevölkerung und eine ganze Population von Büchern enthalten“, schwärmt Rem Koolhaas. Doch statt als urbane Miniansiedlung zu funktionieren, wirkt das Projekt gezähmt und inhaltlich entleert. Die Bibliothek liegt am Rande der Stadt, mit mehr Sand als Beton um sich herum. Wo sollen die Menschen herkommen, die dieses Gebäude mit Leben erfüllen? Auch das Innere wirkt seltsam kühl. Was bei den hohen Temperaturen in Katar auch als Vorteil gedeutet werden könnte, erzeugt aus architektonischer Sicht eine beinahe klinische Atmosphäre: als ob man gerade durch einen Flughafenterminal mit ein paar Bücherregalen als Dekoration schreiten würde. Da helfen auch die Unmengen an Marmor nichts. Natürlich ist der Bücherbau im Herzen von Dohas neuer Education City mehr als nur eine marketinggerecht in Szene gesetzte Gebäudehülse – die in dem Haus untergebrachte Heritage Library beherbergt bedeutende historische islamische Texte. Aber die Art und Weise, wie hier Wissen prä-
sentiert und dessen Austausch angeregt werden soll, scheint fragwürdig und stellt auch die Argumentation von Koolhaas’ Idee von Architektur infrage. Sind hier wirklich das Programm und das Streben nach einer Essenz der Architektur das definierende Moment – oder doch der Wille nach Repräsentation und einer ikonografischen Formensprache? Exzess, Chaos und Kollisionen, Grundelemente früherer OMA-Architekturen, sucht man in der Qatar National Library leider vergeblich.
Foto: Delfino Sisto Legnani & Marco Cappelletti/Courtesy of OMA
Alle Bilder: www.heinze-dear.de/_06116
OMA/Rem Koolhaas www.oma.eu
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MINI, SLIM UND SUPERTINY – BEWOHNBARE MÖBEL
Ana Rochas Slim Fit sieht gut aus: Aba-
WARUM SIND TINY HOUSES SO BELIEBT? 122
chi-Holz lässt den schlanken Turm edel wirken. Quadratische Fenster verstreuen sich über alle Seiten, auch die Grundfläche des dreigeschossigen Hauses ist quadratisch und dabei nur 15 Quadratmeter groß – was weniger ist als zwei Parkplätze, wie die Architektin betont. Das Slim Fit ist ein Tiny House, das nicht aussieht wie ein selbstgebastelter Bauwagen oder eine Hobbithöhle, sondern eher wie ein Designappartement. Auch im Inneren ist Ana Rocha ein ansprechender Minimalismus gelungen: Die einheitliche Materialwahl aus Birkenholzplatten verbindet Bücherregale, Treppen, Schiebetüren, Innenwände und sogar die Küche. Die Estrichböden in den unteren beiden Etagen bilden einen willkommenen Kontrast, elegante Möbel und Tierfelle wurden als stilistisch passende Staffage für die Fotos ausgewählt. Das Slim Fit wurde nicht für einen spezifischen Nutzer entworfen, sondern ist ein Prototyp; das Ausstellungsobjekt zählt zu einem von zwölf Gewinnerprojekten des Ideenwettbewerbs BouwEXPO Tiny Houses, den die Stadt Almere 2016 ausgeschrieben hatte. Etwa die Hälfte der Projekte konnte bisher auf dem Gelände der Ausstellung realisiert werden – neben dem niederländischen Wohnungsbauministerium und verschiedenen Stiftungen zur
ARCHITEKTUR
Slim Fit von Ana Rocha und Tiny A von Daan Bakker, Polle Koks, Laura Huertas und Catherine Visser sind zwei der Prototypen auf dem BouwExpo-Gelände im niederländischen Almere. Beide hier gezeigten Entwürfe bedienen den Wunsch nach den eigenen Wänden außerhalb der Großstadt. Foto: Christiane Wirth
Antworten aus Almere, Berlin und London
TEXT: DINA DOROTHEA FALBE Kunst- und Kulturförderung haben sich auch Energielieferanten und Baustoffhersteller als Partner daran beteiligt. Die BouwEXPO ist nicht das einzige Tiny-House-Förderprojekt in den Niederlanden. Viele Gemeinden wollen neue experimentelle Wohnformen fördern. So sollten die Häuser in Almere „innovativ, nachhaltig, bezahlbar und realisierbar“ sein – Eigenschaften, die einen großen Interpretationsspielraum lassen. Am Wettbewerb teilnehmen durfte jeder, unabhängig von Alter und möglichen Vorkenntnissen. Almere verspricht sich davon positive mediale Aufmerksamkeit und interessierte Wochenendausflügler. Die Stiftung Tiny Houses Nederland verweist mit ihrem Slogan „Weniger Haus – mehr Leben“ auf eine Sehnsucht der Konsumgesellschaft, mit dem Besitz die Verpflichtungen zu reduzieren, um sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können. Warum sind Tiny Houses gerade in den Niederlanden so beliebt? Anders als in Deutschland, wo Etagenwohnen üblich ist, legt man hier großen Wert auf einen direkten Zugang von der Straße zur Wohnung. In vielen Städten findet man deshalb Häuser, die so ineinander verschachtelt sind, dass auch die oberen Etagen einen eigenen Eingang auf Straßenniveau haben. Als Alternative zum freistehenden Turm kann sich Ana Rocha auch eine Kombination mehre-
rer Slim Fit-Häuser vorstellen, die zusammen einen größeren Baukörper bilden. So lassen sich die Wohnungen mit ihrer kleinen Grundfläche noch platzsparender und energieeffizienter realisieren. Ein weiteres Argument für die Beliebtheit der Tiny Houses ist die niederländische Tradition, Trends aufzugreifen und in vermarktbare Produkte zu überführen. Während in Deutschland vor dem Baumarkt noch Blechgaragen und hölzerne Hexenhäuschen als Geräteschuppen stehen, kann der niederländische Kleingärtner oder Dauercamper nun zwischen verschiedenen Modellen schlüsselfertiger, energieneutraler Tiny Houses wählen: Unter den nichttemporären Typen auf der BouwEXPO gibt es neben dem Slim Fit auch ein energetisch autarkes Nurdachhaus, das Tiny A. Daan Bakker, Polle Koks, Laura Huertas und Catherine Visser nahmen für ihren Wettbewerbsbeitrag das Dach als günstigstes Bauelement zur Grundlage und gestalteten das Innenleben als Möbelstück aus einem Guss. Hersteller wie Velux, Artigo, Quooker, Zehnder, Mosa wurden als Sponsoren für den Prototyp gewonnen. Nun können Liebhaber das energieneutrale Haus inklusive Solarpaneelen, Infrarot heizung und Eco-Dusche für 115.000 Euro kaufen. Kopien der Prototypen können sie bestellen und innerhalb
weniger Tage vor Ort montieren. Ein Beispieldorf entsteht in Oosterwold, das als Pilotprojekt für DIY-Stadtentwicklung in Almere gilt. Hier dürfen die zukünftigen Eigentümer selbst entscheiden, wie groß ihr Grundstück sein und wie es genutzt werden soll, sogar die Infrastruktur sollen sie selbst errichten – gemeinsam mit ihren Nachbarn. Das Tiny House ist hier ein LifestyleProdukt: Die von Ana Rocha vorgeschlagene Abachi-Holz-Verkleidung gilt nicht unbedingt als umweltfreundlich, doch sieht ihr Haus gut aus, ist relativ bezahlbar und verspricht die Erfüllung des Traums von einem unabhängigen, selbstbestimmten Leben in der Landschaft. Ob diese nun hippiesk unberührt sein soll oder aus gepflegtem Rasen und Blumenkästen besteht, über denen die niederländische Nationalflagge weht, wie in einem der Renderings für Oosterwold zu sehen, darf der Käufer selbst entscheiden.
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BEWOHNBARE MÖBEL
Der Berliner Architekt Van Bo Le-Mentzel, Erfinder der Hartz-IV-Möbel, hat sich seit der Flüchtlingskrise auf einfache Unterkünfte konzentriert, die aus günstigen Materialien bestehen und im Zweifel einfach selbst aufzubauen sind. Auf dem Campus des Berliner Bauhaus-Archivs wurden die einzelnen Entwürfe und deren Genese in einer Tinyhouse University gezeigt. Fotos: CC-BY SA Tinyhouse University
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ARCHITEKTUR Die Antithese dazu formuliert der Slogan „Konstruieren statt Konsumieren“, mit dem der Hartz-IV-Möbel-Erfinder Van Bo Le-Mentzel bekannt wurde. Der Berliner Architekt hat sich in den vergangenen Jahren als Sprecher der Tiny-House-Bewegung in Deutschland etabliert. Mit dem Bauhaus Campus auf dem Gelände des Berliner Bauhaus-Archivs hat er ebenfalls eine Tiny-House-Ausstellung begründet. Weniger das perfekt designte Endprodukt als vielmehr der Gestaltungs- und Bauprozess und die gesellschaftlichen Debatten darum stehen hier im Mittelpunkt. Mit der Flüchtlingskrise 2015, als Menschen in Berlin vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (kurz: LAGeSo) kampierten, kam die Idee auf, den Geflüchteten durch Unterstützung beim Bau eigener Tiny Houses ein Stück Selbstbestimmung zurückzugeben. In der sogenannten Tinyhouse University soll Grundlagenwissen zum Bau und zur Nutzung von Minihäusern wie der 100-Euro-Wohnung gesammelt und vermittelt werden. Mobile Architekturen, die sich schnell aus recycelten Materialien errichten lassen, schaffen ein Stück Privatsphäre, so die Idee. Auch hier geht es wieder um Innovationen: „Berlin sucht neue Wege in der Bildungs- und Baukultur“, heißt es auf der Webseite des Bauhaus Campus. Neben bezahlbaren Wohnkonzepten geht es dabei um eine bunte Themenmischung von Foodsharing und bedingungslosem Grundeinkommen über Co-Working für Geflüchtete bis hin zu Autarkie und Kryptowährungen. Man spricht über Start-ups und verbaut Kunststoff-Fenster, die der Hersteller sponsert, sodass auch hier das Konzept Tiny House eine große Bandbreite von Interessen anspricht.
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BEWOHNBARE MÖBEL
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ARCHITEKTUR
Fehlender Raum ist in London ein viel größeres Problem als in deutschen Großstädten. Mit dem H-VAC, einem Mikrohaus von PUP Architects, wird aus einfachsten Materialien ein neuer Raum geschaffen. Hier auf dem Dach der Londoner Hoxton Docks. Fotos: Jim Stephenson Besucher solcher Ausstellungen mögen
Können solche Aufbauten oder andere
den Eindruck gewinnen, Tiny Houses lösen alle Probleme unserer Zeit. Bei einer näheren Betrachtung ist jedoch nicht zu übersehen, dass es sehr auf den Kontext ankommt, welche Versprechen das jeweilige Tiny House einlösen kann. Es klingt attraktiv, das eigene Häuschen irgendwo im Stadtraum aufzustellen und sich so eine bezahlbare Wohnung zu schaffen, wenn man sonst keine findet. Aber geht das überhaupt? Mit dieser Frage beschäftigten sich PUP Architects, als sie ihr „micro dwelling“ H-VAC auf dem Dach des Londoner Kunstzentrums Hoxton Docks bauten. Der Entwurf gewann den internationalen Wettbewerb Antepavilion der Architecture Foundation und sieht aus wie ein Lüftungsschacht. Die Mieten in London sind noch weit höher als in deutschen Großstädten, und der bauliche Zustand der zum Teil überbelegten WG-Häuser lässt oft zu wünschen übrig. Die dünne Hülle aus silbernen Getränkekartons um die Holzkonstruktion bietet etwa genauso viel Schutz vor Wind und Wetter wie manche bestehende Behausung. Da Minihäuser auf Dächern baurechtlich natürlich nicht vorgesehen sind, wählten die Architekten die Form eines üblichen Dachaufbaus, um dort ihre winzige Wohnung einzurichten.
kleine Behausungen wirklich eine Antwort auf ein so strukturelles Problem wie die Wohnungsnot in Großstädten sein? Sicher scheint nur, dass allein die Kategorie Tiny House erst mal nichts darüber aussagt, ob das betreffende Objekt umweltfreundlich, nachhaltig oder kostengünstig ist, ob es ein selbstbestimmtes Leben oder die innerstädtische Nachverdichtung fördert. In jedem Fall ist es ein dem menschlichen Maßstab entsprechender Ansatz gegenüber den immer größer werdenden Investorenprojekten. Anders als bei denen kommt es bei den Tiny Houses darauf an, was man daraus macht. Genau das scheint viele Menschen zu faszinieren.
BouwEXPO Tiny Houses in Almere www.bouwexpo-tinyhousing.nl Tinyhouse University auf dem Bauhaus Campus Berlin www.bauhauscampus.org/tiny-houses Antepavilion in London www.architecturefoundation.org.uk www.architecturefoundation.org.uk/ news/2017-antepavilion-press-release
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FOTOS: NILS KOENNING
ADVERTORIAL
Tempo, Tesa, Tupperware – was diese Markennamen für den privaten Konsumenten sind, ist Lacobel für Architekten und Innenarchitekten: eine universelle Bezeichnung für grundsätzlich gleiche Produkte verschiedener Hersteller. Dabei gibt es auch hier ein Original – in dem Fall hinterlackiertes Glas von AGC Interpane, das wir neben seinen facettenreichen Verwandten in Berlin kennenlernen. Zwei Architekturbüros liefern uns ihre jeweilige Sicht zu den Themen Individualität und Praktikabilität von Glas.
EINE TRANSPARENTE BEGEGNUNG
HANDS-ON — WWW.INTERPANE.COM
ARCHITEKTUR
O&O BAUKUNST
PLAJER & FRANZ STUDIO
Leibnizstraße, 9 Uhr morgens: Der Berufsverkehr rauscht als nicht abreißen-
Farbwünsche können ab einer Auftragsgröße von 200 Quadratmetern
der Strom von Autos. Gegenüber, man hört es deutlich, wird saniert. Wir befinden uns bei Ortner & Ortner in einem für den Berliner Bezirk Charlottenburg typischen Altbau. Im großen Besprechungsraum empfängt uns Roland Duda, der seit 2011 geschäftsführender Gesellschafter bei O&O Baukunst ist. Natürlich kennt er den Hersteller AGC Interpane und auch Lacobel ist ihm bekannt. Der Name beschreibt ein indus triell gefertigtes Floatglas, das rückseitig mit einem Farblack beschichtet wird. Doch Thomas Ploeger, Interior Design Consultant bei AGC Interpane Glas Deutschland, hat noch etwas anderes mitgebracht: das matte Pendant Matelac. Hier wird die Glasoberfläche säuregeätzt und erhält so eine feine Struktur. „Das Glas ist ja durchgefärbt“, bemerkt Roland Duda beim genauen Blick. Thomas Ploeger bestätigt: „Unsere Matelac Silver-Farben erhalten ihren Farbton nicht durch farbiges Hinterlackieren, sondern durch die Verspiegelung durchgefärbten Glases in Ergänzung zum klaren Farbglasspiegel.“ Für Lacobel und Matelac gibt es jeweils 20 Standardvarianten: von drei Klassikfarben (Classics) über elf Trendfarbtöne (Trendies) bis hin zu sechs edlen Metalliclacken (Exclusives). Individuelle
realisiert werden. Roland Duda schaut auf die verschiedenen Materialproben in Grau: „Sie haben fast die richtigen Farben hingelegt, die uns interessieren würden. Ich finde es schön, wie klassisch Sie mit dem Material Glas umgehen, seine Eigenschaften respektieren. Grundsätzlich suchen wir ja nach Oberflächen, bei denen das Material im Mittelpunkt steht – etwa eine semitransparente, rauchige Erscheinung, bis hin zur Verspiegelung.“ Für das Projekt Boulevard Berlin, erzählt Duda, hätten sie es einmal probiert, schwarzes Glas mit einem Spiegel zu kombinieren, verzichteten jedoch letztendlich auf den Spiegel. Schade, dass sie die Kombination im Programm von AGC Interpane nicht kannten. „Für uns wäre auch das enorme Maximalmaß des Glases interessant“, sagt der Architekt. In der Herstellung beträgt das Standardmaß 3,21 mal 6 Meter. Die Stärke misst 4 bis 12 Millimeter, bei gefärbtem Glas bis 10 Millimeter.
„Der Stammsitz des japanischen Mutterkonzerns AGC liegt in Osaka“, berichtet Thomas Ploeger beim zweiten Termin bei Plajer & Franz Studio in Kreuzberg. Hier empfängt uns Carmen Tabassomi, leitende Innenarchitektin im Büro der Markenarchitekten. Der Glasproduzent beschäftigt weltweit 65.000 Mitarbeiter, in Europa (AGC Glass Europe) wird Floatglas in 18 Produktionsstätten hergestellt. Zu den Kunden zählen Unternehmen im Bausektor, in der Automobilindustrie und im Technikbereich, etwa Solarfirmen oder Smartphone-Hersteller. AGC Interpane ist vor allem auf den Bausektor und dort auf Funktionsglas spezialisiert, aber eben auch auf Design produkte. Wenn es schwierig wird, ist Interpane gefragt: Prominente Projekte sind beispielsweise die Elbphilharmonie, The Shard in London, Torre Isozaki in Mailand, zahlreiche Gebäude im Frankfurter Bankenviertel und der neue Apple Campus in Cupertino. „Die Produkte, die ich Ihnen heute zeige, sind für Architekten, Interiordesigner und Möbelhersteller gleichermaßen interessant“, erklärt der Berater. „Aus unserer Range können wir eine Großzahl standardmäßiger Produkte und Kombinationsmöglichkeiten anbieten.“ Wenn Carmen Tabassomi ein Projekt angeht, ist die Materialbibliothek ein wichtiger Ort: „Kein Projekt entsteht
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HANDS-ON — WWW.INTERPANE.COM
„Wir finden jeweils die sinnvollste Lösung im entsprechenden Budgetrahmen.“
mit jedem Interieur ein Unikat zu erzeugen.“ Doch besonders im anspruchsvollen Retail-Bereich sei es irgendwann schwer, noch neue besondere Materialkombinationen ausfindig zu machen. Eine unkonventionelle Idee wäre es beispielsweise, mattes und hinterspiegeltes Glas punktuell freizulasern. Die Leerstellen ließen sich farbig lackieren oder effektvoll hinterleuchten. Tabassomi möchte wissen, ob es die säurebehandelte Oberfläche nur in einer Intensität gibt. „Nein, wir unterscheiden zwei Qualitäten, Matelux und Matelux Light“, erklärt Thomas Ploeger. Im Unterschied zu sandgestrahlten Produkten anderer Hersteller ist die säuregeätzte Oberfläche übrigens weniger „beschädigt“, benötigt keinen zusätzlichen Schutz und ist dadurch homogener und gar nicht anfällig für Fingerabdrücke. Unser Besuch verlängert sich spontan, als Thomas Ploeger seinen großen Musterkoffer hinzuzieht – neue Ideen, noch mehr, auch überraschende Gestaltungsmöglichkeiten treten zutage. „Für uns ist es oft eine Herausforderung, dass wir im asiatischen Raum, wo viele unserer Projekte realisiert werden, mit dem dort verfügbaren Material umgehen müssen. Ein Transport aus Europa wäre oft zu umständlich“, erzählt die Architektin. „AGC fertigt auch in Asien unter denselben Standards“, entgegnet
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ihr Thomas Ploeger. Man müsse im Einzelfall sehen, ob die gewünschte Qualität dort machbar ist oder ob Alternativen infrage kämen. Grundsätzlich gibt es viele Wege, einen gewünschten Effekt zu erzeugen: „Wir finden jeweils die sinnvollste Lösung im entsprechenden Budgetrahmen“, verspricht der Berater. Bei Plajer & Franz besteht am Wiedersehen kein Zweifel.
GUT BERATEN, KLUG KALKULIERT Oft scheitert die Entscheidung für Glas am Preis – und das ohne Grund, wie Thomas Ploeger im Nachgespräch sagt. Besondere Finesse lässt sich erzielen, ohne dadurch Baukosten in die Höhe zu treiben. So sind mit Glas verblendete Wände in der Summe oft vergleichbar mit gefliesten, das Verlegen der Scheiben geht wesentlich einfacher und schneller als bei den Kacheln. Und: „Es kommt eben immer auch auf die Lieferkette an und wer am Produkt mitverdienen möchte“, erklärt Thomas Ploeger. Der Experte hilft nicht nur bei der Vermittlung geeigneter Vertriebsund Ausführungspartner. „Zu schallharten Oberflächen wie Glas gehört das Thema Akustik, zu Transparenz auch Licht – mein Anliegen ist es, mein Netzwerk auszuschöpfen und Bereiche zu verknüpfen.“
Sicherlich gibt es etwas weniger experimentellen Spielraum bei öffentlichen Bauten – Krankenhäusern, Schulen und Verwaltungsgebäuden. Doch auch hierfür hat Thomas Ploeger Passendes im Angebot: Patientenzimmer in Kliniken ließen sich beispielsweise optimieren, indem man für Glasflächen, die nicht im routinemäßigen Reinigungsfokus liegen, eine antibakterielle Beschichtung verwendet. Eine Antikorosionsbeschichtung könnte sinnvoll sein für Flächen, die häufig Wasser ausgesetzt sind – etwa Duschen. Etwas Entscheidendes wird hier erneut deutlich: Planen und Gestalten mit Glas ist ungemein vielfältig. Wer den Überblick behalten will, sollte den Beratungsdienst von AGC Interpane in Anspruch nehmen. Es wird garantiert eine transparente Begegnung.
ADVERTORIAL
ohne Materialcollage. Wir versuchen,
ARCHITEKTUR
O&O BAUKUNST
WWW.ORTNER-ORTNER.DE
In der Künstlergruppe Haus-Rucker-Co arbeiteten Laurids Ortner und Manfred Ortner an Installationen, die sich zwischen Freier Kunst und Architektur bewegten – ehe sie sich ab 1987 mit Ortner & Ortner Baukunst konkreteren Bauaufgaben widmeten. Das Wiener Museumsquartier war 1990 das erste große Projekt der Architekten, es folgten Kulturbauten wie die Sächsische Landesbibliothek in Dresden (2002) oder das Landesarchiv NRW in Duisburg (2014), Büroprojekte, zahlreiche Shoppinggalerien, Hotels und Wohnhäuser. Der Hang zum Experiment blieb unverkennbar erhalten – so auch beim höchsten Wohnturm Berlins, der demnächst am Alexanderplatz entsteht. Geleitet wird das Büro seit 2011 von Laurids und Manfred Ortner, sowie den Partnern Roland Duda, Christian Heuchel, Florian Matzker und Markus Penell.
PLAJER & FRANZ STUDIO Dass Plajer & Franz Studio mittlerweile über die Landesgrenzen hinweg bis nach Asien Markenkonzepte plant, spricht für sich. 1996 von Alexander Plajer und Werner Franz gegründet, entwickelt das Büro von seiner Kreuzberger Fabriketage aus Corporate Identities, Interiordesigns, Architektur für Einzelhandel, Messen, Büro-, Hotel- und Gastronomieumgebungen. Zu den Kunden zählen Galeries Lafayette, Karl Lagerfeld, Puma, Levi’s, BMW und Timberland mit Projekten in Berlin, Paris, Instanbul, New York, Osaka oder Jakarta. Daneben hat sich Plajer & Franz als Gestalter für luxuriöse Wohnprojekte und Hotels in Europa und Asien etabliert.
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Foto oben: Roland Duda, Gesellschafter und Geschäftsführer bei O&O Baukunst Foto unten: Alexander Plajer, Geschäftsführer bei Plajer & Franz Studio
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EDITOR’S PICK — BAD
AZIMUT Maximale Rotation: Die Duschbrause aus dunkel satiniertem Edelstahl von Antoniolupi verfügt über einen außergewöhnlich großen Schwenkradius. Ihr wohlproportionierter Zylinder kann um 180 Grad gedreht werden und sich unterschiedlichen Nutzerverhalten anpassen. www.heinze-dear.de/_061321
AXOR SHOWERPIPE 800 Bei dem Duschsystem für Axor setzt Phoenix Design auf formale Einfachheit und würdigt den klassischen Weg des Wassertransports. Ein Rohr trifft auf ein zylinderförmiges Thermostat mit großzügiger Ablage aus Spiegelglas, zwei Tasten mit Select-Technologie steuern die Kopf- und Handbrausen.
CERAWALL INDIVIDUAL Diese Duschrinne von Dallmer ist so minimiert, dass sie fast unsichtbar ist. Sie fügt sich nahtlos in den schmalen Zwischenraum ein, der zwischen Duschfläche und Wand entsteht, und besitzt einen Ablauf, der mit Fliesen besetzt werden kann.
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ARCHITEKTUR
RIBBON Bei dem Entwurf von Sebastian Herkner für den italienischen Hersteller Ex.t windet sich ein Stahlband um ein ovales Waschbecken aus dem Verbundwerkstoff LivingTec. Es ist nicht nur Teil der Konstruktion, sondern ein elegantes Gestaltungsmerkmal und Namen geber der Badezimmerkollektion. www.heinze-dear.de/_061332
111 Hinter diesem Kürzel verbirgt sich ein Entwurf von Arne Jacobsen, der vor 50 Jahren eine echte Revolution auslöste und so die Erfolgsgeschichte von Vola begründete: die erste Armatur, bei der alle mechanischen Teile in der Wand versteckt und nur die Griffe und Ausläufe sichtbar sind. www.heinze-dear.de/_061331
ABACO Elemente des Bads, vereinigt euch: In dem modularen System des italienischen Herstellers Cea sind alle Teile in einen Korpus integriert. Ein Sideboard aus hygienischem Edelstahl nimmt Waschbecken, Toilette und Dusche für die Intimreinigung auf, sodass eine störungsfreie klare Linie im Bad entsteht. www.heinze-dear.de/_061333
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BACKFLASH
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A LABOUR OF LOVE
BRIAN HOUSDENS BRUTALISTISCHER WOHNTRAUM
TEXT: TANJA PABELICK FOTOS: COURTESY OF THE MODERN HOUSE
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BACKFLASH
Üppiges Grün, zurückgesetzte Fassaden und eine ruhige Lage: Das Londoner Viertel Hampstead ist eine gutbürgerliche Nach barschaft aus dem Klischeeförmchen. Mittendrin steht mit dem Wohnhaus des britischen Architekten Brian Housden eine ästhetische Antithese zur historischen Substanz. Jetzt geht das exzentrische Lebenswerk zum ersten Mal in neue Hände.
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BACKFLASH
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Die pittoresken Reihenhäuschen, die sich in Hampstead bergauf und bergab aneinanderreihen, sind eine Leistungsschau des viktorianischen Architektur erbes: Hampstead ist ein Vorstadtidyll. Beim Spaziergang durch die Straßen allerdings gibt es auch Überraschungen aus Beton, Stahl und Glas. In den Sechzigerjahren fanden einige Architekten Gefallen an der entschleunigten Gemütlichkeit und verwirklichten im beschaulichen Hampstead ihre Bauträume: Norman Foster war darunter und auch Trellick-Tower-Architekt Ernő Goldfinger, der selbst im Viertel wohnte. Brian Housden ist in dieser Reihe wahrscheinlich der am wenigsten bekannte Vertreter der Zunft, sein Haus dagegen wohl das aufregendste Gebäude des Viertels.
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BACKFLASH
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78 South Hill Park war das Passionsprojekt von Brian Housden und wurde gleichzeitig zu seinem Lebenswerk. In ihm steckt die Essenz seiner architektonischen Vision, die auf der grünen Wiese begann. „Ich erinnere mich, wie wir hierherkamen und unser Vater in die Weite zeigte und sagte: ‚Hier werde ich ein Haus bauen‘“, berichtet die Tochter Beth über die Anfänge im Jahr 1963 im Journal The Modern House. „Er hatte damals nicht viel Geld, und so stockten die Bauarbeiten immer wieder. Er machte sogar einen Schreinerkurs, um die Möbel selbst bauen zu können.“ Offiziell war der Bau nach zwei Jahren fertiggestellt – tatsächlich wurden viele Einbauten und Installationen, wie Türen, Regale oder auch die den Essbereich umlaufende Vorhangschiene, erst im Laufe der Zeit ergänzt. Eigentlich hatte Brian Housden eine Architektur vorgesehen, die sich deutlicher an gängigen Typologien der Moderne und des Brutalismus orientierte. Doch dann besuchte er Pierre Chareaus Maison de Verre in Paris – ein avantgardistisches Glasbaustein-Haus von 1931 und das Rietveld-Schröder-Haus in Utrecht, ein hyperfunktionales Gebäude mit einer rationalen Geometrie und ausziehbaren Wänden. Die elementare Farbgestaltung, Schiebetüren oder auch die Glasbausteine sind ein eindeutiges Souvenir dieser Exkursionen – trotzdem
ist Housdens Wohnhaus ein eigenständiges und einzigartiges Werk. Gerade das Ideen-Patchwork ist seine Qualität: Die versetzte Kubatur des Gebäudes, die Fassade mit ihren Vorsprüngen, die leuchtenden monochromen Mosaike, die exponierten Konstruktionen und der karge Sichtbeton sorgen für eine im besten Sinne eigenwillige Wohnatmosphäre. Seit 2014 steht 78 South Hill Park deshalb unter Denkmalschutz (Grade II) – zwei Tage vor der endgültigen Listung verstarb Brian Housden im Alter von 86 Jahren. Seine Töchter wollen das gebaute Erbe jetzt an neue Bewohner weitergeben. Tess Housden sieht in dem Generationswechsel mehr als nur die Weitergabe des physischen Baus: „Wenn man in einem Umfeld aufwächst, das so anders ist als das der meisten Menschen, hat das einen Einfluss darauf, wie man über Kunst und Architektur denkt.“ Bei einem Kaufpreis von 3.250.000 Pfund ist also eine ästhetische Weiterbildung inklusive.
Housden House 78 South Hill Park, London 1963–1965 Architekt Brian Housden The Modern House www.themodernhouse.com
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er-
gleich den ganzen Wagen einkassieren:
der Geschwindigkeit) auch gern einmal
délit de grande vitesse“, das Verbrechen
staunliche Summen und für größere („le
Geschwindigkeitsübertretungen
men ins Bild kommen, die für kleinste
Funès-haft herumfuchtelnde Gendar-
darfallen und motorisierte, Louis-de-
Schlösser, vor allem aber zahllose Ra-
Staus, überquert die Loire, wo ein paar
„péages“, den Zahlstellen, epische
Agrarlandschaften, produziert an den
chen: Die Autobahn windet sich durch
Unter sechs Stunden ist nichts zu ma-
an eine zähe, lange Fahrt erinnern.
nach Bordeaux gefahren ist, wird sich
Wer einmal mit dem Auto von Paris
MIT DEM TGV ATLANTIQUE VON PARIS ZUR CITÉ DU GRAND PARC
MIT A NACH B
VON NIKLAS MAAK
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In einigen TGV-Zügen haben sich sogar die warme orangefarbene Sitzfarbe und der hochflorige braunorange Teppich der Siebzigerjahre gehalten.
Vorbei die Zeiten, da der Architekt und Theoretiker des „Oblique“, Claude Parent, in seinem kanariengelben Maserati Ghibli auf der Autoroute du Soleil mit 240 km/h ans Mittelmeer donnern durfte. Die Franzosen fahren stattdessen mit ihren eierförmigen Großraumlimousinen auf der linken wie auf der rechten Spur auch hartnäckig so, als habe man ihnen den Motor im zweiten Gang verplombt. Wenn das Autofahren sein soll, kann man es gleich sein lassen. Ein weiterer Grund, es sein zu lassen, ist der Hochgeschwindigkeitszug TGV, der den Bahnhof Paris-Montparnasse mit der Gare Saint-Jean in Bordeaux verbindet. Er braucht für die Strecke nach Bordeaux – rund 580 Kilometer – nur zwei Stunden. Die betriebliche Höchstgeschwindigkeit auf der für 320 km/h trassierten Strecke liegt bei 300 km/h. Es ist herrlich. Es fühlt sich an wie eine Zukunft, in der man von Berlin nach München in nur zwei Stunden fahren könnte. Im TGV lebt die geschwindigkeitsfreudige, optimistische französische Moderne weiter, die Frankreich in den Sechziger- und Siebzigerjahren den Pop-Élysée-Palast von Pierre Paulin, den Citroën SM und den CX Turbo, das Kryptointernet Minitel und die herrlichen Hochhäuser der Front-de-Seine beschert hat; in einigen TGV-Zügen haben sich sogar die warme orangefarbene Sitzfarbe und der
hochflorige braun-orange Teppich der Siebzigerjahre gehalten, angesichts derer man sich fragt, welcher böse Teufel eigentlich in Deutschland die Telefonzellen, die Züge und die Fußgängerzonenbepflasterung in diese deprimierende Mischung aus plastikgrauen und magentaroten Elementen, in die Farben absterbender Dinge getaucht hat. Im Inneren des TGV scheint dagegen auch an grauen Tagen die Sonne. Wir gingen also am späten Vormittag zum Bahnhof Montparnasse, vorbei an dem braun verglasten Tour Montparnasse, über den alle immer schimpfen und der jetzt mit viel hellem Glas und Grün renoviert wird und danach irgendwie freundlicher aussehen soll – der aber natürlich auch ein Dokument der französischen Moderne ist und der vorher im städtebaulichen Nichts versandenden Rue de Rennes einen Fluchtpunkt und dem Montparnasse ein Ausrufezeichen gab. Kurz vor zehn nahmen wir einen TGV Atlantique. Der Zug rauschte aus dem Bahnhof, man sah die Schornsteine der alten Häuser des 14. Arrondissements, dann tauchte der Zug ab, fuhr irgendwann in den Villejust-Tunnel und beschleunigte nach dem Tunnel ausgang auf 300 km/h, ein Tempo, das man angesichts der nicht vorhandenen TGV-Unfallbilanz sehr gelassen hinnimmt (von der Betriebsaufnahme
des TGV 1981 bis heute gab es im Regelbetrieb noch keinen Unfall mit Todesfolge). Wir gingen ins Bordrestaurant und bestellten einen Kaffee und ein Croissant. Der Zug schoss an der Stelle vorbei, an der 1990 mit einer Fahrgeschwindigkeit von 515,3 km/h der Weltrekord für Schienenfahrzeuge aufgestellt wurde. Das ginge theoretisch also auch: Paris – Bordeaux in gut einer Stunde … Aber auch so sehen die Autos, die unten auf der A10 Richtung Süden zuckeln, aus, als stünden sie auf der Stelle. Der französische Staat lässt sich diese Fortschritts- und Tempo-Orgie (anders als der deutsche mit seiner privatisierten Bahn und seinen fußlahmen, ständig verspäteten, an Signalstörungen, Restaurantausfall, Türschäden und anderen Malaisen leidenden ICEs) etwas kosten, mehr als das Teilstück von Tours nach Bordeaux. Es kostet über sieben Milliarden Euro, eine Summe, für die man in Berlin schon einen halbfertigen Flughafen bekommt. Dafür wuchs der Personenverkehr zwischen Paris und Bordeaux auch um gut drei Millionen auf 19 Millionen Reisende pro Jahr, und das geplante Budget wurde, anders als in Berlin, eingehalten. Wie auch der Fahrplan. Wir kamen pünktlich vor zwölf Uhr mittags an. Ausschlafen in Paris, Mittagessen in Bordeaux – auch das ist eine moderne Utopie.
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MIT A NACH B
Transformation de 530 logements, Gebäude G, H, I, im Quartier du Grand Parc, Lacaton & Vassal, Druot, Hutin. Foto: Philippe Ruault
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MIT A NACH B Die Stadt Bordeaux lag schläfrig am hellbraunen Fluss. Ihre Häuser, die Kiesplätze, sogar die Platanen sahen hell und staubig aus, als liege ein feiner weißer Sandfilm über allem. Wir nahmen ein altes Peugeot-Taxi und fuhren an den kleinen hellen Sandsteinhäusern vorbei hinaus nach Norden, in die Cité du Grand Parc, zu einer Wohnsiedlung, die, wie TGV und Citroën GS und Pierre Paulin einmal für das Versprechen des französischen Wohlfahrtsstaats stehen sollte, eine Moderne für alle zu schaffen – bevor sie zum Inbegriff einer sozial segrierenden, technokratischen Stadtplanung wurde,
am Ende 8.200 Wohnungen weniger zu haben.“ In Bordeaux führen sie in bisher ungekanntem Maßstab das Gegenmodell vor: Sie stellten 1.200 vorgefertigte Betonmodule vor den bestehenden Bau, vergrößerten so mit einer Methode, für die sie seit ihrer Sanierung des Pariser Sozialbauturms Tour Bois Le Prêtre berühmt sind, die Grundrisse, und machten die Wohnungen durch die neuen Wintergartenbalkone viel heller: Das Ergebnis sieht aus wie ein edler Neubau im reduzierten Schweizer Stil, man könnte sich hinter den semitransluzent-minimalistischen Fassaden auch Wohnungen für den gehobenen Mittel-
Arcachon oder Mimizan an den Strand zu fahren. Damit das mit dem nötigen Tempo passiert und auch auf den französischen Küstenstraßen das 1873 von Arthur Rimbaud ausgegebene Motto „Il faut être absolument moderne“ nicht ganz aufgegeben wird, hat der Autohersteller Renault gerade die Alpine, den charmantesten französischen Sportwagen aller Zeiten, wieder aufgelegt und für alle, denen das zu nostalgisch ist, den Elektrowagen Zoe renoviert. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden muss, denn wir müssen jetzt wirklich dringend ans Meer, das bei Bordeaux so entschlossen
die Frankreich sein Banlieue-Problem bescherte. Viele wollen diese Siedlungen abreißen – obwohl hinter den heruntergekommenen Billigfassaden der Wohnscheiben und -türme über die Jahrzehnte auch so etwas wie fast dörfliche Strukturen, Nachbarschaften, kollektive Identitäten entstanden sind. Würde man grundsanieren oder sogar abreißen und neu bauen, müsste man die Bewohner ausquartieren, viele würden nicht wiederkommen, die soziale Struktur wäre zerstört. Auch deswegen haben sich Anne Lacaton, Jean-Philippe Vassal, Frédéric Druot und Christophe Hutin, als sie den Auftrag zur Sanierung der Anlage bekamen, entschieden, den Komplex aus 530 Wohnungseinheiten mit einer Ergänzung aufzuwerten. Umbauen statt abreißen war auch hier das Motto der Verfasser eines Manifests zu den „grands ensembles“, die seit über einem Jahrzehnt unermüdlich auf die graue Energie verweisen, die Megaabrisse und Neubauten kosten: „Seit 2003 flossen 2,98 Milliarden Euro an Staatsgeldern in den Abriss von 113.200 Wohnungen“, schreiben Lacaton & Vassal da, „im Mittel 26.300 Euro pro Wohneinheit. Für den Neubau von 105.200 Wohneinheiten gab man 120.000 Euro pro Einheit, also 12,64 Milliarden aus. So wurden insgesamt 15,62 Milliarden dafür aufgewandt, um
stand vorstellen. Wenn es einen psychologischen Trick in all diesen Sanierungen gibt, dann ist es die Einführung von spürbarer Großzügigkeit in eine Bautypologie, bei der eigentlich alles streng rational auf Effizienz getrimmt werden muss: Die Wintergärten, die fast drei Meter tief sind und teilweise über zehn Meter lang an der gesamten Fassade der Wohnung entlangführen und nebenbei als Klimapufferzone dienen, sind geradezu luxuriös weit und offen, ganz so, als müsse man hier nicht auf jeden Quadratmeter achten. Was früher klaustrophobisch wirkte, hat plötzlich die vollverglaste Offenheit einer Villa am Hang. Man wünschte sich, dass hierzulande die Bauvorschriften dahingehend geändert würden, dass man die zahllosen Plattenbauten des Ostens so und nicht mit Wärmedämmverbund-Vollvermummung sanieren könnte: Sogar Plattenbausiedlungen würden dann fast so eisklar und gläsern und schick aussehen wie Mies van der Rohes legendäre Apartmenttürme Lake Shore Drive. Aus den oberen Wohnungen der renovierten Wohnanlage in Bordeaux sieht man die alte Stadt, die futuristische Trambahn bringt einen schnell ins Zentrum oder zum Zug nach Paris, der Bordeaux zu so etwas wie einem Vorort von Paris macht. Und ein Auto braucht man nur noch, um nach
rauscht wie ein TGV mit 300 km/h.
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© I, Sese Ingolstadt, Wikipedia Commons, CC BY-SA 2.5
Niklas Maak schreibt für das Feuilleton der FAZ und ist ein passionierter Auto fahrer. Seine Kolumne Mit A nach B verbindet Architekturkritik mit Automobilexpertise.
ZUHAUSE IN DER KUNST
„Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)“
Ludwig Wittgenstein
Machines à penser —
VON JEANETTE KUNSMANN
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MAGAZIN
Blick in die HĂźtte von Ludwig Wittgenstein, aus: Machines Ă penser, kuratiert von Dieter Roelstraete, Fondazione Prada, Venezia. Foto: Mattia Balsamini, Courtesy Fondazione Prada
Denkmaschinen in Venedig
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ZUHAUSE IN DER KUNST
Wer bitte ist Dieter Roelstraete? Für die Fondazione Prada denkt der belgische Philosoph und Kurator im Prada Thought Council, das die aktuelle Ausstellung im Palazzo Ca’Corner della Regina entwickelt hat. An den Supererfolg mit Udo Kittelmanns The Boat Is Leaking. The Captain Lied von 2017 anzuknüpfen, erschien sogar den Damen und Herren bei Prada als Herausforderung. Dieter Roelstraete hatte eine Idee.
Seiner Ausstellung Machines à penser, die parallel zur 16. Architekturbiennale in Venedig in der Fondazione Prada läuft, dienen die Rückzugsorte von Theodor Adorno, Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein – die alle drei gedanklich keine großen Freunde waren – als Ausgangspunkt, und die Wohnmaschinen von Le Corbusier (Machines à habiter) als Sprungbrett für den Titel. Dieter Roelstraete versteht seine Ausstellung als einen Essay – es geht ihm weder um Architektur noch um Philosophie, sondern um die Kunst. Zum Interview treffen wir uns vor der Hütte von Wittgenstein, einem Nachbau aus MDF, der auf 88 Prozent skaliert wurde. Die Künstler reisen schon ab, Roelstraete hat lange Tage und Nächte hinter sich, seine Müdigkeit sieht man ihm nicht an.
Marianne Bredesen, Siri Hjorth, Sebastian Makonnen Kjølaas: Preliminary Model of the Wittgenstein Monument, 1:23, 2018, Ausstellungsansicht Machines à penser, kuratiert von Dieter Roelstraete. Foto: Mattia Balsamini, Courtesy Fondazione Prada Rechts: Dieter Roelstraete in der Fondazione Prada Venezia. Foto: Mattia Balsamini, Courtesy Fondazione Prada
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MAGAZIN Sie haben eine wirklich ungewöhnliche Ausstellung geschaffen. Wie war das erste Feedback auf Machines à penser? Also, mir hat gerade der Kurator vom US-Pavillon eine SMS geschrieben, dass er es kaum erwarten kann, meine Ausstellung zu sehen, weil jeder in Venedig darüber spricht. Das wirkt ... Nun ja, aber als Kurator dieser Ausstellung wird mir auch niemand erzählen, dass er die Show nicht mag. Anders gefragt: Sind Sie zufrieden? Sehr! Und zwar aus zwei Gründen: Einmal macht es mich sehr glücklich, dass alle beteiligten Künstler zufrieden sind. Für einen Kurator ist das ja das Wichtigste. Und zweitens war die Eröffnung gestern gut besucht. Manche machen es sich sehr einfach, diese Ausstellung als kompliziert zu charakterisieren – das ist sie meiner Meinung nach gar nicht. Aber diese Art von Vorurteil existiert, wenn man eine Ausstellung über Philosophen erarbeitet. Philosophie gilt sofort als komplex und unverständlich. Purer Quatsch! Diese Show ist eine Kunstausstellung, die einem auch gefallen kann, ohne viel über Wittgenstein, Adorno oder Heidegger zu wissen. Es ist für mich immer sehr befriedigend, wenn ich sehe, dass sich die Leute für eine Ausstellung Zeit nehmen und eintauchen. Es ist eben etwas mehr als eine Augenweide. Die Fondazione Prada hat sich mit solchen sehr reichhaltigen und reflektierenden Ausstellungen einen Namen gemacht, wenn man allein an die letzte Ausstellung mit Anna Viebrock, Alexander Kluge und Thomas Demand denkt. Fondazione-Prada-Ausstellungen gelten als intellektuelle Herausforderungen, was nicht bedeutet, dass sie kompliziert sind. Sie sind durchdacht. Auch diese Ausstellung erweist sich als sehr vielschichtig. Wie lange haben Sie und Ihr Team daran gearbeitet?
Der Ursprung dieser Ausstellung ist etwas kurios. Neben Elvira Dyangani Ose und Shumon Basar bin ich Mitglied im Thought Council der Fondazione Prada, das wie ein Thinktank funktioniert. Wir sind zu dritt und arbeiten als eine Expertenkommission für kuratorische Beratung. Erst im vergangenen Sommer stellte man uns die Frage, was die Fondazione Prada in Venedig parallel zur Architekturbiennale zeigen soll – uns blieb also weniger als ein Jahr Zeit. Die Ausstellung musste sehr schnell entstehen, was aber etwas ist, das Prada sehr gut beherrscht. In der Fashion-Welt herrscht schließlich immer eine enorme Geschwindigkeit. Die Idee zu der Ausstellung ist selbstverständlich älter und schon lange Zeit in mir herangewachsen. Ich habe Philosophie studiert und Wittgenstein, Heidegger und Adorno zählen zu den wichtigen Sternen meines geistigen Firmaments. Der Ausgangspunkt der Ausstellung sind Rückzugsorte, Eremitagen und das Exil, in denen die drei Philosophen an ihren Gedanken gefeilt haben. Wie ist diese Idee entstanden? Die Hütte von Heidegger hatte ich mal besucht, die Hütte von Wittgenstein kannte ich natürlich auch, aber dort war ich noch nie, nur in Wien im Wittgenstein-Haus, das er zusammen mit einem Schüler von Adolf Loos für seine Schwester gebaut hatte. Und auch die Skulptur Adorno’s Hütte von dem schottischen Künstler Ian Hamilton Finlay war mir schon vorher bekannt: Sie wurde zum Schlüssel für die Ausstellung. Als ich also nach einer Idee für eine Show für dieses Jahr gefragt wurde, hatte ich die Idee schon im Kopf. Die erste Ebene der Ausstellung ist die Architektur. Aber die tiefergehenden Fragen beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Ort und Denken: Welcher Philosoph suchte sich welchen Ort, um kreativ zu sein?
Interessiert Sie nur der Blick in die Vergangenheit oder auch die heutige Bedeutung der Denkmaschinen? Beides. Ich bin in einem belgischen Dorf aufgewachsen, mitten auf dem Land. Der ländliche Raum interessiert mich sehr, als ein Ort der Produktion. Zeitgenössische Kunst stellen wir uns immer wahnsinnig urban vor, Kultur denken wir als etwas, das in der Stadt entsteht. Mich fasziniert aber die Idee, nach draußen zu schauen und den ländlichen Raum als einen produktiveren Ort für Kreativität und Reflexion zu verstehen. Es gibt ja heute kaum mehr ein Entkommen vom Internet. Je stärker der Druck dieser Umstände ist, desto mehr wächst auch der Drang, aus diesen auszubrechen – was genau der Ursprung dieser drei Hütten ist. Ich schlage die Hütte nicht nur als architektonische Form vor, sie ist auch ein mentaler Raum, eine Haltung, sie ist eine Einladung, selbst darüber nachzudenken, welche Orte wir brauchen, um klar zu denken. Es geht um das Bedürfnis nach Einsamkeit im heutigen Leben. Trifft das auch auf die drei Philosophen zu? Die Geschichte von Adorno ist die Geschichte des Exils, bei Heidegger und Wittgenstein sieht es anders aus: Ich meine, Martin Heidegger hat sich aufs Land zurückgezogen, Ludwig Wittgenstein ist wahrlich aufs Land geflohen, Adorno hingegen hatte keine Wahl. Er war zum Leben im Exil gezwungen. Dieser Hintergrund der Ausstellung ist eine Art von 21.-Jahrhundert-Drama der Migration: ein Drama unserer Zeit. Man sieht daran auch, was Migration für ein Land bedeutet. Aber ich bin überhaupt nicht daran interessiert, Adorno als einen armen Migranten zu porträtieren, man kann ihn nicht mit einem mexikanischen Arbeiter, der über die Grenze nach Amerika flüchten will, vergleichen. Aber er war ein deutscher
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ZUHAUSE IN DER KUNST
Von oben nach unten: Die Hütten von Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger und Theodor Adorno: Adorno’s Hut, 1986/87, von Ian Hamilton Finlay, Ausstellungsansichten aus: Machines à penser, kuratiert von Dieter Roelstraete. Foto: Mattia Balsamini, Courtesy Fondazione Prada
Jude, der verfolgt wurde und sein Heimatland verlassen musste. Und seine Muttersprache, die er so sehr liebte. Dementsprechend empfinde ich die historischen Gegebenheiten als Themen von heute.
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Wie kam denn die Kunst in Ihr Leben? Und wie wurden Sie als Philosoph zum Kurator für zeitgenössische Kunstausstellungen? Da mein Vater Künstler ist, gab es für mich quasi keinen Ausweg: Ich bin in der Kunstwelt aufgewachsen. Auch wenn mein Vater eher ein Künstler auf provinziellem Niveau ist, war Kunst immer Teil meines Lebens. Als Teenager interessierte ich mich für Literatur und Philosophie, verliebte mich in Nietzsche und Schopenhauer. Warum Wittgenstein für mich eine wichtige Figur ist? Er war tief überzeugt von der Idee, Philosophie auf das echte Leben zu übertragen: auf wissenschaftliche, medizinische, mathematische oder auch ästhetische Fragen. Die Philosophie hat also für mich ein anderes Verständnis von Kunst geschaffen. Wenn wir über die Ästhetik dieser Ausstellung sprechen: Im Gespräch mit Architekten kamen wir schnell auf den ungewöhnlichen Maßstab der Hütten: Warum 88 Prozent? Weil es genau in die Räume passt? Nein, der Maßstab ist kein Zufall, und es wird auch erklärt. Da vorne ist eine Skulptur von dem niederländischen Künstler Mark Manders (A Place Where My Thoughts Are Frozen Together, 2001). Er hat mich persönlich sehr beeinflusst – und Heidegger war ein wichtiger Einfluss, um über Mark Manders’ Arbeiten zu schreiben. In vielen seiner Installationen verkleinert Mark Alltagsgegenstände auf 88 Prozent, und diesen Ansatz haben wir in der Ausstellung für die Hütten von Wittgenstein und Heidegger übernommen. Es ist eine mentale Zusammenarbeit zwischen
MAGAZIN Künstler und Kurator. Die Hütten sind auf diese Weise keine Architektur mehr, aber auch noch keine Skulptur. Sie sind entfremdet, aber kein Modell. Die Frage nach dem Maßstab hat für uns noch einen anderen Hintergrund. Als Deutsche denken wir bei 88 auch an die rechtsextreme Symbolik der Neonazis, die den achten Buchstaben im Alphabet, das H, als getarnten Hitlergruß verwenden. Stimmt, natürlich! Ihr macht Scherze! Das ist so witzig! (Pause, er schüttelt den Kopf) Das hat mir niemand gesagt, obwohl wir auch Deutsche im Ausstellungsteam hatten. Ich bin aber auch nicht sicher, ob Alexander Kluge das gewusst hätte ... 88 (schüttelt noch mal den Kopf) Das ist witzig: Heil Heidegger! Wie sehen Sie die Zukunft von Ausstellungen über Kunst und Architektur – heute sind Bilder ja jederzeit zugänglich. Was ist die Idee der Ausstellung in der heutigen Welt? Es gibt eine gewisse Anzahl von bedeutenden Museen in der Welt. Das Centre Pompidou, MoMA, Met, die Tate Modern und die Erimitage: Das sind alles beliebte Touristenziele. Das Museum und das Ausstellungsbusiness sind ein fester Bestandteil der Tourismusbranche. Und in Venedig noch einmal mehr, weil diese Stadt heute nur für Touristen existiert. Kunst ist also etwas, was die Menschen ganz klar wollen. Millionen gehen ins Museum. Es gibt dieses Klischee, zeitgenössische Kunst wäre schwierig und unzugänglich oder albern. Trotzdem pilgern Millionen Menschen jeden Tag zu Mark Rothko oder Barnett Newman, die sehr abstrakte Bilder geschaffen haben. Es existiert also Interesse an Kunst als Erlebnis. Wenn unser Leben gerade mehr und mehr digitalisiert und aufgelöst wird, erinnert die Kunst uns an das materielle Leben, denke ich. Erinnert man sich an die letzte
Documenta: Was war das für eine unglaublich analoge Show für ein digitales Zeitalter! Virtuelle Ausstellungen interessieren doch immer noch sehr wenige Menschen. Eine Frage zu Ihrem Titel, mit dem Sie sich auf die Machines à habiter, also die Wohnmaschinen von Le Corbusier beziehen: Halten Sie Le Corbusier für einen guten Architekten, einen guten Künstler oder einen besseren Denker? Ehrlich gesagt habe ich über Le Corbusier überhaupt nichts zu sagen – mir gefiel nur seine Metapher der Maschine zum Wohnen: Es ist einfach eine extrem schöne Formulierung. Und zur Architekturbiennale hielt ich diese kleine Anlehnung im Ausstellungstitel für adäquat. Für die damaligen Bewohner sind die Wohnmaschinen sicher nicht so schön gewesen wie das Wort. Nein! Ich weiß das und ich meine es auch wirklich nur metaphorisch, ich bewerte nicht sein Werk. Auch nicht das der Philosophen: Keiner der drei war ein angenehmer Zeitgenosse, es waren allesamt keine netten Menschen. Heidegger war ein Nazi, Adorno ein verbitterter Mann und Wittgenstein war hysterisch. Die Metapher der kalten Maschine passt umso mehr, weil Wittgenstein auch Ingenieur war. Wenn wir noch mal über die Denkmaschinen sprechen: An welchen Orten entfalten sich ihr Geist und ihre Kreativität? Ich bin gerade innerhalb von Chicago umgezogen – und bei jedem Umzug beginne ich immer damit, meine Bibliothek einzupacken. Ohne meine Bücher kann ich nicht arbeiten und deswegen würde ich meine Bibliothek auch als Machine à penser bezeichnen – auch wenn sie gerade noch in Umzugskartons deinstalliert ist.
Als Co-Kurator der Documenta 14 musste Dieter Roelstraete zwei Jahre in Kassel leben, jetzt wohnt er in Chicago, wo er am Neubauer Collegium for Culture and Society kuratiert, eine Wohnung in Berlin hat er immer noch. Die laufende Architekturbiennale ist tatsächlich auch die erste, die er sieht, sonst war er nur zur Kunstbiennale in Venedig. Auf die Frage an ihn als Experten, warum es eigentlich so schwer ist, Architektur auszustellen, antwortet Roelstraete: „Das Problem in der kuratorischen Praxis sind die Pläne und Modelle. Architektur ist Raum, den man erfahren muss. Ich denke, Architektur passt besser in Bücher, Modelle in einem Pavillon stelle ich mir ziemlich langweilig vor.“ Machines à penser 26. Mai bis 25. November 2018 10–18 Uhr, dienstags geschlossen Fondazione Prada, Venedig Ca’ Corner della Regina www.fondazioneprada.org
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FOLGE 6
Moden von gestern
WAXPRINTS VON ANNE WAAK
© Vlisco
Weniges gilt als so afrikanisch wie die bunt bedruckten Stoffe, die vor allem in Westafrika unter dem Namen Waxprints oder Ankara erhältlich sind.
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MAGAZIN In Ghana, Togo und Nigeria gibt es sie an jeder Ecke und auf jedem Markt in unzähligen Farben und Motiven zu kaufen, Männer lassen sich aus den Stoffen Hemden und Hosen, Frauen dreiteilige Outfits aus Kopfputz, Schößchen-Oberteil und ab dem Knie ausladendem Rock schneidern. Auch als einfacher Wickelrock und zum Transport kleiner Kinder auf dem Rücken werden die Stoffe benutzt. So sehr die Waxprints Teil des afrikanischen Alltags sind, so wenig ist bekannt, dass es sich dabei um ein Amalgam handelt, dessen Entwicklung drei Kontinente und mehrere Jahrhunderte überspannt. Ihren Ursprung haben die Stoffe in Indonesien, genauer auf Java, wohin die Batiktechnik, Bienenwachs auf Textilien aufzutragen, um sie anschließend zu färben, wohl im 12. Jahrhundert aus Indien importiert wurde. Als die Niederländer Java im 17. Jahrhundert unter ihre Kontrolle brachten, fanden die Batikstoffe ihren Weg nach Europa. Allerdings kamen die Muster bei den Barockmenschen nicht so gut an: zu exotisch. Es dauerte noch zwei Jahrhunderte, bis die Holländer anfingen, die aufwendig herzustellenden Stoffe – ein Sarong konnte bis zu einem Jahr Arbeit in Anspruch nehmen – industriell zu produzieren. Besonders die Händlerfamilie van Vlissingen tat sich auf diesem Feld hervor. Im Jahr 1844 hatte der 20-jährige Pieter Fentener van Vlissingen die im niederländischen Helmond gelegene Baumwolldruckerei seines Vaters übernommen und sie P. F. van Vlissingen & Co. genannt. Sein Onkel Frits, der in der damaligen Kolonie Niederländisch-Indien (dem heutigen Indonesien) eine Zuckerplantage betrieb, war beeindruckt von der Qualität der traditionellen Batikstoffe und schickte ein paar von ihnen nach Hause. Pieter begann – gleichzeitig mit anderen Herstellern in England, der Schweiz und Belgien –, die indonesischen Stoffe zu kopieren. Dieses Mal wurden sie ein großer Erfolg, auch in Indonesien selbst. Um 1870 herum allerdings ging die Nachfrage zurück. Um einheimische Produzenten zu schützen, wurden in Indonesien hohe Zölle auf ausländische Textilien erhoben, gleichzeitig hatte man eine effektivere Druckmethode erfunden als die der Europäer. Zudem setzte auch noch die Große Depression ein und damit eine schwere Rezession. Doch die Waxprints standen da erst vor ihrer zweiten bis heute anhaltenden Blüte. Zwischen 1810 und 1862 hatten etwa 3.000 aus Ghana stammende Soldaten, die sogenannten Belanda Hintam oder Schwarzen Niederländer, für die niederländische Kolonial armee in Indonesien gekämpft; bei ihrer Rückkehr nach Westafrika nahmen einige von ihnen Batikstoffe als Geschenke mit nach Hause. Das, in Kombination mit der Suche van Vlissingens nach neuen Absatzmärkten, sorgte dafür, dass die niederländischen Stoffe in Westafrika – wo gewebte und etwa mit Indigo gefärbte Textilien schon immer eine tragende Rolle
spielten – bekannt und beliebt wurden. Längst war man dazu übergegangen, neben abstrakten Mustern auch Pflanzen- und Tiermotive zu drucken. Ab den Zwanzigerjahren fanden die Porträts von Häuptlingen, ab den Fünfzigerjahren dann auch die von Politikern und anderen Prominenten ihren Weg auf die Textilien. Heute lassen Unternehmen und Familien, die eine große Feier planen, ihre eigenen Waxprints bedrucken, aus denen dann zueinander passende Outfits geschneidert werden. In Burkina Faso kommt jedes Jahr zum Internationalen Frauentag ein neues Motiv heraus, es gibt Valentinstags-Stoffe und solche mit christlichen und muslimischen Motiven. Viele der Muster tragen Namen, die den erfahrenen Händler innen bekannt sind: Ein Zuckerrohr-Motiv heißt wegen der durch Knoten bestimmten Form der Pflanze „Das Auf und Ab des Lebens”, eine abstrakte Blüte „Good Woman“, ein Kritzelmuster aus den Sechsigerjahren ist nach Ghanas erstem Präsidenten „Nkrumahs Stift“ benannt. P. F. van Vlissingen & Co. heißt heute Vlisco. Die Stoffe, die in der aktuellen Kollektion von Stella McCartney auftauchen, stammen genauso von dort wie die in der Winterkollektion der italienisch-haitianischen Designerin Stella Jean. In seinem Archiv in Helmond verwahrt Vlisco mehr als 300.000 Motive, Designer aus Kamerun, Nigeria, Mexiko, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden entwerfen ständig neue. Zur Firma gehören auch die in Westafrika beheimateten Marken GTP, Uniwax und Woodin, die vor Ort günstigere Stoffe herstellen. Afrika macht 95 Prozent des Absatzmarktes von Vlisco aus, etwa 60 Millionen Meter Stoff verlassen jährlich die Fabrik. Längst werden auch Waxprints in vergleichbarer Qualität in China hergestellt. Und so reicht die Geschichte der Stoffe von Asien über Europa und Afrika zurück auf den Kontinent, wo sie begann.
www.vlisco.com Anne Waak schreibt unter anderem für Monopol und Welt am Sonntag über Kunst, Kultur und Gesellschaft, sehr gern auch über Mode. Zusammen mit Annika von Taube und Holm Friebe veranstaltet sie das Talk-Format NUN – Die Kunst der Stunde.
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KALENDER
MUST SEE Teekanne von Lore Kramer, Feinsteinzeug gegossen und glasiert, 1952 Foto: Anna Bischoff, © Museum Angewandte Kunst
Design 10. November 2017 bis 16. September 2018 Hella Jongerius & Louise Schouwenberg – Beyond the New Die Neue Sammlung – The Design Museum Pinakothek der Moderne, München www.die-neue-sammlung.de 17. März bis 9. September 2018 Night Fever. Design und Clubkultur 1960 – heute Vitra Design Museum, Weil am Rhein www.design-museum.de 18. Mai bis 30. September 2018 Food Revolution 5.0 Gestaltung für die Gesellschaft von morgen Kunstgewerbemuseum, Berlin www.smb.museum 18. Mai bis 14. Oktober 2018 Von der Idee zur Form Dialoge zwischen Design und Handwerk Kaiser Wilhelm Museum, Krefeld www.kunstmuseenkrefeld.de
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19. Mai 2018 bis 4. März 2019 Invisible Landscapes Studio Maio Royal Academy of Arts, London www.royalacademy.org.uk 31. Mai 2018 bis 26. August 2019 Lore Kramer Ich konnte ohne Keramik nicht leben Museum Angewandte Kunst, Frankfurt a.M. www.museumangewandtekunst.de 2. Juni bis 7. Oktober 2018 Made in Denmark Formgestaltung seit 1900 GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig www.grassimuseum.de 8. Juni bis 14. Oktober 2018 Ron Arad: Yes to the Uncommon! Vitra Design Museum, Schaudepot, Weil am Rhein www.design-museum.de 18. August 2018 bis 20. Januar 2019 Christien Meindertsma: Beyond the Surface Vitra Design Museum, Gallery, Weil am Rhein www.design-museum.de
Aufrichtigkeit der Form und der Funktion Ihre Keramiken sind beeindruckend, doch fanden bisher kaum Beachtung. Jetzt entdeckt das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt die Vasen, Schalen, Teller und Tassen von Lore Kramer, die diese zwischen 1956 und 1988 an der damaligen Werkkunstschule Offenbach geschaffen hat. Überraschend ist, dass bei ihren handgefertigten Keramiken ausgerechnet das Serielle eine Schlüsselrolle spielt. Noch bis 26. August 2018
Junya Ishigami Freeing Architecture Diese Werkschau ist kein Manifest. Insgesamt 18 gebaute Utopien, die der japanische Architekt seit 2004 realisiert hat oder die sich noch in Planung befinden, versammelt gerade die Fondation Cartier in Paris – wobei fast alle Architekturen einen Horizont haben: genau wie eine Landschaft. Diese transportiert Junya Ishigami immer wieder gerne direkt in den Innenraum, sodass die konventionelle Funktion von Architektur als Schutz vor Umwelt, Wind und Wetter infrage gestellt wird. Bis 9. September 2018 Junya Ishigami, Freeing Architecture Foto: Giovanni Emilio Galanello
Architektur 4. bis 13. September 2018 London Design Biennale www.londondesignbiennale.com 6. bis 9. September 2018 Grand Basel www.grandbasel.com 16. September 2018 bis 6. Januar 2019 Kreaturen nach Maß Tiere und Gegenwartsdesign Marta Herford www.marta-herford.de 22. September bis 4. November 2018 Istanbul Design Biennale Istanbul Modern www.iksv.org
30. März bis 9. September 2018 Junya Ishigami Freeing Architecture Fondation Cartier, Paris www.fondationcartier.com 3. Mai bis 6. August 2018 SOS Brutalimus Rettet die Betonmonster! Architekturzentrum Wien www.azw.at 12. Mai bis 2. September 2018 David Chipperfield Architects Works 2018 Basilica palladiana, Vicenza www.comune.vicenza.it 12. Mai bis 9. September 2018 Wohnen für Alle Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main www.dam-online.de 26. Mai bis 25. November 2018 Architekturbiennale in Venedig www.labiennale.org
16. Juni bis 4. November 2018 Manifesta 12 Palermo Atlas by OMA Orto Botanico, Teatro Garibaldi und andere Orte in Palermo m12.manifesta.org 7. Juli bis 16. September 2108 Portrait of a Landscape S AM Schweizerisches Architekturmuseum, Basel www.sam-basel.org 12. Juli bis 7. Oktober 2018 Die Villa im Tessin | märklinMODERNE im Ländle architekturgalerie am weißenhof, Stuttgart www.weissenhofgalerie.de 13. Juli bis 7. Oktober 2018 Olaf Nicolai Chant d’Amour Kunsthalle Bielefeld www.kunsthalle-bielefeld.de 20. Juli bis 25. August 2018 Archi-Union Architects Architektur Galerie Berlin www.architekturgalerieberlin.de
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KALENDER
QUARTERLY
Carsten Höller: Bonner Rutschbahn, 2008 Simulation, Höhe ca. 13,6 Meter, gesamte Länge ca. 35 Meter, © Carsten Höller VG Bild-Kunst, Bonn 2018
Kunst 11. Februar bis 25. November 2018 Arthur Jaffa Julia Stoschek Collection, Berlin www.jsc.berlin
31. Mai bis 28. Oktober 2018 The Playground Project. Outdoor Bundeskunsthalle, Bonn www.bundeskunsthalle.de
15. April bis 19. August 2018 Polyphon Langen Foundation, Neuss www.langenfoundation.de
9. Juni bis 9. September 2018 10. Berlin Biennale für Zeitgenössische Kunst Berlin, verschiedene Orte www.berlinbiennale.de
29. April bis 2. September 2018 Bacon-Giacometti Fondation Beyeler, Riehen/Basel www.fondationbeyeler.ch 29. April bis 7. Oktober 2018 Facing India Kunstmuseum Wolfsburg www.kunstmuseum-wolfsburg.de 5. Mai bis 16. September 2018 Triennale Brügge: Liquid City Brügge, verschiedene Orte triennalebrugge.be 31. Mai bis 2. September 2018 Imi Knoebel Haus Konstruktiv, Zürich www.hauskonstruktiv.ch
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9. Juni bis 28. Oktober 2018 James Turell The Substance of Light Museum Frieder Burda, Baden-Baden www.museum-frieder-burda.de 16. Juni bis 9. September 2018 Michel Majerus – In EUROPE everything appears more serious than in the USA Kunsthalle Bielefeld www.kunsthalle-bielefeld.de 3. Juli bis 9. September 2018 Marlene Bart, Serena Ferrario und André Sassenroth. 365 Years Later Städtische Galerie Wolfsburg www.staedtische-galerie-wolfsburg.de
1. September 2018 bis 24. März 2019 Andy Warhol – Pop goes Art Museum für Angewandte Kunst Köln www.museenkoeln.de/museum-fuerangewandte-kunst 26. bis 30. September 2018 Berlin Art Week www.berlinartweek.de
The Playground Project Auf dem Vorplatz warten der Wasserpavillon von Jeppe Hein und die spiegelnden Tischtennisplatten von Rirkrit Tiravanija, Christian Jankowski hat eine Karaoke Bar eingerichtet und Carsten Höller lässt die Besucher vom Dach der Bonner Bundeskunsthalle rutschen. „Die Absichten des Künstlers werden überbewertet“, wusste schon der 2002 verstorbene Michel Majerus, dessen überdimensionale Skaterrampe nicht nur Kunstliebhaber nach Bonn locken wird. Bis zum 28. Oktober 2018
2018
Fotografie & Mode 2. Juni bis 18. November 2018 Between Art & Fashion Photographs from the Collection of Carla Sozzani Museum für Fotografie – Helmut Newton Stiftung, Berlin www.helmut-newton.de
Thomas Demand (*1964) Presidency I, 2008, C-Print/Diasec, 310 x 223 cm, Hamburger Kunsthalle © VG Bild-Kunst, Bonn 2018
8. Juni bis 26. August 2018 [Control] No Control Hamburger Kunsthalle, Hamburg www.hamburger-kunsthalle.de 13. Juni 2018 bis 2. September 2018 Kleine Geschichte(n) der Fotografie (#1) Sprengel Museum Hannover www.sprengel-museum.de 28. Juni bis 18. Juli 2018 Design Views Vol. VI chmara.rosinke. Out of the Workshop Kunstgewerbemuseum, Berlin www.smb.museum
[Control] No Control 2008 fotografierte Thomas Demand einen der prominentesten Schauplätze der Macht. Ob das Oval Office heute noch dafür steht oder eher Kontrollverlust bedeutet, fragt die Hamburger Kunsthalle während der Triennale der Photographie 2018 mit der Ausstellung [Control] No Control, die 80 Werke zum Thema zeigt – darunter La filature von Sophie Calle aus dem Jahr 1981, als sich die Künstlerin von einem Privatdetektiv beschatten ließ. Bis 26. August 2018
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BÜCHER
CALIFORNIA CRAZY
ISAY WEINFELD
HOUSE TOUR
Die Welt sähe vielleicht anders aus, hätten Alberti, Palladio und Schinkel das Auto gekannt. Mit diesem entwickelten sich bekanntlich Straßen und Autobahnen, wobei sich an den kalifornischen Highways entlang wiederum eine wilde Mischung diverser Baustile ausbreitete. Ein besonderer Magnet für architektonische Illusionen ist Hollywood – schon vor dem Boom der Filmbranche stand die Gegend für ausgefallene Architekturkuriositäten. Anfang des 20. Jahrhunderts baute man Schlösser, Tempel und Paläste, über die man in Europa nur den Kopf schüttelte. Ein elementares Buch über die dekorierten Schuppen oder Enten heißt Learning from Las Vegas (1972) von Denise Scott Brown und Robert Venturi, ein weiteres nennt sich California Crazy. American Pop Architecture (1978) mit Texten von Jim Heimann und David Gebhard, das jetzt in einer erweiterten Neuauflage (Deutsch, Englisch, Französisch) erschienen ist.
Bei Spiegel Online liest man in einem Interview, dass Isay Weinfeld (geb. 1952) gerne ein Bordell bauen würde, „weil es zwei faszinierende Bereiche vereint: Sex und Fantasie.“ Ein Wunsch, mit dem sich der Architekt definitiv von vielen seiner Kollegen unterscheidet. Auf sein mittlerweile 45-jähriges Schaffen blickt der brasilianische Baumeister jetzt mit dieser Monografie zurück, darunter jede Menge exponierte, dramatische High-End-Architekturen in tropischen Breitengraden, aber auch der erste Shop für die Schuhmarke Havaianas mit einem offenen Dach in São Paulo. Er fühle sich zu 95 Prozent als Psychologe, nur geschätzte fünf Prozent seiner Zeit arbeite er als Architekt, meint Weinfeld. Zuhören zu können, sei seine Gabe.
Der Goldene Löwe der Architekturbiennale 2018 trägt Raufasertapete – der begleitende Katalog dann passenderweise auch. Mit Svizzera 240: House Tour gelingt den Kuratoren des Schweizer Pavillons (Alessandro Bosshard, Li Tavor, Matthew van der Ploeg und Ani Vihervaara) in Venedig der Coup, Publikumsliebling und Preisträger der Jury gleichzeitig zu sein. Wer mehr über die „Wohnungsbesichtigung“ erfahren möchte, sollte sich Zeit für dieses Buch nehmen, denn hinter dem Labyrinth der Maßstäbe im Schweizer Pavillon steht eine umfangreiche Recherche über die Realität von Wohnräumen, das Ritual der House Tour, den Ursprung weißer Wände und das Schicksal des Standards. Herausgeber ist ETH-Mitarbeiter Adam Jasper.
Jim Heimann – California Crazy. American Pop Architecture, Taschen, Hardcover, 324 Seiten, 40 Euro
Isay Weinfeld – An Architect from Brazil, Gestalten, Hardcover, 320 Seiten, 49,90 Euro
Adam Jasper – House Tour: Views of the Unfurnished Interior, Park Books, Flexicover, 168 Seiten, 38 Euro
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www.project-floors.com
SPECTRUM Bekannt ist er als Architekt (obwohl er nicht mal Architektur studiert hat), weniger als Fotograf. Dass ausgerechnet John Pawson Farbe als Werkzeug versteht, zeigt er mit seinem neuen Fotobuchprojekt. Der Minimalist begibt sich in einen Farbrausch, wenn er die insgesamt 320 quadratischen Bilder nach ihrem Farbspektrum sortiert. Es leuchtet Goldgelb, Backsteinrot, Himmelblau und Moosgrün – vor allem Landschaften, Fassaden und andere Oberflächen, die Pawson mit ihren Texturen, Strukturen und Materialien abbildet, treffen aufeinander. Eine besondere Rolle spielen dabei Licht, Geometrie und Wiederholungen. Zur Einführung gibt es einen Essay von John Pawson und ein Zitat von Johann Wolfgang von Goethe: „Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden.“
Liegen Ihnen zu Füßen: LVT-Fliesen von PROJECT FLOORS. John Pawson – Spectrum, Phaidon, Hardcover, 352 Seiten, 55 Euro (signiert)
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Visualisierung: © Jalil Peraza
UND TITEL MORGEN?
S O Z I A L E R WOHNUNGSBAU MADE YEEZY Das Thema sozialer Wohnungsbau wird überall heiß diskutiert. Allein über die Ergebnisse möchte man nicht so gerne sprechen. Wenn es günstig sein soll, sieht es meist auch danach aus. Umso erfreulicher die Nachricht, die Kanye West (Musiker, Modedesigner und Mega-Celebrity) Anfang Mai über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreitete. Als neuer Auswuchs seines Yeezy-Imperiums soll ein Architekturbüro entstehen, Yeezy Homes genannt. Für diese Unternehmung werden Architekten und Industriedesigner gesucht, die die Welt verbessern möchten. Und tatsächlich. Kurze Zeit später tauchen auch schon die ersten Renderings auf. Gemeinsam mit seinen Partnern Petra Kustrin, Jalil Peraza und Nejc Škufca stellt West bei Instagram erste Entwürfe für ein soziales Wohnungsbauprogramm vor. Die Behausung, hergestellt aus Betonfertigteilen und Komponenten aus expandiertem Polystyrol, changiert in den ersten Darstellungen zwischen Krematorium und Luxuswohnung. Das entspricht zwar so gar nicht unseren Vorstellungen von sozialem Wohnungsbau, stellt aber einen ernst gemeinten Beitrag zur Debatte dar. Dass West sich für mehr als Mode und Musik interessiert, wissen wir. Nach eigenen Aussagen spricht er fast nur mit Architekten, bemängelt allerdings, in dieser Szene und in seinem Bestreben nicht ernst genommen zu werden. Manchmal muss man es eben einfach machen. Sollte es also Architekten geben, die eigentlich für bessere Musik im Radio sorgen möchten, aber denken, darin nicht ernst genommen zu werden, dann können sie sich unserer Unterstützung sicher sein. Wenn das doch nicht klappen sollte, bleibt vielleicht noch Yeezy Homes. sb
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SINNLICHE WOHNHARMONIE. TUT EINFACH GUT.
Die Smart Mix-Philosophie von Josko. Überzeugende Wohnharmonie die man in jedem Detail spürt: Fenster, Haus- und Innentüren sowie Naturholzböden in harmonischer Übereinstimmung. Ganz schön große Gestaltungsvielfalt.
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TS 98 XEA: Mit der Lizenz zum eleganten Auftritt
Ein Türschliesser, der alles zum Hingucker macht: der TS 98 XEA. Mit zahlreichen Designawards ausgezeichnet, stehen unserem Gleitschienentürschliesser alle Türen offen. So lässt sich der TS 98 XEA nicht nur als Gestaltungselement einsetzen, sondern genauso elegant mit anderen dormakaba Produkten des gleichen XEA Designs kombinieren. Diverse
Farb- und Oberflächenvarianten ermöglichen dabei flexible Individualisierung und Ästhetik – von hell bis dunkel, von matt bis hochglänzend, von integrierend bis akzentuierend. Gute Wahl? Mehr elegante Argumente für den neuen TS 98 XEA finden Sie auf: www.dormakaba.com/ts-98-xea